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Gruppe versus Individualität
Interview mit Sabine Kuegler
Sabine Kueglers Leben ist bewegt und
bewegend. Sie wurde 1972 in Nepal als
zweite Tochter deutscher Sprachforscher
und Missionare geboren und verbrachte dort ihre ersten Lebensjahre mit dem
Stamm der Danuwar Rai. Nach einem
zweijährigen Aufenthalt in Deutschland
zog ihre Familie 1978 in den Urwald von
West-Papua (Indonesien), wo sie mehrere Jahre fernab der Zivilisation lebte.
Das Leben mit dem Stamm der Fayu war
für sie das Paradies.
Als 17-Jährige kehrte Sabine Kuegler allein nach Europa zurück, um in
der Schweiz das Abitur abzulegen. Dort
lernte sie ihren ersten Ehemann kennen.
Nach verschiedenen Wendungen in ihrem Leben, die sie u. a. nach Kanada und
Japan brachten, wohnt Sabine Kuegler
seit 2003 in Deutschland. Sie hat vier Kinder aus zwei Ehen.
Kuegler hat ihre Erlebnisse in einer
nicht unumstrittenen, autobiographischen Trilogie dokumentiert. Ihr erstes
Buch Dschungelkind, das sie als Autorin
bekannt machte, wurde in über 30 Sprachen übersetzt. Sie beschreibt darin ihr
Leben im Urwald mit den Fayu, das sie
in vollen Zügen genoss und deutet bereits die Schwierigkeiten an, die sie später mit der Anpassung an die ihr zu wenig bekannten europäischen Kultur hatte.
In ihrem zweiten Band Ruf des Dschungels
berichtet sie über ihre Rückkehr nach In-
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donesien und West-Papua und das Wiedersehen mit den Freunden ihrer Kindheit. Sie geht darin ausführlich auf die
geschichtliche und politische Situation
ein, die den Lebensraum der Fayu und
der anderen Urwaldvölker bedroht. So
befürchtet sie auch, sich durch ihre Aussagen bei der indonesischen Regierung
unbeliebt zu machen.
Im letzten Teil der Trilogie beschreibt
sie, wie es ihr ergangen ist, nachdem sie
Papua auf eigenem Wunsch verlassen
hatte. Darin erfährt der Leser ausführlicher, mit welchen kulturellen Herausfor-
derungen sie konfrontiert wurde und wie
sie mit ihnen umging. Sie ist davon überzeugt, dass alle Schwierigkeiten darauf
beruhten, dass sie die Kultur nicht richtig
kannte. Dieser Teil ist ein sehr persönlicher, mutiger und dramatischer Bericht.
Neben ihrer literarischen Arbeit setzt
sie sich für mehr Verständnis für andere Kulturen ein sowie für den Erhalt der
Menschenrechte und der traditionellen
Kulturen von indigenen Völkern samt ihres Lebensraums.
Die Autorin hat sich mittlerweile
sehr gut in die deutsche Kultur einge-
Bei den Fayu in West-Papua aufgewachsen und plötzlich mit westlicher Zivilisation konfrontiert.
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lebt, ohne ihre papuanische Seite zu vergessen. Auf Bildern hat sie meist einen
verträumten Blick, der darauf hindeutet, dass sie gleichzeitig sowohl hier als
auch dort ist. Im Gespräch übernimmt
sie die Rolle der Beobachterin, berichtet
etwa 3–5 Jahren, und werden dann quasi
aus dem Nest geworfen, d. h. sie werden
dann von der Mutter nicht mehr ständig
getragen. Sie leben weiterhin mit der Familie, machen sich aber ihren eigenen
Freundeskreis. Sie ziehen mit den ande-
Sabine Kuegler: So etwa mit 15–
16 Jahren, sobald sie geschlechtsreif
sind. Früher hat der Vater den Ehepartner ausgesucht oder der Mann hat
eine Frau geklaut: Er verschwand mit
ihr in den Wald, bis sie ihn als Ehemann akzeptiert hatte, und sie kehrten dann zurück. Heute können sie oft
selbst entscheiden. Meistens heiraten
sie innerhalb der Sippe, weil sie sich
kennen und sich einschätzen können.
Romantik spielt dabei keine Rolle, der
praktische Aspekt ist besonders wichtig, zum Beispiel ob ein Mann gut jagen kann, ob eine Frau gut Sago ernten
kann, ob sie stark genug ist, um Kinder zu bekommen usw.
unerzogen: Gibt es dort also auch keine Pubertät?
Sabine Kuegler: Nein, das gibt es nicht.
Die junge Sabine Kuegler mit ihren Fayu-Freunden.
als Augenzeugin und spricht als engagierte Frau, die ihre Kindheitserlebnisse
jetzt aus einer erwachsenen Perspektive betrachtet und mit einem später angeeigneten ethnologischen und soziologischen Hintergrundwissen bereichert
hat. Diese Professionalität überrascht:
Die emotionale Wirkung der Ereignisse
in ihrem Leben kommt in ihren Büchern
stärker zur Geltung als im Gespräch mit
unerzogen zum Thema Familie hier und
dort sowie zum Umgang mit verschiedenen Kulturen.
unerzogen: Frau Kuegler, wie sieht
eine Fayu-Familie aus?
Sabine Kuegler: Sie besteht aus Mutter, Vater und Kindern... und Großeltern,
wenn sie noch da sind. Ein Großfamilienformat – es leben aber immer mehrere Familien zusammen.
unerzogen: Wie gehen sie miteinander um?
Sabine Kuegler: Meistens gehen sie
gut miteinander um. Ihr wichtigstes Ziel
ist es, zu überleben. Und sich fortzupflanzen. Die Kinder bleiben bei der Mutter bis
sie sich selbst abgestillt haben, das ist mit
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ren Mädchen oder Jungen los, zum Beispiel suchen sie Nahrung, weil sie gerne
essen. Früher gab es Nahrungsmangel,
inzwischen ist es besser geworden.
Die Welt der Frauen und die der Männer sind sehr getrennt, sie verbringen
sehr viel Zeit untereinander. Die Kinder
haben keine bestimmten Aufgaben bis
sie ins heiratsfähige Alter kommen. Sie
können immer mitmachen und tun es
unterschiedlich oft, es wird von ihnen
aber nichts erwartet.
unerzogen: Worüber unterhalten sich
die Fayu?
Sabine Kuegler: Sie sprechen über alles… sie sind sehr offen, und sie leben
in der Gegenwart, sie kennen keine Vergangenheit und keine Zukunft. Bzw. inzwischen haben sie einen Bezug zur Vergangenheit. Wenn irgendwas geschieht,
greifen sie das Thema auf und unterhalten sich tagelang darüber, immer
aus verschiedenen Richtungen. Dann
kommt ein neues Thema und es bleibt
tagelang im Mittelpunkt.
unerzogen: In welchem Alter gründen
sie ihre eigene Familie?
unerzogen: Wie lernen Jugendliche
ihre Erwachsenenaufgaben?
Sabine Kuegler: Erwachsenenaufgaben werden durch Beobachten und
Nachahmen erlernt. Die Jugendlichen
sind ja meistens dabei und sehen, was
die Erwachsenen machen. Sie bekommen es nicht beigebracht. Also keiner
setzt sich mit ihnen irgendwann hin
und erklärt ihnen, wie dies oder jenes
funktioniert.
Wenn sie näher ans heiratsfähige Alter kommen, sind die Mädchen von sich
aus sehr aktiv. Die Jungen gehen gerne
mit den Männern jagen. Sie übernehmen
erst leichtere Aufgaben, Pfeil und Bogen bekommen sie aber schon im frühen
Kindesalter.
Schulwissen wie bei uns gibt es dort
nicht. Unsere Familie hat dort angefangen, ihnen lesen und schreiben und etwas Mathe beizubringen, damit sie
ihren Stamm schützen können. Falls jemand ihnen einen Vertrag vorsetzt, damit sie wissen, dass sie die Finger davon
lassen sollen. Nur ganz wenige können
lesen und schreiben, und das ganz einfach, nichts Kompliziertes. Sie nutzen es,
wenn sie in der Hauptstadt sind.
unerzogen: Welche sind die auffälligsten Unterschiede zu den üblichen Familien in Deutschland?
Sabine Kuegler: Der größte Unterschied ist die Großfamilie gegenüber der
Kleinfamilie. Und dass die ältere Generation einen sehr hohen Stellenwert hat,
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unerzogen: Wie gehen die Fayu mit Kind. h. der Großvater ist das Oberhaupt zusammen weg, der Zusammenhalt der
der Familie und was er sagt, wird auch Gruppe ist sehr stark. Also der soziale dern mit besonderen Bedürfnissen um?
Sabine Kuegler: Sie kümmern sich
Aspekt ist sehr stark ausgeprägt. Das vergetan.
nicht besonders um behinderte KinEs wird auch nicht so stark auf die misst man schon, wenn man hier ist.
Andererseits gibt es dort keine Privat- der. Das Wichtige für sie ist das ÜberleKinder geachtet, wie hier. Das ganze Pädsphäre, jeder weiß alles über jeden, und ben. Die Regel ist, dass der Stärkere überagogische gibt es dort überhaupt nicht.
Die Frauen spielen eine sehr wichtige Rolle, weil sie das Essen für die Familie sammeln und damit lange Zeit jeden
Tag beschäftigt sind. Sie sind auch für
die Kinder und die Wirtschaft, also für
die Verteilung des Essens verantwortlich. Die Männer gehen nämlich nicht
jeden Tag jagen, sondern nur zu besonderen Anlässen. Dann verteilen sie das
Fleisch, diese ist die einzige Aufgabe, die
sie sich mit den Frauen teilen. Sie sind für
den Schutz und die Häuser verantwortlich. Am Hausbau für die eigene Familie
arbeiten sie mehrere Tage, in aller Ruhe.
Einer fängt an, und andere kommen einfach dazu, es ist keine Aufgabe für die
ganze Gruppe. Früher haben sie auch gekämpft, aber inzwischen gibt es keine
Kriege mehr.
Es ist ein sehr langsames Leben, anders als bei uns. Sie haben keine Termine, sie haben keine geregelte Mahlzeiten
– es wird den ganzen Tag gegessen... Sie Zu Besuch in der alten Heimat: Die erwachsene Autorin trifft ihre alten Freunde.
sitzen viel zusammen und reden miteinander. Die Frauen zusammen und die es gibt auch keinen Individualismus. Je- lebt. Der Zusammenhalt in der Gruppe
Männer zusammen, die Kinder sind da- der identifiziert sich durch die Grup- spielt eine große Rolle, doch auf Kranpe und nicht durch sich selbst. Jeman- ke und Schwache wird keine besondere
bei oder unterwegs.
dem, der hier aufgewachsen ist, fällt es Rücksicht genommen, weil das die ganunerzogen: Haben Sie, als Sie bei den sehr schwer, damit klarzukommen. Weil ze Gruppe schwächen würde. Zum Beier daran gewöhnt ist, zu entscheiden, spiel gab es einen Taubstummen, er war
Fayu lebten, etwas vermisst?
Sabine Kuegler: Als ich klein war, was er macht. Wenn man hiermit um- körperlich stark genug und konnte einikannte ich nichts anderes, deshalb konn- gehen kann, dann ist das natürlich sehr germaßen jagen, deshalb war er keine
te ich auch nichts vermissen. Später, als schön. Man hat aber nicht die Sicherheit Belastung für die Gruppe – er hat aber
ich nach einem längeren Aufenthalt in der Gruppe. Jemand, der in einer Grup- auch keine Sonderbehandlung bekomDeutschland zurückgekommen war, pe groß geworden ist, braucht sich keine men. Inzwischen ist es nicht mehr so exhabe ich, wenn überhaupt, einige Spei- Sorgen zu machen, z. B. über das Älter- trem, heute würden sie sich mehr um besen vermisst, z. B. guten Kaffee, Käse, werden. Es gibt also keine Existenzangst hinderte Kinder kümmern, sie versorgen
Wurst, mehr nicht. In der Fayu-Kultur ist und auch keinen psychischen Druck. Es die Kinder auch besser als früher, weil es
das Essen sehr wichtig, doch nicht sehr gibt dort überhaupt keine psychischen mehr Nahrung gibt...
Dieser extreme Individualismus unabwechslungsreich. So nach einem Jahr Probleme, weil man von der Gruppe imfängt man schon an, etwas zu vermis- mer aufgefangen wird. Dafür gibt man serer Kultur ist eigentlich sehr neu und
wird ganz gravierende Folgen mit sich
sen, wenn man es kennt. Sonst natürlich aber die eigene Privatsphäre auf.
Im Leben der Fayu ist alles vorbestimmt. tragen, weil der Mensch ein soziales Wenicht.
Es passiert sehr selten, dass jemand sein Le- sen ist, kein Einzelgänger. Dadurch entunerzogen: Was vermissen Sie hier, ben anders leben möchte. Ich habe von mei- stehen Probleme, wie z. B. sich verlassen
nem Vater erfahren, dass die jungen Män- oder ausgegrenzt fühlen, Depressionen...
was Sie bei den Fayu hatten?
Sabine Kuegler: In der Fayu-Gemein- ner, die in die Stadt geflogen waren, um sich
unerzogen: Welche Folgen wird diese
schaft bekommt man auf der emotiona- dort zu bilden, nach zwei Wochen wieder
len Seite eine große Unterstützung, das zurückgekehrt sind, weil sie die Gruppe Entwicklung Ihrer Meinung nach haben,
Körperliche hat keine große Bedeutung. vermisst haben. Die Fayu bewegen sich nie und was können wir tun, um diese GeUnd die Zeit verläuft dort viel langsa- allein, immer mit einer Gruppe, mindes- fahren einzudämmen?
Sabine Kuegler: Ich glaube, dass die
mer. Sie sitzen zusammen und unterhal- tens vier bis sechs Leute – allein fühlen sie
ten sich, sie essen zusammen, sie gehen sich sehr unwohl, das können sie gar nicht. Menschen wieder zueinander finden
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werden. Meistens ist es so, dass es in jeder Generation eine Krise gibt. Und in
Krisenzeiten kommen die Menschen
wieder zusammen. Ich glaube, dass die
Menschen schon merken, dass alleine zu
leben nicht gut ist – irgendwann kommen sie wieder zu Gruppen. Vielleicht
man merkt, dass ich keine Deutsche bin.
Ich fühle mich als Deutsche mehr als alles andere, außer Papuanisch. Die anderen Länder, in denen ich später gelebt
habe, haben mich nicht so tief geprägt.
Ich merke, wenn ich bei Freunden aus
Indonesien bin, da fühle ich mich sehr
„Bald wird es kaum jemanden geben, der einer
einzigen Kultur angehört, und dann wird man
deswegen nicht mehr ausgegrenzt werden.“
nicht genau wie wir es bisher gekannt
haben. Ich merke schon unter meinen
Freunden, dass sie anfangen, einen ganz
starken Sozialkreis zu bilden.
Was für weitere Entwicklungen es geben könnte, darüber habe ich schon nachgedacht, ich kann dazu aber nichts sagen.
unerzogen: Haben Sie in Ihren europäischen Alltag etwas von den Fayu
übernommen?
Sabine Kuegler: Nein. Ehrlich gesagt,
kann man es gar nicht. Am Anfang hatte ich Schwierigkeiten mit der Zeiteinteilung: Der Ablauf der Zeit ist hier
wahnsinnig schnell, es gibt immer viele
Termine, damit hatte ich sehr zu kämpfen, lange Zeit. Daran habe ich mich inzwischen gewöhnt.
Etwas von den Fayu zu übernehmen
geht nicht, weil sie keine so hoch entwickelte Kultur haben, keine besonderen Rituale.
Die Leute, die mich kennen, sagen, dass
Literatur
Sabine Kuegler, Dschungelkind, Droemer
Knaur, 2005, auch als Hörbuch erhältlich
Sabine Kuegler, Der Ruf des Dschungels,
Droemer Knaur, 2006, auch als Hörbuch
erhältlich
Sabine Kuegler, Jägerin und Gejagte, Droemer Knaur, 2009
Sabine Kuegler, Sabine bei den Fayu –
Das Dschungelkind erzählt, BAUMHAUS,
2009, Hörbuch für Kinder
D. Pollock, R. Van Reken & G. Pflüger.,
Third Culture Kids. Aufwachsen in mehreren Kulturen, Francke-Buchhandlung,
2003
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wohl, sehr heimisch, es ist noch eine
sehr starke Prägung da.
unerzogen: Stört es Sie, dass Sie sich
nicht hundertprozentig als Deutsche fühlen?
Sabine Kuegler: Ich bin inzwischen
halb-halb. Ich habe viel von der deutschen Kultur übernommen. Das merke
ich, wenn ich in anderen Ländern bin.
Ich bin z. B. gut organisiert, sehr pünktlich... aber ich kann auch sehr schnell
wechseln. Wenn ich anderswo bin, kann
ich eine komplett andere Mentalität
übernehmen, ich bewege mich angeblich sogar anders, hat man mir gesagt.
Ich habe auch andere Gefühle. Wenn ich
hier bin und etwas nicht richtig funktioniert, dann tendiere ich dazu, irritiert zu
reagieren, während ich es in Papua ganz
lässig nehme, weil es dort einfach dazu
gehört. Da ich in meinem Leben so viele Kulturwechsel erlebt habe, kann ich
mich sehr schnell anpassen.
Viele Leute, die ich hier treffe, sagen
schon, dass ich anders bin, ich bin freundlicher und offener. Ich kann nicht sagen,
ich wäre in Deutschland hundertprozentig integriert. Das wird wahrscheinlich nie der Fall sein, das kann man nicht,
wenn man von außen kommt. Ich kann
sagen, dass ich mich hier wohl fühle und
ganz glücklich bin, doch es gibt immer
wieder Zeiten des Heimwehs, da ich zurück nach Papua möchte. Was mich stört,
ist der enorme Druck, unter dem man
hier steht, und wenn man es nicht kennt,
ist es schwieriger damit klar zu kommen,
als wenn man es von klein auf kennt.
unerzogen: Sprechen Sie noch die
Sprache der Fayu?
Sabine Kuegler: Nein, nicht mehr.
Wenn man eine Sprache nicht spricht,
dann vergisst man sie. Wenn ich dort bin,
dann kommen die Kenntnisse ein bisschen zurück, wenn ich länger dort bleiben würde, könnte ich wieder sprechen.
unerzogen: Was wissen Ihre Kinder
über die Fayu?
Sabine Kuegler: Die Älteren (16 und
17 Jahre alt) haben die ersten beiden Bücher gelesen. Die kleineren (9 und 7 Jahre
alt) haben das erste Buch gehört. Sie wissen schon davon, es ist aber kein großes
Thema für sie. Die Kleinste ist die einzige,
die wirklich Interesse hat. Ich habe auch
ein Kinderbuch aufgenommen und sie
hört es jeden Abend.
Wir wollen gerne zusammen hinfahren, es ist aber noch nicht konkret geplant. Die zwei Mädchen möchten gerne
mit, die zwei Jungs sind eher zögerlich.
unerzogen: In Ihren Büchern haben
Sie auch die Third Culture Kids (Drittkulturkinder) erwähnt. Worum geht es überhaupt?
Sabine Kuegler: Mit der Globalisierung gibt es immer mehr Kinder, die mit
mehr als einer Kultur aufwachsen, wie es
Bei den Fayu im Dschungel gibt es keine hoch
entwickelte Kultur, keine besonderen Rituale.
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bei mir der Fall war. Das ist oft mit Umzügen verbunden.
Die erste ist die Kultur der Eltern, die
zweite, wo sie aufwachsen und die dritte,
die dazwischen. Sie heißt so, weil es weder die eine noch die andere ist, sondern
eine ‚neue‘, dritte Kultur.
unerzogen: Betrifft das auch die türkischen Kinder, die innerhalb von Deutschland eng in ihrer Großfamilie eingebunden leben?
Sabine Kuegler: Es geht um eine starke Prägung durch mehrere Kulturen. Es
trifft also auch auf viele türkische Kinder
in Deutschland zu.
unerzogen: Warum ist dieser Begriff
so wichtig?
Sabine Kuegler: Wenn man in einer
Kultur aufwächst, dann entwickeln sich
bestimmte Verhaltensweisen und Fähigkeiten, die dieser Kultur eigen sind und
deshalb benötigt werden. Es dauert 10–15 Zurück – zu Hause? Drittkulturkinder haben mehr als zwei Kulturhintergründe.
Jahre, bis sich eine Kultur im Menschen
gefestigt hat. Wenn man in eine andere nicht ahnen, dass ich aus einer anderen Stellen Sie sich vor, dass Sie eine hier lebende Eingeborene sind, und eines TaKultur kommt, dann funktionieren die- Kultur komme.
Die Frage, wo man her kommt, ist für ges sind Sie im Urwald bei Ihrem Steinse Kenntnisse nicht mehr, und es entsteMenschen, die aus mehreren Kulturen zeitstamm. Versuchen Sie dann mal sich
hen Probleme.
Viele dieser Kinder können damit um- stammen, immer schwer zu beantworten. zu integrieren. Selbst wenn Sie über diegehen, viele haben aber damit Schwierig- Ich habe eine kurze Antwort und eine sen Stamm viel gehört haben, auch wenn
Sie ganz viel drüber gelesen haben, ist es
keiten. Z. B. Diplomatenkinder – sie leben lange Antwort, je nach Situation.
was ganz anderes, plötzlich mittendrin
ihr Leben lang zwischen den Kulturen.
unerzogen: Was können Sie den Be- zu stehen.
Ich habe darüber recherchiert und festDas ist das, was ich versuche anderen
gestellt, dass diejenigen, die keine Pro- troffenen empfehlen?
Sabine Kuegler: Es gibt verschiedene zu vermitteln, um ein Mehr an Toleranz
bleme damit gehabt haben, in Gruppen
geblieben sind. Zum Beispiel haben sie Blickwinkel auf jede Situation. Ich habe und Verständnis rüberzubringen. Veruntereinander geheiratet oder sich einer gelernt zu sagen, ich trage zwei verschiede- sucht mal, euch in die Schuhe anderer
religiösen Gemeinde angeschlossen. Die ne Kulturen. Ich sage den Leuten, ich habe Menschen zu begeben, ganz besonders
meisten von ihnen sind ins Ausland ge- nicht eine Heimat, sondern zwei. Das ist der Menschen, die hierher kommen. Sie
gangen. Nur ganz wenige bleiben in ih- als eine Bereicherung anzusehen und ich haben andere Gefühlsrichtungen oder
rem ‚Heimatland‘. Sie fangen auch rela- kann mir bewusst machen, dass ich da- andere Reaktionen auf Situationen. Das
tiv früh an, darüber nachzudenken. Aus durch andere Vorteile habe. Ich bin viel- heißt nicht, dass sie böse sind, sondern
meiner Highschool in der Schweiz wollte leicht nicht so sesshaft, wie andere, aber dass sie anders sind. Man muss lernen,
niemand in sein (elterliches) Heimatland dafür kann ich besser in anderen Kultu- dies besser zu akzeptieren und zu verstezurück, um dort zu bleiben, sondern eher ren leben. Daraus kann ich etwas machen. hen. Es wird aber noch einige Jahrzehnins Land, wo sie aufgewachsen sind oder Das Thema ist im Kommen: Viele sind ins te dauern, bis dies selbstverständlich sein
Ausland gegangen, haben Arbeit gefun- wird. Dann wird die Frage, woher man
anderswohin.
kommt oder nicht kommt, kein Thema
Es gibt auch ein Buch darüber. Es den und sind zufrieden und glücklich.
mehr sein. Diese erhöhte Mobilität ist in
heißt: Third Culture Kids – Aufwachsen in
unerzogen: Sie haben in Ihrem drit- den letzten Jahren ganz enorm gewachmehreren Kulturen. Es geht um die Frage:
Wo gehöre ich hin? Die Autoren empfeh- ten Buch Ihre Kulturschockerlebnisse ge- sen. Bald wird es kaum jemanden geben,
len, diese besondere Situation als posi- schildert. Ist es Ihren Geschwistern ähn- der einer einzigen Kultur angehört, und
dann wird man deswegen nicht mehr
tiv anzusehen. Drittkulturkinder haben lich ergangen?
Sabine Kuegler: Meine Schwester hat ausgegrenzt werden.
es viel leichter, sich in eine neue Kultur
einzuleben. Andererseits haben sie im den Kultursprung ganz gut geschafft.
unerzogen: Herzlichen Dank fürs GeBereich der Zugehörigkeit etwas mehr Mein Bruder hat große SchwierigkeiSchwierigkeiten: Ich z. B. sehe hier aus, ten. Aber er ist jünger als ich, er braucht spräch, Frau Kuegler.
Eva Formaggio
wie alle anderen, und die Leute können wahrscheinlich noch etwas Zeit...
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Impressum
Herausgeber: Sören Kirchner
Chefredakteurin: Sabine Reichelt (sr) (V.i.S.d.P.)
Redaktion: Johanna Gundermann (jgm)
Layout: Sören Kirchner
Nächstes Heft 1/10:
März 2010
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Redaktion „unerzogen“
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Abo-Service „unerzogen“
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ISSN: 1865-0872
Redaktionsschluss: 15.02.2009
Übersetzungen aus dem Englischen:
Johanna Gundermann (Seite 46-49)
Eva Formaggio (Seite 50-53)
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