Familiengeschichten - Jüdische Allgemeine

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Familiengeschichten - Jüdische Allgemeine
JÜDISCHE WELT
SPANIEN
Familiengeschichten
Ein Rabbiner bringt Nachfahren von Zwangskonvertiten das Judentum
näher
15.04.2010 - von Uwe Scheele
Hotel La Motilla in einem Vorort von Sevilla: Der orthodoxe Rabbiner Nissan Ben-Avraham hat
hier am Morgen drei Spanier unterrichtet. Der 53-Jährige kommt aus Israel, seine Schüler sind
Bnei Anusim, Nachfahren von Juden, die im 14. und 15. Jahrhundert gezwungen wurden, zum
Christentum zu konvertieren. Für die Organisation Shavei Israel kümmert er sich seit einigen
Monaten um »verlorene Juden« in Spanien. In Barcelona, Alicante, Sevilla und auf Mallorca
unterrichtet er kleine Gruppen in Tora, Tradition und jüdischer Kultur. Ben-Avraham kennt die
Probleme seiner Kursteilnehmer aus eigener Erfahrung, denn er selbst wurde in Spanien geboren.
»Die Alija vor 33 Jahren war meine erste Reise nach Israel«, sagt er. Getauft worden war er
1957 in Palma de Mallorca auf den Namen Nicolau Aguiló. Sein Familienname, einer der »15
verfluchten Namen«, wies ihn als Chueta aus. So wurden die Nachfahren jüdischer Konvertiten
genannt, die von der Inquisition verfolgt wurden und bis heute rassistischen Anfeindungen
ausgesetzt sind. »Mein Cousin war in den 80er-Jahren Bürgermeister von Palma«, erzählt
Ben-Avraham. »Seine politischen Gegner griffen ihn nicht als Sozialisten an, sondern indem sie
ihn einfach als Chueta bezeichneten.«
SCHIMPFWORT Chueta ist auf der Baleareninsel bis heute ein Schimpfwort. Als Ben-Avraham
ein Kind war und seine Mutter ihm sagte, dass er auch ein Chueta ist, war er schockiert. Doch
dann setzte er sich intensiv mit seiner jüdischen Herkunft auseinander. »Das war zu der Zeit
nicht einfach, man konnte nicht offen über Judentum reden«, erinnert er sich. Trotzdem informierte er sich über jüdische Kultur, Religion, seine Familiengeschichte. »Ich wusste, dass
Israel meine Heimat war«, sagt er.
Da seine Mutter keine Chueta war – einer der ersten Fälle, denn über Jahrhunderte waren die
Chuetas gezwungen, unter ihresgleichen zu heiraten –, musste Ben-Avraham in Israel zunächst
zum Judentum konvertieren. Er studierte Tora und Talmud und lernte seine Frau kennen, mit
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der er inzwischen zwölf Kinder hat. 1991 wurde er als erster Nachfahre spanischer
Zwangskonvertiten zum Rabbiner ordiniert. Heute lebt er in der Westbank-Siedlung Shilo als
Sofer und Lehrer. Nach Spanien ist er seit seiner Alija nur dreimal gereist. In diesem Jahr wird er
jeden Monat in die alte Heimat fahren. Es ist das erste Mal, dass Shavei Israel einen so langen
Kurs in Spanien anbietet.
Schon seit vielen Jahren hat Ben-Avraham Kontakt mit Shavei Israel. Er nahm bereits am ersten
Treffen zwischen Shavei Israel und Anusim vor sieben Jahren in Barcelona teil. Der erste
Gesandte von Shavei Israel in Spanien war in Schweden geboren. Er scheiterte nicht nur an
seinen mangelnden Spanischkenntnissen, sondern auch an der ablehnenden Haltung der
örtlichen Gemeinden. Bis heute gibt es wenig Kontakt. »Die meisten Gemeinden lassen Anusim
nicht zu«, sagt Ben-Avraham. Denn offiziell seien sie keine Juden.
»Das ist eine persönliche Entscheidung jeder einzelnen Gemeinde«, sagt Moshé Bendahan, der
Oberrabbiner von Spanien. »Ich denke, dass Shavei Israel eine sehr wichtige Arbeit tut. Es gibt ein
großes Informationsbedürfnis bei Menschen mit jüdischen Vorfahren. Wir haben in den
Gemeinden keine Angebote für sie. Solche Seminare bieten einen guten Rahmen.«
KOLLEGEN In Barcelona, erzählt Ben-Avraham, sei er sehr gut aufgenommen worden und
habe sich auch mit dem dortigen Rabbiner getroffen. Doch in den anderen Orten, wo er seine
Seminare hält, gibt es bisher keine Kontakte. Vielleicht liegt dies auch an der wenigen Zeit, die
ihm zur Verfügung steht, wenn er in Spanien ist. Denn Ben-Avraham hat ein dichtes Programm.
In einem seiner Kurse geht es um das Buch des Kusari, das der spanisch-jüdische Dichter und
Philosoph Jehuda Halevi vor rund 900 Jahren zur Verteidigung des Judentums geschrieben hat.
Die Auseinandersetzung des Autors mit dem Christentum weckt bei den Kursteilnehmern
Erinnerungen an die eigene katholische Vergangenheit. »Zum persönlichen Erfahrungsaustausch
haben wir im Kurs keine Zeit, das machen die Teilnehmer im privaten Rahmen«, schränkt
Ben-Avraham ein. Anlaufstelle für Interessenten sind die regionalen Koordinatoren, die auch den
Kontakt untereinander fördern. »Wir haben eine Arbeitsgruppe gegründet, um zwischen den
Treffen mit dem Rabbi über das Gelernte zu diskutieren«, sagt Haim Fernández, Koordinator in
Sevilla. Vor vielen Jahren schon hat er Kontakt zu Shavei Israel aufgenommen, seitdem tauscht
er sich regelmäßig mit Anusim im ganzen Land aus.
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KONVERSION Spanien habe zwar ein großes Potenzial an Menschen jüdischer Abstammung,
aber das Interesse sei trotzdem eher gering, hat Ben-Avraham inzwischen festgestellt. Selbst in
Mallorca, wo die jüdischen Wurzeln noch am deutlichsten nachzuweisen sind, wollten nur
wenige zum Judentum zurückkehren. Es sind kleine Gruppen von etwa zehn Personen, die sich
zusammenfinden. »Die Teilnehmer kommen mit sehr unterschiedlichen Vorkenntnissen«, sagt
Ben-Avraham. Doch eines möchte er ganz deutlich betonen: »Dies ist kein Konversionskurs. Wir
haben keine Befugnis, den Teilnehmern den Übertritt in Aussicht zu stellen.«
Die Kursteilnehmer treten aus eigenem Antrieb in Kontakt mit Shavei Israel. Sie suchen
Hilfestellung auf der Suche nach ihrer verlorenen Vergangenheit. So auch Ben-Avrahams
Schwester, die jetzt an seinem Kurs in Palma teilnimmt. Zum Judentum überzutreten, sei
trotzdem kein Thema für sie. Nissan Ben-Avraham: »Meine Geschwister respektieren meinen
Weg, aber sie sind alle auf Mallorca geblieben. Ein Bruder führt das Kurzwarengeschäft, das sich
seit 1685 in Familienbesitz befindet. Die Familie hat es seinerzeit der Inquisition abgekauft«, hat
er herausgefunden.
Unter den Chuetas in Mallorca gebe es auch heute noch eine diffuse Angst, sagt Ben-Avraham.
Doch das Land habe sich in den 33 Jahren, seitdem er auswanderte, sehr geändert. Man könne
inzwischen auch über Judentum offen reden. Aber vielleicht ist es genau diese liberale Haltung,
die die kulturelle Identität der spanischen Anusim am meisten bedroht.
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