Von Capoeira, Armensuppen und
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Von Capoeira, Armensuppen und
S C H W E R P U N K T | S o z i a l e Ar b e i t i n L a t e i n a m e r i k a NR.3_MÄRZ 2009 | SOZIALAKTUELL Von Capoeira, Armensuppen und Handlungskompetenzen Text und Bilder: Christine Bärtschi Borter Was heisst Sozialarbeit in einer globalisierten Welt, in der die Gräben zwischen Arm und Reich immer grösser werden? Inwiefern können SozialarbeiterInnen an der weltweiten Umsetzung der Menschenrechte mitarbeiten? So können die zentralen Fragen und Themen des alle zwei Jahre stattfindenden IFSW-Weltkongresses zusammengefasst werden, der 2008 in Salvador de Bahia stattfand, dem Zentrum der afrobrasilianischen Kultur. Christine Bärtschi Borter flog zusammen mit Kolleginnen aus der Schweiz nach Brasilien und hielt ihre persönlichen Reiseeindrücke in diesem Bericht fest. Salvador de Bahia steht ebenso auf der UNESCO-Liste des Weltkulturerbes wie Bern. Doch unterschiedlicher könnten die Orte nicht sein. Bern, eine Stadt mitten im Herzen Europas; Salvador, eine tropische Küstenstadt. Im 16. Jahrhundert waren dort die ersten Portugiesen gelandet, um Holz für den Bau von Schiffen zu finden. Die ansässigen Indianergruppen liessen sich jedoch, wie die Fremdenführerin meinte, lieber totschlagen, als sich als Sklaven einspannen zu lassen. Daher wurden ab dem frühen 17. bis Ende des 18. Jahrhunderts über fünf Millionen SklavInnen aus Afrika nach Salvador gebracht und in alle Teile des Kontinentes verkauft. Überall in Salvador und in ganz Bahia lassen sich bis heute Spuren dieses gigantischen Menschenhandels ausmachen. Die Auswirkungen auf das Land und die Leute sind bis heute sichtbar und teilweise verheerend. Heute sind über 80 Prozent der BewohnerInnen der Stadt und Region Farbige oder Mischlinge. Menschen ohne Gesichter: das Erbe der Sklaverei Im Zentrum der Stadt werden die TouristInnen von dunklen Frauen in der Landestracht zum Fototermin begrüsst. Ihre 26 Eindrücke einer Reise nach Brasilien Tracht ist das Kleid der besseren Sklavinnen der reichen Portugiesen. Farbenfrohe Bilder der Stadt, die als Souvenir in zahlreichen Läden angeboten werden, zeigen Menschen ohne Gesichter. Die Führerin meinte, es sei logisch, dass Schwarze sich ohne Gesichter malen würden: Die Sklaven hatten sich an die Verhältnisse anzupassen, sie mussten arbeiten und durften keine eigene Persönlichkeit entwickeln. Überall in der Stadt stehen Denkmäler: Monumente für portugiesische Männer, welche die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt vorangetrieben hatten mit dem Export von Holz und Zuckerrohr, im Süden Kakao, später auch Halbedelsteinen und Gold. Diese Rohstoffe bildeten die Basis eines immensen Reichtums, der auf einige wenige verteilt war. Nach den Spuren der ausgebeuteten Mehrheit, der Geschichte der afrobrasilianischen Kultur, musste ich schon etwas länger suchen. Schliesslich fand ich das Monument eines schwarzen Freiheitskämpfers. Zumbi Dos Palmares hatte bereits im 17. Jahrhundert einen Aufstand gegen die Unterdrücker organisiert, Zumbi Dos Palmares, der schwarze Freiheitskämpfer der jedoch von den Gegnern blutig niedergeschlagen worden war. Auf der offiziellen Führung war uns dieses Monument nicht gezeigt worden. Die Folgen von Kolonisation und Ausbeutung Ich erinnere mich an eine Begegnung mit Paulo Freire in den Siebzigerjahren. Der brasilianische Theologe und Pädagoge, der in Europa im Exil lebte, hatte in seinen Büchern beschrieben, dass – neben den ungerechten wirtschaftlichen Strukturen – die verinnerlichten Prinzipien des Rassismus und des Kolonialismus ein wichtiger Grund für das riesige Elend der Armen (der afrobrasilianischen, der indigenen und auch von Teilen der armen weissen Bevölkerung) in Brasilien seien. Solange Arme ganz selbstverständlich davon ausgingen, dass sie dumm seien und weniger Wert hätten als die wohl habenden Weissen, solange Arme daran glaubten, dass Armut von Gott gegeben werde, könnten sie ihre Verhältnisse niemals verändern, argumentierte Paulo Freire. Infolgedessen entwickelte er eine Methode der Alphabetisierung, die gleichzeitig zur situationsadäquaten Bewusstseinsbildung der Lernenden beiträgt. Auch für mich als Sozialarbeiterin in der Schweiz ist die Erarbeitung und Erweiterung von Erkenntniskompetenzen der Hilfesuchenden eine grundsätzliche Handlungsrichtung. Aus diesem Grund ist es in meinen Augen für Menschen aus Salvador eminent wichtig, dass sie, um ihre Geschichte besser kennenzulernen, afrobrasilianische Studien betreiben. Gleichzeitig sollte die afrobrasilianische Geschichte öffentlich sichtbar gemacht werden. Dazu braucht es Ressourcen. Ob diese in diesem sehr reichen Land jemals dafür zur Verfügung stehen werden, ist fraglich. Eine Tatsache, die mir in Salvador erörtert wurde, erschüttert mich immer noch: UELL | SCHWERPUNKT dieser Kongress sehr wichtig. Aber auch die grosse Frustration der nicht brasilianischen TeilnehmerInnen wird mir gegenwärtig bleiben: Wir hatten mangels geeigneter Übersetzung kaum Gelegenheit, mit den Portugiesisch und Spanisch sprechenden BerufskollegInnen Kontakt aufzunehmen. Wie gerne hätte ich doch an einer grundsätzlichen Einführung in das Sozialwesen Brasiliens teilgenommen. Wie gerne hätte ich mehr darüber gehört, wo SozialarbeiterInnen arbeiten und auf welche Weise sie dies tun. Wie gerne hätte ich mit BrasilianerInnen darüber diskutiert, wie sie ihre Arbeit im ZusammenCapoeira-Tanz als Kampf- und Selbstverteidigungskunst: wird in Brasilien auch in der Sozialen Arbeit eingesetzt hang mit dem Erwerb von Erkenntniskompetenzen sehen. Belustigt bis erschreckt haben mich die weltweit bekannte Tanz, Kampf- und In der Region wurde die Sklaverei erst emotionsgeladenen Vorträge von RefeSelbstverteidigungskunst. Da es den um 1900 abgeschafft. Dazu eine Aussage rentInnen, die immer wieder Schlag Sklaven damals strengstens verboten unserer Fremdenführerin: «Schauen Sie wörter marxistischer Gesellschafts- und war, eine Kampfsportart zu erlernen, versich die Menschen an, die hier vorbeilauWirtschaftsanalyse wiederholten. Aufkauften sie Capoeira ihren Herren unter fen: Deren Grosseltern waren noch Sklagrund der oben beschriebenen wirtschaftdem Deckmantel des traditionellen Tanven und wurden eventuell auf diesem lichen Ungleichheiten habe ich zwar ein zes. Salvador ist heute ein eigentliches öffentlichen Platz ausgepeitscht, wenn gewisses Verständnis dafür. Hier hätte Capoeira-Mekka für Menschen aus aller sie ihren Herren nicht gehorchten.» So aber – ohne die verheerenden AuswirWelt geworden. Menschen reisen nach erstaunt es nicht, dass bis heute unter kungen des kapitalistisch-liberalen WirtSalvador, um dort bei einem Meister (und den Schwarzen und Mischlingen Passivischaftssystems beschönigen zu wollen – es gibt auch Meisterinnen!) mehr über tät, Resignation und Klientelismus als dringend ein Gespräch mit uns Europäediese Kampfsportart, die zugleich eine Auswirkungen von Kolonisation und rInnen, die wir im 20. Jahrhundert wirtschaftlicher Ausbeutung spürbar Über fünf Millionen Sklaven schmerzhafte Erfahrungen mit tosind. Was bedeutet es, rechtlich frei zu werden, wenn gleichzeitig keine wirtwurden aus Afrika nach Salvador talitären kommunistischen Systemen gemacht haben, stattfinden schaftliche Basis vorhanden ist für die de Bahia verschleppt müssen. Ich bin auch bereit, etwas Freigelassenen? Damals, als die SklavIndagegen zu tun, damit grosse Schweizer Lebensphilosophie ist, zu erfahren. Auch nen freigelassen wurden, waren das Land Firmen von den ausbeuterischen Wirtvon SozialarbeiterInnen werden Capoeiund der Reichtum lediglich an einige weschaftsstrukturen in Brasilien keinen Prora-Kurse organisiert, um kriminalitätsgenige verteilt worden. Diese Ungleichheit fit ziehen. Über solche Fragen hätte eine fährdete Kinder und Jugendliche aus den und diese Ungerechtigkeit bestehen bis Auseinandersetzung stattfinden müssen. Armenvierteln (favelas) von der Strasse heute weiter. Diese Chance wurde während des Konfernzuhalten und ihrem Leben einen Ich denke zurück an des Thema des Kongresses verpasst. Ich frage mich, ob an neuen Sinn zu geben. gresses und ziehe folgenden Schluss: früheren Weltkongressen die Bedürfnisse Ähnliches gilt für Olodum, eine Gruppe Menschenrechte zu haben, bedeutet hier der Teilnehmenden verschiedener Kontivon Jugendlichen, die die Kunst der afriauch, Zugang zu haben zu den Ressournente wohl besser berücksichtigt worden kanischen Trommelrhythmen praktiziecen des Landes. Menschenrechte müssen sind? Nun, unsere Kritiken sind bereits ren, inzwischen weltberühmt sind und sich konkretisieren im Zugang zu einer beim Vorstand des Internationalen Verbeispielsweise letztes Jahr in Zürich bei wirtschaftlichen Basis, in einer gerechten bandes deponiert worden, und wir hofder Fussball-EM auftraten. Überall in BaVerteilung des Reichtums. Aber wie soll fen sehr, dass die ChinesInnen, die den hia wird spontan getrommelt, getanzt dies geschehen? Kann Soziale Arbeit in Kongress in Hongkong 2010 organisieund gesungen. Fantastische Beispiele dieBrasilien etwas dazu beitragen? Was ren, daraus lernen werden. ser Überlebenskünste wurden uns auch kann ich als Sozialarbeiterin in meinem am Kongress geboten. Beruf und in meinem Privatleben dazu Obdachlose laden zur Suppe ein tun? Ein Beispiel interdisziplinärer ZusamAufbruchsstimmung, Begeisterung Auf der anderen Seite – dies sei nicht zu menarbeit verschiedenster Professionelund Frustrationen am IFSW-Kongress vergessen – gelang es den Schwarzen auf ler erlebte ich beim Besuch einer besetzDie Herzlichkeit, die Überschwänglichfantastische Weise, gewisse Elemente der ten Kirche in der Innenstadt. Auf Kartons keit und Freude der BrasilianerInnen (daafrikanischen Kultur und Lebensfreude liegen ganze Familien, die in der Kirche runter auch viele Studierende der Sozialüber Jahrhunderte weiterzuentwickeln. Schutz vor den häufigen kurzen Regenarbeit) an diesen vier Tagen werde ich nie Hier seien nur zwei Beispiele genannt: fällen und vor der Kriminalität auf der vergessen. Für den Aufbau eines starken Capoeira, entstanden aus ursprünglich Strasse suchen. Den Wänden entlang Berufsstolzes der BrasilianerInnen war afrikanischen Tänzen, ist heute eine 27 S C H W E R P U N K T | S o z i a l e Ar b e i t i n L a t e i n a m e r i k a werden Holzstücke, Kartons und anderer Abfall getrocknet, der sich zum Bau einer Hütte eignen könnte. Es duftet fein nach einer Gemüsesuppe. Um 19 Uhr beginnt eine Abendfeier, in deren Verlauf alle Anwesenden eingeladen sind, die Suppe mitzuessen. Die Ärmsten haben auf dem lokalen Markt das noch brauchbare Gemüse, das weggeschmissen wurde, gesammelt und laden nun ein. Unweigerlich denke ich an biblische Bilder. Heute frage ich mich, ob wir SozialarbeiterInnen nicht davon lernen könnten: HilfeempfängerInnen möchten vielleicht auch einmal zu Gebenden werden. Menschliche Würde besteht auch darin, Einladende sein zu können und nicht nur ausschliesslich Empfänger von Hilfe sein zu müssen. Am Ende der Stadt, an landschaftlich schönster Lage unweit vom Meer, hausen Menschen in Verschlägen aus Plastik und Karton. Es ist eine Gemeinschaft von etwa 1000 Menschen. Eine brasilianische Organisation, finanziell u. a. von Geldern einer NGO aus der Schweiz unterstützt, stellt ein Fischerboot und Ziegelsteine zur Verfügung. Mit den Ziegelsteinen bauen einige ein Gemeinschaftshaus. Dort sollen verschiedenste Aktivitäten stattfinden. Einige haben aus Ton bereits Wasserschildkröten hergestellt. Mit dem Verkauf als Souvenir kann eventuell etwas Geld verdient werden. Mitglieder der Organisation unterstützen die BewohnerInnen des Elendsviertels darin, Zugang zum Gesundheits- und Schulsystem zu finden. Brasilien hätte im Grunde gute Gesetze; viele Arme kennen diese jedoch nicht und wissen nicht, wie Menschenrechte müssen sich in einer gerechten Verteilung Reichtums konkretisieren sie vorgehen müssen, damit ihre Kinder beispielsweise in die Schule gehen können. Dann und wann müssen die Kinder – zu ihrem Schutz und damit sie kontinuierlich und motiviert zur Schule gehen – sogar durch die Organisation in die Schule begleitet werden. «Hilfe zur Selbsthilfe, Stärkung der Eigeninitiative der Menschen, Schutz vor Abhängigkeiten» lauten hier die Devisen. Und was unsere Begleiter betonen: Verschiedene lokale und nationale Bewegungen sollen zusammengeführt werden mit dem Ziel, eine politische ernst zu nehmende Kraft zu werden, die an den 28 NR.3_MÄRZ 2009 | SOZIALAKTUELL Selbsthilfe im Alltag: Armensuppe, gemalt von einer obdachlosen Frau in Salvador de Bahia wirtschaftlichen Bedingungen etwas Richtung mehr Gerechtigkeit verändern kann. Zu solchem Handeln könnten Sozialarbeitende viel beitragen. Leider fehlten auch in dieser Frage die Möglichkeiten und die Zeit, mit brasilianischen Berufsleuten der Sozialarbeit ins Gespräch zu kommen. Vernetzung, Mafia und Landschaftsimpressionen In einem gemauerten Haus kommen BewohnerInnen aus Favelas zusammen. Es sind alles Menschen, die in ihren Quartieren Aktivitäten mit verschiedenen Altersgruppen anbieten: Die einen stellen Kleider her, die anderen trainieren die Kleinsten im Fussballspielen oder Tanzen. Der junge Mann auf dem Bild bastelt mit Jugendlichen Masken, die sie am Karneval tragen werden. Die Masken kosten nichts, da sie ausdes schliesslich aus Abfallprodukten hergestellt werden. Ganz wichtig ist diesem jungen Animator, dass die Jugendlichen mit dem Herstellen der Masken ihre eigenen Themen kreativ umsetzen können. So lernen sie, ihre Situation zu benennen und ihrem tristen Umfeld etwas Positives entgegenzusetzen. Im Professionellen-Jargon heisst das: Erkenntnis- und Handlungskompetenzen einüben. Während einer Gedächtnisfeier für einen verstorbenen Priester lernen wir einen Landarbeiter aus dem Süden Bahias kennen. Er meint, dass er aus derjenigen Region Bahias kommt, in der es am meisten politisch motivierte Morde an Landarbeitern gibt. Es gibt offenbar Grossgrundbe- sitzer, die mit mafiösen Gruppen zusammenarbeiten. Manchmal bedienen sich auch sogenannte Sicherheitsfirmen krimineller Mittel, um Landarbeiter, die sich für bessere Arbeitsbedingungen einsetzen, zu ermorden. Zuweilen reicht es schon, wenn Morddrohungen ausgesprochen werden. Sie veranlassen LandbewohnerInnen, die Gegend zu verlassen – um in einem Elendsviertel zu landen. Auf einer Reise, einige Hundert Kilo meter der Küste entlang, berausche ich mich an der Schönheit des Landes und an seinem Reichtum an natürlichen Ressourcen. Jeder einzelne Mensch, der hier fehlernährt ist, ist ein Skandal. Armut ist von Menschen gemacht. Und wieder denke ich an die Themen des Kongresses: Wie kann die Sozialarbeit den Menschenrechten zum Durchbruch verhelfen? Arbeit erwartet uns noch viel. Vielversprechende Ansätze für Veränderung sehe ich darin, dass wir Professionelle uns weltweit vernetzen. | Christine Bärtschi Borter ist Sozialarbeiterin in einem Alterszentrum und Mitglied der Fachkommission Internationales von AvenirSocial.