Hinweise für Schüler
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Hinweise für Schüler
Abitur 1999 Deutsch Gk Seite 1 Hinweise für Schüler Aufgabenauswahl: Von den vorliegenden 5 Aufgaben ist e i n e auszuwählen und vollständig zu bearbeiten. Bearbeitungszeit: Die Arbeitszeit beträgt 240 Minuten; zusätzlich stehen 30 Minuten Lesezeit für die Wahl der Prüfungsaufgabe zur Verfügung. Hilfsmittel: Duden der deutschen Rechtschreibung und/oder ein Nachschlagewerk zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung Sonstiges: − Betr. Aufgabe II: Sie können die Textvorlage nutzen. − Geben Sie auf der Reinschrift die bearbeitete Aufgabe an und numerieren Sie die Seiten fortlaufend. − Für die Bewertung gilt die Reinschrift. Entwürfe können ergänzend zur Bewertung nur herangezogen werden, wenn sie zusammenhängend konzipiert sind und die Reinschrift etwa 3/4 des erkennbar angestrebten Gesamtumfangs umfaßt. Abitur 1999 Deutsch Gk Seite 2 Aufgabe I Johann Wolfgang Goethe: Dauer im Wechsel Analysieren und interpretieren Sie das Gedicht! Aufgabe II „Als ein Meisterwerk erscheint mir ein Buch, das vor allem die Eigenschaft hat, daß es dem Wandel der Mode, der Zeit standhält, daß es sich mit seines Inhaltes, seines Geistes Vorzüglichkeiten gleichsam sieghaft durchsetzt. Ein Meisterwerk weckt sowohl erstens Rührung, als es zweitens dem guten Geschmack zu keiner Zeit Mühe verursacht, sich mit ihm zu befassen, ... Solch ein Buch besitzt etwas wie eine hypnotische Kraft; es hat Leute bezaubert, die anders aufzutreten, anders zu denken gewöhnt gewesen sind als wir, und es bezaubert nun auch uns Lebende, Moderne.“ Robert Walser (1878 - 1956) aus: Robert Walser. Sämtliche Werke in zwanzig Bänden. Bd. 18. Hg.: J. Greven. Frankfurt/M. 1986 Analysieren und erörtern Sie das Zitat! Verdeutlichen Sie Ihre Gedanken an einem literarischen Werk (Drama, Roman, Novelle oder Erzählung), das Sie im Unterricht der gymnasialen Oberstufe besprochen haben! Aufgabe III Joseph von Westphalen: Warum ich nicht Schach spiele Stellen Sie den Gedankengang des Textes unter inhaltlichem und formalem Aspekt dar! Erörtern Sie die Positionen des Autors und setzen Sie sich exemplarisch damit auseinander! Aufgabe IV Thomas Hürlimann: Flug durch Zürich Analysieren und interpretieren Sie den Text! Aufgabe V Rainer Maria Rilke: Ich fürchte mich so ... Hilde Domin: Unaufhaltsam Analysieren und interpretieren Sie zunächst das Gedicht von Rainer Maria Rilke! Ziehen Sie anschließend das Gedicht von Hilde Domin zu einem Vergleich heran! Abitur 1999 Deutsch Gk Seite 3 Text zur Aufgabe I Johann Wolfgang von Goethe (1749 - 1832) Dauer im Wechsel 5 10 15 20 25 30 35 40 Hielte diesen frühen Segen, Ach, nur eine Stunde fest! Aber vollen Blütenregen Schüttelt schon der laue West. Soll ich mich des Grünen freuen, Dem ich Schatten erst verdankt? Bald wird Sturm auch das zerstreuen, Wenn es falb im Herbst geschwankt. Willst du nach den Früchten greifen, Eilig nimm dein Teil davon! Diese fangen an zu reifen, Und die andern keimen schon; Gleich mit jedem Regengusse Ändert sich dein holdes Tal, Ach, und in demselben Flusse Schwimmst du nicht zum zweitenmal. Du nun selbst! Was felsenfeste Sich vor dir hervorgetan, Mauern siehst du, siehst Paläste Stets mit andern Augen an. Weggeschwunden ist die Lippe, Die im Kusse sonst genas, Jener Fuß, der an der Klippe Sich mit Gemsenfreche maß, Jene Hand, die gern und milde Sich bewegte, wohlzutun, Das gegliederte Gebilde, Alles ist ein andres nun. Und was sich an jener Stelle Nun mit deinem Namen nennt, Kam herbei wie eine Welle, Und so eilt’s zum Element. Laß den Anfang mit dem Ende Sich in eins zusammenziehn! Schneller als die Gegenstände Selber dich vorüberfliehn. Danke, daß die Gunst der Musen Unvergängliches verheißt, Den Gehalt in deinem Busen Und die Form in deinem Geist. (1803) aus: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. Hg.: E. Trunz. Bd. 1. Wegner 1958 Abitur 1999 Deutsch Gk Seite 4 Text zur Aufgabe III Joseph von Westphalen (geb. 1945) Warum ich nicht Schach spiele 5 10 15 20 25 30 35 40 45 [...] Schach wird für ein stilles und intelligentes Spiel gehalten, ein Spiel für scharfe Denker, für Leute mit Kopf, für Rechner, die sich nicht auf ihr Glück verlassen. Vor Schach haben sogar Gangster Respekt. Das hohe und ungetrübte Ansehen des Schachspiels ist mir schon immer auf die Nerven gegangen. Eine Sache, die keine Feinde hat, muß ihre Haken haben. Feinde hat Schach deswegen nicht, weil es den Ruf eines Intelligenz-Spiels hat. Wer also etwas gegen Schach sagt, der erhebt seine Stimme gegen die Intelligenz, und das ist unklug. Wer schlecht Schach spielt, zweifelt nie am Schachspiel, sondern immer an sich selbst. Dies ist das Perfide am Schach und mein erster Einwand: daß es als ein Meßinstrument des Denkvermögens angesehen wird. Der miserable Schachspieler muß sich für einen geistigen Schwächling halten. Aus mir spricht gereifte Erfahrung. Die wenigen Partien, die ich jemals spielte, quälten mich, ob ich gewann oder verlor. Ich bekam Kopfschmerzen, Magenzwicken, Ohrensausen und nervöse Beine. Nach jedem Spiel war mir übel. Dies alles hielt ich, mit einiger Trauer, für Symptome meiner überforderten Intelligenz. Offenbar war ich doch nicht der klare Denker, für den ich mich gehalten hatte. Das Schachspiel hatte mir meine Grenzen gezeigt. Inzwischen weiß ich längst, daß nur der Ekel mir solche Pein verursachte. Denn das edle Brettspiel hat durchaus seine widerwärtigen Züge. Unter dem Deckmantel des logischen Denkens wird auf den 64 Feldern eine gräßliche Schlacht geschlagen. Es werden Fallen gestellt, es wird umzingelt, belagert, verfolgt; es gibt Angriff und Rückzug, es werden - eine besonders verräterische Formulierung - Figuren «geopfert», bevorzugt Bauern; es wird immer mehr in die Enge getrieben, es wird gedroht, gemetzelt; es gibt immer mehr Tote und schließlich muß sich einer der beiden befeindeten Könige ergeben, oder er wird matt gesetzt. Das Schachspiel ist auf nichts als auf die Vernichtung des Gegners ausgerichtet. Es schließt unbarmherzig den glücklichen Zufall aus, der einem im Leben gelegentlich weiterhilft. Nur die Fehler des Gegners helfen einem weiter. Es ist ein Spiel ohne Gnade, ohne Charme, ohne Witz. [...] Die schönsten Elfenbeinfiguren und die raffiniertesten Züge können nicht darüber hinwegtäuschen, daß Schach ein brutales Killerspiel ist, der vornehme Vorgänger der Computer-VideoSpiele, an denen auf den Bildschirm glotzende Halbwüchsige irgendwelche Feinde bekämpfen. Überhaupt ist die Verbindung von Schach und Computer nicht von ungefähr. Denn die vertrottelte Logik des Schachspiels, die nichts als den Sieg durch ein dauerndes Vermeiden von allen nur möglichen Fehlern im Sinn hat, ist auch die dem Computer eingebleute Denkweise. Daher hat sich der Schachcomputer in jüngster Zeit auch zum Trainingspartner des leidenschaftlichen Schachspielers entwickelt. Ihm kann es jetzt der Denkstratege am Brett zeigen, daß er immer noch der Bessere ist. Denn ständig will der Schachspieler besser sein. Das hat er mit den Fußballspielern gemeinsam, aber die lehne ich auch ab. Ich lehne überhaupt alle Spiele ab, wo man gewinnt und verliert, und besonders solche, wo man Weltmeister werden kann. Das Gestrampel um den Sieg kann ich nicht normal finden. Da wird herausgefordert, da werden Titel verteidigt, da geht es ja zu wie im richtigen Leben. Wenn ich spiele, dann möchte ich mich vom Leben erholen. Das Schach aber wiederholt nur den Irrsinn der Weltgeschichte auf einem kleinen Brett. Man strengt sein Hirn ausschließlich dazu an, den Gegner möglichst schnell auszurotten, und man hat die Partie auch dann gewonnen, wenn das eigene Heer weitgehend abgeschlachtet ist. Allein der König, dieses unbewegliche Monstrum, muß geschützt werden. Abitur 1999 Deutsch Gk Seite 5 Natürlich begreifen die Schachspieler ihr Gemetzel nicht als traurige Parabel der Völkerschlachten, sondern als vergnüglichen Denksport. Man runzelt die Stirn wie ein Generalstäbler und zieht dabei an seiner Pfeife. Man übt seinen Geist. Man ist stolz auf seine überaus sinnvolle Freizeitbeschäftigung. [...] aus: Joseph von Westphalen. Warum ich trotzdem Seitensprünge mache. Wilhelm Heyne Verlag. München 1995 Abitur 1999 Deutsch Gk Seite 6 Text zur Aufgabe IV Thomas Hürlimann (geb. 1950) Flug durch Zürich 5 10 15 20 25 30 35 40 Zürich, hinterm Bahnhof, ein Morgen im Februar. Die junge Frau zeigt in die Luft, weinend, sie haben ihr, sagt sie, die Füße ausgerissen. Ihr?, die Füße? Ja, sagt sie schniefend, dort oben, dort fliegt sie, wo, was, ich verstehe kein Wort, bin verkatert, will weiter, bloß weg hier, aber die Frau, mich einholend, packt mich am Ärmel. Sie ist bleich, schmal, fast noch ein Kind. Hilf mir, sagt sie, so hilf mir doch, siehst du, dort stirbt sie, hoch in der Luft. Ich riskiere ein Grinsen. Du Arsch, schreit sie, meiner Taube fehlen die Füße, ohne Füße kann sie nicht landen, kapiert. Ein Reflex: Meine Hand greift zum Gesäß, kontrolliert das Portemonnaie. Oder will ich ihr Geld geben, mich loskaufen? Die Frau sieht plötzlich alt aus, ein keifendes Weib, trotzdem tut sie mir leid in ihren abgewetzten, löchrig dünnen Jeansklamotten, das T-Shirt voller Rotz, am Hals ein paar Stiche. Schwären, sie ist alt, ein altes Kind. Hilfst du mir?, betteln die großen, nassen Augen. Auf der Tramhaltestelle stehen die Jemands in einer Reihe. Jemand beißt die Zähne zusammen, jemand hört hin, jemand sieht weg, jemand trägt Schlaf im Gesicht und jemand blickt in den Abgrund seiner Zeitung, jetzt eine Klingel, schrill naht das Tram, paß doch auf. Idiot, meine Nerven. Meine Nerven! Die Jemands drängen sich zum Pulk und der Mann, der die Zeitung gelesen hat, klemmt sich den Abgrund unter den Arm, sauber gefaltet. Die Kindfrau glotzt vor sich hin, dann zeigt sie ein scheues Lächeln und dann, als wolle sie mir eine verbotene Ware verkaufen, tut sich ihre Hand langsam auf. Stoff? Nein, auf ihrem Handteller liegen zwei Vogelfüße, graudünne Läufe mit vier Zehen. Begreifst du jetzt, fragt sie leise, fast flüsternd, glaubst du mir? Verkehr, es ist kalt, bitterkalt, aber dort oben erscheint nun die Sonne, ein Teich aus Licht, aus Eis, auch der Himmel friert zu. Vielleicht, denke ich, hat sie tatsächlich recht, verschatte die Augen, suche den Himmel ab, aber meiner ist leer. Ich lüpfe die Achseln. Nichts, sage ich. Aber die Füße, sagt sie, hier sind die Füße! So viel hätte ich verstanden, sage ich, die Taube habe ihre Füße verloren, so daß sie nun fliegen müsse, immerzu fliegen, kreisen und steigen, ja!, schreit sie, ja, und wieder starrt sie nach oben, verzweifelt, entsetzt, nur sie, die Ermattete, hat die Augen, um den sterbenden Vogel zu sehen und das Grauen um ihn herum. Himmelsfetzen, Häuserzeilen, Kamine, Antennen. Verschwunden, sagt sie plötzlich, fort, und schließt, als möchte sie den Vogel liebkosen, ihre Hand. Wieder haben die Jemands unsere Insel erobert. Wieder blickt jemand in die Zeitung, riecht jemand nach Unglück, drängen sich alle zum Pulk, lautlos, und jemand, der seine Mappe umklammert, hat seinen Gummischuh als erster auf dem Trittgitter. Was soll ich ihr sagen? Sie wird sich, so bald es geht, in die nächste Spritze stürzen, aber den zum Fliegen verdammten Vogel läßt sie nicht aus den Augen, heute nicht, morgen nicht, sie gehören zusammen, die sterbende Taube und das Mädchen, ein Flug, ein Tanz durch die Stadt. Als das nächste Tram naht, trete ich unter meinesgleichen, die Türen flappen zu, wir rollen davon. Jemand hört hin, jemand sieht weg. Hin und wieder flackert die Sonne durch die Scheiben und irgendwo da oben fliegt dieser Vogel, der sich ein Mädchen hinterherzieht, von Wolke zu Wolke, durch den Nebel, in die Sonne. Zürich, hinterm Bahnhof, ein Morgen im Februar. aus: Thomas Hürlimann. Die Satellitenstadt. Ammann. Zürich 1992 Abitur 1999 Deutsch Gk Seite 7 Texte zur Aufgabe V Rainer Maria Rilke (1875 - 1926) Ich fürchte mich so ... Hilde Domin (geb. 1912) Unaufhaltsam Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort. Sie sprechen alles so deutlich aus: Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus, und hier ist Beginn und das Ende ist dort. Das eigene Wort, wer holt es zurück, das lebendige eben noch unausgesprochene Wort? 5 5 10 Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott, sie wissen alles, was wird und war; kein Berg ist ihnen mehr wunderbar; ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott. Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern. Die Dinge singen hör ich so gern. Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm. Ihr bringt mir alle die Dinge um. (1897) 10 15 aus: Sämtliche Werke. Band I. Insel Verlag. Frankfurt/M. 1976 20 25 30 Wo das Wort vorbeifliegt verdorren die Gräser, werden die Blätter gelb, fällt Schnee. Ein Vogel käme dir wieder. Nicht dein Wort, das eben noch ungesagte, in deinen Mund. Du schickst andere Worte hinterdrein, Worte mit bunten, weichen Federn. Das Wort ist schneller, das schwarze Wort. Es kommt immer an, es hört nicht auf, anzukommen. Besser ein Messer als ein Wort. Ein Messer kann stumpf sein. Ein Messer trifft oft am Herzen vorbei. Nicht das Wort. Am Ende ist das Wort, immer am Ende das Wort. aus: Hilde Domin. Gesammelte Gedichte. S. Fischer Verlag. Frankfurt/M. 1987