Stoffwechselforschung - Gesundheitsforschung
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Stoffwechselforschung Wie Ernährung und Gene auf die Gesundheit wirken Impressum Herausgeber Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) Referat Gesundheitsforschung 11055 Berlin Bestellungen schriftlich an den Herausgeber Postfach 30 02 35 53182 Bonn oder per Tel.: 01805 - 262 302 Fax: 01805 - 262 303 (0,14 Euro/Min. aus dem deutschen Festnetz) E-Mail: [email protected] Internet: http://www.bmbf.de Redaktion und Bildredaktion Science&Media, Büro für Wissenschafts- und Technikkommunikation, München Autoren Iris Freundorfer, Leichlingen Berthold V. Koletzko, München Jo Schilling, Wriedel Julia Thurau, Berlin Susanne Wedlich, München Gestaltung Vasco Kintzel, Aßling bei München Druckerei Druckhaus Schöneweide GmbH, Berlin Bonn, Berlin 2008 Bildnachweis Titel: Ojo Images/F1 Online; Vorwort: BMBF, S. 5: F. Sauer/Bildagentur-online; S. 6: privat; S. 7: J. Thurau; S. 8: T-thaler/dreamstime.com; S. 10: U. 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Zwar haben sich die Ernährungsgewohnheiten der Menschen in Deutschland in den vergangenen 15 Jahren verbessert. Studien belegen aber, dass die meisten Männer und Frauen immer noch zu viel Fett und Alkohol zu sich nehmen und zu wenig Obst und Gemüse essen. Dieser Lebensstil führt zu Überernährung und Übergewicht – ganz besonders, wenn er von Bewegungsmangel begleitet ist. In Deutschland sind etwa zwei Drittel aller Männer und die Hälfte der Frauen übergewichtig. Diabetes, Adipositas und Herz-Kreislauferkrankungen werden in Deutschland und anderen Industrienationen immer häufiger. Aufgrund genetischer Veränderungen können Stoffwechselkrankheiten auch bei ausgewogener Ernährung auftreten. Forscherinnen und Forscher in den Lebenswissenschaften arbeiten daran, die dem zugrunde liegenden Vorgänge bis zur molekularen Ebene aufzuklären. Krankheitsentstehung und -verlauf können dann wesentlich auch durch die Ernährung beeinflusst werden. Ein genaues Verständnis der Zusammenhänge von Ernährung und Gesundheit ist eine wichtige Voraussetzung für die Prävention, Linderung und Heilung von Krankheiten. Die Ergebnisse der Stoffwechselforschung tragen dazu bei, die Lebensqualität der Menschen zu erhöhen, die Versorgung von Patientinnen und Patienten weiter zu verbessern und die Kosten im Gesundheitswesen zu senken. Die vorliegende Broschüre stellt den aktuellen Stand der Forschung dar. Den Leserinnen und Lesern wünsche ich eine anregende Lektüre und interessante Erkenntnisse zum Zusammenspiel von Ernährung, Stoffwechsel, Genen und Gesundheit. Dr. Annette Schavan, MdB Bundesministerin für Bildung und Forschung INHALT 1 Inhalt Einleitung 2 Leben ist Stoffwechsel Kommt die personalisierte Ernährung? 2 6 Kohlenhydrate 9 Kohlenhydratstoffwechsel – süße Last und schwere Leiden 9 Laufend neue Eindrücke 10 Die Bauchspeicheldrüse – Leichtgewicht mit schweren Aufgaben 11 Volkskrankheit Diabetes 12 Diabetes und Depression – ein unheilvolles Duo 14 Intolerantes Erbe 15 Diabetestherapie – mehr als Insulin 16 Künstliche Bauchspeicheldrüse 18 Transplantation als Therapie bei Diabetes 19 Galaktosämie – wenn Zucker die Zellen vergiftet 22 Eiweiße 25 Eiweißstoffwechsel – Recycling der Aminosäuren Eiweiß auf sechs Beinen Die Darmwand – Pumpstation für Aminosäuren PKU-Patienten halten ihr Leben lang Diät Das Gehirn als Spiegel des Stoffwechsels Albinismus – viele Gene, eine Krankheit Überflüssiges Eiweiß Lebensrettendes Tandem 25 26 27 28 30 32 33 34 Purine und Pyrimidine 37 Stoffwechsel der Purine und Pyrimidine Ein Leben für die Gichtforschung Die Nieren – reinigende Hochleistungsfilter Gicht ist doch kein Zipperlein Das Gegenteil von Gicht Pyrimidine: medizinische Grundlagenforschung 37 38 39 40 41 42 Mikronährstoffe 45 Mikronährstoff-Stoffwechsel – kleine Helfer mit großer Wirkung Vitamintabletten & Co. Die Schilddrüse – kleines Organ mit großem Einfluss Gefahr für Herz, Hirn und Knochen Eisenspeicherkrankheit: ein schweres Erbe Phosphatmangel verursacht Rachitis Gut ernährt und doch unterversorgt Lebertran – eine bittere Erinnerung 47 48 50 52 53 55 Fette 57 Fettstoffwechsel – Energie für den Körper Fettkunst Wie funktioniert die Leber? Gefährliche Fettpolster Metabolisches Syndrom – das tödliche Quartett Zu viel Cholesterin kann erblich sein Winzige Defekte mit großer Wirkung Eiweiße für die Fettverbrennung Übergewicht entsteht im Gehirn 57 58 59 60 62 64 65 66 68 Perspektive 70 45 46 Natürliche Varianten im Blick der Nutrigenomik 70 Anhang: Nützliche Kontakte und (Internet-)Adressen Register 74 76 2 EINLEITUNG Leben ist Stoffwechsel Der menschliche Körper ist wie ein Land. Auch im Körper gibt es Straßen und Wege, große Autobahnen und selten genutzte Feldwege. Es gibt Schwerlasttransporter und Minivans; es gibt Orte, die viele Bau- und Nahrungsmittel benötigen und andere, die sich beinahe selbst versorgen. Und es gibt Staus, Engpässe und jede Menge Müll, der zu entsorgen ist. Wie das Verkehrsnetz für ein Land, so sind auch die Stoffwechselwege unentbehrlich für den menschlichen Körper. Über sie gelangen Baustoffe und Energie an ihren Bestimmungsort. Ob Kohlenhydrate, Eiweiße, Purine und Pyrimidine, Mikronährstoffe oder Fette – am Anfang gehen die Nährstoffe ihren Weg gemeinsam: Im Mund wird die Nahrung zunächst grob zerkleinert und in den Magen-Darm-Trakt transportiert. Dort wird sie weiter in ihre Bestandteile zerlegt. Erst wenn aus der Nahrung ein zäher Brei geworden ist, trennen sich die Wege ihrer Nährstoffe. Transporter an der Darmwand stehen bereit, die Nährstoffe ins Blut zu befördern. Die meisten sind stark spezialisiert – einige transportieren nur Aminosäuren. Andere pumpen ausschließlich feine Spurenelemente oder Fette ins Blut und wieder andere sorgen dafür, dass Kohlenhydrate in den Körper gelangen. Mit ihrer Aufnahme durch die Darmwand ins Blut beginnt für die Nährstoffe schließlich über unzählige verschiedene Stoffwechselwege die Reise durch das Innere des Körpers. Was ihnen auf ihrer Tour durch den Organismus widerfährt, besagt bereits die Bezeichnung „Stoffwechselweg“. Tatsächlich wechseln die meisten Nährstoffe auf dem Weg durch den Körper ihre chemische Beschaffenheit. Sie werden abgebaut, umgebaut und auch wieder zusammengebaut. Einige Nährstoffe werden vorübergehend in körpereigenen Vorratslagern deponiert und so lange gespeichert, bis sie gebraucht werden. Überflüssige oder gar gefährliche Stoffe, die bei der Nahrungszerkleinerung oder als Zwischenprodukte der Stoffwechselwege anfallen, werden über den Dickdarm, die Nieren und die Blase vom Körper ausgeschieden. Die Straßen der Nährstoffe sind die unzähligen Adern, Blutgefäße und Kapillare. Über diese erreichen sie mit oder ohne Transportvehikel ihre Bestimmungsorte. Die Aufgaben der einzelnen Nährstoffe im Körper sind dabei so unterschiedlich wie die Stoffwechselwege, die sie durchlaufen. Beispiel Energiestoffwechsel: Fette und Kohlenhydrate sind die wichtigsten Energielieferanten des Körpers. Dabei decken Kohlenhydrate, also Zucker und Stärke, vornehmlich den akuten, kurzfristig abrufbaren Bedarf. Fette werden dagegen leichter und effizienter gespeichert. Sie füllen den Energievorrat auf. In chronischen Mangelsituationen oder bei extremem Energiebedarf liefern auch Proteine Energie. Purine und Pyrimidine kreuzen die Wege der Nahrungszucker im Energiestoffwechsel ebenfalls. Während Purine für den Bau des wichtigsten Energielieferanten nötig sind, aktivieren Pyrimidine die einfachen Zucker. Außerhalb des Energiestoffwechsels werden Pyrimidine und Purine zur Bildung von Nukleinsäuren für den Bau der Erbsubstanz gebraucht. Die Mikronährstoffe, zu denen Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente gehören, erfüllen jeweils sehr spezifische Aufgaben im Körper. Sie sind in ihren Funktionen einzigartig. Kurz gesagt: Ein Vitamin kann nicht die Rolle eines anderen übernehmen. Weil sie in erster Linie an der Regulation von Stoffwechselprozessen beteiligt sind, genügen meist kleine Dosen der Mikronährstoffe – große Mengen können unter Umständen sogar schädlich sein. Auch im Energiestoffwechsel übernehmen Vitamine regulierende Funktionen. Der Energiestoffwechsel zeigt deutlich, dass der menschliche Stoffwechsel mit seinen unzähligen Einzelschritten so engmaschig und verzahnt ist wie ein gut funktionierendes Straßennetz. Wie stark verwoben dieses Geflecht ist, wird mit jedem Schritt deutlicher, den die Forschung voranschreitet. Dabei sind selbst erfahrene Wissenschaftler immer wieder überrascht, wie sehr die einzelnen Abläufe im Körper miteinander wechselwirken und voneinander abhängen. Stau im Stoffwechsel Wie jedes hochkomplexe System ist auch der Stoffwechsel anfällig für Störungen und Fehler. Zwar hat der Körper hier und da Umleitungen eingebaut und viele wichtige Vorgänge verlaufen parallel auf Haupt- und Nebenstraßen. Dennoch kann es an kritischen Punkten zu Staus oder gar zu einem Verkehrsstillstand kommen. Dies geschieht etwa, wenn ein essenzielles Enzym fehlt oder nicht ausreichend funktioniert und dadurch ein metabolischer Prozess EINLEITUNG 3 Straßenkarte der Nährstoffe Eiweiße Nukleinsäuren Kohlenhydrate (Mehrfachzucker) Aminosäuren Purine, Pyrimidine einfache Zucker Fette Glykolyse Energieträger Acetyl-CoA ZitronensäureZyklus Atmung Auf-, Um- und Abbau von Nährstoffen CO2 Wasser Energie Energiegewinnung Das Schema verdeutlicht die Wege, die die Nährstoffe sowie ihre Um-, Ab- und Aufbau-Produkte im Körper einschlagen. gestoppt wird. Solche Störungen sind häufig angeboren. Sie beruhen auf einem genetischen Defekt, also einem Fehler im Erbmaterial DNA. Gene sind Abschnitte auf diesem langgestreckten spiralförmigen Molekül und tragen die Bauanleitung für Enzyme und alle anderen Proteine des Körpers. Fehler in der Abfolge der Bausteine einzelner Gene verändern diese Bauanleitungen und führen im schlimmsten Fall zum Funktionsverlust des zugehörigen Proteins. Gibt es dann weder ein Molekül, das die Funktion des fehlerhaften Enzyms übernehmen kann, noch einen alternativen Stoffwechselweg, häuft sich die Substanz übermäßig an, die mit Hilfe des Enzyms um-, ab- oder aufgebaut werden sollte. Die Nährstoffe oder Zwischenprodukte aus vorhergehenden Stoffwechselprozessen stauen sich ebenfalls an und können nicht weiter verarbeitet werden – mit zum Teil katastrophalen Folgen für den gesamten Organismus. Ein Beispiel ist die weltweit häufigste Stoffwechselerkrankung, die Phenylketonurie (PKU). Bei diesem angeborenen Leiden kann die Aminosäure Phenylalanin nicht vollständig abgebaut werden und reichert sich an. Unbehandelt führt die PKU zu schweren geistigen Entwicklungsstörungen. Der Ausfall eines Enzyms kann sich aber auch weniger drastisch äußern, wie das Beispiel der Laktoseintoleranz zeigt. Weil der Mensch als Säugetier für die längste Zeit seiner Entwicklungsgeschichte nach der Stillzeit keine Milch mehr verdauen musste, ist bei der Mehrheit der Weltbevölkerung ein Rückgang der Laktase-Produktion nach dem Säuglingsalter genetisch festgelegt. Mit der aufkommenden Tierhaltung konnte sich aber eine konkurrierende genetische Anlage etablieren, deren Träger ein Leben lang Milch und Milchprodukte ohne Bauchschmerzen oder andere Beschwerden genießen können. Auch der Energiehaushalt hat seine Wurzeln bis 4 EINLEITUNG heute sichtbar in der frühen Menschheitsgeschichte: Fette und Kohlenhydrate, die früher nicht ständig verfügbar waren, liefern dem Organismus gemeinsam die Energie zum Leben. Die meisten Menschen sind deshalb mit Anlagen ausgestattet, die einen Appetit auf Süßes und Fettiges hervorrufen. In der kargen, eher nahrungsarmen Umwelt des Frühmenschen war dieses genetische Programm durchaus sinnvoll und sicherte das Überleben. Heute aber machen diese Anlagen vielen Menschen zu schaffen. Da der Ausgleich durch Bewegung fehlt, macht die nahezu unbegrenzte Verfügbarkeit von Zucker und Fetten schlicht dick. Der Appetit bestimmt, was und wie viel gegessen wird. Doch dieses individuelle Bedürfnis hängt nicht nur von der tatsächlichen Versorgungslage des Körpers ab. Auch die Gene beeinflussen das Essverhalten eines Menschen. Manche Anlagen lassen einen zum Beispiel mehr essen als eigentlich nötig ist. Auch Schlafmangel kann Übergewicht begünstigen. Die unerwünschten Pfunde können dann eine Vielzahl von zum Teil schweren Erkrankungen auslösen, etwa den Typ 2-Diabetes. Dieses Leiden ist – wie auch das krankhafte Übergewicht – nicht nur in westlichen Überflussgesellschaften auf dem Vormarsch. Gesundheitsorganisationen beobachten auch in Schwellen- und Entwicklungsländern eine stetig wachsende Zahl von Diabetes- und Adipositas- Patienten. Betroffen sind hier wie dort vor allem junge Erwachsene und Kinder. Die steigende Zahl von Diabetes-Patienten weltweit alarmiert auch Ökonomen. Denn Diabetes ist einer der größten Risikofaktoren vor allem für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, die die nationalen Gesundheitssysteme bereits enorm belasten. Den Patienten drohen Herz-KreislaufErkrankungen wie Herzinfarkt und Schlaganfall, aber auch Amputationen infolge schwerer Nervenschädigungen und der Verlust des Augenlichts. Besteht ein Typ 2-Diabetes erst kurze Zeit, können sogar einfache Maßnahmen eine deutliche Besserung erzielen: sich auf eine ausgewogene Kost umstellen, Übergewicht reduzieren und sich mehr bewegen. Bis heute aktuell: Vitaminmangel Das Wechselspiel zwischen genetischen Anlagen und einem Leben im Überfluss besteht nicht erst seit der Moderne. Schon die alten Ägypter litten offenbar unter Stoffwechselstörungen. So machte vor einigen Jahren die Mumie einer Frau Schlagzeilen, deren großer Zeh durch eine Holzprothese ersetzt worden war. Es stellte sich heraus, dass die Frau unter einer Arteriosklerose litt und die Amputation vermutlich die Folge eines Typ 2-Diabetes war. Häufiger noch finden sich an den Knochen alter Nährstoffe und damit verbundene Stoffwechselstörungen Nährstoffgruppe Funktion Stoffwechselstörungen Kohlenhydrate (Mehrfachzucker, einfache Zucker) liefern kurzfristig Energie Diabetes mellitus, Laktoseintoleranz, Galaktosämie Eiweiße Struktursubstanzen, Enzyme, Bausteine von Hormonen und Antikörpern Phenylketonurie, Ahornsirupkrankheit, Albinismus Purine und Pyrimidine Bestandteile der Nukleinsäuren Gicht Mikronährstoffe regulieren den Stoffwechsel Mangelerscheinungen, Hämochromatose, Rachitis Fette wichtige Energiespeicher Adipositas, Metabolisches Syndrom, Hypercholesterinämie EINLEITUNG 5 Molekül A Aktivierung der Enzyme durch Kofaktoren (Mikronährstoffe) Regulation durch Hormone und andere Stoffwechselprodukte inaktive Enzyme Molekül B Hormone und Mikronährstoffe wie Vitamine und Metalle regulieren den Um-, Ab- und Aufbau von Stoffwechselprodukten. Die Zusammenhänge der einzelnen Stoffwechselwege werden mit jedem Schritt, den die Forschung voranschreitet, deutlicher. Ägypter die Spuren anderer Stoffwechselstörungen. Diese Erkrankungen sind oft Mangelerscheinungen: etwa ein chronisches Defizit an den Vitaminen C und D. Diese beiden chemischen Verbindungen gehören zur Gruppe der Mikronährstoffe und erfüllen essenzielle Aufgaben im Körper. Während der Körper Vitamin C vollständig von außen zuführen muss, kann er einen Teil des benötigten Vitamin D selbst herstellen. Mit der Nahrung wird Vitamin D in erster Linie über fetthaltige Fische aufgenommen. Über Generationen erhielten Kinder das vitaminhaltige Leberöl verabreicht. Der wegen seines penetranten Geschmacks verhasste Lebertran ist mittlerweile aber auch in Kapselform erhältlich und kann so zur Versorgung mit Vitamin D beitragen. Der Mikronährstoff ist vor allem für die Regulation eines wichtigen Mineralstoffs im Organismus wichtig: Kalzium sorgt für den Aufbau von Knochenmasse. Fehlt Vitamin D, kann es zu einer Osteomalazie (Knochenerweichung) oder Rachitis kommen. Anders als Vitamin D muss das Vitamin C vollständig über die Nahrung zugeführt werden – auch hier drohen also Defizite. Betroffen sind vor allem Kinder, Schwangere und ältere Menschen – Gruppen also, die entweder einen erhöhten Bedarf haben oder sich unausgewogen ernähren. Experten weisen immer wieder darauf hin, dass gerade ältere Menschen zwar nicht falsch, aber doch viel zu wenig essen. Doch selbst wer ausreichend Kohlenhydrate, Fette, Mikronährstoffe und Proteine zu sich nimmt und keine gravierenden genetisch bedingten Stoffwechseldefekte hat, ist gegen Krankheiten nicht gefeit. Empfehlungen für eine gesunde Lebensführung nennen inzwischen mehrheitlich ein Mindestmaß an körperlicher Bewegung sowie eine ausgewogene Kost mit viel frischem Obst und Gemüse. Dabei müssen die empfohlenen Mengen an die individuellen Lebensumstände angepasst werden. Gene und Stoffwechsel Forscher und Mediziner wissen heute, dass jeder Mensch auf unterschiedliche Arten und Mengen von Nährstoffen anders reagiert. Wird dann der Stoffwechsel noch zusätzlich durch eine Mutation des Erbguts gestört, müssen die Empfehlungen erst recht individuell gestaltet werden. Denn die Forschung wird auch weiterhin neue Erkenntnisse darüber liefern, wie Erkrankungen, die durch Veränderungen des Erbguts hervorgerufen werden, mit Hilfe spezieller Nährstoffe verhindert, geheilt oder wenigstens gemildert werden können. Am Ende steht dann möglicherweise die personalisierte Ernährung mit detaillierten Ratschlägen, die auf individuelle genetische Anlagen zugeschnitten sind. Dies wäre dann die Antwort der Zukunft auf ein Problem der Vergangenheit. Denn Stoffwechselerkrankungen sind so alt wie die Menschheit selbst. Geändert haben sich in manchen Fällen nur die Häufigkeit, mit der sie auftreten, und die Personengruppen, die sie treffen. Entscheidend verbessert haben sich die Möglichkeiten der modernen Forschung und Medizin, die Ursachen der Leiden auf genetischer und molekularer Ebene zu verstehen und zu untersuchen – und damit den Weg zu ebnen für vorbeugende oder heilende Maßnahmen. 6 EINLEITUNG Kommt die personalisierte Ernährung? Wie beeinflusst die Nahrung den Stoffwechsel und die Entwicklung von Kindern und Jungendlichen? Diese Frage prägt die wissenschaftliche Laufbahn von Professor Berthold Koletzko. Der 53-jährige Westfale ist Professor für Pädiatrie an der Ludwig-MaximiliansUniversität München (LMU), Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin, Vorstand der Stiftung Kindergesundheit und Leiter der Abteilung für Stoffwechselstörungen und Ernährungsmedizin am Dr. von Haunerschen Kinderspital der LMU. Sein Fazit: „Nährstoffe können je nach persönlicher genetischer Variation unterschiedliche Wirkungen haben.“ Die Erhaltung unserer Gesundheit und Leistungsfähigkeit hängt von einer ausgewogenen Ernährung ab. Sie soll alle vom Körper benötigten Nährstoffe in bedarfsgerechter Menge liefern. Die regelmäßigen Empfehlungen wissenschaftlicher Fachgesellschaften, wie viel eines Nährstoffs im Idealfall aufgenommen werden sollte, enthalten für die ganze Bevölkerung einen Referenzwert, der sich auf eine bestimmte Altersgruppe und das Geschlecht beziehen kann. Beispielsweise empfiehlt die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) Kindern und Erwachsenen, eine einheitliche Menge an mehrfach ungesättigten omega-6 Fettsäuren von 2,5 Prozent der gesamten Kalorienzufuhr aufzunehmen. Ein einziger Wert für eine sehr breit gefächerte Gruppe. Haben also alle Menschen den gleichen Nährstoffbedarf? Tatsächlich gehen die Nährstoffempfehlungen von einer gleichmäßigen und annähernd symmetrischen Verteilung des Nährstoffbedarfs unter den einzelnen Personen in der Bevölkerung aus. So verbrauchen zum Beispiel Menschen, die viele Körperzellen (etwa Immunzellen) neu bilden, eine größere Menge an mehrfach ungesättigten Fettsäuren für den Einbau in Zellwände. Ein anderes Beispiel ist der geringere Bedarf an Vitamin D aus der Nahrung bei Menschen, die sich viel im Freien aufhalten und durch das Sonnenlicht selbst mehr Vitamin D in der Haut bilden. Dabei produzieren Menschen mit heller Haut mehr Vitamin D als Menschen mit einem dunklen Hauttyp, die also bei gleicher Sonnenbestrahlung mehr Vitamin D aufnehmen müssen. Damit die empfohlene Nährstoffzufuhr tatsächlich den Bedarf für alle gesunden Menschen deckt, wird der Referenzwert im oberen Bereich der Verteilung in der Bevölkerung festgelegt. Zunehmend mehren sich jedoch Hinweise, dass auch genetische Varianten zu Unterschieden der biologischen Auswirkungen von Nährstoffen und damit zu Unterschieden des Nährstoffbedarfs führen können. Zum Beispiel gilt dies für die mehrfach ungesättigten essenziellen Fette. Die essenziellen Fettsäuren Linolsäure (omega-6 Fettsäure) und alpha-Linolensäure (omega-3 Fettsäure), die wir vor allem mit Pflanzenölen zu uns nehmen, wandeln wir im körpereigenen Stoffwechsel mit Hilfe von Enzymen zu langkettigen Polyenfettsäuren (long-chain polyunsaturates, LCP) um. Zusätzlich werden LCP auch mit tierischen Lebensmitteln aufgenommen. LCP sind in erster Linie für Wirkungen der mehrfach ungesättigten Fettsäuren im Körper verantwortlich, etwa für ihren Einfluss auf die Immunabwehr. Angesichts einer insgesamt niedrigen körpereigenen Bildung empfehlen Fachleute und wissenschaftliche Fachgesellschaften die Zufuhr von omega-3 LCP vor allem aus Seefisch besonders für schwangere und stillende Frauen sowie für Säuglinge. Tatsächlich führen die in der Bevölkerung häufig vorliegenden genetischen Varianten zu erheblichen Unterschieden des Stoffwechsels, der biologischen Wirkungen und offenbar auch des Nährstoffbedarfs an mehrfach ungesättigten Fetten. In einer großen Studie in Erfurt (European Community Respiratory Health Survey) untersuchten wir gemeinsam mit dem Institut für Epidemiologie im Helmholtz Zentrum München die Auswirkungen von genetischen Varianten der Enzyme delta-6-Desaturase (Fatty Acid Desaturase 2, FADS2) und delta-5-Desaturase (FADS1), welche die Umwandlung der mehrfach ungesättigten Fette regulieren. Ergebnis: Menschen mit selteneren genetischen Varianten haben im Blut bis zu 25 Prozent niedrigere LCP-Gehalte, das heißt, sie bilden weniger LCP aus den mit der Nahrung aufgenommenen mehrfach ungesättigten Fetten als andere. Etwa jeder vierte der untersuchten Menschen war davon betroffen. Bei dieser Gruppe von Menschen mit geringerer körpereigener LCP-Synthese und niedri- EINLEITUNG Kommt die personalisierte Ernährung, steigt die Eigenverantwortung des Konsumenten. geren LCP-Gehalten im Blut traten Heuschupfen und allergische Ekzeme nur halb so häufig auf wie bei Menschen mit den häufigeren genetischen Varianten der FADS-Enzyme. Diese Ergebnisse belegen den bereits früher vermuteten Zusammenhang zwischen der LCP-Versorgung der Gewebe und der allergischen Risikobereitschaft. Zudem wird deutlich, wie individuell der Körper auf einzelne Nährstoffe reagieren kann. LCP-Fette werden im frühen Kindesalter auch zum Aufbau der Zellwände im Gehirn benötigt. Viele Studien zeigen einen leichten Vorteil in der Intelligenzentwicklung bei Kindern, die gestillt worden waren und mit der Muttermilch LCP erhielten, gegenüber Kindern, die mit Flaschennahrung ohne LCP ernährt wurden. Auch hier hängt die Wirkung der Nahrungszufuhr offenbar von der individuellen Genetik ab, wie Forscher des Londoner King’s College herausfanden. Bei mehr als 1.000 neuseeländischen Kindern führte Stillen gegenüber der Flaschenernährung nur dann zu einem deutlich um etwa fünf Punkte verbesserten Intelligenzquotienten (IQ), wenn eine bestimmte Variante eines der Enzyme vorlag, die die LCP-Bildung regulieren. Bei den Kindern ohne diese genetische Variante hatte die Wahl der Säuglingsernährung dagegen keinen Einfluss auf die IQ-Entwicklung. Zum gleichen Ergebnis kamen die Untersucher auch bei einer weiteren Kohorte von mehr als 2.000 britischen Kindern. 7 Je nach genetischer Ausstattung des Individuums unterscheiden sich also die Wirkungen mehrfach ungesättigter Fette aus der Nahrung erheblich. Um ähnliche Wirkungen zu erreichen, können ganz unterschiedliche Zufuhrmengen erforderlich sein. Offensichtlich ist der Bedarf an diesen Nährstoffen in der Bevölkerung nicht gleichmäßig verteilt, sondern unterscheidet sich je nach vorliegenden genetischen Varianten. Ähnliche Hinweise ergeben sich auch für genetische Unterschiede beim Bedarf des B-Vitamins Folsäure. Etwa 12 Prozent der deutschen Bevölkerung besitzen eine genetisch bedingte Variante des Enzyms Methylen-Tetrahydrofolat-Reduktase (MTHFR), die zu einem erhöhten Nahrungsbedarf des B-Vitamins Folsäure führt. Wird ein besseres Verständnis solcher genetischer Unterschiede dazu führen, dass zukünftige Generationen die Lebensmittel im Supermarkt aufgrund der Analyse ihres genetischen Codes auswählen? Dies mag für Viele völlig utopisch klingen. Tatsächlich gibt es aber schon heute Beispiele für eine personalisierte Nahrungsauswahl aufgrund der individuellen genetischen Anlagen. Personen mit einer genetisch bedingten Milchzucker-Unverträglichkeit (Laktoseintoleranz) etwa meiden Trinkmilch, verzehren aber Hartkäse, der nur Spuren an Milchzucker enthält. Fett- und energiereduzierte Lebensmittel (sog. Light-Produkte) können für Menschen mit einer genetischen Veranlagung für Übergewicht nutzbringend sein, während sie für Menschen ohne Neigung zu Übergewicht keinen Vorteil bieten. Mit pflanzlichen Sterinen angereicherte Streichfette und andere Lebensmittel werden für Menschen mit anlagebedingt erhöhten Cholesterinwerten empfohlen, während Menschen mit genetisch bedingt normalem Cholesterin keinen nennenswerten Vorteil aus dem Verzehr dieser Produkte ziehen. Die Wirkungen der gleichen Nährstoffe unterscheiden sich also aufgrund biologisch bedingter Variationen zwischen den Individuen. Entsprechend bedeutend ist es herauszufinden, was die genetischen Ursachen dafür sind, dass sich Nahrungsbestandteile individuell so unterschiedlich auf den Stoffwechsel auswirken können. Die wissenschaftliche Aufklärung könnte so eines Tages dazu führen, dass die Aufnahme bestimmter Nährstoffe besser auf die Bedürfnisse des Einzelnen abgestimmt wird – und damit zu einem potenziell großen Nutzen für Gesundheit, Leistungsfähigkeit und Wohlbefinden beitragen. 8 KOHLENHYDRATE KOHLENHYDRATE 9 Kohlenhydratstoffwechsel – süße Last und schwere Leiden Zucker (Kohlenhydrate) gehören zu einer der häufigsten und zugleich für die menschliche Ernährung wichtigsten Gruppe von Naturstoffen. Es gibt sie ganz klein und leicht verwertbar als Mono- oder Disaccharide (Einoder Zweifachzucker), aber auch langkettig und manchmal verzweigt als Polysaccharid. Während die großen Vielfachzucker im Tierund Pflanzenreich vor allem Stützfunktionen haben, erfüllen die kleinen Zucker eine wichtige physiologische Bedeutung. Sie liefern Energie. Kohlenhydrate sind schnelle und zuverlässige Energielieferanten. Reis enthält zusätzlich wertvolle Stärke, die zunächst in einfache Zucker zerlegt werden muss. Die gebundene Energie wird langsamer abgegeben. Diabetiker profitieren davon, da es dadurch nicht zu kurzfristigen Blutzuckerspitzen kommt. Wie schnell Zucker den Körper mit Energie versorgen kann, weiß jeder, der nach großer körperlicher oder geistiger Anstrengung schon mal Traubenzucker gegessen hat – schon nach kurzer Zeit kommt die Kraft zurück, man ist wieder leistungsfähiger. Kein Wunder, Traubenzucker ist nichts anderes als Glukose und damit der einfachste und physiologisch wichtigste Energielieferant des Körpers. Während andere energiereiche Moleküle wie Eiweiße und Fette vom Körper zunächst zerkleinert und in eine verwertbare Form gebracht werden müssen, gelangen Einfachzucker wie Glukose ohne große Umwege direkt in die Blutbahn. Glukose macht das Gros des Blutzuckers aus, über den der Organismus die Zellen mit Energie versorgt. Für das Gehirn, das Energie nicht speichern kann, ist Traubenzucker sogar der einzig mögliche Energielieferant. Fehlt er, kann er vom Körper aus Laktose, bestimmten Aminosäuren und Glycerin selbst gebildet werden. Um stets ausreichend aber trotzdem nicht zu viel Energie parat zu haben, steuert der Körper die Menge an Einfachzuckern im Blut ganz genau. Ungesunde Ernährung und mangelnde Bewegung gepaart mit einer genetischen Veranlagung können diesen Mechanismus allerdings aus dem Gleichgewicht bringen. Es entsteht ein Diabetes mellitus, das Blut ist zu süß (s.a. „Volkskrankheit Diabetes“, S. 12). Auch Zweifachzucker wie der Milchzucker (Laktose) liefern schnell Energie. Allerdings ist die Fähigkeit, als Erwachsener Milchzucker in großen Mengen zu verwerten, eine in der Geschichte der Menschheit relativ junge Errungenschaft. Nicht jeder Körper trägt die für die neue Ernährungsweise vorteilhaften Gene (s.a. „Intolerantes Erbe“, S. 15). Schwere Stoffwechselentgleisungen kann auch die ebenfalls in der Milch vorkommende Galaktose hervorrufen, wenn der Körper sie nicht mehr zu Glukose umwandeln kann (s.a. „Wenn Zucker die Zellen vergiftet“, S. 22). Die meisten Menschen, deren Zuckerhaushalt gestört ist, leiden unter einem Diabetes. Sie halten Diät, sollten sich viel bewegen und müssen laufend ihre Blutwerte kontrollieren. Dazu ist viel Selbstdisziplin nötig. Nicht jeder kann sie aufbringen, andere wiederum spornt die Krankheit an. Sie werden obwohl oder gerade weil sie krank sind zu Hochleistungssportlern. 10 KOHLENHYDRATE Laufend neue Eindrücke Hauptsache Sport: So ließe sich das Leben von Ulrike Thurm am besten auf einen Nenner bringen. Ob beim Marathonlauf, beim Tennis, Tauchen oder Rad fahren – die Typ 1Diabetikerin ist fast immer in Bewegung. „Sightseeing“ nennt Ulrike Thurm ihre Marathonläufe – zumindest wenn sie in Berlin, New York oder London stattfinden. „Laufen in einer interessanten Stadt macht einfach Spaß“, sagt die Präsidentin der International Diabetic Athletes Association (IDAA) e.V. in Deutschland. Der Verein versucht mit zahlreichen Informationen und aktiver Teilnahme zusammenzubringen, was in den Köpfen vieler Betroffener und auch mancher Ärzte noch immer nicht zusammengehört: Diabetes und Sport. Ein Leben ohne Sport kann sich die Diabetikerin Ulrike Thurm trotz ihrer Erkrankung nicht vorstellen. Schon seit langem ist bekannt, dass regelmäßige körperliche Aktivität einer der wichtigsten Faktoren bei der Prävention eines Diabetes ist. Nur langsam aber setzt sich die Erkenntnis durch, dass Patienten nach Ausbruch der Krankheit ebenfalls in hohem Maße von sportlicher Betätigung profitieren. Extremsport ist dafür nicht nötig, aber machbar. Das zeigt das Beispiel von Ulrike Thurm. Ihre Erkrankung hat sie dabei so gut im Griff, dass sie noch nie eine schwere Unterzuckerung hatte. „Ich habe immer ein Messgerät für regelmäßige Kontrollen meines Blutzuckers dabei“, berichtet Thurm. Die Sportlerin hat stets Kohlenhydrate dabei, um der Unterzuckerung vorzubeugen. Eine beginnende Unterzuckerung nimmt sie auch während der sportlichen Aktivitäten wahr. „Ich werde dann langsamer, und das Laufen fällt mir schwer.“ Für Ulrike Thurm gibt es nichts, was man als Diabetiker nicht machen könnte. Man müsse allerdings seinen Körper gut kennen und besser planen und organisieren als Nichtdiabetiker. Und dann gibt es ja auch noch die IDAA. Etwa beim Berlin-Marathon: Dort organisierten Thurm und ihre Mitstreiter Anlaufstellen für Diabetiker am Start, am Ziel sowie an den Verpflegungsständen bei Kilometer zehn, 20 und 30. Betroffene können dort ihre Blutzuckerwerte kontrollieren und – je nach Bedarf – mit Hilfe von Bananen und süßen Getränken auftanken oder mittels Insulin überhöhte Werte senken. Das Angebot wurde dankbar angenommen. Dabei geht es nicht darum, den Patienten die Verantwortung für ihren Diabetes abzunehmen. Das Ziel ist eher eine gewisse Rückendeckung für verunsicherte Betroffene, die sich ohne diese Unterstützung der körperlichen Herausforderung eines Marathonlaufs möglicherweise nicht stellen würden. Für Ulrike Thurm ist die Rolle als Diabetesberaterin mit dem Schwerpunkt Sport mittlerweile zur Lebensaufgabe geworden. Sie lebt selbst vor, dass diese Erkrankung kein Hindernis sein muss: Neben dem Laufen spielt sie Fußball in der Landesliga, sie schwimmt, fährt Rad, spielt Tennis. Sie ist sogar eine aktive Rettungstaucherin. Dabei gab es in dieser Sportart jahrelang ein Verbot für insulinpflichtige Diabetiker – bis Ulrike Thurm 1995 den ersten wissenschaftlich begleiteten Tauchkurs für diese Patientengruppe durchführte. „Mittlerweile gilt für Diabetiker dasselbe wie für Nichtdiabetiker“, sagt sie überzeugt: „Hauptsache Sport!“ KOHLENHYDRATE 11 Die Bauchspeicheldrüse – Leichtgewicht mit schweren Aufgaben Bauchspeicheldrüse (Pankreas) Drüsenbläschen Proteine, Fette, Zucker – was wir mit der Nahrung aufnehmen, können die Enzyme der Bauchspeicheldrüse zerlegen. Als wichtigste Verdauungsdrüse des Menschen verfügt das Pankreas, wie das Organ medizinisch heißt, über rund 30 hoch spezialisierte Enzyme. Darunter Lipasen, die große Fettmoleküle zerkleinern, Peptidasen, die Eiweiße in ihre Bestandteile zerlegen, und Amylasen, die sich auf die Verdauung von Zuckermolekülen spezialisiert haben. Die meisten dieser Enzyme gelangen zunächst als inaktive Vorstufen über den zentralen Ausführgang, den Ductus pancreaticus, in den Dünndarm. Erst dort werden sie aktiv. Dieser Schutzmechanismus verhindert, dass die hochwirksamen Verdauungsenzyme das Pankreas selbst angreifen, denn das wird nicht wie der Darm durch eine Schleimhaut geschützt. Verdauungsenzyme zu produzieren, ist die Hauptaufgabe des Pankreas. Insgesamt leistet das nur etwa 70 Gramm schwere Organ im Oberbauch einen wahren Kraftakt: Immerhin 1,5 Liter Verdauungssekret werden pro Tag in der Bauchspeicheldrüse gebildet. In nur knapp zwei Prozent seiner Zellen bildet das Pankreas Hormone. Anders als die Verdauungsenzyme werden die Botenstoffe direkt ins Blut abgegeben und regulieren dort auch den Blutzuckerspiegel. Ein Beispiel ist Glukagon, das bei Bedarf in der Leber AlphaZelle BetaZelle Langerhanssche Insel Kapillargefäß gespeicherte Zucker mobilisiert. Glukagon ist der Gegenspieler des Insulins. Dieses Hormon ist besonders wichtig, weil es den Blutzuckerspiegel erhöht und damit ein wichtiger Regulator des Stoffwechsels ist. Gebildet werden die Hormone in den Alphazellen der Langerhansschen Inseln der Bauchspeicheldrüse – einem Organ im Organ. Diese abgegrenzten Zellhaufen im Pankreas setzen sich aus spezialisierten Zelltypen zusammen und registrieren unter anderem die Zuckermenge im Blut. Ist der Wert zu hoch, produzieren zum Beispiel die Betazellen der Langerhansschen Inseln als Gegenmaßnahme das Insulin, das sowohl seine Entstehung, als auch seinen Namen diesem „Inselorgan“ verdankt. Bei einem Diabetes mellitus Typ 1 werden die Betazellen des Inselapparates durch eine Abwehrreaktion des Körpers zerstört, so dass ein chronischer Insulinmangel entsteht. 12 KOHLENHYDRATE Volkskrankheit Diabetes Der Diabetes ist für Mediziner und Stoffwechselexperten ein alter Bekannter. Nach dem genetisch bedingten Typ 1-Diabetes macht Ärzten und Stoffwechselexperten vor allem der Typ 2-Diabetes Sorge. An dem früher als Altersdiabetes bekannten Leiden erkranken zunehmend junge Menschen. Sie steht ganz oben auf der Liste der Volkskrankheiten und wird – wenn sich der Lebensstil der Menschen nicht ändert – die Gesellschaft langsam aber sicher verändern: die Zuckerkrankheit oder auch der Diabetes mellitus. Die Veranlagung, an Diabetes zu erkranken, liegt zwar in den Genen, doch Schuld an der epidemieartigen Ausbreitung des Diabetes haben – darin sind sich die Experten einig – ein gravierender Mangel an körperlicher Aktivität und das weit verbreitete Übergewicht bis hin zur Fettleibigkeit. „Es ist der amerikanische Lebensstil, der mit etwas Verzögerung zu uns rüberschwappt – mit all seinen negativen Konsequenzen“, bestätigt der Präsident der Deutschen Diabetes-Gesellschaft (DDG), Professor Thomas Haak vom Diabetes Zentrum Mergentheim. Sorgen macht vor allem der früher als Altersdiabetes bekannte Typ 2-Diabetes. Längst sind auch junge Erwachsene und sogar Kinder und Jugendliche betroffen. Dabei besteht ein direkter Zusammenhang zwischen der steigenden Zahl übergewichtiger Menschen und Diabetes-Erkrankungen. Hält der Trend zum Dicksein an, rechnen Experten bereits für das Jahr 2010 mit mindestens acht Millionen Typ 2-Diabetikern in Deutschland. Weltweit wird dann in den kommenden 20 Jahren die Zahl der Diabetiker auf 370 Millionen steigen. Der Typ 2-Diabetes ist eine Zivilisationskrankheit mit erheblichen gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen: So geht etwa jeder zweite Herzinfarkt oder Schlaganfall auf das Konto des Diabetes, ebenso jährlich rund 30.000 Amputationen allein in Deutschland, dazu Nierenversagen und Erblinden. Der Diabetes mellitus ist nach Angaben der DDG heute die teuerste chronische Erkrankung und belastet das deutsche Gesundheitssystem jährlich mit 18 Milliarden Euro. Doch was steckt hinter dieser Krankheit? Diabetes ist ein Sammelbegriff für Erkrankungen, bei denen die Aufnahme von Glukose (Traubenzucker) in die Zellen gestört ist. Ursache ist ein Botenstoff, das Rund sieben Millionen Menschen leiden in Deutschland unter einem Diabetes mellitus – ihr Blut enthält zu viel Glukose. Insulin, das bei Diabetikern entweder nicht gebildet wird oder wirkungslos ist. Bei Gesunden wird das Hormon in den Betazellen der Bauchspeicheldrüse produziert. Es öffnet die Membranen von Leber-, Fett- und Muskelzellen für Glukosemoleküle. Sie entstehen, sobald Zucker in Form von Kohlenhydraten mit der Nahrung aufgenommen wird. Steigt die Glukose im Blut, gibt Insulin den Zellen das Signal, den Zucker aufzunehmen. Auf diese Weise sorgt es für ausreichend Energie und hält den Blutzuckerspiegel konstant. Bei Diabetikern gleich welchen Typs ist die Regulation des Blutzuckerspiegels gestört. Der Typ 1-Diabetes manifestiert sich häufig bereits in der Kindheit: Das Immunsystem der betroffenen Patienten zerstört die Betazellen der Bauchspeicheldrüse. Schuld daran haben Variationen im Erbgut der Patienten, die die Oberfläche der Insulin produzierenden Zellen so verändern, dass das Immunsystem sie nicht mehr als körpereigene Zellen erkennt und sich gegen sie richtet. Als Folge gibt die Bauchspeicheldrüse kein oder zu wenig Insulin ins Blut ab, Glukose wird von den Körperzellen nicht mehr aufgenommen. Typ 1-Diabetiker müssen ihr Leben lang mehrmals täglich Insulin von außen zuführen. Nur vorübergehend ist dagegen der Gestations- oder Schwangerschaftsdiabetes. Er entsteht durch Schwangerschaftshormone und Hormone der Plazenta, die den Zuckerhaushalt stören, und verschwindet meist wenige Monate nach der Geburt. Allerdings gilt dieser Diabetes als hoher Risikofaktor, um später an Diabetes Typ 2 zu erkranken. Tatsächlich entwickelt etwa die Hälfte der Frauen mit Schwangerschaftsdiabetes in den folgenden KOHLENHYDRATE zehn Jahren einen Typ 2-Diabetes. Noch höher ist das Risiko, wenn während der Schwangerschaft Insulin gespritzt werden musste: 61 von 100 betroffenen Frauen bekommen sogar innerhalb von drei Jahren nach der Schwangerschaft einen Typ 2-Diabetes. Die häufigste Form der Zuckerkrankheit ist der Typ 2-Diabetes. Zwar liegen ihr genetische Anlagen zugrunde. Ihr bedeutendster Auslöser ist aber ein ungesunder Lebensstil. Tatsächlich könnten nach Ansicht von Diabetologen Typ 2-Diabetiker allein durch mehr Bewegung und Diät bereits viel gegen ihre Erkrankung tun. Zwar sind beim Typ 2-Diabetes die Empfängerzellen – also Leber-, Fett- oder Muskelzellen – genetisch bedingt weniger empfindlich gegenüber Insulin. Aber erst der Lebenswandel führt zu einer andauernden Insulinresistenz. Ähnliches lässt sich im Alter beobachten, wenn die Produktion des Hormons abnimmt. Dann antworten die Zellen nicht mehr auf das Signal des Botenstoffs und bleiben für Glukose undurchlässig. Tatsächlich können bei einigen Typ 2-Diabetikern durch Sport die Insulin-Andockstellen an den Zellwänden wieder an den richtigen Platz gebracht werden. Auch eine Diät hilft. Denn bei Übergewicht stellen die Fettzellen riesige Mengen bestimmter Hormone her, die die Insulinwirkung zusätzlich hemmen. Eine Gewichtsreduktion senkt die Produktion dieses Hormons. Erst wenn Bewegung und Diät nichts mehr ausrichten können, wird der Typ 2-Diabetes medikamentös behandelt. Dabei verzögern manche Wirkstoffe nach den Mahlzeiten die Aufnahme von Glu- Die Bedienung von Blutzuckermessgeräten ist dank modernster Technik heute ein Kinderspiel. 13 kose aus dem Darm, während andere ihre Aufnahme in die Zellen verbessern. Eine dritte Substanzklasse schließlich senkt den Blutzucker, indem sie die Insulinproduktion der Bauchspeicheldrüse verbessert. Die Schwierigkeit des Typ 2-Diabetes liegt auch in der Diagnose. Symptome wie Müdigkeit, Schwäche oder Hungergefühl sind unspezifisch und stellen sich nur schleichend ein – viele Diagnosen werden deshalb erst gestellt, wenn die Patienten wegen ganz anderer Leiden einen Arzt aufsuchen. Diese Leiden sind häufig die Folgen des Diabetes: Herz-KreislaufErkrankungen, Nervenleiden, Nierenprobleme oder eine Verringerung der Sehschärfe bis hin zur Erblindung. Der Diabetes – gleich welchen Typs – ist ein Paradebeispiel dafür, wie komplex das Zusammenspiel zwischen Genen, Ernährung und Bewegung sein kann. So lassen sich Risiko und Schwere der Erkrankung trotz genetischer Veranlagungen durchaus durch eine bewusste Ernährung beeinflussen. Studien am Deutschen Institut für Ernährungsforschung (DIfE) in Potsdam zeigten zum Beispiel wiederholt, dass ein durch kohlenhydratreiche Nahrung bedingter Anstieg des Blutzuckerspiegels eine entscheidende Rolle bei der Diabetes-Entstehung spielt. Die Ernährungswissenschaftler raten zu Ballaststoffen aus Vollkornprodukten. „Verschiedene Studien am DIfE geben klare Hinweise, dass Ballaststoffe aus Getreideprodukten den Anstieg des Blutzuckerspiegels verlangsamen und die Insulinwirkung verbessern und so dazu beitragen können, das Typ 2-Diabetes-Risiko zu senken“, bestätigt DIfEForscher Professor Heiner Boeing, dessen Arbeit das BMBF im Rahmen des Nationalen Genomforschungsnetzes (NGFN) unterstützt. Sport gilt neben einer gesunden Ernährung als zweite wichtige Waffe gegen den Diabetes. Die meisten Menschen profitieren von mehr Bewegung: „Es gibt schöne Daten, wonach sich ein Typ 2-Diabetes bei normalem Gewicht und körperlicher Aktivität in bis zu 90 Prozent der Fälle vermeiden ließe“, berichtet der Sportmediziner Professor Martin Halle von der Technischen Universität München. „Etwa 10.000 Schritte pro Tag und zusätzlich zwei- bis dreimal die Woche sportliche Betätigung wie strammes Spazierengehen für etwa 30 Minuten sind dafür aber ein Minimum.“ 14 KOHLENHYDRATE Diabetes und Depression – ein unheilvolles Duo Was kommt zuerst – der Diabetes oder die Depression? „Der Zusammenhang ist in beide Richtungen denkbar“, berichtet Dr. Frank Petrak von der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsklinik Bochum. „Die chronische Belastung durch Diabetes kann eine Depression auslösen.“ So leide etwa jeder vierte Diabetiker an einer erhöhten Depressivität und circa neun Prozent erkrankten gar am Vollbild einer Depression. „Umgekehrt haben jedoch auch depressive Patienten eine um etwa 37 Prozent erhöhte Wahrscheinlichkeit, an Diabetes zu erkranken“, so der Psychologe von der Ruhr-Universität. Denn Menschen mit einer Depression führen oft einen ungesunden Lebenswandel: Sie bewegen sich wenig, ernähren sich schlecht, sind dann übergewichtig – und begünstigen dank dieser drei Faktoren die Entstehung eines Diabetes. Aber auch hormonelle Wechselwirkungen könnten eine Rolle spielen. Petrak leitet eine Forschergruppe, die im Rahmen der vom Bundesforschungsministerium geförderten und weltweit einzigartigen Diabetes-DepressionsStudie (DAD-Studie) seit 2006 nach Möglichkeiten sucht, die Therapie von Diabetikern mit Depressionen zu verbessern. Dabei soll eine Behandlungsmöglichkeit gefunden werden, die sowohl die Depression als auch den Diabetes berücksichtigt. Denn das gleichzeitige Vorhandensein beider Leiden führt zu einem deutlich schlechteren Krankheitsverlauf sowohl des Diabetes als auch der Depression. „Die Wechselwirkung ist tatsächlich gravierend“, so Petrak. „Sie reicht bis hin zu einer deutlich erhöhten Sterblichkeit bei depressiven Diabetikern.“ Ein Diabetiker sollte in der Regel mehrmals täglich seine Blutzuckerwerte kontrollieren, auf die Diät achten und gegebenenfalls eine an den Bedarf angepasste Menge Insulin einnehmen. Das erfordert ein gehöriges Maß an Selbstdisziplin – und zwar lebenslang. Unter dem Einfluss einer Depression fehlen aber oft der Antrieb und die nötige Energie. Alltägliche Verrichtungen erscheinen als unüberwindliche Belastung, so dass viele depressive Diabetiker ihre Blutzuckereinstellung vernachlässigen. Folgeerkrankungen stellen sich dann früher ein. An der DAD-Studie nehmen rund 300 depressive Diabetiker teil: Patienten mit unzureichend eingestelltem Blutzucker, die seit mindestens einem Jahr an Diabetes leiden und seit mindestens sechs Monaten mit Insulin behandelt werden. Doch nur, wenn sie auch an einer Depression leiden, kommen sie für die Studie in Frage. Dabei wird die Depression der Probanden – unter Fortführung der Diabetestherapie – durch die Einnahme eines seit mehreren Jahren zugelassenen Antidepressivums oder eine diabetesspezifische Verhaltenstherapie behandelt. Schon jetzt ist bekannt, dass die medikamentöse Therapie und die Psychotherapie in der Depressionsbehandlung ähnlich gut wirken. Es gibt aber keine langfristigen Erkenntnisse über ihre Auswirkungen auf den Diabetes. Deshalb wird die Entwicklung der erfolgreich behandelten Teilnehmer zudem über 15 Monate verfolgt. Die medikamentöse Behandlung läuft dabei weiter, die Psychotherapie dagegen nicht. Diese zweite Studienphase soll dann zeigen, ob die erfolgreiche Therapie der Depression einen positiven Verlauf des Diabetes bewirkt – und ob Rückfälle der Depression drohen. Viele depressive Diabetiker vernachlässigen ihre Therapie und geraten dadurch in einen Teufelskreis. Denn wenn die Blutwerte schlechter werden, sinkt auch die Stimmung. KOHLENHYDRATE 15 Intolerantes Erbe Ihr Körper kann keinen Milchzucker verwerten und reagiert daher auf Milch und Milchprodukte mit Blähungen, Übelkeit und Durchfall. Mehr als 12 Millionen Menschen in Deutschland leiden unter einer Laktoseintoleranz. Etwa ein Gramm Kalzium sollten erwachsene Menschen täglich über die Nahrung zu sich nehmen. Einen Teil davon benötigen Muskeln und Nerven, das meiste aber kommt den Knochen zugute. Fehlt das Mineral, verlieren die Knochen an Festigkeit – Osteoporose ist die Folge. In den westlichen Gesellschaften sind Milch und Milchprodukte die Hauptlieferanten von Kalzium und zählen daher zu den wichtigsten Grundnahrungsmitteln. Doch längst nicht alle Menschen vertragen Milch. Etwa 12 Millionen Deutsche leiden unter einer Laktoseintoleranz. Sie können den in der Milch enthaltenen Milchzucker, die Laktose, nicht verwerten. Grund ist ein Mangel an Laktase. Dieses Enzym, das normalerweise den Milchzucker bereits im Dünndarm in die vom Körper verwertbaren Zucker Galaktose und Glukose zerlegt, ist zu wenig oder gar nicht mehr vorhanden. Dadurch gelangt der Zucker unverdaut in den Dickdarm, wo er von Bakterien vergoren wird. Das dabei entstehende Gas sorgt für die typischen Symptome einer Laktoseintoleranz: die Patienten fühlen sich nicht wohl, klagen über Bauchschmerzen, erbrechen oder leiden unter lang anhaltendem Durchfall. Eine Krankheit ist diese Unfähigkeit, Milchzucker zu spalten, nach Ansicht von Dr. Thomas Ochsenkühn nicht. Der Mediziner leitet die Ambulanz für chronisch entzündliche Darmerkrankungen am Klinikum Großhadern in München. Im Gegenteil, die Fähigkeit, Laktose zu verdauen, haben sich erwachsene Menschen vermutlich erst in den letzten 8.000 Jahren erworben, seit mit Beginn der Tierhaltung die Milch in einigen Teilen der Welt zu einem beständig verfügbaren Nahrungsmittel avancierte. Alle Menschen bilden nach ihrer Geburt das Enzym Laktase. Es hilft ihnen als Kleinkind, die Laktose der Muttermilch zu verdauen. Nach der Stillzeit aber stand dem Menschen in der längsten Zeit seiner Entwicklungsgeschichte keine Milch mehr zu Verfügung – das Enzym wurde nicht mehr gebraucht, der Körper drosselte die Produktion entsprechend. Bei vielen ist das auch heute noch so, obwohl Milch ihnen lebenslang zur Verfügung steht. Die Fähigkeit, Milchzucker auch als Erwachsene überhaupt verdauen zu können, verdanken wir also einer Variation im Erbgut, die sich erstaunlich rasch manifestierte. Ergebnisse von Anthropologen bestätigen das. Sie fanden in steinzeitlichen Skeletten eben jenes Gen, das heute bei Menschen mit Milchzucker-Unverträglichkeit im Körper signalisiert: Laktaseproduktion einstellen! Doch es gibt auch klinisch ernste Fälle von Laktoseintoleranz: etwa dann, wenn durch einen genetischen Defekt bereits Säuglingen das Enzym Laktase fehlt. Unbehandelt kann ein solcher Laktasemangel das Wachstum stark beeinträchtigen und zu Gehirnschäden führen. Selten ist eine Laktoseintoleranz auch Folge chronischer Darmerkrankungen oder akuter Entzündungen des Verdauungstrakts. Die Laktaseproduktion ist in diesen Fällen aber meist nur vorübergehend beeinträchtigt. Weltweit tolerieren schätzungsweise vier Milliarden erwachsene Menschen keinen Milchzucker, das sind rund zwei Drittel der Menschheit. Milch ist nur in Nord- und Mitteleuropa sowie bei einigen Hirtenvölkern ein Hauptnahrungsmittel. In anderen Erdteilen wird der tägliche Kalziumbedarf traditionell durch Gemüse, Nüsse und Soja gedeckt – eine Anpassung des menschlichen Erbguts an einen erhöhten Milchkonsum war in diesen Regionen bis heute nicht notwendig. 16 KOHLENHYDRATE Diabetestherapie – mehr als Insulin Neue Forschungsansätze und Medikamente lassen auf einen Durchbruch im Kampf gegen den Diabetes hoffen. Die Innovationen sollen Diabetikern jeden Typs das Leben mit der Stoffwechselerkrankung erleichtern. Es ist ein 13-jähriger Junge, dem 1922 als erstem Diabetiker Insulin injiziert wird. Das Hormon öffnet bestimmte Körperzellen für Glukose, die den Zucker dann aus dem Blut aufnehmen können. Diabetiker aber bilden kein Insulin mehr oder ihre Zellen reagieren nicht darauf. Wegen Überzuckerung war das Kind bereits ins Koma gefallen – und konnte durch die Insulinspritze gerettet werden. Noch immer ist die Insulingabe die zentrale Säule der Diabetestherapie, wenn auch schon lange nicht mehr die einzige. „Schließlich gehört zur Diabetesbehandlung weit mehr als nur das Insulin“, sagt Professor Peter Nawroth, Ärztlicher Direktor der Abteilung Endokrinologie und Stoffwechsel des Universitätsklinikums Heidelberg. Tatsächlich muss nur der Typ 1-Diabetiker sein Leben lang Insulin zuführen. Bei den meisten Typ 2-Patienten wirkt schon die Basistherapie – eine Kombination aus ausgewogener Kost, körperlicher Aktivität und Gewichtsabnahme – kleine Wunder. Doch wenn die Lebensumstellung schwer fällt oder keine nennenswerte Besserung bringt, müssen Medikamente den Blutzuckerspiegel in Grenzen halten. „Der Bedarf für innovative Therapien ist gegeben und wird auch bestehen bleiben“, so Nawroth. Medikamente für Typ 2-Diabetiker wirken auf unterschiedliche Weise. Sie verringern oder verzögern den Anstieg des Blutzuckers nach dem Essen oder verhindern, dass Zucker in der Leber neu gebildet wird. Andere Wirkstoffe wiederum steigern die Freisetzung des Insulins oder erhöhen seine Wirkung. Große Aufmerksamkeit unter den Diabetologen erfährt auch die Therapie mit so genannten Inkretinmimetika. Inkretine sind Darmhormone, die nach der Aufnahme von Kohlenhydraten mit der Nahrung den Blutzucker regulieren. Bei höheren Blutzuckerwerten werden zum Beispiel die Inkretine GIP (Gastric Inhibitory Polypetide) und GLP-1 (Glucagonlike Peptide 1) aktiv. So gibt GLP-1 nach der Nahrungsaufnahme das Signal, mehr Insulin freizusetzen. Gleichzeitig verzögert es die Entleerung des Magens, drosselt den Appetit – und wirkt so einem überhöhten Blutzuckerspiegel entgegen. Als besonders positiv wird gesehen, dass diese Wirkstoffe – anders Im Rahmen des vom BMBF geförderten Nationalen Genomforschungsnetzes (NGFN) wird nach den genetischen Ursachen des Diabetes mellitus gesucht. als andere Diabetesmedikamente – nicht zu einer gefährlichen Unterzuckerung führen. Möglicherweise können sie sogar die Insulin produzierenden Betazellen der Bauchspeicheldrüse vor dem Absterben bewahren. Ebenso große Hoffnungen setzen Wissenschaftler auf so genannte Interleukinblocker bei Typ 2-Diabetes. Wie Professor Marc Donath vom Universitätsspital Zürich zeigen konnte, spielt das körpereigene Molekül Interleukin-1-Beta eine entscheidende Rolle bei der Entstehung des Typ 2-Diabetes. „Das Molekül wird bei metabolischem Stress freigesetzt, also auch bei hohem Blutzucker“, sagt Donath. „Das löst eine Immunreaktion aus, durch die letztlich die Insulin produzierenden Betazellen der Bauchspeicheldrüse zerstört werden.“ In einer Studie an Typ 2-Diabetikern setzte Donath deshalb Interleukin-Blocker ein, die bereits für die Therapie anderer Krankheiten als Medikament KOHLENHYDRATE 17 zugelassen und als nebenwirkungsarm bekannt waren. Bereits nach einer Woche zeigte sich eine deutliche Verbesserung des Blutzuckerstoffwechsels. Dieser Effekt hielt für die gesamte Studiendauer von drei Monaten an. Neben der positiven Wirkung auf die Insulinproduktion wurden aber auch spezifische Entzündungsfaktoren gehemmt, die für die häufigen Komplikationen des Diabetes im HerzKreislauf-Bereich verantwortlich sind. „Das macht diesen Ansatz auch so interessant“, meint Nawroth. „Möglicherweise wirken die Interleukin-Blocker nicht nur gegen den Diabetes, sondern verhindern auch Folgeschäden.“ Derzeit werden Diabetesmedikamente nach einem Stufenplan und oft miteinander kombiniert verabreicht. Bessert sich die Blutzuckereinstellung nach drei Monaten nicht, werden andere oder zusätzliche Wirkstoffe hinzugezogen und schließlich Insulin verabreicht. In der Regel wird Insulin gespritzt. Doch wird intensiv nach neuen Darreichungsformen gesucht. So kann man das Hormon inzwischen auch inhalieren oder durch die Haut aufnehmen. Doch Insulinmoleküle sind groß und durchdringen die Haut nur schwer. Und nach Angaben des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheits- wesen (IQWiG) hat inhalatives Insulin gegenüber gespritztem Insulin zudem keinerlei gesundheitliche Vorteile. An den Erfolg inhalativer Insuline wie Exubera mag auch Stoffwechselexperte Nawroth nicht glauben: „Zum einen gibt es keinen richtigen Bedarf dafür. Ich zumindest habe noch keinen der von den Vertreiberfirmen viel zitierten Spritzenphobiker getroffen.“ Daneben seien aber einige Fragen immer noch offen, etwa nach der Tauglichkeit des Systems oder wie sich regelmäßig eingeatmeter Insulinstaub auf die Lunge auswirkt. Im Kampf gegen den Typ 1-Diabetes könnte eine Impfung mit körpereigenen Antigenen zum Erfolg führen. Bei Mäusen ist sie bereits erprobt: Der Impfstoff hemmt das fehlgeleitete Immunsystem der kranken Tiere. Auf diesem Weg konnten Wissenschaftler des Berliner Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin (MDC) zusammen mit französischen Kollegen Zellen des Immunsystems aktivieren, um T-Zellen zu stoppen, die die insulinproduzierenden Betazellen angreifen. In diesem frühen Stadium der Erprobung ist die Erforschung der Diabetes-Impfung von allgemeinem Interesse. Denn die Versuche zeigen, dass es prinzipiell möglich ist, Krankheiten zu verhindern, bei denen das Immunsystem gegen den eigenen Organismus vorgeht. Diabetes Typ 1 und Typ 2 im Überblick Typ 1 Typ 2 Ursachen genetische Veranlagung Übergewicht, mangelnde Bewegung und genetische Veranlagung Wirkung im Körper Autoimmunreaktion: Im Rahmen einer Entzündungsreaktion zerstört das körpereigene Immunsystem die Insulin produzierenden Betazellen in der Bauschspeicheldrüse. Folge: Insulinmangel Insulinresistenz: Die insulinabhängigen Körperzellen reagieren nicht mehr oder nur schwach auf das Hormon Insulin, das ihnen die Aufnahme von Glukose ermöglicht. Der Körper produziert daher besonders viel Insulin, um den Mangel zu kompensieren. Mögliche Folge: Insulinüberschuss Ausbruch der Krankheit meist vor dem 35. Lebensjahr, besonders häufig zwischen 11 und 13 Jahren meist ab dem 40. Lebensjahr, besonders häufig ab 65 Jahren Symptome rasche, starke Gewichtsabnahme, da Insulinmangel den Fettaufbau beeinträchtigt unspezifische oder keine Beschwerden, selten Stoffwechselentgleisungen Häufigkeit ca. 250.000 Fälle in Deutschland ca. 5,5 Millionen Fälle in Deutschland 18 KOHLENHYDRATE Künstliche Bauchspeicheldrüse Noch ist sie in der Diabetestherapie Zukunftsmusik, die künstliche Bauchspeicheldrüse. Denn der Anspruch ist hoch: Sie müsste Diabetiker so gut mit dem Hormon versorgen wie das natürliche Vorbild. Für ein solches „Closed-Loop-Gerät“, das also in sich geschlossen funktioniert, sind zwei nahtlos kombinierbare Einheiten nötig: Ein Sensor zur Erfassung des Blutzuckerspiegels und eine Pumpe, die das Hormon Insulin bedarfsgerecht abgibt. Beides gibt es bereits, und auch Closed-LoopGeräte sind schon entwickelt – allerdings für einen ganz besonderen Einsatz: bei Patienten auf der Intensivstation. Durch eine Schockreaktion des Körpers – etwa nach einer schweren Verletzung, einem chirurgischen Eingriff oder einer Infektion – erhöht sich bei Intensivpatienten in den meisten Fällen vorübergehend der Blutzuckerspiegel. Ein Problem, das schon lange bekannt ist und nach Schätzungen für bis zu 40 Prozent der Todesfälle auf Intensivstationen verantwortlich ist. Dagegen soll nun das Gerät helfen, das im Labor von Dr. Michael Heise am Institute for Analytical Science (ISAS) in Dortmund im Rahmen des EUgeförderten CLINICIP-Projekts entstanden ist und in Tests seine hohe Zuverlässigkeit bewiesen hat. Heises Gerät hat gegenüber den Konkurrenzprodukten einen großen Vorteil: Es misst neben der Glukose auch noch andere klinisch wichtige Parameter, etwa um die lokal schwankenden Blutzuckerwerte präzise zu berechnen. Der Glukosegehalt wird in der Regel im Gewebe gemessen und korreliert gut mit der Konzentration im Blut. Allerdings kann es zu Störungen kommen. So kann zum Beispiel die Implantierung eines Mikrodialysekatheters zu traumatischen Zuständen führen, bei denen der Wert der Gewebeglukose drastisch sinkt und gleichzeitig die Menge des Stoffwechselprodukts Laktat steigt. Unter diesen Bedingungen würde ein einfaches Gerät andere Glukosewerte messen als sie tatsächlich im Blut vorliegen, so dass die Sensoren in der Regel erst nach einer längeren Gleichgewichtseinstellung im Gewebe zuverlässig messen. Durch die zusätzliche Messung des Laktatgehalts lässt sich bestimmen, wann die Glukosekonzentration des Gewebes zur Blutzuckermessung verwendet werden kann. Das macht das Gerät für Diabetiker interessant. Unklar ist, ob Heises Gerät auf den Intensivstationen zum Einsatz kommen wird. Im Projekt CLINICIP sind auch zwei Konkurrenzprodukte entstanden. „Unser Gerät ist aber sehr universell“, betont Heise. „Das Messprinzip ist bewiesen und die Miniaturisierung technisch möglich“, so der Forscher. „Unser Kooperationspartner erarbeitet derzeit die Algorithmen für Diabetiker. Wir hoffen also, dass unser Gerät letztlich auch von dieser Patientengruppe genutzt werden kann und wird.“ Noch wird die künstliche Bauchspeicheldrüse ausschließlich bei Intensivpatienten eingesetzt. Doch schon bald sollen auch Diabetiker von dem Gerät profitieren können. KOHLENHYDRATE 19 Transplantation als Therapie bei Diabetes Betazellen aus der Bauchspeicheldrüse verstorbener Spender wurden bereits erfolgreich in die Leber von Typ 1-Diabetikern transplantiert. Die Transplantierten sind ihr Leben lang auf Immunsuppressiva angewiesen. Versagt ein Organ, kann es in der modernen Medizin in vielen Fällen ersetzt werden: durch eine Transplantation, bei der ein Spenderorgan übertragen wird. Auch die Diabetesforschung setzt in der Therapie von Diabetes Typ 1 auf diese Methode. Sie liegen im Zellverband als Langerhanssche Inseln in der Bauchspeicheldrüse (s.a. „Die Bauchspeicheldrüse“, S. 11). Ihre wichtigste Aufgabe ist es, Insulin zu produzieren, das den Blutzucker reguliert: Betazellen. Doch beim Diabetes Typ 1 werden sie fälschlicherweise vom körpereigenen Abwehrsystem angegriffen und unwiderruflich zerstört. Typ 1-Diabetiker sind deshalb darauf angewiesen, das Hormon lebenslang von außen zuzuführen. Wissenschaftler wollen die zerstörten Inselzellen ersetzen. Doch noch ist die Methode der Inselzelltransplantation nicht ausgereift, die Forschung läuft auf Hochtouren. Drei Varianten werden dabei verfolgt. So wird entweder eine komplette Bauchspeicheldrüse übertragen oder aber es werden nur Inselzellen eines Spenders transplantiert. Die dritte Möglichkeit sind schließlich Stammzellen, die zu Inselzellen herangezogen und dann übertragen werden. „Ein großes Problem ist dabei natürlich immer die Abstoßung“, meint Professor Peter Nawroth, Ärztlicher Direktor der Abteilung Endokrinologie und Stoffwechsel der medizinischen Universitätsklinik Heidelberg. „Momentan arbeitet man daran, die Inselzelltransplantation zu verbessern. Möglicherweise kann man die Zellen so verändern, dass sie nicht mehr vom Immunsystem attackiert werden – oder man kombiniert die Transplantation mit einer Impfstrategie. Das ist aber noch Zukunftsmusik.“ Bislang haben Mediziner lediglich die Übertragung von Pankreas und Inselzellen verstorbener Spender erprobt – das aber mit Erfolg. Obwohl die Leistung der transplantierten Inselzellen nach einigen Jahren wieder nachlässt, weil sie Fremdkörper bleiben, waren die Patienten, die eine Transplantation wagten, über Jahre unabhängig von der äußeren Insulinzufuhr. Trotzdem ist die Transplantation als Therapie des Diabetes Typ 1 noch lange kein Standard. Anlass zur Vorsicht gibt die Immunabwehr der Betroffenen, denn der Körper wehrt sich wie bei jeder Transplantation gegen das fremde Gewebe und stößt es ab. Bei Typ 1-Diabetikern werden die 20 neuen Zellen zusätzlich vom krankheitsauslösenden Autoimmunprozess angegriffen, denn die körpereigene Abwehr geht bei diesem Diabetes-Typ ohnehin gegen die Inselzellen vor. Deshalb ist jeder Transplantierte ein Leben lang auf Immunsuppressiva angewiesen, Medikamente also, die die Körperabwehr dämpfen und eine Abstoßung verhindern sollen. Doch diese Wirkstoffe sind problematisch. „Immunsuppressiva können schwere Nebenwirkungen haben und erhöhen das Krebsrisiko“, betont Dr. Mathias D. Brendel, Oberarzt an der Medizinischen Klinik III der Justus-Liebig-Universität Gießen und Leiter der dort angesiedelten internationalen Registratur für Inselzelltransplantationen (ITR). Angesichts der gesundheitlichen Belastung durch eine Immunsuppression wird die Transplantation einer Bauchspeicheldrüse oder von Betazellen bislang nur in Gießen und nur an einer sehr kleinen Patientengruppe durchgeführt: bei Diabetikern, die als Folgeschaden der Erkrankung an einem Nierenversagen leiden. Eine Nierentransplantation ist bei ihnen unumgänglich – und damit ohnehin eine lebenslange Immunsuppression. Wenn möglich, wird diesen Patienten gleichzeitig oder nach der Nierentransplantation auch ein neues Pankreas übertragen. Ein Pankreas allein wird dagegen selten eingesetzt. Der Eingriff erfolgt nur bei Patienten, die an KOHLENHYDRATE einem nicht kontrollierbaren Diabetes leiden, der schon mehrfach zu lebensgefährlichen Entgleisungen des Zuckerhaushalts geführt hat. Nur dann sind Aufwand und Risiko einer Transplantation gerechtfertigt. Auch bei Typ 2-Diabetikern kann es im Spätstadium zu einer Zerstörung der Betazellen kommen. Weil der Insulinmangel aber nicht das primäre Problem ihrer Erkrankung ist, soll bei ihnen nicht transplantiert werden. Bei jeder Übertragung bleibt die eigene Bauchspeicheldrüse des Patienten erhalten. Schließlich hat dieses wichtige Organ nur seine Funktion als Insulinproduzent und Kontrolleur des Blutzuckers verloren. Etwa 95 Prozent der vom Pankreas sezernierten Stoffe sind aber Verdauungsenzyme, die auch weiterhin benötigt werden. Eine andere Variante ist die Übertragung isolierter Betazellen. Um eine ausreichende Menge funktionsfähiger Zellen zu erhalten, werden oft zwei bis drei menschliche Spender-Bauchspeicheldrüsen verwendet. Eine hohe Zahl, doch da sich längst nicht jede übertragene Zelle in dem fremden Organismus ansiedelt, sind ausreichend viele Spenderzellen nötig. Die zu transplantierenden Inselzellen werden erst aus dem Spendergewebe ausgewaschen und dann unter lokaler Betäubung über einen Katheter in das Gefäßsystem der Leber geschleust. Dass sie nicht in die Bauchspeicheldrüse eingebracht wer- Bei der Inselzelltransplantation werden Zellen aus der SpenderBauchspeicheldrüse isoliert und in das Leber-Gefäßsystem des Empfängers übertragen. KOHLENHYDRATE Um die Langerhansschen Zellen zu gewinnen, wird das Gewebe mit Hilfe spezieller Enzyme getrennt. Das Bild zeigt, wie die Enzyme unter kontrolliertem Druck in eine Bauchspeicheldrüse gespritzt werden. den, hat einen praktischen Grund: Das Lebergewebe ist operativ besser zu erreichen. Über das Gefäßsystem können sich die Zellen dann im Organ verbreiten und einnisten. Das Lebermilieu ist zwar für die Inselzellen nicht optimal. Vielfach wird die fremde Umgebung aber toleriert, und die Zellen beginnen mit der Insulinproduktion. Egal ob Pankreas oder Inselzellen – verläuft die Transplantation optimal, ist sie unter allen therapeutischen Optionen die Methode, die einer Heilung des Typ 1-Diabetes am nächsten kommt. Deshalb halten Diabetesforscher daran fest, obwohl die Immunsuppression erhebliche Probleme mit sich bringt. Doch die Forscher sind optimistisch: „Wir arbeiten intensiv an der Manipulation der Immunantwort auf das fremde Gewebe“, sagt der Gießener Experte Brendel. „Am Tiermodell kann bereits eine dauerhafte Akzeptanz des Transplantats erreicht werden, wenn die Körperabwehr nur kurzzeitig unterdrückt wird.“ In der Erprobung ist auch eine Art Tarnkappe für Betazellen. Sie umschließt die Inselzellen wie eine Kapsel und verwehrt den Immunzellen so den Zugang. „Dabei ist aber zu bedenken, dass auch das Material der Hülle eine Abwehrreaktion hervorrufen kann“, meint Brendel. „Außerdem müssen für das Insulin Poren in der Kapsel sein, die dann allerdings auch automatisch groß genug sind, um manche Botenstoffe des Immunsystems durchzulassen.“ 21 Eine Immunreaktion kann letztlich nur umgangen werden, wenn die implantierten Zellen keine fremden Erkennungsmuster an der Oberfläche tragen. Deshalb wird auch an Gewebe gearbeitet, das von Schweineföten stammt und molekular entsprechend manipuliert ist, um der Körperabwehr möglichst wenige Angriffsstellen zu liefern. Ein anderer Ansatz dagegen setzt auf adulte Stammzellen, also undifferenzierte Zellen. Sie können sich in alle Zelltypen des Körpers entwickeln. Ihre besonderen Fähigkeiten erlauben ihnen theoretisch, beschädigtes oder zerstörtes Gewebe im Körper zu ersetzen – in diesem Falle wären das die Inselzellen. „Die Idee an sich ist schön“, räumt Brendel ein. „Man darf aber nicht glauben, dass aus körpereigenen Stammzellen nachregeneriertes Gewebe gar keine Immunreaktion provoziert. Sie tragen schließlich auch Proteine an ihrer Oberfläche, die von der Körperabwehr des Diabetikers erkannt werden.“ Zudem fehlt bislang noch der Beweis, dass dem natürlichen Vorbild gleichwertige Betazellen im Labor geschaffen werden können. Es gibt erste Erfolge, aber die Insulinproduktion der künstlich erzeugten Betazellen liegt bislang deutlich unter dem erforderlichen Niveau natürlicher Betazellen. „Es sind einfach noch keine richtigen Inselzellen“, meint Brendel. „Trotzdem halte ich diese Forschung für extrem wichtig. Eine Therapie wird sich kurzfristig aber sicher nicht ergeben.“ Dennoch würde eine erfolgreiche Stammzellübertragung ein großes Problem lösen, mit dem Transplantationen aller Organe, Gewebe und Zellen zu kämpfen haben: dem eklatanten Spendermangel. In Deutschland und vielen anderen Ländern gibt es bei weitem nicht genug Menschen, die ihre Organe im Todesfall zur Verfügung stellen, um den Bedarf der schwerkranken Patienten zu decken. 22 KOHLENHYDRATE Galaktosämie – wenn Zucker die Zellen vergiftet Menschen mit klassischer Galaktosämie können wegen eines Enzymmangels den Zucker Galaktose nicht abbauen. Sie ernähren sich nahezu galaktosefrei. Die Symptome der Stoffwechselkrankheit zeigen sich aber auch bei konsequenter Diät – die körpereigene Galaktose könnte die Ursache sein, vermuten Wissenschaftler. Wenn Säuglinge Muttermilch nicht vertragen, leiden sie möglicherweise an klassischer Galaktosämie. Bei dieser angeborenen Stoffwechselerkrankung kann der im Milchzucker enthaltene Einfachzucker Galaktose nicht in Glukose umgewandelt werden. Glukose ist unter den Kohlenhydraten der wichtigste Energieträger des Körpers. Bei der klassischen Galaktosämie fehlt das Enzym Galaktose-1-Phosphat-Uridyltransferase, kurz GALT, das im gesunden Körper den zweiten Schritt der Umwandlung katalysiert. Der Enzymmangel führt zu einem Stau an Stoffwechselprodukten, die auf bislang unbekannte Weise giftig wirken. Etwa eines von 40.000 Neugeborenen ist betroffen. Unbehandelt führt die klassische Galaktosämie zum Tod. Weil Milch besonders viel Galaktose enthält, erkranken Säuglinge bereits in den ersten Lebenstagen. Die Galaktose und giftige Stoffwechselprodukte stauen sich in verschiedenen Geweben an. Das Galaktose-1-Phosphat schädigt vor allem Leber und Nieren, das Galaktitol die Augen. Die Folgen sind massive Leberschäden, etwa in Form einer Gelbsucht, Nierenleiden und eine Trübung der Augenlinsen. Die molekularen Mechanismen der Entstehung dieser lebensbedrohlichen Symptomatik sind bisher nicht bekannt. Die zurzeit einzige Therapie ist eine strenge Diät. Die Betroffenen sollen vor allem Milchzucker und freie Galaktose soweit wie möglich meiden, und zwar ein Leben lang. Das bedeutet eine erhebliche Einschränkung der Lebensqualität – und das Ergebnis ist dennoch unbefriedigend. Denn bei etwa zwei Drittel der Patienten treten – selbst wenn sie den krankmachenden Zucker strikt vermeiden – Folgeschäden auf. Warum dies geschieht, ist bislang nicht bekannt. „Betroffen ist in erster Linie das Zentralnervensystem, vor allem das Gehirn“, berichtet Professor Peter Schadewaldt vom Kompetenzzentrum Galaktosämie am Universitätsklinikum Düsseldorf. „Diese Beschwerden äußern sich in einer verminderten Intelligenz, Sprachstö- rungen und anderen neurologischen Defiziten.“ Nicht zuletzt wegen dieser schweren Schäden sind Patienten und ihre Angehörigen seit Jahren mit detektivischem Scharfsinn auf der Suche nach „versteckter Galaktose“ als möglichem Auslöser dieser Defizite. Umso erstaunlicher ist, dass die außerordentlich strikte Diät angesichts neuer Forschungsergebnisse möglicherweise bald obsolet werden könnte. „Wir erleben derzeit einen Paradigmenwechsel“, sagt Schadewaldt. „Die lebenslange strenge Diät ist wohl nicht falsch, wahrscheinlich aber unnötig. Milch und Milchprodukte müssen zwar auch weiterhin gemieden werden, sie verlieren nach der Kindheit aber quantitativ an Bedeutung als Nahrungsmittel. Nur im ersten halben Lebensjahr ist die Belastung durch Laktose so außerordentlich hoch. Ich vermute, dass wir in ein oder zwei Jahren neue Leitlinien formulieren können, die diese neuen Ergebnisse zur Galaktosetoleranz bei Galaktosämie widerspiegeln – und die Lebensqualität der Betroffenen dramatisch verbessern werden. “ Aber bereits jetzt lässt sich sagen, dass auch eine hohe einmalige Belastung keine gesundheitlichen Schäden hervorrufen kann. „Wir bekommen immer wieder Anrufe besorgter Eltern, wenn ein Kind aus Versehen doch Milchprodukte zu sich genommen hat“, sagt Schadewaldt. „In diesen Fällen können wir aber ganz klar Entwarnung geben.“ Denn nach neuesten Ergebnissen ist der Körper der Galaktose nie ganz hilflos ausgeliefert – auch wenn die Literatur bei der klassischen Galaktosämie in Bezug auf den KOHLENHYDRATE 23 Wissenschaftler des Nationalen Genomforschungsnetzes (NGFN) sind Gendefekten auf der Spur – auch Galaktosämie wird durch einen Fehler im Erbgut verursacht. Noch ist nicht bekannt, wie der körpereigene Zucker die Zellen vergiftet, doch die Forschungen laufen auf Hochtouren. Abbau des Zuckers nach wie vor von beinahe null Aktivität spricht. „Das stimmt einfach nicht“, sagt Schadewaldt. „Eine kleine Restaktivität, die mit bisherigen Verfahren meist nicht erfasst werden konnte, ist immer vorhanden, und mehrere Gramm Galaktose können normal abgebaut werden.“ Wird die Diät eingehalten, wird aber wesentlich weniger Galaktose mit der Nahrung aufgenommen. „Beim erwachsenen Patienten deutlich weniger als ein Zehntel Gramm.“ Die Forscher sind mittlerweile sicher, dass nicht die versteckte Galaktose die neurologischen Schäden auslöst: Es ist der Zucker, den der Körper selbst produziert. Und das sind nach neueren Untersuchungen immerhin zwei bis drei Gramm pro Tag. Experimentell soll nun bestimmt werden, wie viel Nahrungs-Galaktose die Patienten insgesamt tatsächlich aufnehmen können. „Nach ersten Hinweisen dürften Erwachsene etwa fünf Gramm Galaktose täglich tolerieren, das entspricht etwa dem Gehalt in 0,2 Litern Kuhmilch“, berichtet Schadewaldt. Von den Betroffenen wird das radikales Umdenken erfordern: Bisher gaben Positivlisten mit Nahrungsmitteln, die als unbedenklich galten, den Patienten und ihren Angehörigen Orientierung. Bald wird es möglicherweise Negativlisten geben mit nur einigen wenigen Nahrungsmitteln (vor allem Milch und Milchprodukten), die gemieden werden sollten. Besiegt ist die Galaktosämie damit aber noch lan- ge nicht. „Es ist völlig unbekannt, wie die im Körper gebildete Galaktose die neurologischen Schäden hervorruft. Entsprechend groß ist der Forschungsbedarf“, meint Schadewaldt. Mit seinen Kollegen im Kompetenzzentrum Galaktosämie will der Düsseldorfer Experte nun herausfinden, über welche Mechanismen die Vergiftung stattfindet und welche Zellfunktionen gestört werden. Erst wenn das verstanden ist, können Therapiekonzepte erarbeitet werden. Die Galaktosebildung im Körper, da sind sich die Forscher einig, darf nicht unterdrückt werden – zu groß wäre dieser Eingriff in den Stoffwechsel. „Wir können nur hoffen, irgendwie die toxische Wirkung der Stoffwechselprodukte verhindern oder mildern zu können. Zudem müsste jedes Therapeutikum in das Innere der Zellen gelangen, weil dort die Galaktose gebildet wird. Damit aber zeichnet sich auch schon die größte Herausforderung ab: Wir müssen vor allem auch die Gehirnzellen mit der Behandlung erreichen.“ Denn ganz offensichtlich schädigen die Galaktose und ihre toxischen Abbauprodukte dieses Organ besonders, wie sich an der verminderten Intelligenz, den Sprachstörungen und anderen Defiziten erkennen lässt. Dank all dieser Ergebnisse befindet sich die Galaktosämieforschung in einer völlig neuen Ausgangssituation. Die Stoßrichtung ist klar: Nur mit der Entwicklung einer medikamentöse Therapie wird diese Erkrankung wirksam zu behandeln sein. 24 EIWEISSE EIWEISSE 25 Eiweißstoffwechsel – Recycling der Aminosäuren Wer von Eiweißen (Proteinen) spricht, meint eigentlich Aminosäuren. Weit über hundert dieser kleinen, aber wichtigen Moleküle hält die Natur bereit, allein 22 davon im menschlichen Körper. Sie sind die Bausteine der Proteine und damit der vielfältigsten Molekülgruppe des Organismus. Denn ohne Proteine gäbe es keine Enzyme und ohne Enzyme käme der gesamte Stoffwechsel zum Erliegen. Und nicht nur das: Proteine sind auch Bestandteile der Zellwände, sorgen für die Struktur von Geweben, sind Antikörper oder Hormone. Hülsenfrüchte, allen voran Sojabohnen und Bohnen, sind besonders reich an essenziellen Aminosäuren. In Ländern, in denen tierisches Fleisch rar ist, aber auch in der vegetarischen Ernährung, sind sie daher wichtige Eiweißlieferanten. Aber nicht nur die Funktion der Proteine ist ungeheuer vielfältig. Auch ihre Zahl beeindruckt. So können aus den 22 im menschlichen Körper vorkommenden Aminosäuren scheinbar unendlich viele verschiedene Eiweißmoleküle gebaut werden. Die Aminosäureketten bestehen dabei häufig aus mehreren tausend Aminosäuren, so dass bereits bei kleineren Proteinen mit einer Länge von 100 Aminosäuren die Zahl der möglichen Kombinationen ins Unermessliche steigt. Wie, wann und wo welche Aminosäuren zusammengebaut werden, ist durch das Erbgut festgelegt. Veränderungen im Genom ändern die Bauanleitungen und so die Struktur oder Zusammensetzung der Proteine. Die immensen Kombinationsmöglichkeiten beim Bau von Proteinen werden damit zur Spielwiese der Natur. In der Entwicklungsgeschichte von Homo sapiens bieten solche Mutationen zwar die Chance zur Anpassung (s.a. „Intolerantes Erbe“, S. 15), bezogen auf ein Menschenleben aber sind Veränderungen in der Proteinstruktur oft die Ursache von Erkrankungen. Betreffen die Mutationen dann noch Proteine, die im Eiweißstoffwechsel andere Proteinmoleküle auf-, ab- oder umbauen, entstehen folgenschwere Stoffwechselstörungen wie die Ahornsirupkrankheit (s.a. „Das Gehirn als Spiegel des Stoffwechsels“, S. 30) oder die bekanntere Phenylketonurie (s.a. „PKU-Patienten halten ihr Leben lang Diät“, S. 28). Weil Aminosäuren aus den Nahrungseiweißen im Körper zu anderen Aminosäuren umgewandelt werden, führen Störungen im Eiweißstoffwechsel in der Regel entweder zu einem Überschuss der Bausteine oder zu einem Mangel. Neun der 22 Aminosäuren können zudem vom Körper selbst nicht gebildet werden und müssen mit der Nahrung aufgenommen werden, sie sind essenziell. Diäten gehören daher zur ersten und wichtigsten therapeutischen Maßnahme bei einer Störung des Eiweißstoffwechsels. Da pflanzliche und tierische Nahrung Eiweiße mit unterschiedlichen Zusammensetzungen von Aminosäuren enthält, kann – zumindest in Maßen – durch die geeignete Wahl der Nahrungsmittel die Konzentration der Proteinbausteine im Körper gesteuert werden. Über Diäten der besonderen Art wird vor allem in asiatischen Ländern das Gleichgewicht zwischen den 22 lebenswichtigen Aminosäuren auf natürliche Weise aufrechterhalten: Eiweißreiche Insekten stehen ganz selbstverständlich auf dem Speiseplan. 26 EIWEISSE Eiweiß auf sechs Beinen Frittierte Spinnen, geröstete Heuschrecken, zerstoßene Ameisen auf Brot oder mit Schokolade überzogen – während sich einem Europäer bei der Vorstellung, so etwas zu verspeisen, die Kehle zuschnürt, sind Insekten in den meisten anderen Teilen der Erde alltägliche Nahrungsmittel. Warum auch nicht? Sie sind die am häufigsten auf der Erde vorkommenden Tiere, es gibt sie überall, sie lassen sich leicht fangen oder züchten und sind vor allem eine reichhaltige Eiweißquelle. Getrocknete Insekten bestehen aus bis zu 60 Prozent Protein. Der Eiweißgehalt einer Mahlzeit aus Insekten steht dem eines Steaks oder Fischfilets nicht nach. Insekten sind reich an Mineralstoffen und Vitaminen. Wer statt Schweineschnitzel ein paar geröstete Maden knabbert, bekommt keine Probleme mit seinem Cholesterinspiegel. Der Nährwert, also die Energie, die Insekten dem meschlichen Körper liefern, ist mit dem Nährwert des Fleisches vierbeiniger Nutztiere vergleichbar. Ausgewachsene Tiere sind eher eiweißreich, Larven enthalten mehr Fett. Die nährstoffreichsten Insekten sind Termiten und Schmetterlingsraupen. Besonders verbreitet ist Entomophagie – der Verzehr von Insekten – in Asien, Afrika sowie Mittelund Südamerika. In Mexiko werden Grashüpfer und andere Insekten auf Wochenmärkten feilgeboten, in Dosen konserviert oder in Tortillafladen als Tacos eingerollt. Wer sich mit den Essgewohnheiten nicht auskennt, muss damit rechnen, einen mit heißer Chilisauce übergossenen Stinkkäfer in seinem Snack zu finden. Berühmt ist auch die tierische Zugabe in Agavenschnaps. Einige Hersteller legen einen Agavenschädling, die Maguey-Raupe aus der Familie der Dickkopffalter, mit in die Flasche – ein Marketinggag, der mit der Faszination des Ekels spielt. In den Ländern, in denen die meisten Insekten verzehrt werden, sind sie mehr als ein billiger Fleischersatz. Ihr Eiweiß ergänzt in diesen Regionen den Speiseplan sogar besser als Fleisch. Die Proteine von Insekten und Säugetieren unterscheiden sich nämlich in ihrer Zusammensetzung. Eiweiße von Insekten enthalten zwar auch sämtliche essenziellen Aminosäuren, in ihnen ist aber zusätzlich besonders viel Lysin und Threonin verbaut. Und gerade diese beiden Aminosäuren sind in Reis, Maniok und Mais – den Grundnahrungsmitteln in Asien, Afrika sowie Mittel- und Südamerika – kaum enthalten. Insekten füllen dort also eine wichtige Lücke im Speiseplan. Völlig insektenfrei ist allerdings auch die europäische Küche nicht. Unfreiwillig hat wohl jeder schon mal kleine Maden und Käfer verzehrt. Sie krabbeln kaum sichtbar in Freiland-Brokkoli oder -Blumenkohl. Auch Marmeladen und Nudelsoßen enthalten die winzigen Eiweißlieferanten – allerdings püriert. Heuschrecken, Maden und Käfer – Insekten stehen in vielen Ländern ganz selbstverständlich auf dem Speiseplan. EIWEISSE 27 Die Darmwand – Pumpstation für Aminosäuren Darmfalten Mukosa Lymphbahn Blutgefäße Muskulatur Submukosa Er ist zwischen vier und sechs Meter lang, misst nur wenige Zentimeter im Durchmesser und hat eine Oberfläche von etwa 300 Quadratmetern: der Dünndarm. Obwohl der Darm mitten in unserem Bauch liegt, ist alles, was ihn durchläuft, streng genommen doch außerhalb unseres Körpers. Denn die Nährstoffe, die wir mit den Speisen zu uns nehmen, müssen erst durch die Darmwand hindurch, um ins Blut und damit in das Innere unseres Körpers zu gelangen. Allen voran die Aminosäuren, die neben Zuckern und Fetten die wichtigsten Bausteine des Körpers sind und in Form von Eiweißen aufgenommen werden. Die Darmwand ist die Pumpstation ins Innere des Körpers. Sie ist außen mit einer Schleimhaut, der Mukosa, überzogen. Die einzellige Schicht ist für die Aufnahme der Nahrungsbestandteile ins Blut verantwortlich. Damit sie diese Aufgabe optimal erfüllen kann, liegt sie in Falten; Ausstülpungen, Gruben und ein Bürstensaum vergrößern ihre Oberfläche zusätzlich. Blutgefäße, die in der Submukosa, also der Schicht unter der Schleimhaut liegen, nehmen die Nährstoffe schließlich auf und leiten sie in den gesamten Körper. Bevor die Nährstoffe jedoch durch die Darmwandzellen in die Blutbahnen geschleust werden, muss die Nahrung in Mund, Magen und Darm mechanisch und chemisch zerkleinert werden. Die Hauptarbeit übernimmt der Dünndarm. Für jede Nährstoffgruppe hält er maßgeschneiderte Enzyme bereit. Allein für die Zersetzung von Eiweißen in ihre Bestandteile, die Aminosäuren, bildet der Verdauungstrakt täglich bis zu 30 Gramm so genannter Proteasen und Peptidasen. Im Bürstensaum der Schleimhaut spalten zum Beispiel spezielle Peptidasen kleine Eiweißbruchstücke, die mit dem Brei aus vorverdauter Nahrung und Enzymen angeschwemmt wurden. Dabei kneifen sie dicht an der Darmwand eine oder zwei Aminosäuren von den Eiweißen ab. Ein ausgeklügeltes Transportsystem in den Darmwandzellen schleust dann die so frei gewordenen Aminosäuren sofort ins Zellinnere. Als Schleuse fungiert ein Kanal, der durch die gesamte Zellwand reicht. Da die AminosäureKonzentration in der Darmzelle höher ist als im Darmraum, muss der Körper Energie aufwenden, um die Aminosäuren aktiv in die Zelle zu transportieren. Die Transportsysteme der Darmwand sind hochspezialisiert. So gibt es eigene Schleusen für neutrale und für basische Aminosäuren sowie einen weiteren Durchlass für die ringförmigen Aminosäuren Prolin und Hydroxyprolin. Der Transport durch diese Schleusen funktioniert so schnell, dass im Darm so gut wie keine freien Aminosäuren zu finden sind. Für den Weg der Aminosäuren aus den Darmzellen in die Blutbahn muss dann keine Energie mehr aufgewendet werden. Denn die Konzentration im Blut ist geringer als in den Zellen, so dass die Aminosäuren einfach aus der Zelle in den Blutstrom rutschen können. 28 EIWEISSE PKU-Patienten halten ihr Leben lang Diät Ein Überschuss an Phenylalanin, einer lebensnotwendigen Aminosäure, macht vielen Menschen zu schaffen. Sie leiden an Phenylketonurie (PKU), der weltweit häufigsten angeborenen Stoffwechselkrankheit. Deutsche Wissenschaftler erforschen neue Therapien, um Betroffenen eine lebenslange Diät zu ersparen. Der Mann, der zu Professor Anibh Das in die Stoffwechselambulanz der Medizinischen Hochschule Hannover kommt, ist 45 Jahre alt und sieht auf den ersten Blick völlig gesund aus. Dann fällt der kleine Stofftiger auf, den er ängstlich im Arm hält. Der Patient hat die Stoffwechselkrankheit Phenylketonurie – und befindet sich geistig auf dem Stand eines Kleinkindes. Bei Patienten mit Phenylketonurie ist das Gen verändert, das die Bauanleitung des Enzyms Phenylalaninhydroxylase enthält. Etwa 400 unterschiedliche Mutationen dieses Gens sind inzwischen bekannt. Jede einzelne kann zu unterschiedlich starken Ausprägungen der Krankheit führen. Die Phenylalaninhydroxylase baut in der Leber normalerweise die Aminosäure Phenylalanin zu Tyrosin ab. Tyrosin ist seinerseits ein wichtiger Bestandteil zentraler Stoffwechselwege – etwa bei der Bildung der Schilddrüsenhormone oder der neuronalen Botenstoffe Adrenalin und Noradrenalin. Ist die Funktion der Phenylalaninhydroxylase wie bei PKU-Patienten gestört, entsteht ein Phenylalanin-Stau. Die Krankheit bricht aus, wenn das in der Leber angestaute Phenylalanin ins Blut schwappt und mit ihm ins Gehirn gelangt. Zunächst stört Phenylalanin nur die Abläufe im Gehirn, später ändert es dann sogar dessen Struktur. Wie die Aminosäure das bewirkt, ist bislang nicht genau bekannt. Die Vermutung: Die große Menge Phenylalanin im Blut könnte andere Aminosäuren von den Transportern an der Blut-Hirn-Schranke verdrängen, die das Zentrale Nervensystem vom Blutkreislauf trennt. Damit gelängen nicht ausreichend viele Aminosäuren ins Gehirn, um die dortige Eiweißproduktion aufrecht zu erhalten. Und das wiederum würde auch die Bildung und den Transport von Botenstoffen des Nervensystems beeinträchtigen. Die Aminosäure steht zudem im Verdacht, einen Energiemangel im Gehirn auszulösen und damit dessen Entwicklung zu behindern. PKU ist weltweit die häufigste angeborene Stoffwechselerkrankung. Die genetische Störung tragen etwa zwei von 10.000 Kindern in sich. Der Test auf PKU bildet bis heute die Grundlage des umfangreichen Screenings von Neugeborenen. Da beim Fötus zunächst der mütterliche Stoffwechsel den Abbau von Phenylalanin übernimmt, kommt ein PKU-Kind trotz genetischen Defektes scheinbar gesund auf die Welt. Dann aber ist schnelles Handeln gefragt. Denn sind die krankhaften Strukturen erst einmal im Nervensystem entstanden, sind sie nicht mehr umzukehren. Zu spät erkannte Patienten entwickeln sich stark verzögert. Sie werden unruhig, können sich nicht koordiniert bewegen, lernen nicht richtig, können keinen Stift in die Hand nehmen und bekommen epileptische Anfälle. Wo ein flächendeckendes Screening nicht üblich ist, etwa in Osteuropa, zeigen auch heute noch viele PKU-Patienten diese Verhaltensauffälligkeiten. Kommen sie mit drei oder vier Jahren in Behandlung, lässt sich ihre Entwicklung zwar noch durch eine diätische Therapie verbessern, aber die bereits eingetretenen Schädigungen bleiben. Bevor jedoch die Krankheit nach der ersten Diagnose durch das Neugeborenenscreening therapiert werden kann, sind weitere Tests notwendig. Es gilt festzustellen, um welche Form der Phenylketonurie es sich handelt, die klassische oder die atypische Form der PKU. Beide Krankheitstypen verlangen PKU-Test: Der von Robert Guthrie entwickelte Trockenblut-Test legte in Deutschland in den 1970er Jahren den Grundstein für ein umfassendes Neugeborenenscreening. EIWEISSE Die essenzielle Aminosäure Phenylalanin ist wichtiger Ausgangsstoff für Botenstoffe des Gehirns. In der Leber wird sie zur Aminosäure Tyrosin abgebaut, die Bestandteil wichtiger Stoffwechselwege ist. grundsätzlich verschiedene Therapiemaßnahmen. So mangelt es bei der klassischen PKU am Enzym Phenylalaninhydroxylase. Anders bei der atypischen Phenylketonurie. Bei dieser Form des Leidens fehlt lediglich ein Partner der Hydroxylase, das Koenzym Tetrahydrobiopterin (BH4), ohne das die Hydroxylase nicht arbeiten kann. Die atypische PKU wird daher medikamentös behandelt; eine Diät ist meist nicht nötig, da das Enzym – bei Anwesenheit des Koenzyms – korrekt arbeitet. Klassische PKU-Patienten müssen dagegen ein Leben lang Diät halten. In ihrer Nahrung darf die Aminosäure Phenylalanin nur in begrenzter Menge vorkommen. Kinder und Eltern leben nach Tabellen, die genau zeigen, worin die Aminosäure in welchen Mengen enthalten ist. Stark eiweißhaltige Lebensmittel wie Fisch oder Fleisch sind verboten, obwohl sie auch andere wichtige Körperbausteine liefern; Reis oder Nudeln müssen genau ausgewogen werden – nur Obst und einige Gemüsesorten können nach Herzenslust gegessen werden. Damit die Kinder keine Eiweißmangelerscheinungen bekommen, müssen sie die anderen lebenswichtigen Aminosäuren pur zu sich nehmen. Die reduzierten Bausteine ihrer Nahrung reichen sonst nicht für das Wachstum aus. Das Gleichgewicht zwischen zu viel und zu wenig Eiweiß ist extrem empfindlich und muss regelmäßig überprüft werden. Hat ein Patient trotz Diät hohe Phenylalaninwerte, gibt es in der Regel zwei mögliche Ursachen: Entweder wurde der Diätplan nicht sorgfältig eingehalten oder das Kind bekommt zu wenig Kalorien mit der Nahrung. Stehen einem 29 wachsenden Körper nämlich zu wenige Kalorien zur Verfügung, greift er auf seine Reserven zurück und baut Muskeln ab. Dabei wird auch Phenylalanin unkontrolliert freigesetzt. „Wir erforschen eine Methode, mit der man durch Blutuntersuchungen diese beiden Ursachen einfach auseinander halten kann“, sagt der Hannoveraner PKU-Spezialist Das. Sein Ansatz: An der Zusammensetzung der Aminosäuren im Blut kann er ablesen, ob die Diät schlecht durchgehalten wurde oder ob es an Kalorien mangelt. Denn Muskeln, auf die der Körper dann als Aminosäurequelle zurück greift, haben ein ganz bestimmtes Aminosäuremuster, das die Mediziner dann im Blut nachweisen können. Neuere Untersuchungen sollen zudem zeigen, ob und wie durch den Einsatz des Koenzyms BH4, das bei der atypischen PKU fehlt und so den Phenylalaninabbau hemmt, auch Patienten mit klassischer PKU geholfen werden kann. Denn nicht immer fehlt die Hydroxylase vollständig. Zusätzliches BH4, so die Hoffnung der Wissenschaftler, könnte die Aktivität des Phenylalanin abbauenden Enzyms auch bei einer klassischen PKU steigern. Erste Studien an Patienten mit unterschiedlichen Formen der Krankheit ergaben, dass einige Mutanten auf BH4 ansprechen, ohne dass die Patienten an einer atypischen PKU leiden. Welche genetischen Varianten mit einer BH4Empfindlichkeit zusammenhängen, ist Gegenstand der derzeitigen Forschungen. „Die Gabe von BH4 ist noch keine zugelassene Therapie, es gibt bisher nur einzelne Studien“, betont Anibh Das. Der PKU-Experte hofft dennoch, mit BH4 eines Tages zumindest einigen PKU-Patienten den Alltag durch eine weniger strenge Diät deutlich erleichtern zu können. Eine besondere Herausforderung stellen schwangere PKU-Patientinnen dar. Wird der mütterliche Stoffwechsel nicht präzise eingestellt, kann es zu einer Schädigung des Kindes im Mutterleib durch Phenylalanin kommen, auch wenn das Kind selbst nicht von PKU betroffen ist. Indem der Phenylalaninwert bei der Mutter gesenkt wird, kann eine vorgeburtliche Schädigung vermieden werden. 30 EIWEISSE Das Gehirn als Spiegel des Stoffwechsels Lange Zeit galt, dass das Gehirn der Patienten mit der Ahornsirupkrankheit nur wenig geschädigt wird, wenn sie frühzeitig behandelt werden. Doch die Krankheit hinterlässt – auch rechtzeitig behandelt – Spuren im neuronalen Netz der Patienten. Wie stark diese Folgen sind und in welchem Ausmaß ihnen eine Diät entgegen wirkt, sollen aktuelle Forschungen zeigen. Entwickelt sich das Kind geistig normal? Oder wird es sein Leben lang auf Hilfe angewiesen sein? Bei der Ahornsirupkrankheit (Maple syrup urine disease, MSUD, s.a. Kasten), bei der dem Urin ein süßlicher ahornsirupartiger Geruch entströmt, entscheiden eine frühe Diagnose und eine rasche Behandlung über die Entwicklung eines Kindes – ein Wettlauf mit der Zeit. Denn durch einen Enzymdefekt können die Aminosäuren Leucin, Isoleucin und Valin sowie die aus ihnen entstehenden Ketosäuren nicht weiter abgebaut werden. Sie reichern sich im Blut an und gelangen so rasch ins Gehirn, das sie binnen weniger Tage stark schädigen. Obwohl die Stoffwechselkrankheit bereits kurz nach der Geburt eines Menschen das Gehirn stark schädigt, sind sich MSUD-Forscher heute sicher, dass auch im späteren Leben der Patienten die Konzentration der drei Aminosäuren im Blut darüber entscheidet, wie sich das Hirn weiter entwickelt. Noch nicht klar ist allerdings, wie stark Leucin, Isoleucin und Valin die Gehirnentwicklung tatsächlich beeinflussen. Um das herauszufinden, untersuchen Dr. Eva Simon und Dr. Dirk Klee vom Universitätsklinikum Düsseldorf MSUD-Patienten mit einer speziellen Form der Magnetresonanztomographie (MRT), dem diffusionsgewichteten MRT. Dabei erkennen die Forscher an der Bewegung von Wassermolekülen im Gewebe Veränderungen in der weißen Hirnsubstanz. In einer Studie hat Simon gesunde Kinder und junge Erwachsene mit zehn gleichaltrigen MSUDPatienten verglichen – darunter einige, die schwere Entgleisungen ihres Stoffwechsels erlitten hatten und andere, die früh erkannt und rechtzeitig behandelt worden waren. Das ernüchternde Ergebnis: Auch wenn die Patienten – für MSUD-Kranke – ganz normale Werte der Aminosäure Leucin haben, zeigen sich auch ohne erkennbare Entgleisungen des Stoffwechsels Veränderungen im Gehirn. Strukturen und Nervenfaser- bahnen bilden sich zurück. Zwar werden die Veränderungen in der Nervenstruktur des Gehirns umso massiver, je schlechter die Patienten ihre Diät einhalten. Im Laufe der kindlichen Entwicklung verändern sich dennoch trotz Diät ganze Gehirnregionen unter dem Einfluss von Leucin, Isoleucin und Valin. Die Stoffwechselexpertin Eva Simon will deshalb herausfinden, ob es vom konsequenten Einhalten einer Diät abhängt, wie schwer die Veränderungen im Gehirn verlaufen. Schließlich ist eine solche Diät mit genau berechneter Menge der in vielen Nahrungsmitteln vorkommenden Aminosäuren gerade für Kinder nicht einfach durchzuhalten. Verstärken das Stückchen Schokolade zum Geburtstag oder ein Eis im Sommer wirklich die befürchteten Folgen im Giftige Aminosäuren Aminosäuren sind für das Wachstum und Funktionieren des Körpers unerlässlich – vorausgesetzt, sie können verarbeitet werden. Ist ihr Abbau wie bei der Ahornsirupkrankheit (Maple syrup urine disease, MSUD) blockiert, reichern sie sich an und wirken giftig. Bei MSUD-Patienten ist besonders das Gehirn von den Schäden betroffen. Kinder mit MSUD werden bereits wenige Tage nach der Geburt lethargisch, krampfen und fallen ins Koma – ihr Stoffwechsel entgleist. Unbehandelt führt die Ahornsirupkrankheit nach kurzer Zeit zum Tod. Schuld an der Entgleisung des Stoffwechsels haben Fehler im Enzymkomplex 2-Ketosäuren-Dehydrogenase. Gene, die die Bauanleitung für das dreiteilige Enzymsystem tragen, sind so verändert, dass die Aminosäuren Leucin, Isoleucin und Valin nicht korrekt abgebaut werden können. Die Aminosäuren und ihre chemischen Verwandten, die Ketosäuren, reichern sich im Blut an. Mit der Blutbahn gelangen sie schließlich ins Gehirn, wo sie toxisch wirken. Wie sie das tun, ist allerdings bis heute nicht genau geklärt. Parallel zur Erforschung des molekularen Krankheitsverlaufs versuchen Mediziner daher, die Schwere der Krankheit durch eine geeignete Diät zu mildern. In Deutschland erkrankt etwa eines von 300.000 Kindern an der Ahornsirupkrankheit. EIWEISSE 31 Das Gehirn eines MSUD-Patienten (links) und eines gesunden Menschen (rechts). Beim MSUD-Patienten sind Nervenfasern in Teilen des Gehirns deutlich zurückgebildet. Gehirn? Oder darf auch mal gesündigt werden? Wenn eine schlecht eingehaltene Diät nämlich ohnehin keinen gravierenden Einfluss mehr auf den Krankheitsverlauf hätte, könnten ältere Patienten sich erheblich mehr erlauben, ohne ihre Lebensqualität zu beeinträchtigen. Doch noch etwas anderes beschäftigt die Forscherin: Leucin stört nicht nur die Entwicklung des Gehirns. Die Aminosäure erschwert auch das Denken. Eine zweite Studie des Teams um Eva Simon zeigt, dass Patienten mit sonst gut eingestelltem Stoffwechsel aber hohen Leucinwerten selbst dann deutliche Konzentrationsschwächen aufweisen, wenn sie die MSUD-Diät sehr gut eingehalten hatten. In neurophysiologischen Tests untersuchten die MSUD-Spezialisten aus Düsseldorf sechs Patienten und sieben Kontrollpersonen gleichen Alters. Zunächst wurde der aktuelle Leucinspiegel der Probanden ermittelt, dann mussten sie am Computer mehrere Aufgaben lösen. Bis zu acht Mal haben die Teilnehmer diese Tests wiederholt. Das Ergebnis zeigte immer wieder einen Zusammenhang zwischen dem Aminosäurepegel im Blut und den Leistungen am Computer. Bei einfachen Tests, etwa dem Drücken einer Taste, sobald ein Rechteck auf dem Bildschirm erscheint, ist noch kein Zusammenhang zwischen Leucinspiegel und Leistungsfähigkeit zu erkennen. Aber je anspruchsvoller die Aufgaben werden, desto mehr macht sich die hohe Leucinkonzentration im Kopf offenbar wie ein Gift bemerkbar. Eine besonders schwierige Aufgabe: Auf dem Monitor erscheinen drei, vier oder fünf kleine Quadrate. Sind drei oder fünf zu sehen, mussten die Probanden mit der rechten Hand eine Taste betätigen, bei vier Quadraten hingegen die Taste an der linken Hand. „Bei Gesunden hat ein Durchgang mit 600 Testbildern etwa 12 Minuten gedauert, bei Patienten mit hohem Leucinspiegel bis zu 45 Minuten“, berichtet Eva Simon. Je höher der Aminosäurepegel im Gehirn, desto schwerer fiel es den Patienten mit MSUD, sich zu konzentrieren. Teilweise mussten sie die Quadrate am Bildschirm mit den Fingern abzählen und irgendwann haben sie nur noch eine der beiden Tasten betätigt – egal was auf dem Monitor zu sehen war. Selbst bei Patienten, die ihre Diät normalerweise konsequent einhalten, konnten die Forscher erhöhte Leucinwerte messen, die Konzentrationsfähigkeit sank. Ein möglicher Grund: Wächst der Körper oder verspürt er Hunger, bedient er sich kurzfristig körpereigener Eiweißreserven. Dabei wird auch Leucin frei und gelangt – da es kaum abgebaut werden kann – mit dem Blut ins Gehirn. Kleinste Abweichungen von der Diät könnten diesen Effekt zusätzlich steigern. Die Diätvorschriften, so MSUD-Expertin Simon, sollten nach den bisherigen Ergebnissen daher konsequent eingehalten werden. 32 EIWEISSE Albinismus – viele Gene, eine Krankheit Hinter Albinismus, das ist seit langem bekannt, steckt eine Störung in der Produktion des Pigments Melanin. Trotzdem gibt es noch immer keine Therapie. Die Suche nach genetischen Ursachen soll nun helfen, die Erkrankung des Eiweißstoffwechsels früher zu erkennen und häufige Symptome wie das Augenzittern zu lindern. Eine typische Geschichte: Ein kleiner Mensch kommt auf die Welt mit hübschen blonden Haaren und blauen Augen. Die Eltern sind ebenfalls blond, und das Glück scheint vollkommen. Bis den Eltern auffällt, dass die Augen ihres kleinen Lieblings ständig zittern und er nicht wie andere Babys auf visuelle Reize reagiert. Die Ärzte finden nichts, endlose Untersuchungen beunruhigen die Eltern. Die Diagnose der Stoffwechselkrankheit Albinismus stellt niemand. Die häufige Begründung: Das Kind hat doch keine roten Augen. Obwohl Albinismus die häufigste angeborene Sehbehinderung ist, kommen viele Kinder erst nach einer langen Odyssee in die Sprechstunde von Professor Barbara Käsmann-Kellner an der Klinik für Augenheilkunde der Universität Homburg/Saar. „Selbst in den Köpfen vieler Augenärzte ist das angeblich ‚typische Aussehen’ eines Menschen mit Albinismus fest verankert“, sagt die Expertin. Und wenn der Verdacht auf Albinismus bestehe, so Käsmann-Kellner, führten viele Ärzte nach wie vor nur einen TyrosinHaarwurzeltest durch. Doch dieser Test ist längst überholt und für eine Diagnose nicht ausreichend. Er weist lediglich nach, ob sich in den Haarwurzeln des Patienten das Enzym Tyrosinase befindet. Dieser Eiweißstoff ist der Hauptakteur bei der Bildung von Melanin – dem Farbstoff, der unsere Haut, Haare und Augen färbt. Die Synthese des Farbstoffs Melanin beginnt mit der Bildung des Enzyms Tyrosinase in den Pigmentzellen. Fällt Licht auf diese Zellen, wird die Tyrosinase aktiv: Das Enzym wandelt die Aminosäure Tyrosin über Zwischenschritte in Melanin um und verkapselt den fertigen Farbstoff in so genannte Melanosomen. Die Transportvehikel werden von Zellen aufgenommen, etwa in den Augen oder der Haut. Melanin, das nicht nur vor schädlichen UV-Strahlen schützt, beeinflusst auch entscheidend die Entwicklung des gesamten Sehsystems. Ist seine Synthese durch einen Defekt im menschlichen Eiweißstoffwechsel gestört, leiden Menschen unter einer von zahlreichen Formen von Albinismus. So ist bei Menschen, die den Okulokutanen Albinismus Typ 1 (OCA1) in sich tragen, das Gen verändert, das für den Bau des Enzyms Tyrosinase zuständig ist und damit den Stoffwechselweg zum Melanin vollständig abschneidet. Fehlt die Tyrosinase, bleiben Haut und Haare weiß, die Iris der Augen durchscheinend blau. Nur diese Form des Albinismus kann mit dem Tyrosin-Haarwurzeltest erkannt werden. Aber Albinismus ist eine Erkrankung des Eiweißstoffwechsels mit einem sehr breiten Spektrum von Ursachen und Formen. Selbst Brünette können Albinisten sein. Eine sichere Diagnose ist nur durch einen Blick auf die Gene möglich. Inzwischen sind Mutationen an 15 Genen bekannt, die – unabhängig voneinander – Albinismus beim Menschen verursachen können. Und die Suche ist noch nicht abgeschlossen. Genetisch definiert sind fünf Typen von Albinismus, von denen der Typ „Okulokutaner Albinismus Typ 4“ erst kürzlich entdeckt wurde. Weltweit beschäftigen sich nur wenige Wissenschaftler mit der Krankheit, von der etwa jeder 17.000ste Mensch betroffen ist. Eines der Forschungszentren liegt im amerikanischen Minneapolis, das andere leitet Barbara Käsmann-Kellner an der Klinik für Augenheilkunde in Homburg an der Saar. Sowohl in Deutschland als auch in den USA liegt der Fokus der Forschung auf der Erfassung der genetischen Störungen des Eiweißstoffwechsels gibt es auch in der Tierwelt – hier ein albinotischer Pfau. EIWEISSE 33 Überflüssiges Eiweiß Varianten, die für Albinismus verantwortlich sind. Die Wissenschaftler suchen nach den genetischen Defekten im Erbgut, die zu Störungen des Melaninstoffwechsels führen. Kommen neue kleine Patienten mit Albinismus zu Käsmann-Kellner, nimmt sie sie in ihr Screening-Programm auf. Das langfristige Ziel dieser Erfassung genetischer Varianten ist eine frühe Diagnose schon im Kleinkindalter, um möglichst schnell die weitere Entwicklung der Augen zu unterstützen. Heilbar wird die Stoffwechselkrankheit dadurch nicht. Auch Therapiemaßnahmen können nur die Symptome lindern. „Wirklich helfen könnte jedoch eine Gentherapie“, sagt die Augenspezialistin. „Beim Albinismus Typ OCA1, bei dem keine Tyrosinase gebildet wird, könnten wir uns vorstellen, ein intaktes Gen einzuschleusen.“ Dadurch könnte der Fehler in der Melaninsynthese möglicherweise behoben werden. Bei Mäusen sei dies bereits gelungen. Aber für den Menschen sei eine solche Therapie noch zehn bis zwanzig Jahre entfernt, schätzt die Expertin aus Homburg. Hinzu kommt, dass Kinder mit Albinismus bereits mit Schädigungen an den Augen zur Welt kommen, die nach der Geburt nur schwer behoben werden können. So leiden Albinisten nicht nur unter starkem Augenzittern. Sie sind häufig auch stark kurz- oder weitsichtig. Ihr Fleck des schärfsten Sehens, mit dem Menschen Objekte fixieren, ist nur schwach entwickelt. In der Regel ist ihr Sehvermögen so schlecht, dass sie nicht Auto fahren dürfen. Zudem kreuzen die Sehnerven viel stärker als bei normal pigmentierten Menschen – im Extremfall läuft der rechte Sehnerv direkt nach links, ohne Fasern zum rechten Sehgehirn abzugeben, und umgekehrt. Die Folge: Albinismus-Patienten können nicht räumlich sehen. Mit dieser Kreuzung der Sehnerven kommen die Kinder bereits zur Welt. Eine völlige Heilung ist damit selbst durch eine Gentherapie ausgeschlossen. Gerade weil die Diagnose schwierig ist, wird die frühe Förderung des Sehapparates extrem wichtig. Da die Sehbehinderung sich aus vielen Einzelfaktoren zusammensetzt, ist Barbara Käsmann-Kellner froh, wenn Eltern ihre Kinder schon im ersten Lebensjahr in die Praxis bringen. Denn es gibt durchaus Förder-, Hilfs- und Therapiemöglichkeiten, durch die sich die Situation der Patienten verbessert. So ermöglichen ein früher Ausgleich der Fehlsichtigkeiten, die visuelle Frühförderung für die Kleinsten sowie optische und elektronische Sehhilfen für Kinder und Erwachsene mit Albinismus heute trotz ihrer Krankheit ein fast normales Leben. Eiweiß-Shakes und Spezialriegel, AminosäureAmpullen, Vitaminpräparate und Vitalstoffpillen: Doping ist längst kein – wenn auch zweifelhaftes – Privileg der Spitzenathleten mehr. Auch im Freizeitsport werden Mittel eingenommen, die auf den Dopinglisten stehen. Neben Stimulantien, die die Laune heben, und Erythropoetin (EPO), das den Sauerstofftransport im Blut verbessert, sind Stoffe beliebt, die in den Eiweißstoffwechsel eingreifen. Missbrauchen Sportler etwa das körpereigene Wachstumshormon HGH (Human Growth Hormone) in Kombination mit anabolen Steroiden wie Testosteron oder Nandrolon, werden die mit der Nahrung aufgenommenen Aminosäuren nicht als Brennstoff verbraucht, sondern zu solchen Eiweißen verknüpft, die Grundbausteine für neue Muskelfasern sind. Gleichzeitig fördert die Einnahme jedoch Diabetes, Leber- und Knochenschäden und vergrößert das Herz gefährlich. Auch das Wachstumshormon IGF 1 (Insulin-like Growth Factor 1) fördert die Entwicklung von Muskelmasse. In Tierversuchen haben Mäuse bis zu 50 Prozent mehr Muskeln durch das Hormon gebildet. Das bedeutet eine große Hilfe für Menschen mit krankhaftem Muskelschwund – und eine Verlockung für ungeduldige Sportler. Wer weder Medikamente noch seinen Körper missbrauchen möchte, kommt auch mit gesunder Ernährung und ein wenig mehr Geduld zu Muskeln und Ausdauer. Zusätzliche Eiweiße für Sportler schaden sogar mehr als sie nutzen: Mit der Nahrung nehmen wir bereits etwa 1,3 Gramm Eiweiß pro Kilogramm Körpergewicht auf. Das ist mehr, als ein Kraftsportler benötigt, um seine Muskeln wachsen zu lassen. Dazu sind nämlich nur etwa 0,9 Gramm Eiweiß nötig. Konsumiert ein Sportler trotzdem Eiweißpräparate, muss die Niere die zusätzlichen Proteine mühsam ausscheiden und wird dabei auf Dauer geschädigt. 34 EIWEISSE Lebensrettendes Tandem Schlägt das Herz im richtigen Rhythmus? Wie gut sind die Reflexe? Sind alle Organe korrekt ausgebildet? – Neugeborene Kinder gehören in Deutschland zu den medizinisch am besten untersuchten Gruppen. Doch viele genetisch bedingte Erkrankungen des Stoffwechsels machen sich erst im Laufe der weiteren Entwicklung bemerkbar. Lange Zeit wurden sie daher nicht oder zu spät erkannt – bis in den 1990er Jahren eine alt bekannte physikalische Methode das Neugeborenenscreening revolutionierte. Im Rahmen von Vorsorgeuntersuchungen werden in Deutschland seit 1976 Kinder auf Fehlentwicklungen des Körpers untersucht. In den ersten drei Lebenstagen interessieren sich die Ärzte heute vor allem für den Stoffwechsel der Säuglinge. Im Neugeborenenscreening wird das Blut auf Substanzen untersucht, mit denen sich schwere erbliche Erkrankungen nachweisen lassen: Stoffwechselstörungen wie die Phenylketonurie (PKU, s.a. „PKU-Patienten halten ihr Leben lang Diät“, S. 28), die Galaktosämie (s.a. „Galaktosämie – wenn Zucker die Zellen vergiftet“, S. 22) oder die Ahornsirupkrankheit (MSUD, s.a. „Das Gehirn als Spiegel des Stoffwechsels“, S. 30). Das Neugeborenenscreening wurde in Deutschland während der 1970er Jahre von dem Heidelber- Spannungsquelle Ionisation MS 1 Erste Massentrennung Neugeborene genießen in Deutschland seit mehr als dreißig Jahren eine medizinische Rundumversorgung. Mit Hilfe von Blutuntersuchungen werden bereits in den ersten drei Lebenstagen mögliche Stoffwechselerkrankungen frühzeitig erkannt. Kollisionszelle Fragmentierung MS 2 Detektor Zweite Massentrennung Schema der Tandem-Massenspektrometrie: Im Spektrometer MS 1 werden Moleküle entsprechend ihrer Masse getrennt. Bestimmte Moleküle kollidieren in der Zelle und werden gespalten. Nachdem die entstandenen Bruchstücke auch Spektrometer MS 2 durchlaufen haben, werden sie nochmals gemäß ihrer Masse erfasst. EIWEISSE Im Elektrospray-Ionisations-Spektrometer wird das spezifische Gewicht von Molekülen gemessen. Über 20 Erbkrankheiten können so in nur zwei Minuten diagnostiziert werden. ger Professor für Kinderheilkunde Horst Bickel etabliert. Anfangs war nur der von dem amerikanischen Arzt Robert Guthrie entwickelte Trockenbluttest auf PKU Bestandteil des Screenings. In den 1980er und 1990er Jahren kamen dann vier weitere Tests hinzu. Doch erst die Einführung der so genannten Elektrospray-Ionisations-Tandem-Massenspektrometrie (kurz: ESI-MS/MS) revolutionierte 1998 das Screening: Seither können mehr als 40 Stoffwechselprodukte (Metabolite) in einem einzigen Untersuchungsgang identifiziert und auch quantifiziert werden. Nach der deutschen Screening-Richtlinie werden damit heute PKU, Aminoazidopathien wie MSUD sowie mehrere Defekte der Verbrennung von Fettsäuren und Störungen im Stoffwechsel organischer Säuren routinemäßig erfasst. Das Grundprinzip der Massenspektrometrie ist seit etwa 100 Jahren bekannt: Moleküle werden ionisiert, also in einen geladenen Zustand versetzt, stark 35 beschleunigt und entsprechend ihrer Masse von Detektoren erfasst. Im Neugeborenenscreening kommt eine erweiterte massenspektrometrische Methode zum Einsatz, die Tandem-Massenspektrometrie (MS/MS). Sie verbindet zwei Spektrometer mit einer Kollisionskammer, in der die Biomoleküle nochmals gespalten werden. Aminosäuren zum Beispiel setzen bei einer solchen Kollision Bruchstücke mit einer ganz typischen Masse frei. Auch organische Säuren aus dem Eiweißabbau oder Fettsäuren können leicht ausfindig gemacht werden. „Durch die Quantifizierung dieser spezifischen Molekülfragmente und ihrer Verhältnisse zueinander können wir in einer zweiminütigen Untersuchung mehr als 20 verschiedene genetische Erkrankungen überprüfen“, sagt Dr. Martin Lindner, Leiter der Sektion angeborene Stoffwechselerkrankungen der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin in Heidelberg. „Mit der ESI-MS/MS-Methode hat sich die Zahl der Krankheitsfälle, die vor dem Auftreten von Symptomen diagnostiziert und therapiert werden, nahezu verdoppelt.“ Nach dem durchschlagenden Erfolg der Screening-Methode untersuchen die Wissenschaftler des Stoffwechselzentrums Heidelberg nun in einer Langzeitstudie, ob die Diagnose kurz nach der Geburt dem erkrankten Kind tatsächlich nutzt. Gemeinsam mit seinem Team und der Unterstützung von Kollegen aus anderen Stoffwechselzentren, in denen die im Screening aufgefallenen Kinder betreut werden, sammelt das Team in Heidelberg Daten zum Krankheitsverlauf, zur Behandlung und zur Entwicklung der Patienten vom Zeitpunkt der Diagnose bis zum zehnten Lebensjahr. Die Langzeituntersuchung wird von der DietmarHopp Stiftung gefördert und soll bis 2011 zeigen, wie sich der Krankheitsverlauf der frühzeitig betreuten Kinder von dem solcher Patienten unterscheidet, bei denen eine Erkrankung erst mit dem Auftreten von Symptomen festgestellt wurde. Dass die ESI-MS/MS im Neugeborenenscreening unabhängig von den Ergebnissen der Studie ein Meilenstein in der Präventivmedizin darstellt, ist für Lindner unbestritten. Denn trotz schwerer klinischer Symptome würden angeborene Stoffwechselstörungen ohne diese Methode auch heute noch erst sehr spät oder gar nicht diagnostiziert. 36 PURINE UND PYRIMIDINE PURINE UND PYRIMIDINE 37 Stoffwechsel der Purine und Pyrimidine Mit jeder Portion Fleisch nimmt der Mensch auch eine Extraportion Purine und Pyrimidine zu sich. Bewusst ist das allerdings nur wenigen. Denn während Zucker, Fette und Eiweiß jedermann ein Begriff sind und auch Vitamine einen festen Platz in unserem Wortschatz haben, sind die ringförmigen Moleküle weitgehend unbekannt. Dabei sind Purine und Pyrimidine als Bestandteile des Erbguts allgegenwärtig. Nahrungspurine, etwa aus Fleisch, werden beim Menschen zu Harnsäure abgebaut. Gichtpatienten sollten daher auf zu viel Fleisch und Innereien verzichten. Die ringförmigen Moleküle spielen im Stoffwechsel aller Organismen eine wahrhaft tragende Rolle. Mit ihrer einfachen stickstoffhaltigen Ringstruktur bilden sie das Grundgerüst für die Bausteine der Desoxyribonukleinsäure (DNA), die die Informationen des Lebens kodiert. Ohne Purine und Pyrimidine gäbe es keine Erbsubstanz. Auch der Energiestoffwechsel kann auf die kleinen Moleküle nicht verzichten, und viele Zucker werden durch Pyrimidine überhaupt erst aktiviert. Überall da, wo Zellen neu gebildet werden, benötigt der Körper auch große Mengen an Purin und Pyrimidin, also vor allem im Zentralen Nervensystem, dem Immunsystem und im Knochenmark. Doch woher kommen die Bausteine? Der Körper kann zwar Purine und Pyrimidine selbst herstellen – für die Zellbildung und den Energiestoffwechsel reicht die Produktion aber bei Weitem nicht aus. Tatsächlich werden allein bei den Purinen bis zu 90 Prozent der mit der Nahrung aufgenommenen Nukleinsäurebausteine vom Körper verwertet. Nur zehn Prozent werden zu Harnsäure abgebaut und ausgeschieden. Zehn Prozent, die allerdings Menschen mit Neigung zu Gicht und einem ohnehin erhöhten Fleischund Bierkonsum zu schaffen machen können. Bei ihnen sammelt sich die Harnsäure in ihren Gelenkflüssigkeiten an und kristallisiert aus. Schmerzhafte Gichtschübe sind die häufigsten Symptome einer Störung im Stoffwechsel der Purine (s.a. „Gicht ist doch kein Zipperlein“, S.40). Der inzwischen emeritierte deutsche Gichtforscher Nepomuk Zöllner machte als einer der ersten darauf aufmerksam, dass die Ernährung einen entscheidenden Anteil an der Entstehung der Harnsäure-Kristalle hat (s.a. „Ein Leben für die Gichtforschung“, S. 38). Die Gicht ist heute eine der bestuntersuchten Krankheiten überhaupt. Dabei konzentrieren sich die Forschungen auf der Suche nach neuen Angriffspunkten für Medikamente vor allem auf die Transportprozesse in der Niere. 38 PURINE UND PYRIMIDINE Ein Leben für die Gichtforschung Gicht galt früher als Zipperlein und Krankheit der Reichen. Erst Nepomuk Zöllner – Professor der Medizin und bis 1990 Direktor der Medizinischen Poliklinik der Ludwig-Maximilians-Universität in München – gab der Gicht den Status einer ernsthaften Stoffwechselerkrankung und entwickelte eine wirksame Therapie. Herr Prof. Zöllner, Sie haben die Gichtforschung in Deutschland maßgeblich vorangetrieben. Welches sind für Sie die wichtigsten Ergebnisse Ihrer Arbeit? Die sorgfältige Untersuchung des Zusammenhangs der Erkrankung mit der Ernährung! Es gab dazu Geschichten – etwa, dass eiweißreiche Kost Gicht verursacht. Aber nichts war bewiesen. Das war mir als Biochemiker und Naturwissenschaftler zu vage, denn Eiweiß ist nicht gleich Eiweiß. Außerdem habe ich als erster Medikamente eingeführt, die den Harnsäurespiegel senken. Kurz zu den Lebensmitteln: Was hat sie neugierig gemacht? Eiweißhaltige Lebensmittel sind sehr unterschiedlich zusammengesetzt. Was mich in den 50er Jahren – nach meinen Aufenthalten bei Siegfried Thannhauser in Boston – veranlasst hat, genauer hinzusehen, war, dass die Gicht während der Weltkriege sehr selten geworden war. Was fehlte während des Krieges? Es war Fleisch und eine vielseitige Ernährung. Außerdem ging in Kriegszeiten der Alkoholkonsum stark zurück. Ein erhöhter Alkoholspiegel hält Harnsäure im Blut zurück. Steigt der Harnsäurespiegel über ein gewisses Niveau, kann das Gichtanfälle auslösen. Mit welchen Methoden haben Sie die genauen Ursachen für Gicht gefunden? Wir haben erstmals bei Gichtkranken die Wirkung einzelner Ernährungsbestandteile mit so genannten Formeldiäten untersucht. Das sind Diäten, deren Zusammensetzung man genau kennt – nicht nur nach Lebensmitteln sondern auch nach deren chemischen Bestandteilen. Dadurch haben wir festgestellt, dass Eiweiß den Harnsäurespiegel nicht erhöht, sondern sogar leicht senkt. Es sind hauptsächlich die Zellkernsubstanzen, die Nukleinsäuren, die den Harnsäurespiegel stark erhöhen. Das haben wir durch die Gabe von nukleinsäurefreiem Eiweiß wie Milcheiweiß einerseits und anderseits durch die Gabe von Nukleinsäuren auch nachweisen können. Und Sie haben den Wirkstoff, der heute noch Therapiestandard ist, eingeführt. Ja, das Allopurinol habe ich als erster vor über 30 Jahren publiziert und in Deutschland eingeführt. Vorher gab es nur Mittel, die die Harnsäureausscheidung erhöhen. Allopurinol verhindert die Bildung der Harnsäure. Welche Fragen im Zusammenhang mit Gicht sind für Sie offen geblieben – woran hätten Sie gerne weiter geforscht? Was mich immer interessiert hat, war die Genetik der Gicht. Dazu haben wir damals nur wenige Arbeiten durchführen können. Man weiß, dass die Gicht eine familiäre Krankheit ist. Aber auf welchen Chromosomen die Gene sitzen und welche angeborenen Stoffwechseldefekte zu Gicht führen, ist noch offen. In dem Bereich liegt viel brach; das Forschungsgebiet ist derzeit nicht modern, weil Gicht so gut zu therapieren ist. Wenn ein Gichtkranker zu mir kommt, bekommt er Diätvorschläge – ob er die einhält, ist dann natürlich die Frage – und ich verschreibe ihm Allopurinol. Danach sind die Gichtanfälle nach einer Anlaufzeit ein für alle Mal behoben. Gicht ist heute keine Krankheit mehr, die den Menschen bedrängen muss, wenn er sie ordentlich behandeln lässt. PURINE UND PYRIMIDINE 39 Die Nieren – reinigende Hochleistungsfilter Nierenrinde Nierenmark Nieren- Naher körperchen Tubulusanteil Entfernter Tubulusanteil Henlesche Schleife Nierenarterie Nierenpapille Markpyramide Nierenvene Nierenläppchen Nierenbecken Nierenkelche Harnleiter Fettgewebe Nierenkapsel Die Nieren sind die Kläranlage unseres Körpers. Sie reinigen das Blut von Stoffwechselprodukten, die giftig sind oder die der Körper einfach nicht mehr benötigt. Sie steuern den Wasser-, Salz- und Säurehaushalt, regulieren über den Wasserhaushalt den Blutdruck und produzieren darüber hinaus eine Reihe wichtiger Hormone wie etwa das aus dem Doping (s.a. „Überflüssiges Eiweiß“, S. 33) bekannte Erythropoetin. Obwohl nur faustgroß, filtern die beiden Nieren zusammen etwa 1.700 Liter Blut am Tag. Dazu durchfließt unser Blut täglich mehr als 360-mal die Nieren – oder anders ausgedrückt: Etwa ein Viertel unserer gesamten Blutmenge pumpt das Herz in jeder Minute durch die Nieren. Derart leistungsfähige Organe sind entsprechend komplex aufgebaut. Die äußere Schicht ist die Nierenrinde. Weiter innen liegt das hellere Nierenmark, das – unterteilt in pyramidenförmige Segmente – in das Innere der Niere ragt. Die Spitzen dieser Pyramiden, die Papillen, münden in die Nierenkelche, die sich zum Nierenbecken zusammenschließen. Vom Nierenbecken geht dann wiederum der Harnleiter ab. Dies ist eine komplexe Konstruktion für einen noch komplexeren Reinigungsvorgang: Blut wird von der Nierenarterie aus dem Körper in die Nierenrinde geleitet. Dort verzweigen sich die Blutgefäße in sehr feinen Kapillaren, die in Nierenkörperchen gebündelt sind. In jeder Niere befinden sich etwa eine Million solcher Nierenkörperchen, in denen über den Blutdruck der Primärharn gebildet und aus dem Blut gepresst wird – das sind täglich etwa 170 Liter Plasma mit Glukose, Aminosäuren, Hormonen, Vitaminen, Harnsäure und verschiedenen Mineralstoffen. Die Poren der Kapillarwände halten lediglich Blutzellen und Eiweiße zurück – diese sind zu groß, um durch die Poren zu schlüpfen. Der Primärharn durchfließt dann das tiefer im Organinneren liegende Nierenmark. Dort strömt er in langen Kanälen an einem feinen Geflecht der Nierenvene vorbei und gibt den größten Teil seines Wassers, seiner Salze und Nährstoffe wieder an das Blut ab. Dabei werden auch etwa 90 Prozent der Harnsäure über spezielle Transporter zurück in das Blut geschleust. Über diesen Umweg hält die Niere die Harnsäurekonzentration im Blut auf einem konstanten Niveau. Ein Teil der Harnsäure und solche Substanzen, die schädlich oder nutzlos sind, bleiben im Harn. In den Geflechten des Nierenmarks konzentriert sich der Harn immer weiter und fließt letztlich über Sammelkanäle in das Nierenbecken. Von dort wird er über den Harnleiter in die Blase befördert. 40 PURINE UND PYRIMIDINE Gicht ist doch kein Zipperlein Seit der Einführung von Allopurinol vor etwa 40 Jahren ist Gicht zu einer gut therapierbaren Krankheit geworden. Forschungsbedarf besteht erst wieder, seit die ersten Patienten mit Unverträglichkeit auf das Standardpräparat reagieren. Die Gicht ist damit wieder Gegenstand aktueller Forschungen. Meist kommen Schmerz und Fieber über Nacht. Das Gelenk des großen Zehs scheint zu platzen, ist rot und heiß und jedes Anfassen schmerzt entsetzlich. Der Körper leidet an Gicht. Gicht galt früher als Zipperlein, als Krankheit der Reichen. Denn Gicht bekam, wer zu üppig lebte. Allerdings musste der üppige Lebensstil zusätzlich auf einen bereits vorhandenen genetischen Defekt treffen, der die Ausscheidung von Harnsäure stört. Seit der Arzt und Biochemiker Nepomuk Zöllner in den 1960er Jahren Diätrichtlinien und schließlich das Medikament Allopurinol eingeführt hat, sind etwa 90 Prozent der Patienten gut behandelbar. Der Wirkstoff reguliert die Bildung von Harnsäure und ist bis heute das Standardmedikament in der Gichttherapie. Aber eine Krankheit, die sich leicht therapieren lässt, weckt keine Neugier mehr. Erst in letzter Zeit steigt das Forscherinteresse wieder. Den Grund kennt Jürgen Gräßler, Professor für Pathologische Biochemie am Uniklinikum Dresden: „Immer mehr Patienten vertragen Allopurinol nicht. Sie fühlen sich unwohl und zeigen stark ausgeprägte Hautrötungen.“ Wissenschaftler suchen daher zunehmend nach Alternativen zu diesem Wirkstoff. Die Ursachen der Gicht sind weitgehend bekannt: Purine, wichtige Bestandteile der Nukleinsäuren, die in vielen tierischen Lebensmitteln, aber auch in Hülsenfrüchten enthalten sind, baut der menschliche Körper zu Harnsäure ab. Die wird dann in der Niere aus dem Blut filtriert, zum Teil mit dem Harn ausgeschieden oder wieder in das Blut zurücktransportiert. So hält ein gesunder Körper den Harnsäurespiegel im Blut auf einem stabilen und für die Gelenke verträglichen Niveau. Bei Gichtpatienten ist das Gleichgewicht zwischen Aufnahme und Ausscheidung der Harnsäure gestört. Diese Störung kann in der Niere entweder einen Transporter betreffen, der Harnsäure aus den Nierenzellen in den Harn pumpt und damit aus dem Blut hinausbefördert, oder Transporter, die Harnsäure aus dem Harn zurück in die Nierenzelle aufnehmen und so in das Blut zurückschleusen. „Wir kennen nur einige dieser Transporter. Sie sind Gegenstand der aktuellen Gichtforschung“, sagt Jürgen Gräßler. Bei einem gemäßigten Konsum von Fleisch und Bier – den Hauptfeinden des modernen Gichtpatienten – machen diese Störungen meist keine Probleme. Erst wenn die Nahrung zu üppig wird, steigt der Harnsäuregehalt im ganzen Körper so stark an, dass sich Kristalle bilden. Besonders betroffen sind dabei die Gelenke. Harnsäurekristalle reizen die Gelenkkapsel mechanisch und lösen eine Entzündungsreaktion aus. Die Folge sind starke Gelenkschmerzen – ein Gichtschub. Ein Gichtschub beginnt häufig im großen Zeh. Was aber hat der Zeh, was die Gelenke anderer Gliedmaßen nicht haben? „Das ist ganz einfach“, erklärt Jürgen Gräßler, „in den Gelenken und vor allem den Füßen ist die Körpertemperatur niedriger als im Rest des Körpers. Ein Unterschied von zwei Grad reicht schon aus, um die Aufnahmefähigkeit der Gelenkflüssigkeit für Harnsäure zu überschreiten.“ Sind die Kristalle einmal entstanden, reagiert das Immunsystem schnell und vernichtet sie durch Fresszellen in einer heftigen Entzündungsreaktion. Nach etwa drei Tagen sind die Kristalle vernichtet, der Gichtanfall klingt ab. Im Fuß ist die Temperatur geringer als im übrigen Körper. In der Gelenkflüssigkeit der Zehen kristallisiert Harnsäure (im Bild unten rot) deshalb zuerst und verursacht schmerzhafte Gichtschübe. PURINE UND PYRIMIDINE 41 Das Gegenteil von Gicht Als Therapie bekommen Gichtpatienten zunächst stark entzündungshemmende Medikamente sowie Schmerzmittel. Langfristig müssen sie Diät halten und Allopurinol einnehmen. Der Wirkstoff blockiert den letzten Abbauschritt der Purine vom Zwischenprodukt Xanthin in Harnsäure durch das Enzym Xanthinoxidase. „Der Hauptgegenstand der Forschung ist jetzt, die Proteine in der Niere zu charakterisieren, die Harnsäure transportieren – sowohl aus dem Blut als auch in das Blut zurück“, sagt der Dresdner GichtSpezialist Gräßler. Diese Arbeiten sind erst möglich geworden, da die Forscher durch die immer weiter wachsenden Erkenntnisse über das menschliche Genom die zuständigen Gene und die durch sie kodierten Proteine untersuchen können. Damit bekommen sie einen ganz neuen Blick auf die altbekannte Krankheit Gicht. Gicht kann viele verschiedene genetische Ursachen haben. Bei der Suche nach Genen, die die Regulation des Harnsäurespiegels beeinflussen, greifen die Dresdner Forscher auf einen großen Pool von DNA-Proben zurück, der über Jahre aus Proben von Dresdner Gicht- oder Hyperurikämiepatienten aufgebaut wurde. Wird ein neues Gen eines Harnsäuretransporters identifiziert, können die Wissenschaftler die Patienten auch noch nach Jahren auf diesen Defekt untersuchen und seine Häufigkeit feststellen. Auf diesem Weg wurde die zentrale Rolle des Transporters URAT 1 bei der Harnsäureausscheidung in der Niere beschrieben. Er ist für die Wiederaufnahme der Harnsäure aus dem Urin in die Nierenzellen verantwortlich. Auch wurde der erste Kanal entdeckt, der Harnsäure aus der Zelle in den Primärharn pumpt. Für ihn konnte jedoch noch keine Verbindung zu einem Defekt bei Gichtpatienten nachgewiesen werden. Das ist der zweite Schritt dieser Untersuchungen: Herauszufinden, welche der Proteine tatsächlich eine Rolle im Krankheitsgeschehen spielen. Inzwischen wurden durch die genetischen Arbeiten sechs Proteine beschrieben, die an diesem Wechselspiel in der Niere beteiligt sind. Dank der intensiven internationalen Zusammenarbeit in der Gichtforschung rechnen die Wissenschaftler in naher Zukunft mit der Entdeckung weiterer Harnsäuretransporter. Damit kommen die Forscher ihrem langfristigen Ziel einen großen Schritt näher: Neue Wirkstoffe zu entwickeln, die an diesen Proteinen angreifen und damit eine Alternative zur klassischen Gichttherapie darstellen werden. 1 cm Xanthinstein eines 12-jährigen Jungen Gichtkranke haben zu viel, wovon Menschen mit Hypourikämie und Xanthinurie zu wenig haben: Harnsäure im Blut. Meist werden diese Stoffwechselstörungen erst durch eine gründliche Routineuntersuchung beim Arzt entdeckt. Denn die Symptome reichen von Harnkristallen im Urin bis zum akuten Nierenversagen. Sowohl der Hypourikämie als auch der Xanthinurie liegt ein genetischer Defekt zu Grunde. Die Hypourikämie wird durch einen defekten Transporter in der Niere verursacht, der den Harnsäurespiegel im Blut regelt. Funktioniert er nicht ordnungsgemäß, filtriert die Niere zwar Harnsäure hinaus, kann sie aber nicht zurückgewinnen. Bei Xanthinurie-Patienten dagegen bildet der Körper erst gar keine Harnsäure. Ein Gendefekt, stört den letzten Schritt des Purinabbaus zu Harnsäure. Das Zwischenprodukt Xanthin sammelt sich an und muss über die Niere entsorgt werden. Hypourikämie und Xanthinurie belasten die Niere. Sie kann die hohen Konzentrationen an Harnsäure oder Xanthin nicht bewältigen. Die Substanzen verändern das sensible Konstrukt aus Poren, Kanälen und Transportern. Weil sich krankhafte Symptome erst spät oder gar nicht einstellen, gibt es zurzeit – bis auf Diäten – keine Behandlungsmöglichkeiten. Betroffene sollten sich purinarm ernähren und sehr viel trinken, um der Bildung von Nierensteinen entgegenzuwirken. 42 PURINE UND PYRIMIDINE Pyrimidine: medizinische Grundlagenforschung Die Erforschung des Stoffwechsels der Pyrimidine fristet in Deutschland und Europa ein Nischendasein. Neueste Fortschritte in der Forschung aber zeigen: Störungen im Auf- und Abbau der Nukleinsäurebestandteile sind die Ursache für einige wenig bekannte Erkrankungen. Krankheiten, deren Ursachen in einem fehlerhaften Stoffwechsel der Purine und Pyrimidine liegen, zeigen in der Regel sehr unspezifische Symptome. So gehören psychomotorische Störungen, cerebrale Krampfanfälle und autistisches Verhalten ebenso dazu wie gehäufte Harnwegsinfekte, Anämien und Immunschwächen. Dabei erkranken drei Organsysteme besonders häufig: das Zentrale Nervensystem (ZNS), das Knochenmark und die Niere – Orte also, an denen der Zellstoffwechsel auf Hochtouren läuft und Auf- und Abbau der stickstoffreichen Verbindungen eine große Rolle spielen. Die bekannteste und zugleich häufigste dieser Erkrankungen ist die Gicht (s.a. „Gicht ist doch kein Zipperlein“, S. 40). Die damit verbundene Hyperurikämie (hoher Blutharnsäurespiegel) entsteht durch Fehler im Abbau und der Wiederverwertung von Purinen sowie in der Ausscheidung der Harnsäure über die Niere. Lässt man jedoch die große Zahl der Gichtpatienten beiseite, so leiden in Europa gerade mal einige hundert Menschen an einer Störung des Purin- oder Pyrimidinstoffwechsels. Bei den Pyrimidinen sind es sogar weniger als hundert. „Dass die Erkrankungen so selten diagnostiziert werden, hängt auch damit Adenin Thymin Guanin Cytosin Purine und Pyrimidine sind die Grundbausteine für die vier Nukleobasen Adenin, Thymin, Guanin und Cytosin, die die Doppelhelix des Erbguts aufbauen. zusammen, dass es kaum Möglichkeiten gibt, die Enzymdefekte aufzuspüren“, erklärt Monika Löffler, Professorin am Institut für Physiologische Chemie der Philipps-Universität in Marburg. „Die Entwicklung neuer Analysemöglichkeiten ist deshalb auch eine wichtige Motivation für meine eigene Forschungsarbeit.“ Ein Enzym hat es der Forscherin dabei besonders angetan: die Dihydroorotat:Ubichinon Oxidoreduktase. Diese Dehydrogenase ist das vierte von insgesamt sechs Enzymen, die die ringförmige Pyrimidinstruktur der Nukleinsäurebestandteile aufbauen helfen. Das Besondere an diesem Enzym: Im Gegensatz zu den anderen fünf Enzymen befindet sich die Dehydrogenase ausschließlich im Mitochondrium – der Energiezentrale jeder Zelle – und ist bei ihrer Tätigkeit von deren Atmungsfunktion abhängig. Ein Aspekt, der Monika Löffler besonders fasziniert: „Ich konnte mit meinen Forschungen zum Pyrimidinstoffwechsel indirekt einen Beweis für die grundlegende biologische Erkenntnis liefern, dass Leben ohne Sauerstoff nicht möglich ist.“ Es gibt nur wenige Pyrimidinforscher in Deutschland. Und auch in Europa ist die grundlegende Erforschung der Nukleinsäurebausteine ein Nischenthema. Tatsächlich scheint Löfflers Forschung zunächst weit weg von allen medizinischen Belangen. Ein Zusammenhang zu einer konkreten, therapiebedürftigen Krankheit ergibt sich oft erst auf den zweiten Blick. „Die meisten meiner Kollegen sind Diagnostiker an Universitätskliniken, zum Beispiel in Dresden oder Heidelberg. Sie haben sich auf die Analyse der Purine und Pyrimidine spezialisiert und sind Ansprechpartner für niedergelassene Ärzte“, sagt Löffler. Echte Grundlagenforscher, die sich wie sie auf ein Detail eines komplexen Stoffwechselweges konzentrieren, seien rar, bedauert die Wissenschaftlerin. Umso wichtiger ist für sie der internationale wissenschaftliche Austausch. Eine Möglichkeit dazu bietet die Internationale Purin und Pyrimidin Gesellschaft (PPS). Die Vereinigung, deren wissenschaftlichem Komitee Monika Löffler neben dem Gichtforscher Nepomuk Zöllner als einzige deutsche Forscherin beisitzt, bietet Wissenschaftlern, Diagnostikern und Medizinern ein gemeinsames Forum. Zusammen mit ihren nationalen und internationalen Kollegen will Monika Löffler durch ihre Grundlagenforschung dabei helfen, die Diagnose der seltenen Erkrankungen zu verbessern, die durch PURINE UND PYRIMIDINE Störungen im Auf- und Abbau der NukleinsäureBausteine verursacht werden. Inzwischen sind für neun verschiedene Enzyme Mutationen identifiziert, die allein im Abbau und Aufbau der Pyrimidine Störungen hervorrufen. Ein großer Teil dieser Erkenntnisse geht auf die Forschungen eines niederländischen Teams am Emma Children‘s Hospital in Amsterdam zurück, mit dem Löffler eng zusammenarbeitet. So ist bekannt, dass Patienten mit Fehlern im Pyrimidinabbau schwere neurologische Störungen haben. Wissenschaftler vermuten die Ursache in fehlenden Endprodukten des Pyrimidinabbaus. Beweise gibt es für diese Theorie aber nicht. Doch die Forscher machen Fortschritte: „Heute weiß man, dass Pyrimidine auch in der Niere und im Zentralen Nervensystem abgebaut werden“, sagt Monika Löffler und betont: „Das ist wichtig, denn bislang nahm man an, dass der Abbau nicht nur der aus der Nahrung stammenden, sondern auch der körpereigenen Purine und Pyrimidine ausschließlich in der Leber stattfindet.“ Die genaue Kenntnis des Pyrimidinstoffwechsels im Zentralnervensystem könnte demnach ein Schlüssel für die weitere Aufklärung geistiger Entwicklungsstörungen sein. Vor einigen Jahren machten Ergebnisse von Kollegen aus der Krebsforschung hellhörig. Spezielle Medikamente, die in der Krebstherapie eingesetzt werden und Pyrimidinen nachempfunden sind, riefen bei einigen Patienten schwere neurologische Störungen hervor. Weshalb das geschah, konnten sich Mediziner lange Zeit nicht erklären. Erst Erkenntnisse aus der Pyrimidinforschung brachten die Lösung. Die betroffenen Patienten litten ganz offensichtlich an einer leichten und daher noch nicht erkannten Störung des Pyrimidinabbaus und konnten zusätzliche Pyrimidinbausteine nicht verwerten. 43 Pyrimidinforschung ist echte Grundlagenforschung: Während es bei der Gichtforschung bereits um neue Therapien geht, fristet die Erforschung von Pyrimidin-Erkrankungen ein Nischendasein. Purinforschung 28 genetisch bedingte Enzymdefekte sind allein im Purinstoffwechsel bekannt. Sie betreffen sowohl den Aufbau als auch den Abbau dieser Molekülgruppe – mit unterschiedlichen Folgen. Neben der Gicht sind vor allem allgemeine Schwächen des Immunsystems und neurologische Störungen typisch, wenngleich sie sehr selten sind. Fehlt Menschen beispielsweise das Enzym Adenylosuccinase, ist ihre psychomotorische Entwicklung gestört. Die Folgen sind häufig epileptische Anfälle und Autismus. Eine andere Erkrankung des Purinstoffwechsels, der AdenosinDesaminase-Mangel, löst den Schweren Kombinierten Immundefekt (SCID) aus. Das Immunsystem der Betroffenen antwortet dann nicht auf Krankheitserreger, die in den Körper gelangen. Blutzellen (rot) bilden Immunzellen. Werden sie nicht mehr ausreichend mit Purinen versorgt, ist die Immunabwehr in Gefahr. 44 MIKRONÄHRSTOFFE MIKRONÄHRSTOFFE 45 Mikronährstoff-Stoffwechsel – kleine Helfer mit großer Wirkung Eiweiße helfen beim Aufbau von Körperzellen. Fette und Kohlenhydrate sorgen für Energie und Wärme. Und Mikronährstoffe? Die kleinen sehr unterschiedlichen Moleküle sind zwar essenziell, müssen also vom Körper unbedingt mit der Nahrung aufgenommen werden. Die Aufgaben, die sie dort erfüllen, sind aber erst auf den zweiten Blick zu erkennen. Denn Mikronährstoffe, allen voran Mineralien und Vitamine, arbeiten im Hintergrund und regeln als Kofaktoren (Helfer) von Enzymen und zentrale Bestandteile wichtiger Makromoleküle viele Stoffwechselvorgänge. Mikronährstoffe wie Vitamine und Salze (das Bild zeigt eine Makroaufnahme von Kochsalz) regulieren und aktivieren zahlreiche Stoffwechselwege des menschlichen Körpers. Dass Vitamine und Mineralien wichtig für das Funktionieren des Körpers sind, scheint jeder zu wissen. Die Werbung für angereicherte Lebensmittel hat daran zweifellos einen großen Anteil. Glaubt man ihr, machen Vitamine und Mineralien aus eigentlich ungesunden und viel zu süßen Lebensmitteln – darunter viele Cerealien – Schwung bringende Gesundmacher (s.a. „Vitamintabletten & Co.“, S. 46). Was nicht gesagt wird: Der Körper braucht die kleinen Moleküle zwar tatsächlich, um seinen Stoffwechsel am Laufen zu halten. Bekommt er allerdings zu viele Mikronährstoffe, können die Moleküle dem Körper auch schaden. Wie sehr, darüber sind sich allerdings selbst die Experten nicht immer einig. Dass ein Überschuss an Mikronährstoffen aber tatsächlich schaden kann, zeigen Erkrankungen, bei denen durch einen genetischen Defekt die Weiterverarbeitung oder Ausscheidung überschüssiger Mikronährstoffe gestört ist. Oder – wie im Fall der Eisenspeicherkrankheit – der Körper die Nährstoffe aufnimmt, obwohl seine Speicher bereits voll sind. Dann kann zum Beispiel eigentlich wertvolles Eisen, das der Körper braucht, um Sauerstoff im Blut zu transportieren, zur Last werden und schwere Leberschäden verursachen (s.a. „Ein schweres Erbe“, S. 50). Die meisten Störungen im Stoffwechsel der Mikronährstoffe sind aber durch einen Mangel an einem oder mehreren Nährstoffen gekennzeichnet. Deutlich wird das insbesondere bei den Vitaminen. Sie gehören zu den regulierenden Mikronährstoffen und beeinflussen die Umwandlung von Nährstoffen in Energie oder wirken auf das Immunsystem. Viele Vitamine aktivieren als so genannte Kofaktoren von Enzymen wichtige Stoffwechselprozesse. Fehlen sie, fehlt den Enzymen das Startsignal, und sie arbeiten nicht oder nicht ordnungsgemäß (s.a. „Gefahr für Herz, Hirn und Knochen“, S. 48). Durch eine einseitige oder auch mangelnde Ernährung können trotz prall gefüllter Gemüseund Obsttheken in den Supermärkten auch in den westlichen Gesellschaften noch Mangelerscheinungen auftreten. Betroffen sind meistens Kinder und Jugendliche sowie Schwangere und ältere Leute, wie neue Studien belegen (s.a. „Gut ernährt und doch unterversorgt“, S. 53). Angereicherte Lebensmittel gleichen dieses Manko allerdings nicht aus. Eine wirklich ausgewogene Ernährung deckt dagegen den täglichen Vitaminbedarf. 46 MIKRONÄHRSTOFFE Vitamintabletten & Co. Joghurt plus Calcium, Fruchtsaft mit einer Extraportion Eisen, Bonbons versetzt mit Vitaminen – immer mehr Lebensmittel enthalten Zusätze von Mineralstoffen, Spurenelementen und Vitaminen. In nahezu jedem Supermarkt führt der Weg beim Einkauf zudem an einem Regal mit bunt verpackten Kapseln, Pulvern und Tabletten vorbei, in denen konzentrierte Vitamine und Mineralstoffe stecken. Der Markt mit Nahrungsergänzungsmitteln und mit Lebensmitteln, die mit Mikronährstoffen angereichert sind, boomt. Rund 25 Prozent der Frauen und 18 Prozent der Männer in Deutschland nehmen mindestens einmal in der Woche Vitamin- und Mineralstoffsupplemente zu sich, heißt es im Gesundheitsbericht des Bundes – Tendenz steigend. Ernährungsexperten stehen diesem Trend jedoch skeptisch gegenüber. „Eine optimale Nährstoffversorgung an Spurenelementen, Vitaminen und Mineralstoffen ist auch ohne angereicherte Lebensmittelpräparate möglich“, betont Anke Gahl von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung in Bonn. Die einzigen Ausnahmen, bei denen eine Nahrungsergänzung sinnvoll ist, seien das Spurenelement Jod und das Vitamin Folsäure. Darüber hinaus sei es für gesunde Menschen unnötig, zu Kapseln oder Tabletten zu greifen, die Vitamine oder Mineralstoffe in konzentrierter Form enthalten. Mehr noch: „Wer nach dem Gießkannenprinzip Vitaminpräparate einnimmt, belastet seinen Körper“, so Gahl. „Denn der Körper muss alle aufgenommenen Stoffe verarbeiten und wieder ausscheiden – eine Belastung vor allem für Nieren und Leber.“ Hin und wieder Vitamin- oder Mineralstofftabletten einzunehmen, sei zwar keine Gefahr für die Gesundheit. „Man darf jedoch nicht vergessen, dass man diese Mikronährstoffe auch über die Nahrung aufnimmt“, mahnt Gahl. Wer zudem noch Multivitaminsaft trinke oder andere angereicherte Produkte esse, habe den tatsächlichen Bedarf schnell überschritten. Dies kann besonders bei den fettlöslichen Vitaminen A und D problematisch werden. Denn diese Mikronährstoffe reichern sich im Körper an und können in sehr hohen Dosen Vergiftungserscheinungen hervorrufen. Auch Professor Gerhard Rechkemmer, Präsident des Bundesforschungsinstituts für Ernährung und Lebensmittel (Max Rubner-Institut) in Karlsruhe, warnt vor einer unkritischen Einnahme von Vitaminpräparaten und angereicherten Lebensmitteln. „Wenn immer mehr Produkte mit demselben Wirkstoff auf den Markt kommen, kann es Probleme durch zu hohe Dosen geben“, sagt er. Um die Übersicht nicht zu verlieren, empfiehlt er gesundheitsbewussten Verbrauchern, die Zutatenliste auf der Verpackung intensiv zu studieren. Lebensmittel mit einer Extraportion Vitaminen und Mineralstoffen geben vielen Menschen ein Alibi für ihren sonst ungesunden Lebensstil. Experten raten zur Vorsicht – zu viele Vitamine können auch schaden. MIKRONÄHRSTOFFE 47 Die Schilddrüse – kleines Organ mit großem Einfluss Gehirn TRH Hypothalamus TSH – Hypophyse Stimulation + TSH stimuliert die Produktion von T3 und T4 Schilddrüse T4 und T3 erhöht T4 und T3 verringert Blutspiegel Unterhalb des Kehlkopfes liegt ein kleines Organ, kaum größer als eine Walnuss: die Schilddrüse. Das zweilappige, unscheinbare Organ ist eine der wichtigsten endokrinen Drüsen des Körpers und produziert die lebensnotwendigen Hormone Thyroxin (T4) und Trijodthyronin (T3). Die Botenstoffe steigern den Stoffwechsel und steuern eine Vielzahl wichtiger Funktionen des Körpers. Wichtiger Baustein der Schilddrüsenhormone ist natürlich vorkommendes Jod. Rund 200 Mikrogramm des Spurenelements benötigt die Schilddrüse täglich für ihre Synthese. Von der Schilddrüse ins Blut abgegeben gelangen die beiden Botenstoffe in jede Körperzelle und wirken dort auf den Energiestoffwechsel ein. Sie beeinflussen positiv die Geschwindigkeit des Herzschlags und den Blutdruck. Sie regeln die Verdauungsprozesse, wirken auf Nerven und Muskeln. Selbst Sexualität und Fruchtbarkeit werden von den Schilddrüsenhormonen T3 und T4 reguliert. Dritter im Bunde der Schilddrüsenhormone ist TSH (Thyreoidea-stimulierendes Hormon), ein Botenstoff aus der Hirnanhangdrüse (Hypophyse). TSH steuert die Produktion der beiden Schilddrüsenhormone T3 und T4. Sinkt deren Blutspiegel unter ein bestimmtes Niveau, produziert die Hirnanhangdrüse vermehrt TSH und kurbelt so die Hormonproduktion der Schilddrüse wieder an. Ist eine ausreichende Menge erreicht, reduziert die Hirnanhangdrüse die TSH-Ausschüttung wieder. Der Regelkreis der Schilddrüsenhormone ist heute gut erforscht, so dass über die Messung der Hormonwerte Fehlfunktionen der Schilddrüse gut diagnostiziert werden können. Zusätzliche Untersuchungen liefern weitere Hinweise für exakte Diagnosen. Eine der häufigsten Schilddrüsenerkrankungen ist der ‚Kropf’, medizinisch ‚Struma’ genannt. Bei dieser Krankheit kann sich das beim Gesunden äußerlich nicht sichtbare Organ sehr stark vergrößern. Ursache ist Jodmangel, den die Schilddrüse mit einer verstärkten Gewebsbildung auszugleichen versucht. Dadurch bleiben die Schilddrüsenwerte häufig im Normalbereich. Nicht so bei anderen Schilddrüsenerkrankungen. Bei einer Unterfunktion sind zu wenige Hormone im Blut. Die Folge: Der gesamte Stoffwechsel läuft auf Sparflamme, das Herz schlägt langsamer, die Verdauungsprozesse werden verzögert. Gibt die Schilddrüse hingegen zu viele Hormone ab, wird der Stoff- und Energieumsatz beschleunigt. Herzrasen, Durchfall, Gewichtsabnahme, Nervosität und andere Symptome stellen sich ein. Durch eine exakte Diagnose kann der Arzt die genaue Ursache der Schilddrüsenstörung herausfinden und die Körperfunktionen mit der geeigneten Therapie, beispielsweise durch die Gabe eines spezifischen Hormons, meist wieder ins Gleichgewicht bringen. 48 MIKRONÄHRSTOFFE Gefahr für Herz, Hirn und Knochen Homocystein, eine kleine Aminosäure, die der Körper selbst produziert und dringend für seinen Stoffwechsel benötigt, gilt zunehmend als Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Demenz oder Osteoporose. Der Überschuss an Homocystein hat ganz unterschiedliche Ursachen und ist eng mit Vitaminen der Gruppe B verknüpft. Arteriosklerose, Alzheimer, Osteoporose – auf den ersten Blick haben diese Krankheiten nicht mehr miteinander gemein, als dass sie meistens ältere Menschen betreffen. Doch seit einiger Zeit hat die Forschung eine Substanz im Visier, die bei jeder dieser Krankheiten eine wichtige Rolle zu spielen scheint: Homocystein. Zu viel dieser schwefelhaltigen Aminosäure ist Gift für den Körper und ein deutliches Zeichen dafür, dass der Stoffwechsel der essenziellen und halb-essenziellen Aminosäuren Methionin und Cystein behindert wird. Dies hat weit reichende Folgen: Allein 40 Prozent aller Patienten mit Gefäßerkrankungen haben auch erhöhte Homocysteinwerte. Und nach Angaben Durch ein gesundes Blutgefäß strömt das Blut ungehindert hindurch. Aggressive Homocystein-Moleküle zerstören den natürlichen Schutz der Gefäße vor Ablagerungen. Cholesterin setzt sich in die zerstörten Gefäßwände und bildet gefährliche Plaques. Cholesterin, das sich an den Innenwänden anlagert, kann die Arterien so stark verengen, dass ein Blutdurchfluss kaum noch möglich ist. der D.A.C.H-Liga Homocystein ist die Aminosäure für zehn von hundert Herz-Kreislauf-Erkrankungen mitverantwortlich. Damit steht die Hyperhomocysteinämie als Risikofaktor für Herz-KreislaufErkrankungen auf einer Stufe mit Rauchen oder zu hohen Werten an Blutfetten wie Cholesterin. Doch wie kommt es zu erhöhten Werten der vom Körper selbst produzierten Aminosäure? Die Ursachen sind unterschiedlich. So können Mutationen im Erbgut dazu führen, dass die am Abbau beteiligten Enzyme nicht korrekt funktionieren. Auch das Alter eines Patienten spielt eine Rolle. Denn die Konzentration von Homocystein steigt mit dem Alter – eine Tatsache, die Experten zumindest teilweise auf eine gleichzeitig abnehmende Nierenfunktion zurückführen. Die mit Abstand häufigste Ursache aber ist ein Mangel an Vitaminen der Gruppe B. Diese Mikronährstoffe sind an allen Abbauwegen der Aminosäure beteiligt. Wie sich der Mangel an B-Vitaminen im Zellstoffwechsel auswirkt, untersuchen Wissenschaftler am Universitätsklinikum des Saarlandes in Homburg an der Saar. Rima Obeid, Juniorprofessorin in der Arbeitsgruppe um den Homocystein-Experten Professor Wolfgang Herrmann am Institut für Klinische MIKRONÄHRSTOFFE Nahrung Vitamin B12 Folsäure SAM ethylierun g methylierung Re Methionin nsm Tra Chemie und Labormedizin, erklärt: „Homocystein ist eine Aminosäure, die nicht mit der Nahrung aufgenommen wird, sondern als Zwischenprodukt im Methioninstoffwechsel entsteht. Die Aminosäure Methionin wiederum dient als Vorläufer für S-Adenosylmethionin (SAM) – das ist ein außergewöhnlich wichtiger Methylspender im Körper, durch den mehr als 100 grundlegende Stoffwechselprozesse aufrecht erhalten werden.“ SAM selbst wird schließlich zu Homocystein abgebaut. Verfügt eine Zelle über ausreichende Mengen der B-Vitamine Folsäure, B12 und B6, ist der Weg vom Methionin über SAM zum Homocystein für den Körper kein Problem. Denn Folsäure und Vitamin B12 bewirken, dass ein Teil des Homocysteins in einer so genannten Remethylierungsreaktion wieder zu Methionin abgebaut werden kann. Ein anderer Teil wird mit Hilfe des Vitamin B6 zu Cystein abgebaut. Cystein dient als Vorläufer für Glutathion, ein natürlich vorkommendes Antioxidationsmittel im menschlichen Körper. Herrscht jedoch Vitaminmangel, wird Homocystein nur unzureichend abgebaut, es reichert sich an und setzt die Zelle unter oxidativen Stress. Das heißt, es entstehen aggressive Molekülformen, so genannte freie Radikale, die wichtige Funktionen beeinträchtigen und Strukturen im Körper angreifen. Erhöhte Homocystein-Konzentrationen können vor allem in den Gefäßzellen erheblichen Schaden anrichten, da sie den natürlichen Schutz der Gefäßwände vor Ablagerungen zerstören. Schon moderate Erhöhungen bewirken so arteriosklerotische Veränderungen, die letztlich zu Gefäß- und Kreislauferkrankungen wie Thrombose, Herzinfarkt und Schlaganfall führen können. Für den Körper ist jedoch nicht nur die direkte toxische Wirkung der Substanz ein Problem. Der durch den Mangel an Vitamin B12 und Folsäure gestörte Umbauprozess von Homocystein zu Methionin führt indirekt auch dazu, dass zu wenige Methylierungsreaktionen ablaufen können. Dann werden viele höchst unterschiedliche Funktionen im Organismus gestört. Dazu zählen etwa Signalübertragungen im Nervensystem, die Synthese von DNA-Bausteinen oder die Blutbildung. An der Aufklärung dieser komplexen Mechanismen arbeiten die Homburger Wissenschaftler. Die Pharmazeutin Obeid konzentriert sich dabei auf neurodegenerative Krankheiten wie Alzheimer und Altersdemenz. „Wir haben gezeigt, dass die kombinierte Gabe der Vitamine B12, B6 und Folsäure die 49 Homocystein Vitamin B6 Cystathionin Vitamin B6 Cystein B-Vitamine sind wichtige Kofaktoren im Stoffwechsel der Aminosäure Homocystein. Fehlen sie, kann die körpereigene Aminosäure nicht weiter verarbeitet werden. kognitiven Leistungen im Alter verbessert“, berichtet sie. In einem ihrer jüngsten Forschungsprojekte untersucht sie im Tierexperiment, ob ein Vitaminmangel zu den für Alzheimer typischen Ablagerungen im Gehirn (Plaques) führt. Andere Forscher des Teams untersuchen die Rolle des Homocysteins bei Osteoporose. Dass es auch bei dieser Krankheit einen Zusammenhang mit einem Vitaminmangel gibt, weiß man erst seit kurzem. Die zugrunde liegenden Prozesse sind jedoch noch weitgehend unbekannt. Hauptrisiko bleiben HerzKreislauf-Erkrankungen. Die D.A.C.H.-Liga Homocystein empfiehlt daher Risikogruppen – darunter zum Beispiel Raucher, ältere Menschen und Diabetiker – den Homocysteinwert regelmäßig prüfen zu lassen. Sie rät generell zu einer ausgewogenen Ernährung, damit der Körper ausreichend B-Vitamine erhält. 50 MIKRONÄHRSTOFFE Eisenspeicherkrankheit: ein schweres Erbe Normalerweise nimmt der Körper nicht mehr Eisen aus der Nahrung auf als er benötigt. Bei Menschen, die an der Erbkrankheit Hämochromatose leiden, ist dies anders. Sie resorbieren erheblich mehr Eisen als Gesunde. Der Überschuss lagert sich in der Leber und anderen Organen ab und führt dort im Laufe der Jahre zu schweren Schädigungen. Der regelmäßige Aderlass hat im Leben von Wolfgang Benzkirch einen festen Platz. Dahinter steckt keineswegs der Glaube an überholte Heilmethoden. Im Gegenteil: Benzkirch ist ein bodenständiger Mann, der der modernen Medizin vertraut. Der 60-Jährige leidet an der Eisenspeicherkrankheit Hämochromatose, die durch eine Mutation im Erbgut ausgelöst wird. Benzkirch ist einer von rund 300.000 Menschen in Deutschland, die den Gendefekt von beiden Elternteilen geerbt haben. Das ist entscheidend, denn die Hämochromatose ist autosomal-rezessiv. Das heißt: Die Mutation wird vom Geschlecht unabhängig vererbt, und die Erkrankung prägt sich nur aus, wenn beide Eltern die Veränderung an ihr Kind weitergeben. „Wird die Krankheit manifest, ist der Aderlass bisher die wirksamste und sicherste Behandlung, um die überladenen Körpereisenspeicher zu entleeren“, erklärt Dr. Hasan Kulaksiz, Leiter der Hämochromatose-Ambulanz am Uniklinikum Ulm. Eisen ist ein lebenswichtiger Mikronährstoff, den der Mensch mit der Nahrung aufnehmen muss. Es ist unentbehrlicher Baustein des roten Blutfarbstoffs Hämoglobin. Darin eingebaut transportiert Eisen Hämochromatose-Forscher Hasan Kulaksiz erklärt am Modell, wie mit Eisen angereichertes venöses Blut aus dem Dünn- und Dickdarmgebiet in die Leber gelangt und sich dort anreichert. Sauerstoff in jede einzelne Körperzelle. Das Spurenelement gelangt jedoch nicht unmittelbar vom Darm in die roten Blutkörperchen. Von der Aufnahme bis hin zur Hämoglobinsynthese laufen verschiedene komplexe Prozesse ab, an denen eine Vielzahl von Substanzen beteiligt ist. Am Anfang dieser Kaskade steht die Regulation der Eisenaufnahme selbst. Um einen kurzfristigen Mangel etwa durch Blutverluste auszugleichen, kann der gesunde Organismus zwischen einem und vier Gramm des unentbehrlichen Mikronährstoffs Eisen in Form von Ferritin in der Leber und anderen Organen zwischenlagern und bei Bedarf mobilisieren. Eisen, das darüber hinaus in den Körper gelangt, wird zwar gespeichert, kann das Speicherorgan aber erheblich schädigen. Denn ist das Eisen einmal im Körper, wird der Organismus es nicht mehr so einfach los. Im Gegensatz zu anderen Mineralstoffen und Spurenelementen kann der Mensch Eisen nur in äußerst geringen Mengen über die Nieren ausscheiden. „Daher ist die Regulation der Aufnahme von großer Bedeutung“, erklärt Kulaksiz. Botenstoffe (Hormone) steuern die Eisenaufnahme aus dem Darm ins Blut. Sind die Speicher leer, geben sie das Signal, das Spurenelement ins Blut zu lassen. Sobald die Depots jedoch ausreichend gefüllt sind, wird die Aufnahme ins Blut gestoppt, das überschüssige Eisen wird über die Nieren ausgeschieden. Dieser Mechanismus ist bei HämochromatosePatienten gestört. Sie nehmen erheblich mehr Eisen aus der Nahrung auf als gesunde Menschen. Dabei spielt ein erst vor wenigen Jahren entdecktes Peptidhormon – das Hepcidin – eine entscheidende Rolle. Das Peptid scheint bei hoher Eisenkonzentration wichtige Transportmoleküle an der Darmwand zu blockieren und ist bei Hämochromatose-Patienten offenbar nicht ausreichend vorhanden. Bei allen Menschen zirkulieren Eisenionen sowohl in freier Form als auch gebunden an das Transportprotein Transferrin in der Blutbahn. Da immer weiter Eisen aufgenommen wird, reichert es sich bei Menschen mit Hämochromatose in Form des Speicherstoffs Ferritin über viele Jahre im Körper an. Besonders betroffen sind die Leber und die Bauchspeicheldrüse, aber auch das Herz und andere Organe. Anfangs zeigt sich die Krankheit durch unspezifische Symptome. Später lösen die Eisenablagerungen in der Leber Oberbauchbeschwerden und Müdigkeit aus. Die Bauchspeicheldrüse speichert das Spurenelement in den Insulin produzierenden MIKRONÄHRSTOFFE 51 Blut transportiert Sauerstoff durch den Körper. Eisen (gelb) ist ein wichtiger Bestandteil des roten Blufarbstoffs Hämoglobin. Umringt von Stickstoffatomen (blau) bindet es Sauerstoff (rot). Zellen – dies kann dazu führen, dass sich ein Diabetes entwickelt. Herzschwäche – als Folge von Eisenablagerungen in den Herzmuskelzellen – zählt ebenfalls zu den Symptomen, die sich meist erst im mittleren Lebensalter einstellen. Denn bei einer durchschnittlichen Mehraufnahme von einem Milligramm Eisen pro Tag dauert es einige Jahre, bis die Speicher voll sind. Klinisch erkennbare Folgen der genetischen Mutation hängen darüber hinaus von den erlittenen Blutverlusten eines Erkrankten ab. Das Ernährungsverhalten spielt bei Hämochromatose-Patienten im Gegensatz zu vielen anderen Stoffwechselerkrankungen – nur eine geringfügige Rolle. „Bleibt die Hämochromatose allerdings unbehandelt, führt dies schließlich zur Leberzirrhose“, erklärt der Hepatologe Kulaksiz. Dies sei jedoch heute nicht mehr die Regel. So gibt die moderne Labordiagnostik deutliche Hinweise: Vor allem ein hoher Ferritinwert sowie eine mehr als 55-prozentige Sättigung des Transportproteins Transferrins mit Eisen sind die Hauptindikatoren für die Hämochromatose und können bereits in einem frühen Stadium auf eine Mutation hinweisen. Seit einigen Jahren ist die Mutation, die für Hämochromatose verantwortlich ist, durch einen Bluttest nachweisbar. Er zeigt, ob auch Angehörige von Hämochromatose-Kranken die Veranlagung von beiden Elternteilen geerbt haben. Bei einem positiven Testergebnis können die Blutwerte der Betroffenen überwacht werden. Steigen sie deutlich an, ist das ein Zeichen dafür, dass die Krankheit ausgebrochen ist. Dann kann mit der regelmäßigen Aderlasstherapie begonnen werden, bevor es zu einer Überladung der Eisenspeicher und damit zu Organschäden kommt. Die Therapie mit der geringsten Nebenwirkung und der größten Wirkung ist der Aderlass. Immerhin verliert der Patient mit einem halben Liter Blut auf einen Schlag 250 Milligramm Eisen. Doch macht die Erforschung des Peptidhormons Hepcidin enorme Fortschritte. Kulaksiz ist einer der Wissenschaftler, die genauer untersuchen, welche Rolle Hepcidin im Eisenstoffwechsel spielt und wie der Stoff die Aufnahme des Eisens aus den Darmzellen ins Blut hemmt. „Wir wollen beweisen, dass der Hepcidinwert bei Hämochromatose-Patienten tatsächlich niedriger ist“, berichtet der Mediziner. Stimmt die Hypothese, wäre dies der erste Schritt zu einer Substitutionstherapie – ähnlich wie Diabetiker das Insulin, könnten sich dann Hämochromatose-Patienten das fehlende Hepcidin selbst verabreichen. „Erste Experimente zeigen, dass Hepcidin biotechnologisch herstellbar ist“, erklärt Kulaksiz. Bis zu einer ausgereiften Therapie sei jedoch noch viel Entwicklungsarbeit zu leisten. Kulaksiz: „Mit klinischen Studien ist nicht vor 2010 zu rechnen.“ 52 MIKRONÄHRSTOFFE Phosphatmangel verursacht Rachitis Die erbliche Rachitis macht etwa die Hälfte aller Rachitis-Erkrankungen aus. Ihre Ursachen aber können ganz unterschiedlich sein. Die durch Phosphatmangel gekennzeichnete phosphopenische Rachitis untersuchen Forscher in München. Im Jahr 1937 beschrieben Forscher erstmals eine Vitamin D-resistente Rachitis, die auch bei ausreichend Vitamin D im Körper entstehen kann. Phosphatmangel, so weiß man heute, ist Schuld an der als phosphopenische Rachitis bekannten Erbkrankheit. Der Grund für die Mangelerscheinung ist aber nicht etwa eine Unterversorgung mit Phosphat durch die Nahrung. Der Mikronährstoff geht im Übermaß über den Urin verloren. Bereits seit 1995 weiß man, dass die häufigste Form der Vitamin D-resistenten Rachitis durch Veränderungen im PHEX-Gen verursacht wird, das auf dem X-Chromosom liegt. Die möglichen Mutationen führen jeweils zu einem vollständigen Verlust des Proteins, das durch dieses Gen kodiert wird. Eine Verkrümmung der Knochen (hier der Wirbelsäule) ist das auffälligste Symptom einer schweren Rachitis. Schlechte Zähne und schwache Muskeln gehören ebenso dazu wie eine schwache Immunabwehr. „Die genaue Funktion des PHEX-Proteins ist bisher allerdings nicht ausreichend verstanden“, sagt Dr. Tim Strom, Humangenetiker am Helmholtz Zentrum München. Strom will mit seinem Team herausfinden, welche Rolle das PHEX-Protein und andere Proteine bei der Regulation des Phosphatstoffwechsels spielen. „Da Mutationen in mehreren Genen zu einem Phosphatmangel führen, vermuten wir, dass es einen Stoffwechselweg gibt, der für das Gleichgewicht im Phosphatstoffwechsel sorgt.“ Um diesen Stoffwechselweg zu entschlüsseln, leisten die Humangenetiker Detektivarbeit. Zuerst werden die Erbanlagen erkrankter Personen analysiert, um den für die Krankheit verantwortlichen DNA-Abschnitt zu finden. Dann gilt es herauszufinden, welche Struktur und Funktion das Protein hat, dessen Bauanleitung normalerweise durch das nun mutierte Gen verschlüsselt wird. So ist es den Münchener Rachitis-Experten in internationaler Zusammenarbeit gelungen, neben dem PHEX-Gen drei weitere Gene und die dazugehörigen Proteine zu identifizieren. Alle vier bekannten Mutationen, die zu einer durch Phosphatmangel ausgelösten erblichen Rachitis führen, scheinen sich auf ein Hormon auszuwirken, das von Knochenzellen produziert wird und im Blut zirkuliert: den Fibroblast Groth Factor FGF23. Das Hormon reguliert die Phosphatausscheidung in der Niere und steht am Anfang eines Stoffwechselweges, der letztlich für die Wiederaufnahme des Phosphats aus dem Primärharn verantwortlich ist. „Inzwischen ist auch das Rezeptor-Protein bekannt, also die biochemische ‚Andock-Stelle’ des FGF23 in den Nierenzellen“, erläutert Humangenetiker Strom. Damit haben die Forscher einen potenziellen Ansatzpunkt für eine zielgerichtete Therapie zur Behandlung der Hypophosphatämie. Denkbar wären Wirkstoffe, die ebenfalls an die FGF23-Rezeptoren binden und so mit dem Hormon konkurrieren. Wann eine neuartige Behandlungsoption zur Verfügung steht, ist jedoch ungewiss. Doch Strom ist zuversichtlich: „Jetzt gilt es, die noch offenen Fragen durch weitere Experimente und Studien zu klären. Wir stehen am Anfang eines viel versprechenden Ansatzes.“ MIKRONÄHRSTOFFE 53 Gut ernährt und doch unterversorgt Einen Mangel an Vitaminen und Mineralstoffen gibt es in Deutschland seit vielen Jahrzehnten nicht mehr. Trotzdem leiden Menschen an Mangelerscheinungen. Epidemiologen und Ernährungswissenschaftler wollen wissen, warum das so ist. Schwere Mangelerkrankungen gehören in Deutschland der Vergangenheit an. Das gilt für den durch Vitamin C-Mangel ausgelösten Skorbut, der als „Seefahrerkrankheit“ in die Geschichte einging, ebenso wie für die Vitamin D-Mangel-Rachitis, an der bis zum Anfang des vergangenen Jahrhunderts viele Kinder in ganz Europa litten. Der Grund für diese positive Entwicklung liegt auf der Hand. Die Lebensmittelregale sind stets prall gefüllt. Brot und Brötchen, Milch und Käse, Fleisch und Wurst sind jederzeit erhältlich. Aus den Obstund Gemüsetheken leuchten dem Verbraucher von Januar bis Dezember rote, gelbe, grüne Garten- und Feldfrüchte aus aller Herren Länder entgegen. Sich ausreichend, abwechslungsreich und vollwertig zu ernähren, ist heute einfacher denn je. Das betont auch die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE). Wer sich daran hält, ist in der Regel mit allen essenziellen Mikronährstoffen versorgt. Doch was ist mit jenen, denen es nicht gelingt, sich ausgewogen zu ernähren? Und wie sieht es aus, wenn jemand aus individuellen Gründen einen erhöhten Bedarf an bestimmten Mikronährstoffen hat, zum Beispiel in der Schwangerschaft? Solchen Fragen gehen Wissenschaftler inzwischen in epidemiologischen Studien auf den Grund. Ausgangslage vieler neuerer Studien ist in Deutschland der vom Robert Koch-Institut (RKI) Berlin durchgeführte Ernährungssurvey 1998. Die RKI-Forscher erfassten dazu zwischen 1997 und 1999 im Rahmen des Bundes-Gesundheitssurveys stichprobenartig das Ernährungsverhalten von 4.030 Männern und Frauen zwischen 17 und 79 Jahren. Ergebnis bei den Mikronährstoffen: Zwar nehmen die meisten der Folsäuremangel ist während der Schwangerschaft besonders gefährlich. Das in Melonen häufige B-Vitamin ist unentbehrlich für die Entwicklung von Gehirn, Rückenmark und Wirbelsäule des Kindes. Befragten ausreichend Vitamine, Spurenelemente und Mineralstoffe zu sich. Doch gibt es Teile der Bevölkerung, die zum Beispiel die von der DGE empfohlenen Mengen an Vitamin D, Vitamin E, Folsäure sowie Eisen nicht erreichen. Darunter sind vor allem Kinder, Ältere sowie schwangere Frauen. Nachfolgende epidemiologische Untersuchungen belegen diese Ergebnisse. So die EsKiMoStudie, die das RKI gemeinsam mit der Universität Paderborn bei Kindern und Jugendlichen zwischen sechs und 17 Jahren durchführte. Die ErnährungsUntersuchung ist Bestandteil der Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KIGGS) und zeigt: Die Versorgung der Kinder mit den meisten Vitaminen und Mineralstoffen ist ausreichend. Ausnahmen davon sind allerdings Vitamin D und Folat. Bei 6- bis 11-Jährigen fehlt es außerdem an Vitamin E, Vitamin A und Calcium und bei Mädchen generell an Eisen. Ähnlich verhält es sich bei Senioren. Ihrem Ernährungs- und Gesundheitszustand widmen sich Forscher der Universität Gießen (Gießener Senioren 54 Langzeitstudie, GISELA) sowie der Universitäten Bonn und Paderborn (Ernährung in stationären Einrichtungen für Seniorinnen und Senioren, ESTESS). Gerade bei älteren Menschen, die oft aus gesundheitlichen Gründen kaum noch das Haus verlassen, machen sich Mangelerscheinungen bemerkbar. Viele Senioren leiden zudem unter Appetitlosigkeit und nehmen insgesamt zu wenig Nahrung und damit Nährstoffe zu sich. „Bei gerade mal 1.000 bis 1.500 aufgenommenen Kalorien am Tag fehlt es eigentlich an allem“, bestätigt der Paderborner Ernährungswissenschaftler Professor Helmut Heseker. Altersbedingte Störungen der Nährstoffaufnahme in den Körper seien ein zusätzliches Risiko. So sei die perniziöse Anämie (Perniziosa), eine mit Vitamin B12-Mangel verbundene Erkrankung, die häufigste bei älteren Menschen zu behandelnde Mangelerscheinung. Doch Vitamin D und Folsäure bleiben in Deutschland die Sorgenkinder der Experten. „Folat ist für den Methionin-Stoffwechsel unentbehrlich. Ein extremer Mangel kann zu Blutbildungsstörungen und irreversiblen Schäden des Nervensystems führen“, sagt der Bonner Professor Klaus Pietrzik, der die biochemische Bedeutung der B-Vitamine seit Jahrzehnten untersucht. Eine Unterversorgung ist auch in Deutschland präsent: Nur 16 Prozent der Männer und zehn Prozent der Frauen nehmen die von der DGE empfohlene Menge von 400 Mikrogramm Folat pro Tag auch wirklich auf. Vor allem in der Schwangerschaft kann ein Folatmangel folgenschwer sein. Das Vitamin ist unentbehrlich für die Entwicklung von Gehirn, Rückenmark und Wirbelsäule. Eine unzureichende Versorgung schon zum Zeitpunkt der Empfängnis und in den ersten Schwangerschaftswochen kann zu schweren Fehlbildungen des Zentralnervensystems führen. Um das sicher zu verhindern, muss dem Körper dauerhaft ausreichend Folat zur Verfügung stehen – auch vor der Schwangerschaft. MIKRONÄHRSTOFFE 100 Gramm geräucherter Lachs liefern allein 22 Mikrogramm Folsäure. Die gleiche Menge Schweinefilet versorgt uns dagegen nur mit drei Mikrogramm des B-Vitamins. Der allgemein konstatierte Folatrückstand in Deutschland kann nach Ansicht vieler Experten nur durch eine flächendeckende Anreicherung ausgewählter Grundlebensmittel ausgeglichen werden. Diskutiert wird, Mehle mit dem Vitamin anzureichern, denn dadurch könnte ein großer Teil der Bevölkerung erreicht werden. Neben der DGE und dem RKI hält auch das Bundesinstitut für Risikobewertung eine Anreicherung von Mehl mit 150 Mikrogramm Folsäure pro 100 Gramm für geeignet, um die Folatversorgung in Deutschland grundsätzlich zu verbessern. Aber es gibt auch kritische Stimmen. Die Krebsforscherin Dr. Cornelia Ulrich am Fred Hutchinson Cancer Research Center in Seattle etwa verweist auf neue US-amerikanische Studien, nach denen die in den USA längst übliche Anreicherung von Mehl und Getreideprodukten mit Folsäure das Risiko von Darmpolypen sowie Darm- und Prostatakrebs möglicherweise erhöht. Weitere Studien seien daher dringend erforderlich, bevor ausgewählte Grundnahrungsmittel angereichert würden. Und Vitamin D? Die epidemiologischen Studien zeigen, dass die Mehrheit der Bevölkerung auch von diesem Vitamin weniger als die empfohlenen Mengen zu sich nimmt. Allerdings lässt sich aus den Ergebnissen kein echter Mangel ableiten, denn der Körper kann den größten Teil des Vitamin D-Bedarfs selbst bilden – vorausgesetzt, er bekommt genug Sonnenlicht. „Um eine echte Unterversorgung sicher feststellen zu können, muss der Vitamin D-Gehalt MIKRONÄHRSTOFFE 55 Lebertran – eine bittere Erinnerung Vor allem Kindern und älteren Menschen fehlt es an Vitaminen und Mineralstoffen. Die Versorgung mit den Vitaminen D und E sowie Folsäure und Eisen ist in Deutschland unzureichend, sagen Experten. des Blutes bestimmt werden“, erklärt Birte Hintzpeter vom Robert Koch-Institut. Die Ökotrophologin hat so den Vitamin D-Status von 4.000 deutschen Erwachsenen untersucht. Das Ergebnis: Bei rund 60 Prozent der Teilnehmer stellte die Forscherin einen milden Vitamin D-Mangel fest. Jüngere Studien aber lassen vermuten, dass zu wenig Vitamin D im Blut zu einer Vielzahl von Krankheiten beiträgt. Dazu zählen neben bestimmten Krebsarten auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes. So wurden bei Frauen, die an Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes litten, signifikant niedrigere Vitamin D-Werte gemessen als bei gesunden Frauen. Zu ähnlichen Ergebnissen kam die Studie bei Männern mit insulinpflichtigem Diabetes. „Bevor konkrete Präventions- und Therapieempfehlungen gegeben werden, sind jedoch weitere Studien nötig“, betont Hintzpeter. Einen Rat spricht sie aber ohne Einschränkung aus: „Wer im Sommer Gesicht und Arme täglich zehn bis fünfzehn Minuten der Sonne aussetzt – und zwar ohne Sonnenschutz – bildet genügend Vitamin D, um auch die dunkle Jahreszeit zu überbrücken.“ Kinder, die ihn früher schlucken mussten, empfanden ihn als Fluch. Tatsächlich war der tägliche Löffel Lebertran aber oft ein Segen. Denn das Fischöl mit dem bitteren Geschmack lieferte eine ausreichende Menge Vitamin D, um der Rachitis vorzubeugen. Das auch unter dem Namen Calciferol bekannte Vitamin spielt eine wichtige Rolle im Calciumstoffwechsel und trägt damit zum Aufbau von Knochensubstanz bei. Ein Mangel im Kindesalter kann zu Rachitis führen. Lebertran mit seinem hohen Vitamin D-Gehalt konnte diesen Mangel ausgleichen und führte dazu, dass Rachitis seltener wurde. Bis heute erhalten Säuglinge generell Vitamin DGaben zur Rachitis-Prophylaxe – allerdings, sehr viel angenehmer, in Tablettenform. „Doch Vitamin D-Mangel kommt auch in unseren Tagen vor“, sagt Professor Clemens Kunz, Ernährungswissenschaftler an der Universität Gießen. Gefährdet ist jeder, der sich nahezu rund um die Uhr in geschlossenen Räumen aufhält. Das trifft auf viele zu – Kinder wie Erwachsene. „Der tägliche Esslöffel Lebertran ist als Gegenmittel jedoch nicht mehr zu empfehlen“, so Kunz. Denn die Leber der Fische, aus der das Öl gewonnen wird, sei häufig mit Umweltgiften belastet. Allein über die Ernährung lasse sich eine Unterversorgung mit Vitamin D nur schwer ausgleichen. Kunz: „Dafür müsste mehrmals wöchentlich fetter Seefisch verzehrt werden.“ Stattdessen rät der Ernährungsexperte, sich zusätzlich jeden Tag mindestens eine halbe Stunde im Freien aufzuhalten. Nur wenn das nicht möglich ist, kann unter ärztlicher Aufsicht auch eine zusätzliche Calciferoleinnahme vorübergehend den Vitaminbedarf decken. 56 FETTE FETTE 57 Fettstoffwechsel – Energie für den Körper Ob Butter, Öle oder fettes Fleisch – der Ruf von Fett ist miserabel und passt nicht in das Bild gesunder Ernährung. Dabei braucht der menschliche Körper die Moleküle dringend zum Leben. Sie sind nicht nur Bausteine von Zellmembranen, Hormonen und Vitaminen. Fette sind die Hauptenergielieferanten des Körpers und schützen wichtige Organe vor Kälte und Verletzungen. Auch das Essen würde ohne Fett ziemlich fad schmecken. Denn Aromen sind in Wasser nicht löslich und können sich erst entfalten, wenn sie in Fett gelöst werden. Gleiches gilt übrigens für Vitamine. Die wichtigen Mikronährstoffe kann der Körper nur mit Hilfe von Fetten aufnehmen. Aus einer ausgewogenen Ernährung sind Fette schon deswegen nicht wegzudenken. Der schlechte Ruf hat trotzdem seinen Grund: Kann der Körper Fette nicht richtig um-, ab- oder aufbauen, sammeln sie sich im Blut und schaden den Gefäßen. Butter besteht aus Milchfett und ist meist gut bekömmlich. Sie enthält etwa 76 verschiedene Fettsäuren und viele wichtige Vitamine. Chemisch gehören Fette zu den Lipiden, einer Gruppe natürlich vorkommender Moleküle. Sie zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie in Wasser nicht löslich sind. Im Blut, das zu mehr als 50 Prozent aus Wasser besteht, binden Lipide daher an Eiweiße und gelangen mit ihnen an ihren Bestimmungsort. Medizinisch relevant sind insbesondere solche Lipide, die der Mensch mit der Nahrung zu sich nimmt, also Triglyzeride wie Fette und fette Öle, Steroide (vor allem das Cholesterin) und Fettsäuren. Dass der Körper Fette überhaupt nutzen kann, verdankt er dem Fettstoffwechsel und seinen Enzymen. In unzähligen Einzelschritten werden die Nahrungsfette noch im Verdauungstrakt zerlegt und ins Blut geschleust. Mit dem Blutstrom gelangen sie schließlich weiter durch den Körper und werden von Enzymen anderer Wege des Fettstoffwechsels weiter umgebaut. Als Bau- und Botenstoffe sowie als Energielieferanten erfüllen die Nahrungsfette schließlich wichtige biologische Funktionen im Körper. Arbeiten ein oder mehrere Enzyme im Fettstoffwechsel fehlerhaft, gerät das Gleichgewicht zwischen aufgenommenem und verarbeitetem Fett durcheinander. Fettstoffwechselstörungen sind die Folge. Sie können durch einen genetischen Defekt verursacht oder aber – was häufiger der Fall ist – durch falsche Ernährung und Bewegungsmangel hervorgerufen werden. Dann entstehen sogar Volkskrankheiten wie die Hypercholesterinämie (s.a. „Zu viel Cholesterin kann erblich sein“, S. 64) oder die als krankhafte Fettleibigkeit bekannte Adipositas (s.a. „Gefährliche Fettpolster“, S. 62). Tatsächlich zählen die meisten Fettstoffwechselstörungen zu den Wohlstandskrankheiten. Früher, besonders in der Nachkriegszeit, war Fett in Europa ein begehrtes Gut. Erhöhte Blutfettwerte, etwa durch zu fettes Essen, gab es kaum. Heute ist die Nahrung reich an Fetten und Kohlenhydraten. Aktuelle Forschungen zu Fettstoffwechselstörungen zielen daher neben der Suche nach genetischen Defekten insbesondere auf das Zusammenspiel der Nahrungsinhaltsstoffe. Die reich gedeckten Tische der westlichen Gesellschaften haben aber nicht nur die Essgewohnheiten gewandelt. Auch der Wert der Nahrungsmittel hat sich verändert. Der Anblick von Fett weckt Gefühle wie Ablehnung oder gar Ekel. Empfindungen, die sogar die Interpretation von Kunstwerken beeinflussen. So hat zum Beispiel die Fettkunst von Joseph Beuys heute für die meisten Menschen eine andere Bedeutung als zu ihrer Entstehungszeit. 58 FETTE Fettkunst Wachs, Honig, Schokolade, Knochen, Blut, aber auch Fett: Für viele seiner bekanntesten Werke wählte Joseph Beuys organische Materialen. Sie besaßen für ihn spirituelle Kräfte und verkörperten geradezu perfekt den von ihm entwickelten Begriff der Plastik. Demnach besteht die Plastik aus einem warmen, chaotischen Pol und einem kalten, geformten Pol. An organischen Materialien faszinierte Beuys, dass sie veränderlich, formbar und vergänglich sind – das gilt ganz besonders für Fett. Denn schon geringe Temperaturunterschiede können den Aggregatzustand dieses Stoffs von flüssig zu fest und umgekehrt ändern. Zudem liegt Fett in so vielen verschiedenen Formen vor, dass sich eine fast unendliche Vielfalt ergibt. Auch die Zeit hinterlässt ihre Spuren: Das Material bleibt nicht unverändert, nachdem es die Hand des Künstlers verlassen hat, sondern wird durch seine Umwelt, etwa die Temperatur, verändert. Beuys eignete sich das Fett als künstlerisches Material langsam an: zunächst malerisch in Zeichnungen, später auch bildnerisch. In den 1960er Jahren entstanden schließlich die berühmten Fettplastiken, wie die „Fettecken“. „Dabei ist es wichtig, diese Materialien auch historisch einzuordnen“, betont Dr. Barbara Strieder von der Stiftung Museum Schloss Moyland in Bedburg-Hau, wo sich die weltweit größte Sammlung von Beuys-Werken befindet. So hatte Fett für den 1921 geborenen Beuys eine durchweg positive Bedeutung. Nach den Hungerjahren der Nachkriegszeit verkörperte es für ihn Energie, Nahrung und Wärme. Schließlich handelt es sich bei Fett um eine wertvolle Nahrungsquelle und den wichtigsten Speicherstoff des menschlichen Körpers. Mittlerweile hat sich der Begriffsinhalt von Fett allerdings stark geändert. „Heute hat Fett fast nur noch negative Konnotationen“, so Strieder. „Das ist auf den Überfluss unserer Wohlstandsgesellschaft zurückzuführen.“ Fett wirkt heute häufig eklig und abstoßend. Früher verband man damit Wärme und Geborgenheit. FETTE 59 Wie funktioniert die Leber? rechter Leberlappen untere Hohlvene linker Leberlappen Gallenblase Bauchspeicheldrüse Zwölffingerdarm Leberarterie Ob Eiweiße oder Fette, Zucker, Spurenelemente und auch Giftstoffe – an der Leber führt kein Weg vorbei. Das aus zwei großen Lappen bestehende braunrote Gebilde ist das zentrale Organ des menschlichen Stoffwechsels, also so etwas wie Chemikalienfabrik und Entgiftungsanlage in einem. Die bis zu zwei Kilogramm schwere Leber liegt, geschützt von den unteren Rippen, im Bauchraum und greift regulierend in den Stoffwechsel ein. Wie wichtig sie für den Organismus ist, zeigt allein die Tatsache, dass sie 20 Prozent des vom Körper verbrauchten Sauerstoffs benötigt – fast so viel wie das Gehirn. Tag für Tag gelangen Zucker, Eiweiße, Fette und Mikronährstoffe über das Blut aus der Nahrung in die Leber. Dort werden diese Nahrungsbestandteile so umgebaut, dass der Körper sie verwerten kann. Sind die Stoffe umgewandelt, gibt die Leber sie als Bausteine für Enzyme, Hormone und Vitamine oder als Energielieferanten in den Körper ab oder speichert sie, bis sie gebraucht werden. Leberpfortader Die Leber verwandelt Nahrungsfette in körpereigene Fette. Doch die Fette, die der Körper verwerten kann, sind im Blut nicht löslich. Damit sie dennoch dort ankommen, wo sie gebraucht werden, bildet die Leber zusätzlich Fett-Transporter, so genannte Lipoproteine. Bei ausreichend guter Versorgung mit Nährstoffen stellt die Leber zudem Fette aus Eiweißen und Zucker her, die – ebenfalls in Lipoproteinen verpackt – zum Fettgewebe transportiert und dort gespeichert werden. Bei Energiemangel wird dieses Fettpolster abgebaut. Bekanntestes Produkt der Leber ist der Gallensaft. Täglich entstehen 600 Milliliter der zähen Flüssigkeit, die über die Gallengänge in den Darm fließt und bei der Aufnahme von Fetten aus der Nahrung hilft. Müssen Giftstoffe aus dem Körper geschleust werden, dient der Gallensaft außerdem als Transportvehikel für Giftstoffe aller Art. Selbst gegen Viren, Bakterien und Tumorzellen geht das Organ vor. Arbeitet die Leber nicht, kann der Körper nur wenige Stunden überleben. 60 FETTE Gefährliche Fettpolster In Deutschland sind immer mehr Menschen viel zu dick. Nach aktuellen Studien sind rund 37 Millionen Erwachsene übergewichtig oder sogar adipös, also fettleibig. Darunter befinden sich immer mehr Jugendliche und Kinder. Forscher untersuchen, welche Folgen das Dicksein hat und finden zunehmend genetische Ursachen für krankhaftes Übergewicht. Die genetische Ausstattung des modernen Menschen unterscheidet sich nicht wesentlich von der seiner urzeitlichen Vorfahren. Anders seine Lebensweise: Das Leben der Urmenschen war vor allem von Mangel bestimmt. Die karge Nahrung musste mühsam erjagt oder gesammelt werden. Was der Mensch an Kalorien aufnahm, aber nicht verwertete, verbrauchte er spätestens auf der nächsten Jagd oder Sammeltour. Heute liegt in den Industrienationen das Fleisch gebrauchsfertig im Supermarkt, Fertiggerichte im Regal nebenan und auch Schokoriegel, Chips und Erdnussflips sind stets griffbereit. Und weil der Weg zum Fernsehen noch dazu näher ist als zum Sportplatz, landen überzählige Kalorien schnell auf der Hüfte. Die überschüssige Energie aus der Nahrung wird dabei in den Fettzellen (Adipozyten oder Lipozyten) des Körpers gespeichert. Sie enthalten je einen großen Fetttropfen, der sich vergrößert, bis er nahezu den gesamten Zellinhalt ausmacht. Erst wenn der Fetttropfen kein weiteres Fett mehr aufnehmen kann, bildet der Körper neue Adipozyten. Sie werden selbst dann nicht mehr abgebaut, wenn das Gewicht wieder reduziert wird – die Fettzellen schrumpfen lediglich. Nach Ergebnissen des Robert Koch-Instituts in Berlin sind in Deutschland 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen im Alter von drei bis 17 Jahren übergewichtig, mehr als ein Drittel davon ist adipös. Damit hat sich nach Ansicht von Experten in den letzten beiden Jahrzehnten in Deutschland und anderen europäischen Ländern die Häufigkeit von Übergewicht im Kindesalter mehr als verdoppelt. Zwar ist nicht jeder gleich krank, der dick ist. Doch je nach Ausmaß der Fettleibigkeit sind die überflüssigen Pfunde weit mehr als ein ästhetisches Problem. Die Adipozyten der Fettdepots, vor allem die in der Bauchhöhle, produzieren Hormone und andere wichtige Substanzen. Zu viel Fett im Zellinneren oder auch zu viele Fettzellen bringen die streng regulierte Bildung dieser Stoffwechselprodukte durcheinander und wirken damit ungünstig auf angrenzende Stoffwechselprozesse. Ein Beispiel ist das Adiponektin: Die Produktion dieses Hormons wird in übervollen Fettzellen gedrosselt. Adiponektin aber verstärkt die Wirkung von Insulin und wirkt so positiv auf den Kohlenhydratstoffwechsel. Bleibt das Adiponektin aus, verliert auch das Insulin an Wirkung, der Blutzuckerspiegel steigt. Das Beispiel zeigt, wie eng die Stoffwechselabläufe miteinander verzahnt sind. Vor allem der Typ 2-Diabetes ist in vielen Fällen eine direkte Folge von Übergewicht. Andere Wechselwirkungen führen zu Bluthochdruck und erhöhten Cholesterinwerten und damit zu einem stark erhöhten Risiko für HerzKreislauf-Erkrankungen. Kommen zur Adipositas zwei dieser Krankheiten hinzu, sprechen Mediziner vom Metabolischen Syndrom (s.a. „Das tödliche Quartett“, S. 62). Body-Mass-Index oder Bauchumfang? Mediziner unterscheiden grundsätzlich zwischen „Übergewicht“ und „schwerem Übergewicht“, also Adipositas (Fettleibigkeit). Denn je nach Statur ist dick nicht gleich dick. Beide Gruppen lassen sich mit dem BodyMass-Index (BMI) unterscheiden. Dabei wird das Körpergewicht durch das Quadrat der Körpergröße geteilt. Tabellen, die in der Regel nach Alter und Geschlecht unterscheiden, geben dann Aufschluss darüber, ob ein Ergebnis als unter-, normal-, übergewichtig oder sogar als adipös zu bewerten ist. Man muss allerdings bei der Interpretation des BMI einer individuellen Person vorsichtig sein. So können beispielsweise auch sehr muskulöse Menschen einen erhöhten BMI-Wert erreichen, ohne tatsächlich übergewichtig zu sein. Neben dem Gewicht gilt mittlerweile auch der Bauchumfang als entscheidend, weil Fettdepots in diesem Bereich besonders schädlich für die Gesundheit sind. Die Erfahrung zeigt, dass sich das Risiko für Typ 2-Diabetes und andere Stoffwechselleiden bei Frauen ab einem Bauchumfang von 88 Zentimetern und bei Männern ab 102 Zentimetern deutlich erhöht. FETTE Nicht immer hat der Lebensstil Schuld am Dicksein. Aber auch bei einer genetischen Veranlagung begünstigt eine ungesunde Lebensweise die Entstehung von Adipositas. Auch bestimmte Tumorleiden werden mit einem Überschuss an Fettgewebe in Verbindung gebracht. Östrogene, die außer in den Eierstöcken auch in den Fettzellen gebildet werden, können zum Beispiel das Wachstum bestimmter Brustkrebstumoren anregen. Darüber hinaus belastet Übergewicht die gesamte Körperarchitektur, Schäden an Gelenken und Knochen sind die Folge. Die direkten und indirekten Folgen beginnen bereits im jugendlichen Alter und belasten das Gesundheitssystem und die deutsche Volkswirtschaft mit deutlich mehr als zehn Milliarden Euro pro Jahr. Daher wird im Rahmen des vom BMBF seit 2008 geförderten Kompetenznetzes Adipositas das Projekt MEMORI (Multidisciplinary early modification of obesity risk) gefördert. „Dabei geht es unter anderem auch um die finanziellen Folgelasten der Adipositas im Kindesalter“, berichtet Berthold Koletzko, der Koordinator von MEMORI. „Zugleich wollen wir untersuchen, wie effektiv verschiedene Programme gegen das Übergewicht sind – und welchen Einfluss sie im Einzelnen auf die Kosten haben.“ Sport gilt dabei nach wie vor als eine der wichtigsten vorbeugenden Maßnahmen. Denn wer sich ausreichend viel bewegt, verbrennt Fett nicht nur beim Sport, sondern kurbelt darüber hinaus seinen Stoffwechsel 61 an. Und natürlich zählt auch die richtige Ernährung zu den wichtigsten Maßnahmen im Kampf gegen Übergewicht und Adipositas. Als eine Sache des Lebensstils allein gilt Fettleibigkeit heute allerdings nicht mehr. In den vergangenen Jahren fanden Genomforscher vermehrt Gene, die zumindest auf eine Veranlagung zum Dicksein hinweisen. „Die meisten Genvarianten mit einer starken Auswirkung auf das Körpergewicht sind aber zu selten, um wirklich relevant zu sein“, sagt Professor Johannes Hebebrand von der Universität DuisburgEssen. Hebebrand hat bereits im Rahmen des vom BMBF geförderten Nationalen Genomforschungsnetzes (NGFN) die genetischen Mechanismen der Gewichtsregulation erforscht und setzt seine Arbeiten seit 2008 unter dem Dach des Kompetenznetzes Adipositas fort. Bei etwa zwei Prozent adipöser Menschen, berichtet der Adipositas-Experte, sei zum Beispiel ein Gen verändert, das die Bauanleitung für einen im Gehirn vorkommenden Melanocortin-4-Rezeptor, kurz MC4R, trägt. Dieses Molekül beeinflusst den Energiehaushalt des Körpers – und damit auch das Gewicht. Die Betroffenen bilden keine, zu wenige oder nicht funktionstüchtige Rezeptoren. In der Folge steigt ihr Appetit, ihr Kalorienverbrauch aber sinkt. Wie sich dieser Defekt auswirkt, lässt sich mittlerweile sogar in Zahlen ausdrücken: Männer mit dieser Mutation bringen im Schnitt 13 Kilogramm mehr als nicht betroffene Männer auf die Waage. Bei Frauen sind es sogar 27 Kilogramm zusätzlich. Solche monogenetischen Formen der Adipositas, bei denen ein Defekt an einem einzigen Gen die Fettleibigkeit bewirkt, sind aber die Ausnahme. Meist sind mehrere Gene an der Entwicklung des Übergewichts beteiligt. Letztlich, so Hebebrand, gelte es herauszufinden, wie viele der entscheidenden Genvarianten vorkommen und wie sie miteinander kombiniert sind. Die Aufschlüsselung dieser polygenen (also auf mehreren Genen beruhenden) Ursachen ist dank moderner Technologien inzwischen möglich. Noch aber wird spekuliert, wie sehr die genetische Ausstattung das Risiko für Übergewicht beeinflusst. „Momentan ist das noch mehr Glauben als Wissen“, so Hebebrand. „Sicher ist aber, dass es deutlich mehr als 50 Prozent sind.“ Weltweit wird deshalb auch daran geforscht, dem starken Einfluss der Gene durch eine medikamentöse Therapie entgegenzuwirken. Alleine wegen der zu erwartenden Nebenwirkungen sollte sich dieses Angebot in erster Linie an schwer Übergewichtige richten, meinen die Experten. 62 FETTE Metabolisches Syndrom – das tödliche Quartett Für manche ist es bloß die Bündelung mehrerer Erkrankungen. Für andere ist es eine eigenständige Krankheit: das Metabolische Syndrom. Obwohl inzwischen sogar genetische Ursachen für die Krankheit diskutiert werden, gibt es in Deutschland noch immer keine einheitlichen Leitlinien zur Diagnose des Metabolischen Syndroms. Dass es eine Krankheit geben soll, die aus mehreren einzelnen Erkrankungen – darunter sogar zwei Volkskrankheiten – besteht, klingt zunächst seltsam. Schließlich sind die Parameter hohe Blutfettwerte, hoher Blutdruck sowie zu viel Blutzucker und Übergewicht für sich allein bereits therapiebedürftige Krankheiten. Weshalb also aus ihrem gemeinsamen Auftreten eine eigenständige Erkrankung machen, gar ein „tödliches Quartett“, wie die Medien das Metabolische Syndrom gerne nennen? Weil es wichtig ist, die vier Erkrankungen in ihrer Gesamtheit zu erfassen, sagen inzwischen die meisten Mediziner im In- und Ausland. Sie sind davon überzeugt, dass die Diagnose „Metabolisches Syndrom“ berechtigt ist. „Der Begriff selbst ist zwar noch etwas schwammig. Er ist aber eine nützliche Klammer, um die verschiedenen Störungen gemeinsam zu behandeln“, begründet Professor Hans Hauner, Direktor des Else Kröner-Fresenius-Zentrums für Ernährungsmedizin der TU München, die Einordnung des Metabolischen Syndroms als eigenständige Krankheit. Unterstützung bekommen Experten wie Hauner, der seit 2008 auch Sprecher des vom BMBF geförderten Kompetenznetzes Adipositas ist, aus den USA. Dort gaben zwei wissenschaftliche Fachgesellschaften bereits im Jahr 2005 erste Leitlinien zur Diagnose des Metabolischen Syndroms heraus. Diese wurden in Deutschland von der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF) zunächst als Vorschlag übernommen. Danach leidet unter einem Metabolischen Syndrom, wer mindestens drei der fünf Kriterien erfüllt (s.a. Tabelle, S. 63). Auslöser des Metabolischen Syndroms ist eine stammbetonte Adipositas; also eine Fettleibigkeit, die in erster Linie die Körpermitte betrifft. Denn gerade im Bauchfett ist der Stoffwechsel außerordentlich aktiv. Es produziert viele Botenstoffe und Hormone, die auf andere Stoffwechselwege wirken und unter anderem den Zuckerhaushalt negativ beeinflussen können. Der Diabetes ist oftmals eine direkte Folge, ebenso ein hoher Cholesterinspiegel und Bluthochdruck – das Metabolische Syndrom entsteht. Experten gehen davon aus, dass in Deutschland schon mindestens 20 Prozent der Erwachsenen betroffen sind. Weil es aber vielen niedergelassenen Ärzten schwer fällt, die Anhäufung der Erkrankungen als Metabolisches Syndrom und damit als eigenständige Krankheit zu diagnostizieren, liegt die tatsächliche Zahl vermutlich darüber. Obwohl von den meisten Medizinern inzwischen als Krankheit anerkannt, kann das Metabolische Syndrom als solches nicht behandelt werden. Da die Ursache nicht eindeutig feststeht, fehlt es an Ansatzpunkten (Targets) für entsprechende Medikamente. Deshalb wird im In- und Ausland nach entsprechenden genetischen Anlagen gesucht. So haben US-amerikanische Wissenschaftler bei einer Familie einen – allerdings außerordentlich selten vorkommenden – Gendefekt identifiziert, der das Metabolische Syndrom auslösen kann, indem er einige der Risikofaktoren gleichzeitig begünstigt. Das von dem Defekt betroffene LRP6-Gen trägt die Bauanleitung für ein Protein, das bei der Weiterleitung von Signalen in der Zelle hilft. Es ist Bestandteil des so genannten „Wnt“-Signalweges, der vor allem während Bei der Messung des Grundumsatzes atmet die Patientin circa zehn Minuten in eine Atemmaske. Ein Messgerät berechnet, wie viel Energie der Körper an einem Tag in völliger Ruhe verbrennt. FETTE 63 Kriterien für das Metabolische Syndrom Nach Angaben der AWMF und angelehnt an die Definition der amerikanischen Fachgesellschaften American Heart Association und National Heart, Lung and Blood Institute leidet an einem Metabolischen Syndrom, wer mindestens drei der folgenden Kriterien aufweist: Abdominale Adipositas Blutfettwerte Erhöhte Triglyzeride Niedriges HDL-Cholesterin Der Taillenumfang beträgt mehr als 102 Zentimeter bei Männern und 88 Zentimeter bei Frauen. Die Blutfettwerte (Triglyzeride) sind auf über 150 mg/dl erhöht. Der Wert des HDL-Cholesterins ist bei Männern geringer als 40 mg/dl, bei Frauen geringer als 50 mg/dl. Bluthochdruck Die Grenzwerte liegen bei 130/85 mmHg. Erhöhte Plasma-Nüchternglukose Die Blutzuckerwerte liegen höher als 100mg/dl. der Entwicklung des Embryos wichtig ist – aber auch für Stoffwechselfunktionen bei Erwachsenen. Die Familienmitglieder mit diesem Gendefekt entwickelten in jungen Jahren eine Herz-KreislaufErkrankung oder verstarben sogar an einem Herzinfarkt. Dabei führte der Defekt nicht direkt zum Metabolischen Syndrom, sondern begünstigte unter anderem die Entwicklung von Adipositas, Bluthochdruck und Typ 2-Diabetes. Der Nachweis des Gendefekts könnte trotzdem signalisieren, dass das Metabolische Syndrom als eigenständige Erkrankung existiert und die Kombination der zugrunde liegenden Risikofaktoren nicht zufällig ist. „Tatsächlich scheint nämlich ein mehrschichtiger Zusammenhang der einzelnen Störungen zu bestehen“, bekräftigt Professor Andreas Pfeiffer vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung in Potsdam (DIfE). „So verknüpft etwa die Insulinresistenz alle Phänomene des Metabolischen Syndroms, und das ist nur eines von mehreren bekannten Beispielen.“ Bis die Suche nach den genetischen Ursachen aber zu einer Therapie führt, können nur einzelne Komponenten des Metabolischen Syndroms behandelt werden. Wechselwirkungen sind dabei erwünscht: Wird eine Störung erfolgreich therapiert, bessern sich häufig auch die anderen Erkrankungen. „Wir kennen auch schon das verbindende Element zwischen Adipositas und den einzelnen Komponenten im Metabolischen Syndrom“, sagt Pfeiffer. „Es ist das Gewicht!“ Die Therapie muss sich deshalb vor allem auf die Gewichtsreduzierung konzentrieren. Die Industrie sucht derweil neue Wirkstoffe zunehmend danach aus, ob sie zur Therapie mehrerer Komponenten des Metabolischen Syndroms beitragen. „Wenn wir den Effekt eines gesunden Lebensstils medikamentös nachahmen könnten, wäre das zwar eine interessante Alternative – doch ich weiß nicht, ob es das Beste für die Betroffenen wäre“, gibt Andreas Pfeiffer zu bedenken. Und bis es soweit ist, stehen Sport und eine ausgewogene Ernährung weiterhin an erster Stelle aller Maßnahmen. Tatsächlich ist eine Gewichtsreduktion kombiniert mit körperlicher Bewegung der einzige therapeutische Ansatz, der alle vier Teilerkrankungen des metabolischen Syndroms zu erfassen vermag. Selbst ein paar Kilo weniger können oft schon helfen. So gibt es Fälle, in denen eine erfolgreiche Diät zur Besserung aller Leiden führte – oder die Symptome sogar verschwinden ließ. „Damit lässt sich ein Metabolisches Syndrom auch verhindern“, bekräftigt Hauner. „Prävention ist angesagt: Man sollte nicht immer warten, bis das Kind in den Brunnen gefallen ist.“ 64 FETTE Zu viel Cholesterin kann erblich sein Kinder, die in jungen Jahren bereits einen Herzinfarkt erlitten, brachten die medizinische Forschung vor Jahrzehnten auf eine wichtige Spur. In ihrem Blut fanden sich ungewöhnlich hohe Cholesterinwerte. Forscher konnten zeigen, dass dafür ein Rezeptordefekt verantwortlich ist. Seitdem gilt der Cholesterinspiegel als ein wichtiger kardiovaskulärer Risikofaktor. Ohne Cholesterin könnte der Körper nicht leben. Das Lipid, das der menschliche Körper zu 90 Prozent selbst produziert, ist Grundlage für bestimmte Hormone, die Gallensäure oder das Vitamin D. Vor allem aber kommt Cholesterin in den Wänden unserer Zellen vor und damit im ganzen Körper. Das Gehirn beansprucht sogar rund ein Viertel des Gesamtcholesterins für sich. Ist aber zu viel Cholesterin im Blut (Hypercholesterinämie), kann es an den Gefäßwänden zu Ablagerungen (Plaques) kommen. Reißen sie ein, kommt es zu Blutgerinnseln und kompletten Verschlüssen der Adern. Die Folge ist ein Herzinfarkt. In der medizinischen Praxis gilt ein erhöhter Cholesterinspiegel daher als einer der wichtigsten Risikofaktoren für die Entstehung von HerzKreislauf-Erkrankungen. Umgekehrt konnte auch gezeigt werden, dass eine Senkung von Cholesterin vor einem Herzinfarkt schützen kann. Cholesterin ist in Wasser schlecht löslich. Auch im Blut muss es deshalb von so genannten Lipoproteinen transportiert werden. Die wichtigsten Vehikel werden in Kombination mit ihrer Ladung als das „gute“ HDL-Cholesterin und das „schlechte“ LDLCholesterin bezeichnet. HDL bringt das Cholesterin aus dem Gewebe zurück zur Leber. Die Leber ist das einzige Organ, das Cholesterin als Gallensäure über den Darm ausscheiden kann. LDL transportiert dagegen Cholesterin in die umgekehrte Richtung, also von der Leber in die umliegenden Organsysteme. Bei der Messung des Cholesterinwertes gilt daher ein hoher HDL-Spiegel in Kombination mit einem niedrigen LDL-Spiegel als günstig. Grundsätzlich müssen zwei Formen der Hypercholesterinämie unterschieden werden. Die eine wird durch einen ungesunden Lebensstil und Faktoren wie Diabetes oder Übergewicht begünstigt. Diese sekundäre Form der Hypercholesterinämie ist so häufig, dass sie zu den Volkskrankheiten zählt. Sie wird in erster Linie mit einer fettarmen Diät thera- Mit dem Blutstrom gelangt Cholesterin zu den Zellen. Ist zu viel Cholesterin im Blut, bleibt es hängen und lagert sich an den Gefäßwänden ab. piert und meist zusätzlich medikamentös behandelt. Die Medikamente hemmen die Synthese des körpereigenen Cholesterins und ergänzen eine Diät. Bei der zweiten, so genannten familiären Hypercholesterinämie ist das Gen mutiert, das die Information zum Bau des LDL-Rezeptors trägt. Das Molekül befindet sich auf der Oberfläche fast aller Zellen und transportiert Cholesterin aus dem Blut in die Zellen. Arbeitet der Transporter nicht korrekt, steigt der Cholesteringehalt im Blut deutlich. Die familiäre Hypercholesterinämie wird von einem oder beiden Eltern vererbt und findet sich als gemischterbiger Defekt bei jedem 300. Bundesbürger. In der einerbigen Form, die mit einem Herzinfarkt im Kindesalter einhergeht, ist die Erkrankung dagegen extrem selten. FETTE 65 Winzige Defekte mit großer Wirkung Die genetische Sequenz eines Menschen verrät Medizinern, ob eine Veranlagung zu einer Stoffwechselerkrankung vorliegt. Im Labor werden mit Hilfe chromatografischer Methoden die Blutfette getrennt und gemessen. Bei der Erforschung von Stoffwechselerkrankungen setzen Wissenschaftler zunehmend Hoffnung in winzige, zufällig erfolgte Veränderungen im menschlichen Erbgut. Allein 11 bis 13 Millionen solcher Single Nucleotide Polymorphisms (SNPs) soll es geben. Sie sind über das gesamte Erbgut verteilt und garantieren – da sind sich die Experten einig – die menschliche Einzigartigkeit. SNPs sind nichts anderes als veränderte Bausteine der DNA. Diese Bausteine (Nukleotide) setzen sich aus einem Zuckermolekül, einer der vier Nukleobasen Adenin, Guanin, Cytosin und Thymin sowie einem Phosphatrest zusammen. Die Basen stehen für den Vier-Buchstabencode des Erbguts und kodieren in einem Gen die Bauanleitung für ein Protein. Bei einem SNP ist eine Base durch eine andere ausgetauscht. Dabei verursacht aber nicht jeder SNP auch eine Krankheit. Die Folgen des Basenaustauschs reichen von unterschiedlicher Augen- oder Hautfarbe bis zu gravierenden Störungen im Stoffwechsel des Menschen. Gerade bei den Stoffwechselerkrankungen sind die genetischen Ursachen vielfach ungeklärt. Da sie meistens durch mehrere Gene verursacht werden, hoffen die Forscher, mit Hilfe der SNPs die genetischen Zusammenhänge der Krankheiten besser zu verstehen. Die Datenmengen, die sie dabei produzieren, sind immens. Über 20 Milliarden Einzeldaten werden allein im SNP-Projekt des Nationalen Genomforschungsnetzes (NGFN) erwartet. Für die beteiligten Forscher ist das der Einstieg in eine neue Welt der Genetik. Sie hoffen, mit ihren Analysen alle entscheidenden Genveränderungen zu finden, die zu so weit reichenden Krankheiten wie Adipositas oder Diabetes führen. 66 FETTE Eiweiße für die Fettverbrennung Wer ständig zu viel isst, wird dick. Doch nicht nur Maßlosigkeit ist schuld am Übergewicht vieler Menschen. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass über die Entstehung von Fettleibigkeit auch entscheidet, wie die Energielieferanten Fett, Zucker und Eiweiße miteinander kombiniert werden. Der Verzicht auf fettreiche Kost allein, so ihr Fazit, macht noch nicht schlank. Fett hat einen schlechten Ruf. Zwar ist es ein wichtiger Energielieferant des Körpers. Doch mit rund neun Kilokalorien pro Gramm – das ist mehr als doppelt so viel Energie wie die gleiche Menge an Kohlenhydraten oder Eiweißen (Proteinen) liefert – ist der Energiebedarf schnell gedeckt. Übermäßig verzehrt gelten fettreiche Lebensmittel, wie Butter und Sahne, Leberwurst und Rahmcamembert, Schokoriegel und Kartoffelchips, daher als entscheidend für die Entstehung von Übergewicht. Denn jedes Gramm Fett, das der Körper nicht verbrennt, macht dick. Zwar ist Dicksein an sich noch keine Krankheit, denn jeder Körper geht mit den überschüssigen Pfunden anders um. Doch extremes Übergewicht belastet den Körper und macht krank. Wer schlank und gesund bleiben will, sollte daher fettreiche Lebensmittel weitgehend vom Speisezettel verbannen, so die gängige Ernährungsempfehlung. Sollen gar überflüssige Pfunde verschwinden, raten Ärzte erst recht zu einer extrem fettreduzierten Kost. Diäten dagegen, die auf eine Kombination von protein- und fettreichen Lebensmitteln setzen, gelten bis jetzt als nicht empfehlenswert. Doch neue Forschungsergebnisse der Arbeitsgruppe „Physiologie des Energiestoffwechsels“ am Deutschen Institut für Ernährungsforschung (DIfE) in Potsdam deuten einen Paradigmenwechsel an. Unter Leitung von Professorin Susanne Klaus analysieren die Potsdamer Wissenschaftler das Zusammenspiel der Hauptnährstoffe Fette, Kohlenhydrate und Proteine im Substrat- und Energiestoffwechsel. „Bei der Suche nach den Ursachen von Übergewicht bleibt eine mögliche Interaktion zwischen diesen verschiedenen Makronährstoffen meist unberücksichtigt“, benennt die Forscherin den Ausgangspunkt ihrer Arbeiten. In einer ihrer ersten Studien fanden die Potsdamer Forscher in Fütterungsversuchen an Mäusen heraus, welche Nährstoffkombinationen besonders schnell zu Übergewicht führen. Dabei zeigte sich, dass eine Ernährung mit hohem Fett- und Kohlenhydratanteil die schnellste und größte Zunahme des Körperfetts bewirkte. Eine Diät mit hohem Fett- und Proteinanteil, aber wenigen Kohlenhydraten, führte hingegen wesentlich langsamer zu mehr Körperfett. „Dies lag im Wesentlichen daran, dass die Mäuse bei der fett- und kohlenhydratreichen Kost anfänglich dazu neigten, sich zu ‚überfressen’“, berichtet Klaus. Das Verhalten hatte bleibende Folgen: Obwohl die Mäuse nach circa zwei Wochen nicht mehr ganz so viel fraßen, blieben sie übergewichtig. Im Massenspektrometer erfasste Proteine werden mit Hilfe einer Datenbank identifiziert. FETTE 67 Fettgewebe mit prall gefüllten Fettzellen – während einer Diät schrumpfen die Zellen wieder, werden aber nicht vollständig abgebaut. Fütterungsversuche bei Mäusen brachten wertvolle Hinweise auf die Entstehung von Adipositas. Klaus vermutet, dass dieser Mechanismus bei Menschen ähnlich abläuft. Die Ernährung von Mäusen und Menschen sei zwar sehr unterschiedlich, es gebe jedoch sehr viele physiologische Ähnlichkeiten. „Experimente mit Mäusen können uns eine Vielzahl von Hinweisen darauf geben, wie es beim Menschen sein könnte“, erläutert die Biologin. Eine häufige Kombination aus viel Fett und viel Zucker wird also sehr wahrscheinlich auch beim Menschen zu dauerhaftem Übergewicht führen. Weshalb aber nehmen Mäuse und Menschen langsamer zu, wenn sie (statt Fett und Zucker) Fett und Eiweiße zu sich nehmen? Die DIfE-Wissenschaftler fütterten Mäuse in zusätzlichen Experimenten mit einem proteinreichen Mischfutter und beobachteten die Auswirkungen dieser Diät auf den Energiestoffwechsel. „Wir konnten beweisen, dass hochwertiges Protein dosisabhängig den Energieumsatz steigert und dass ein hoher Proteinanteil die Fettverbrennung erhöht“, fasst Klaus die Ergebnisse zusammen. Offenbar bewirkt ein hoher Proteinanteil im Futter der Mäuse, dass die Tiere das Fett aus der Nahrung vermehrt in Wärme umsetzen, statt es in Körperfettdepots zu sammeln. Auf welchen Mechanismen dieser Effekt beruht, ist allerdings noch nicht vollständig erforscht. „Wir wissen, dass Nahrungsproteine einen aktivierenden Einfluss auf so genannte Entkopplerproteine (Uncoupling Proteins = UCPs) in den Mitochondrien haben“, berichtet die Wissenschaftlerin. Mitochondrien sind in allen Zellen für die Energiegewinnung verantwortlich. So ist bekannt, dass das UCP 1 den Energieumsatz steigert. Dabei wird die gespeicherte Energie als Wärme freigesetzt. In Experimenten mit genetisch veränderten Mäusen, die gezielt UCP1 in der Skelettmuskulatur freisetzen, verbrennen diese Tiere bei körperlicher Aktivität mehr Energie und bringen deshalb weniger Gewicht auf die Waage als Kontrolltiere. Die Ergebnisse sind ein erster Ansatzpunkt für eine mögliche Therapie gegen Adipositas (Fettsucht). „Die Überlegungen gehen dahin, Medikamente zu entwickeln, die den Muskel dazu veranlassen, UCP1 zu produzieren und damit den Energieumsatz zu steigern. Bis dahin ist es jedoch noch ein sehr langer Weg“, beschreibt Klaus eine der denkbaren Therapieoptionen. Ein weiterer Ansatz ist die gezielte Beeinflussung der anderen bekannten Entkopplerproteine, die im Muskel und der Leber vorkommen. Die genaue Funktion dieser UCPs ist jedoch weitgehend unklar. Experten vermuten, dass sie wie das UCP 1 eine Rolle bei der Fettoxidation spielen. Derzeit untersuchen die Potsdamer Forscher auch die molekularen Mechanismen in der Zelle, um den Einfluss der Proteine auf die Entkopplerproteine in Muskel und Leber aufzuklären. Dabei fragen sie, ob es bestimmte einzelne Aminosäuren sind, die auf die Entkopplerproteine einwirken oder ob die Nahrungsproteine insgesamt eine Rolle spielen. 68 FETTE Übergewicht entsteht im Gehirn Ob sich jemand hungrig oder satt fühlt, entscheidet sich im Gehirn. Bei übergewichtigen Menschen sind die Mechanismen der Hunger- und Sättigungsregulation gestört. Es wird intensiv geforscht, um diese komplexen Regelkreise aufzuklären und Ansatzpunkte für neue Medikamente gegen Fettleibigkeit zu entdecken. Manche Menschen besitzen eine erstaunliche Fähigkeit. Sie halten ihr Körpergewicht über Jahre hinweg, ohne dass sie Kalorien zählen. Sie essen, wenn sie Hunger haben, und hören damit auf, wenn sie satt sind. Und falls sie doch ein mal über die Stränge schlagen, gleichen natürliche Mechanismen die zu viel aufgenommenen Nährstoffe innerhalb weniger Tage wieder aus. Die Evolution hat Tier und Mensch mit einem fein austarierten Regulationssystem von Hunger- und Sättigungsmechanismen ausgestattet. Die Schaltzentrale sitzt im Gehirn, genauer gesagt: im Hypothalamus. Dort gehen zahlreiche Signale ein und werden miteinander verrechnet. So kann der Anblick eines bunten Obstsalats den Appetit stimulieren, ebenso der Duft frisch gebackener Brötchen. Zugleich melden im Blut zirkulierende Botenstoffe den aktuellen Energiezustand des Körpers. Hauptakteure sind die Hormone Leptin und Insulin. Leptin wird vom Fettgewebe ins Blut abgegeben und signalisiert dem Gehirn, wie gut die Fettspeicher gefüllt sind, Insulin gibt Auskunft über die Zuckerversorgung. Ein eng geknüpftes neuronales Netzwerk im Hypothalamus empfängt, verarbeitet und bewertet diese und andere Informationen und entscheidet schließlich, ob der Mensch sofort ins Brötchen beißt oder nicht. Das ausgeklügelte System soll sicherstellen, dass der Mensch nur so viel Energie mit der Nahrung aufnimmt, wie der Körper braucht. Langfristig wird ein Gleichgewichtszustand angestrebt, den Wissenschaftler „Energiehomöostase“ nennen. So schützt sich der Körper einerseits vor dem Verhungern, andererseits vor einem ‚Überessen’. Doch der moderne Lebensstil wirkt stärker als das seit Jahrtausenden bewährte Regulationssystem. Ein üppiges Angebot hochwertiger Nahrungsmittel – kombiniert mit Bewegungsmangel – führt bei vielen Menschen dazu, dass ihre Ordnung durcheinander gerät. Die Folge: Übergewicht bis hin zur Fettleibigkeit. Appetit, aber keinen Hunger? – Was und wie viel wir essen, entscheidet das Gehirn. „Die Mechanismen, die uns vor dem Verhungern schützen, sind offenbar besser ausgebildet als solche, die uns vor der Aufnahme von zu viel Energie bewahren“, erläutert Professorin Susanne Klaus vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung (DIfE) in Potsdam diese Entwicklung. Vor allem der Leptin-Regelkreis scheint häufig zu entgleisen. Bei normalgewichtigen gesunden Menschen signalisieren hohe Blutspiegel des Hormons dem Gehirn gut gefüllte Fettspeicher – sie fühlen sich satt. Dieser Mechanismus versagt jedoch bei rund 95 Prozent der übergewichtigen Menschen. „Das Signal, dass genug Energie vorhanden und damit keine weitere Nahrungsaufnahme nötig ist, kommt im Gehirn nicht an“, sagt Professor Jens Claus Brüning vom Institut für Genetik der Universität Köln. Dieser Störung liegt jedoch in den meisten Fällen kein Leptinmangel zu Grunde. Vielmehr vermuten die Experten eine Leptin-Resistenz. „Diese Resistenz scheint eine Kombination aus einem reduzierten Transport von Leptin ins Gehirn und Defekten in der Leptin-Signalkaskade zu sein“, verdeutlicht Brüning. Das bedeutet: Trotz gut gefüllter Fettspeicher und hoher Leptinwerte FETTE im Blut quält Übergewichtige der Hunger. Deshalb schaffen es nur wenige, sich zu disziplinieren, weniger zu essen und so das Normalgewicht zu erreichen. Zwar kann mit Sport viel überschüssiges Fett verbrannt werden. Doch bei vielen adipösen Menschen reicht das oft nicht mehr aus, um das Gewicht ausreichend zu reduzieren. Einen Ausweg aus dem Dilemma könnte die pharmazeutische Forschung weisen. Denn mit innovativen Medikamenten könnte es gelingen, das gestörte Regulationssystem von Fettleibigen wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Diese Aufgabe ist riesig. Entscheidende Mitspieler und zentrale Knotenpunkte des Netzwerks sind zwar bekannt. Doch zahlreiche Verknüpfungen und Wechselwirkungen des komplexen Geschehens sind noch nicht enthüllt. Der Endokrinologe Brüning ist einer der Wissenschaftler, die das eng geknüpfte Netzwerk der Hunger- und Sättigungsmechanismen detailliert aufklären und Ansatzpunkte für neue Medikamente finden. Gemeinsam mit seiner Arbeitsgruppe hat er die Nervenzellen im Hypothalamus lokalisiert, die in Strukturmodell des Hormons Leptin, das dem Körper signalisiert, ob die Fettspeicher gefüllt sind. 69 der Hunger- und Sättigungsregulation eine Hauptrolle spielen. „Wir haben gezeigt, dass unter vielen Milliarden von Zellen im Hypothalamus nur wenige einen Leptin-Rezeptor tragen“, erklärt er. Dabei handelt es sich um zwei hoch spezialisierte Zelltypen, die einerseits Hunger, andererseits Sattheit vermitteln. Erstere werden von Leptin in ihrer Aktivität gehemmt, letztere aktiviert. Das Hormon wirkt also an zwei Schaltstellen gleichzeitig, indem es sowohl Hungergefühle dämpft als auch Sattheitsgefühle auslöst. Damit ist das ineinander greifende Gefüge der Hunger- und Sättigungsregulation jedoch noch nicht abschließend erklärt. Denn wenn das Leptin an den Rezeptor andockt, löst es eine Signalkaskade aus. Sie führt dazu, dass die Nervenzellen weitere Botenstoffe produzieren. Außerdem wirkt auch das Insulin über eigene Rezeptoren auf die Hunger und Sättigung vermittelnden Nervenzellen ein und löst seinerseits Signalkaskaden aus. Überdies scheinen sich Insulin und Leptin an den Sattheit vermittelnden Neuronen gegenseitig zu verstärken, während die beide Hormone an den Hunger vermittelnden Neuronen gegensätzliche Effekte bewirken. An der Aufklärung dieser Mechanismen wirken die Forscher um Brüning mit. Dabei bedienen sie sich einer molekulargenetischen Methode. Sie erlauben es, in Mäusen bestimmte Gene zelltypspezifisch auszuschalten. „So ist es gelungen, einzelne Proteine, die an der Insulin- oder Leptin-Signalkaskade beteiligt sind, spezifisch in den Neuronen des Hypothalamus auszuschalten und dadurch wichtige Hinweise auf ihre genaue Wirkweise zu erhalten“, so Brüning. Möglich, dass darunter bereits der eine oder andere potenzielle Angriffspunkt für neue Medikamente zu finden ist. Bevor jedoch eine „Tablette gegen zu großen Appetit“ entwickelt werden kann, muss die Wissenschaft zahlreiche Fragen beantworten. Brüning: „Ein grundlegendes Verständnis der zentralen Regulation der Energiehomöostase ist nötig, um die zunehmende Fettleibigkeit erfolgreich zu bekämpfen.“ Doch selbst, wenn das eines Tages gelänge: Bewegung bleibt die Basis einer jeden Therapie und kurbelt darüber hinaus den gesamten Stoffwechsel des Körpers an. 70 PERSPEKTIVE Natürliche Varianten im Blick der Nutrigenomik Mediziner und Stoffwechselexperten setzen bei der Entwicklung von möglichen Therapien gegen Stoffwechselleiden ganz besonders auf die Nutrigenomik. Die noch junge Wissenschaft verbindet die Genomforschung mit der Ernährungsforschung und der pflanzlichen Biotechnologie. So schärft sie den Blick für die Zusammenhänge zwischen Erbgut, Ernährung und Gesundheit. Im Supermarkt der Zukunft: Neben garantiert biologisch angebauten Tomaten, Orangen oder Zucchini liegt Obst und Gemüse der besonderen Art. „Gesundheitsnahrungsmittel“ verheisst das Schild, darunter Äpfel, die die Verdauung regulieren, oder Tomaten, die Darmkrebs vorbeugen. Auch Joghurts und Tütensuppen gegen Herz-KreislaufErkrankungen sind im Angebot. Wovon die Lebensmittelindustrie träumt, davon ist die reale Forschung noch weit entfernt. Zwar ist die Erkenntnis alt, dass bestimmte Nahrungsmittel bestimmten Krankheiten vorbeugen oder sie gar heilen können. Es stellt sich aber die Frage: Was hilft wem in welchen Mengen? Dabei ist das Potenzial der Ernährung, Krankheiten zu lindern oder vorzubeugen, auch nach Ansicht von Experten hoch – letztlich aber entscheidet die genetische Ausstattung eines jeden Menschen über den Nutzen spezifischer gesundheitsfördernder Lebensmittel. Denn das Risiko, an Krebs, Diabetes, der Fettleibigkeit Adipositas, einem Herzinfarkt oder Schlaganfall zu erkranken, ist genetisch festgelegt. Eine noch junge Wissenschaft, die Nutrigenomik, untersucht den molekularen Einfluss von Genen einerseits und Nährstoffen andererseits auf Stoffwechsel und Gesundheit eines Menschen. Schon jetzt stellt sich heraus: Die Wirkung von Nährstoffen hängt von der individuellen genetischen Ausstattung ab. Tatsächlich wirken viele Nahrungsbestandteile direkt auf Zellen und beeinflussen deren genetische Aktivität. Die Ernährung ist damit der wichtigste „Umweltfaktor“ für den Organismus, auch weil sie so beständig und ein Leben lang wirkt. Die Hoffnung der Forschung: Je mehr von den komplexen Interaktionen einzelner Nahrungsbestandteile mit den Genen bekannt wird, desto eher können künftig verschiedene Stoffwechselstörungen durch Diäten verhindert oder therapiert werden. Damit verbindet die Nutrigenomik die Ernäh- rungswissenschaft und die Erforschung des Erbguts (Genomforschung). „Die Nutrigenomik ist für mich die Gesamtheit der molekularen und genetischen Prozesse, über die die Ernährung und der Lebensstil die Funktion von Genen und Proteinen bestimmen. Damit beeinflussen sie letztlich den Stoffwechsel mit und ohne Erkrankung“, erklärt Hannelore Daniel, Professorin für Ernährungsphysiologie der Technischen Universität München in Weihenstephan und ergänzt: “Weil wir alle genetisch unterschiedlich sind, muss natürlich immer die genetische Ausstattung der betreffenden Person berücksichtigt werden.“ Stoffwechselvorgänge – auch als Reaktion auf Änderungen der Nährstoffzufuhr – laufen bei jedem Menschen im Prinzip ähnlich, aber eben nicht identisch ab. Das zeigt sich vielfach schon bei einem Glas Wein. Auch moderat dosiert wird Alkohol nämlich nicht von jedem gleich gut vertragen. Verantwortlich für den Abbau des Zellgifts ist im ersten Schritt die Alkoholdehydrogenase. Dieses Enzym liegt im Organismus in mehreren, sehr ähnlichen Varianten vor. Seine Aufgabe: Es wandelt Alkohol in der Leber in das noch giftigere Azetaldehyd um. Dieser Stoff verursacht letztlich den Kater am nächsten Morgen und kann zur Bildung einer Leberzirrhose beitragen. Diese chemische Verbindung wird deshalb sofort durch das Enzym Azetaldehyddehydrogenase in ungiftige Substanzen umgewandelt. Wie effizient und schnell dieser Stoffwechselweg abläuft, hängt unter anderem von ethnischen Besonderheiten ab. So vertragen Asiaten Alkohol eher schlecht, was sich mit einer Eigenheit ihres Stoffwechsels erklärt. Sie verfügen über eine geringe Menge an Alkoholdehydrogenase. Die Folgen sind rasch eintretende Kopfschmerzen und Übelkeit nach dem Konsum von Alkohol. Aber auch Tageszeiten spielen eine Rolle: Der kleine Schwips, der sich auch bei vielen Europäern schon bei einem Glas Sekt am Vormittag einstellt, geht darauf zurück, dass die Leber erst gegen Abend eine ausreichende Menge der Alkohol abbauenden Enzyme produziert. Das Paradebeispiel der Nutrigenomik ist jedoch die Laktoseintoleranz (s.a. „Intolerantes Erbe“, S. 15). Betroffene vertragen den in der Milch enthaltenen Milchzucker Laktose nicht. Sie leiden nach dem Verzehr von Milch und Milchprodukten unter Übelkeit und Durchfall. Weder eine Laktoseintoleranz noch eine schlechte Verträglichkeit von Alkohol sind allerdings als Erkrankungen zu werten. Sie sind vielmehr Ausdruck PERSPEKTIVE 71 Selten aber sind die Auswirkungen der Ernährung so unmittelbar und offensichtlich. Sehr viel häufiger wirkt sich die Nahrung erst langfristig auf unseren Gesundheitszustand aus und trägt dabei zur Entstehung von Krankheiten bei. Welche Nährstoffe auf welchem Weg positiv oder negativ auf den Organismus wirken und ob sie möglicherweise für Prävention oder Therapie genutzt werden können, lässt sich nur in mühevoller Kleinarbeit klären. Große epidemiologische Studien Pflanzen mit besonders wünschenswerten Inhaltsstoffen entstehen im Labor. Ihre natürlichen Vorbilder sind Kräuter, wie Oregano, das bereits die alten Griechen als Heilmittel verwendeten. der natürlichen Unterschiede in den menschlichen Anlagen. Wenn Varianten eines Gens mit einer erhöhten Häufigkeit auftreten, spricht man von einem Polymorphismus. In den meisten Fällen betrifft eine derartige Varianz sogar nur eine Position in einem Gen, also dem entsprechenden DNA-Abschnitt. SNP oder Single Nucleotide Polymorphism (s.a. „Winzige Defekte mit großer Wirkung“, S. 65) heißt ein solcher kleiner Unterschied mit manchmal großer Wirkung. Die scheinbar minimalen Veränderungen können eine entscheidende Rolle bei der Entstehung und dem Verlauf von ernährungsbedingten Erkrankungen spielen. Ein Beispiel dafür ist die häufigste Enzymerkrankung des Menschen, der Favismus oder G6PDMangel. Das manchmal auch als Bohnenkrankheit bezeichnete Leiden tritt in der schweren Verlaufsform fast ausschließlich bei Männern und bevorzugt im Mittelmeerraum auf. Ursache der potenziell lebensbedrohlichen Erkrankung ist ein genetisch bedingter Mangel des Enzyms Glukose-6-PhosphatDehydrogenase, das in einem bestimmten Stoffwechselweg für den Abbau der Glukose – also des Traubenzuckers – nötig ist. Wenn das Enzym nicht ausreichend aktiv ist oder ganz fehlt, wird das Zwischenprodukt Glukose-6-Phosphat unzureichend weiterverarbeitet. Das führt dazu, dass so genannte Oxidantien nicht ausreichend abgebaut werden. Ohne entsprechende Abwehr können diese Oxidantien, die vor allem die roten Blutkörperchen schädigen und zerstören, zu bisweilen lebensgefährlichen Komplikationen führen. Weil aber wegen der unterschiedlichen genetischen Anlagen den einen krank macht, was beim anderen wirkungslos bleibt, müssen die komplexen Interaktionen von Nahrung und Genen meist in großen Studien analysiert werden. Nur wenn die genetischen Daten sehr vieler Teilnehmerinnen und Teilnehmer einbezogen werden, können zuverlässige Aussagen getroffen werden. Ein Beispiel für derart groß angelegte Projekte ist MeSy-BePo, kurz für „Metabolisches Syndrom Berlin-Potsdam“, eine Studie unter der Leitung von Professor Andreas Pfeiffer. Er leitet die Abteilung für Klinische Ernährung am Deutschen Institut für Ernährung (DIfE) in Potsdam und ist Mitglied im Netzwerk Nutrigenomforschung Berlin-Brandenburg. Für die Studie wurden bislang rund 2.600 Menschen untersucht. Die Analysen der Potsdamer Wissenschaftler sollen zeigen, wie Ernährung das Risiko für Erkrankungen, wie den Typ 2-Diabetes, Krebs, aber auch Herz-Kreislauf-Leiden beeinflusst. Dabei geht es in erster Linie und ganz konkret um die zugrunde liegenden genetischen Anlagen. „Wir konnten bereits einige Genvarianten beschreiben, die zu unterschiedlichen Reaktionen auf Nahrung führen“, berichtet Pfeiffer. „Unsere Untersuchungen zeigen insbesondere, dass die Hormonantworten auf Nahrung eine große Rolle für die Entstehung von Krankheiten spielen. Dabei gibt es schützende Hormone aus dem Fettgewebe, wie etwa das Adiponectin, und auch Hormone, die aus der Darmwand freigesetzt werden und so ganze Kaskaden von weiteren Hormonen und Stoffwechselprozessen regulieren.“ In einem weiteren Projekt, der DIOGENES-Studie, untersuchen der Mediziner und seine Kooperationspartner, wie eine dauernde Gewichtszunahme vermieden werden kann. Die Probanden müssen aus einer Familie mit mehreren adipösen Mitgliedern stammen und innerhalb von acht Wochen mit Hilfe einer Niedrig-Kalorien-Diät elf bis 13 Kilogramm 72 abgenommen haben. Dann werden sie in vier Gruppen eingeteilt, deren Ernährung sich ein Jahr lang unterscheidet. Das Augenmerk liegt dabei auf den Proteinen und dem glykämischen Index. Dieser Wert drückt aus, wie sich kohlenhydrathaltige Lebensmittel auf den Blutzuckerspiegel auswirken. Für die unterschiedlichen Diäten der vier Gruppen bedeutet dies: Je zweimal eine Diät mit einem hohen beziehungsweise mit einem niedrigen glykämischen Index und dabei jeweils eine proteinarme oder proteinreiche Variante – so dass alle vier Kombinationen abgedeckt sind. „Die Stoffwechselregulation ist außerordentlich kompliziert und hat enorme Bedeutung für die Gesundheit“, so Pfeiffer. In der DIOGENES-Studie geht es darum, wie die permanente Gewichtszunahme mit steigendem Lebensalter bei Patienten mit genetischer Neigung zur Fettsucht verlangsamt oder sogar vermieden werden kann – natürlich mit Augenmerk auf den individuellen Unterschieden. Und schließlich wollen die Nutrigenomiker verschiedene Ernährungsstrategien entwickeln, die für Menschen mit ganz unterschiedlichen Anlagen vorteilhaft sind. Eine interessante genetische Variation konnten die Experten bereits identifizieren. Sie betrifft das Fettsäure bindende Protein FABP. Die Variation führt bei erhöhten Fettspiegeln im Blut zu einer verstärkten Zuckerproduktion in der Leber. Dieser PERSPEKTIVE Effekt könnte das Diabetesrisiko insgesamt steigern. „Wir haben auch herausgefunden, dass Menschen mit dieser Genvariante in unserer Studie bedeutend schwerer waren als solche ohne diese Anlage“, berichtet Pfeiffer. Den Potsdamern fielen während der Studie zudem bestimmte Genvarianten im IL-1-Gen auf, das Kürzel steht für den Botenstoff Interleukin-1 im Immunsystem. Diese Genvarianten führen dazu, dass Interleukin-1 durch Inhaltsstoffe von Gemüse stark gehemmt wird. „Die Betroffenen haben ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko und werden von manchen Nahrungsbestandteilen, die den Signalweg der IL-1-Produktion beeinflussen, profitieren“, so Pfeiffer. „Insgesamt werden wir in Zukunft vielleicht besser in der Lage sein, individuelle Empfehlungen zur Ernährung auszusprechen.“ Wenn Gene den Einkauf bestimmen Einige dieser kommerziellen Angebote für vermeintlich individuell zugeschnittene Diätratschläge sind bereits auf dem Markt. Ihre Aussagekraft scheint aber noch sehr gering. Teilnehmer müssen dafür in der Regel einen Fragebogen ausfüllen und ihre genetischen Anlagen anhand einer DNA-Probe analysieren lassen. Sie erhalten dann einen „persönlichen Ernährungsratgeber“. „Diese Empfehlungen sind in der Regel auch sehr gut“, weiß Hannelore Daniel und PERSPEKTIVE Pflanzen enthalten viele potente Wirkstoffe, mit denen Krankheiten geheilt werden können. fügt schmunzelnd hinzu: „Das liegt aber vor allem daran, dass sie weitgehend den allgemeinen Empfehlungen für eine gesunde Ernährung entsprechen, wie sie die Deutsche Gesellschaft für Ernährung formuliert hat. Vielleicht hilft es ja wenigstens psychologisch, wenn man diese altbekannten Ratschläge schwarz auf weiß und als vermeintlich persönliche Empfehlungen vor sich hat.“ In Zukunft werden vermutlich noch mehr solche Offerten angeboten. Fraglich ist dann nicht nur der Nutzen, sondern auch die Akzeptanz durch die Zielgruppen. „Ob die Leute solche Empfehlungen wollen, lässt sich nicht pauschal beantworten“, so Pfeiffer. „Das ist schließlich Sache jedes Einzelnen. Wenn man aber vorhersehbare Vorteile von bestimmten Ernährungsstrategien haben kann, ist das sicher eine interessante Information, die über die aktuellen generellen Empfehlungen zur gesunden Ernährung weit hinausreicht.“ Darin liegt das große Potenzial zur Entwicklung von neuen Lebensmitteln. Dieses „functional food“ sollte gezielt Nahrungsbestandteile enthalten, die entweder eine gewünschte genetische Aktivität auslösen oder eine krankmachende Reaktion unterdrücken. Ebenfalls denkbar wäre eine Pille, die Nährstoffe, wie Vitamine, 73 Mengen- und Spurenelemente passend zum genetischen Profil liefert. Vor allem Pflanzen scheinen viele potente Wirkstoffe zu enthalten. So setzt die Forschung etwa auf Flavonoide. Einige dieser pflanzlichen Farbstoffe hemmen Entzündungen oder wehren erfolgreich gefährliche Oxidantien ab. Doch die Suche nach wirksamen Flavonoiden gleicht der Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Auch Hannelore Daniel musste dies erfahren: „Wir haben die Wirkung von ausgewählten Flavonoiden auf Tumorzellen analysiert“, berichtet die Ernährungswissenschaftlerin. „Unter rund 6.000 Flavonoiden haben wir 80 Leitsubstanzen ausgewählt. Unter denen konnten wir eine einzige Verbindung identifizieren, die in Krebszellen – und nur dort – die Apoptose auslöst, also den Prozess, bei dem sich die Zellen selbst zerstören.“ Die Wissenschaftler konnten zeigen, dass dieses Flavonoid in den Tumorzellen einen bestimmten Energiestoffwechselweg aktiviert, der in gesunden Zellen abläuft, von Krebszellen aber unterdrückt wird. Dabei entstehen Oxidantien, gegen die sich nur gesunde Zellen erfolgreich wehren können. „Die Tumorzellen werden wohl auf diesem Weg in den Untergang getrieben“, vermutet die Wissenschaftlerin. Weltweit wird unablässig nach weiteren Wirkstoffen gesucht. Fraglich ist nun, ob und in welcher Form diese Substanzen auf unseren Tellern landen werden – ob als Medikament, als Nahrungsergänzung oder als Lebensmittel. Ansatzweise steht so genanntes Designerfood mit entsprechender Wirkung bereits in den Regalen der Supermärkte. Ein Beispiel sind probiotische Joghurts, denen lebende Bakterienstämme mit angeblich gesunder Wirkung beigemischt sind. Sie sind die Antwort auf genetische Anlagen, die die meisten Menschen in sich tragen und in den Medien gerne als „Diabetes-, Dickmacher und Herzinfarkt-Gene“ bezeichnet werden. Stärker auf eine kleine Personengruppe zugeschnitten sind dann schließlich die neuerdings erhältlichen laktosefreien Milchprodukte, die auch für Menschen mit einer Laktoseintoleranz gut verträglich sind. Vielleicht gehört auch dieses Szenario zum Supermarkt der Zukunft: Der Mensch, als Summe seiner Gene, wird demnächst mit zwei Listen im Supermarkt anzutreffen sein. Eine enthält die individuellen genetischen Anlagen; die andere verrät, welche Lebensmittel und Produkte die damit verbundenen Risiken mildern oder gar ausgleichen könnten. 74 KONTAKT Nützliche Kontakte und (Internet-)Adressen Ernährung und Ernährungsmedizin www.dife.de Die Webseite des Deutschen Instituts für Ernährungsforschung (DIfE) in Potsdam-Rehbrücke bietet zahlreiche Informationen und Stellungnahmen aus der Ernährungsforschung sowie einen Diabetes-Risiko-Test. www.ernaehrung.de Das deutsche Ernährungsberatungs- und Informationsnetz (DEBInet) bietet verbrauchergerechte Informationen rund um das Thema Ernährung und Ernährungsmedizin. www.ernaehrung-und-bewegung.de Die Plattform Ernährung und Bewegung e.V. (peb) ist eine gemeinsame Initiative von Politik, Verbänden und Wirtschaft und bietet Eltern, Bildungseinrichtungen und Kommunen Informationen zu einer gesunden Lebensweise von Kindern. www.dge.de Die Deutschen Gesellschaft für Ernährung e.V. bietet Informationen für Fachleute und Verbraucher. Auf der Seite finden sich wissenschaftliche Publikationen und Stellungnahmen genauso wie Adressen von Ernährungsberatern in ganz Deutschland. www.dgem.de Webseite der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin e.V. (DGEM) mit Informationen vor allem für Fachleute und Ärzte, die sich einem Netzwerk anschließen möchten oder Weiterbildungsmöglichkeiten suchen. Kohlenhydrate Diabetes mellitus www.kompetenznetz-diabetes-mellitus.de Aktuelle Webseite des Kompetenznetzes Diabetes, das seit 2008 vom BMBF gefördert wird. Das Forschungsnetzwerk wird neue Erkenntnisse über die Entstehungsbedingungen, die Prävention und die Behandlung des Diabetes mellitus gewinnen und dadurch die Versorgung der Bevölkerung verbessern. Besonderer Wert wird auf die optimale Versorgung in der frühen Phase der Erkrankung gelegt, um Folgeerkrankungen und damit steigende Kosten für das Gesundheitssystem zu vermeiden. www.diabetes-deutschland.de Der Informationsdienst des Deutschen DiabetesZentrums Düsseldorf ist ein Modellprojekt des Bundesgesundheitsministeriums und informiert ausführlich zum Thema Diabetes. www.diabetes-kids.de Die private Initiative Diabetes-Kids will den Zusammenhalt und Informationsaustausch zwischen Kindern und Jugendlichen mit Diabetes sowie deren Eltern fördern. www.deutsche-diabetes-gesellschaft.de Die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) ist die wissenschaftliche Fachgesellschaft der deutschen Diabetologen in Wissenschaft und Praxis, die auf ihrer Website auch über gesundheitspolitische Entscheidungen, rechtliche Beschlüsse oder Zulassungsbestimmungen informiert. www.diabetikerbund.de Webseite des Deutschen Diabetiker Bundes, der größten und ältesten Selbsthilfeorganisation für Diabetikerinnen und Diabetiker in Deutschland. Laktoseintoleranz www.libase.de Ein Informationsportal zum Thema Laktoseintoleranz, das aber auch ausführliche Infos zu anderen Lebensmittelunverträglichkeiten und Allergien bietet. www.milchmachtkrank.de Eine subjektive Patienten-Webseite, die aber viele interessante Informationen und Tipps für Menschen mit Laktoseintoleranz bereithält. Galaktosämie www.galaktosaemie.de Das Portal der Gemeinnützigen Elterninitiative Galaktosämie e.V. informiert umfassend über die seltene Stoffwechselstörung. Der Verein kooperiert u. a. mit Forschern des Uniklinikums Düsseldorf und der Europäischen GalaktosämieGesellschaft (www.galactosaemia.com). Eiweiße Phenylketonurie www.dig.pku.de Die Webseite der Deutschen Interessengemeinschaft PKU und verwandter Stoffwechselstörungen e.V. bietet Informationen und Ratschläge für Patienten und ihre Angehörigen. KONTAKT Albinismus www.albinismus.de Webseite der NOAH Albinismus Selbsthilfegruppe mit vielen zahlreichen Erfahrungsberichten und nützlichen Tipps, die den Alltag von Menschen mit Albinismus erleichtern sollen. Purine und Pyrimidine www.ppsociety.org Internationale Fachgesellschaft zur Erforschung des Purin- und Pyrimidinstoffwechsels (engl.) Gicht www.gichtanfall.de Eine private aber überaus informative Seite zum Thema Gicht mit zahlreichen Informationen zu Prävention und Therapiemaßnahmen. Mikronährstoffe Hyperhomocysteinämie www.dach-liga-homocystein.org Die D.A.C.H.-Liga-Homocystein e.V. informiert über die Bedeutung des Homocysteins als Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Hämochromatose www.eiseninfo.de Auf ihrer Webseite bietet die Eisenstoffwechselambulanz des Universitätsklinikums HamburgEppendorf viele verständliche Informationen rund um den Eisenstoffwechsel des Menschen. www.haemochromatose.org Die Webseite der Hämochromatose-Vereinigung Deutschland e.V. bietet Betroffenen umfangreiche Informationen über die Krankheit, Adressen von Hämochromatose-Ambulanzen, ein Forum für Kontakte und Patientengeschichten sowie zahlreiche weiterführende Links. Fette Adipositas www.kompetenznetz-adipositas.de (ab 2009) bis 2009 unter folgender Adresse: www.gesundheitsforschung-bmbf.de/de/2042.php Die Wissenschaftler im Kompetenznetz Adipositas konzentrieren sich auf die Erforschung von 75 Ursachen und Risikofaktoren der Adipositas, der Vermeidung der Krankheit in der Kindheit und bei Erwachsenen, der Gewichtskontrolle, der Intervention sowie auf eine Langzeitbeobachtung von Patienten und die Frage, wie das Gehirn, der Darm und die Hormonsteuerung an der Entwicklung von Adipositas beteiligt sind. www.adipositas-online.de Die Webseite bietet aktuelle Nachrichten zum Thema Adipositas für Diätassistenten, Ernährungswissenschaftler und Psychologen. Auch Patienten finden viele Informationen und Veranstaltungshinweise. www.lipid-liga.de Webseite der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung von Fettstoffwechselstörungen und ihren Folgeerkrankungen DGFF (Lipid-Liga) e. V. mit einer ärztlichen Online-Beratung. www.adipositas-gesellschaft.de Die Deutsche Adipositas-Gesellschaft bietet Patienten, Medizinern und Entscheidern aus dem Gesundheitswesen ein breites Forum, sich über wissenschaftliche, gesundheitspolitische oder patientenbezogene Aspekte der Krankheit zu informieren. www.netzwerk-apd.de Webseite der Arbeitsgemeinschaft für Pädiatrische Diätetik (ADP) mit interessanten Links und Informationen. Literatur im Netz http://www.gesundheitsforschung-bmbf.de/ _media/BMBF_Ernaehrung.pdf Zusammenfassung des Presseworkshops der Gesundheitsforschung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF), 2006 http://www.paediatrie-hautnah.de/archiv/ 2005/08/ph0508_12.pdf Artikel in Pädiatrie hautnah, 2005 über Störungen im Aminosäurehaushalt http://www.aerzteblatt-student.de/ doc.asp?hl=x&docid=104006 http://www.aerzteblatt-student.de/ doc.asp?docid=107409 Artikel über die Inselzelltransplantation im Deutschen Ärzteblatt, 2006 bzw. 2008 http://www.aerzteblatt.de/V4/archiv/ artikel.asp?id=32446 Artikel über Stoffwechselerkrankungen im Säuglingsalter, Deutsches Ärzteblatt, 2002 76 REGISTER Register A G Adenosin-DesaminiaseMangel 43 Adipositas (Fettleibigkeit) 4, 57, 60ff, 65, 67, 70 Adipozyten 60f Ahornsirupkrankheit (MSUD) 4, 25, 30f, 34 Albinismus 4, 32f Allopurinol 38, 40f Aminosäuren 2, 9, 25f, 35, 39, 48, 67 Augenzittern 32f Galaktosämie 4, 22f, 34 Galaktose 9, 15, 22f Gehirn 7, 9, 15, 22f, 25, 28ff, 33, 47, 49, 53, 59, 61, 64, 68 Gicht (Hyperurikämie) 4, 37f, 40f Guthrie 28, 34 B Herz-Kreislauf-Erkrankungen 5, 13, 48f, 55, 60, 64, 70 Homocystein 48f Hypercholsterinämie 4, 30, 64 Hyperhomocysteinämie 4, 48f Hyperurikämie (s.Gicht) Hypourikämie 41 Basistherapie 16 Bauchspeicheldrüse (Pankreas) 3, 11, 16, 18ff, 50, 59 Bauchspeicheldrüse, künstliche 18 Betazellen 11f, 16f, 19ff Beuys, Joseph 58 Blutzucker 9ff, 60, 62, 72 Body Mass Index (BMI) 60, 62f Bundes-Gesundheitssurvey 53f C Cholesterin 4, 7, 26, 57, 60f, 62ff D Darmwand Depression Diabetes (div. Typ) Doping 2, 27, 50, 71 14 4, 9ff, 33, 51, 55, 60, 62ff, 70ff 33 E Eisen 45f, 50f, 53, 55 Eisenspeicherkrankheit (Hämochromatose) 4, 45, 50f Eletrospray-IonisationsSpektrometer 35 Energiestoffwechsel 2f, 37, 47, 66f, 73 Entkopplerproteine 67 Entomophagie 24 H Hämochromatose (s. Eisenspeicherkrankheit) Harnsäure 38ff Hepcidin 50f I Immunreaktion 16, 21 Immunsuppression 20f Inkretine 16 Inkretinmimetika 16 Inselorgan 11 Inselzellen 11, 19ff Inselzelltransplantation 19ff Insulin 3, 10ff, 16ff, 33, 50f, 55, 60, 63, 68f Interleukinblocker 16f L Laktase Laktose (Milchzucker) 3f, 15 3f, 7, 9, 15, 70, 73 Laktoseintoleranz 15 Langerhanssche Inseln 11,19, 21 Leber 5,11ff, 16, 19ff, 28f, 32, 43, 45f, 50f, 59, 64 , 66f, 70, 72 Lebertran 55 Leptin 4, 68f M Mangelerscheinungen F Fettleibigkeit (s. Adipositas) Folsäure 7, 46, 49, 53ff, 67 Massenspektrometrie Melanin 4f, 29, 45f, 53ff 35 32f Metabolisches Syndrom 4, 62f, 71 Milchzucker (s. Laktose) N Nährstoffzufuhr, empfohlene 6f, 70 Nahrungsergänzungsmittel 46 Nervensystem, Zentral22f, 28, 37, 42f, 49, 60 Neugeborenenscreening 3, 28, 34f Niere 2, 12f, 20, 22, 31, 33, 37, 39ff, 45f, 48, 50, 52, 70 Nukleinsäuren 2, 4, 37, 40, 42 Nutrigenomik 70ff P Pankreas (s. Bauchspeicheldrüse) Phenylalanin 3, 28f Phenylketonurie (PKU) 3f, 25, 28f, 34 Phosphatmangel 52 R Rachitis 4f, 52f, 55 S Sättigungsregulation Schilddrüse Schwerer Kombinierter Immundefekt (SCID) Single Nucleotide Polymorphism (SNP) 68 47 43 65, 71 T Tyrosin-Haarwurzeltest 32 U Übergewicht (s. Adipositas) V Vitamin B Vitamin D Vitamintabletten 49f, 54 5f, 53ff 46 XYZ Xanthinurie Zöllner, Nepomuk 41 37f Impressum Herausgeber Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) Referat Gesundheitsforschung 11055 Berlin Bestellungen schriftlich an den Herausgeber Postfach 30 02 35 53182 Bonn oder per Tel.: 01805 - 262 302 Fax: 01805 - 262 303 (0,14 Euro/Min. aus dem deutschen Festnetz) E-Mail: [email protected] Internet: http://www.bmbf.de Redaktion und Bildredaktion Science&Media, Büro für Wissenschafts- und Technikkommunikation, München Autoren Iris Freundorfer, Leichlingen Berthold V. Koletzko, München Jo Schilling, Wriedel Julia Thurau, Berlin Susanne Wedlich, München Gestaltung Vasco Kintzel, Aßling bei München Druckerei Druckhaus Schöneweide GmbH, Berlin Bonn, Berlin 2008 Bildnachweis Titel: Ojo Images/F1 Online; Vorwort: BMBF, S. 5: F. Sauer/Bildagentur-online; S. 6: privat; S. 7: J. Thurau; S. 8: T-thaler/dreamstime.com; S. 10: U. Thurm/privat; S. 11: picture-alliance; S. 12: Saeid Shalin Kiya/dreamstime.com; S. 13: Bayer Health Care; S. 14: medicalpicture (o.), Frenk and Danielle Kaufmann/Dreamstime.com (u.); S. 15: Nexus7/dreamstime.com; S. 16: NGFN/BMBF; S. 18: A1PIX/PHA; S. 19: Science Photo Library/Agentur Focus; S. 20: G. Maki/PLoS Medicine; S. 21: M. Brendel/Medizinische Klinik und Poliklinik III/Universitätsklinikum Gießen und Marburg, Standort Gießen; S. 22 und S. 23: NGFN/BMBF (3); S. 24: Alex Balako/dreamstime.com; S. 26: H. Schwarzbach/argus (o.), Irina Ivanova/dreamstime.com (u.); S. 27: Science Photo Library/Agentur Focus; S. 28: A1PIX/BIS; S. 29: Science Photo Library/Agentur Focus; S. 31: Dr. D. Klee/Uniklinikum Düsseldorf; S. 32: Paula Cobleigh/dreamstime. com; S. 33: Drazen Vukelic/dreamstime.com; S. 34: Charles Nieuwenboom/ dreamstime.com (o.), Okapia (u.); S. 35: Science Photo Library/Agentur Focus; S. 36: Jim Mills/dreamstime.com; S. 38: A. 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