Brand im Kino von ʿAmuda
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Brand im Kino von ʿAmuda
KURDWATCH●Bericht 2 Der Kinobrand von ʿAmuda im November 1960 KurdWatch ist ein Projekt des Europäischen Zentrums für Kurdische Studien Emser Straße 26 12051 Berlin Telefon: +49 ‒ 30 ‒ 62 60 70 32 Fax: +49 ‒ 721 ‒ 1 51 30 34 61 [email protected] © KurdWatch 2009 Der Kinobrand von ʿAmuda im November 1960 Der Brand im Kino von ʿAmuda am 13. November 1960, bei dem mehrere hundert kurdische Schulkinder ums Leben kamen, gehört zu denjenigen Ereignissen, die stets genannt werden, wenn es um die Geschichte der Diskriminierung der kurdischen Bevölkerung in Syrien geht. Entweder wird unterstellt, dass die syrische Regierung das Feuer gezielt gelegt hätte, um die anwesenden Kinder zu töten.1 Oder aber es wird darauf hingewiesen, dass, wer auch immer für den Vorfall verantwortlich zeichne, von antikurdischen Gefühlen beeinflusst gewesen sei.2 An anderer Stelle heißt es vorsichtiger, dass die lokale Bevölkerung gegenüber den syrischen Behörden den Vorwurf der Brandstiftung erhoben hat und die Vorkommnisse nie aufgeklärt wurden.3 Dieser Beitrag versucht, aus Augenzeugenberichten und Zeitungsartikeln vom November 1960 zu rekonstruieren, was damals im Kino von ʿAmuda geschehen ist. Darüber hinaus soll analysiert werden, weshalb die Ereignisse wie beschrieben interpretiert wurden. Hintergrund des Besuchs zahlreicher Schüler im Kino von ʿAmuda am 13. November 1960 ‒ gezeigt wurde »Das Mitternachtsgespenst«, ein ägyptischer Horrorfilm ‒ war der Unabhängigkeitskampf Algeriens gegen Frankreich (1954‒1962). Um diesen zu unterstützen, fand in Syrien eine Solidaritätswoche statt, während der die Bevölkerung aufgefordert war, möglichst viele Spenden für die »algerischen Brüder« zu sammeln. Der Unterbezirksdirektor von ʿAmuda hatte befohlen, dass sämtliche Schüler der Grundschulen in ʿAmuda den genannten Film besuchen und 1 Siehe »Ein dringender Appell um das Schicksal des inhaftierten syrischen Kurden Dauod Hussein«, eingesehen unter <http://www. humanrights.de/doc_de/archiv/s/ syria/Appelldauod_250501.htm>. 2 Siehe Montgomery 2005: 42; McDowall 1998: 17. 3 Siehe Tejel 2009: 48. die Einnahmen für den Kampf in Algerien gespendet werden sollten. KURDWATCH●Bericht 2 Am Tag des Brandes fanden mehrere Filmvorführun- 4 gen statt. Das Kino soll bei jeder Vorstellung überfüllt gewesen sein. Es gab insgesamt zweihundert Plätze, tatsächlich waren bei der letzten Vorstellung jedoch fünfhundert Kinder anwesend.4 Die meisten von ihnen saßen dicht gedrängt auf langen Bänken, andere mussten stehen. Der Brand brach aus, weil der Filmprojektor, der den ganzen Tag gelaufen war, aufgrund von Überhitzung Feuer fing. Die Flammen griffen auf die circa zwei Meter entfernte Decke über, die aus Holz, Stroh und Lehm bestand, und breiteten sich von dort auf das gesamte Kino aus.5 Augenzeugenberichten zufolge wurde dies dadurch befördert, dass die Wände des Kinos mit Stoff ausgekleidet waren.6 Als das Kino zu brennen begann, gerieten die Kinder in Panik und versuchten, den Saal schnellstmöglich zu verlassen. Auf der nördlichen wie der südlichen Seite des Kinos gab es jeweils zwei schmale Türen ‒ Angaben des ägyptischen Magazins al-Musawir zufolge waren die Türen zwei Meter hoch, aber nur achtzig Zentimeter breit ‒ die ausschließlich nach innen zu öffnen waren. Bei ihrem Fluchtversuch stolperten und fielen zahlreiche Kinder und blockierten so die beiden Ausgänge. An- dere Kinder drängten von hinten nach, sodass die Türen nicht mehr zu öffnen waren ‒ weder von innen, noch von außen. Die Kinder waren im Kino gefangen. Die zweite Fluchtmöglichkeit bestand in einem Fenster. Von denjenigen Kindern, die versuchten, auf diesem Weg zu entkommen, stürzten zahlreiche in den vor dem Fenster befindlichen Brunnen. Einige ertranken, andere kamen mit Verletzungen davon.7 Da es in ʿAmuda, damals eine Stadt mit etwa 14 000 Einwohnern, keine Feuerwehr gab, musste diese aus den Städten al-Qamischli und al-Hasaka angefordert werden ‒ sie traf entsprechend spät am Unglücksort ein.8 Soweit zu den Geschehnissen. Es gibt, abgesehen von Gerüchten, keine konkreten Hinweise, dass es sich bei 9 dem Feuer um etwas anderes als einen Unfall gehandelt hat, der aufgrund mangelhafter Sicherheitsvorkehrungen zu einer Katastrophe führte. Unzureichende Fluchtwege und die Überbeanspruchung von technischen Ge- 4 Siehe Nami 2000: 72. 5 Siehe Nami 2000: 72. 6 Interview mit dem Überleben- den Dr. Sededîn Mele (Stockholm) am 10. November 2008. 7 Interview mit dem Überleben- den Zinar Şêxmus (Berlin) am 12. November 2008. 8 Interview mit dem Überleben- den Dr. Sededîn Mele (Stockholm) am 10. November 2008. 9 Diesen zufolge wurde das Feuer von der syrischen Regierung gelegt; als Beleg wird angeführt, dass die Türen des Kinos von außen verschlossen gewesen seien, dass die Angestellten des Kinos selbiges vor dem Brand verlassen hätten und dass die Polizei die Bewohner von ʿAmuda daran gehindert habe, die Kinder aus den Flammen zu retten, da dies zu gefährlich sei; siehe hierzu Tejel 2009: 151, der diese Gerüchte, die er lokalen Quellen zuschreibt, zusammenfasst. räten wiederum werden sich vermutlich nicht auf das Kino in ʿAmuda beschränkt haben, sondern in Kinos und KURDWATCH●Bericht 2 anderen öffentlichen Institutionen in ganz Syrien üblich 5 gewesen sein. Dass vonseiten der kurdischen Bevölkerung, auch von syrischkurdischen Parteien, bis heute unterstellt wird, dass es sich bei dem Brand um einen gezielten Anschlag gegen die kurdische Bevölkerung handelte, ist vor allem auf drei Aspekte zurückzuführen. Erstens auf die damalige politische Situation. Nach dem Zusammenschluss Syriens mit Ägypten zur Vereinigten Arabischen Republik im Jahr 1958 wurde die antikurdi- sche Politik, die bereits unter Adib asch-Schischakli Mitte der 1950er Jahre begonnen hatte, fortgesetzt. So wurde es beispielsweise verboten, in Cafés kurdische Musik zu spielen, kurdische Publikationen zu drucken oder auch nur zu besitzen. Zudem waren im August 1960, nur wenige Monate vor dem Brand, die Führer des in Aleppo angesiedelten Exekutivkomitees der Demokratischen Partei Kurdistans in Syrien (KDPS) festgenommen und gefoltert, die Parteistrukturen aufgedeckt und fünftausend Personen inhaftiert und verhört worden. Die Parteiführung wurde wegen Separatismus angeklagt und schließlich zu Gefängnisstrafen verurteilt. Vor diesem Hintergrund erschien es vielen möglich, dass die syrische Regierung auch direkt gegen die kurdische Bevölkerung vorging. Die insbesondere 1962 und 1963 umgesetzten Arabisierungsmaßnahmen ‒ die Ausbürgerung zahlreicher Kurden in der Provinz al-Hasaka und der Zwölf-Punkte-Plan von Muhammad Talab Hilal ‒ waren nicht geeignet, diesen Verdacht zu zerstreuen. Sie ließen ihn im Gegenteil umso wahrscheinlicher erscheinen. Zweitens dürfte eine Rolle gespielt haben, dass es keine ordentliche Untersuchung des Falls gab beziehungsweise niemand für den Tod der Kinder zur Verantwortung gezogen wurde. Zwar wurden die drei Kinobetreiber Xidir Ezîz, Silêman Remedan und Ehmed Hesenat sowie ihre Mitarbeiter Ehmed Ibrahîm, Mihemed Mehmud und Ehmed Şerîf im Anschluss an den Brand verhaftet. Sie wurden jedoch bereits nach kurzer Zeit wieder freigelassen.10 Drittens wird auch die Tatsache, dass es bis heute nicht gestattet ist, der Toten des Kinobrandes von ʿAmuda öffentlich zu gedenken, dazu beige- 10 Interview mit dem Überleben- den Dr. Sededîn Mele (Stockholm) am 10. November 2008. tragen haben, das Misstrauen der Bevölkerung hinsichtlich der Ursachen des Brandes zu befördern. KURDWATCH●Bericht 2 Die genaue Zahl der Opfer ist nicht bekannt, kur- 6 dische Quellen gehen von mindestens 283‒300 Toten aus.11 Die ägyptische Zeitung Akhir Daqiqa berichtet in ihrer Ausgabe vom 15. November 1960 von 200 Toten und 450 Verletzten, vor allem Schwerverletzte, die später zum Teil ihren Verletzungen erlagen.12 Das ägyptische Magazin al-Musawir wiederum spricht von 180 Toten und 121 Verletzten.13 Auf dem Friedhof von ʿAmuda gibt es einen Bereich, in dem die Opfer des Kinobrandes beerdigt worden sind. Auf einem Teil der Grabsteine sind bis heute Namen erkennbar, auf anderen nicht mehr. Den Inschriften anderer Gräber, etwa den Massengräbern, war nie zu entnehmen, wer hier beerdigt worden ist. Im Folgenden sollen die Namen der Toten genannt werden, die anhand der Grabsteine identifizierbar sind:14 1. Ehmed Ebdilhadî 2. Mihemed Mesum Xelîl (geb. 1950) 3. Ednan Mecîd Ezîz 4. Mihemed Yasîn Esed el-Rîbat (geb. 1951 in Damaskus) 5. Zuher Ebdilezîz Ebdilqadir Derwîş 6. Mehmud Ismaîl Remo 7. Mihemed Saleh Mihemed Yûsiv (1950) 8. Ibrahîm Mihemed Yûsiv (1946) 9. Fehed Şêxmûs (1949) 10. Emîn Bengo (1953) 11. Ibrahîm Silêman Bengo 12. Ehmed Ferhan 13. Mihemed el-Hac Mehmûd 14. Mihemed Salih Silêman 15. Ezîz Mihemed Emîn Reşwanî (1948) 16. Ibrahîm Emîn Reşwanî (1948) 17. Ibrahîm Hecî Îsa (1949) 18. Mihemed Silêman Mercî (1948) 19. Nurî Mihemed Sebuhe (1947) 20. Mehî Mihemed Emîn Kalo (1946) 21. Xorşîd Mele Sîrac (1950) 22. Emîn Selfîc Emîn 23. Hesen Hac Mihemed 24. Mihemed Saleh Şêxmûs Mihemed Kurdî 11 Siehe hierzu etwa Dr. Ebdul- basit Seyda, »Sînema Amûdê çima şewitî?«, 18. November 2000, eingesehen unter <http://www.amude. net/sinema/basit.html>. 12 Siehe Nami 2000: 81. 13 Siehe Nami 2000: 72. 14 Die Liste der Namen (und in einigen Fällen Geburtsdaten) stammt vom November 2004. Sie wurde zusammengestellt von Dijwar Naso und erstmals veröffentlich in dem Artikel »Navên hin goriyên şewata sînema Amûdê«, eingesehen unter <http://www.amude. net/sinema/nav.html>. Wir haben die Angaben in der dort veröffentlichten Form übernommen. 25. Ehmed Ebdilrehman Deqorî 26. Ibrahîm Ebdilrehman Deqorî 27. Mihemed Hecî Ismaîl Hiso (1946, 5. Klasse) 28. Mihemed Seîd Deqorî (1928) 29. Mihemed Reşad Mehmud Beşar (1948) 30. Mihemed Xalid Şêx Ebdilrezaq el-Bancî 31. Nurî Hecî Hisên (1950) 32. Necmeldîn Ebdilkerîm Seyid Necim 33. Ehmed Mihemed Elî Hiso (1948) 34. Ibrahîm Temo Umer (1950) 35. Salih Xelef 36. Xidir Şêxmûs Zeyf 37. Mihemed Yûnis Zeyf 38. Tariq Şerîf Xelîl (1954) 39. Mihemed Saleh Xelîl (1947) 40. Mihemed Zekî Şêx Musa 41. Remedan Mihemed Elî 42. Ebdilselam Mihemed Saleh Elhac Elî Elkermî (1951) 43. Hisên Ehmed Elkermî 44. Ismaîl Şukrî Rezo (1948) 45. Mihemed Izedîn Elebasî 46. Ibrahîm Mihemed Elî 47. Ehmed Mele Newaf (1950) 48. Mehmud Nezîr Axa (1950) 49. Memduh Nezîr Axa (1948) 50. Sebrî Şukrî Elî 51. Elî Şêxmûs Celo 52. Şêxmûs Ibrahîm Berazî (1946) 53. Ebdilrezaq Ebdilxelîl (1949) 54. Ebdilezîz Ebdilxelîl (1946) 55. Derwîş Mecîd Debax 56. Umer Ebdilhelîm Debax 57. Zuhêr Ehmed Hisên (1946) 58. Ebdilsemed Şêx Tewfîq el-Huseynî 59. Subhî Elî Mihemed 60. Umer Elî Mihemed Elo 61. Fêsel Mistefa Tauus 62. Elî Mele Sîrac Mele Mihemed (1948) 63. Ebdo Hecî Umer Tauus 64. EbdoEhmed Tauus 65. Faris Seîd Hesen 66. Remedan Hesen (1946) 67. Subhî Ehmed Mihemed Remedan (1952) KURDWATCH●Bericht 2 7 68. Saleh Felemez 69. Umer Sofî Ferec 70. Mehmgd Hecî Mistefa 71. Ehmed Hemo Helqa 72. Ebdilrezaq Ibrahîm Kermî 73. Hisên Mihemed Kermî 74. Ehmed Mihemed Kermî 75. Mihyedîn Zekî Eljac Qasim 76. Izedîn Ebdilkerîm 77. Mihemed Hecî Xelef (1947) 78. Mehmud Hecî Xelef (1952) 79. Meesum Hecî Ezîz (1945) 80. Mihemed Ebdilcelîl Mele Ibrahîm 81. Sîrac Umer Şêxmûs (1946) 82. Ebdilrehman Osman 83. Ebdilîlah Şêxmûs 84. Mehmud Hecî Silêman 85. Fuad Dawid Şêxmûs Hefskê 86. Fewzî Elî Şêxo 87. Celal Hesen el-Umerî 88. Ebdilezîz Mehmud el-Umerî (1948) 89. Ebdilqehar Mehmud el-Umerî (1946) 90. Ebdo Ehmed Mihê Silê 91. Şêxmûs Elhac Têlo 92. Meruf Silêman Ibrahîm 93. Yihya Elhac Mihemed 94. Cemîl Mele Ebdilkerîm Mele Ehmed 95. Ibrahîm Mele Ebdilkerîm Mele Ehmed 96. Hisên Hecî Mihemed Literatur McDowall, David 1998: The Kurds of Syria. London: Kurdish Human Rights Project (KHRP). Montgomery, Harriet 2005: The Kurds of Syria. An existence denied. Berlin: Europäisches Zentrum für Kurdische Studien (EZKS). Nami, Melah Ahmad 2000: Qisat hariq sinama Amuda. Al-Qamischli. Tejel, Jordi 2009: Syria’s Kurds. History, politics and society. London: Routledge. KURDWATCH●Bericht 2 8