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Gruppe versus Individualität Interview mit Sabine Kuegler Sabine Kueglers Leben ist bewegt und bewegend. Sie wurde 1972 in Nepal als zweite Tochter deutscher Sprachforscher und Missionare geboren und verbrachte dort ihre ersten Lebensjahre mit dem Stamm der Danuwar Rai. Nach einem zweijährigen Aufenthalt in Deutschland zog ihre Familie 1978 in den Urwald von West-Papua (Indonesien), wo sie mehrere Jahre fernab der Zivilisation lebte. Das Leben mit dem Stamm der Fayu war für sie das Paradies. Als 17-Jährige kehrte Sabine Kuegler allein nach Europa zurück, um in der Schweiz das Abitur abzulegen. Dort lernte sie ihren ersten Ehemann kennen. Nach verschiedenen Wendungen in ihrem Leben, die sie u. a. nach Kanada und Japan brachten, wohnt Sabine Kuegler seit 2003 in Deutschland. Sie hat vier Kinder aus zwei Ehen. Kuegler hat ihre Erlebnisse in einer nicht unumstrittenen, autobiographischen Trilogie dokumentiert. Ihr erstes Buch Dschungelkind, das sie als Autorin bekannt machte, wurde in über 30 Sprachen übersetzt. Sie beschreibt darin ihr Leben im Urwald mit den Fayu, das sie in vollen Zügen genoss und deutet bereits die Schwierigkeiten an, die sie später mit der Anpassung an die ihr zu wenig bekannten europäischen Kultur hatte. In ihrem zweiten Band Ruf des Dschungels berichtet sie über ihre Rückkehr nach In- www.unerzogen-magazin.de donesien und West-Papua und das Wiedersehen mit den Freunden ihrer Kindheit. Sie geht darin ausführlich auf die geschichtliche und politische Situation ein, die den Lebensraum der Fayu und der anderen Urwaldvölker bedroht. So befürchtet sie auch, sich durch ihre Aussagen bei der indonesischen Regierung unbeliebt zu machen. Im letzten Teil der Trilogie beschreibt sie, wie es ihr ergangen ist, nachdem sie Papua auf eigenem Wunsch verlassen hatte. Darin erfährt der Leser ausführlicher, mit welchen kulturellen Herausfor- derungen sie konfrontiert wurde und wie sie mit ihnen umging. Sie ist davon überzeugt, dass alle Schwierigkeiten darauf beruhten, dass sie die Kultur nicht richtig kannte. Dieser Teil ist ein sehr persönlicher, mutiger und dramatischer Bericht. Neben ihrer literarischen Arbeit setzt sie sich für mehr Verständnis für andere Kulturen ein sowie für den Erhalt der Menschenrechte und der traditionellen Kulturen von indigenen Völkern samt ihres Lebensraums. Die Autorin hat sich mittlerweile sehr gut in die deutsche Kultur einge- Bei den Fayu in West-Papua aufgewachsen und plötzlich mit westlicher Zivilisation konfrontiert. 4/2009 unerzogen 11 lebt, ohne ihre papuanische Seite zu vergessen. Auf Bildern hat sie meist einen verträumten Blick, der darauf hindeutet, dass sie gleichzeitig sowohl hier als auch dort ist. Im Gespräch übernimmt sie die Rolle der Beobachterin, berichtet etwa 3–5 Jahren, und werden dann quasi aus dem Nest geworfen, d. h. sie werden dann von der Mutter nicht mehr ständig getragen. Sie leben weiterhin mit der Familie, machen sich aber ihren eigenen Freundeskreis. Sie ziehen mit den ande- Sabine Kuegler: So etwa mit 15– 16 Jahren, sobald sie geschlechtsreif sind. Früher hat der Vater den Ehepartner ausgesucht oder der Mann hat eine Frau geklaut: Er verschwand mit ihr in den Wald, bis sie ihn als Ehemann akzeptiert hatte, und sie kehrten dann zurück. Heute können sie oft selbst entscheiden. Meistens heiraten sie innerhalb der Sippe, weil sie sich kennen und sich einschätzen können. Romantik spielt dabei keine Rolle, der praktische Aspekt ist besonders wichtig, zum Beispiel ob ein Mann gut jagen kann, ob eine Frau gut Sago ernten kann, ob sie stark genug ist, um Kinder zu bekommen usw. unerzogen: Gibt es dort also auch keine Pubertät? Sabine Kuegler: Nein, das gibt es nicht. Die junge Sabine Kuegler mit ihren Fayu-Freunden. als Augenzeugin und spricht als engagierte Frau, die ihre Kindheitserlebnisse jetzt aus einer erwachsenen Perspektive betrachtet und mit einem später angeeigneten ethnologischen und soziologischen Hintergrundwissen bereichert hat. Diese Professionalität überrascht: Die emotionale Wirkung der Ereignisse in ihrem Leben kommt in ihren Büchern stärker zur Geltung als im Gespräch mit unerzogen zum Thema Familie hier und dort sowie zum Umgang mit verschiedenen Kulturen. unerzogen: Frau Kuegler, wie sieht eine Fayu-Familie aus? Sabine Kuegler: Sie besteht aus Mutter, Vater und Kindern... und Großeltern, wenn sie noch da sind. Ein Großfamilienformat – es leben aber immer mehrere Familien zusammen. unerzogen: Wie gehen sie miteinander um? Sabine Kuegler: Meistens gehen sie gut miteinander um. Ihr wichtigstes Ziel ist es, zu überleben. Und sich fortzupflanzen. Die Kinder bleiben bei der Mutter bis sie sich selbst abgestillt haben, das ist mit 12 unerzogen 4/2009 ren Mädchen oder Jungen los, zum Beispiel suchen sie Nahrung, weil sie gerne essen. Früher gab es Nahrungsmangel, inzwischen ist es besser geworden. Die Welt der Frauen und die der Männer sind sehr getrennt, sie verbringen sehr viel Zeit untereinander. Die Kinder haben keine bestimmten Aufgaben bis sie ins heiratsfähige Alter kommen. Sie können immer mitmachen und tun es unterschiedlich oft, es wird von ihnen aber nichts erwartet. unerzogen: Worüber unterhalten sich die Fayu? Sabine Kuegler: Sie sprechen über alles… sie sind sehr offen, und sie leben in der Gegenwart, sie kennen keine Vergangenheit und keine Zukunft. Bzw. inzwischen haben sie einen Bezug zur Vergangenheit. Wenn irgendwas geschieht, greifen sie das Thema auf und unterhalten sich tagelang darüber, immer aus verschiedenen Richtungen. Dann kommt ein neues Thema und es bleibt tagelang im Mittelpunkt. unerzogen: In welchem Alter gründen sie ihre eigene Familie? unerzogen: Wie lernen Jugendliche ihre Erwachsenenaufgaben? Sabine Kuegler: Erwachsenenaufgaben werden durch Beobachten und Nachahmen erlernt. Die Jugendlichen sind ja meistens dabei und sehen, was die Erwachsenen machen. Sie bekommen es nicht beigebracht. Also keiner setzt sich mit ihnen irgendwann hin und erklärt ihnen, wie dies oder jenes funktioniert. Wenn sie näher ans heiratsfähige Alter kommen, sind die Mädchen von sich aus sehr aktiv. Die Jungen gehen gerne mit den Männern jagen. Sie übernehmen erst leichtere Aufgaben, Pfeil und Bogen bekommen sie aber schon im frühen Kindesalter. Schulwissen wie bei uns gibt es dort nicht. Unsere Familie hat dort angefangen, ihnen lesen und schreiben und etwas Mathe beizubringen, damit sie ihren Stamm schützen können. Falls jemand ihnen einen Vertrag vorsetzt, damit sie wissen, dass sie die Finger davon lassen sollen. Nur ganz wenige können lesen und schreiben, und das ganz einfach, nichts Kompliziertes. Sie nutzen es, wenn sie in der Hauptstadt sind. unerzogen: Welche sind die auffälligsten Unterschiede zu den üblichen Familien in Deutschland? Sabine Kuegler: Der größte Unterschied ist die Großfamilie gegenüber der Kleinfamilie. Und dass die ältere Generation einen sehr hohen Stellenwert hat, www.unerzogen-magazin.de unerzogen: Wie gehen die Fayu mit Kind. h. der Großvater ist das Oberhaupt zusammen weg, der Zusammenhalt der der Familie und was er sagt, wird auch Gruppe ist sehr stark. Also der soziale dern mit besonderen Bedürfnissen um? Sabine Kuegler: Sie kümmern sich Aspekt ist sehr stark ausgeprägt. Das vergetan. nicht besonders um behinderte KinEs wird auch nicht so stark auf die misst man schon, wenn man hier ist. Andererseits gibt es dort keine Privat- der. Das Wichtige für sie ist das ÜberleKinder geachtet, wie hier. Das ganze Pädsphäre, jeder weiß alles über jeden, und ben. Die Regel ist, dass der Stärkere überagogische gibt es dort überhaupt nicht. Die Frauen spielen eine sehr wichtige Rolle, weil sie das Essen für die Familie sammeln und damit lange Zeit jeden Tag beschäftigt sind. Sie sind auch für die Kinder und die Wirtschaft, also für die Verteilung des Essens verantwortlich. Die Männer gehen nämlich nicht jeden Tag jagen, sondern nur zu besonderen Anlässen. Dann verteilen sie das Fleisch, diese ist die einzige Aufgabe, die sie sich mit den Frauen teilen. Sie sind für den Schutz und die Häuser verantwortlich. Am Hausbau für die eigene Familie arbeiten sie mehrere Tage, in aller Ruhe. Einer fängt an, und andere kommen einfach dazu, es ist keine Aufgabe für die ganze Gruppe. Früher haben sie auch gekämpft, aber inzwischen gibt es keine Kriege mehr. Es ist ein sehr langsames Leben, anders als bei uns. Sie haben keine Termine, sie haben keine geregelte Mahlzeiten – es wird den ganzen Tag gegessen... Sie Zu Besuch in der alten Heimat: Die erwachsene Autorin trifft ihre alten Freunde. sitzen viel zusammen und reden miteinander. Die Frauen zusammen und die es gibt auch keinen Individualismus. Je- lebt. Der Zusammenhalt in der Gruppe Männer zusammen, die Kinder sind da- der identifiziert sich durch die Grup- spielt eine große Rolle, doch auf Kranpe und nicht durch sich selbst. Jeman- ke und Schwache wird keine besondere bei oder unterwegs. dem, der hier aufgewachsen ist, fällt es Rücksicht genommen, weil das die ganunerzogen: Haben Sie, als Sie bei den sehr schwer, damit klarzukommen. Weil ze Gruppe schwächen würde. Zum Beier daran gewöhnt ist, zu entscheiden, spiel gab es einen Taubstummen, er war Fayu lebten, etwas vermisst? Sabine Kuegler: Als ich klein war, was er macht. Wenn man hiermit um- körperlich stark genug und konnte einikannte ich nichts anderes, deshalb konn- gehen kann, dann ist das natürlich sehr germaßen jagen, deshalb war er keine te ich auch nichts vermissen. Später, als schön. Man hat aber nicht die Sicherheit Belastung für die Gruppe – er hat aber ich nach einem längeren Aufenthalt in der Gruppe. Jemand, der in einer Grup- auch keine Sonderbehandlung bekomDeutschland zurückgekommen war, pe groß geworden ist, braucht sich keine men. Inzwischen ist es nicht mehr so exhabe ich, wenn überhaupt, einige Spei- Sorgen zu machen, z. B. über das Älter- trem, heute würden sie sich mehr um besen vermisst, z. B. guten Kaffee, Käse, werden. Es gibt also keine Existenzangst hinderte Kinder kümmern, sie versorgen Wurst, mehr nicht. In der Fayu-Kultur ist und auch keinen psychischen Druck. Es die Kinder auch besser als früher, weil es das Essen sehr wichtig, doch nicht sehr gibt dort überhaupt keine psychischen mehr Nahrung gibt... Dieser extreme Individualismus unabwechslungsreich. So nach einem Jahr Probleme, weil man von der Gruppe imfängt man schon an, etwas zu vermis- mer aufgefangen wird. Dafür gibt man serer Kultur ist eigentlich sehr neu und wird ganz gravierende Folgen mit sich sen, wenn man es kennt. Sonst natürlich aber die eigene Privatsphäre auf. Im Leben der Fayu ist alles vorbestimmt. tragen, weil der Mensch ein soziales Wenicht. Es passiert sehr selten, dass jemand sein Le- sen ist, kein Einzelgänger. Dadurch entunerzogen: Was vermissen Sie hier, ben anders leben möchte. Ich habe von mei- stehen Probleme, wie z. B. sich verlassen nem Vater erfahren, dass die jungen Män- oder ausgegrenzt fühlen, Depressionen... was Sie bei den Fayu hatten? Sabine Kuegler: In der Fayu-Gemein- ner, die in die Stadt geflogen waren, um sich unerzogen: Welche Folgen wird diese schaft bekommt man auf der emotiona- dort zu bilden, nach zwei Wochen wieder len Seite eine große Unterstützung, das zurückgekehrt sind, weil sie die Gruppe Entwicklung Ihrer Meinung nach haben, Körperliche hat keine große Bedeutung. vermisst haben. Die Fayu bewegen sich nie und was können wir tun, um diese GeUnd die Zeit verläuft dort viel langsa- allein, immer mit einer Gruppe, mindes- fahren einzudämmen? Sabine Kuegler: Ich glaube, dass die mer. Sie sitzen zusammen und unterhal- tens vier bis sechs Leute – allein fühlen sie ten sich, sie essen zusammen, sie gehen sich sehr unwohl, das können sie gar nicht. Menschen wieder zueinander finden www.unerzogen-magazin.de 4/2009 unerzogen 13 werden. Meistens ist es so, dass es in jeder Generation eine Krise gibt. Und in Krisenzeiten kommen die Menschen wieder zusammen. Ich glaube, dass die Menschen schon merken, dass alleine zu leben nicht gut ist – irgendwann kommen sie wieder zu Gruppen. Vielleicht man merkt, dass ich keine Deutsche bin. Ich fühle mich als Deutsche mehr als alles andere, außer Papuanisch. Die anderen Länder, in denen ich später gelebt habe, haben mich nicht so tief geprägt. Ich merke, wenn ich bei Freunden aus Indonesien bin, da fühle ich mich sehr „Bald wird es kaum jemanden geben, der einer einzigen Kultur angehört, und dann wird man deswegen nicht mehr ausgegrenzt werden.“ nicht genau wie wir es bisher gekannt haben. Ich merke schon unter meinen Freunden, dass sie anfangen, einen ganz starken Sozialkreis zu bilden. Was für weitere Entwicklungen es geben könnte, darüber habe ich schon nachgedacht, ich kann dazu aber nichts sagen. unerzogen: Haben Sie in Ihren europäischen Alltag etwas von den Fayu übernommen? Sabine Kuegler: Nein. Ehrlich gesagt, kann man es gar nicht. Am Anfang hatte ich Schwierigkeiten mit der Zeiteinteilung: Der Ablauf der Zeit ist hier wahnsinnig schnell, es gibt immer viele Termine, damit hatte ich sehr zu kämpfen, lange Zeit. Daran habe ich mich inzwischen gewöhnt. Etwas von den Fayu zu übernehmen geht nicht, weil sie keine so hoch entwickelte Kultur haben, keine besonderen Rituale. Die Leute, die mich kennen, sagen, dass Literatur Sabine Kuegler, Dschungelkind, Droemer Knaur, 2005, auch als Hörbuch erhältlich Sabine Kuegler, Der Ruf des Dschungels, Droemer Knaur, 2006, auch als Hörbuch erhältlich Sabine Kuegler, Jägerin und Gejagte, Droemer Knaur, 2009 Sabine Kuegler, Sabine bei den Fayu – Das Dschungelkind erzählt, BAUMHAUS, 2009, Hörbuch für Kinder D. Pollock, R. Van Reken & G. Pflüger., Third Culture Kids. Aufwachsen in mehreren Kulturen, Francke-Buchhandlung, 2003 14 unerzogen 4/2009 wohl, sehr heimisch, es ist noch eine sehr starke Prägung da. unerzogen: Stört es Sie, dass Sie sich nicht hundertprozentig als Deutsche fühlen? Sabine Kuegler: Ich bin inzwischen halb-halb. Ich habe viel von der deutschen Kultur übernommen. Das merke ich, wenn ich in anderen Ländern bin. Ich bin z. B. gut organisiert, sehr pünktlich... aber ich kann auch sehr schnell wechseln. Wenn ich anderswo bin, kann ich eine komplett andere Mentalität übernehmen, ich bewege mich angeblich sogar anders, hat man mir gesagt. Ich habe auch andere Gefühle. Wenn ich hier bin und etwas nicht richtig funktioniert, dann tendiere ich dazu, irritiert zu reagieren, während ich es in Papua ganz lässig nehme, weil es dort einfach dazu gehört. Da ich in meinem Leben so viele Kulturwechsel erlebt habe, kann ich mich sehr schnell anpassen. Viele Leute, die ich hier treffe, sagen schon, dass ich anders bin, ich bin freundlicher und offener. Ich kann nicht sagen, ich wäre in Deutschland hundertprozentig integriert. Das wird wahrscheinlich nie der Fall sein, das kann man nicht, wenn man von außen kommt. Ich kann sagen, dass ich mich hier wohl fühle und ganz glücklich bin, doch es gibt immer wieder Zeiten des Heimwehs, da ich zurück nach Papua möchte. Was mich stört, ist der enorme Druck, unter dem man hier steht, und wenn man es nicht kennt, ist es schwieriger damit klar zu kommen, als wenn man es von klein auf kennt. unerzogen: Sprechen Sie noch die Sprache der Fayu? Sabine Kuegler: Nein, nicht mehr. Wenn man eine Sprache nicht spricht, dann vergisst man sie. Wenn ich dort bin, dann kommen die Kenntnisse ein bisschen zurück, wenn ich länger dort bleiben würde, könnte ich wieder sprechen. unerzogen: Was wissen Ihre Kinder über die Fayu? Sabine Kuegler: Die Älteren (16 und 17 Jahre alt) haben die ersten beiden Bücher gelesen. Die kleineren (9 und 7 Jahre alt) haben das erste Buch gehört. Sie wissen schon davon, es ist aber kein großes Thema für sie. Die Kleinste ist die einzige, die wirklich Interesse hat. Ich habe auch ein Kinderbuch aufgenommen und sie hört es jeden Abend. Wir wollen gerne zusammen hinfahren, es ist aber noch nicht konkret geplant. Die zwei Mädchen möchten gerne mit, die zwei Jungs sind eher zögerlich. unerzogen: In Ihren Büchern haben Sie auch die Third Culture Kids (Drittkulturkinder) erwähnt. Worum geht es überhaupt? Sabine Kuegler: Mit der Globalisierung gibt es immer mehr Kinder, die mit mehr als einer Kultur aufwachsen, wie es Bei den Fayu im Dschungel gibt es keine hoch entwickelte Kultur, keine besonderen Rituale. www.unerzogen-magazin.de bei mir der Fall war. Das ist oft mit Umzügen verbunden. Die erste ist die Kultur der Eltern, die zweite, wo sie aufwachsen und die dritte, die dazwischen. Sie heißt so, weil es weder die eine noch die andere ist, sondern eine ‚neue‘, dritte Kultur. unerzogen: Betrifft das auch die türkischen Kinder, die innerhalb von Deutschland eng in ihrer Großfamilie eingebunden leben? Sabine Kuegler: Es geht um eine starke Prägung durch mehrere Kulturen. Es trifft also auch auf viele türkische Kinder in Deutschland zu. unerzogen: Warum ist dieser Begriff so wichtig? Sabine Kuegler: Wenn man in einer Kultur aufwächst, dann entwickeln sich bestimmte Verhaltensweisen und Fähigkeiten, die dieser Kultur eigen sind und deshalb benötigt werden. Es dauert 10–15 Zurück – zu Hause? Drittkulturkinder haben mehr als zwei Kulturhintergründe. Jahre, bis sich eine Kultur im Menschen gefestigt hat. Wenn man in eine andere nicht ahnen, dass ich aus einer anderen Stellen Sie sich vor, dass Sie eine hier lebende Eingeborene sind, und eines TaKultur kommt, dann funktionieren die- Kultur komme. Die Frage, wo man her kommt, ist für ges sind Sie im Urwald bei Ihrem Steinse Kenntnisse nicht mehr, und es entsteMenschen, die aus mehreren Kulturen zeitstamm. Versuchen Sie dann mal sich hen Probleme. Viele dieser Kinder können damit um- stammen, immer schwer zu beantworten. zu integrieren. Selbst wenn Sie über diegehen, viele haben aber damit Schwierig- Ich habe eine kurze Antwort und eine sen Stamm viel gehört haben, auch wenn Sie ganz viel drüber gelesen haben, ist es keiten. Z. B. Diplomatenkinder – sie leben lange Antwort, je nach Situation. was ganz anderes, plötzlich mittendrin ihr Leben lang zwischen den Kulturen. unerzogen: Was können Sie den Be- zu stehen. Ich habe darüber recherchiert und festDas ist das, was ich versuche anderen gestellt, dass diejenigen, die keine Pro- troffenen empfehlen? Sabine Kuegler: Es gibt verschiedene zu vermitteln, um ein Mehr an Toleranz bleme damit gehabt haben, in Gruppen geblieben sind. Zum Beispiel haben sie Blickwinkel auf jede Situation. Ich habe und Verständnis rüberzubringen. Veruntereinander geheiratet oder sich einer gelernt zu sagen, ich trage zwei verschiede- sucht mal, euch in die Schuhe anderer religiösen Gemeinde angeschlossen. Die ne Kulturen. Ich sage den Leuten, ich habe Menschen zu begeben, ganz besonders meisten von ihnen sind ins Ausland ge- nicht eine Heimat, sondern zwei. Das ist der Menschen, die hierher kommen. Sie gangen. Nur ganz wenige bleiben in ih- als eine Bereicherung anzusehen und ich haben andere Gefühlsrichtungen oder rem ‚Heimatland‘. Sie fangen auch rela- kann mir bewusst machen, dass ich da- andere Reaktionen auf Situationen. Das tiv früh an, darüber nachzudenken. Aus durch andere Vorteile habe. Ich bin viel- heißt nicht, dass sie böse sind, sondern meiner Highschool in der Schweiz wollte leicht nicht so sesshaft, wie andere, aber dass sie anders sind. Man muss lernen, niemand in sein (elterliches) Heimatland dafür kann ich besser in anderen Kultu- dies besser zu akzeptieren und zu verstezurück, um dort zu bleiben, sondern eher ren leben. Daraus kann ich etwas machen. hen. Es wird aber noch einige Jahrzehnins Land, wo sie aufgewachsen sind oder Das Thema ist im Kommen: Viele sind ins te dauern, bis dies selbstverständlich sein Ausland gegangen, haben Arbeit gefun- wird. Dann wird die Frage, woher man anderswohin. kommt oder nicht kommt, kein Thema Es gibt auch ein Buch darüber. Es den und sind zufrieden und glücklich. mehr sein. Diese erhöhte Mobilität ist in heißt: Third Culture Kids – Aufwachsen in unerzogen: Sie haben in Ihrem drit- den letzten Jahren ganz enorm gewachmehreren Kulturen. Es geht um die Frage: Wo gehöre ich hin? Die Autoren empfeh- ten Buch Ihre Kulturschockerlebnisse ge- sen. Bald wird es kaum jemanden geben, len, diese besondere Situation als posi- schildert. Ist es Ihren Geschwistern ähn- der einer einzigen Kultur angehört, und dann wird man deswegen nicht mehr tiv anzusehen. Drittkulturkinder haben lich ergangen? Sabine Kuegler: Meine Schwester hat ausgegrenzt werden. es viel leichter, sich in eine neue Kultur einzuleben. Andererseits haben sie im den Kultursprung ganz gut geschafft. unerzogen: Herzlichen Dank fürs GeBereich der Zugehörigkeit etwas mehr Mein Bruder hat große SchwierigkeiSchwierigkeiten: Ich z. B. sehe hier aus, ten. Aber er ist jünger als ich, er braucht spräch, Frau Kuegler. Eva Formaggio wie alle anderen, und die Leute können wahrscheinlich noch etwas Zeit... www.unerzogen-magazin.de 4/2009 unerzogen 15 Impressum Herausgeber: Sören Kirchner Chefredakteurin: Sabine Reichelt (sr) (V.i.S.d.P.) 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