Gesinnung und Verantwortung Zur Benutzung der ‚Ethik` als Mittel
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Gesinnung und Verantwortung Zur Benutzung der ‚Ethik` als Mittel
In: Matthias Gatzemeier (Hg.), Verantwortung in Wissenschaft und Technik, Mannheim/Wien/Zürich, BIWissenschaftsverlag, 1989, S. 10-16. Gesinnung und Verantwortung Zur Benutzung der ‚Ethik’ als Mittel zum Zweck Georg Meggle, Münster Die Unterscheidung von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik gehört inzwischen zum Standard-Repertoire der bundesdeutschen Polit-Rhetorik.1 Sie hat auch in der Geschichtswissenschaft Anwendung gefunden, erst neulich wieder in aufsehenerregender Weise.2 Locus classicus für die Exposition dieser Unterscheidung sind Max WEBERs Arbeiten Der Sinn der „Wertfreiheit“ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften3 und Politik als Beruf.4 Verwendungsfrequenz, Brisanz und respektable Herkunft der Unterscheidung laden den Praktischen Ethiker förmlich dazu ein, ihr auf den Zahn zu fühlen. 1. Verantwortungsethik Was meinen Redner und Schreiber, wenn sie von Gesinnungsethik (GE), was, wenn sie von Verantwortungsethik (VE) reden und schreiben? (Diese Frage beantworte ich im folgenden nicht exegetisch, sondern idealtypisierend-rekonstruktiv.) Beidemale meinen sie Ethiken und verstehen darunter – wie ich meine: ganz zu Recht – bestimmte Theorien der Bewertung von Handlungen. Der Unterschied zwischen beiden soll in der grundsätzlichen Form des Kriteriums ebendieser Handlungsbewertungen liegen. Grundfrage der VE ist: Was kommt danach? VE-Kriterien der Handlungsbewertung rekurrieren also auf die Konsequenzen (Folgen, Wirkungen, Effekte, Resultate) von Handlungen. Mit anderen Worten: Der Wert einer konkreten Handlung f – kurz: w(f) – bemißt sich nach dem Wert der Konsequenzen von f, kurz: nach w(f-Konsequenzen). Schreiben wir „A ⇒ B“ für „A hängt ab von B“, so erhalten wir als Grundposition der VE: (K) w(f) ⇒ w(f-Konsequenzen) Notabene: Fragen nach unserem epistemischen Zugang zu einer (K) gehorchenden Bewertung von Handlungen läßt (K) vollkommen offen. Ein Entscheider, der (K) seiner moralischen Deliberation zugrundelegen will, kann sich, ist er nicht gerade allwissend, darüber täuschen, welche Konsequenzen seine Handlungen haben werden. Gelegentlich wird er auch nur zu Wahrscheinlichkeitsaussagen über das Eintreten der einen oder anderen Konsequenz im Fall des Vollzugs 1 Cf. etwa passim in den Reden und Schriften Helmut SCHMIDTS. Ein gutes Beispiel ist auch LÜBBE. Im so genannten Historikerstreit nämlich, als HILLGRUBER der „gesinnungsethische[n] Haltung der Männer des 20. Juli“ folgendes gegenüberstellte: „die verantwortungsethische Position der Befehlshaber, Landräte und Bürgermeister, aus deren Sicht alles darauf ankam, wenigstens einen schwachen Schleier von Sicherungen an der ostpreußischen Grenze aufzubauen, um das Schlimmste zu verhindern“ (HILLGRUBER, pp. 18-21). 3 Zuerst 1917. Abgedruckt in WEBER (1980). 4 Zuerst 1919. Abgedruckt in WEBER (1968). Zu parallelen Unterscheidungen cf. RADBRUCH (1956) und SCHELER (1921). Begriffsgeschichtlich wird die Unterscheidung häufig als säkularisierte Form der LUTHERschen ZweiReiche-Lehre aufgefaßt. 2 2 einer bestimmten Handlung in der Lage sein. Das sind Probleme der Anwendung von (K). Es sind Probleme, herauszufinden, welchen Wert eine Handlung hat, nicht Probleme der Definition oder auch nur Charakterisierung des Wertes einer Handlung. 2. Fünfmal Gesinnungsethik = Deontologische Ethik Gesinnungsethiken sind, so sagen selbige selber, nicht-konsequenzialistisch. Dieses Selbstverständnis liegt (GE 1) zugrunde: (GE 1) non-(K) (GE 1) besagt also, daß w(f) nicht unbedingt von w(f-Konsequenzen) abhängt.5 (GE 1) macht natürlich nur eine für eine GE (vermeintlich) notwendige Bedingung namhaft, keine hinreichende: Daß ein Kriterium nicht-konsequenzialistisch ist, heißt natürlich noch lange nicht, daß es auch nur das mindeste mit Gesinnung zu tun haben müßte. Zum Beispiel ist (Q) mit (GE 1) verträglich: (Q) w(f) ist proportional zur Quersumme des Datums, an dem f vollzogen wird.6 Es gilt also, (GE 1) in Richtung Gesinnung zu verschärfen. Dafür stößt man gelegentlich auf folgenden, durchaus naheliegenden Vorschlag (GE 2): Der Wert einer Handlung ist abhängig von der Intention, mit der sie vollzogen wird. (Durch was sonst, wenn nicht durch Absichten, sollte denn Gesinnung charakterisiert werden?) Schreiben wir „I(x, f, A)“ für „x beabsichtigt mit seinem f-Tun zu erreichen, daß A“, dann sagt also (GE 2) w(f) ⇒ w (I (x, f, A)) Es ist aber ganz und gar nicht klar, wieso (GE 2) eine Verschärfung von (GE 1) darstellen sollte. (GE 2) läßt doch die Möglichkeit offen, daß sich w (I (x, f, A)) selbst wiederum nach w(fKonsequenzen) richtet. Und wonach sonst sollte sich der Wert einer Intention (natürlich im Sinne von: der Wert des Habens einer Intention) denn richten, wenn nicht nach dem Wert dessen, was (als Konsequenz des Vollzugs der Handlung) intendiert wird? (GE 2) ist also nicht nur zu schwach, um auf jeden Fall (GE 1) zu erfüllen – anscheinend ist die einzig vernünftige Verschärfung von (GE 2) mit (GE 1) sogar verträglich! (GE 1) aber muß gerettet werden, wenn die Unterscheidung von GE und VE überhaupt eine Unterscheidung sein soll. Konzentrieren wir uns zunächst ganz auf diese Aufgabe und deponieren wir die prima facie so plausible Idee, daß die Bewertungsgrundsätze der Gesinnungsethik von Handlungsabsichten reden, erst einmal auf einem gedanklichen Zwischenlager. Wie also eskamotieren wir den Konsequenzialismus aus der Kernthese einer Gesinnungsethik? Vielleicht so: Gegeben sei eine Klassifizierung von Handlungen in Handlungsweisen (oder Handlungstypen). Stehe „F“ für eine beliebige dieser Handlungsweisen. Dann, so (GE 3), gilt für jede Handlung f vom Typ F, daß w(f) abhängig ist vom Wert von F: 5 Freilich: Irgendeine Abhängigkeit stellen die Paare aus je einem w(f) und dem jeweils zugehörigen w(f-Konsequenzen) stets dar. Gemeint ist natürlich eine Art proportionale, mindestens aber monotone Abhängigkeit. 6 Testfrage an Freund Heinz: Gesetzt den Fall, daß (Q). Genau an welchem Tage dieses unseres Millenniums hätten dann Deine Handlungen den höchsten Wert? 3 (GE3) w(f) ⇒ w(F) (Klar: Eine eindeutige Bestimmung von w(f) stellt (GE 3) nur sicher, wenn f nicht auch unter andere Handlungsweisen als F fällt. Der (GE 3)-Proponent hat also die Wahl, entweder ⇒ in (GE 3) nurmehr noch als „ist u.a. (z.B.: cetereis paribus) abhängig von“ lesen zu wollen oder Eindeutigkeit der zugrundeliegenden Klassifizierung von Handlungen dergestalt zu fordern, daß jede mögliche Handlung nur noch von einer der Handlungsweisen charakterisiert wird. Die mit (GE 3) ausgedrückte Abhängigkeit kann sozusagen nur höchstens so eindeutig sein wie das zugrundegelegte Klassifizierungssystem.) (GE 3) garantiert immerhin für alle praktischen Zwecke, daß (GE 1) erfüllt wird. Denn verschiedene Realisierungen ein und derselben Handlungsweise haben in der Regel verschiedene Konsequenzen, wenn nicht – ja, wenn nicht gerade die Handlungsweisen selbst schon konsequenzialistisch charakterisiert worden waren. Daß sie nicht so charakterisiert worden waren, muß ein (GE 1) & (GE 3) – Vertreter eben voraussetzen. Freilich ist (GE 3) talis qualis wiederum nichts, das unbedingt mit Gesinnungen zu tun haben müßte. Es gilt, den nicht-konsequenzialistischen Rahmen, den uns (GE 3) (in soeben vorausgesetzter Weise) liefert, beizubehalten und mit Gesinnungs-Gehalt zu füllen. Wir behalten (GE 3) beim Schlafittchen und holen als ebendiesen Gehalt die Intentionen aus dem Zwischenlager (GE 2) hervor. Et voilà (GE 4). Danach hängt w(f) vom Wert der mit f-Tun verfolgten Maxime ab. Maxime ist dabei im Kantischen Sinne zu verstehen als diejenige „Regel des Handelnden, die er sich selbst aus subjektiven Gründen zum Prinzip macht“ (KANT, p. 33), also als Regel des Inhalts, eine bestimmte Handlungsweise zu vollziehen. Sich eine solche Regel aus subjektiven Gründen zum Prinzip zu machen, heißt ja nichts anderes, als mit dem Vollzug von Handlungen bestimmte Handlungsweisen zu realisieren zu beabsichtigen. Schreiben wir „T (x, H)“ für „x realisiert Handlungsweise H“, so lautet (GE4) w(f) ⇒ w(I (x, f, T(x, H))) KANT geht weiter und sagt auch, für welche Handlungsweise „H“ hier stehen sollte: Pflichterfüllung. Das aus dieser Einsetzung für „H“ resultierende (GE 5) verfolgen wir nicht weiter. (GE 4) – und damit im übrigen auch (GE 5) – ist offensichtlich ein Spezialfall von (GE 2), mit dem hiesigen „T (x, H)“ für das dortige „A“. Und es stellt sich dem (GE 4)-Opponenten die zu der oben an den (GE 2)-Proponenten gestellten analoge Frage, was denn überhaupt ein plausibler Kandidat für das Kriterium sein könnte, nach dem sich der Wert der in (GE 4) erwähnten Intention bemißt. Auch die Antwort bleibt analog zur obigen: Außer T(x, H) ist kein Kandidat in Sicht. T(x, H), der Vollzug einer Handlungsweise, ist selber eine konkrete Handlung. Wonach bemißt sich also der Wert einer solchen? Das ist nichts anderes als unsere Ausgangsfrage. Wir können mit der Tautologie „Diese Handlung ist wert, was sie wert ist“ auf der Stelle treten oder zu dem Ausweg zurückkehren, der uns zu (GE 3) geführt hatte: Der Wert der Handlung T(x, H) hängt von dem der Handlungsweise H ab. Von Intentionen, geschweige denn von Gesinnung, ist nicht mehr die Rede: Wieder haben sie sich beim Bewerten ‚herausgekürzt’. Dabei muß es, faute de mieux, bleiben. Gesinnungsethiker ist wohl, wer (GE 3) unterschreibt. Ach ja – durch (GE 3) charakterisierte Ethiken haben in der Literatur auch einen anderen Namen: Deontologische Ethiken: (D): = (GE 3). 4 Wie Verantwortungsethiker Konsequenzialisten sind, so also sind Gesinnungsethiker Deontologen. 3. Konsequenzialistische = deontologische Ethik, ergo: Verantwortungsethik = Gesinnungsethik Haben wir damit den zu bestimmenden Unterschied zwischen VE und GE als einen uns wohlbekannten Unterschied entlarvt, als den nämlich zwischen konsequenzialistischer (These (K)) und deontologischer Ethik (These (D))? Was heißt denn hier „Unterschied“? Dieser alte Bekannte – einer muß es ja mal sagen – ist weniger ein Unterschied als das Phantom eines solchen. Laßt es uns sagen; laßt es uns jagen. Kurzbeweis. Der Konsequenzialist sagt: „Handlungen mit den Konsequenzen X, Y, Z haben den Wert w.“ Heißt auf Deontisch: „Handlungen desjenigen Typs von Handlungen, für den gilt, daß Handlungen ebendieses Typs die Konsequenzen X, Y, Z haben, haben den Wert w.“ Der Deontologe sagt: „Handlungen des Typs F haben den Wert u.“ Heißt auf Konsequentisch: „Handlungen mit der Konsequenz, daß eine Handlung des Typs F realisiert wird, haben den Wert u.“ Ergo: Konsequenzialistische und deontologische Ethiken sind Notationsvarianten ohne jegliche materialethische – jawohl: Konsequenz. Hauptsächlich zwei vermeintliche Einwände gegen diese Demaskierung werden den trügerischen Glauben an das Phantom weiterhin am Leben halten. Der erste: Was für ein begrifflicher Hokuspokus! Man kann ihm den Garaus machen, indem man der deontologischen Ethik Obergrenzen für die Komplexität derjenigen Handlungstypen setzt, die zu verwenden ihr gestattet ist. Antwort: Was für eine Konfusion! Zwischen Sprach- und Sachebene nämlich. Handlungsweisen sind Mengen von Handlungen, mehr nicht. Was soll es heißen, daß so eine Menge eine bestimmte Komplexität hat? Komplexität mag die eine oder andere (etwa: oben verwendete) Art haben, auf diese Menge sprachlich zu referieren. Die aber ist vollkommen kontingent. Insbesondere ist sie prinzipiell umgehbar: Machen wirs halt extensional und listen die in der Menge befindlichen Handlungen auf. Der zweite:„Konsequenz“ bedeutet auf Konsequenüsch etwas anderes als auf Deontisch. Die obige Pseudo-Übersetzung klingt nur akzeptabel, weil sie diese Äquivokation auf illegitime Weise nutzt. Auf Konsequentisch sind damit kausale Folgen gemeint, auf Deontisch logischbegriffliche. Antwort: Versuche, lieber Einwender, einmal, unter Einhaltung dieser Deiner Bedeutungspostulate eine konsequenzialistische oder eine deontologische Ethik zu formulieren, die auch nur einen einzigen Anhänger hätte.7 Mit der Rückführung von VE auf (K) und von GE auf (D) haben wir also keinen Unterschied namhaft gemacht. Wohl aber noch eine Abwesenheit eines solchen. 7 Neugierig? Noch nicht überzeugt? Dann heißt es warten auf FEHIGE/MEGGLE. 5 4. Verantwortungsethik ≠ Gesinnungsethik: k.o. Sicher: Man kann mit den labeis „verantwortungsethisch“ und „gesinnungsethisch“ Sprechakte vollziehen, in denen sie nicht salva perlocutione oder salva locutione füreinander substituierbar wären. Man kann sie mit gegensätzlichem emotiven Hall ausstatten, und dann mit dem einen der beiden beschimpfen und beleidigen, mit dem Gegenstück lobpreisen. Das ist non-kognitive Nutzung der Sprache. Diese Tricks sind billig und peinlich, werfen aber psychosoziale, nicht philosophische Probleme auf. Auch mit deskriptiver Bedeutung kann man (und hat man) die beiden Termini so versehen, daß sie nicht synonym sind. So kann man als Bedeutung von „gesinnungsethisch“ etwa postulieren: überzeugt sein, daß es in einem nicht-trivialen Sinne absolute Gebote gibt.8 Gesinnungsethiker wäre dann zum Beispiel jemand, der sagt, daß es in keiner vorstellbaren Situation erlaubt ist zu lügen. Oder man definiert „gesinnungsethisch“ als: „kolossal wichtige Fakten, darunter auch kausale Folgen von zur Debatte stehenden Handlungen in weltfremder Weise außer acht lassend“. Was an beiden semantischen Stipulationen das philosophisch Langweilige ist, ist klar: sie markieren himmelschreiende Fehler, nicht Ethiken. Literatur FEHIGE, Christoph / MEGGLE, Georg: Help! Who knows the difference between consequentialist and deontological ethics? A request for assistance (in progress). HILLGRUBER, Andreas: Zweierlei Untergang. Berlin 1986. KANT, Immanuel: Werke in 10 Bänden, hrsg. W. Weischedel, Darmstadt 1960-64, Bd. VIII. LÜBBE, Hermann: Politischer Moralismus. Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft, Berlin 1987. RADBRUCH, Gustav: Rechtsphilosophie, Stuttgart 51956. SCHELER, Max: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Halle 21921. WEBER, Max: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 31968. Ders.: Gesammelte politische Schriften, Tübingen 41980. 8 Musterbeispiel für ein triviales Gebot wäre etwa: „Handle richtig!“ oder (noch häufiger zu hören:) „Machs gut!“