DER SPIEGEL Jahrgang 1999 Heft 44
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DER SPIEGEL Jahrgang 1999 Heft 44
Werbeseite Werbeseite DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN Hausmitteilung 1. November 1999 Betr.: Titel, Big Brother, SPIEGEL ONLINE J eder Handgriff hat im deutschen Gesundheitssystem seinen Preis, und weil das so ist, verschlingt das Geschäft mit der Krankheit immer mehr Geld – allein in diesem Jahr rund 550 Milliarden Mark. Wochenlang haben die SPIEGEL-Redakteure Jan Fleischhauer, 37, und Alexander Jung, 33, den bürokratischen Wildwuchs des angeblich besten Gesundheitswesens der Welt durchforstet. Am Ende erkannte Fleischhauer: „Das System selbst hängt am Tropf und wird ohne radikale Therapie bald kollabieren.“ Die jetzt anstehende Reform des Gesundheitswesens jedenfalls kuriert allenfalls an Symptomen. Das mag mit an den SPIEGEL 38/1999 beiden Protagonisten des rot-grünen Reformprojektes liegen. „Ministerin Andrea Fischer und SPD-Sozialexperte Rudolf Dreßler können einfach nicht miteinander“, sagt SPIEGEL-Autor HansJoachim Noack, 59. Sein Kollege Hans Halter, 61, selbst Arzt, liefert für den Titel Beispiele aus dem medizinischen Alltag; Wissenschaftsredakteur Harro Albrecht, 38, ebenfalls Mediziner und vor einigen Jahren als Krankenhausarzt in England tätig, nutzt seine Erfahrungen für einen europäischen Vergleich. SPIEGEL-Korrespondentin Michaela Schießl, 37, beschreibt den amerikanischen Weg. Es ist das zweite SPIEGEL-Titelstück zu diesem Thema innerhalb kurzer Zeit, und zweimal stand auch die in Danzig geborene Magdalena Strahl, 26, Modell – in Heft 38/1999 für neue Erkenntnisse bei der Gesundheitsvorsorge, diesmal als Opfer in den Klauen des Medizinkartells (Seite 32). eorge Orwells Roman „1984“ hat SPIEGEL-Redakteur Claus Christian Malzahn, 36, im Schulunterricht gelesen – jetzt holte er das vergilbte Stück über den „Big Brother“ aus gegebenem Anlass wieder hervor: In den Niederlanden besuchte Malzahn eine gleichnamige RealityShow, bei der sich ein paar junge Leute rund um die Uhr von 24 Kameras filmen lassen. Anders als in Orwells Roemer, Malzahn Diktatur tun sie dies aber freiwillig und gegen Bezahlung. Die täglich eine halbe Stunde lang ausgestrahlte TV-Show „Big Brother“ ist ein Quotenknüller. SPIEGEL-Mann Malzahn durfte sich in dem mit Stacheldraht, Sichtblenden und von Wachleuten gesicherten Komplex der Aufnahmestudios umsehen und mit Produktionsleiter Paul Roemer sprechen, der die Kameras dirigiert. „Mit der guten alten Fernsehwelt von Rudi Carrell hat diese Show so viel zu tun wie ein Sofa mit einem Nagelbett“, beschreibt Malzahn den bizarren Gipfel des Voyeurismus.Vorbereitungen für eine deutsche Ausgabe laufen bereits (Seite 136). D as Internet entwickelt sich explosionsartig – auch als journalistisches Medium. Fünf Jahre nach seinem Start erreicht SPIEGEL ONLINE mehr als 1,14 Millionen User pro Monat. Mit einem Plus von 252 000 Anwendern gewann die SPIEGEL-Tochter laut „Allensbacher Computer- und Telekommunikationsanalyse ’99“ im Vergleich zum Vorjahr mehr neue Nutzer als jede andere Online-Ausgabe von Zeitschriften. „Im kommenden Jahr werden Nachrichten von SPIEGEL ONLINE auch per Handy zu empfangen sein“, verspricht ONLINE-Chef Hans-Dieter Degler. Im Internet: www.spiegel.de d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 3 C. v. FLYMEN / HOLLANDSE HOOGTE G Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite In diesem Heft Titel Gesundheitssystem vor dem Infarkt ................ 32 Kostentreiber Krankenhaus ............................. 40 Wer hat in Europa das beste Gesundheitswesen?.......................................... 47 Die amerikanische Zwei-Klassen-Medizin ....... 54 Gesundheitsministerin Andrea Fischer und SPD-Gesundheitsexperte Rudolf Dreßler liefern sich ein Dauer-Duell ............................. 58 Kampf um den linken Weg Seiten 22, 28, 160 Kommentar Rudolf Augstein: Er kuscht .............................. 24 Wende und Ende des SED-Staates (6) „Rücktritt ist Fortschritt“ – Millionenprotest gegen Krenz ..................... 91 Porträt: Markus Wolf – der Mann mit tausend Gesichtern............................... 104 Analyse: Zensur ohne Zensor.................... 108 Wirtschaft Trends: Schnelles Aus für das AKW Obrigheim? / Springer & Jacobi-Gründer kritisiert die Phantasienamen der Fusionskonzerne ...................................... 113 Geld: Analysten setzen auf Handy-Aktien / Wer profitiert vom Weihnachtsgeschäft im Internet?.................................................... 115 Wirtschaftspolitik: Die machtlosen Berater im System Schröder........................... 116 Ein Ex-Lafontaine-Berater über das Chaos im Regierungsapparat..................................... 118 Autoindustrie: Boomender Handel mit gefälschten Ersatzteilen............................ 120 Asien: Immobilienkrise in Schanghai............. 122 HypoVereinsbank: Der tiefe Fall des Eberhard Martini ..................................... 124 Biotechnik: Forscher drängen ins Management ............................................. 126 Risikokapital: Deutsche Bank beteiligt sich am Formel-1-Imperium............................ 130 Fischer, Schröder Regierung: Experten ohne Einfluss Wirtschaftsbosse rebellieren gegen die Berliner Wirtschafts- und Finanzpolitik. Sie wissen: Die Regierung kann auf exzellente Berater zurückgreifen – aber sie tut es kaum. Männer wie Staatssekretär Tacke, einst Krisenmanager in Niedersachsen, und Staatssekretär Mosdorf, Internet-Experte und Stratege, liefern Konzepte, die keiner nutzt. Schlag gegen die Korruption 6 Seite 78 Ein globales Abkommen verunsichert deutsche Unternehmen. Bisher durften sie hohe Schmiergelder zahlen, um Geschäfte im Ausland zu machen. Künftig müssen Manager auch daheim mit Strafe rechnen, wenn sie – wie Thyssen beim Panzer-Export – schmutzige Tricks anwenden. Thyssen-Panzer „Fuchs“ Der Tod eines Schnulzensängers BISCHOFF Medien Trends: Die internen Quotenvorgaben der ARD / Verona Feldbusch und die „Bild“-Auflage ......................................... 133 Fernsehen: Sensationelle Erfolgsquote für „Arche Noah“ / Start der umstrittenen Polit-Satire „Wie war ich, Doris?“ .................. 134 Niederlande: Die „Big Brother“Fernsehshow macht die Holländer zu einem Volk von Voyeuren.......................... 136 Journalisten: Die Watergate-Enthüller in der Kritik ................................................... 140 Zeitschriften: Der neue Markt mit Blättern für Computerspiele ........................................ 145 Seite 116 BMVG 100 Tage im Herbst AP Deutschland Panorama: Bezahlter Beamten-Protest / Wem gehört Schindlers Liste? .......................... 17 Regierung: Der Bruch wird sichtbar ............... 22 Umfrage: Die Meinung der SPD-Mitglieder über Gerhard Schröder und die Zukunft der Regierung........................ 28 CSU: Wie Edmund Stoiber als Zukunfts-Kanzler durch Amerika tourt ........... 62 Zwangsarbeiter: Druck auf zahlungsunwillige Firmen ................................ 64 Naturschutz: Aufruhr am Wattenmeer ........... 68 Gewalttäter: Raue Sitten unter Amateur-Fußballern......................................... 72 Schmiergelder: Abkommen gegen Korruption verunsichert deutsche Unternehmen ................ 78 Tiere: Wildschwein-Plage in Berlin.................. 84 Gesundheit: Hepatitis-Opfer kämpft gegen Blutindustrie.......................................... 88 Urteile: Haftung für Jahr-2000-Fehler ............ 110 RAF: Spur nach Italien .................................... 111 Was ist sozialdemokratisch? Die Sozialistische Internationale streitet über den richtigen Weg ins nächste Jahrhundert. Traditionalisten wie in Frankreich stehen gegen das Dritte-Weg-Duo Gerhard Schröder und Tony Blair. Linke Rede, rechtes Handeln scheint derzeit die Devise zu sein. Der Kanzler hat damit, nach einer EmnidUmfrage für den SPIEGEL unter SPD-Mitgliedern, seine Partei unerwartet geschlossen hinter sich gebracht. Seine rot-grüne Regierung aber steht nach dem heftigen Panzerkampf mit Joschka Fischer so zerrüttet wie noch nie da. Schlagerstar Gildo (1995) d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Seite 150 Tiefbraune Haut, lakritzschwarze Haare, tadelloser Anzug – 40 Jahre lang versuchte Rex Gildo, sein Image als schöner Frauenschwarm zu konservieren. Nach Gildos tödlichem Fenstersturz kritisieren nun Kollegen die Gnadenlosigkeit des Showgeschäfts. Der frühe Erfolg des Schlagersängers („Fiesta Mexicana“) verblasste, die Plattenverkäufe schrumpften, Gildo musste bei Betriebsfeiern und Stadtfesten auftreten. Schlagzeilen machte er zuletzt vor allem mit persönlichen Krisen und Misserfolgen. Gesellschaft Szene: Modemacher setzen auf wattierte Abendroben / Sachbuch über die Regeln des guten Gesprächs ..................... 149 Stars: Der Todessturz des Sängers Rex Gildo und das Schlagergeschäft............... 150 Fortpflanzung: Ein US-Fotograf offeriert Eizellen von schönen Models ......................... 154 SPL / AGENTUR FOCUS Die Geheimnisse der Osterinsel Seite 218 Sport Fechten: Emil Becks rüde Methoden ............ 204 Staatsanwaltschaft ermittelt in Tauberbischofsheim wegen Betrugs und Urkundenfälschung................................. 206 Wissenschaft • Technik Seiten 204, 206 Prisma: Weltkarte der Artenvielfalt / Kunstnase riecht Bakterien ............................ 215 Ethnologie: Rätseltexte und Sexrituale – geheimnisvolle Hochkultur der Osterinsel ..... 218 Medizin: Blutdruckmittel als Pille für den Mann ................................................. 226 Debatte: Teilchenforscher Hans Graßmann über den Ausverkauf der modernen Physik .... 232 Umwelt: Großbrände in Chinas Kohleflözen.................................................... 238 Automobile: Der neue Lamborghini Diablo... 246 Computer: Droht zu Silvester der Atomkrieg aus Versehen?......................... 248 HORSTMÜLLER (li.); MÜLLER-ELSNER / AG. FOCUS (re.) Beck, Fechterinnen Fichtel, Funkenhauser, Bau Panorama: Neue Großmachtpläne aus Belorussland / Nordkoreas C-Waffen....... 157 Sozialdemokratie: Showdown zwischen Europas Erneuerern und Traditionalisten....... 160 Frankreichs Europaminister Pierre Moscovici über den Richtungsstreit ..... 164 SPIEGEL-Gespräch mit Anthony Giddens über seine Vision einer modernen Sozialdemokratie .......................... 168 Tschetschenien: Feldzug gegen Zivilisten .... 174 USA: Geisterflug in den Tod ........................... 176 Balkan: Hombachs unmögliche Mission ........ 180 Schweiz: Rechter Volkstribun untergräbt Parteienkonsens ............................................. 182 Rumänien: Leprakolonie am Donaudelta ...... 183 Kroatien: Tudjmans Stern verblasst ............... 194 Malta: Der zaudernde EU-Kandidat.............. 198 Steinskulpturen auf der Osterinsel Risse im Fechtimperium Die Erfolge seines Fechtzentrums in Tauberbischofsheim zogen Politiker an und spülten Fördergelder in die Kasse. Doch jetzt kommen skandalöse Details aus dem Sportimperium des Emil Beck ans Licht: Über Jahre hat der Trainer seine Sportler schikaniert und unter Druck gesetzt. Obendrein wird wegen Betrugs und Urkundenfälschung ermittelt. Ausland Sie errichteten monumentale Steinfiguren, feierten obskure Kultfeste und entwickelten ein eigenes Schriftsystem – abgeschottet vom Rest der Welt, schufen die Bewohner der Osterinsel ein fernes Fantasia. Jetzt glaubt ein Bremer Sprachforscher, die Rätselschrift der im letzten Jahrhundert untergegangenen Hochkultur im Südpazifik entziffert zu haben. Handeln die aus Strichmännchen zusammengesetzten Geheimtexte von rauschenden Sexritualen? Wurden auf einem ZeremonienFelsen die geschlechtsreifen Mädchen des Inselvolks zwangsweise entjungfert? Kultur Irrwege der modernen Physik Szene: Kuriose Attacke auf Kunstwerk in London / Johnny Depp spielt Kokain-Dealer .. 253 Autoren: Tagebücher aus der Nazi-Zeit machen Furore ............................................... 256 Schilderungen einer Freiburger Jüdin ............ 260 Sprache: Interview mit dem Schimpfwort-Experten Hans-Martin Gauger über die Kunst des Fluchens in Europa .......... 263 Geschichte: Wie Bayernkönig Ludwig II. seine Geld- und Liebesnöte beklagte ............. 266 Schriftsteller: Die Exil-Kubanerin Daína Chaviano und ihr Roman „Havanna Blues“ ... 272 Bestseller ..................................................... 273 Film: Pedro Almodóvars Melodram „Alles über meine Mutter“ ............................ 274 Kino: Frankreich im Jeanne-d’Arc-Fieber ........ 276 Pop: Interview mit den Rock-Veteranen Crosby, Stills und Young über die Wiederkehr ihrer legendären Band .......... 278 Seite 232 Die Chaostheorie verbreitet in vielen bunten Büchern nur Inhaltloses; das Hamburger Großforschungszentrum Desy produziert nur irrelevante und uninteressante Ergebnisse – mit diesen Thesen provoziert der deutsche Physiker Hans Graßmann, selbst Mitentdecker des Top-Quarks, in einem Beitrag für den SPIEGEL. Seite 266 Er schätzte Wagner-Musik, wohlgebaute Männerkörper und üppig ausstaffierte Schlösser. Bayernkönig Ludwig II. war ein triebhafter Verehrer des Schönen und deswegen stets in Geld- und Liebesnöten. Das Ausmaß seiner Pein belegen Briefe, die nun versteigert werden – Skandalstoff für Royalisten. König Ludwig II. d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 AKG Ludwigs Lust-Postillen Briefe ................................................................ 8 Impressum............................................... 14, 284 Leserservice ................................................. 284 Chronik.......................................................... 285 Register ........................................................ 286 Personalien................................................... 288 Hohlspiegel/Rückspiegel ............................ 290 7 Briefe „Wer eine handfeste, www-freie Bildung in den Kernfächern genossen hat und nicht allzu verkrampft auf das Wort Computer reagiert, kommt auch spielend im Cyberspace klar und schafft es, das Übermaß an Informationen zu filtern.“ Markus Schlobohm aus Kiel zum Titel „Kinder im Netz“ SPIEGEL-Titel 42/1999 Hort der Ausbeutung Nr. 42/1999, Titel: Kinder im Netz Man muss kein wertkonservativer Fortschrittsfeind sein, um die Vereinnahmung von Teilen insbesondere der heutigen Jugend und die Art und Weise, wie sie mit oder ohne Begeisterung „auf Linie“ („online“), auf den Kurs des technisch-ökonomisch dominierten Zeitgeistes konditioniert wird, zu den größten Gefahren für unsere westliche Kultur und Zivilisation und für ein gesundes zwischenmenschliches Miteinander in unserer Gesellschaft zu rechnen. Dr. Ronald Kroczek Viele Pädagogen gehören in Deutschland mit zum Konservativsten, was dieses Land zu bieten hat. Im Bereich Medienpädagogik wird auch von professionellen Pädagogen immer wieder mit dem gesunden Menschenverstand argumentiert. So werden Süchte, die Ursachen von Gewalt, Unruhe, motorische Störungen pauschal den Medien zugeschrieben. Die audiovisuellen und interaktiven Medien sind der potenzielle mächtige Gegner vieler Pädagogen. Bei näherer Betrachtung der Ausbildung von Pädagogen fällt auf, dass der Anteil von Medienpädagogik in der Ausbildung verschwindend gering ausgefallen ist, falls es überhaupt einen Anteil gab. Dies grundlegend zu ändern dürfte eine der Bildungsaufgaben des nächsten Jahrhunderts ein. Melzingen (Nieders.) Pädagogen und Psychologen sollten nicht unschuldigen Kindern ihre Naivität und damit auch ihre Kreativität und ihre Kindheit entreißen, sondern vielmehr in einer Selbststudie die verhaltensverändernden Wirkungen der audiovisuellen Medien am eigenen Leibe beobachten. Herdecke (Nrdrh.-Westf.) Benjamin Schubert Der tiefere Sinn des Internet ist die totale Kommerzialisierung. Selbst das Letzte, das man bisher noch ziemlich kostenlos und ohne zeitliches Limit haben konnte wie: Das Cyber-Team Wollte Karl Marx die heutige gesellschaftliche Realität beschreiben, er müsste das Internet als einen Hort der Ausbeutung wenig wissender Menschen durch wenige wissende Schulkinder am Computer Menschen entlarven. Allerdings Unerwünschte Personen einfach wegbeamen wird dabei nicht etwa die Arbeitskraft der Mitbürger rücksichtslos als Leute sehen, mit ihnen sprechen und Ware vereinnahmt, sondern deren Seele. mehr … das alles wird jetzt in kleinlichen Clifford Stoll sei Dank, dass er uns die- Zeiteinheiten abgerechnet. Der eigentliche sen faustischen Zusammenhang deutlich Knackpunkt, warum der Umgang mit dem macht. Computer so bestechend ist: Auf jeden einHann. Münden Helmut Strunz zelnen Schritt folgt sofort das Feedback. Und das kann der User umgehend beeinIch habe mich über Mediennutzung und flussen. Man kann unerwünschte Perso-wirkung in meinen Veröffentlichungen nen und Infos einfach wegbeamen – wie in keinesfalls in der Diktion von Propheten den Science-Fiction-Movies oder früher geäußert, sondern Fakten aus empirischen in den Märchen. Das Argument, das DenForschungen dargestellt beziehungsweise ken in größeren Zusammenhängen ginge mich mit diesen kritisch auseinander verloren, zieht auch nicht: Wem hatte gesetzt. Dass es schon längst größere Grup- das bis zum Erscheinen des Internet ge- Vor 50 Jahren der spiegel vom 3. November 1949 Bonn und Frankfurt buhlen um den Regierungssitz Heikles Thema. 12 Todeskandidaten hoffen in der Festung Landsberg noch auf Gnade Hat es Misshandlungen während des Verfahrens gegeben? Amerikas Marinechef ging in der „Schlacht um das Pentagon“ über Bord Die Luftwaffe siegte beim Kompetenzgerangel. „Bund der Steuerzahler“ gegründet Streng föderalistisch und Finger weg von der Politik. Der norwegische Nobelpreisträger Knut Hamsun schildert die Jahre 1945 bis 1948: „Auf überwucherten Pfaden“. Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter http://www.spiegel.de Michael Kobbeloer Das „Cyberland“ ist eine von Jugendlichen für Jugendliche gemachte virtuelle Welt im 8 Prof. Dr. Werner Glogauer Universität Augsburg Werner Mainz Die Thesen von Clifford Stoll treffen genau den Punkt. Computer und Fernsehen als vorherrschender Lebensinhalt stehlen Lebenszeit. Ein spielerischer Lerneffekt ist zwar zu erwarten, aber nur in Bezug auf den noch perfekteren Umgang mit der Technik, die längst zum Selbstzweck verkommen ist. Ein Leben oder Lernen findet vor den Screens nicht statt. Witten Berlin Augsburg Titel: Der britische Film-Aristokrat Alexander Korda d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 GAMMA / STUDIO X Merzenich (Nrdrh.-Westf.) Internet. Die Aufgabe unseres Seminars ist es, das Cyberland aktiv und passiv zu nutzen und auszubauen beziehungsweise Räume zu gestalten. Wir denken nicht, dass von uns erstellte und genutzte Räume wie die Kuschelhöhle, der Hexenraum oder die Gruft unsere Internet-User, in diesem Fall die Jugendlichen, psychisch gefährden. Die beste Seite an dem Projekt ist, dass wir, die Jugendlichen, selbst bestimmen können, wie das Cyberland aussieht und dass es auch in Zukunft von Jugendlichen organisiert und verwaltet wird. pen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen gibt, die durch entsprechende Medieneinflüsse „hörgeschädigt, sehbehindert, gewalttätig, psychomotorisch unterentwickelt“ und anderweitig geschädigt sind, darüber kann sich jeder, der nur will, in entsprechenden Veröffentlichungen informieren. Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Briefe nutzt? Trotz Erkennens der tollsten Zusammenhänge ist in den letzten Jahrtausenden alles Unheil dieser Welt geschehen. Aber nicht nur das Unheil. Isernhagen (Nieders.) Hervorragende Ergebnisse Nr. 42/1999, Medizin: Kassen sollen für umstrittene Krebstherapie zahlen Regin Reuschel Das Lamentieren der Krankenkassen über die Kosten der Tumorvakzine ist höchst unverständlich, da beim Nierenkrebs erweislich unwirksame Strahlen- und Chemotherapien bezahlt werden, obwohl diese Methoden weitaus kostspieliger sind, da Es wurden keine Alternativen zum üblichen Umherklicken aufgezeigt. Es gibt nämlich sehr wohl Projekte, die einen Gegenpol zu Ballerspielen und Klickibunti schaffen können. Frank Rosengart Wenn Internet als Lernobjekt und Lernsubjekt breit an Schulen eingeführt wird, bekommen wir nicht nur Computerfreaks, die sich als megalomane Nichtskönner profilieren, sondern wir bekommen auch achtelgebildete Klickfreaks, die die Maus für ein Lebewesen und den Bildschirm für ihren Lebens-Interaktionspartner halten. Lernen heißt sich verändern und nicht ein von einem viertelgebildeten Programmierer vorgedachtes Programm abnudeln können. Im Internet kann man nichts lernen! Denken und Intelligenz ist gefragt, nicht dumpfes Tastaturbedienen, Bildschirmglotzen und affenartiges Nachvollziehen sinnloser Operationen. Computer schaffen eine Kunstwelt, die genauso rudimentär ist wie künstliche Intelligenz gegenüber menschlicher Intelligenz. Kelkheim (Hessen) Henning Pawlik Mit Clifford Stoll endlich auch eine kritische Stimme gegen die Bertelsman(n)ie! Nur: Die Interaktivität der Programme als Lüge zu entlarven und die Okkupation der Phantasie als Gleichschaltung zu erkennen trifft nicht den Kern. Weit wichtiger ist die Erziehung zur Folgenlosigkeit des eigenen Handelns am Schirm – Klick: Löschen, Klick: Neues Spiel – das permanente NichtVerantwortlichsein. Bielefeld Heinrich Bauersfeld Das Denken in Zusammenhängen nach einem Ursache-Wirkung-Prinzip wird immer mehr in den Hintergrund gedrängt. Ein möglicher Ansatz, dem entgegenzuwirken, wäre eine Neuausrichtung der Medienerziehung in der Schule. Schwerpunkt dabei sollte nicht die Anwendung der Neuen Medien sein, sondern die historische Entstehung der Medien, ihr Einfluss auf die Meinungsbildung und Auswirkungen auf die Gesellschaft. Mit einer solchen Grundlage würde ein ganz neuer Bezug im Internet hergestellt. Thornbury (England) 12 Laboruntersuchung in der Urologie Lamentierende Krankenkassen sie in der Regel das Zehnfache einer ASI-Therapie kosten. Es konnte zu den in die Rechtsstreitigkeiten mündenden Leistungsablehnungen durch die Krankenkassen nur kommen, weil die Krankenkassen die Versicherten im Unklaren darüber gelassen haben, dass autologe Tumorvakzine als verordnungs- und verkehrsfähige Arzneimittel auf Kassenrezept verschrieben werden können. Bad Schwartau (Schl.-Holst.) Joachim Ludewig Boris Ludewig Rechtsanwälte Die Befürchtung „renommierter deutscher Krebsärzte“ und Krankenkassen, das berichtete Urteil des LSG Celle könnte zweifelhaften Therapiemethoden Tür und Tor öffnen, ist unbegründet. In einer Studie an Brustkrebspatientinnen waren über fünf Jahre nach Operation und ASI-Nachbehandlung nur 5 von 32 Patientinnen verstorben, während in einer Kontrollgruppe mit ähnlichem Risiko 16 von 31 Patientinnen verstarben. Basierend auf den hervorragenden Ergebnissen der ersten klinischen Studie wird nun eine größere Studie europaweit an 600 Patientinnen durchgeführt. Heidelberg Marcus Rheker d e r Dr. Thorsten Ahlert Rot und rüstig Jesko Horaczek Internet-User werden von Mr. Stoll in das Licht kontaktgestörter Techno-Zombies gerückt, die den PC dazu missbrauchen, das eigene Gehirn abzuschalten. Wie schnell Lerneffekte via Net und moderner Technik entstehen können, beobachten wir täglich. Frankfurt am Main N. MICHALKE Berlin Nr. 42/1999, PDS: Der unaufhaltsame Aufstieg der SED-Nachfolger Nur keine Angst: Die Prozentrechnungen täuschen, weil sie die zweitstärkste Partei, die Nichtwähler, einfach fortlassen. In absoluten Zahlen und im Vergleich mit der letzten Wahl, nämlich zum Bundestag vor einem Jahr, sieht alles anders aus. In den drei neuen Ländern hat die PDS ein Fünf- s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 tel ihrer Wähler verloren, in Berlin gerade mal 13 000 Stimmen dazugewonnen – die CDU mit 175000 fast 14-mal mehr! Die SPD hat sich in Berlin dramatisch halbiert, von ihrem Verlust gingen aber maximal nur 3 Prozent zur PDS, die gerade mal 11,5 Prozent aller Wahlberechtigten für sich gewinnen konnte. Im Funktionärsghetto des Bezirks Marzahn und einem der beiden Mitte-Wahlkreise, dem Regierungswohnviertel der SED, erlebte die PDS ihren Rekord: Sie gewann dort freilich nicht einmal die Hälfte der Wahlberechtigten. Für Jungwähler war die PDS, die sich als ,,rot, radikal, rüstig“ vorgestellt hatte, nun wirklich nicht attraktiv, weshalb sie beim nächsten Mal laut einem Bundesvize für die Legalisierung von Hasch werben will. Berlin-Charlottenburg Jürgen Rüdiger Defekt an der Ölpumpe Nr. 43/1999, Zeitungen: Der neue Berlin-Teil der „FAZ“ DPA Es freut mich, dass Andreas Lebert die neuen Berliner Seiten der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ gefallen. Jedoch erfindet er in seinem Artikel ein paar Dinge, die der Richtigstellung bedürfen. Die Behauptung, ich hätte für die Berliner Seiten das „FAZ“-Magazin sterben lassen, ist unwahr. Die Schließung des „FAZ“-Magazins hat mit der Gründung der Berliner Seiten nichts zu tun. Vielleicht können ja in der Wochenzeitung „Die Zeit“, deren Redaktion „Leben“ Andreas Lebert betreut, einzelne Herausgeber Zeitungsteile nach Belieben öffnen oder schließen. In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ geht das nicht. Lebert schreibt, er habe irgendwo zwischen Restaurant Borchardt und dem S-Bahnhof Friedrichstraße gehört, es sei wegen einer Glosse von mir über den Feuilletonchef der „Berliner Zeitung“ mit der Redaktion der Berliner Seiten zu einem Streit gekommen und der Drucktermin verpasst worden, so dass die Ausgabe vom Schirrmacher 30. September nicht erscheinen konnte. Kein Wort ist wahr. Weder habe ich je eine solche Glosse geschrieben noch angeboten. Noch gab es Streit, noch ist der Andrucktermin verpasst worden. Der liegt für die Berliner Seiten bei Mitternacht. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich die Redakteure der Berliner Seiten schon auf dem großen Fest von Andreas Lebert und der „Zeit“. Die Berliner Seiten vom 30. September konnten, wie den Berliner Lesern mitgeteilt, wegen eines Defekts an der Ölpumpe in der Druckerei in Potsdam nicht erscheinen. Frankfurt am Main Dr. Frank Schirrmacher Herausgeber der „FAZ“ d e r 4 4 / 1 9 9 9 s p i e g e l Briefe heit, RAF, USA: Clemens Höges; für 100 Tage im Herbst: Jochen Bölsche; für Fernsehen, Szene, Stars, Fortpflanzung, Autoren, Sprache, Geschichte, Bestseller, Kino, Pop: Wolfgang Höbel; für Niederlande, Panorama Ausland, Sozialdemokratie, Tschetschenien, Schweiz, Rumänien, Kroatien, Europa: Dr. Olaf Ihlau; für Fechten: Alfred Weinzierl; für Prisma, Ethnologie, Medizin, Debatte, Umwelt, Automobile, Computer: Olaf Stampf; für die übrigen Beiträge: die Verfasser; für Briefe, Register, Hohlspiegel: Petra Kleinau; für Personalien, Rückspiegel: Gudrun Patricia Pott; für Titelbild: Thomas Bonnie; für Layout: Rainer Sennewald; für Hausmitteilung: Hans-Ulrich Stoldt; Chef vom Dienst: Thomas Schäfer (sämtlich Brandstwiete 19, 20457 Hamburg) TITELFOTO: Monika Zucht 14 Münster Prof. Dr. Hanko Bommert Fachbereich Psychologie Uni Münster Matthias Matussek mag Frauen nicht. Ganz besonders aber gehen ihm die Erfolgreichen auf die Nerven. Jedoch, die Demontage von Sabine Christiansen ging daneben. Eigentor! Zu viel gequältes Aufjaulen eines Missgünstigen, der den Erfolg einer Kollegin kaum verkraftet. Matussek kann d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Pforzheim Heide Bentner Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit Anschrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen. Einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe ist eine Postkarte der Firma Deutsche Telekom, Bonn, beigeklebt. In einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe liegen Beilagen der Firmen Akademische Arbeitsgemeinschaft, Mannheim, Handelsblatt/WiWo, Düsseldorf, FED EX, Kelsterbach, und Hewlett Packard, Böblingen, bei. ACTION PRESS J. MODROW und Überwälzung es drehen und wenden, wie er will: Sabine von sechs Milliarden Christiansen macht ihre Sache gut. Sehr Mark zusätzlicher gut sogar. Pensionslasten auf Amriswil (Schweiz) Julia Onken den Bund. Ab 2000 übernimmt der Bund Ich hätte mich an dem Gespräch nicht beaußerdem weitere teiligt, wenn ich gewusst hätte, dass es nur 2,5 Milliarden Mark das Feigenblatt für eine Anti-Christiansenpro Jahr. H. G. Bern- Aktion ist. So weit, so schlecht: Häme als rath ist jetzt als Ge- Gesellschaftsspiel, man lernt dazu und ist neralbevollmächtig- gewarnt. ter der Deutschen Mainz Ruprecht Eser Post AG eingekauft. „Halb 12“-Moderator Wenn er nun dank politischer Kontakte Um in der ihr vertrauten Fliegersprache sicherstellt, dass der zu bleiben: Frau Christiansen fühlt sich in Post-Vorstand so wei- ihrer Sendung jeden Sonntagabend wie termachen darf wie eine Chefpilotin im Cockpit, entpuppt sich Briefzentrum (in Hamburg): Aktienoptionen für den Vorstand? bisher – und Hans aber leider für die hoch überlegenen Gäste Eichel fleißig wegschaut – und sogar noch rasch als überfordertes Bodenpersonal. eine Verlängerung des Briefmonopols er- Neuss Frank-Michael Rall Rote Zahlen reicht, ist der Senior sicher sein Geld wert. Nr. 42/1999, Post: Gefahr für den Börsengang Mögliche Aktienoptionen winken für den Die einzige in Deutschland vorzeigbare Vergleicht man die Zahlen von 1995 mit Vorstand, aber für künftige Aktionäre und Talkshow ist die von Sabine Christiansen. den Zahlen von 1998 und berücksichtigt die Beschäftigten sieht die Welt leider nicht Ihr breit gestreuter Erfolg wird durch Millionen von Zuschauern jeden Sonntagdabei die Steuerersparnis von mindestens so rosig aus. abend bestätigt. Diese widerliche Neidmas1,5 Milliarden Mark, dann zeigt sich, dass Stuttgart Monika Schäfer turbation ist zum Kotzen. Von so viel Breidie Deutsche Post AG ihr Ergebnis nicht tenwirkung, wie sie Sabine Christiansen um 1,1 Milliarden Mark verbessert, sonerzielt, kann ein Printjournalist eben nur dern um 315 Millionen Mark verschlechtert Gequältes Aufjaulen träumen. hat. Bisher hat es die Deutsche Post AG Nr. 42/1999, Talkshows: Wie Oskar Lafontaine die nicht geschafft, den Paketdienst aus den Christiansen-Runde beherrschte; SPIEGEL-Gespräch Berlin Dr. Detlef R. Peters mit Sabine Christiansen und Ruprecht Eser roten Zahlen herauszubringen. Weitere rote Zahlen sind durch die vielen ZukäuSelten habe ich einen so treffenden Artikel fe von Unternehmen und den Erwerb von Die Plaudertasche Sabine Christiansen im SPIEGEL gelesen wie die Beschreibung Beteiligungen an Unternehmen im Aus- sollte ihre Ansprüche herunterschrauben: der Christiansen-Talkshow mit dem Erzland zu befürchten. Von einem Börsengang Ihre Polit-Talker gehen eben nicht über die Egomanen Lafontaine. Solchen Personen der Deutschen Post AG im nächsten Jahr gestanzten Antworten hinaus, die man in- sollte die Möglichkeit, sich immer wieder kann wohl nicht die Rede sein. und auswendig kennt. Vielleicht wär’s ja in Szene zu setzen, verwehrt werden. Zuanders, wenn die Frau ihre Sendung Offenbach Wilhelm Hübner nicht nur zur Selbstdarstellung nutDVPT – Deutscher Verband für Post zen, sondern ihre Gäste schlicht und und Telekommunikation e. V. einfach ausreden lassen würde. Wieso ist der Börsengang der Post extrem Kirchdorf (Bayern) Heinz Mettig gefährdet? Der Vorstandsvorsitzende hat doch alles getan, um aus einem „staubigen Gute Interviews oder Moderationen Beamtenapparat“ ein dynamisches Unter- setzen ausreichende handwerkliche nehmen zu machen: Verkauf des milliar- Kompetenzen voraus. Bevor Moderadenschweren Familiensilbers, Reduzierung toren aber Kurse in Vulgärpsycholoder Mitarbeiter von 308 500 (1995) auf gie besuchen, sollten sie es zunächst 243 000 (1999), Schließung von Filialen, einmal mit zwei Grundregeln versuPreiserhöhung im Monopolbereich Brief, chen: Fragen mit dem Ziel des Informationsgewinns und nicht zur Eigen- Moderatorin Christiansen, Buchautor Lafontaine profilierung zu stellen, ferner sich auf Nichts als gestanzte Antworten die Antworten der Gesprächspartner VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Panorama, zu konzentrieren anstatt schon gedank- mal noch in einer Sendung, die oft genug Regierung, Umfrage, Zwangsarbeiter, Urteile: Michael Schmidtlich die nächste Frage vorzubereiten und von der an sich sympathischen Sabine Klingenberg; für Titelgeschichte, Trends, Geld, Wirtschaftspolitik, Autoindustrie, Asien, HypoVereinsbank, Biotechnik, Risikodamit Ansatzpunkte zum Nachhaken zu Christiansen peinlich unjournalistisch nur kapital, Journalisten, Zeitschriften, Chronik: Gabor Steingart; für verpassen. moderiert statt geleitet wird. CSU, Naturschutz, Gewalttäter, Schmiergelder, Tiere, Gesund- Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland M. DARCHINGER Panorama Großkundgebung des Öffentlichen Dienstes in Berlin BEAMTE Protest auf Spesen D emonstrieren lohnt sich: Für den Beamtenprotest gegen die Sparpolitik der Bundesregierung am 19. Oktober in Berlin hat der Deutsche Beamtenbund (DBB) seinen Mitgliedern nicht nur eine kostenlose Anreise geboten, demonstrationswillige Beamte wurden auch mit einem „Tagegeld“ von 50 Mark geködert. Geboten wurden die Spesen nicht nur DBB-Mitgliedern, sondern auch deren mitreisenden Angehörigen. Damit gebe der Beamtenbund lediglich Beitragsgelder an seine Mitglieder zurück, rechtfertigt Beamtenbund-Sprecher Rüdiger von Woikowsky die Prämie. An der Protestaktion in Berlin, zu der außer dem DBB auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) gen, mit dem das Ziel, den CO2-Ausstoß bis 2005 um ein Viertel zu senken, doch noch erreicht werden kann. Dazu fordern beide Fraktionen den „Abbau ökologisch kontraproduktiver Subventionen“. Der Anteil der Klima schonenden Kraft-Wärme-Kopplung soll deutlich erhöht, der Anteil erneuerbarer Energien bis 2010 verdoppelt werden. Außerdem müsse die Bundesregierung eine „klimafreundli- KLIMAPOLITIK Goldene Worte M. SCHARNBERG / VISUM N ach Gerhard Schröders überraschender Ankündigung auf der Klimakonferenz in Bonn, schon bis Mitte nächsten Jahres eine „umfassende nationale Minderungsstrategie für die Treibhausgase“ vorzulegen, wollen SPD und Grüne am kommenden Freitag im Bundestag wesentliche Eckpunkte fixieren. In einem gemeinsamen Antragsentwurf fordern die Regierungsfraktionen die „zügige Ratifizierung“ des Kyoto-Protokolls, damit die darin enthaltenen Pflichten zur Reduzierung der Klimagase bald wirksam werden. Spätestens im Mai müsse die Bundesregierung ein Klimaschutzprogramm vorle- aufgerufen hatte, nahmen am 19. Oktober mehr als 50 000 Mitarbeiter des Öffentlichen Dienstes teil. Der DGB hat nach eigenen Angaben keinen Protestlohn gezahlt. Geradezu luxuriöse Bedingungen bot hingegen der Landesbund Bremen des DBB: Er charterte einen Airbus A 320. Eine Anfahrt per Bus, schrieb der Landesvorsitzende Thomas Stitz vor der Demonstration an seinen Vorstand, sei „einfach zu zeitaufwendig“. Der Rückflug solle erst gegen 20 Uhr erfolgen: „Somit wäre noch ein kurzes Shopping in Berlin möglich.“ Nach „Rücksprache mit der Bundesgeschäftsstelle“, versprach Stitz, gebe es sogar höhere Tagegelder, die von den Teilnehmern aber gegen die Flugkosten aufgerechnet werden müssten. Wie viel Geld der DBB insgesamt ausgezahlt hat, konnte Beamtenbund-Sprecher Woikowsky nicht sagen. Von den Demonstranten hätten aber „viele“ kein Geld haben wollen: Die seien „aus Idealismus gekommen“. che“ Verkehrspolitik entwerfen, mit „Verkehrsvermeidung“ als oberstem Ziel. Nach einer auf der Konferenz vorgestellten britischen Studie stoßen Pkw, Lkw und Flugzeuge durch Zunahme des Verkehrs im Jahr 2010 fast 40 Prozent mehr Treibhausgase aus als 1990. Schröders Rede wird besonders im Umweltministerium hoch erfreut zur Kenntnis genommen („Der will jetzt Action sehen“). Trittins Fachbeamte waren bislang regelmäßig vom Wirtschafts- und dem Verkehrs- und Bauministerium hingehalten worden. „Die Rede“, freut sich ein Ministerialrat, „ist für uns Gold wert.“ Autoverkehr (in Hamburg) 17 Panorama KIRCHE Machtkämpfe im Vatikan Ü REUTERS ber dunkle Machenschaften im Vatikan berichtet ein Enthüllungsbuch, das in dieser Woche auf Deutsch erscheint. Um die italienische Originalausgabe hatte es bereits so viel Wirbel gegeben, dass der Berliner Aufbau-Verlag sich schon auf rechtliche Schritte des Vatikans einstellt. Verfasst hat das Werk eine anonyme Gruppe von Vatikan-Insidern. Einzig bekannt gewordener Autor der Textsammlung mit dem Titel „Wir klagen an. Zwanzig römische Prälaten über die dunklen Seiten des Vatikan“ ist der Ex-Abteilungsleiter der Ostkirchen-Kongregation, Monsignore Luigi Marinelli, der mehr als 35 Jahre im Vatikan tätig war. Die Autoren berichten von Erpressung und Vetternwirtschaft im Umfeld des Papstes, von Machtdenken und Seilschaften unter Kardinälen und Bischöfen. Marinelli plä- Ernennungszeremonie für Kardinäle auf dem Petersplatz (1998). diert deswegen für eine Reform der Kurie. Das oberste römische Kirchengericht „Sacra Rota“ hat ihn mitt- halb eine zivile Verleumdungsklage des Vatikans. Auf der Buchlerweile vorgeladen und ihm untersagt, das Buch weiterzuver- messe in Frankfurt fanden die ersten Vorabexemplare bereits breiten und in andere Sprachen zu übersetzen. In der Regel wird reißenden Absatz: Sie wurden fast alle geklaut. Auch „eine die Rota nur auf Anordnung des Papstes tätig. Zivilrechtlich hat Nonne“, so ein Verlagsangestellter, ließ das Buch verschämt sie keine Autorität. Betroffene Klerusangehörige verlangen des- unter ihrem Obergewand mitgehen. Vom Sparen verschont D er rot-grünen Koalition droht ein weiterer Konflikt: Teile der Grünen-Fraktion wollen Kürzungen bei der Inneren Sicherheit und bei den Geheimdiensten durchsetzen. Trotz des Spargebots will Finanzminister Hans Eichel die Etats von Bundesgrenzschutz und Bundeskriminalamt im Jahr 2000 um 2,5 bis 3,5 Prozent ansteigen lassen. Die Grünen erbost besonders, dass auch für das Bundesamt für Verfassungsschutz ein Zuwachs von 3,57 Prozent vorgesehen ist. Das hatte es nicht einmal in der Kohl-Ära gegeben. Innenminister Otto Schily (SPD) nennt die Zuwächse in diesen Bereichen den „wichtigsten Punkt“ seines Haushaltsplans. Auch der Bundesnachrichtendienst soll finanziell profitieren: Den rund 1000 Mitarbeitern, die in den kommenden Jahren aus München in die Hauptstadt umziehen, sind die besonders üppigen finanziellen Leistungen entsprechend den Gesetzen zum Bonn-BerlinUmzug zugesagt worden. In einem An18 trag an seinen Grünen-Fraktionsvorstand hat der Bundestagsabgeordnete Christian Ströbele gefordert, die Etats der Sicherheitsbehörden deutlich zu reduzieren. Der Fraktionsarbeitskreis Recht und Innen hat dem bereits zugestimmt. ASYLBEWERBER Kurz halten M M. DARCHINGER INNERE SICHERHEIT Schily d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 it drastischen Worten kritisiert der baden-württembergische Städtetag, dass Asylbewerber, die länger als drei Jahre in Deutschland leben, vom 1. Juni 2000 an rund 20 Prozent mehr Geld bekommen. Dies sei eine „Subvention des organisierten Menschenhandels aus Steuertöpfen“ und bringe nur mehr Kapital in das illegale Schleusergeschäft. Gleichzeitig werde es lukrativer, eine Ausreise hinauszuschieben, fürchtet Städtetagssprecher Manfred Stehle. Landesinnenminister Thomas Schäuble (CDU) will auf der Innenministerkonferenz Mitte November die Erhöhung stoppen. Dabei hatte der Bundestag genau diese Regelung 1997 mit den Stimmen der CDU beschlossen: Damals wurden die Leistungen für Asylbewerber in den ersten drei Jahren ihres Aufenthaltes unter den Sozialhilfesatz gesenkt – mit dem Argument, in dieser Zeit bestehe ein „geringer Bedarf“. Nach 36 Monaten sollte wieder der höhere Satz gelten, um eine bessere Integration zu ermöglichen. Deutschland BUNDESWEHR Frauen an die Waffen Professorin Juliane Kokott, 42, Expertin für Europarecht und deutsches Verfassungsrecht, über die Gleichberechtigung in den Streitkräften SPIEGEL: Der Europäische Gerichtshof A. GRIESCH / AG. ANNE HAMANN (EuGH) hat im Fall einer britischen Klägerin entschieden, dass Frauen auch in den Streitkräften prinzipiell mit den Männern gleich zu behandeln sind. Betrifft das auch die Bundeswehr? Kokott: Ja. Die zentralen Aussagen dieses Urteils gelten auch für die deutschen Streitkräfte. Ausnahmen von der Gleichbehandlung sind nur möglich, wenn das Geschlecht „unabdingbare Voraussetzung“ für eine Tätigkeit ist. Dies ist nach dem Urteil aber ganz eng auszulegen. SPIEGEL: Noch steht der Fall der deutschen Bundeswehr-Bewerberin Tanja Kreil beim EuGH zur Entscheidung an. Was gilt bis dahin? Kokott: Die deutsche Regelung, die Frauen generell vom „Dienst mit der Waffe“ ausschließt, ist kaum zu halten. Der Gesetzgeber tut gut daran, sich jetzt schon darauf vorzubereiten. SPIEGEL: Im Grundgesetz steht aber, Frauen dürfen „auf keinen Fall“ Dienst mit der Waffe leisten. Kokott: Es war schon immer fraglich, ob das auch für Frauen gilt, die sich freiwillig melden, wenn auch die deutschen Gerichte das bisher so gesehen haben. Europäisches Recht hat hier aber jedenfalls Vorrang vor innerstaatlichem Recht, auch vor der Verfassung. SPIEGEL: Muss also nicht einmal das Grundgesetz geändert werden? Kokott: Eigentlich nicht. Natürlich werden es Frauen schwer haben, sich schon jetzt, ohne Änderung der Gesetze, für kämpfende Truppen zu bewerben – aber sie haben das Recht auf ihrer Seite. SPIEGEL: Die Wehrpflicht gilt nur für Männer – müsste sie zur Gleichbehandlung nun auch für Frauen gelten? Kokott: Nach europäischem Recht ist es durchaus problematisch, dass nur Männer zum Wehrdienst gezwungen werden. Allerdings hat die europäische Gleichbehandlungsrichtlinie eher frauenfördernde Ziele. Der Vorteil, dass Frauen nicht zum Bund müssen, wird ja in der Regel immer noch dadurch ausgeglichen, dass sie es bei der Karriere schwerer haben. SPIEGEL: Könnte die Wehrpflicht ganz abgeschafft werden? Kokott: Natürlich, verfassungsrechtlich spricht da einiges dafür: Denn die Gewissensprüfung für Verweigerer ist ebenso heikel wie die Tatsache, dass ja gar nicht alle Männer zum Wehrdienst herangezogen werden. Bei einer Berufsarmee hätte man diese Probleme nicht. Bundeswehr-Sanitäterinnen bei einer Übung D I ÄT E N Pranger für Grüne D ie grünen Kandidaten für die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im Mai kommenden Jahres müssen sich einer peinlichen Prozedur unterziehen. Jeder der 77 Bewerber musste vor der Kandidatenvorstellung schriftlich erklären, ob er im Fall einer Wahl bis zu 2100 Mark im Monat aus seinen Diäten an die Partei abführen werde. Für die 24 Politiker, die bisher schon im Landtag sitzen, wurde zusätzlich eine Liste erstellt, die über den bisherigen „Stand d e r der Sonderbeitragszahlungen“ Auskunft gibt. Die Listen wurden bei den Kandidatenanhörungen in Essen und Düsseldorf öffentlich ausgehängt. Besonders schlecht schnitt dabei der Fraktionssprecher Roland Appel ab – sein Erfüllungsgrad liegt bei null Prozent. Er gibt an, für fünf Personen sorgen zu müssen und sich auch einen auf 1500 Mark reduzierten Spendenbetrag nicht leisten zu können. Seit Monaten versuche er mit der Diätenkommission seiner Partei, eine gerechte Lösung zu finden. Als Salär erhält ein Abgeordneter 8875 Mark plus steuerfreie 2306 Mark allgemeine Kostenpauschale. s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 19 Panorama Deutschland 20 mmer mehr deutet darauf hin, dass Oskar Schindlers berühmte Liste mit den Namen von Juden, die er vor dem Holocaust rettete, seiner Witwe Emilie, 92, zusteht. Neue Indizien dafür liefert ausgerechnet Annemarie Staehr, Schindlers letzte Gefährtin. Sie hatte einen Koffer Schindlers mit den Listen nach seinem Tod im Oktober 1974 an sich genommen, ihr Sohn hat das Material jetzt der „Stuttgarter Zeitung“ übergeben. Derzeit werden die Dokumente im Koblenzer Bundesarchiv auf Mikrofilm kopiert. Die 1988 verstorbene Staehr schrieb im Dezember 1974 an eine Schindler-Nichte, der „liebe Oskar“ habe zwar nach einer Operation noch 16 Tage gelebt, sei aber nach der Narkose nicht Schindler-Foto, Namenslisten mehr „richtig zum Bewusstsein“ Nachlass – und damit den Erben. Untergekommen. Damit scheint ausgeschloslagen über den tatsächlichen Willen sen, dass Schindler den Koffer nach Schindlers sind offenbar schwer beizudem Eingriff an Staehr verschenkt hat. bringen. In Staehrs Brief heißt es: „In Schindler, so die Freundin, habe daran seiner Wohnung, an einem genau begeglaubt, dass ihm die „an sich harmloschriebenen Platz, sollte ich nach allen se Operation“ Besserung bringen werVerfügungen suchen und ausführen – de; sogar „Pläne für danach“ habe er aber dieser Platz war leer.“ geschmiedet. Solange die „Stuttgarter gericht keinen Bestand hätte. Thierses Verwaltung erwägt nun, das Hausverbot gegen die beiden Ex-Spitzel auszudehnen und ihnen damit den Zugang zu ihrem Arbeitsplatz zu untersagen. Gysi V E R FA S S U N G S S C H U T Z Thierse SPITZEL Gysi kontra Thierse D er PDS-Fraktionschef legt sich mit Parlamentspräsident Wolfgang Thierse (SPD) an. In einem Brief an Thierse lehnt es Gregor Gysi ab, zwei umstrittene Fraktionsmitarbeiter zu entlassen. Die beiden waren 1998 wegen „geheimdienstlicher Agententätigkeit für eine fremde Macht“ auf Bewährung verurteilt worden. Deswegen hatte Thierse im Oktober deren Entlassung verlangt und verfügt, dass die beiden nicht mehr den Bundestag, sondern nur noch PDSFraktionsräume in einer Außenstelle betreten dürfen. Die PDS argumentiert, dass eine Kündigung vor einem Arbeitsd e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Anonyme Faxe E in hochrangiger Beamter des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) hat Klage gegen die Bundesregierung eingereicht. Der Leitende Regierungsdirektor war von BfV-Präsident Peter Frisch im Januar 1999 zum Bundesverwaltungsamt abgeschoben worden. Der langjährige Leiter des Sicherheitsreferats wird von Frisch bezichtigt, anonyme Telefaxe an Spitzenpolitiker geschickt zu haben, in denen ihm vorgeworfen wird, private Feiern und den Umbau seines Hauses aus Amtsmitteln bezahlt zu haben. Frisch bestreitet solche Vorwürfe, sein Ex-Untergebener dementiert, Verfasser der Faxe zu sein. Der will mit der Klage erreichen, dass er ins Bundesamt zurückkehren darf. DPA uf die Frage, was ein nackter Mann, ein Kleiderschrank, ein paar Pinguine und die evangelische Kirche gemeinsam haben, fällt wahrscheinlich niemandem etwas halbwegs Sinnvolles ein – außer Pfarrer Werner Rohrer von der Evangeliumskirchengemeinde in Berlin-Reinickendorf. Der startet nämlich am Reformationstag eine Plakatkampagne, und in der steht ein nackter Mann im Kleiderschrank und wirbt für die christliche Eheberatung: „Willkommen in der Kirche“. Auf einem anderen Motiv illustrieren besagte Pinguine den Satz „Einen Frack braucht niemand im Gottesdienst zu tragen“. Nun sind in der Tat viele Gottesdienste so leer, das sie ohne weiteres in einem handelsüblichen Kleiderschrank stattfinden könnten – und wenn die Gemeinde ein bisschen zusammenrückt, könnte auch der eine oder andere Ehebrecher noch Unterschlupf finden. Trotzdem: Muss das sein? Und welche frohen Botschaften blühen uns Christenmenschen dann noch? Das Plakat mit einer Domina, dazu der Spruch: „Mal wieder niederknien? – Bei uns ist es billiger. Ihre Kirche“? In Hamburg hängt derzeit ein Plakat, auf dem eine Nonne ihren nackten Po zeigt. Und was sagt uns die Nonne? „Einen Frack braucht niemand im Gottesdienst zu tragen“? Nein, die Hamburger Nonne wirbt für eine Sexmesse. I M. URBAN A Koffer für die Witwe? M. DARCHINGER Gütiger Himmel Zeitung“ keine anders lautenden Belege vorlegt, gilt es daher auch als unwahrscheinlich, dass Schindler den Koffer schon vor dem Eingriff an Staehr verschenkt hat. Wenn Schindler zu Lebzeiten seine Dokumente aber gar nicht verschenkt hätte, dann gehörte die Liste nach Einschätzung von Rechtsexperten zum SCHINDLERS LISTE Am Rande Werbeseite Werbeseite AP ACTION PRESS Deutschland Rot-grüne Konfliktthemen Umwelt, Waffenlieferungen, Ausländer, Auslandseinsätze der Bundeswehr, Atomkraft*: Wie viel Prinzipien verträgt REGIERUNG Panzerschlacht im Kanzleramt Nach einem Jahr ist die rot-grüne Koalition an der Spitze zerrüttet. Kanzler Schröder zwingt dem grünen Vize Fischer beim Panzergeschäft mit der Türkei seinen harten Kurs auf. Weitere Zumutungen stehen den Grünen bevor: beim Export von Waffen und Atomanlagen. A ls der Außenminister eintraf, befasste sich das Kabinett gerade mit dem Thema Straßenbau. Kanzler Gerhard Schröder, von Joschka Fischer leise begrüßt, konnte das unter Normalität verbuchen. Denn inzwischen ist es fast üblich, dass der Langläufer Fischer in Berlin zu spät kommt: Das verschaffe ihm jeweils einen Sonderauftritt im Fernsehen, spotten Ministerkollegen. Am Mittwoch vergangener Woche aber wollte Fischer genau das Gegenteil erreichen. Der verspätete grüne Vizekanzler musste nicht vor Fotografen und Kameraleuten mit seinem Freund und Kanzler Schröder demonstrativ schön tun. Zwischen den Anführern der rot-grünen Koalition stehen die Zeichen auf Sturm. Gewiss, ein Panzer macht noch kein Debakel. Aber der Streit um die Lieferung von 1000 Tanks vom Typ „Leopard 2“ an die Türkei beschädigt das regierende Bündnis von Sozialdemokraten und Grünen schon jetzt stärker als jeder andere Konflikt zuvor. Genau ein Jahr nach Amtsantritt ist – obwohl sich konjunkturell ein zager Silberstreif zeigt – ein vorzeitiges Scheitern der Regierung Schröder-Fischer wahrscheinlicher als ein neuer Anfang. Wieder einmal hat sich die Koalition fahrlässig in eine selbstverschuldete Krise verrannt. Zunächst gab ein halböffentliches Machtwort das andere. Dann entluden sich Wut und Frust von Kanzler und Vizekanzler – beide Medienstars an der Spitze von zwei Parteien im freien Fall der Wählergunst – am Montag vergangener Woche in einem Schreiduell. Fischer erregt: „Dann gehen wir eben im Dissens auseinander.“ Schröder brüllend: „Ihr wollt die Kapitulation.“ 22 Formal rettete sich die Koalitionsrunde im Kanzleramt mit einem vagen Kompromiss über die Zeit. Bei der Lieferung des Testpanzers, die gegen die Stimme des Außenministers beschlossen worden war, bleibt es. Doch soll der „Vorbereitungsausschuss“ des Bundessicherheitsrates unter Beteiligung von Experten aus beiden Fraktionen die Richtlinien für den Export von Kriegswaffen „unter Berücksichtigung der tatsächlichen und überprüfbaren Fortschritte in der Menschenrechtslage“ noch einmal überarbeiten, bevor über die Lieferung der 1000 Panzer entschieden wird. In der Sache aber machten Kanzler und Vizekanzler schon jetzt unmissverständlich deutlich, dass sie über ein grundsätzliches Ja (Schröder) oder Nein (Fischer) nicht wirklich mit sich reden lassen wollen. Mit der Panzerschlacht im Kanzleramt drängen die Lebenslügen der Koalition ans Licht der Öffentlichkeit. Politisch geht es um das Selbstverständnis der Berliner Republik in der Außenpolitik und darum, wer deren Richtlinien bestimmt, der Kanzler oder der Außenminister. Symbolisch steht der Konflikt – festgemacht an den Reizwörtern „Waffen“ und „Türkei“ – für die Frage, wie viel Moral und Prinzipien die propagierte Normalität einer deutschen Bundesregierung zulässt, die nicht gegen die Wirtschaft gerichtet und nicht von der Vergangenheit dominiert werden soll. Vor allem geht es einmal mehr darum, wer in der ersten regierenden Nachkriegsgeneration das Sagen haben soll – nach der * Oben: Stau vor Hannover, Leopard-Panzer auf dem Truppenübungsplatz Klietz, Asylbewerber im Lager Kronberg, Soldaten im Kosovo, Atomkraftwerk in der Ukraine; unten: auf dem EU-Gipfel Anfang Juni in Köln. d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 sozialdemokratischen Zwillingsbruderschaft Oskar und Gerd ist nun die Kosovo-kriegsgehärtete Männerfreundschaft Schröder und Fischer zerbrochen. Die Frage, wer in dieser Koalition „Koch und wer Kellner ist“ (Schröder), hatten der Kanzler und Fischer bisher immer nur spöttisch abgehandelt. Fischer leistete keinen Widerstand, wenn Schröder den grünen Umweltminister Jürgen Trittin demütigte. Am Montag aber wurde es ernst. Plötzlich erlebten die Grünen in der Koalitionsrunde einen Außenminister, wie sie ihn sich lange gewünscht hatten. Aufgebracht hatte Fischer hingenommen, wie Schröder seine Bedenken gegen den Leopard-Export öffentlich als „weit hergeholt“ verhöhnte. Als der Kanzler in der Krisenrunde auf den Koalitionsvertrag pochte und darauf verwies, dass der „Menschenrechtsstatus“ als „zusätzliches Entscheidungskriterium“ nur für den Rüstungsexport außerhalb der Nato vorgesehen sei, nicht aber für das Nato-Mitglied Türkei, hielt der Vizekanzler dagegen. Immer sei die Türkei „ein Sonderfall“ gewesen. Er werde jedenfalls dem Rüstungsexport nicht zustimmen, soPartner Schröder, Fischer* „Ihr wollt die Kapitulation“ S. BOLESCH / DAS FOTOARCHIV (li.); P. HLOBIL ( re.) M. DARRYL HIRTHE die propagierte Normalität der Bundesregierung? spätere Exportgenehmigung von den EUBeitrittsgrundsätzen „abhängig“ machen zu wollen. Denn damit wären alle Exportchancen verspielt. Wer könnte in absehbarer Zeit von der Türkei eine „Garantie“ für Rechtsstaat und Demokratie erwarten? In Schröders Verständnis hatten sich die Grünen mit der Forderung einmal mehr als Traumtänzer enttarnt, die noch immer, so ein Kanzlerberater, „dem Nirwana der Illusionen“ einer Oppositionspartei nachhängen. Er glaubt überdies, dass Fischer und seine Leute die Panzer-Frage benutzen wollten, um den psychologischen Schock des Kosovo-Krieges zu lindern – denn die Teilnahme daran unter rot-grünem Regiment quält noch immer die grüne Seele. Listig versuchte Schröder zunächst, Fischer mit dessen eigenen Waffen zu schlagen: Die Grünen müssten sich in der Re- gierung „auf die Realität“ einlassen, stichelte er – eine Mahnung, die der Obergrüne oft genug an die Adresse seiner Partei gerichtet hatte. Der empfand das Argument aber als tückisch. „Du meinst, es geht um Realpolitik“, brauste Fischer auf. „Da täuschst du dich.“ Schnörkellos gab er zu Protokoll: „Du triffst die falsche Entscheidung.“ Schröder: „Wohin willst du das treiben lassen? Willst du die Koalition kaputtmachen?“ Fischer: „Bist du verrückt?! Du weißt doch, dass ich den Erfolg will. Aber ich habe eine Fraktion. Wenn es da keine Mehrheit gibt, dann habe ich ein Problem und die Koalition auch.“ Nachhilfe, so Fischer, brauche er im Übrigen nicht. „Du tust so, als ob ich ein Fundamentalist wäre.“ Spitz empfahl er: „Da musst du mit Heidi reden.“ Die Ent- R. UNKEL lange Ankara die Kriterien der Europäischen Union für einen Beitritt nicht erfüllt habe: „Garantie für Demokratie und rechtsstaatliche Ordnung, Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und der Schutz von Minderheiten“. Aber gegen die Kurden in ihren bergigen Rückzugsgebieten, belehrte Verteidigungsminister Rudolf Scharping die Grünen, seien die Panzer doch gar nicht einsatzfähig. Die grüne Fraktionssprecherin Kerstin Müller hatte den Koalitionsvertrag ebenfalls anders gelesen als der Kanzler. Er schreibe die Menschenrechte als „Leitlinie für die gesamte internationale Politik der Bundesregierung“ fest. Sie kam mit ihrer Argumentation nicht weit. „Drittes Semester Jura“, fuhr Schröder dazwischen. Der Kanzler explodierte vollends, als die Fischer-Truppe dennoch darauf bestand, die Kommentar Er kuscht RUDOLF AUGSTEIN E ine Lüge folgt der anderen. Manch interessierter Zeitgenosse wird kaum wahrgenommen haben, dass die Berliner Regierung einen Bundessicherheitsrat hat. Der ist aber doch wohl mit Fachleuten bestückt? Mitnichten. Ein Grüner sitzt drin, die restlichen Mitglieder vertreten SPD-Interessen – in der Regel Leute, denen Rüstungsfragen fremd sind. Ein Scheingremium also, dazu bestimmt, arglosen Gemütern Ehrfurcht einzuflößen. Der Retter und Heiland der SPD, der ehemalige Verkehrsminister und künftige Generalsekretär Franz Müntefering, als Organisator berühmt, musste die Sache als einer der Ersten vernebeln: Im Fernsehen ließ er verlauten, die Entsendung eines Testpanzers vom Typ „Leo 2“ bedeute an und für sich gar nichts. (Und was sollte die Welt wohl auch denken, wenn das größer gewordene Deutschland nicht einmal einen Testpanzer hätte?) Es wird so getan, als sei der Testpanzer für eine Weltausstellung bestimmt, die Expo in Hannover etwa. Sicher ist, der Testpanzer wird nicht in die Türkei verschifft, um als Schaustück zu dienen, sondern um ein handfestes Milliardengeschäft einzufahren. In zwei Jahren will man 1000 solcher Panzer an die Türkei verkaufen. Es geht um 6000 Arbeitsplätze, und das ist ehrenwert. Freilich widerspricht es allen deutschen Beteuerungen, in Kriegs- und Krisengebiete keine Waffen zu liefern. Natürlich musste der im Geheimen tagende Bundessicherheitsrat nun über den Türöffner Testpanzer befinden, und wie stimmte diese hochgemute Institution wohl diesmal ab? Im Einklang mit dem Kanzler natürlich. Das Auffallende an dem Ergebnis: Bundesaußenminister Joschka Fischer und Heidemarie Wieczorek-Zeul stimmten zwar dagegen, jedoch ohne Erfolg. Um vor seiner Partei das Gesicht zu wahren, drängte Fischer dann darauf, die Waffenexportregeln nachträglich zu verschärfen. Man beachte das Wort nachträglich. Eine Verschärfung der künftigen Richtlinien für den Waffenexport war bereits im Sommer abgelehnt worden, und zwar deshalb, weil der Kanzler darauf drängte. Man zeigte sich wieder exportfreudig. 24 Wie bei der EU-Altautoverordnung muckten die Grünen viel zu wenig auf. Der ehemalige Pazifist Joschka im Bundessicherheitsrat: Flau, flau. Die Lieferung von sechs Minensuchbooten an die Türkei kam sogar mit dem Votum Fischers zustande, wohl seinem Vorgänger Hans-Dietrich Genscher folgend: „Alles was schwimmt, geht.“ Abstimmungsergebnis im Bundessicherheitsrat: vier zu eins. Einzige Gegenstimme: die unverdrossene rote Heidi. Man kann diese Deals nicht besser ausdrücken, als Heribert Prantl es in der „Süddeutschen Zeitung“ getan hat: „Panzer als aktive Sterbehilfe für die Grünen“. Ja, genauso ist es. Prantl erinnert an die wüsten Proteste der Grünen gegen den damaligen Außenminister Klaus Kinkel, als ein Foto veröffentlicht wurde, auf dem ein aus Deutschland stammender Panzer einen Kurden zu Tode schleifte. Das Außenministerium tat so, als zeige es die humanitäre Verbringung eines toten Kurden zum Friedhof. Nun ist, wenn es um die Vernichtung der Grünen geht, Kinkels Nachfolger, Außenminister Joschka Fischer, nicht weit. Der hat heute stets einen Nagel zur Hand, um den Sargdeckel über den Bündnisgrünen zu schließen. Dass er selbst mit im Sarg liegen würde, kommt ihm nicht in den Sinn. Er ist ja Weltpolitiker geworden und hat die Macht geschmeckt. Die Grünen ihrer Substanz völlig zu berauben und zu einer leeren Parteienhülse zu machen, dient Wendehals Fischer offenbar als Einstiegskarte in die große Welt. Die „Bild“-Zeitung, die, wie bekannt, nie lügt, schrieb: „Fischer kuscht und schweigt.“ Tatsächlich, der grüne Außenminister ist ein Rattenfänger, von dem man nicht weiß, in welches Rattenloch er seine grünen Kinder führen will. Einer Partei, der ich als zahlende Karteileiche noch immer angehöre, habe ich vor vielen Jahren einmal das Sterbeglöckchen geläutet. Vorsichtig geworden, sage ich nun, die Bündnisgrünen sind nur noch ein orientierungsloser „Haufe“, und im nächsten Bundestag werden lediglich noch die CDU, die SPD und die PDS sitzen. Das türkische Militär, mit Friedfertigkeit bestens vertraut, wird seine Säbel in der Waffenkammer abgeben. d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 wicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul hatte im Bundessicherheitsrat nicht nur den Export des Panzers, sondern auch den von Minensuchbooten abgelehnt. Bis kurz vor Mitternacht dauerte die Sitzung. „Mit Druck und Gedröhne“ (so ein Teilnehmer) versuchte Schröder den kleinen Partner noch kleiner zu kriegen. Schließlich fiel das Machtwort: „Es muss sein. Ich nehme das auf meine Kappe. Es geht gar nicht anders.“ Mit schneidender Kälte ließ SPD-Fraktionschef Peter Struck bei der nächtlichen Verkündung der Ergebnisse die Grünen dann auch öffentlich ihre Ohnmacht spüren, ganz im Sinne des Kanzlers. Einstimmigkeit der Beschlüsse im Bundessicherheitsrat? „Darüber wurde nicht gesprochen.“ Das Parlament beteiligen? „Nein, eindeutig Sache der Exekutive.“ Seine koalitionsbedrohliche Brisanz bezieht der Konflikt aus der Tatsache, dass die Kontrahenten, zumal die Spitzenleute, sich nach einer Serie verlorener Wahlen schwach und geschlagen fühlen und entsprechend gereizt und nervös reagieren. Selbsterhaltungsreflexe schalten Reflexion aus. Es war kein Zufall, dass sich Jürgen Trittin, der von Schröder inzwischen schon gewohnheitsmäßig traktierte Umweltminister der Grünen, in der Schreirunde am Montag zu Wort meldete und meinte: „Das ist in Art und Ton jetzt nicht angemessen.“ Trittin kennt Schröders Stil aus Niedersachsen. Den hat der Regierungschef ohne Nuancierung auf die Bundespolitik übertragen. Wenn der Kanzler in Konflikt liegt mit der SPD, dann reagiert er den Grünen gegenüber mit Machtworten. So war es im Dezember vergangenen Jahres, als es um den Atomausstieg ging, und so war es bei der Altauto-Verordnung im Juni. Damals hatte es Trittin getroffen. Jetzt, glauben die Grünen, kriegen sie Schröders Zorn über Scharping und Walter Riester zu spüren, und Fischer zudem des Kanzlers Neid auf die hohen Popularitätswerte des Obergrünen. Dem Außenminister ist nicht verborgen geblieben, dass Michael Steiner, Schröders außenpolitischer Berater, ihm in einem Hintergrundgespräch „chaotische Politik“ vorgeworfen hat. Und Fischer glaubt nicht, dass sich Steiner, der ihm gegenüber eingeräumt hat, sich „unheimlich“ bei den Waffenlieferungen zu fühlen, ungeschützt vorwagt. Fischer ist aus vielen Gründen irritiert. Zum einem kriegt er jetzt aus der eigenen Partei die Frage zu hören, ob er sich rechtzeitig und entschieden genug dem LeopardExport widersetzt habe. Zum anderen ärgert ihn, dass in den Reihen des Koalitionspartners die Schadenfreude groß ist. Vor allem Verteidigungsminister Scharping, mit dem Fischer Seite an Seite im KosovoKrieg stand, verfolgt sichtlich amüsiert, wie Schröder den Kabinettsdarling drangsaliert. Die Grünen rätseln allerdings über das Ziel des Kanzler-Crashkurses. Schließlich E. BAILLY Deutschland R. UNKEL Alternative Aktivisten 1981* Prominente Grüne 1999* Grüne Politiker: Die Hälfte der Wähler ist weg hat Schröder nach seinen eigenen Worten keine Alternative zur rot-grünen Koalition. Intern gab er klipp und klar zu verstehen: „Nur mit dieser Koalition, jede andere nur ohne mich.“ Die Sorge, dass der desolate Zustand der Regierung beide Parteien bei den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen noch tiefer ins Desaster stürzt, plagt alle Beteiligten. Seit Regierungsantritt hat die SPD katastrophale Verluste zu beklagen. Den Grünen ist fast die Hälfte ihrer Wähler abhanden gekommen. * Oben: Auf der Bundesversammlung in Offenbach; unten: Fraktionsspitze Müller, Schlauch, Umweltminister Trittin während einer Kabinettssitzung Anfang März. Die Regierungsbeteiligung hat die einst alternative Partei in eine Existenzkrise gestürzt. Deshalb ist immer auch politisches Überleben gemeint, wenn Joschka Fischer von Prinzipien und Werten redet. Dass die Zeit der Zumutungen noch längst nicht vorbei ist, wissen die Grünen. Sie hegen den Verdacht, der Kanzler sei bereit, Rüstungsexporte wie Frankreich und Großbritannien ohne hohe moralische Anwandlungen und historische Skrupel ganz an nationalen Interessen auszurichten. Noch nicht entschieden ist neben dem Panzer-Export in die Türkei die Lieferung von „Fuchs“-Transportpanzern, „Tiger“Helikoptern, Granatwerfern, Gewehren d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 und Munition. „Offen“ ist Schröder, nach dem Eindruck des Partners und trotz aller Dementis, auch für einen Leopard-Export nach Saudi-Arabien, den der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher zweimal, unter Helmut Schmidt und unter Helmut Kohl, verhinderte. Vergangene Woche wurde zudem publik, dass die Bundeswehr dem türkischen Militär beim Aufbau eines Chemiewaffenlabors geholfen hat. Das Labor versetze die Türkei lediglich „in die Lage“, so die Erklärung aus Scharpings Ressort, „sich auf die Abwehr von C-Angriffen einzustellen“. Noch in diesem Monat wird voraussichtlich der nächste Konflikt mit hoher Symbolkraft die Rot-Grünen wieder einholen: der Streit um „K2R4“. Unter diesem Kürzel firmieren die zwei Atomkraftwerke sowjetischer Bauart, die das deutsch-französische Konsortium Siemens-Framatone in der Ukraine fertig stellen will. Die Regierung in Kiew fordert, dass die G-7-Staaten 1,8 Milliarden Dollar vorstrecken. An dem Kredit wäre die Bundesrepublik mit 450 Millionen Dollar beteiligt. „Wir können da nicht mit dem Kopf durch die Wand“, erklärt Michaele Hustedt, energiepolitische Sprecherin der Grünen, „aber wir kämpfen weiter.“ Die Basis lässt Entschuldigungen aus der Hauptstadt nicht länger gelten. Beim Länderrat in Magdeburg, dem kleinen Grünen-Parteitag, ging der Hauptvorwurf am vorvorvergangenen Wochenende an die Adresse der Berliner Regierung – aus den unterschiedlichsten Gründen. Die Fraktion lasse das Engagement für soziale Gerechtigkeit vermissen, beklagte ein Teil der Kritiker. Anderen dagegen ist sie „nicht neoliberal genug“. Die Partei werde gänzlich ihr Profil verlieren, befürchtet die Düsseldorfer Umweltministerin Bärbel Höhn, „wenn wir noch normaler werden“. Noch immer aber leiden viele Friedensfreunde – das sehen die Schröder-Leute richtig – vor allem an dem Kosovo-Trauma. „Ohne Kosovo“, sagt auch Trittin, „sind die Wählerverluste nicht zu erklären.“ Bei allem Verständnis für die Verteidigung der Menschenrechte wirkt sogar die Osttimor-Expedition der Bundeswehr jetzt verwirrend. Wollen wir jetzt überall dabei sein?, fragen skeptisch viele Grüne. Wollen die Deutschen etwa eine neue Rolle in der Welt übernehmen? In einem Brief des Kreisverbandes Bielefeld konnte der Außenminister lesen, dass die Zeit für Zumutungen vorbei sei – und diese Auffassung ist unter den Grünen weit verbreitet. Kosovo, das Sparpaket, den Streit um den Atomausstieg, alles hätten sie mit einiger Geduld ertragen, schrieben die Bielefelder. Aber: „Wir werden eine Panzerlieferung an die Türkei nicht rechtfertigen. Verlasst Euch nicht mehr auf uns.“ Horand Knaup, Jürgen Leinemann, Paul Lersch 25 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Umfrage SPIEGEL-Umfrage unter SPD-Mitgliedern über die Zufriedenheit mit dem Parteichef und die Zukunft der Regierung D DPA as Herz der Partei schlägt viel- sammeln – im Einzelnen reagieren sie leicht links, aber nicht mehr für durchaus skeptisch auf ihn. „Mangelnde Oskar: Gerhard Schröder ist bei Glaubwürdigkeit“ des Kanzlers geben 53 seinen Genossen weit angesehener und Prozent der Mitglieder als eine der Hauptbeliebter, als der kühle Empfang bei Be- ursachen für die Niederlagen bei den Landtriebsräten, auf Gewerkschaftstagen oder tagswahlen der vergangenen Monate an. Parteiversammlungen erwarten lässt. Das Besonders die Parteijugend wirft Schröbelegt eine Umfrage für den SPIEGEL, der die Glaubwürdigkeitslücke vor. Drei in der erstmals nach dem Regierungs- von vier Genossen unter 30 begründen daantritt die Meinung in der SPD erforscht mit die Wahlniederlagen – ein Trend, der wurde. Das Emnid-Institut befragte in sich auch in den schlechten Ergebnissen persönlichen Interviews 760 Mitglieder, der SPD bei Jungwählern widerspiegelt. die repräsentativ für die 760 000 GenosDer Rivale Lafontaine, einst der Liebling sen sind. der Partei, hat seinen Kredit verspielt. Mit Für 55 Prozent von ihseinem Buch, davon sind nen verkörpert nach dem 63 Prozent der befragten Abgang Lafontaines der Sozialdemokraten überParteivorsitzende Schrözeugt, habe er der SPD der überzeugend die sogroßen Schaden zugezialdemokratischen Werfügt. Weitere 23 Prozent te. Erstaunlicherweise sind meinen, er habe der Pares die eher traditionellen tei zumindest „etwas“ geSchichten – Arbeiter, Anschadet. Vor allem die Älgestellte sowie Rentner teren unter den Mitglieund Pensionäre –, die den dern sowie die Arbeiter Parteichef keineswegs als und Beamten fürchten Genossen der Bosse senach der publikumswirkhen.Aber auch 67 Prozent sam inszenierten Buchjener SPD-Mitglieder, die veröffentlichung um das sich selbst zur neuen MitAnsehen der Partei. te zählen, glauben, dass Es ist in erster Linie die der Vorsitzende ein guter Form, die Widerspruch Sozialdemokrat ist. hervorruft. In der Sache SPD-Parteitag (in Bonn) dagegen gibt eine große Statussymbole wie teu- Keine Probleme mit Zigarren Mehrheit dem scharfzünre Kleidung und dicke Zigarren irritieren die Basis keineswegs so, gigen Kritiker Recht: Fast drei Viertel der wie Schröders Image-Berater neuerdings SPD-Mitglieder finden Lafontaines Einfürchten. Fast zwei Drittel aller SPD-Mit- wände gegen den Regierungskurs ganz glieder stören sich nicht an Havannas und oder zumindest teilweise richtig. Am stärksten lehnen Beamte, Rentner Brioni-Anzügen. Von den Sozialdemokraten aus jenen Jahrgängen, die Kriegsende und Mitglieder der neuen Mitte seine Theund Wirtschaftswunder noch selbst erlebt sen über die angeblich falsche Politik der haben, zeigen sogar drei Viertel Verständ- Regierung Schröder ab. Skeptisch zeigen nis für das Bedürfnis des Kanzlers nach sich aber auch die Bezieher kleiner und Wohlstandsattributen. Arbeiter sehen mittlerer Einkommen – also gerade jene, Schröders Hang zum Luxus allerdings kri- die laut Lafontaine die Verlierer des Schrötischer als der Durchschnitt der Parteibasis der-Kurses sein sollen. oder gar die Selbständigen. Die Sozialdemokratie teilt sich nach ihSchröders Versuche, auf die Partei zuzu- rer Selbsteinschätzung recht gleichmäßig je gehen – durch stärkere Betonung des The- zu einem Drittel in Traditionalisten, neue mas soziale Gerechtigkeit und eine organi- Mitte und keiner Richtung zugehörige Mitsatorische Verstärkung der Parteiführung –, glieder. Oft weisen die Flügel nur geringe scheinen sich zu lohnen: Immerhin drei Meinungsdifferenzen auf. Deutlicher werViertel aller Mitglieder gestehen ihm zu, den die Unterschiede, wenn man die Bedass er sich um die Zustimmung seiner Par- fragten nach Alter, Berufsgruppe oder Eintei bemühe. Nur jeder Fünfte meint, Schrö- kommen unterteilt. der möge die SPD nicht. Während beispielsweise zwei Drittel der So solidarisch sich die Genossen im All- SPD-Mitglieder mit einem Einkommen ungemeinen hinter ihrem Vorsitzenden ver- ter 1500 Mark nicht das Sparpaket, son28 d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Schädlicher Autor „Hat Oskar Lafontaine mit seinem Buch ,Das Herz schlägt links‘ Ihrer Ansicht nach der SPD geschadet?“ ja etwas 63 23 nein 14 Lafontaines Eigentor „Hat Oskar Lafontaine sich selber damit geschadet, dass er ausgerechnet in Zeitungen publiziert hat, die zum Axel-Springer-Konzern gehören?“ ja nein 70 29 Richtige Kritik „Hat Oskar Lafontaine mit seiner vorgetragenen Kritik am Regierungskurs Recht?“ ja teilweise 16 56 nein 28 D PA / L B N Der Kanzler der Genossen Bleiberecht für Oskar „Sollte Oskar Lafontaine Ihrer Meinung nach aus der SPD ausgeschlossen werden?“ ja nein 28 71 Umfrage für den SPIEGEL vom 13. bis 21. Oktober, 760 befragte SPDMitglieder, alle Angaben in Prozent, an 100 fehlende Prozent: keine Angabe Altersgruppen 34 30 36 30 37 40 32 42 23 26 37 17 47 25 25 27 39 27 30 53 27 21 35 29 57 45 36 21 41 28 23 47 42 48 24 Umfrage für den SPIEGEL vom 13. bis 21. Oktober; 760 befragte SPD-Mitglieder; alle Angaben in Prozent, an 100 fehlende Prozent: keine Angabe Berufsgruppen 33 trifft eher nicht zu 54 15 60 43 32 44 33 55 64 46 38 48 57 68 55 67 45 trifft eher zu 18 30 21 17 10 23 20 21 16 82 83 70 74 83 89 76 80 78 83 33 trifft eher zu 71 75 86 87 79 80 70 20 16 37 29 22 13 13 20 20 29 20 trifft eher zu 25 36 39 18 27 75 trifft eher nicht zu 19 ll ne ue Mi tt we e no de ch r 52 38 45 37 39 24 34 64 75 48 62 55 60 59 76 66 trifft überhaupt nicht/eher nicht zu 45 trifft eher zu 34 29 46 22 25 36 40 25 44 71 54 78 74 64 60 75 56 trifft sehr/eher zu 39 trifft überhaupt nicht zu ne 21 trifft sehr/eher zu trifft überhaupt nicht zu trifft sehr zu itio llte Be am te Sc St hü ud le ./A r/ zu bis Ha us fra ue Se n lbs tä nd ige Re nt ne r trifft überhaupt nicht/eher nicht zu Ar be ite r An ge ste 13 trifft sehr zu ne ue Mi tt we e no de ch r 59 ne ue Mi tt we e no de ch r Ein sozialdemokratischer Kanzler sollte nicht teure Zigarren rauchen und teure modische Anzüge tragen trifft eher nicht zu 84 tra d 20 80 trifft sehr/eher zu ion ell 3 trifft überhaupt nicht zu Ein sozialdemokratischer Kanzler hätte die Bundeswehr nicht in den KosovoKrieg schicken dürfen 43 trifft sehr zu ell Ar be ite r An ge ste llte Be am te Sc St hü ud le ./A r/ zu bis Ha us fra ue n Se lbs tä nd ige Re nt ne r trifft überhaupt nicht/eher nicht zu ion 32 trifft eher nicht zu dit 48 Ar be ite r An ge ste llte Be am te Sc St hü ud le ./A r/ zu bis Ha us fra ue n Se lbs tä nd ige Re nt ne r F. HELLER/ARGUM 16 trifft sehr/eher zu tra trifft sehr zu ne ue Mi tt we e no de ch r trifft überhaupt nicht/eher nicht zu trifft überhaupt nicht zu Er bemüht sich um Zustimmung der Partei ell ne ue Mi tt we e no de ch r 52 dit 4 Er mag seine Partei nicht ion 62 Ar be ite r An ge ste llte Be am te Sc St hü ud le ./A r/ zu bis Ha us fra ue n Se lbs tä nd ige Re nt ne r trifft überhaupt nicht zu 36 trifft sehr/eher zu ell 22 39 dit Ar be ite An r ge ste llte Be am te S St chü ud le ./A r/ zu bis Ha us fra ue n Se lbs tä nd ige Re nt ne r 34 trifft eher zu ion 10 trifft sehr zu tra Gerhard Schröder verkörpert nicht die sozialdemokratischen Werte Partei-Flügel tra Wie sozialdemokratisch ist Schröder? „Was halten Sie von Gerhard Schröder als Parteivorsitzenden?“ dit weder noch 17 tra neue Mitte Berufsgruppen 18 bis 29 30 bis 44 45 bis 59 60 Jahre Jahre Jahre Jahre und älter Befragte SPD-Mitglieder Traditionalist Ar be ite r An ge ste llte Be am te Sc te hü n / le Az r/ S ub tu is de Ha nus fra ue n Se lbs tä nd ige Re nt ne r Starke Flügel „In den öffentlichen Diskussionen ist immer wieder zu hören, dass es innerhalb der SPD unterschiedliche Flügel gibt. Halten Sie sich eher für einen ‚Traditionalisten‘ oder einen Vertreter der ‚neuen Mitte‘?“ 23 55 trifft eher nicht zu d e r 66 trifft überhaupt nicht/eher nicht zu s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 29 Umfrage dern eine generelle Reformunwilligkeit der Deutschen für die Wahlniederlagen der SPD verantwortlich machen, urteilen fast ebenso viele Bezieher mittlerer und höherer Einkommen genau umgekehrt: Die schlechten Wahlergebnisse seien die Quittung für den Sparkurs der Regierung; reformunwillig aber seien die Deutschen nicht. Zu einem Kanzler Schröder gibt es für die Sozialdemokraten keine wirkliche Altenative. Kein anderer Kandidat könnte derzeit auf Anhieb mit einer Mehrheit in nur 28 Prozent seinen Ausschluss aus der SPD. Ein denkbarer Nachfolger Schröders aber wäre er nur noch für 12 Prozent. Doch vorerst glaubt die Mehrheit der SPD-Mitglieder, dass der Kanzler sich im Amt hält. 68 Prozent sind überzeugt, dass die rot-grüne Regierung die gesamte Legislaturperiode überdauert. Skeptischer sehen das allerdings die neueren Mitglieder der SPD. Von denen, die noch keine fünf Jahre in der Partei sind, glaubt gut jeder zweite, dass die Koalition vor 2002 platzt. Susanne Fischer der Partei rechnen, wenn Schröder abtreten müsste. Die größte Zustimmung findet mit 37 Prozent Rudolf Scharping; besonders die Beamten (55 Prozent) können sich den Verteidigungsminister gut im Kanzleramt vorstellen. Für einen Kanzler Franz Müntefering dagegen mögen sich nur 24 Prozent der SPD-Mitglieder erwärmen. Lafontaine hat keine Chance mehr, dass ihn die Partei in der Not als Kanzler ruft. Zwar befürworten nach der öffentlichen Abrechnung des ehemaligen Parteichefs Ersatz für den Kanzler Stabile Koalition Parteiflügel „Glauben Sie, dass die rot-grüne Regierung bis 2002 durchhält?“ tra dit ion ell ne ue Mi tte we de rn oc h „Wenn Gerhard Schröder nicht mehr Kanzler wäre, wer könnte ihn ersetzen?“ Rudolf Scharping 37 Franz Müntefering 24 12 Oskar Lafontaine ? 20 ein anderer 38 42 31 29 26 19 12 12 13 15 15 28 nein 31 68 Umfrage für den SPIEGEL vom 13. bis 21. Oktober, 760 befragte SPDMitglieder, alle Angaben in Prozent, an 100 fehlende Prozent: keine Angabe Schuld an den Schlappen Altersgruppen „Bei den letzten Landtagswahlen hat die SPD teils deutliche Verluste hinnehmen müssen. Schuld an den Niederlagen war... ...der Sparkurs der 20 Regierung“ trifft sehr zu 38 trifft eher zu 12 29 trifft überhaupt nicht zu . ..die mangelnde Glaubwürdigkeit des Kanzlers“ 30 16 30 32 trifft eher zu 17 32 trifft überhaupt nicht zu 30 d e r trifft eher nicht zu s p i e g e l 44 42 55 27 61 44 49 38 56 51 38 44 46 56 53 trifft sehr/eher zu trifft eher nicht zu 19 57 63 28 trifft sehr zu 73 22 24 ...die Reformunwilligkeit der Deutschen“ 62 trifft sehr/eher zu trifft überhaupt nicht/eher nicht zu trifft eher zu trifft überhaupt nicht zu 60 Jahre und älter trifft sehr/eher zu trifft eher nicht zu trifft sehr zu 45 bis 59 Jahre 77 33 trifft eher zu 17 30 bis 44 Jahre trifft überhaupt nicht/eher nicht zu 20 trifft sehr zu 18 bis 29 Jahre 38 trifft eher nicht zu trifft überhaupt nicht zu . ..der Rücktritt Oskar Lafontaines von allen Ämtern“ ja 4 4 / 1 9 9 9 37 61 trifft überhaupt nicht/eher nicht zu 70 40 58 47 42 53 trifft sehr/eher zu 30 60 trifft überhaupt nicht/eher nicht zu Werbeseite Werbeseite Titel Operation im Kernspintomographen System ohne Steuerung T. PFLAUM / PLUS 49 / VISUM Das deutsche Gesundheitssystem steht vor dem Infarkt – es ist unflexibel, uneffektiv, unbezahlbar. Ärzten, Klinikbetreibern und der Pharmaindustrie gerät das Wohl der Patienten mehr und mehr aus dem Blickfeld. Eine Totalreform ist überfällig. E s gibt zwei Sorten von Gesundheitsministern: die reformeifrigen Neulinge mit dem großen Plan – und die im Dienst Zermürbten, die am Ende nur froh waren, wenn sie wieder aus dem Amt scheiden konnten. Ehemalige wie Horst Seehofer, der wie kaum ein anderer die Begehrlichkeit des deutschen Gesundheitsunwesens kennt, blicken ohne jede Nostalgie zurück. All seine Gesetze zur Kostendämpfung, das weiß er heute, bewirkten im Normalfall nichts, im besten Fall brachten sie einen Zeitaufschub. „Und deshalb weiß ich genau“, sagt er, „Frau Fischer wird scheitern, wie auch ich gescheitert bin.“ Andrea Fischer, der Neuling, verbreitet noch jene Ich-pack-das-Stimmung, mit der auch Seehofer gestartet war. Und selbstverständlich hat sie das getan, was all ihre Vorgänger auf dem Posten des Gesundheitsministers ebenfalls getan haben. Sie durchforstete in endlosen Nachtsitzungen riesige Aktenberge, versuchte sich dabei das Vokabular eines Experten anzueignen, für den Geld nicht mehr Geld heißt, sondern „Sonderentgelt“, „Fallpauschale“ oder „Leistungskomplexgebühr“. Sie hat all die professionellen Helfer um 32 Rat gebeten, die in den diversen Beiräten und Sachverständigenkommissionen seit Jahren jede Windung des Gesundheitswesens seziert haben. Und natürlich hat sie auch die ganze Schar der „Leistungserbringer“ zum Gespräch geladen, wie sich die Ärzte, Krankenhauslobbyisten oder Pharmahersteller vornehm nennen. Das Ergebnis der Fleißarbeit umfasst 347 Seiten, heißt „Gesundheitsreform 2000“ und soll nun mit Hilfe von über 200 Änderungen und Ergänzungen bestehender Paragrafen ein System ins Gleichgewicht bringen, dessen Kosten seit Jahren ins Maßlose wachsen. Zentraler Baustein ist ein so genanntes Globalbudget, das die Ausgaben für die nächsten Jahre von Staats wegen festlegt und alle im Gesundheitswesen Beschäftigten zur strikten Einhaltung verpflichtet. Es geht nicht nur um Sparsamkeit, es geht auch um die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Denn jede zusätzliche Beitragsmark treibt die Lohnkosten in die Höhe und damit die Zahl der Arbeitslosen, was wiederum das Fundament der Beitragszahler ausdünnt – und die Übriggebliebenen noch stärker belastet. Eine Spirale ist in Gang gekommen, deren und e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 heilvolle Wirkung heute niemand mehr bestreitet. Das Ziel ist also klar, die Aufregung dennoch gewaltig. Kaum ein Wochenende, an dem sich nicht irgendwo in der Republik die Standesvertreter der Gesundheitsberufe samt ihrer Helferheere zu einer Demonstration versammeln und Transparente hochhalten, auf denen sich „Herzinfarkt“ auf „Sarg“ reimt und „Therapie“ auf „nie“. Von „umstürzlerischen Planungen“ spricht die Kassenärztliche Vereinigung, vor einem „Marsch in die Zwei-Klassen-Medi- Teure Gesundheit 140 130 120 Leistungsausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung 110 1982=100 1983 1984 1985 19 986 240 Auswirkung der zweiten SeehoferReform 230 220 210 Auswirkung der Seehofer-Reform M. LINKE / LAIF Klinikum Aachen: Das große Geld fließt automatisch zin“ warnt der Verband der Krankenhausärzte. Die Verbitterung ist so groß, dass die Mediziner ihre Praxen mittlerweile zu regelrechten Propagandazentralen aufgerüstet haben. An der Eingangstür Unterschriftenlisten, an den WänAuswirkung der den des WarteBlüm-Reform zur zimmers Plakate Kostendämpfung mit dem Konterim Gesundheits- 200 1998 verschlangen die Leistungsausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung 234,1 Milliarden Mark, davon für 180 170 Krankenhausbehandlung 160 wesen 85,1 150 sonstige Leistungen 16,6 Kuren 4,8 Krankengeld 13,8 21,2 Zahnersatz, zahnärztliche Behandlung zum Vergleich Bruttoinlandsprodukt 51,6 Arznei-, Heilund Hilfsmittel 40,8 ärztliche Behandlung ab 1992 Gesamtdeutschland 1987 1988 1989 1990 1991 d e r 1992 s p i e g e l 1993 4 4 / 1 9 9 9 1994 1995 1996 1997 1998 33 Titel SKOTT So viel Fatalismus war nie. Ist das der was die Gegner sofort als „Zwei-Klassenfei eines Patienten, der so aussieht, als ob er einem Schlägerkommando in die Quere Frust der Gescheiterten? Oder tut sich aus- Medizin“ diffamieren? gerechnet im Gesundheitswesen, jenem Oder soll man im Gegenteil, nach engligekommen ist. Noch gibt sich Fischer zuversichtlich, Teil des Staates, der den Menschen mehr schem Vorbild, das Regelsystem ausweidass sie und ihre Kabinettskollegen der ra- als alles andere bedeutet, eine Kluft zwi- ten, indem jede medizinische Leistung nur biaten Ärztekampagne widerstehen kön- schen dem Möglichen und dem Nötigen noch streng nach gesetzlich festgeschrienen, dass ihr Gesetzeswerk nicht nur, wie auf, die unüberbrückbar ist? Für die Poli- benen Normen vergeben wird, um so wegeplant, in der kommenden Woche das Par- tiker zumindest stellen sich die Fragen nigstens für stabile Preise zu sorgen? „Ralament passiert, sondern auch, einiger- existenziell: Wie viel Sanierungsarbeit tionierung“ werden die anderen rufen und maßen intakt, den Vermittlungsausschuss verträgt die empörte Wählerschaft? Ist ein auf überfüllte Wartezimmer, verstörte Patienten und den einen oder anderen im Bundesrat. rätselhaften Todesfall verweisen. Andere sind da pessimistischer. Die Bürger stehen dem Treiben „Ich habe diesen Feldversuch schon ratlos gegenüber. Was sollen sie von hinter mir“, sagt jener Mann, den dem Getöse der organisierten Ärzsie einst den „Drachentöter“ nannteschaft halten, dem zufolge eine ten. Und der nun mitleidig, ja gerastrenge Ausgabenbegrenzung das dezu mitfühlend auf die BemühunWohl der Kranken gefährdet? Was gen seiner Nachfolgerin blickt. ist dran an dem Gegenargument der Sechs Jahre lang war der CSUGesundheitsministerin, Geld sei geAbgeordnete Seehofer Gesundnug vorhanden, es müsse nur besser heitsminister in Bonn, viele meinen, und effizienter eingesetzt werden? der erfolgreichste, den die Republik Wie lässt sich dem scheinbar selbstje hatte. Die besonders aufrühreritätigen Wachstum des Gesundheitsschen Zahnärzte hat er besiegt, den wesens Einhalt gebieten und damit Kosten für Arzthonorare und Klidem stetig steigenden Kostendruck? nikbetten einen Deckel verpasst und Denn dass da irgendwas nicht sogar der Pharmaindustrie ein paar stimmt, dass Anspruch und WirkMilliarden abgenommen. Nur kurz lichkeit sich inzwischen kaum hielt die Wirkung, dann sprengte Ärzte-Karikatur: „Radikal-Kur“ kölner stadt-anzeiger mehr berühren, spüren viele. Keider aufgestaute Druck in den Ausgabentöpfen die sorgsam verschraubten Erfolg beim Begrenzen, Deckeln, Budge- ne andere Nation in Europa gibt heute, Deckel wieder davon, erst bei den Arznei- tieren überhaupt möglich – und, wenn ja, gemessen an der Wirtschaftsleistung, mehr Geld für Gesundheit aus, rund 550 Milmitteln, dann in den Krankenhäusern und nur um den Preis des Machtverlusts? Denn die Rezepte, die da im Angebot liarden Mark werden es voraussichtlich in schließlich auch bei den Praxen. Heute steht für den braven Katholiken sind, schrecken alle derart ab, dass eine auf diesem Jahr sein. Doch glaubt man den fest: „Wir können so viel reglementieren breite Zustimmung angewiesene Parteien- Ärzten, reicht diese Summe hinten und und budgetieren, wie wir wollen, es wird demokratie sich kaum trauen darf, sie zu vorne nicht. Die angebliche Leistungsbilanz liest sich nichts nutzen, unser Gesundheitswesen debattieren. Soll man wirklich, wie Seewird davon allenfalls schlechter und hofer nun leise vorschlägt, konsequent auf wie eine konzertierte Aktion wider die marktwirtschaftliche Steuerung setzen, Volksgesundheit: Deutsche werden dopteurer.“ Geteilte Macht Akteure im deutschen Gesundheitswesen Bundesministerium für Gesundheit schafft zwar die gesetzlichen Rahmenbedingungen, hat aber keine wirksamen Instrumente zur Durchsetzung von Kostensenkungen. Bundesärztekammer Gesetzliche Krankenkassen 2200 Kliniken Von 50,6 Millionen Versicherten und den Arbeitgebern wurden 1998 243 Mrd. Mark an die gesetzlichen Krankenkassen gezahlt. Apotheken stellten den gesetzlichen Krankenkassen 1998 für Arzneimittel 33,4 Mrd. Mark in Rechnung. Private Krankenversicherungen 112700 7,2 Millionen Mitglieder zahlten 1998 Beiträge in Höhe von 33,5 Mrd. Mark. niedergelassene Ärzte 51988 34 Kassenärztliche und kassenzahnärztliche Bundesvereinigung Die örtlichen Organisationen sorgen für die Honorarverteilung der Kassenärzte, 1998 insgesamt 56 Mrd. Mark. niedergelassene Zahnärzte Heilberufe Masseur, Logopäde, Diätassistentin ..., über 80 Heilberufe arbeiten im Gesundheitswesen. rechnen direkt mit den Krankenkassen über Fall- oder Tagespauschalen ab. Die gesetzlichen Krankenkassen zahlten 1998 85 Mrd. Mark. 357 700 Mitglieder in 17 Landesärztekammern. Kümmert sich um die Standesethik und sorgt für die Lobbyarbeit. Pharmaindustrie Umsatz 1998: 31,9 Mrd. Mark. 800 Millionen verordnete Packungen rechneten die Krankenkassen ab. Derzeit sind rund 40000 verschiedene Medikamente auf dem Markt. Patienten 550 Mrd. Mark kostet in diesem Jahr die Gesundheitsversorgung der 82 Millionen Einwohner Deutschlands. d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Quellen: BMG, KBV, ZKBV DPA ARIS me, von 36 000 auf heute 112 000 nahezu verdreifacht. π Die Krankenkassen sollen den Kostendruck dämpfen – und tun das Gegenteil. Ihr Verwaltungsaufwand ist im vergangenen Jahr schon wieder um 5 Prozent gestiegen, auf insgesamt 13 Milliarden Mark. Ihre Angestellten, die nicht von ungefähr „Sofas“ heißen (die Abkürzung von Sozialversicherungsfachangestellte), kümmern sich kaum um politische Vorgaben. π Allen Sparbemühungen und Budgetvorgaben zum Trotz rekrutiert die weiße Armee immer neue Helfer und Heiler, und die Politik lässt sie gewähren. Erst wurden die Freunde der Naturheilverfahren an die öffentProtestdemo gegen die Gesundheitsreform*: Die Bürger stehen dem Treiben ratlos gegenüber lichen Geldtöpfe gelassen und nun, seit 1. Januar, auch die Heerpelt so häufig geröntgt wie die Niederlän- Ökonomen gern etwas despektierlich geschar der freischaffenden Psychologen. der, gehen dreimal öfter zum Arzt als die nannt wird. Das entspricht 12 Prozent alAllein in Berlin dürfen seit Anfang des Schweden und schlucken in ihrem Leben ler Erwerbstätigen. Allein bei den 582 gesetzlichen KranJahres 1147 Psychotherapeuten über die zweimal so viel an Medikamenten wie ein kenkassen sind über 145000 Menschen beKassen abrechnen. „Eine TherapiedichNorweger. te wie in einem Woody-Allen-Film“, wie Kein Wunder, denn die Megamaschine schäftigt, auf immerhin 10000 Angestellte der „Tagesspiegel“ spöttisch anmerkt. verlangt nach Opfern, die hier zu Lande Pa- bringt es inzwischen selbst die Kassenärzttienten heißen: Über 287000 Ärzte bieten liche Vereinigung, die in erster Linie die Ho- π Seit Jahren versuchen die Gesundheitspolitiker vor allem die explodierenden ihre Dienste an; 2200 Kliniken haben Tag norarverwaltung ihrer Mitglieder besorgt. Pharmakosten unter Kontrolle zu brinund Nacht ihre Pforten geöffnet, ebenfalls Und wo ehemals Arzt, Krankenschwester und Apotheker reichten, biegen, indem sie zum Beispiel so genannEuropa-Rekord. In kaum eiten heute über 80 Heilberufe te Bagatellmedikamente wie Hustennem anderen Land der Welt ihre Dienste an. tropfen oder Grippemittel aus dem wartet ein so eindrucksvoller Das große Geld für diesen Erstattungskatalog strichen. Doch die Gerätepark an KernspintoReparaturbetrieb fließt autoPharmaindustrie ist stets schneller: Bemographen, Linearbeschleumatisch – zu gut 90 Prozent reits in den ersten sechs Monaten dieses nigern, Linksherzkatheteraus SozialversicherungsbeiJahres sind die Arzneimittelausgaben um Messplätzen auf neue kranke trägen und Steuern, also aus gut 12 Prozent in die Höhe geschnellt. Kundschaft. Es gilt das MotGeldern, die dem Einzelnen Wie krank das Gesundheitswesen in to: Niemand ist gesund, nur zwangsweise abverlangt wer- Wahrheit ist, zeigt sich schon bei der Inviele sind unzureichend unden und auf deren Verwen- formation über Leistungen und Preise, also tersucht. dung er keinen Einfluss hat. genau der Form von Transparenz, die aus Was einst als ein Gewerbe Dem 550-Milliarden-Markt Verbrauchern erst Kunden macht und aus begann, das allenfalls Lindefehlt so ziemlich alles, was Versorgern Dienstleister und die deshalb rung bei Schmerz und Siech- Reformer Seehofer einen Markt ausmacht. Er ist für einen funktionierenden Markt unabtum versprach, hat sich zu einer Industrie entwickelt, die für zweite wettbewerbsfeindlich, undurchsichtig und dingbar ist. Weder der Patient noch seine Kasse verHerzen und dritte Zähne ebenso sorgt wie kundenfern. Er bestraft Qualitäts- und für künstliche Gelenke, neue Brüste oder Kostenbewusstsein, fördert Verschwen- mögen zu sagen, welche Qualifikation sich gerade Nasen – und deren ökonomische dung und Durchstecherei und tendiert hinter dem Arztschild verbirgt, ob der gute Bedeutung die von Automobilbau oder wie jedes staatlich gelenkte System zu Doktor also beispielsweise beizeiten eine einer gigantischen Fehlsteuerung seiner Fortbildung besucht hat (wie dies bei LuftEnergiewirtschaft weit übersteigt. hansa-Piloten selbstverständlich ist) oder Der Anteil der Gesundheitsfürsorge an Mittel. Langsam beginnt sich auch unter den ob er noch immer auf Grundlage seines in der gesamten Volkswirtschaft ist in den vergangenen Jahren beständig gestiegen, Patienten herumzusprechen, was Gesund- Studententagen erworbenen Wissens laboseit 1970 von 6,3 auf nunmehr 10,7 Pro- heitsökonomen längst in aller Deutlich- riert (was die Standesordnung ausdrücklich zent. Damit liegt die Bundesrepublik – keit nachgewiesen haben: Das deutsche gestattet). Gesundheitswesen hat sich gründlich Bis heute fehlt eine Übersicht aller im nach den USA – weltweit an der Spitze. Und auch als Jobmaschine ist das Ge- übersteuert, ihm droht der Infarkt. Die Handel erhältlichen Arzneimittel, deren schäft mit der Gesundheit längst konkur- Liste der Unzulänglichkeiten und Wi- genaue Zahl deshalb nicht einmal das zuständige Bundesamt angeben kann (sie renzlos. Rund 4,2 Millionen Menschen ar- dersprüche ist lang: beiten heute im medizinisch-industriellen π Immer mehr Mediziner buhlen um die wird auf etwa 40 000 geschätzt), geschweiPatienten, allein die Zahl der niederge- ge denn, welche etwas taugen. Den ApoKomplex, wie der Gesundheitssektor von lassenen Ärzte hat sich seit 1977, dem thekern wiederum ist es verwehrt, PreisGeburtsjahr des Begriffs Ärzteschwem- nachlässe zu gewähren, und weil sie keine * Am 22. September in Berlin. d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 35 Titel Spanien Großbritannien Deutschland Italien Frankreich Serevent Antiasthmatikum, Dosierspray, 120 Sprühstöße Frankreich Spanien Deutschland Großbritannien Österreich 36 Deutschland Frankreich Österreich Großbritannien 63,24 Mark 78,05 Mark 84,99 Mark 86,37 Mark 97,07 Mark d e r 11,79 Mark 12,20 Mark* 16,21 Mark 21,28 Mark *Packungsgröße umgerechnet Filialen oder gar Ketten besitzen dürfen, sind auch Großhandelsrabatte weitgehend ausgeschlossen. Selbst den Krankenkassen, die doch miteinander konkurrieren sollen, ist Wettbewerb untersagt. Weder dürfen sie sich bei den angebotenen Leistungen nennenswert unterscheiden noch direkt miteinander messen. „Aus wettbewerbsrechtlichen Gründen dürfen wir keine Beitragsvergleiche anstellen“, heißt es in einer Broschüre der Betriebskrankenkasse Zollern-Alb, dabei wäre gerade dieser Vergleich für die Versicherten aufschlussreich: Der Beitragssatz der schwäbischen Kasse liegt derzeit bei 11,9 Prozent, mithin 3 Prozentpunkte niedriger als etwa bei der Berliner AOK, einer der teuersten Assekuranzen. Und wofür die Beiträge der Versicherten, die der Arbeitgeber automatisch an die Kassen abführt, überhaupt verwendet werden, bleibt ebenfalls undurchsichtig. Regelmäßig moniert der Sachverständigenrat, der den Gesundheitsminister bei allen Gesetzesvorhaben beraten soll, den völligen Mangel „aussagekräftiger Indikatoren“, die zwingend notwendig wären, um „die äußerst komplexen Prozesse und Ergebnisse gesundheitlicher Leistungserstellung repräsentativ und entscheidungsrelevant abzubilden“. Schmerzmittel, 20 Tabletten Antirheumatikum, 100-Gramm-Tube 17,38 Mark* 24,80 Mark* 26,73 Mark 30,10 Mark 30,80 Mark *Packungsgröße Aspirin Voltaren Emulgel Magen-Darm-Mittel, 50 Tabletten umgerechnet Frankreich Spanien Österreich Deutschland Italien 4,46 Mark 4,59 Mark 5,00 Mark 7,45 Mark 8,08 Mark Nicht einmal zur einfachsten Form der leiden, dass nicht zu wenig geschnitten, geLeistungskontrolle, der Rechnungsstellung, spritzt und kuriert wird, sondern zu viel. konnte sich das Kartell der Kassierer bisErst kürzlich hat die Deutsche Röntgenlang durchringen. Nach wie vor haben ge- gesellschaft sachlich-kühl vermeldet, dass setzlich Versicherte keine Ahnung, wie viel auf gut die Hälfte der jährlich 100 Millioihre Behandlung eigentlich kostet, abge- nen Röntgenuntersuchungen verzichtet rechnet wird zwischen dem behandelnden werden könnte, ohne dass den Patienten irArzt, seiner Standesorganisation und der gendein Schaden entstünde. Für 20 ProKrankenkasse. Und weil der die entspre- zent der aufwendigen Gefäßerweiterungen chenden Daten lediglich auf Anfrage ge- lässt sich bei näherer Betrachtung kein trifliefert werden und auch dann nur in kom- tiger Grund erkennen. Von den derzeit im primierter Form, kann niemand beurtei- Klinikbetrieb besonders beliebten Eierlen, ob der Arzt tatsächlich dreimal den stock- oder Eileiteroperationen gilt jede Verband gewechselt hat, wie von ihm an- vierte als überflüssig, von den Blinddarmgegeben – oder nur einmal, ob er wirklich ein Ultraschallgerät eingesetzt hat – oder doch nur seine Hände. Aufwand und Ertrag stehen schon lange nicht mehr in einem vertretbaren Verhältnis. Allen verfügbaren Studien zufolge lassen die hohen Gesundheitskosten keinen direkten Zusammenhang mit den messbaren Zahlen der Volksgesundheit erkennen. Weder werden die Deutschen älter als ihre Nachbarn, die zum Teil deutlich weniger in ihr Gesundheitswesen investieren, noch ist ihr Wohlbefinden erkennbar höher. Auch beim Krankenstand belegen die Bundesbürger mit 16 Fehltagen pro Jahr einen Spitzenplatz unter den Industrienationen. Und gemessen an harten medizinischen Indikatoren wie Säuglings- und Müttersterblichkeit, postoperativen Komplikationen oder Lebenserwartung bei Krebsbehandlung liegen sie im internationalen Vergleich bestenfalls im Mittelfeld. Tatsächlich drängt sich schon nach einem flüchtigen Blick in die medizinischen Fachzeitschriften und Bulletins der Eindruck auf, dass die Deutschen nicht an einer Unter-, sondern eher an einer Überversorgung Operation per Roboter s p i e g e l M. MATZEL / DAS FOTOARCHIV Tagamet 4 4 / 1 9 9 9 Cilest Verhütungsmittel, 63 Tabletten Großbritannien Italien Deutschland Frankreich Österreich 19,39 Mark 23,94 Mark* 26,38 Mark 49,71 Mark 51,78 Mark *Packungsgröße umgerechnet überhaupt vertragen“, sagt Norbert Klusen, Chef der Hamburger Techniker Krankenkasse. Dass Kosten und Nutzen gerade im Gesundheitswesen eklatant auseinander klaffen, dafür hat auch die zahlende Kundschaft mittlerweile ein ausgeprägtes Gespür. Nur 13 Prozent fühlen sich im Krankheitsfall „sehr gut versorgt“, 57 Prozent „eher gut“, doch immerhin 23 Prozent „eher schlecht“ und 7 Prozent sogar „sehr schlecht“. Vor vier Jahren betrug die Zahl derer, die mehrheitlich zufrieden oder gar sehr zufrieden sind, noch 91 Prozent. So uneinig sich die Fachleute in der Therapie des maladen Gesundheitssystems auch sind, so einig zeigen sie sich in der Diagnose der Ursachen seiner Fehlfunktionen. Im Gegensatz zu jedem anderen Wirtschaftsbereich gilt im Gesundheitswesen nicht das Prinzip von Angebot und Nachfrage, nicht einmal theoretisch. Ausgerechnet im milliardenschweren Medizinbetrieb ist der entscheidende Steuerungsmechanismus des Wirtschaftslebens, der Preis, außer Kraft gesetzt. Wer einmal seinen Beitrag in die Krankenversicherung entrichtet hat, kann fortan jede Leistung unbegrenzt in Anspruch nehmen, auf Wunsch auch mehrfach. Eine fabelhafte Ausgangslage, auf die sich die weiße Zunft ihrerseits kostentreibend ein- B. NIMTSCH / DAS FOTOARCHIV operationen bei Frauen sogar jede dritte. „Medizinisch nicht indiziert“ heißt es dazu in den entsprechenden Klinikstudien, die Nebenwirkungen gibt es gratis dazu. Und dass von den jährlich 800 Millionen verordneten Medikamentenpackungen nach Durchsicht des Beipackzettels schätzungsweise 20 Prozent unangebrochen bleiben, mithin Arzneimittel für vier Milliarden Mark im Müll landen, ist aus Sicht der Profis nur von Segen für die Allgemeinbevölkerung: „Ich wundere mich manchmal, wie gesund unsere Patienten sein müssen, dass sie all die Medikamente Landarzt (auf der Insel Hiddensee) Jeder Handgriff wird in Rechnung gestellt gestellt hat, schließlich ist zwar das Preisregulativ außer Kraft gesetzt, nicht aber der Erwerbstrieb der „Leistungserbringer“. Was liegt näher, als einer Schwangeren außer regelmäßigem Ultraschall auch eine Fruchtwasserentnahme zu empfehlen? „Z. A.“ (zum Ausschluss von) oder „V. a.“ (Verdacht auf), diese Kürzel auf der Krankenakte rechtfertigen heutzutage fast jeden Aufwand: von der ausführlichen Laboruntersuchung über EKG und EEG bis hin zur wöchentlichen Röntgenkontrolle und, bei besonders empfindsamen Seelen, auch zu psychotherapeutischen Sitzungen oder homöopathischer Schüttelmedizin. „Z. A.“ können natürlich noch diverse Fachkollegen herangezogen werden, der Internist, der Kardiologe, der Hals-NasenOhren-Spezialist, die sich dann gern revanchieren. Solche Ringüberweisungen sind zwar verboten, in der Regel aber kaum zu erkennen, es sei denn, man stellt sich so dreist an wie jüngst ein Berliner Allgemeinmediziner, der mit zwei Kollegen der Einfachheit halber nur die Überweisungsformulare tauschte, Diagnose inklusive. Gerichtsnotorisch wurde dieses Verfahren, als der Doktor einen bevorstehen37 Titel dienten, waren den Medizinern prompt zu vergüten. Die finanziellen Folgen der nun einsetzenden Dauerkonjunktur des Medizinbetriebs ließen nicht lange auf sich warten. Beliefen sich die Ausgaben der Krankenkassen 1960 noch auf vergleichsweise bescheidene 9 Milliarden Mark, schnellten sie bis Mitte der Siebziger auf 61 Milliarden Mark steil in die Höhe. Und nicht nur die Zahl der Medizinstudenten begann rapide zu steigen, was angesichts der verlockenden Aussicht auf einen Job, der die Vorzüge einer freiberuf- Derjenige hingegen, der die Differenzialdiagnostik beherrscht, Krankheitsbilder also genau zu deuten und damit auch zu behandeln weiß, minimiert durch Effizienz automatisch sein Einkommen. Ein Prinzip, an dem sich bis heute nichts geändert hat. Und weil die Einzelleistungsvergütung das klärende Wort oder die klassische Abklopfmethode weitaus schlechter stellt als den Befund mittels Elektrokardiogramm, Sonographie oder Röntgengerät, gleichen heute selbst mittelprächtige Landarztpraxen ausgewachsenen Hochtechnologiezentren. Von allen Zulieferindustrien des Medizinbetriebs verzeichnet keine so heftige Umsatzsprünge wie das Die falsche Therapie Spezialgewerbe der Großgeräte287 032 hersteller. Allein zwischen 1988 und 1992 Viele Ärzte bewirken . . . stiegen die erstattungspflichtigen Zahl der berufstätigen Ausgaben für Sonographie um 85, Ärzte in Deutschland die für Kernspintomographie um sage und schreibe 434 Prozent – die 1990 1992 1994 1996 1998 teuren Apparate müssen schließlich 237 750 ausgelastet werden. Da trifft es sich gut, dass mit . . . noch kein langes Leben neuen Geräten und DiagnosetechLebenserwartung Ärzte auf je 10 000 Einwohner Männer Frauen niken auch neue Volkskrankheiten auftauchen, die Osteoporose etwa, Spanien 41,0 74,6 82,0 auch Knochenschwund genannt. Deutschland 34,1 74,1 80,3 Insgesamt 30 Millionen Mark geChefarzt-Visite im Krankenhaus (in Hannover) ben die Kassen pro Jahr für die Wie eine Lizenz zum Gelddrucken Frankreich 29,2 74,6 82,3 Knochendichtemessung aus, ein aufwendiges, nur leider ziemlich Krankenhausmanagement auf die Füße treNiederlande 25,6 75,2 80,6 nutzloses Verfahren. Da es bisher ten, wenn er sich doch jederzeit bei den keine wirksame Therapie gibt, werBeitragszahlern schadlos halten kann? Und USA 23,1 72,7 79,4 den die meisten Patienten mit der welches Interesse sollte ein Patient haben, Japan 16,5 77,2 83,8 Aufforderung nach Hause geseine Versicherung zu schonen, wenn für Quelle: Bundesschickt, künftig drei Gläser Milch all seine Ansprüche stets die Allgemeinärztekammer, Großbritannien 15,1 OECD 74,3 79,4 zu trinken. heit geradestehen muss? Mitunter steckt der Grund für Den Grundstein für das heutige Gedie unvermutete Zunahme Besorgsundheitssystem legte der Deutsche Reichstag im Juni 1883 mit seinem „Gesetz be- lichen Tätigkeit mit denen einer quasi be- nis erregender Massenbefunde, ganz protreffend die Krankenversicherung“, der er- amtenrechtlichen kombiniert, noch leicht fan, im Einheitlichen Bewertungsmaßstab sten Sozialreform, die Reichskanzler Otto einsehbar war. Auch das Einzelhonorar (EBM), der Abrechnungsbibel der Medizivon Bismarck auf den Weg brachte. Ge- verdreifachte sich binnen eines Jahrzehnts ner. So hat sich die Zahl der Frauen, bei dedacht war zunächst an eine Grundabsi- von 66 526 Mark (1965) auf 213 104 Mark nen eine Risikoschwangerschaft diagnosticherung gegen schwere Krankheiten und (1975); nimmt man die Kosten hinzu, die ziert wurde, in Deutschland deutlich erBeschwernisse, entsprechend moderat wa- jeder Doktor durch Verschreibungen, La- höht – und zwar just seit dem Tag, an dem ren die Beiträge. Knapp drei Prozent des borstudien oder die Konsultation von im Honorarschlüssel eine entsprechende Bruttolohns mussten die Versicherten in Kollegen verursacht, liegen die jährlichen Abrechnungsziffer auftauchte. Auf Betreiben der Fachärzte wurde jene die neu gegründeten Ortskrankenkassen Ausgaben pro Kassenarzt heute bei durchZiffer, die für eine Kniespiegelung gilt, einzahlen, ein Drittel der Kosten trugen schnittlich einer Million Mark. die Arbeitgeber. Als besonders verhängnisvoll erwies sich per EBM besser gestellt – Zunahme der Schnell wuchs der Kreis der Versicher- dabei im Rückblick die 1955 auf Druck der Arthroskopie binnen eines Jahres: 84 Proten, nach den Arbeitern wurden auch An- Ärzteschaft ebenfalls eingeführte Einzel- zent. Und dass selbst eher handwerklich gestellte zugelassen, dann alle Familienan- leistungsvergütung. Hatten die Ärzte bis orientierte Berufsstände wie die Orthopägehörigen, und mit zunehmender Mitglie- dato pro Patient und Quartal gegen Vorla- den neuerdings gehäuft eine gründliche derzahl stiegen die Kassen zu mächtigen ge des Krankenscheins eine Pauschale be- Aussprache in Rechnung stellen, lässt sich Organisationen auf, denen die Ärzte zu- kommen, einen Fixbetrag, der alle Be- nach Ansicht der Experten nur so erklären, nächst keine wirklich starke Lobby entge- handlungsschritte abgalt, konnten sie nun dass auch die Vergütung der so genannten genzusetzen hatten. jeden einzelnen Handgriff in Rechnung sprechenden Ziffern angehoben wurde. So schafft sich das Angebot seine eigene Stolz verkündete die Kassenärztliche stellen. Die Approbation glich damit einer Nachfrage, „ökonomische Indikation“ nenVereinigung ihre Gründung im Jahre 1933, Lizenz zum Gelddrucken. doch erst 1955 gelang der Ärzte-GenosNur langsam dämmerte den politisch nen die Fachleute diese Form der Heilsenschaft mit dem so genannten Sicher- Verantwortlichen, welche absurden Effek- kunst, und nicht einmal Ärzte behaupten, stellungsauftrag der entscheidende Durch- te gerade diese Neuregelung zeitigte. So das alles zum Wohle des Patienten gebruch: Alle Leistungen, die der „bedarfs- verdient der Doktor am meisten, der sei- schähe. Befragt, welcher der von ihnen so gerechten Versorgung“ der Bevölkerung nen Patienten förmlich auf den Kopf stellt. eifrig angepriesenen Therapien sie sich selH. CHRISTOPH / DAS FOTOARCHIV den Praxisumzug versehentlich per Computerbrief auch dem Teil seiner Kunden annoncierte, der seine Praxis nie von innen gesehen hatte. Das Risiko, bei der „Optimierung“ seiner Abrechnung aufzufliegen, wie die Manipulation in der Fachsprache heißt, ist gering, denn es gibt keine wirksamen Sanktionen. Was kümmert einen Klinikdirektor, dass im Schnitt 20 Prozent seiner Betten fehlbelegt sind, wenn seine Finanziers, die Krankenkassen, per Gesetz zur Übernahme aller Kosten verpflichtet sind? Warum wiederum soll ein Kassenchef dem 38 d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Titel „Radikale Normalisierung“ Wie sich Krankenhäuser auf den beginnenden Wettbewerb um Patienten einstellen. 40 C. AUGUSTIN / ACTION PRESS R outineeingriffe im Krankenhaus von heute: Herzschrittmacher werden implantiert, künstliche Hüftgelenke eingesetzt, Kopfschmerzen per Computertomograf untersucht. In Kliniken geht es inzwischen wie in Hightech-Zentren zu, die Methoden zur Diagnose und Therapie werden immer aufwendiger. Je mehr Medizintechnik im Einsatz ist, desto steiler steigt die Nachfrage nach ihr. Denn automatisch wächst die Zahl der Nebenbefunde, die aufgeklärt sein wollen – wer einmal anfängt zu untersuchen, der findet auch etwas. Kein Wunder, dass die Behandlung im Krankenhaus der bei weitem größte Posten in der Bilanz der gesetzlichen Krankenversicherung ist. Die Ausgaben haben sich seit 1980 von 25,5 Milliarden auf 85,1 Milliarden Mark mehr als verdreifacht. Mit 66 Betten pro 10 000 Einwohner verfügen Deutschlands Kliniken über so viel Kapazität wie fast nirgendwo sonst auf der Welt. Jedes Jahr erhöhten sie ihre Etats und hoben die Pflegesätze an gemäß dem Gesetz, das der amerikanische Gesundheitsökonom Milton Roemer schon 1959 aufgestellt hat: „A built bed is a filled bed and a billed bed“ („Ein gebautes Bett ist ein belegtes Bett und ein abgerechnetes Bett“). Bislang zahlten die Kassen anstandslos jeden Preis für den Fortschritt. Seit etwa einem Jahrhundert hätten Krankenhäuser im Grunde immer unter den gleichen Verhältnissen gearbeitet, sagt Heinz Lohmann, Vorstandssprecher des Landesbetriebs Krankenhäuser (LBK) in Hamburg: „wie in einem Naturschutzpark“. Nun aber beobachtet Lohmann, wie in der Branche eine „radikale Normalisierung“ beginnt: Krankenhäuser konkurrieren um Patienten, weil nicht mehr alles, was medizinisch machbar ist, auch finanzierbar sei. Wie andere ehemals staatsnahe Bereiche, Telekommunikation oder Energieversorgung, breche nun der Krankenhaussektor auf in eine zunächst reglementierte Marktwirtschaft, glaubt Lohmann: „Es wird einen Ausleseprozess geben.“ Bis 2010, schätzt der Manager, werden 20 bis 30 Prozent der Kliniken in Deutschland nicht mehr existieren: „Kein Mensch kann das alte System bewahren.“ Vor gut vier Jahren hat Lohmann begonnen, sein Unternehmen – mit über 13 000 Beschäftigten, die 400 000 Patienten im Jahr versorgen, größter Arbeitgeber Hamburgs und größter Gesundheits- Gesundheitsmanager Lohmann Teurer, nicht besser Kosten bei Herzkranken in Mark Herztransplantation Operation: 109 173 Mark, Medikamente/Untersuchungen: 43 962 Mark jährlich 548 793 Konservative Behandlung Kleinere operative Eingriffe, Medikamente, Untersuchungen 153 135 165 500 16 550 Quelle: UKE, Hamburg 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Jahre betrieb bundesweit – auf Wettbewerb zu trimmen. Damals standen 100 Millionen Mark Verlust in den Büchern der LBK. Die Kassen hielten sich erstmals strikt an die Budgetierung, die der damalige Gesundheitsminister Horst Seehofer eingeführt hatte. Das Budget des LBK war um neun Prozent gekürzt worden, dessen Ausgaben aber waren um sechs Prozent gestiegen. Lohmann setzte einen schmerzhaften Prozess in Gang. 2000 Arbeitsplätze wurden abgebaut, zwei Kliniken fusionierten, eine wurde geschlossen. In der Folge schrumpfte das Defizit, im kommenden Jahr soll der Haushalt wieder ausgeglichen sein. Helfen bei der Schrumpfkur wird ein neues Abrechnungssystem. Mit „Diagnostic Related Groups“ (DRG) will Lohmann herausfinden, wie wettbewerbsfähig jede einzelne Dienstleistung seiner Krankenhäuser ist. Dazu werden alle Leistungen in 641 einzelne Diagnose-FallGruppen unterteilt und Durchschnittswerte der Behandlung ermittelt. Sie kennzeichnen unter anderem die durchgeführte Operation oder das Alter und Geschlecht des Patienten. d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Damit wird es möglich, den Aufwand für jeden einzelnen Fall zu bestimmen, er wird ins Verhältnis gesetzt mit dem Aufwand für einen Durchschnittspatienten, der den Wert „1,00“ zugeordnet bekommt. Bei dem New Yorker Hospital, das als Vorbild diente, wird zum Beispiel eine Blinddarmoperation mit 0,81 bewertet, während die langwierige Leukämie-Behandlung 11,7 Punkten entspricht. Nun kann Lohmann verfolgen, wie weit jedes seiner acht Krankenhäuser von diesen Werten abweicht und damit ihre Leistung vergleichen. „Wir haben damit ein Benchmark-System im eigenen Unternehmen“, sagt Lohmann. Die meisten Kliniken in Deutschland sind noch nicht so weit. Die stationären Behandlungen werden nach wie vor überwiegend über Pflegesätze abgerechnet, die sich nach den anfallenden Kosten orientieren, nicht nach der Leistung. Damit verpuffte bislang der von Seehofer erhoffte Spareffekt durch so genannte Fallpauschalen und Sonderentgelte. Wenn ein Krankenhaus hier Verluste erzielt, kann es sie wieder ausgleichen: Es muss nur den Pflegesatz anheben. Lohmann schwebt daher vor, das DRG-Verfahren nicht nur im Hamburger Landesbetrieb, sondern bundesweit zum Einsatz zu bringen. Bei Gesundheitsministerin Andrea Fischer habe diese Umstellung höchste Priorität, sagt er. So könne man herausfinden, wie wirtschaftlich jedes Krankenhaus arbeitet. Dann werden wohl überraschende Ergebnisse ans Tageslicht kommen. Herzchirurgen des Universitätskrankenhauses Eppendorf in Hamburg (UKE) haben kürzlich ihre Erfahrungen mit unterschiedlichen Behandlungsmethoden der Patienten ausgewertet, die seit 1983 zur Herztransplantation vorgestellt wurden und nicht einen sofortigen Eingriff benötigten, um zu überleben. Ergebnis: UKE-Patienten, die konservativ, also mit Medikamenten oder konventionellen chirurgischen Maßnahmen behandelt wurden, hatten eine vergleichbare Lebenserwartung wie Patienten, denen ein neues Herz transplantiert wurde. Die Prognose für die nur mit Medikamenten behandelten Patienten sei „tendenziell sogar besser“. Der Unterschied zwischen beiden Methoden: Nach zehn Jahren kostet die Medikamenten-Behandlung 165 500 Mark, die Transplantation dagegen 548 793 Mark – das sind 232 Prozent mehr. Globale Konzerne Pharma-Umsatz 1998 in Milliarden Dollar 15,5 1. Merck & Co. 2. Glaxo Wellcome 13,3 3. Astra Zeneca 12,8 4. Pfizer 11,8 5. Bristol Meyers Squibb 11,4 6. Novartis 11,1 7. Roche 9,9 12. Hoechst 16. Bayer 7,8 4,8 S. ELLERINGMANN / BILDERBERG Wirkstoffe enthalten, dafür aber den Vorteil haben, als Originalpräparate aus der so genannten Festpreisbindung entlassen zu sein. Ganze Bataillone von Pharmareferenten sind damit beschäftigt, dem Absatz vor Ort aufzuhelfen, und nicht immer belassen es die Außendienstler bei guten Worten. Mal werden den Medizinern ReiMedizinische Forschung*: Kostenschub durch Fortschritt sen spendiert, wenn sie ein neues Produkt an den Patienüber 7000 Einzelbestimmungen verab- ten bringen, mal locken Prämien für so geschiedet, darunter so wohlklingende wie nannte Qualitätsstudien. Und schon haben die Ärzte ein neues das „Gerechtigkeitsfestigungsgesetz“ oder, zuletzt im Dezember vergangenen Jahres, Betätigungsfeld ausgemacht, das Kompendas „Gesetz zur Stärkung der Solidarität in sation für entgangene Gewinne verspricht: die von Ministerin Fischer als besonders der gesetzlichen Krankenversicherung“. Doch so schnell sich das Gesetzesrad förderungswürdig erkannte Vorsorgeunterauch drehte, das Beharrungsvermögen des suchung. „Lichtblick: freie Fahrt für PrävenSystems war stärker. Entweder wurden die tion“, verkündet die deutsche „Medical ministeriellen Anordnungen trickreich um- Tribune“ frohgemut und listet sogleich all die „Check-ups“ auf, die von den Kassen gangen – oder einfach ignoriert. So erwies sich die von Seehofer erlasse- „außerhalb der gedeckelten Gesamtvergüne Großgeräteverordnung als reine „Luft- tung zu bezahlen sind“: „Krebsvorsorge, nummer“, wie der Initiator freimütig ein- Schwangerschaftsvorsorge, alle Kindervorräumt. Keinerlei Wirkung zeigte die Andro- sorgen sowie die Schutzimpfungen“. Ohnehin weist jede Ausgabenbegrenhung eines empfindlichen Regresses für Ärzte, die zu viele Rezepte ausstellen; An- zung einen grundsätzlichen Mangel auf: fang des Jahres sah sich Andrea Fischer zu So führt das Budget zwar zunächst dazu, einer Generalamnestie genötigt. Und als dass sich die Betroffenen nur noch unterdie Krankenkassendirektoren für eklatan- einander um einen möglichst großen Teil tes Missmanagement per Gesetz in Haf- vom Kuchen balgen; es tritt eine Art tung genommen werden sollten, schlossen Hamsterradeffekt ein, wie er derzeit bedie auf Kosten der Versicherten einfach sonders gut bei den niedergelassenen Ärzten zu beobachten ist. Da jede Mehrarbeit entsprechende Zusatzversicherungen ab. Auch die Pharmaindustrie hat längst ge- die Menge der zu vergütenden Leistungen lernt, flexibel auf staatliche Preisregulatio- vergrößert, die auszuschüttende Gesamtnen zu reagieren: Da werden kurzerhand summe aber stabil ist, sinkt der Punktwert die Packungsgrößen geändert oder neue des einzelnen Handgriffs immer weiter Arzneimittel auf den Markt gebracht, die ab, und dies umso stärker, je mehr sich lediglich Variationen längst bekannter die Ärzte bemühen, den Einnahmeverlust durch weitere Arbeit aufzuPharmafabrik (in Leverkusen): Milliarden für den Müll fangen. Gerade dieser Verteilungskampf aber, der ja der eigentliche Grund für die heftigen Proteste der Ärzteschaft ist, hat auch für das Gesamtsystem höchst unangenehme Folgen. So veranlasst der anhaltende Preisverfall die Ärzte nicht nur, möglichst viele Patienten unter Einsatz von möglichst viel Technik durch ihre Praxen zu schleusen – eine von allen Gesundheitspolitikern zu Recht beklagte Form der Rationalisierung, die der Qualität der Gesundheitsversorgung nachweisbar schadet. Die Sprechstunde nach Stoppuhr treibt auch das DPA ber unterziehen würden, waren die Doktoren deutlich reserviert. Bei einer gutartigen Prostatawucherung zum Beispiel würden lediglich knapp 40 Prozent der Mediziner das Gewebe bei sich selbst entfernen lassen, normale Patienten hingegen werden zu über 80 Prozent operiert. Begünstigt wird die Vielgeschäftigkeit („Polypragmasie“) durch den Umstand, dass jede langfristige Beobachtung und Bewertung neuartiger Behandlungsmethoden fehlt. Für einen Großteil der gängigen Therapieverfahren existiert bis heute kein Nachweis ihrer Wirksamkeit. Seit Jahren schlagen Experten deshalb vor, Leitlinien zu entwickeln, die ein sachgerechtes und stufenweises Vorgehen vorschreiben. Doch bislang sind all diese Vorschläge am Verweis auf die „Therapiefreiheit“ gescheitert, auch wenn entsprechende Modelle wie etwa in der Schweiz zeigen, dass sich bei einer solchen Leitlinien-Medizin die Qualität der Behandlung eindeutig verbessert. All dies haben die politisch Verantwortlichen natürlich erkannt, und so ist die Geschichte der Kostenexplosion im Gesundheitswesen auch eine Geschichte der Kostendämpfung. Seit der seinerzeit zuständige SPD-Sozialminister Herbert Ehrenberg 1977 dieses Wort erfand, hat der Deutsche Bundestag rund 50 Gesetze und * Bioreaktor zur Erforschung der künstlichen Leber. 41 Werbeseite Werbeseite Titel Kostentreiber Kasse: Insgesamt geben die 582 Krankenversicherungen 13 Milliarden Mark jährlich für die Verwaltung aus Kaufmännische Krankenkasse KKH Deutsche Angestellten-Krankenkasse Barmer Ersatzkasse Innungskrankenkasse Hamburg Betriebskrankenkasse der Stadt Hamburg FOTOS: D. KRUSE Techniker Krankenkasse Arzneimittelbudget in die Höhe. Je weniger Zeit ein Arzt nämlich seinem Patienten widmen kann, desto eher ist er geneigt, den Rezeptblock zu zücken. Die Verschreibung dient ihm gewissermaßen als Leistungsnachweis, mit einem dann nur schwer korrigierbaren Gewöhnungseffekt beim Kunden. Statt Anreize zu setzen, sich kostenbewusst zu verhalten, verstärken Budgets also nur die Verschwendungssucht. Und weil kein Gesundheitsminister den Versicherten einen Verzicht auf neue Heilmethoden zumuten kann, sah sich noch jeder Amtsinhaber nach kurzer Zeit gezwungen, Geld nachzuschießen und neue Ausgabentöpfe zu eröffnen – „Ausdeckelung“ heißt dafür das Fachwort. So zweifelhaft die bisherigen Bemühungen der Politik sind, das malade System mit immer neuen Vorschriften, Gesetzen und Verordnungen stabilisieren zu wollen, so unbestritten ist auch die Pflicht des Gesetzgebers, endlich vorausschauend und entschieden zu handeln. Es sind vor allem zwei Entwicklungen, die eine grundlegende Neuorientierung in der Gesundheitspolitik erzwingen werden, wenn die Beiträge zur Krankenversicherung nicht schon bald auf 20 oder gar 25 Prozent des Bruttolohns steigen sollen: der demografische Wandel, also die Tatsache, dass den Jungen immer mehr Alte gegenüberstehen, und der medizinisch-technische Fortschritt. Welche zusätzlichen Belastungen gerade die Überalterung der Gesellschaft für die gesetzliche Krankenversicherung bringen wird, hat der Trierer Wirtschaftsprofessor Eckhard Knappe im Detail erforscht. So wird die Zahl der 20- bis 60-Jährigen bis zum Jahr 2040 voraussichtlich von heute 46,7 Millionen auf 36,2 Millionen sinken, die Zahl der Rentner aber, die im Schnitt nur den halben Beitragssatz eines Aktiven entrichten, auf Grund stetig steigender Lebenserwartung um gut 5 Millionen zunehmen. Ein Doppeleffekt, der das ohnehin angeschlagene System dann vollends aus der Balance bringt. Verschärft wird diese Krise noch, weil ältere Menschen nicht nur weniger einzahlen als jüngere, sondern auch weitaus höhere Kosten verursachen. Aller Erfahrung nach nimmt der Bedarf an medizinischer Betreuung ab dem 40. Lebensjahr kontinuierlich zu, vor allem die Neigung zu chronischen und damit behandlungsintensiven Leiden steigt mit dem Alter. Ein 80-Jähriger verbraucht im Jahr Gesund- heitsleistungen im Wert von rund 7000 Mark, mithin sechsmal so viel wie ein Jugendlicher. Die Behandlungskosten der Rentner erhöhen sich zudem laufend, weil die medizinische Eingriffsschwelle stetig sinkt. Heute werden auch Gebrechen und Abnutzungen, die noch vor einer Generation als lästige, aber eben unvermeidliche Begleiterscheinungen des Alters galten, aufwendig diagnostiziert und therapiert – selbst wenn eine Heilung kaum in Aussicht steht. Versicherungstechnisch gesehen ist das Alter, ebenso wie Schwangerschaft und Geburt, keine natürliche Lebensphase mehr, sondern eine Krankheit. Die Publizistin und Ärztin Heidi Schüller hat am Beispiel ihres Vaters eindrucksvoll gezeigt, wie aus einem etwas altersschwachen, aber doch rüstigen Rentner bei genauer Begutachtung ein Todkranker wird. Das gelegentliche IWGKnacken in den Gelenken – klares Prognose 17,5 Preis der Zeichen von „Arthrose“; der nächt2030 Gesundheit liche Harndrang – „Prostataadenom mit Miktionsstörung“; der Durchschnittliche Beitragssätze zur Hang zu längeren VerschnaufGesetzlichen Krankenversicherung pausen – eindeutiges Indiz für in Prozent des Bruttolohns, „Herzinsuffizienz“ und „Belas13,5 Arbeitgeber- und tungsdyspnoe“. Arbeitnehmeranteil 12,8 Welchen zusätzlichen KostenOstdeutschland schub der medizinische Fortschritt 13,9 11,4 auslösen wird, das ist unter den Forschern noch umstritten. Nur dass ein wirksames Aids-Medikament oder eine neue Krebstherapie die Versicherungen auf einen Schlag 8,2 mit einem zweistelligen Milliardenbetrag belasten und damit je1970 1980 1990 1999 des Budget sprengen werden, das d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 43 Titel S. ELLERINGMANN / BILDERBERG Auch für den Krankenhausbetrieb raten Gesundheitsökonomen zu einer Umstellung der Honorarstruktur. Statt wie bislang nur gut 20 Prozent der Eingriffe über Pauschalen abzurechnen, sollten künftig, so ihr Vorschlag, alle im Zusammenhang mit einer Operation anfallenden Leistungen gebündelt und mit einem Gesamthonorar vergütet werden. Vorzug dieser Lösung: Erstmals wäre die Kostenstruktur transparent und leicht vergleichbar; die Ärzte wären gehalten, effizienter und vor allem sauberer zu arbeiten. Bislang nämlich bedeutet auch jede Komplikation für das Hospital einen geldwerten Vorteil. Vor allem aber muss die Politik mehr Wettbewerb zulassen, also dafür sorgen, dass die Krankenkassen endlich in der Lage sind, ihrem gesetzlichen Auftrag nachzukommen, die ihnen anvertrauten Gelder „ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich“ einzusetzen. Warum beispielsweise, so fragen sich die Wissenschaftler, wird dem einzelnen Versicherungsunternehmen nicht endlich das Recht zuerkannt, dem Kunden eine Liste ausgewählter Ärzte an die Hand zu geben, mit denen zuvor Sonderverträge geschlossen wurden? Die Idee dabei ist simpel: Die Vertragsärzte verpflichten sich auf die Einhaltung bestimmter Standards und erklären sich zudem bereit, alle Abrechnungen laufend kontrollieren zu lassen; der Patient wird an den eingesparten Kosten über einen Bonus beteiligt. Solch ein „Einkaufsmodell“ lässt sich selbstverständlich auf die Klinikwirtschaft übertragen und würde dort, davon sind die Fachleute überzeugt, ebenfalls segensreich wirken. Bislang nämlich müssen die Krankenkassen alle Verträge „gemeinsam und einheitlich“ abschließen, eine Regelung, die dazu führt, dass es auch auf das Votum der Kassen ankommt, denen zum Beispiel der gewerkschaftliche Organisationsgrad einer Klinik bedeutsamer erscheint als effizientes Management. Und dass gerade bei der Wirtschaftlichkeit gewaltige Unterschiede zwischen den einzelnen Krankenhäusern bestehen, können die agileren unter den Krankenkassen, die Innungen oder die Techniker, anhand eines mittlerweile ziemlich ausgefeilten Controllings gut erkennen – nur genützt hat ihnen diese Erkenntnis bislang wenig. Im Zweifel kann der Klinikdirektor immer auf ein paar Freunde auf der Gegenseite setzen, die er aus dem Sportclub oder dem örtlichen Parteiverein kennt. Wie paradox mitunter die politischen Vorgaben sind, zeigt auch der so genannte Risikostrukturausgleich. Gedacht war dieses Finanzinstrument zunächst, um die unterschiedlichen Kosten der Kassen auf Entspannungstherapie: Das Angebot schafft sich eine eigene Nachfrage ist heute schon sicher. Und wenn, wie Ex- erwünschten Nebenwirkungen auf dem perten vermuten, demnächst genetisch ver- Arbeitsmarkt zu minimieren. Als Nächstes wäre zu fragen, welche änderte Schweineherzen in den Menschen eingesetzt werden können, ohne Ab- Steuerungsinstrumente geeignet sind, für stoßungsreaktionen hervorzurufen, dann einen besseren Einsatz der Mittel zu sorgibt es in Deutschland nicht 500, sondern gen. Denn solange die Politik keine Anreipro Jahr 10 000 Herztransplantationen, ze setzt, wird sich auch an der irrwitzigen Überproduktion nichts ändern. Kosten pro Fall derzeit 500 000 Mark. Zu prüfen ist beispielsweise, ob anstelle Keine Frage also: Eine Reformdebatte ist überfällig – über den gezielteren Ein- der Punktwerttabellen nicht künftig wieder satz der Mittel und effizientere Kontrol- eine Art Fallpauschale gelten sollte, wie len, über das richtige Verhältnis markt- sie vor Einführung der Einzelleistungsverwirtschaftlicher Elemente und staatlicher gütung existierte, ein Vorschlag, den der Regularien, über eine moderne Gesund- ehemalige Berliner Ärztekammerpräsident Ellis Huber mehrfach gemacht hat. Für die heitspolitik also. Womöglich wird auf Anhieb nicht der Mediziner hätte diese Regelung den Vorgroße Wurf gelingen, vielleicht werden teil, dass sie verlässlich kalkulieren könnPolitiker, Bürger und all die am Gesund- ten und nicht erst nach Monaten wissen, heitswesen Beteiligten einen mühsamen, wie viel sie verdient haben. Und endlich manchmal auch frustrierenden Weg der entfiele der Anreiz, aus der Sprechstunde kleinen Schritte gehen. Reformvorschläge ein Geschäft mit der Krankheit zu machen. jedenfalls gibt es zuhauf, sie müssen nur endlich aus den ExpertenzirDie häufigsten Erkrankungen keln und Fachdebatten den Weg Arbeitsunfähigkeit nach Krankheitsarten vors große Publikum finden. 1998 in Prozent So wäre zunächst darüber zu reA U SFA L LTAG E den, wie viel den Deutschen ihre ERKRANKUNG Gesundheit künftig wert ist. Soll 14,3 auch weiterhin das Prinzip der BeiAtemwege 24,7 tragssatzstabilität gelten, was eine Rationierung besonders teurer Leistungen auf Dauer wohl unum26,8 gänglich macht? Oder sind die BürMuskel/ 19,1 Gelenk/ ger nicht vielleicht sogar bereit, Knochen mehr Geld für ein Gut zu investie7,4 ren, das Umfragen zufolge selbst Verdauung 12,8 vor „Sicherheit“ und „Wohlstand“ 15,6 rangiert – vorausgesetzt, sie gewinVerletzung/ nen den Eindruck, dass mit ihren Unfall 12,4 8,0 Beiträgen auch vernünftig gewirtHerz/Kreislauf 5,0 5,3 schaftet wird? Psyche 2,8 Und wenn dem so ist, muss man dann nicht endlich zur Kenntnis 22,6 Sonstige 23,2 nehmen, was die Fachleute seit Jahren fordern: nämlich den Beitrag zur Krankenversicherung vom Quelle: Wissenschaftliches Institut der Ortskrankenkassen Lohn zu entkoppeln, um so die un44 d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Titel DPA Grund ihrer Mitgliederstruktur auszuglei- genbeteiligungen oder den so genannten chend günstiger. Es ist ja ohnehin ein weit chen. Die reichere Kasse, die viele junge Selbstbehalt, wie ihn die privaten Versi- verbreiteter Irrglaube, dass sich VersicheVersicherte hat („gute Risiken“), muss der cherungen seit Jahren erfolgreich anbie- rungssysteme für den Kunden immer lohärmeren, zu deren Patientenstamm über- ten: Bis zu 1000 Mark an Arztkosten trägt nen. Die Ökonomen unterscheiden zwidurchschnittlich viele Alte und Kinderrei- der Patient selbst, gegen entsprechend schen unvorhergesehenen Risiken, gegen che zählen („schlechte Risiken“), finan- günstigere Prämien, erst dann zahlt die die ein Versicherungsschutz dringend geboten ist, und so genannten planbaren ziell beistehen. Versicherung. In der Praxis ist der Strukturfonds zu Gerade die rot-grüne Regierung hat es Operationen, also Kosten, die in jedem Fall einer Umverteilungsmaschine ausgeartet sich zum Ziel gesetzt, die Selbstbestim- auf einen zukommen und damit überund bestraft die Sparsamen. Wer clever mungsrechte des Patienten zu stärken. schaubar sind. Der Zahnersatz ist eine solwirtschaftet, indem er beispielsweise die Warum die Autonomierechte nicht erwei- che planbare Operation, und weil auch die Verwaltungskosten senkt oder ein moder- tern, den mündigen Bürger also auch die Assekuranzen wissen, dass der Schadensnes Vertragscontrolling aufbaut, muss mitt- Entscheidung treffen lassen, welchen Kran- fall mit nahezu hundertprozentiger Silerweile einen Großteil seiner Überschüs- kenversicherungstyp er für angemessen cherheit eintritt, müssen die Beiträge die erwartete Schadenssumme abdecken, zuse abführen. hält? Und auch die Gesundheitspolitiker beWie ein solches Stufenmodell aussehen züglich Verwaltungsgebühr. Woraus folgt: trachten den Finanzausgleich als einen könnte, hat der Sachverständigenrat für Wer beizeiten das Geld zurücklegt, fährt finanziell gesehen auf keinen großen Verschiebebahnhof. Fall schlechter, meist sogar So will Gesundheitsministedeutlich besser. rin Fischer nun die Not leiSelbstbeteiligungssysteme denden Ost-AOK mit zusind bei jenen Bürgern, desätzlich 1,3 Milliarden Mark nen sie bislang offeriert wuralimentieren lassen – ein den, durchaus beliebt: Von Koppelgeschäft, das ihr die den neuen Kunden der priZustimmung der Ostländer vaten Krankenversicherung im Bundesrat sichern soll. schließen über 90 Prozent Am Ende freilich werden einen entsprechenden Verdie politisch Verantwortlitrag ab – und das, obwohl chen nicht umhinkommen, der Arbeitnehmer, der einen auch die Patienten in die Teil des Kostenrisikos selbst Pflicht zu nehmen. Gerade trägt, einen geringeren Kranweil die Segnungen der kenkassenzuschuss vom ArSpitzenmedizin weiterhin jebeitgeber erhält. dermann zur Verfügung steUnd auch mit dem Stuhen sollen, bedarf es einer Säuglinge auf der Entbindungsstation*: Besonders förderungswürdig fenmodell haben die PrivatUnterscheidung zwischen dem, was die Bürger selbst tragen können, die konzertierte Aktion im Gesundheits- versicherungen gute Erfahrungen gemacht. und dem, was nur solidarisch zu finanzie- wesen anschaulich beschrieben. Die Basis Viele wählen bei entsprechendem Angeren ist. ist demnach eine Pflichtversicherung, die bot den so genannten Elementartarif. Sie Keine Frage, dass diese Grenze gerade der gesamten Bevölkerung auferlegt, sich sparen dabei 30 Prozent des normalen Beiim Gesundheitswesen besonders schwie- gegen alle ernsthaften Erkrankungen ab- tragssatzes und verzichten dafür auf gänrig zu ziehen ist. In keinem Markt fällt es zusichern, die den Schutz einer Solidar- gige Versicherungsleistungen wie Psychotherapie, Brille oder die Behandlung bei eiden Verbrauchern naturgemäß so schwer, kasse unabdingbar machen. die Notwendigkeit empfohlener LeistunHinzu kämen mehrere Aufbaustufen, nem Heilpraktiker. Gerade weil die Medizin am Beginn eigen zu bewerten. Selbst den strengen Be- mit Zusatzleistungen wie Kuren oder Masfürwortern des Wettbewerbs ist klar, dass sagen, die zudem die Möglichkeit einer ner Entwicklung steht, die ganz neue Techzwischen Praxis und Autowerkstatt ein ge- kleineren oder größeren Selbstbeteiligung niken und Heilungsmöglichkeiten eröffnet, waltiger Unterschied besteht, dass man bieten und gesunde Lebensführung hono- braucht das Land eine neue Gesundheitssehr wohl auf den Wechsel des Vergasers rieren. Dies heißt ja nicht, dass der Einzel- politik. Die Zeit, da alles bezahlbar war, verzichten kann, weil in diesem Monat nun ne auf gefährliche Sportarten oder den was technisch machbar ist, gehört der Vermal das Geld fehlt, nicht aber auf den Ein- übermäßigen Genuss von Alkohol ver- gangenheit an. Die Gesellschaft – und auch bau einer neuen Niere. zichten müsste, er kann nur nicht länger er- jeder Einzelne – muss sich entscheiden. Doch ebenso klar ist: Eine Reform, die warten, dass die erhöhten Kosten, die aus Wie viel Risiko trägt die Allgemeinheit? diesen Namen auch verdient, muss das Ge- seinem Lebenswandel erwachsen, von der Was ist uns unsere Gesundheit wert? Und sundheitsbewusstsein der Bürger stärken Solidargemeinschaft automatisch kom- ist das Machbare auch tatsächlich das Wünschenswerte? und sie dazu anhalten, nicht mit jeder pensiert werden. Einen nutzlosen Streit über „WirtKleinstbeschwerde zum Arzt zu laufen, Der Vorteil dieses „Zwiebelmodells“ nicht bei jedem Unwohlsein Pille oder liegt auf der Hand. Er baut nicht nur der schaftlichkeitsreserven“, „Globalbudget“ Spritze zu verlangen. „Nulltarif-Illusion“ vor, wie Ökonomen oder „Zwei-Klassen-Medizin“ jedenfalls Zudem lässt sich ja fragen, ob alle die weit verbreitete Annahme nennen, dass kann sich das Land am allerwenigsten Venensalben, Einlagen oder Stützstrümp- alle Gesundheitsgüter scheinbar kostenlos leisten. Gerade von einer rot-grünen Refe, wie heute üblich, überwiegend von zu haben sind. Erstmals hätten es die Ver- gierung darf die Republik mehr Mut zur der Allgemeinheit zu zahlen sind, ja so- sicherten auch in der Hand, ihr Gesund- Debatte erwarten. Es gilt – auch und vielgar teure Behandlungsmethoden, von heitsbudget selbst zu steuern. Wer das leicht gerade in der Gesundheitspolitik – denen sich bestenfalls sagen lässt, dass Rundum-Sorglos-Paket wünscht, zahlt den jener Satz von Willy Brandt, mit dem er sie die Gesundheit nicht ernsthaft be- normalen Beitragssatz; wer mit weniger den Wahlkampf 1972 siegreich bestand: einträchtigen. auszukommen glaubt, steht sich entspre- Wer morgen sicher leben will, muss heute für Reformen kämpfen. Die entsprechenden Instrumente sind bekannt und gut erprobt: Zuzahlungen, Ei- * Im Elisabethkrankenhaus in Leipzig. Jan Fleischhauer, Alexander Jung 46 d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Tee und Keks im Wartezimmer Deutsche Medizin ist teuer, britische günstiger, Schweizer und Schweden leben länger. Wer aber hat das beste Gesundheitssystem? W REX FEATURES ürde ein Schweizer mit Herzinfarkt ins britische Maidstone Hospital eingeliefert, erlitte er womöglich gleich eine zweite Herzattacke. Kinder weinen, Frauen stöhnen, Ärzte reanimieren geräuschvoll einen kollabierten Lastwagenfahrer. Schutz vor der beängstigenden Geräuschkulisse zwischen einem Dutzend Patienten aller Fachdisziplinen bieten allein ein paar luftige Vorhänge. Im „Accident & Emergency“-Department am Rande der Landeshauptstadt von Kent, südöstlich von London, geht es zu wie in einer amerikanischen Notarztserie. 800 Kilometer südlich, in Zürich, kann der kardiale Notfallpatient dagegen das ruhige Wunder der Hochleistungsmedizin erleben. Vermutet schon der Hausarzt einen Notfalleinsatz in Großbritannien: „Mit begrenzten Mitteln exzellente Medizin“ Herzinfarkt, wird der Patient im speziell eingerichteten „Kardiomobil“, Diagnose zweifelsfrei fest, rollt er direkt den Schränken. Kein Mangel soll im „besten Gesundheitssystem der Welt“, wie der „Rettungssanität mit Notarzt“, ins durch zur Intensivstation. Zehn Minuten für die Aufnahme, nach manche Eidgenossen es nennen, die Gestädtische Waidspital transportiert. Über den gepflegten Flur gleitet der Patient auf weiteren fünf Minuten baumeln alle not- danken trüben. Wer in Maidstone, Zürich oder Stockseiner Trage vorbei an Ein- und Zweibett- wendigen Infusionen am Arm des Patienzimmern in den Schockraum. Steht die ten. Alles, was gut und teuer ist, steht in holm aufs Krankenlager muss, macht höchst unterschiedliche Erfahrungen. Und was Schweizer oder Deutsche rebellieren ließe, wird von britischen Patienten scheinbar gelassen ertragen. Geduldig warten sie, Großer Aufwand, großes Wohlbefinden? eine Schwester reicht Tee und Keks, daGesundheitsausgaben in Veränderung Zufriedenheit der Bürger mit zwischen wirbeln Ärzte und machen das Prozent des Bruttoinlandsgegenüber dem jeweiligen GesundheitsBeste aus den knapp bemessenen Resprodukts 1997 1980 in Prozent system in Prozent sourcen. Deutschland Möglicherweise erst Stunden später wird 66,0 10,7 +21,6 der Patient in Maidstone nach der AkutFrankreich 65,1 9,6 +26,3 versorgung aus seinem Lazarett erlöst, findet auf der Coronary Care Unit, einer InSchweden 67,3 8,6 –8,5 tensivstation nur für Infarkt-Patienten, die ersehnte Ruhe. Um den Herzinfarkt-MessNiederlande 72,8 8,5 +7,6 wert „Troponin“, im Waidspital hoch geDänemark 86,4 8,0 –14,0 schätzt, wissen die britischen Ärzte zwar, aber solche diagnostischen Spezialitäten Belgien 70,1 7,6 +16,9 galten hier bislang als unerschwinglich. Sollte für den schwierigen Kasus eine Italien 16,3 7,6 +8,6 aufwendige Herzkatheterbehandlung notwendig werden, müsste der Patient nach Finnland 86,4 7,4 +13,8 London, ins 60 Kilometer entfernte Großbritannien 48,1 6,8 +21,4 „St. Thomas’s“-Hospital. Stefan Christen, 37, Leiter der KardioQuelle: OECD logie im Zürcher Waidspital, empfindet d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 47 Titel Mitleid für die „armen Teufel“ im König- dass jeder zweite britische Bürger mit dem reich. „Aber mit ihren sehr begrenzten Gebotenen prinzipiell zufrieden ist. In Mitteln“, sagt er anerkennend, „machen Griechenland und Italien dagegen halten acht von zehn Bewohnern das eigene Heilsie eine exzellente Medizin.“ Nichts ist schwieriger als ein Vergleich wesen für schlecht, zahlen aber gleichder Gesundheitssysteme. Hat jeder das wohl mehr. Eine Gemeinsamkeit hat das Recht auf einen „Zustand vollkommenen Komitee gefunden, die das auffällige Nordphysischen, psychischen und sozialen Süd-Frustgefälle erklärt: In Staaten, in deWohlbefindens“, wie es der Genfer Welt- nen eine Sozialversicherung Bismarckscher gesundheitsorganisation WHO vorschwebt? Prägung die Grundbedürfnisse befriedigt, Hängt das Glück am vollständigen Gebiss, wie Frankreich, Deutschland oder die prompter Versorgung, teurem Hightech- Schweiz, konzentriert sich das ZufriedenGerät oder zuvorkommendem Personal? heitsniveau im Mittelfeld. Wie steht es mit den Risikofaktoren? Wie viel wird getrunken, geraucht, gearbeitet, und wie gesund wohnen die Menschen? Mehr Geld jedenfalls beschert nicht zwingend ein längeres Leben. Betrug der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt 1997 in der Schweiz 10,0 und in Deutschland 10,7 Prozent, waren es in Finnland nur 7,4 Prozent. Während aber 1996 in Deutschland im Schnitt fünf Säuglinge auf tausend Lebendgeburten starben, waren es in Finnland nur vier. Und hat das finnische Kind überlebt, darf es wie ein deutsches gleichermaßen auf rund 77 Jahre Lebenszeit hoffen, das Schweizer Neugeborene lebt im Schnitt sogar noch zwei Jahre länger. Im Vereinigten Königreich arbeitet man, das ist offenkundig, unter ärmlichen Be- Rettungsfahrzeuge in Zürich: Alles, was gut und teuer ist dingungen. 1997 wurden nur In der Schweiz beispielsweise, mit ei6,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Gesundheitsleistungen ausgegeben. Der nem Versicherungsmodell ähnlich dem Lebenserwartung schadet dies kaum: Nur deutschen, wurde vor drei Jahren die Kopf0,3 Jahre büßt ein Brite gegenüber einem prämie eingeführt. Ob arm oder reich, geDeutschen ein – eine Abweichung, die man sund oder krank, jeder bezahlt dasselbe, unbesehen eher den Ernährungsgewohn- und jeder darf die Krankenkasse wechseln. Nur um die 250 Franken muss der Verheiten zuschreiben kann. Doch diese Fakten hindern deutsche sicherte für die Grundleistungen berappen Ärzte nicht daran, im 50 Jahre alten staat- – allerdings auch jedes weitere Familienlichen britischen National Health Service mitglied. Dass die Prämien pro Person (NHS) das Reich des Bösen zu wähnen, für deutsche Verhältnisse vergleichsweise eine sozialistische Plan-Medizin mit ein- gering anmuten, liegt an speziellen Eigengeschränkter Arztwahl, jahrelangen War- arten des Systems: Krankenhausbehandtezeiten, haarsträubenden Rationierungen, lungen werden zur Hälfte vom Bund subrudimentärer Zahnversorgung und brö- ventioniert, Patienten tragen je nach Tarif ckelnder Bausubstanz (SPIEGEL 37/1999). jährlich begrenzte Eigenleistungen, ErUnter der Knute des NHS degeneriere, so wachsene müssen für Zahnbehandlungen die gängige Meinung, der Doktor zur Exe- selbst bezahlen. In steuerfinanzierten Sozial- und Gekutive übergeordneter Instanzen. Innovative Eigeninitiative verdorre ohne finan- sundheitssystemen wie Dänemark oder zielle Anreize zur Beamtenmentalität. Von Großbritannien ist die Zufriedenheitssegensreicher Therapiefreiheit deutscher spannbreite nach oben und unten sehr viel größer: Das nach NHS-Vorbild konstruierFasson keine Spur. Gleichwohl zeigt das „Eurobarometer“ te dänische Modell begeistert die Kundder vereinigten europäischen Ärztevertre- schaft, während Italien, das 1978 das sotungen Committee of European Doctors, ziale Krankenversicherungssystem durch 48 d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 den Nationalen Gesundheitsdienst SSN ablöste, die eigenen Landsleute offenbar nicht überzeugt. Dabei ist „Sozialstaat“ nicht gleichbedeutend mit unbegrenzter, freier Medizinversorgung. Das zeigt das Beispiel Schweden. Vor zwei Jahren machte Frank Ulrich Montgomery, der Präsident der Hamburger Ärztekammer, damit Bekanntschaft. Montgomery, verheiratet mit einer schwedischen Ärztin, musste in Schweden mit seinen beiden Kindern, die unter Scharlach litten, zum niedergelassenen Kollegen. Zweimal verlangte der behandelnde Mediziner 130 Kronen, umgerechnet 30 Mark. In einem Wohlfahrtsstaat mit angeblicher „Vollversorgung zum Nulltarif“ habe er das nicht erwartet. Die Höhe des Obolus wird von den Kommunen festgesetzt und muss, bis zu einer variablen Obergrenze um 2000 Kronen pro Jahr, bei jedem Besuch bezahlt werden. Der direkte Besuch eines Facharztes ist teurer, als wenn der Patient zunächst den Hausarzt aufsucht. Die Tatsache, dass dieses System seit Jahren funktioniert – und in den letzten zehn Jahren sogar rückläufige Gesundheitsausgaben im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt verzeichnete –, zeige, so Montgomery, dass man die Restriktionen den Menschen begreiflich machen kann. Was den deutschen Ärztefunktionär aber besonders beeindruckte, war die Kompetenz der Mediziner und die „großartige apparative Ausstattung“. „Das sah appetitlich aus“, sagt Montgomery, „da habe ich mich fast für deutsche Praxen geschämt.“ Das muss deutsche Doktoren schmerzen. Denn immer wenn es bei Diskussionen hier zu Lande um Gesundheitsreformen geht, verteidigen die Funktionäre das „hohe Versorgungsniveau im deutschen Gesundheitswesen“. In Wahrheit wird viel Geld für überflüssige Untersuchungen ausgegeben. Übergründlich sind die Kardiologen etwa bei teuren Herzkatheteruntersuchungen. 4647 Eingriffe auf eine Million Einwohner zählte im vergangenen Jahr der „10. Bericht des Krankenhausausschusses der Arbeitsgemeinschaft der Obersten Gesundheitsbehörden der Länder“. In Schweden, keineswegs Land des epidemischen Herzversagens, waren es nur halb so viel. Auch die Deutsche Röntgengesellschaft musste auf ihrem Jahreskongress im Mai unnützen und strahlenbelastenden Diagnostik-Einsatz einräumen. Auf die Hälf- Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite te der 100 Millionen Röntgenuntersuchungen pro Jahr könne verzichtet werden, ohne die Qualität ärztlichen Handelns einzuschränken – und nebenbei würden 800 Millionen Mark eingespart. Da aber jeder approbierte Arzt mit kurzer Zusatzausbildung röntgen dürfe, sei dies eben schwer zu verhindern. Wenn in solchem Zusammenhang über Richtlinien und Kassenaufsicht zur Qualitätssicherung debattiert wird, winden sich die Ärztefunktionäre. Auf dem 102. Ärztetag im Juni bestanden sie weiterhin auf dem Mediziner, der „in beruflicher Unabhängigkeit nach medizinischen Kriterien frei entscheiden könne“. Verbindliche Leitlinien, wie Andrea Fischers Reformentwurf es vorsieht, produzierten nur „gegängelte Ärzte“. Dies führe, heißt es drohend in der Entschließung zum Ärztetag, zwangsläufig zu „gegängelten Patienten“. In anderen europäischen Ländern, allen voran Großbritannien, hat man längst akzeptiert, dass angesichts von 25 000 Fachzeitschriften umfassende Kenntnis il- Ärztefunktionär Montgomery: „Fast geschämt“ lusorisch ist. „Klinische Freiheit“, so fasste es ein britischer Kardiologe nal Institute for Clinical Evidence“. Nice knapp zusammen, könne im besten Fall soll nicht nur bewerten, ob ein medizinials Deckmantel für Ignoranz gelten, im sches Verfahren nutzt, sondern auch, ob es schlimmsten als Entschuldigung für kosteneffizient arbeitet. Quacksalberei. Auch der schwedische Ärztefunktionär Als Wegweiser durch die Informations- Anders Milton hält eine größere Uniformassen, auch für den Durchschnittsarzt, mität, Konsequenz des in der normabietet sich die Evidence-Based Medicine len Betriebswirtschaftslehre so genannten (EBM) an. Die an der McMasters-Univer- Benchmarking, in der Behandlung für sität in Kanada entwickelte Methode setzt möglich. In 75 Prozent der Fälle handele es auf die konsequente Anwendung statisti- sich um die immer gleichen Dauerbrenscher Methoden. EBMler sichten akribisch ner. Bei Bluthochdruck, Rückenbeschwerauch abgelegene wissenschaftliche Infor- den und Fettstoffwechselstörungen müsse mationen und bereiten sie in so genannten doch eine weitgehend vereinheitlichte Cochrane Collaborations für die prakti- Therapie möglich sein. Außerdem sei nicht sche Arbeit von Ärzten auf. alles sinnvoll, was machbar ist. „Bei Der Nutzwert von Vorsorgeuntersu- 80 Prozent aller 80-Jährigen ist die Auchungen steht genauso auf dem Prüfstand genlinse eingetrübt, aber sie haben kaum wie gewohnheitsmäßige Blutuntersuchun- Probleme damit“, sagt Milton und fragt: gen. Immer wieder fragen sich die Ärzte: „Sollen wir alle operieren?“ Halten die Verfahren wirklich das, was sie Auch Stefan Christen und seine Kollegen versprechen? im Waidspital haben Gefallen an der pragAuf diese Weise entlarvte im vergange- matischen englischen Methode gefunden. nen Jahr die Londoner Cochrane Injuries Nicht blinder Aktionismus steuert mehr Group am Institute of Child Health den ihr Handeln, sondern VergleichsprogramGebrauch von Eiweißlösungen auf Inten- me, mit denen die Briten das meiste aus sivstationen als gefährlich. Obwohl seit dem wenigen holen. Vor allem verhindere über 50 Jahren eingesetzt, war den Prakti- die Methode eins, sagt Kardiologe Chriskern offenbar entgangen, dass mehr Men- ten: „Teure Routine.“ schen durch die „Albumin“-Lösungen verMittlerweile wird auch im Waidspital auf starben als überlebten. das standardmäßige, aber oft überflüssige Im Mangelsystem Großbritannien geht Röntgenbild vom Brustkorb verzichtet, inzwischen nichts mehr ohne EBM. Be- ebenso wie auf Rundumuntersuchungen sonders unter Kostengesichtspunkten will des Blutbilds. „Jede Maßnahme wird überder National Health Service das gesamte legt entschieden“, sagt Christen, „das geht Gesundheitswesen mit EBM durchdringen. inzwischen so weit, dass es schon peneNeueste Erfindung ist „Nice“, das „Natio- trant ist.“ Harro Albrecht 52 d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 TEUTOPRESS Titel Werbeseite Werbeseite LIAISON / GAMMA / STUDIO X Titel „Betty Ford“-Luxusklinik bei Palm Springs (Kalifornien): Nur ein gesunder Kunde ist ein guter Kunde teufelt wie die Phalanx der Krankenkassen. Das System der „managed care“, das in den vergangenen zehn Jahren die traditionelle Krankenversicherung weitgehend verdrängt hat, steht unter dringendem Versich mehr für Profite zu interessieDie amerikanische Idee, Kostendämpfung im Gesundheitswesen dacht, ren als für Patienten. mit marktwirtschaftlichen Mitteln zu erreichen, scheitert Während die Kunden immer mehr Eigenanteil für immer weniger Leistung am Profitstreben von Pharmaindustrie und Krankenkassen. bezahlen müssen, treiben die Macher der Uniklinik Las Vegas, vier Uhr nachts. großen börsennotierten Health Mainteabitha Walrond aus der Bronx war 19 Jahre alt und hatte keine Erfahrung Eine Frau wird mit Magenbluten eingelie- nance Organizations (HMOs) mit brutalen mit Kindern, als ihr Sohn Tyler auf fert. Sie ist krankenversichert. Dennoch Einsparungen und Beitragserhöhungen den die Welt kam. Doch dass der Neugebore- weigert sich der herbeigerufene Spezialist, Kurs ihrer Unternehmen nach oben. 1996 ne trotz Stillens nicht an Gewicht zunahm, ohne das Okay der Kasse zu operieren. verdiente die oberste Garde der Kassenbeunruhigte sie. Zweimal trug sie ihn zum Über eine Stunde lang versucht er, die Ver- manager durchschnittlich zehn Millionen Arzt, zweimal wurde sie abgewiesen: Der sicherung zu bewegen. Der Frau wird in- Dollar Jahresgehalt. Mittlerweile sind die Privatkassen so Versicherungsnachweis für den Kleinen sei zwischen die vierte Blutinfusion verpasst. noch nicht angekommen, sagte man der Als ihr Zustand sich lebensgefährlich ver- teuer, dass viele sich diesen Luxus nicht schlechtert, droht der Arzt, die Presse zu mehr leisten können. 1998 mussten 44,3 Sozialhilfeempfängerin. Millionen Amerikaner ganz auf KrankenZwei Monate später verhungerte der verständigen. Die Kasse gibt nach. Horrorgeschichten von abgewimmelten versorgung verzichten, eine Million mehr Säugling, keine fünf Pfund schwer, im Taxi auf dem Weg zur Notaufnahme. Eine Kranken und verweigerten Medikamenten als 1997. Im Land der Hightech-Industrie frühere Brustverkleinerung seiner Mutter sind in den USA Alltagsgespräch. Nur die sind 16,3 Prozent der Bevölkerung unverhatte das Stillen beeinträchtigt. Sie wurde Tabakindustrie wird derzeit ähnlich ver- sichert. Dabei waren die ersten im Mai wegen fahrlässiger Tötung verurHMOs in den sechziger Jahteilt. ren angetreten mit dem hehMatthew Cerniglia aus Sterling in Virgiren Ziel einer besseren, bilnia war zwölf Jahre alt, als ein aggressiver ligeren Medizin für alle. Krebs festgestellt wurde. Die StandardKleine Gruppen schlossen behandlung dafür ist eine elfmonatige sich damals zu gemeinnütChemotherapie. Doch die Nebenwirkunzigen Organisationen zugen würden den geschwächten Jungen umsammen, denen Patienten bringen, sagten die Ärzte. Seine einzige beitreten konnten. Die MitÜberlebenschance: eine kurze hoch doglieder bezahlen einen Jahsierte Chemotherapie und eine Stammzelresbeitrag. Die Health Mainlen-Transplantation. tenance Organizations ihDiese teure Behandlung sei in seinem rerseits stellt Ärzte gegen Gesundheitsplan allerdings nicht vorgeseein Festgehalt an. hen, teilte Matthews Krankenversicherer Anders als bei herkömmHealthKeepers mit. Präsidentin Ellen Harlichen Kassen schränken rison schrieb: Es handele sich um „eine HMOs die freie Wahl von reine Vertragsangelegenheit“. Gesundheitsreformerin Clinton: Vorstoß gescheitert Geld oder Leben AP T 54 d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Ärzten, Medikamenten und Dienstleistun- daten von der PBM gespeichert werden. gen ein. Der Weg zum teuren Facharzt Fortan kann die Firma kontrollieren, beführt nur über einen Allgemeinarzt. Das obachten und eingreifen. Ein Agent besenkt unnötige Kosten und ermöglicht auch sucht dann den überraschten Arzt, um mit Ärmeren, die sich bislang keine Versiche- ihm die Behandlung eines Patienten zu rung leisten konnten, einen Schutz. diskutieren oder ein neues Medikament Der Durchbruch für dieses Modell kam vorzuschlagen. Ende der achtziger Jahre. Diejenigen UnSo sinnvoll das sein kann im Einzelfall, ternehmen, die in den USA die Kranken- als Nebenwirkung bleibt das Orwellsche versicherung für ihre Angestellten bereit- Gefühl der totalen Überwachung. Zumal stellen, flohen vor den hohen Kosten der die intimen Daten auch den Arbeitgebern Hightech-Medizin zu den günstigen Health zugänglich gemacht werden. Mehrere MitMaintenance Organizations. arbeiter, so wurde etwa der GeschäftsDer plötzliche Ansturm rief die großen Versicherungsgesellschaften auf den Plan. Aus den Non-ProfitOrganisationen wurden in Windeseile profitorientierte Unternehmensgiganten, die sich mehr ihren Investoren verpflichtet fühlen als ihren Patienten. Knapp sieben Jahre nachdem Hillary Clintons Vorstoß für eine gesetzliche Krankenversicherung für alle scheiterte, ist weniger als die Hälfte der 180 Millionen Privatkassen-Kunden Notfallabteilung in US-Klinik: Alltäglicher Horror zufrieden mit der jetzigen Lösung. Eine staatliche Grundversorgung führung von Motorola gemeldet, nehmen existiert nur für die 39 Millionen Menschen regelmäßig Antidepressiva ein. Die HMO über 65 (Medicare) und die knapp 36 Mil- empfehle ein spezielles Pflichtprogramm lionen Sozialschwachen (Medicaid). für die Betroffenen. Die im Grunde positive KostendämpDie Geschäftsführung von Motorola fung der Kassen nahm mit zunehmender wollte die Namen der Betroffenen nicht Konkurrenz groteske Züge an. Teure Pati- wissen. Im Prinzip jedoch sind die so erenten werden möglichst abgeschoben, nur langten Personendaten dem Arbeitgeber ein gesunder Kunde ist ein guter Kunde. frei zugänglich. Das Verweigern von Leistungen wurde Die Sparmethoden der Kassen ließ vor zum beliebtesten Sparinstrument. Hospi- drei Wochen das US-Repräsentantenhaus talaufenthalte verkürzten sich dramatisch, reagieren. Mehrere republikanische Abmanche HMOs schicken niedergekomme- geordnete stimmten mit den Demokraten ne Frauen bereits nach acht Stunden wie- für ein neues Patientenrecht. Darin wird der nach Hause. Ärzte erhalten Prämien, Notwehr festgeschrieben: Patienten dürwenn sie Patienten nicht behandeln. Auf fen in Zukunft ihre HMO verklagen, wenn keinen Fall sollen sie ihren Patienten von diese ihnen notwendige Leistungen vorkostspieligen Therapien erzählen. enthält. Viele Patienten misstrauen bereits ihren Denn obgleich die Vereinigten Staaten zwangsverordneten Ärzten und weichen das medizinisch fortgeschrittenste Land auf Mischmodelle aus, die die HMO-Ver- der Welt sind, liegt die Gesundheit von USsorgung etwa mit freier Arztwahl koppeln Bürgern durchschnittlich unterhalb des Le– natürlich gegen kräftige Zuzahlung. vels anderer Industriestaaten. Nur AmeriDabei sind die Ärzte den HMOs ähnlich kaner, die sich die teure Vollversicherung ausgeliefert wie die Patienten. Verschreibt leisten können, genießen die beste Kranein Arzt zu viel teure Medizin, wird er zur kenversorgung der Welt. Rede gestellt. Fällt er als WiederhoIn diesem Jahr rechnen US-Unternehlungstäter auf, ist sein Job gefährdet. men mit einer Kostensteigerung für ihre Geradezu gespenstisch aber mutet an, Krankenversicherung von neun Prozent, wie die HMOs die Medikamentenkosten nach einer über sechsprozentigen Erdämpfen. Sie beauftragen Kontrollfirmen, höhung im vergangenen Jahr. Die Patienso genannte Pharmacy Benefit Manage- ten sind auf „ihre“ Kasse allesamt nicht ment Companies (PBM). Diese Agenturen gut zu sprechen. sammeln, über die computerisierten MitAls Helen Hunt im Oscar-gekrönten gliederkarten, Daten über deren Medi- Film: „Besser geht’s nicht“ ihre HMO als kamentenkonsum. Wer per Karte seine profitgierige Organisation beschimpfte, gab Arznei abholt, muss weniger Eigenanteil es in den Kinos des Landes stehende Ovazahlen – nicht ahnend, dass die Rezept- tionen. Michaela Schießl 56 d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 C. NACKE Titel Werbeseite Werbeseite Titel ARIS Gesundheitspolitiker Fischer, Dreßler: „Verdammt noch mal, ich bin hier die Chefin“ Frau Fischer und „die Firma“ Die grüne Gesundheitsministerin und ihr roter Schattenmann, der SPD-Sozialexperte Rudolf Dreßler, befehden einander mit wachsendem Misstrauen. Von Hans-Joachim Noack A uf einer Fachtagung von Spitzenkräften aus der Pharmaindustrie, die ins feine Berliner Hotel Adlon eingeladen haben, schlägt sie sich besser als erwartet. Allen zur geplanten „Gesundheitsreform 2000“ formulierten Einwürfen begegnet die zuständige Ministerin Andrea Fischer mit halbwegs plausiblen Antworten – nur einmal muss sie passen. Sichtlich verlegen zupft die 39-jährige Grüne am gebauschten Halstuch und ordnet fahrig die zur Widerspenstigkeit neigenden Locken. Die scheinbar beiläufig eingestreute Anmerkung eines Disputanten macht ihr arg zu schaffen. Was sie davon halte, wie sich der sozialdemokratische Gesundheitsexperte Rudolf Dreßler neuerdings zu Wort melde? Der hatte per Interview kurzerhand empfohlen, die von der CDU/CSU angekündigte Blockade des umstrittenen Gesetzes auf ziemlich ungewöhnliche Weise zu konterkarieren: Die Koalition soll nach seiner Vorstellung „parallel“ einen Entwurf erarbeiten, der im Bundesrat keine Zustimmung benötigt. 58 Andrea Fischer drohen die Gesichtszüge zu entgleisen, aber dann fängt sie sich. Wortreich redet die Politikerin so lange über den spannenden Kernpunkt der News hinweg, bis die Frage irgendwie in Vergessenheit gerät. Erst nach der Konferenz lässt sie ihrem mühsam gebändigten Groll freien Lauf: „Ich fass es nicht.“ Kann man derart mit einer wichtigen Novelle umgehen, die vorweg bei den chronisch entnervten Arzneimittelproduzenten eh schon den härtesten Widerstand herausfordert? Wie viel Glaubwürdigkeit bleibt da noch, wenn bereits die Schlüsselfigur der Mehrheitspartei im regierenden Bündnis öffentlich hinausposaunte „Ersatzstrategien“ feilbietet? Zwischen der grünen Ressortchefin und ihrem roten Partner auf einem Sektor, der in der Bundesrepublik mit überschlägig 500 Milliarden Mark mehr Geld bewegt, als die Etats aller Ministerien ausmachen, häufen sich die Unstimmigkeiten. Das komplizierte Gesamtkunstwerk, dessen Verabschiedung die imagegeschädigte Berliner d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Koalition dringend nötig hat, wird von wachsendem Argwohn umstellt. Mitunter flüchten sie sich noch in das bekannte Erklärungsmuster, eine auf Personalien fixierte Journaille habe halt ihren Spaß an solchen Geschichten. „Hier die unerfahrene Frau, da der alte Kämpfer“, analysiert die Ministerin, eine im behaupteten Rollenspiel „wunderbar idealtypische Besetzung“. Und der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion, Rudolf Dreßler, der in seiner Partei für den „Bereich Gesundheit und Pflege“ verantwortlich zeichnet, stößt ins selbe Horn. Natürlich geht es ihm strikt um die Sache – „Fischer, Meier, Müller“, fügt er dann allerdings so grimmig hinzu, dass die Distanz zum Problem wird, „interessiert mich nicht“. Die Sache gebietet ein Mindestmaß an Gleichklang, und gewiss wäre der zu den ehrgeizigsten Rot-Grün-Projekten zählende Entwurf kaum das Papier wert, auf dem er gedruckt ist, gäbe es schon bei den viel zitierten Essentials grobe Differenzen. Für beide Politiker scheint in Sonderheit das zierter Job ziemlich versauert wird. Nicht nur der starke Mann des großen Bündnispartners saß der Gesundheitsministerin vom Start weg im Nacken – Andrea Fischer stand zugleich unter verschärfter Beobachtung ihres mächtigen Namensvetters Joschka F.: Der hielt sie schlichtweg für zu weinerlich. Kein Spaß, sich angesichts solcher Umstände in eine Materie einzuüben, die im jahrzehntelangen Hickhack um geeignete Lösungsansätze schon ganz andere Kaliber verschliss. Wo immer die Nachfolgerin des vergleichsweise robusten, aber am Ende ebenso gestrandeten Horst Seehofer in den ersten Monaten auftrat, spürte sie Andrea Fischer, eine hoch impulsive Frohnatur, der auf Grund gelegentlicher, von Tränen begleiteter Wutausbrüche der Spitzname „Vulkan“ anhaftet, scheint sich tatsächlich freigeschwommen zu haben. „Verdammt noch mal, ich bin hier die Chefin!“, prustet sie munter drauflos, als sie von einem Vorstoß Dreßlers erfährt, das aus Sicht der Ärzte skandalöse Globalbudget zu entschärfen. Was die beiden trennt, sind zunächst einmal Stilfragen. Um den Menschen ein Mammutgesetz von erheblicher Wirkungskraft nahe zu bringen, bedarf es nach dem Verständnis des jüngsten Mitglieds im Krisen-Kabinett Schröder einer zielstrebigen A. SCHOELZEL berühmte Globalbudget, das die gesetzlichen Kassen vor dem denkbaren Kollaps schützen soll, ebenso außer Frage zu stehen wie die geforderte Krankenhaus-Umfinanzierung. Als sakrosankt gilt darüber hinaus – folgt man ihren Beschwörungen – die latent gefährdete Beitragsstabilität. Um den Kostenrahmen zu sichern, möchten Fischer und Dreßler stattdessen „Ressourcen“ in zweistelliger Milliardenhöhe erschließen, die im gegenwärtigen System angeblich noch vorhanden sind. Doch selbst wenn es denn zuträfe, dass das ungleiche Gespann programmatisch näher beieinander stünde, als es aussieht, bleiben die im Psychischen wurzelnden Brüche. Die verschlungenen politischen Biografien der grünen Aufsteigerin und ihres sozialdemokratischen Schattenmanns erweisen sich als kaum kompatibel. Dass der 58-jährige Wuppertaler Rudolf Dreßler in einer von der SPD geführten Regierung ins Kabinett eintreten würde, gehörte bei seiner Vita eigentlich zu den sicheren Tipps – aber die Verhältnisse waren nicht so. Der „Modernisierer“ Gerhard Schröder mochte dem ungeliebten, weil eher den „Traditionalisten“ verbundenen Parteifreund weder das Arbeitsministerium anvertrauen noch das Gesundheitsressort. Berufen wurde statt seiner eine in Berlin lebende junge Dame aus dem sauerländischen Arnsberg, die sich als Talent in Renten- und Steuerfragen entpuppt hatte. Für den altgedienten Sozi, dem selbst konservativ geprägte Geister hervorragendes Know-how bestätigen, fast schon eine Katastrophe. Charaktere aus weniger hartem Holz hätten den Bettel wohl hingeschmissen – doch der zähe Genosse, obschon er seit zwei Jahren an den Folgen eines grässlichen Verkehrsunfalls laboriert, dachte nicht daran. Das Political Animal auf dem Feld des Sozialen fühlte sich zwar gleich in doppelter Weise verletzt, aber es verharrte im angestammten Revier. In der Bundestagsfraktion (und am Anfang noch mit kräftiger Unterstützung seines später desertierten Parteichefs Oskar Lafontaine) laufen wie eh und je alle Fäden bei ihm zusammen. Erst was von Rudolf Dreßler „quer geschrieben“ worden ist, sagt ein Insider anerkennend, trägt den „unerlässlichen sozialdemokratischen TÜV-Stempel“. Doch zugleich werfen ihm Kritiker vor, er vermenge die erlittenen Kränkungen mit seinen inhaltlichen Offerten. Den nimmermüden Kärrner, der sich rühmt, seit 1982 „mehr ins Gesetzblatt gebracht zu haben als die Hälfte der Minister des Kabinetts Helmut Kohl“, treiben erkennbar auch andere Gelüste. Auf alle Fälle glaubt er es besser zu können als „diese Frau“, jene Newcomerin aus der Ökopartei, der ihr ohnehin kompli- Grünen-Delegierte Fischer (1989): Vorliebe für komplexe Systeme eine Skepsis, die sich in ihrem Inneren zu einem einzigen, das labile Selbstgefühl peinigenden Satz verdichtete: „Ah, da ist sie ja, die dumme Nuss.“ Hinzu kam, dass ihre Couleur in der Gesundheitspolitik nur vage Vorstellungen anzubieten hatte, während die SPD aus einem im Laufe der Oppositionszeit erarbeiteten beträchtlichen Fundus schöpfte. Wie sehr der aktuelle Entwurf, etwa bei der ins Auge gefassten Krankenhaus-Reform oder der Neuordnung des Medikamentenmarkts, eine „sozialdemokratische Handschrift“ trägt, will die grüne Ministerin gar nicht verhehlen. Aber nach einer Phase, in der ihr „der Boden unter den Füßen schwankte“, gewann sie auch selbst an Kontur. Zug um Zug nahm die ehemalige Offsetdruckerin und diplomierte Volkswirtin von einem schwierigen Haus Besitz, dem sie sich längst gewachsen fühlt. Ihre Vorliebe – was sie hinlänglich ja schon auf dem Rentensektor bewies – gilt den „Funktionsweisen komplexer Systeme“. d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Sympathiewerbung – und sie verhält sich entsprechend. Kaum eine Woche geht dahin, in der sich die kontaktfreudige Grüne nicht mehrmals einem möglichst großen Publikum stellt. Auf dem Bädertag in Bad Saarow wie im Kulturzentrum der anatolischen Aleviten in ihrem Berliner Wahlbezirk Kreuzberg präsentiert sich eine wacker um Vermittlung bemühte Frau von solider Bandbreite. Ihre meistens von leisen Tönen begleiteten Auftritte strahlen fast durchgehend eine in der Politik seltene Mütterlichkeit aus, doch sie kann auch hinlangen. Der „Gegenspieler“ („Frankfurter Allgemeine“) Rudolf Dreßler, der im medizinisch-industriellen Komplex nahezu jeden der Lobbyisten persönlich kennt, kungelt lieber. „Sozialpolitik“, weiß er, „ist vermintes Gelände“, und wer denn im Namen „der Firma“ – gemeint: der SPD – ein ordentliches Gesetz abzuliefern gedenke, müsse das mit allen Beteiligten versuchen. Nein, über die Ministerin „als solche“ von ihm keine Stellungnahme. Nur einmal 59 Titel B. WOLFGARTEN / MELDE PRESS ist er ihr, wie die „taz“ rügte, „in den ja auch die amtierende GesundheitsminisRücken gefallen“, aber den Vorwurf hält er terin für sich in Anspruch. für „Kokolores“. Die Grüne hatte nach ein Sie habe nie behauptet, sagt Andrea Fipaar Verbalinjurien der erbosten Ärzte den scher betont salopp, „dass ich hier ’ne JahrAbbruch der Gespräche verfügt – der in hundertreform hinkriege“. Den objektiven zwei Jahrzehnten kampferprobte Sozi er- Sachzwang gibt es nach Auffassung der unhob dagegen Widerspruch. dogmatischen Grünen nicht („ … alles PoAlles bloß Scharmützel, die im Wesent- litik“), weshalb sie lediglich „die Weichen lichen die unter Stress übliche Reizbarkeit richtig zu stellen“ beabsichtigt. spiegeln, doch den harten Kern kaum Von Glaubenskrieg zwischen den Koaliberühren? Die Zweifel daran, dass Fischer tionären keine Spur – freilich, wo das meisund Dreßler manchen Missklängen zum te verhandelbar ist, wächst zugleich das Trotz noch am gleichen Strang ziehen, Misstrauen. Fischers Leute mutmaßen, der nähren sie zunehmend selber. sozialdemokratische Rivale könnte angeDas Ziel der rot-grüsichts der herrschenden nen Regierung, in der Mehrheitsverhältnisse der erodierenden gesetzliUnion so weit entgegenchen Krankenversichekommen, dass er der eirung das Solidarprinzip genen Partei peu à peu neu zu verankern, verdas Wasser abgräbt. treten die beiden ProtaDie von der Ministerin gonisten gleichermaßen – bis zuletzt zäh verteidignur um welchen Preis? te Linie, den Ärzten für Ihre Mitarbeiter bezichden Fall gravierender tigen die jeweils andere Budgetüberschreitungen Seite, „Neben- und Hinkollektive Haftung auftergedanken“ zu hegen. zuerlegen, hat Dreßler Denn die schönen Tabereits unterlaufen – ge, als der Bundeskanzler doch ansonsten wittert er noch im Juni dieses Jahseinerseits Gefahren. Er res in helles Entzücken lässt streuen, die bei den geriet („Ein wirklich groEckpunkten des Gesetßer Wurf, den Frau Fizes weniger involvierten scher da vorgelegt hat“), Ärzte-Demo*: „Vermintes Gelände“ Grünen seien verführbar sind einstweilen verflogenug, mit der Opposigen. Spätestens seit die Vorsitzenden der tion anzubändeln. Scheitere die Reform, Christenunion nach ihrer Siegesserie bei gibt der rote Stratege vorgeblich an die den Landtagswahlen kraftstrotzend Fun- Adresse der Parteichristen zu Protokoll, damentalopposition ankündigten, reicht es trage „die SPD“ keinerlei Verantwortung. bestenfalls zum Kompromiss. Andrea Fischer glaubt, dass sie in ihrem Und den scheint die grüne Ministerin Gewerbe hinreichend bewandert ist, um ebenso zu wollen wie der rote Sozialpapst. diesen Halbsatz auf sich beziehen zu dürDass Gerhard Schröder ein in den Grund- fen: „Der Beginn einer Dolchstoßlegenzügen SPD-eigenes Konzept demonstrativ de“, entfährt es ihr empört. der Kabinettsdame des Bündnispartners Ganz so leicht allerdings will sie es dem gutschrieb, soll er selbst mit sich ausma- trickreichen „Übervater“ – ein Begriff, den chen. Dreßler geht es zuvörderst darum, sie mit ironischem Unterton aus der Presseiner an „tornadomäßigem Identitätsver- se übernimmt – nun doch nicht machen. lust“ leidenden Partei die verbliebene Wer in einem Gemeinschaftswerk die RolRestsubstanz zu retten. le des Spiritus Rector für sich reklamiert, So spricht der Linke, der sich mit eini- soll gefälligst Flagge zeigen, statt schon vor gem Recht insbesondere als eine Art Ober- der Abstimmung die parteipolitischen Anexperte empfindet. Vor Internisten in der teile zu zergliedern. Heimatstadt Wuppertal ruft er so einUngewohnt bescheiden sagt der Abgedrucksvoll seine Fachkenntnisse ab, dass ordnete Rudolf Dreßler, er rede ja nur „im die aufgebrachten Ärzte bald verstummen. Namen der Firma“. Wenn sich die OpposiPassagenweise freihändig aus der Koali- tion denn dazu bereit erklärt, wird die tionsvereinbarung zu zitieren – etwa „Sei- Stunde der Wahrheit nach seiner Prognote 24, vierter Spiegelstrich, den Missbrauch se im Vermittlungsausschuss schlagen – ein der Patienten-Chipkarte betreffend“ – be- Gremium, in dem die „Süddeutsche Zeireitet ihm keinerlei Schwierigkeiten. tung“ den Genossen zum „heimlichen Der vermeintliche Ideologe, ein Etikett, Gesundheitsminister“ aufsteigen sieht. Die das er bei seiner schon früher vorgeführten allgemeine Erwartung, das vorgelegte FiBeweglichkeit in der Rentenfrage oder der scher-Konzept sei dort chancenlos, komPflegeversicherung „empirisch widerleg- mentiert er lakonisch: „Kann so sein, muss ten Quatsch“ nennt, sucht pragmatische aber nicht.“ Lösungen. Aber diesen Maßstab nimmt Die reale Ressortchefin hält noch keineswegs für entschieden, ob er zu dieser * Am 22. September in Berlin. Runde überhaupt Zugang hat. ™ 60 d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite CSU Welch ein Vergnügen Innenpolitisch angeschlagen, reist Bayerns Ministerpräsident Stoiber in die USA – und gibt sich dort wie der Kanzlerkandidat der Union. D D. DRENNER er Mann ist richtig stolz. Es sei „schon beeindruckend“, findet der CSU-Vorsitzende, wie gut seine Gesprächspartner über den Freistaat im fernen Deutschland und dessen „vorbildliche Politik“ informiert seien. Außerdem habe man ihn, den Nachfolger des auch in den USA legendären Franz Josef Strauß, „sehr, sehr herzlich“ in Washington aufgenommen. Mit besonderer Begeisterung erzählt der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber, 58, am vorvergangenen Donnerstag kurz vor dem Abflug aus der US-Hauptstadt in Richtung Spartanburg im US-Staat South Carolina von seiner Begegnung mit Notenbankchef Alan Greenspan, dem mächtigsten Wirtschaftslenker der Welt. Der habe ihn „auf unser Steuermodell angesprochen“ und zu verstehen gegeben, solch drastische Tarifsenkungen, wie von der CSU vorgeschlagen, seien „das, was Deutschland braucht“. Es ist Stoibers erster Besuch in den USA als Ministerpräsident – und sein dritter überhaupt. 1991 war er als bayerischer Innenminister hier, um über Kriminalität zu diskutieren. Und einmal kam er, vor über 20 Jahren, als Funktionär der Jungen Union. W. HEIDER-SAWALL / AGENTUR FOCUS Amerika-Bewunderer Stoiber (in Washington): Elf Termine in 36 Stunden USA-Besucher Stoiber (in Houston) Diplomatischer als daheim 62 Elf Gesprächstermine absolvierte der CSU-Mann jetzt allein während 36 Stunden seines Washington-Aufenthalts, welch ein Vergnügen. Denn die Kratzer am Image, die ihm die Millionenverluste der Landeswohnungs- und Städtebaugesellschaft Bayern GmbH (LWS) beigefügt haben, interessieren in den USA niemanden. Hier kann Stoiber noch wie ein Mann mit Zukunft auftreten. Als möglichen Kanzlerkandidaten der Opposition für das Jahr 2002 hatten ihn Beamte der deutschen Botschaft gewünschten Gesprächspartnern schmackhaft gemacht. Mit Erfolg. Handelsminister William Daley, die stellvertretenden Minister für Finanzen und Verteidigung, Stuart Eizenstat und John Hamre, Außenstaatssekretär Thomas Pickering sowie der Sprecher des Repräsentantenhauses Dennis Hastert und gar noch der republikanische Mehrheitsführer im Senat Trent Lott nahmen sich Zeit für den Gast aus München. Das ist nach Washingtoner Usancen sehr viel der Ehre für einen Provinzpolitiker. „Ein beachtliches Programm“, wie auch Stoiber findet. Mit Genugtuung wird in seiner Delegation verbreitet, CDU-Chef Wolfgang Schäuble habe seine geplante WashingtonReise absagen müssen, weil er auf amerikanischer Seite keine angemessenen Gesprächspartner gefunden habe. Prompt gibt sich Stoiber diplomatischer und korrekter als daheim. Beim einzigen Thema, das US-Journalisten an Stoiber wirklich interessiert, seine Meinung über den österreichischen Rechtsaußen Jörg Haider, findet der Bayer in der Fremde ganz andere Töne. Haider sei „für mich kein akzeptabler Politiker“, gibt der Gast aus München zu Protokoll. Der FPÖ-Chef habe sich „absolut disqualifiziert“ durch seine „Agitation gegen Ausländer“. Die umstrittene Empfehlung an die ÖVP, eine Koalition mit der FPÖ einzugehen, wiederholt Stoiber nicht. Stoiber will sich dem Freund und Bündnispartner, egal ob Demokraten oder Republikaner, vor allem als Antreiber der „notwendigen Erneuerung Deutschlands“ d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 präsentieren. Er, so Stoibers Botschaft, sei in Germany der Mann der Zukunft, nicht der Noch-Kanzler Gerhard Schröder. Immer und überall spricht Stoiber von der Globalisierung, dem weltweiten Wettbewerb. Einmal, nach einer Besichtigung des BMW-Werks in Spartanburg, fasst der CSU-Mann seine Ziele zusammen: Er wolle „mein Land vorbereiten für das 21. Jahrhundert, das andere Anforderungen haben wird als das gegenwärtige“ – „mein Land“ meint dabei offenkundig nicht nur Bayern. Dass „die Anderen“ das nicht können, macht Stoiber allen klar. Schröder und Freunde seien „viel zu altbacken“ und hingen „dem alten Denken“ nach, so der CSU-Mann nach Gesprächen mit den Chefs der Software-Riesen Sun und Oracle im Silicon Valley. „Nicht mehr nur Oktoberfest, Lederhosen und König Ludwig“ verbänden Amerikaner mit Bayern, sondern „Hightech und attraktive Standortbedingungen“. Auch darum hätten sich 450 US-Firmen inzwischen dort angesiedelt. Wo immer er auch hinkommt, in den aus seiner Sicht vorbildlich auf die Globalisierung eingestellten USA erblickt Stoiber Bilder aus einem wirtschaftlich blühenden Land, hört Zahlen von traumhaftem Wachstum und niedriger Arbeitslosigkeit. Die Schattenseiten des Systems, Armut, Rassismus, Kriminalität, oft nur wenige Kilometer von Stoibers Zielen entfernt, sieht er nicht. Dafür fehlt die Zeit. Natürlich will Stoiber, wie er sagt, „keine amerikanischen Verhältnisse“. Aber darauf hinweisen, dass „unser Sozialsystem in einer globalisierten Welt dringend verändert werden muss“, das darf man wohl schon. Oder feststellen, dass „uns die Amerikaner auslachen wegen unserer sozialen Standards“. Die „Förderung und Forderung unserer Eliten“, predigt der CSU-Mann im Silicon Valley, sei notwendig, „damit wir uns künftig das Sozialsystem noch leisten können, das wir uns leisten wollen“. Welche sozialen Standards sich sein globalisiertes Land konkret noch leisten soll, darüber schweigt Stoiber. Wolfgang Krach Werbeseite Werbeseite Unterhändler Eizenstat, Lambsdorff*: Angebot von sechs Milliarden Mark Z WA N G S A R B E I T E R Knickern und knausern Nur wenige Konzerne wollen bisher die Opfer von Sklavenarbeit in der Nazi-Zeit entschädigen. Nun machen sie Druck auf die zahlungsunwillige Konkurrenz. * Oben: am 7. Oktober in Washington; unten: am 5. und 6. Oktober in der „New York Times“. 64 Denn obwohl sich nach Angaben des Washingtoner Opferanwalts Michael Hausfeld mindestens 2000 deutsche Firmen und Betriebe als Sklavenhalter der NS-Kriegswirtschaft betätigten, haben sich dem vermeintlichen „Gesamtanliegen der deutschen Wirtschaft“ (Gentz) bislang nur 35 Unternehmen angeschlossen. 16 von ihnen geben sich öffentlich zu erkennen: Allianz, BASF, Bayer, BMW, Commerzbank, DaimlerChrysler, Degussa-Hüls, Deutsche Bank, Deutz, Dresdner Bank, Hoechst, RAG, Siemens, VEBA, Thyssen-Krupp und Volks- REUTERS S eit vier Monaten bettelt der Finanzchef von DaimlerChrysler in fremden Vorstandsetagen um Geld. Manfred Gentz appelliert als Sprecher der „Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft“ für ehemalige Zwangsarbeiter an Moral und Verantwortung und sendet per Post die eindringliche „Bitte um aktive Teilnahme“ am Milliardenfonds. Doch die Kollegen Vorstände geben nichts. Porsche-Chef Wendelin Wiedeking ließ ausrichten, sein Unternehmen sehe sich keinesfalls in der Nachfolge jenes Konstruktionsbüros, das unter dem Namen Porsche KG Zwangsarbeiter beschäftigte – das Porsche aber ansonsten gern als „Grundstein“ für das heutige Unternehmen preist. Babcock Borsig, MAN oder Schering vertrösteten Gentz mit dem Hinweis, die Sache erst einmal gründlich prüfen zu müssen. Die deutsche Wirtschaft ist im Begriff, ihr weltweites Ansehen nachhaltig zu ruinieren. Viele Firmen ducken, tricksen, argumentieren sich aus der Verantwortung. Längst hat sich der Ruf deutscher Unternehmen als unhistorische Knauser verselbständigt – selbst wenn doch noch eine Einigung zu Stande kommt. Anzeigenkampagne*: Schlechte Publicity d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 wagen. Die 19 anderen Firmen hingegen bestehen auf Anonymität oder sind – wie der Automobilzulieferer Bosch – allenfalls zu einer vagen Zusage bereit: Man erwäge, sich zu beteiligen. Viele Unternehmen, die nachweislich bis Kriegsende Zwangsarbeiter beschäftigt hatten, äußern sich gar nicht erst – wie etwa der Energieversorger RWE, der Pharmahersteller Merck oder die Kleiderfirma Hugo Boss. Das Gros der deutschen Wirtschaft will eine Entschädigung offenbar verschleppen, bis die letzten der im Durchschnitt schon fast 80 Jahre alten ehemaligen Zwangsarbeiter verstorben sind. Jene Unternehmen, die sich – etwa wegen eines hohen Exportanteils – schlechte Publicity im Ausland nicht länger leisten können, machen nun gegen die knickerigen Konkurrenten mobil. Am selben Tag, an dem Porsche vor dem Stuttgarter Landgericht einen Vergleich mit einem ehemaligen Zwangsarbeiter ablehnte – am Mittwoch vor drei Wochen –, ging beispielsweise VW-Vorstandsmitglied Klaus Kocks in die Offensive. Die Industrie solle endlich konkrete Zusagen machen, erregte er sich und stellte namentlich die chemische Industrie an den Pranger, die sich bislang „wenig großzügig“ gezeigt habe. Dass es ausgerechnet der VW-Mann war, der sich lautstark zu Wort meldete, ist kein Zufall. Kocks unterhält ausgezeichnete Beziehungen zum ehemaligen VW-Aufsichtsratsmitglied Gerhard Schröder. Der Kanzler hatte intern angekündigt, er wolle jetzt den Druck auf Drückeberger erhöhen. Zu spüren bekommen das auch Bahn und Post. In Gesprächen drängt die Regierung die ehemals staatlichen Betriebe dazu, ihren hinhaltenden Widerstand aufzugeben und sich am Fonds zu beteiligen. Eigentlich wollte der Kanzler schon zum 1. September, dem 60. Jahrestag des deutschen Einfalls in Polen, die ersten Opfer entschädigen. Zur nächsten Verhandlungsrunde Mitte November in Bonn haben die Deutschen die wohl letzte Chance, eine einvernehmliche Lösung zu finden. Beim Treffen in Washington mit seinem amerikanischen Pendant Stuart Eizenstat Anfang dieses Monats hatte der deutsche Unterhändler Otto Graf Lambsdorff sechs Milliarden Mark angeboten: Vier Milliarden sollen die Unternehmen, zwei Milliarden der Bund zahlen. In Wirklichkeit trägt der Steuerzahler noch zwei Milliarden mehr. Denn die Unternehmen können ihre Beteiligung etwa zur Hälfte als Betriebsausgaben von der Steuer absetzen. Daran wird auch der SPD-Bundestagsabgeordnete Wilfried PenREUTERS DPA Deutschland W. v. BRAUCHITSCH ner nichts ändern, der dies abschaffen möchte. Die Offerte von sechs Milliarden Mark stimmt hinten und vorn nicht. Denn die bisherigen Fonds-Mitglieder halten die Summe für zu hoch: „Mit den derzeit beteiligten Firmen ist das nicht zu stemmen“, sagt Wolfgang Gibowski von der Stiftung. Andererseits reicht der Betrag nicht für eine anständige Entschädigung aller noch Überlebenden. Bereits im Juli hatte der Historiker Lutz Niethammer von der Universität Jena Lambsdorff vorgerechnet, worum es wirklich geht: zehn Milliarden Mark. Damit könnten 232 000 ehemalige KZ-Insassen mit jeweils 15 000 Mark und weitere 643 000 Industriezwangsarbeiter mit 10 000 Mark entschädigt werden. Moralische Argumente fördern die Zahlungsbereitschaft der Konzerne kaum – eher schon wirtschaftliche. „Die Verwundbarkeit auf dem US-Markt steht in direktem Zusammenhang mit der Bereitschaft, in die Tasche zu greifen“, bestätigt ein Sprecher des Chemiekonzerns Bayer. Porsche-Chef Wiedeking Verantwortung bestritten Die Folge: Ein Exportgigant wie Bayer will zahlen, der Bundesverband mittelständische Wirtschaft („keine konkreten Fälle bekannt“) hingegen vorerst nicht. Doch auch wer sich verantwortlich bekennt, verklausuliert dies zwischen vielen Wenn und Aber. Bevor Geld fließt, so fordern beispielsweise die Vertreter von Continental, Hochtief,Varta, Bahlsen oder Gerresheimer Glas, müsse zunächst die Rechtslage geklärt werden, etwa ob eine Beteiligung am Stiftungsfonds vor Entschädigungsklagen in den USA schützt. Immerhin hat US-Präsident Bill Clinton ein „Statement of Interest“ angeboten: Sollte es zu einer zufrieden stellenden Entschädigung kommen, will er weitere Prozesse gegen Zwangsarbeiterfirmen abschmettern lassen mit dem Hinweis, sie störten das außenpolitische Interesse der USA. Doch wirklich helfen wird auch Clintons Erklärung den zögerlichen Zahlern aus Deutschland im Zweifelsfall nicht, weiß der Unterhändler Lambsdorff: „Für die Gerichte ist sie unverbindlich.“ Alexander Neubacher d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite 10 km DÄNEMARK H. TEUFEL Walschutzgebiet Sylt DEUTSCHLAND Föhr Amrum Pellworm Touristenattraktion Wattenmeer: Tabuzonen in der Matschecke NAT U R S C H U T Z Neue Nationalparkgrenze Deichen oder weichen Alte Nationalparkgrenze Die Kieler Regierung hat den „Nationalpark Wattenmeer“ vergrößert – gegen massiven Widerstand der Friesen. Nun hofft die CDU bei der Landtagswahl auf ein Debakel von Rot-Grün. F Husum Tönning Nationalpark SchleswigHolsteinisches Wattenmeer M. ZAPF ür Postkarten-Fotografen wäre der Deutschlands Matschecke verschiedene noch meistens von der Ostsee kamen, dieMann genau richtig: Vollbart, stahl- Zonen, die für den Menschen tabu sind ser „Pfütze“ (Friesen-Hohn). Höhepunkt der Proteste war Ende Aublaue Augen und unter dem Woll- oder, so fürchten zumindest die Einheimipullover ein Brustkorb wie ein Fass. Seit 27 schen, ganz schnell tabu werden könnten. gust die bislang größte Fischkutter-DeDie Gesetzesnovelle hat an der Westküs- monstration. 150 bunte Kutter tuckerten Jahren tuckert Jürgen Sörns, 44, mit seinem Kutter „Theodor Storm“ durch das schles- te einen Sturm der Entrüstung entfacht. durch den Nord-Ostsee-Kanal gen Kiel, um wig-holsteinische Wattenmeer, zwischen Drei Jahre lang wurde gestritten und ge- direkt vor Landtag und Staatskanzlei gegen Halligen und Inseln, zwischen Sandbän- zetert. Ministerpräsidentin Heide Simonis die Pläne zu demonstrieren. Zwischen den ken und Küste. Immer hin und her und (SPD) und ihr grüner Umweltminister Masten flatterten Transparente („Stoppt immer auf der Jagd nach Crangon cran- Rainder Steenblock mussten sich mit Eiern den Öko-Wahn“, „Alles Rainder Blödgon, der Nordseegarnele, im Volksmund: bewerfen lassen. Entlang der gesamten sinn“), die grüne Fraktionschefin Irene Küste zwischen Elbmündung und däni- Fröhlich wurde als „blöde Schlampe“ tituKrabbe. Das Tierchen ist nicht nur schwer zu pu- scher Grenze wurden Mahnfeuer entfacht, liert. Nur wenige Monate vor der Landtagslen, sondern auch äußerst sensibel: „Die in Tönning brannten Strohpuppen mit Nakönnen beispielsweise keinen Schnee ab“, mensschildern „Heide“ und „Rainder“. wahl, der „Schicksalswahl“ (Steenblock) sagt Fischer Sörns, und sein Helfer Harry Überall stritten die Bürger mit Umwelt- im Norden, die als Weichenstellung für die Rogalli, 51, wiegt schweigend den Kopf. So schützern und Beamten, die dann auch Wahl in Nordrhein-Westfalen gilt, nahm die CDU unter ihrem Spitzenkanditreiben die Krabbenschwärme heute daten Volker Rühe den Kampf ums hier und morgen dort. Die Fischer halWatt dankbar auf. ten mit: „Wir sind ja so was von flexiDer Zugereiste Rühe, der hinterm bel. Da, wo die sind, da fahr’n wir Deich bei Tönning seine neue Heimat hin.“ gefunden haben will, kündigte prompt Aber nicht mehr lange: Wenige Moan, die Novelle sofort nach seinem nate vor der Landtagswahl am 27. FeWahlsieg zu kassieren. Der Ex-Verteibruar verabschiedete die rot-grüne digungsminister wird nicht müde, von Mehrheit jetzt im Kieler Landtag ein Hallig zu Hallig zu touren und in ramneues Gesetz für den „Nationalpark melvollen Gemeindesälen seine BotSchleswig-Holsteinisches Wattenschaft zu verkünden. Auf der Insel meer“. Geschützt werden sollen unter Pellworm blieb er sogar über Nacht, anderem die Schweinswale, eine etwa was CDU-Bürgermeister Jürgen Fedeinen Meter lange Delfin-Art. dersen, 55, als besondere Ehre sieht: Die Wahl vor Augen, den Wal im „Jau, das war schon super.“ Kopf, bestimmten die Koalitionäre für Partner Simonis, Steenblock: Strohpuppen brannten 68 d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 M. AUGUST Der Streit um das Wattenmeer wurde in den Augen der Friesen zum Symbol für eine Politik, die über die Köpfe der Menschen hinweggeht. Künftig reicht Deutschlands größter Nationalpark bis an die Drei-Seemeilen-Grenze. Er wird damit um 60 Prozent vergrößert. Westlich von Amrum und Sylt wird zudem das erste europäische Walschutzgebiet eingerichtet. Hier ist lediglich das Fischen mit großen, engmaschigen Schleppnetzen verboten, wie es nur die Dänen und Holländer betreiben. Südlich des Hindenburgdamms gen Sylt wird es jedoch eine Nullnutzungszone geben, die etwa so groß ist wie die Inseln Föhr und Amrum zusammen. Hier soll die Natur ohne jeden menschlichen Einfluss gedeihen. Die zentralen Schutzzonen für Seevögel werden zudem zusammengefasst und vergrößert. Damit sind sie während der Mauserzeit für die Fischerei gesperrt. Grund genug für Krabbenfischer Sörns, um in Kiel bei der Kutter-Demo seinem Ärger Luft zu machen. Er sieht durch den Nationalpark seine Existenz bedroht. Die Schutzzone sei außerdem der „allergrößte Quatsch“: Er habe in 27 Jahren „höchstens“ zehn Wale gesehen. Das Misstrauen sitzt tief an der Westküste. „Die Verselbständigung des Naturschutzes und der Wissenschaft macht hier Angst“, sagt Rüdiger Kock, 36, Geschäftsführer des holländischen Krabbenmultis Heiploeg in Husum. Wenn die Fischer aus dem Watt vertrieben würden, müssten sie auf hoher See gegen die Hightech-Kon- CDU-Kandidat Rühe* Kampf ums Watt kurrenz aus Holland und Dänemark anschippern. „Und das überleben die nicht.“ Der Streit um den Nationalpark dreht sich weniger um die Frage, wie man das Wattenmeer schützen soll. Was die Landesregierung nun beschlossen hat, wird die Krabbenfischer auch keineswegs in den Bankrott treiben. Stattdessen geht es vor allem um die Frage, wer bestimmt, wie man schützen kann – die Einheimischen oder die Obrigkeit von der Ostküste? Noch halten sich die Friesen für die alleinigen Kenner des weltweit einzigartigen Ökosystems hinter ihren Deichen. Hans* Im August auf dem Weg nach Pellworm. d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Deutschland * Oben: Ende August im Nord-OstseeKanal auf dem Weg nach Kiel; unten: beim Abkochen von Krabben. 70 Fischer Rogalli*: Furcht um die Existenz d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Tatsächlich hat Umweltminister Steenblock ein Problem mit seinen Wählern. Spätestens seit er den brennenden Holzfrachter „Pallas“ hilflos ins Watt treiben ließ – eine wesentlich derbere Umweltsünde als die Krabbenfischerei –, gilt er als politisch schwer angeschlagen. Schon als er beim umstrittenen Bau der Ostseeautobahn A 20 durch das Wakenitztal bei Lübeck vor der SPD einknickte, zog er sich den Unmut der grünen Basis zu. Als ebenso schwach beurteilen Umweltschützer und Beamte aus dem eigenen Haus die Performance in Sachen Nationalpark: „Man möchte ihn immer trösten“, sagt ein Beamter mitleidsvoll. Da kommt die Wattenmeer-Novelle gerade recht, um die aufgebrachte grüne Klientel zu befrieden. Gegen solch angeschlagene Gegner hat die CDU leichtes Spiel, den Widerstand der Westküste zu mobilisieren. „Naturschutz eignet sich offenbar als wunderbarer Prügelknabe“, sagt Wattenmeer-Experte Rösner. „Eine sachliche Debatte war in dieser emotionalisierten Atmosphäre überhaupt nicht mehr möglich.“ Dass der Nationalpark auch große Möglichkeiten für den Tourismus berge, sei überhaupt nicht mehr vermittelbar gewesen, sagt Helmut Grimm, 58, vom Nationalpark-Amt in Tönning: „Hier herrschen Ängste vor Veränderung. Der Park stellt doch eine große Chance für die Region da. Das kann man doch vermarkten!“ Dass das funktioniert, zeigt das „Multimar Wattforum“ in Tönning, das Heide Simonis Anfang Juni eröffnete. Inzwischen FOTOS: V. KOHLBECHER / LAIF W. STECHE / VISUM benskampf. „Wer nicht deichen will, muss weichen“ ist zum Grundsatz friesischer Existenz geworden. Dieser uralte Kampf zwischen Mensch und Meer lässt keinen Platz für die Erkenntnisse von Umweltschützern, Biologen oder Ministerialen. Wenn WWFBiologe Rösner beruhigend sagt, die küstennahe Kutterfischerei sei doch „genau das, was wir wollen“, weil sie nachhaltig sei und keinen ökologischen Schaden anrichte, glaubt ihm das niemand mehr. Zwischen 1996 und 1999 fanden 15 öffentliche Anhörungen und mehr als 200 Informationsveranstaltungen der Landesregierung statt. Auch als Steenblock ein Stück nachgab und sich von der Ausdehnung der Schutzzone auf Strände und Dünen verabschiedete – was ihm unter anderem Rücktrittsforderungen der Umweltschutzverbände einbrachte –, ließen die Friesen nicht locker. Neue Tourismuskonzepte und Naturschutz, Nachhaltigkeit oder gar Biosphäre sind an der Westküste kein Thema mehr. „Rot-grün wird es hier nicht mehr schaffen“, sagt MuschelfiKutter-Demonstration*: „Das überleben die nicht“ scher Wagner. Der Husumer CDU-Landrat Olaf BasUlrich Rösner, 41, vom Husumer „Projektbüro Wattenmeer“ der Umweltstiftung tian, 47, der von der Zeitschrift „natur“ WWF hält dagegen: „Ein Nationalpark ist schon den „Hammer des Monats“ für sein eine Angelegenheit von nationaler Bedeu- Engagement gegen die Windkraft verlietung. Das kann man nicht einer Region hen bekam, macht hoch erfreut Stimmung gegen die Gesetzesnovelle: „Man fühlt überlassen.“ Seit Jahrhunderten leben die Nordfrie- sich von der Landesregierung gelinkt.“ sen gegen das Meer an. Meterhohe Deiche Weder sei die Erweiterung ausreichend sollen vor der unbeherrschbaren Kraft der begründet worden, noch gebe es genügend Nordsee schützen, mit Entwässerungen ho- Argumente für ein Nullnutzungsgebiet: len sich Bauern Hektar für Hektar verlo- „Das ist eine reine Prestige-Fläche“, poltert Bastian in Anspielung auf die flaue renes Land zurück. Dort, wo heute Ebbe und Flut wechseln, Bilanz von vier Jahren grüner Umweltwo der Wattschlick Zugvögel und Touris- politik in Kiel. ten anzieht und wo Schafe auf Deichen grasen, war immerhin einst Festland: Vor allem die katastrophalen Sturmfluten von 1362 und 1634 hatten ganze Landstriche mit sich gerissen. „Die Leute hier sind stolz auf ihre Deiche, das versteht kaum einer“, beschreibt Muschelfischer Paul Wagner, 57, aus Wyk auf Föhr den ständigen Überle- Krabbenfischer Sörns „Allergrößter Quatsch“ haben rund 80 000 Besucher die Aquarien und Multimedia-Simulationen des Wattenmeers bestaunt. Draußen hinterm Deich sollen Wattführer den Touristen das Geheimnis von Ebbe und Flut erklären. Krabbenfischer wie Jürgen Sörns haben davon allerdings erst mal wenig: „Nur wenn Volker Rühe einhält, was er versprochen hat, können wir bis zur Rente fischen“, sagt er und hofft auf die Wahl – wenn auch ein bisschen zaghaft. Schließlich ist Rühe ja kein Einheimischer, zudem „eben auch nur Politiker“. Florian Gless Werbeseite Werbeseite J. GÜNTHER linquent mit vier Wochen Jugendarrest noch gut bedient – die Mindeststrafe bei einer solchen „Unverschämtheit“, wie Richterin Maria Biesel den schweigenden Türken in der Urteilsbegründung wissen ließ. „Zustände wie in Wildwest“ beklagt mittlerweile Reinhold Wolfinger, stellvertretender Rechtswart im hessischen Fußballkreis Friedberg, eine „massive Zunahme der Gewalt“ der Duisburger Spruchkammer-Vorsitzende Gerd Cotta. Sein Bochumer Kollege Achim Rendelsmann verhandelt pro Saison inzwischen 20 Spielabbrüche – „früher waren es zwei oder drei“. Und Berlins oberster Fußballjurist Franz-Peter Mertens notierte in der vergangenen Spielzeit sogar 92 Partien, die es nicht bis in die 90. Minute schafften – 9 mehr als 1997/98. Ob in Städten mit 20 Prozent Arbeitslosigkeit oder in Dörfern mit Heile-Welt-Struktur, landauf landab Auseinandersetzung in der Kreisliga*: „Klar, dass die Jungs sich wehren“ wird am Wochenende geprügelt, als gehe es am Ball ums nackte Überleben: G E WA LT TÄT E R π Da legte etwa der Torwart des Voerder Kreisligisten Yesilyurt Möllen den Schiedsrichter beim Stand von 1:7 mit der Faust flach, bohrte ihm anschließend wuchtig die Fußspitze in den Unterleib und beeindruckte später vor Cottas Auf den Fußballplätzen der Amateurligen Spruchkammer mit anatomischer Feinnehmen Pöbeleien und Prügeleien rapide zu, gliederung: Er habe dem Pfeifenmann keineswegs in den Unterleib, sondern immer mehr Spiele enden vor Gericht. nur in den Bauch getreten. enn sein Gedächtnis nicht trügt – länderquote. Nach einer noch unveröffent- π In der Superaltliga Bochum für gereifte Herren ab 50 drosch ein Frührentner von wofür so ein Kurzkoma schon mal lichten Studie der Universität Paderborn, Rot-Weiß Stiepel seinem Gegenspieler sorgen kann –, dann lief gerade die Sport-Urteile in Duisburg, Münster und den Fußballschuh so stramm ins Gesicht, die 62. Spielminute, als es dem Schiedsrich- Wuppertal ausgewertet hat, machen die dass sein Opfer mit einem Jochbeinter Karl-Heinz Mundinger zuerst die Spra- Ausländerteams in den dortigen Kreisligen nur 10 bis 30 Prozent aus. Ihr Anteil an Trümmerbruch wochenlang im Kranche, dann die Trillerpfeife verschlug. kenhaus lag. „Du Schwein“, pöbelte ihn Kreisliga- Spruchkammer-Verfahren erreicht dagegen Kicker Nihat S. vom Türkischen Sportver- 40 bis 70 Prozent. Für die Paderborner π Ebenfalls in Bochum wunderte sich der Spruchkammer-Vorsitzende Rendelsein Waldkirch an. Und während ein ande- Sportwissenschaftler Marie-Luise Klein und mann eines Tages, warum die Zeugen für rer TSV-Spieler dem Schiri noch sein Wort Jürgen Kothy steht fest: Auch wenn die einen Spielabbruch gegen den FC Kosodrauf gab, dass er ihn erst beim Abpfiff in meisten Begegnungen immer noch friedva II die Verhandlung schwänzten. Kein 28 Minuten „totmachen“ werde, beschloss lich enden, hat die Zahl und Schärfe der Wunder, wie sich herausstellte – die Zeuder Sportkamerad S., die geplante Rest- „interethnischen Konflikte im Fußball begen hatten vorher Anrufe bekommen: Relaufzeit des Referees sofort auf Null zu unruhigend“ zugenommen. Das Klima bei den ist Sterben, Schweigen ist Gold. verkürzen. „Plötzlich bekam ich einen den Amateuren sei dadurch „stark belasBeim Deutschen Fußball-Bund gibt es Schlag ans Kinn, dann war Nacht“, erin- tet“, und das nicht nur in den Metropolen, nerte sich Mundinger in der Spielverlän- sondern auch auf dem Land. Als Ursachen trotzdem keine Strategie gegen die Gewalt – dort verweist man auf die gerung – die fand jetzt vor dem Waldkir- orteten die Sozialforscher „Männlichkeitsrituale“, die Zuständigkeit der Regiocher Amtsgericht statt. nal- und Landesverbände Wie in der südbadischen Kleinstadt en- in Verbindung mit „Gefür die Amateurklassen. So den inzwischen immer mehr Fußballspie- fühlen nationaler Selbstbedoktert jede Fußball-Prole aus den unteren Amateurklassen im Ge- hauptung“ geradezu „exvinz auf ihre Art an den richtssaal. Was vor zweieinhalb Jahren plosiv“ wirkten. In Waldkirch kam der Problemen herum. Der noch als Spezialproblem des MultikultiVerband Mittelrhein in Schmelztiegels Berlin Schlagzeilen mach- Mann in Schwarz noch Köln etwa versucht es mit te (SPIEGEL 11/1997), hat sich zu einem glimpflich davon: „Wenn einer Postkartenaktion bundesweiten Hauen und Stechen ausge- der mich an der Schläfe „Der Gewalt die Rote Karwachsen. Kein Wochenende, an dem nicht trifft, bin ich tot“, ahnt te“ und einer „Hennefer irgendwo in der Republik Partien abge- Karl-Heinz Mundinger. So Erklärung“. Die Unterbrochen werden, in denen es statt um Kön- blieb es bei zehn Tagen zeichner verpflichten sich nen und Kraft um Kopf und Kragen geht. Breikost, weil sein Mund damit, Rasenrüpeln im BeAuffällig oft mit im Clinch: Ausländer- nach dem Bruch des linken darfsfall ihre Missbilligung vereine oder deutsche Clubs mit hoher Aus- Kiefergelenkfortsatzes verdrahtet werden musste. kundzutun. Unbelastet von jeder Reue, In Berlin fuhr der Ver* Bei der Partie VfR Bockenheim – Sportfreunde 04 war der 20 Jahre alte De- Prügel-Opfer Mundinger band in der vergangenen Frankfurt am vergangenen Sonntag. „Zustände wie in Wildwest“ T. BARTH / ZEITENSPIEGEL W 72 d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland Polizei mit zwei Mannschaftswagen zu einer Massenschlägerei anrücken musste. „Die Vereine sind froh um jeden Trainer, den sie bekommen“, beschreibt der hessische Oberliga-Spieler und Jugendtrainer Boris Zielinski das Dilemma, „da kann man sich nicht noch den Luxus der Auswahl leisten.“ Der Sportfreunde-Vorsitzende Erhard Heeg, der den Ausländeranteil in seinem Verein aus dem Frankfurter Gallusviertel auf 75 Prozent schätzt, hält die Hand über Team und Trainer. „Die Zuschauer hatten uns damals als Kanaken und Ausländerschweine beschimpft, da ist klar, dass die Jungs sich wehren.“ Zwar beobachtet auch Heeg, dass seit Balkankrieg und Kurdenkonflikt mehr Aggressivität im Spiel ist; bei neun von zehn GewaltExzessen, glaubt der OberSportfreund, komme der Auslöser aber von der Außenlinie. Vorgestellte Plakataktion „Seid fair zueinander“ „Nazi-Schwein“ oder „Bimbo“: Egal wer zuerst Hass zwischen Ausländern und Deutschen sät – sobald die Nationalität auf dem Platz zu Schimpf und Schande wird, „werden die üblichen Stufen der Eskalationstreppe mit einem Satz übersprungen“, berichtet die Sportwissenschaftlerin Angelika Ribler von der Sportjugend Hessen. Ribler ist Projektleiterin für ein Modell der Sportjugend des Hessischen FußInnensenator Eckart Werthebach, Verbandspräsident Otto Höhne ballverbandes und des Landessportbundes, das den Berliner Anti-Gewalt-Hearing: Brachiale Ballermänner Täter-Opfer-Ausgleich aus In anderen Verbänden sieht man die dem Jugendstrafrecht auf den Fußball Lage weniger dramatisch: Peter Cyran, Ge- übertragen will. Nach einem Jahr Vorbeschäftsführer des Württembergischen Fuß- reitung hat vor zwei Wochen der erste von ballverbandes, will die 11 000 Sportge- zwölf eigens ausgebildeten „Mediatoren“ richtsfälle pro Saison an der Zahl von mit der praktischen Arbeit begonnen. „Wir 474 000 Mitgliedern im Südwesten gemes- wollen das Gerappel auf den Sportplätzen sen wissen – dieses Verhältnis findet er in den Griff kriegen“, sagt Ribler; nach noch nicht „Furcht erregend“. Doch Hand- Ausschreitungen sollen die Schlichter greiflichkeiten, gibt Cyran zu, nähmen rechtzeitig zum Rückspiel die Gegner ausauch in seinen Stadien zu; der Fußball sei söhnen. Der Wille ist löblich, doch der Glaube eben ein Spiegelbild der Gesellschaft. Selbst in den Jugendklassen kann Ger- fehlt anderenorts schon lange. Was haben hard Müller, Vorsitzender des Schieds- sie in Bochum nicht alles versucht – Sitrichterausschusses in Berlin, keine ge- zungen mit allen ausländischen Vereinen, pflegteren Sitten mehr ausmachen. Im und sogar den Ausländerbeauftragten hahessischen Hanau musste bereits ein ben sie eingeschaltet. Und was hat es geF-Jugendspiel für Knirpse bis zu acht Jah- nutzt? Auf die Frage, was man noch maren nach einem wilden Handgemenge chen kann, fällt dem Spruchkammer-Vorsitzenden Rendelsmann nur ein, dass ihm abgepfiffen werden. Der A-Jugend-Trainer der Sportfreunde dazu nichts mehr einfällt. Bis ihm endlich 04 Frankfurt verließ vor drei Jahren sogar doch noch ein Wort über die Lippen in Handschellen den Platz, nachdem die kommt: „Ohnmacht“. Jürgen Dahlkamp FOTOS: C. DITSCH / VERSION Woche für ein „Anti-Gewalt-Hearing“ Prominenz von Hertha, Tennis Borussia und Senatsmannschaft auf. In den Fußballbezirken der Hauptstadt sollen künftig eine Plakataktion und Sozialarbeiter den Sportsgeist vor brachialen Ballermännern retten.Von Strafen allein erwartet man sich dagegen keine Besserung, seit 1998 nicht mal der Ausschluss der berüchtigtsten Tretertruppe FC Jugoslavija abschreckende Wirkung hatte. d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 75 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland SCHMIERGELDER Rückkehr zur Ehrlichkeit? AFP / DPA Mit einem neuen Abkommen, das Bestechung im Ausland unter Strafe stellt, haben die Industrieländer einen globalen Feldzug gegen die Korruption begonnen. In deutschen Konzernzentralen herrscht Alarmstimmung. Staudamm in Lesotho: Zwei Millionen Dollar für den Projektleiter C. STACHE gierung seit Monaten für einen Feldzug mobilisiert, der die internationale Geschäftswelt irritiert: Die Aufdeckung und Verfolgung von grenzüberschreitender Korruption soll zur Waffe im globalen Wettbewerb werden. Von der Öffentlichkeit bislang kaum wahrgenommen, haben sich seit dem 15. Februar dieses Jahres im internationalen Geschäftsverkehr die Spielregeln grundlegend verändert. An dem Tag trat eine Airbus-Produktion*: Zocken um große Aufträge Konvention in Kraft, mit der sich ie Aufforderung zur Denunziation die Mitgliedstaaten der OECD, des Clubs ist unmissverständlich. „Wenn Sie der Wohlstandsnationen, verpflichtet haeine Beschwerde über Bestechung ben, künftig die Bestechung von Amtsträim Ausland haben, lassen Sie es uns wis- gern und vom Staat beauftragter Privatfirsen“, lockt die Website des US-Wirt- men nicht mehr nur zu Hause, sondern schaftsministeriums und verweist auf das auch im Ausland mit harten Strafen zu be„einfach zu handhabende“ elektronische legen. Auch dürfen Schmiergelder steuerFormular, das sofort per Mausklick ver- lich nicht mehr als Betriebskosten anerfügbar ist. Die Experten der jüngst einge- kannt werden. „Dieses Abkommen“, so preist der Basrichteten „Bestechungs-Hotline“, so versichert die amerikanische Behörde, „wer- ler Rechtsprofessor und Leiter der zuständen baldigst und angemessen reagieren“. digen OECD-Projektgruppe, Mark Pieth, Das ungewöhnliche Internet-Angebot ist „ist der ganze große Durchbruch.“ Wer Teil einer Kampagne, mit der die US-Re- künftig im internationalen Geschäft noch besteche, „riskiert, dass er mit der An* In Hamburg-Finkenwerder. wendung des neuen Rechts vom Markt ge- D 78 d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 fegt wird“. Pieth: „Da hat ein weltweiter Umdenkungsprozess begonnen.“ Vor allem deutsche Manager, aber auch Ermittler und Finanzbeamte werden ganz gewaltig umdenken müssen. Jahrzehntelang haben die Deutschen ordentlich mitgeschmiert und zugleich mit einer Mischung aus Mitleid und Hochmut auf die korrupten Staaten geschaut. „Man muss sehen, dass es Weltgegenden gibt, in denen es zum normalen Usus gehört, dass Geschenke verteilt und Zuwendungen gemacht werden. Sie bekommen dort keinen Auftrag, wenn Sie sich nicht an diese Gepflogenheiten halten“, rechtfertigte etwa Arnold Willemsen vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) die Praxis. Ohne Schmiergelder „läuft in vielen Ländern keine Zollabwicklung, keine Planungsgenehmigung und keine Visa-Erteilung“, assistierte der Vertreter des Deutschen Industrie- und Handelstages, Jürgen Möllering. Darum hatte die Kohl-Regierung jahrelang die Forderung abgelehnt, wenigstens die steuerliche Absetzbarkeit der so genannten nützlichen Aufwendungen, Steuer-Chiffre für Bestechung, abzuschaffen. Ein „steuerliches Abzugsverbot“, mahnte das Wirtschaftsministerium, würde „deut- Werbeseite Werbeseite Deutschland AFP / DPA di-Arabien im Jahr 1991. Noch bevor der Vertrag über das dreistellige MillionenMark-Geschäft überhaupt unterschrieben war, trafen sich Thyssen-Manager mit Vertretern des Finanzamts Duisburg-Hamborn. Die „Erteilung der Aufträge“ müsse „gegen starken internationalen Wettbewerb“ durchgesetzt werden, vermerkt das Protokoll. Dies setze „nicht unbeträchtliche Provisionszahlungen“ voraus: „Rund 40 Prozent der Gesamtauftragssumme“ müssten an „mehrere Firmen und Personen“ verteilt werden. Das war auch Schreibers Aufgabe. Die HerUnterzeichnung des OECD-Abkommens gegen Korruption*: „Wer jetzt besticht, wird vom Markt gefegt“ ren vom Finanzamt hatten Deutschen Finanzbehörden ist das keine Einwände – schließlich waren die sche Unternehmen bis hin zur Gefährdung Zocken mit großem Geld um große Auf- „Empfänger keine im Inland steuerpflichtivon Arbeitsplätzen benachteiligen“. Wenig überraschend war daher die Stel- träge durchaus geläufig. So auch im Fall des gen natürlichen oder juristischen Personen“. Die Schreiber-Affäre belegt auch, wie naiv lung, welche die Anti-Korruptions-Orga- von Schreiber vermittelten Verkaufs von nisation Transparency International (TI) 36 Panzern von Thyssen Henschel an Sau- die Vorstellung war, trotz schmutziger Geschäfte in Übersee bleibe die Heimat sauber. in ihrem neuesten Bericht Deutschland auf Die Staatsanwaltschaft ist überzeugt, dass dem globalen Korruptionsmarkt zuwies. Hitliste der Korruption Strauß-Sohn Max Josef sowie Thyssen-MaPer Umfrage bei Wirtschaftsführern und Nach einem von Transparency International nager an Schreibers Geschäften mitverdienRegierungsbeamten in den Schwellenlänentwickelten Punktesystem von 0 (durchgängig ten. „Kick-back“ nennen Fahnder solche dern des Südens ließ TI ermitteln, wer am korrupte Geschäftspraktiken) bis 10 (korrekte Rückflüsse, deren Existenz in diesem Fall häufigsten schmiert. Demnach rangiert Geschäftspraktiken) wurden Unternehmen aus alle Beschuldigten jedoch bestreiten. Deutschland in Europa gleich hinter 19 führenden Exportländern bewertet. Heute würde Airbus- oder Thyssen-ObeFrankreich, Spanien und Italien (siehe Die Durchschnittswerte: ren wegen Auslandsbestechung wohl der Grafik). PLATZ Prozess gemacht. Und Schreiber könnte Wie üblich üppige Provisionszahlungen 1 China 3,1 Provisionen nicht mehr einklagen: Das für die Akquise von Auslandsaufträgen bei Oberlandesgericht Hamm entschied im der deutschen Industrie bislang waren, 2 Südkorea 3,4 Juni, finanzielle Vereinbarungen mit zeigt der Fall Karlheinz Schreiber. Die ArSchmiergeldboten seien sittenwidrig. beitsweise des Intimus des verstorbenen 3 Taiwan 3,5 Dass die neuen Gesetze greifen, dafür bayerischen Ministerpräsidenten Franz Jo4 Italien 3,7 dürfte schon der Zorn von Konkurrenzunsef Strauß, gegen den die Staatsanwaltternehmen sorgen, die sich durch korrupschaft Augsburg Haftbefehl erlassen hat, 5 Malaysia 3,9 te Praktiken ihrer Wettbewerber benachgilt als typisch. teiligt sehen. Denn das OECD-Abkommen Zumeist machen sich die Industrie-Ma6 Japan 5,1 verschafft allen beteiligten Staaten die nager nicht selbst die Finger schmutzig, 7 Frankreich 5,2 Möglichkeit, mittels gezielter Hinweise in sondern schalten Vermittler ein. Als solden Heimatstaaten der belasteten Firmen cher fädelte Schreiber nach Überzeugung 8 Spanien 5,3 Ermittlungsverfahren zu erzwingen. der Augsburger Staatsanwälte unter ande9 Singapur 5,7 Dieser Mechanismus werde demnächst rem Geschäfte für den Airbus- und den in vielen Staaten eine Welle von Verfahren Thyssen-Konzern in Kanada, Saudi-Arabi10 Deutschland 6,2 auslösen, prophezeit OECD-Experte Pieth. en und Thailand ein. Zweistellige MillioDie US-Kampagne jedenfalls scheint ernensummen sollen geflossen sein, um lu10 USA 6,2 folgreich zu laufen. „Wir haben inzwischen krative Aufträge an Land zu ziehen. In 11 Belgien 6,8 über zahlreiche Fälle verwertbare HinweiThailand sahnte nach Erkenntnissen der se erhalten“, bestätigt Peter Clark, VizeErmittler ein ehemaliger Sonderberater des 12 Großbritannien 7,2 Chef des Betrugsdezernats im US-Justizthailändischen Kabinetts ab, weil er beim ministerium. „In mehreren Staaten“ werKauf von 17 Airbus-Maschinen für die Luft13 Niederlande 7,4 de man demnächst um Ermittlungen und waffe und die staatliche Fluggesellschaft 14 Schweiz 7,7 Rechtshilfe nachsuchen. Thai Airways hilfreich war. Die neue Lage versetzt denn auch viele Für den deutschen Fiskus waren solche 15 Österreich 7,8 deutsche Spitzenmanager in AlarmstimPraktiken bislang nie ein Problem. Die 16 Kanada 8,1 mung. Auf Wirtschaftsrecht spezialisierte Schmiergelder wurden ja stets auf die RechAnwaltskanzleien verzeichnen einen Aufnungen geschlagen, so dass sich „im Inland 16 Australien 8,1 tragsboom. Oft quälen die Konzerne Sünkeine Ergebnisminderung“ ergebe, befand den der Vergangenheit. das Bundesamt für Finanzen noch 1994. 18 Schweden 8,3 Selbst für schon vor Jahren unterschrieQuelle: Transparency International e.V., Berlin 1999 * Am 17. Dezember 1997 in Paris. bene Verträge werden jetzt noch Schmier80 d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Deutschland 82 d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Rieger, „wer verliert schon gern wegen Korruption einen Auftrag?“ Anders als früher hat sich denn auch der BDI mittlerweile dem Konzept gegen die Korruption verschrieben. Er sei da, so Hauptgeschäftsführer Ludolf-Georg von Wartenberg, „voll engagiert“. Gemeinsam mit Franz, Rieger und weiteren zwölf Industrieführern hatte er 1997 einen Appell für einen schnellen Abschluss des OECDAbkommens unterzeichnet. Der Druck der Industrie, gepaart mit der zunehmenden Zahl von Korruptionsfällen im Inland, ließ auch die Bundesregierung einschwenken. Dass es zu dieser Wende kam, ist ganz wesentlich das Verdienst einer Organisation, die inzwischen weltweiten Ruhm erlangt hat: Transparency International. Deren Vorsitzender Peter Eigen, früher Weltbankdirektor für Ostafrika, hatte TI 1993 gegründet, weil er nicht länger mit ansehen wollte, wie der wirtschaftliche Fortschritt der Entwicklungsländer im Korruptionssumpf versackte. Mittlerweile ist TI eine einflussreiche Lobby mit Filialen in 77 Ländern. In Deutschland zählen neben Siemens inzwischen auch ABB, Bosch, der Bauriese Philipp Holzmann und die Lufthansa zu den Förderern. Zumindest in der Theorie ist die Wirtschaft auf Linie. Ob das auf Dauer funktioniert, mahnt TI-Chef Eigen, „darüber entscheidet die Geschäftspraxis der international tätigen Unternehmen“. Um diesen den Umstieg zu erleichtern, wollen TI-Gruppen demnächst versuchen, Großprojekte in aller Welt mit einem „Integritätspakt“ korruptionsfest zu machen. Dabei sollen die konkurrierenden Firmen vorab einen zivilrechtlichen Vertrag schließen, der jedes Unternehmen schadenersatzpflichtig macht, das irregulärer Praktiken überführt wird. „Das Risiko, erwischt zu werden, wird damit untragbar“, glaubt TI-Fachmann Michael Wiehen, „das schafft Sicherheit.“ Beim Bau einer international ausgeschriebenen U-Bahn-Linie in Buenos Aires soll das Modell jetzt erstmals vollständig umgesetzt werden. Eigentlich sollte der Testfall schon vergangenes Jahr in Deutschland stattfinden: TI wollte den Bau des neuen Großflughafens in Berlin-Schönefeld nach dem gleichen Muster absichern. Die Landesregierungen von Berlin und Brandenburg lehnten empört ab – so etwas sei „nicht nötig“. Das war ein Irrtum. Das Ausschreibungsverfahren droht wegen zahlreicher Dirty Tricks zu platzen, die Staatsanwaltschaft ermittelt. ARIS gelder fällig. Noch ist völlig ungeklärt, ob Zürcher Bankriesen UBS. Von diesem in solchen Altfällen straflos weiter gezahlt Konto (Nummer: 942/7675) sollen rund werden darf, weil die „Unrechtsvereinba- 20 Millionen Franken an spanische Regierung“ bereits vor Inkrafttreten des Ab- rungsbeamte geflossen sein. Noch schwekommens getroffen wurde. Die Unterneh- rer wiegt, dass nach Perraudins Erkenntmen fürchten Staatsanwälte, die aus jeder nissen der Gesamtumsatz auf dem Konto neuen Zahlung eine neue Tat konstruieren. über 600 Millionen Franken beträgt. Nach Dieser Falle ist der Baukonzern Züblin Perraudins Meinung sei dort wohl die vielleicht nur knapp entgangen. Das Stutt- „Kriegskasse“ des Konzerns geführt worgarter Unternehmen baut gemeinsam mit den, es handele sich um ein „Korruptieinem Dutzend weiterer Firmen im süd- onskonto“. Wofür das Geld verwendet afrikanischen Bergstaat Lesotho eine Ket- wurde, darüber wahrt das Siemens-Mate von Staudämmen für die Wasserversor- nagement jedoch eisernes Schweigen, der gung von Johannesburg. Ende Juli wurde Konzern mag dazu keine Stellung nehder staatliche Projektleiter angeklagt, bis men. 1998 rund zwei Millionen Dollar SchmierDas ist riskant. Denn die Führung geld kassiert zu haben, großenteils über schwarzer Kassen kann auch jenseits des Schweizer Konten. Dabei sollen 819 862 Strafrechts teuer werden – am KapitalMark von Züblin überwiesen worden sein. markt. Das erfuhr zuletzt der italienische Züblin-Chef Manfred Nußbaumer de- Mischkonzern Montedison. Vor drei Jahren mentiert. Weil in diesem Jahr kein Schmiergeld mehr floss, von wem auch immer, braucht er die Nachfrage deutscher Staatsanwälte diesmal noch nicht zu fürchten. Die Finanzämter sind für künftige Fälle jedoch angewiesen, vor allem nach überhöhten Provisionszahlungen zu fahnden, in denen sich Schmiergelder verstecken können. „Für die deutsche Industrie wird es jetzt sehr ernst“, sagt der SPD-Bundestagsabgeordnete Frank Hofmann, ein ehemaliger Kriminaloberrat aus dem Bundeskriminalamt. „Die müssen zurück zum System Anti-Korruptionsstreiter Eigen: „Das Risiko wird untragbar“ des ehrlichen Kaufmanns.“ Das ist aber gar nicht so einfach. Beim wurde bekannt, dass die Firma 270 MillioWeltkonzern Siemens etwa gehen im nen Dollar Bestechungsgelder abgezweigt Schnitt pro Arbeitstag Aufträge im Wert haben soll, die in den Konzernbilanzen als von einer halben Milliarde Mark ein. „Die Kredite verzeichnet waren. Daraufhin Umstände der Auftragsvergabe können wir eröffnete die US-Börsenaufsicht ein bis gar nicht zentral kontrollieren, das müs- heute anhängiges Verfahren wegen Besen wir an Mitarbeiter vor Ort delegieren“, trugs- und Bilanzfälschungsverdachts. Der sagt Bernd Stecher, Leiter der Zentralab- Kurs der in New York notierten Montediteilung für Auslandsbeziehungen in der son-Werte brach ein. Münchner Konzernzentrale. Trotz der Risiken verbinden viele InduZu diesem Zweck hat Siemens „Verhal- strielle die neuen Anti-Korruptionsregeln tensgrundsätze“ zum Bestandteil der Ar- aber auch mit großen Hoffnungen. „Wir beitsverträge gemacht. „Kein Mitarbeiter sind froh, dass die Konvention endlich in darf sich oder Dritten unberechtigt Vortei- Kraft ist“, meint Hermann Franz, Ex-Aufle verschaffen oder anderen gewähren“, sichtsratschef von Siemens und graue Emiheißt es da. Die über 5000 leitenden An- nenz des Konzerns. „Nun haben wir die gestellten mussten zudem ein „Revers“ un- Chance, dass in vielen Ländern gleichzeiterschreiben, wonach ihnen bei Anwen- tig gegen Korruption vorgegangen wird“, dung korrupter Praktiken Haftungspflicht ergänzt Chefstratege Stecher. und Kündigung drohen. „Jetzt wächst endlich der Mut, nein zu Das war wohl nicht immer so: Im sagen, wenn Schmiergeld gefordert wird“, Zusammenhang mit dem Korruptions- hofft auch Harald Rieger, Vorstandsmitskandal um die mit Siemens-Technik er- glied beim Frankfurter MG-Konzern, desrichtete spanische Expresszugstrecke Ma- sen Tochtergesellschaft Lurgi beim Bau von drid–Sevilla stieß der Genfer Untersu- Raffinerien oder Stahlwerken weltweit um chungsrichter Paul Perraudin auf ein ge- Milliardenaufträge ringt. „Die Unternehtarntes Nummernkonto von Siemens beim men waren ja selbst die Leidtragenden“, so Georg Mascolo, Harald Schumann Werbeseite Werbeseite FOTOS: ULLSTEIN BILDERDIENST Deutschland Berliner Wildschweine (in Wannsee): „Ich befinde mich nicht in Afrika, wo ich mit wilden Tieren leben muss“ Galopp in die Rabatten Futtermangel im Wald treibt Wildschweine in Rotten nach Berlin. Sie verwüsten Gärten, Fußballplätze und Friedhöfe. D ie Stadt, in der die Menschen wohnen, ist dem Gesetz nach „befriedetes Gebiet“, hier „ruht die Jagd“. Niemand weiß das besser als die Wildschweine von Berlin. In Horden, fachkundig Rotten genannt, fallen die schwarzen Borstentiere derzeit in die Hauptstadt ein. Denn dort, das haben die hoch begabten Paarhufer offenbar schnell gemerkt, lebt sich’s wie im Paradies. Der Jäger, seit dem Aussterben des deutschen Wolfs einziger natürlicher Feind des „Sus scrofa“, darf ihm hier nur mit Ausnahmegenehmigung auf die Schwarte rücken. Auch Polizisten ist lediglich im Notfall, „bei Gefahr in Verzug“, gestattet, auf die Borstentiere anzulegen. Von Rechts wegen gelten Wildschweine in der Stadt als „herrenlos“. Sie haben freie Bahn – und wissen das zu nutzen. „Eine Spur der Verwüstung“ hätten die Tiere durch seinen Bezirk gezogen, zürnt der CDU-Bürgermeister von Zehlendorf, Klaus Eichstädt, 59, und spricht von einer „Zuständigkeitslücke“, die geschlossen werden müsse. Eichstädt, sonst ein besonnener Mann, ist mit seiner Geduld am Ende und hat jetzt zu „Mord und Totschlag“ („Frankfurter Allgemeine“) aufgerufen. Er kämpft 84 dafür, dass ein „Mobiles Einsatzkommando“ der Polizei, eine „schnelle Eingreiftruppe“ mit „Jagdscheinen und Gewehren“, in der Stadt Streife geht und das Borstenvieh zur Strecke bringt. Ein Überangebot an Eicheln hatte vergangenes Jahr zu einer Geburtenexplosion bei den Sauen geführt. Der extrem heiße Berliner Sommer dieses Jahres trocknete jedoch den Wald aus und trieb die Keiler und Bachen mitsamt Anhang, Frischlinge genannt, massenhaft in die Stadt. Beliebtestes Ziel in Berlin sind die waldnahen Villengebiete mit aufwendigen Gartenanlagen zwischen Grunewald und Wannsee. Nirgendwo sonst finden die Allesfresser ein so delikates Nahrungsangebot. Im Schweinsgalopp geht es bevorzugt nachts in die Rabatten, wo sich die Tiere, Berlin-Mitte. Bei ihm suchen Opfer nächtlicher Randalen Hilfe. Auch die Polizei nimmt fast täglich Beschwerden über vagabundierende Saubanden entgegen. Denn nach einem Besuch der bis zu 1,80 Meter langen und 200 Kilogramm schweren Schweine sehen Obstgärten, Kleingartenkolonien und Komposthaufen wie Kriegsschauplätze aus. Dahin ist dann nicht nur der ideelle Wert des liebevoll gehegten Gartens. Nach Paragraf 37 des Landesjagdgesetzes gibt es nach einer Schweineinvasion auch keinen Schadensersatz. Lediglich wenn wie kürzlich in Wannsee und Spandau Schweine in Villen-Pools ertrinken, birgt die Feuerwehr kostenlos die Kadaver. Das ist dann, so steht es im Gesetz, „höhere Gewalt“. Auf der Suche nach Engerlingen, Mäusen und Würmern in der Erde schändete ein Trupp Schwarzkittel jüngst gar rund 200 Gräber auf dem Onkel-Tom-Friedhof in Zehlendorf. Ein andermal tobten die Schweine über den Übungsplatz des Fußball-Zweitligisten Tennis Borussia am Olympiastadion. Kurz darauf trat die BorstenKorona bei der Bundesliga an und durchpflügte das Trainingsfeld von Hertha BSC. Wie kaum eine andere Spezies Hertha-BSC-Übungsplatz: Randalierende Saubanden gehören Wildsauen zu den Wendegewinnern. Zu Mauerzeiten gab vor Vergnügen grunzend, mit Blumen- es auch für Ostschweine kein Durchkomzwiebeln, Schnecken und Gemüsen voll men in den goldenen Westen. fressen. Zäune sind kein Hindernis, auch Heute überqueren die exzellenten geschlossene Behälter vermögen die Sau- Schwimmer mitunter in Kohorten von en zu knacken. Brandenburg aus die Havel, stoppen kurz „Berlins beliebteste Mülltonnen, gefüllt für ein Picknick im Park der Sommerresimit Bioabfällen aus Küche und Garten, ste- denz Friedrich Wilhelms III. auf der ehehen in Heiligensee“, ermittelte Förster Hu- mals West-Berliner Pfaueninsel, 1821 anbert Wehner, 29, von der Jagdbehörde in gelegt von Peter Joseph Lenné („Betreten U. WINKLER / BERLINER KURIER TIERE d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 der Rasenflächen verboten!“), um dann gestärkt zum Sturm auf Berlin anzutreten. Manche Eltern, die der Idylle wegen an den Stadtrand zogen, lassen heute ihre Kinder nicht mehr allein auf den Spielplatz ziehen. Berufstätige wagen sich morgens nicht ins Auto, weil es von grunzenden Wildschweinen umzingelt ist. Hundebesitzer wie die Wannseerin Eva Abel, 62, fürchten um das Leben ihrer Getreuen. Als Abels Schäferhund „Baron“ sein Frauchen tapfer vor der Verfolgung durch eine Wildsau schützen wollte, wurde er von einem bulligen Keiler aufgespießt, durch die Luft geschleudert und schwer am Hinterlauf verletzt. Notoperation. „Ich befinde mich nicht in Afrika, wo ich mit wilden Tieren leben muss“, fordert die Tierärztin Martina Rauch-Ernst, 38, aus Heiligensee den Senat in einem Schreiben „eindringlich“ zum Handeln auf. Normalerweise ist das Schwarzwild mit dem großen Kopf und den kurzen Beinen menschenscheu und durch Lärm leicht zu vertreiben. Doch gibt es immer weniger echte Wildschweine. Viele der Sauen sind bereits in der Stadt geboren und folgen statt dem Rhythmus der Natur der Pausenglocke der Berliner Schulen. Dort lagern sie, ganz auf die FünfTage-Woche eingerichtet, von montags bis freitags und betteln bei den Kindern um Fütterung, beobachtete der Berliner Forstamtsleiter Roland Grund. Wie an ein Grunewalder Pausenbrot zu kommen ist und sich andere Nahrungsquellen erschließen lassen, wird dann in den Schweinefamilien von Generation zu Generation weitergegeben, fand der Gießener Wildbiologe Karl Kugelschafter heraus. Fast blind, aber mit einem hervorragenden Geruchssinn ausgestattet, unterscheiden die Tiere instinktsicher Freund und Feind. Während der unbewaffnete Vorortbewohner sofort als harmlos ausgemacht wird, mag er lärmen, pfeifen, schreien, könnten Schweine den todbringenden Jäger „am Schritt“ erkennen, behauptet CDU-Mann Eichstädt. So erobern die cleveren Wildsauen immer weitere Teile der Stadt. Eine Rotte residiert inzwischen permanent in der so genannten Fließwiese im urbanen Charlottenburg. Eine andere flaniert tagsüber öfter durchs Haupttor des Spandauer Friedhofs „In den Kisseln“, um dort Blumengebinde zu speisen. Obwohl offenkundig eine Plage mit großer Zerstörungskraft, haben auch die Schweine eine Lobby. In Zehlendorf werden die Tiere – trotz Androhung eines Bußgeldes von bis zu 10 000 Mark – gern von alten Damen gefüttert. Und unlängst bildete sich gar eine Menschenkette, um einer Rotte, die exekutiert werden sollte, das Leben zu retten. Als der Förster zur Tat schreiten wollte, war keine Sau mehr da. Susanne Koelbl d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland Beerdigung inklusive Eine Patientin, durch Blutpräparate mit Hepatitis C infiziert, verklagt die Firma Hoechst. Die Branche fürchtet eine Prozesslawine. F ür gewöhnlich reagieren Unternehmen unnachgiebig, wenn sie durch ein mangelhaftes Produkt ihres Hauses öffentlich ins Gerede kommen – besonders dann, wenn Leib und Leben der Konsumenten bedroht sind. So war es auch bei Hoechst: Der Frankfurter Pharma-Riese antwortete zunächst reflexartig, als ihm eine junge Frau vor zwei Jahren vorwarf, verseuchtes Blut verkauft zu haben; weil sie an Hepatitis C erkrankt ist, forderte die Patientin 200 000 Mark Schmerzensgeld. Umgehend konterte der Chemiemulti, jeder Anspruch entfalle, weil das Risiko einer Infizierung nicht vermeidbar gewesen sei. Inzwischen liegt eine Klage der Frau bei Gericht, und die Rechtsvertreter von Hoechst sind unerwartet zurückhaltend geworden. Ein ums andere Mal halten sie vom Richter gesetzte Fristen nicht ein und riskieren somit, dass ihre Argumente vom Gericht wegen Verspätung nicht berücksichtigt werden. Für diese Nachlässigkeit könne es eine Erklärung geben, meint Christoph Kremer, der Frankfurter Anwalt der infizierten Frau: „Die fürchten ein Urteil, das meiner Mandantin in der Sache Recht gibt.“ Tausende von Patienten haben sich in den achtziger Jahren durch Spenderblut oder Blutkonserven verschiedener Hersteller mit den todbringenden Hepatitis-C-Viren angesteckt. Die meisten ergaben sich still ihrem Schicksal. Doch seit bekannt geworden ist, dass die Industrie möglicherweise fahrlässig verseuchte Blutprodukte in Verkehr gebracht hat (SPIEGEL 33/1999), begehren viele Opfer auf. Immer mehr Infizierte wollen gegen die Firmen klagen. Die Blutbranche fürchtet deshalb eine Prozessflut. Am Ende könnte sie mit Forderungen auf Schadenersatz und Schmerzensgeld in dreistelliger Millionenhöhe konfrontiert werden. Der Prozess, der zur Zeit vor der 22. Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt läuft, Gefrorene Blutkonserve, Hoechst-Zentrale in Frankfurt: hat Pilotfunktion. Die heute 30-jährige Hessin leidet an dem so geDie Haftpflichtversicherung der Behnannten Willebrand-Jürgens-Syndrom: Bei ringwerke zahlte der jungen Frau in einem akuten Verletzungen treten als Folge dieser außergerichtlichen Vergleich 75 000 Mark, Gerinnungsstörung unstillbare Blutungen Beerdingungskosten inklusive. Dieser Deal auf, sie braucht dann Gerinnungspräparate. folgte zentral geführten Verhandlungen der Im Sommer 1984 stürzte das damals 15- Deutschen Hämophiliegesellschaft (DHG): jährige Mädchen im Schwimmbad. Es erlitt Alle HIV-infizierten Bluter in Deutschland einen Bluterguss am Hintern. Bei der Be- wurden Ende der achtziger Jahre auf diehandlung in der Universitätsklinik erhielt se Weise abgefunden. die Verletzte in den folgenden Tagen PlasDoch die Heranwachsende litt zusemakonzentrate der Behringwerke, einer hends darunter, dass sie sich bei der Blutdamaligen Hoechst-Tochter. transfusion nicht nur mit HIV, sondern Schon einige Tage danach stiegen die auch noch mit Hepatitis C infiziert hatte. Leberwerte des Teenagers dramatisch an, Wegen ihrer angegriffenen Leber konnte das Mädchen musste wieder ins Kranken- sie einige Medikamente, die der Aids-Prohaus. Die Ärzte stellten fest, dass sie sich phylaxe dienen, nicht einnehmen. Die Abmit HIV und Hepatitis C infiziert hatte. iturientin schloss zwar die Schule mit dem SIPA PRESS GESUNDHEIT DPA Bummelei mit System? besten Noten-Durchschnitt ihres Jahrgangs ab, aber auf die Uni wollte sie nicht mehr – zu kurz erschien ihre Lebenserwartung. Irgendwann aber fasste die junge Frau wieder Lebensmut – und verklagte im September 1998 Hoechst auf Schadenersatz und Schmerzensgeld. Der Richter gab den Hoechst-Juristen zunächst fünf Wochen Zeit zur Erwiderung. Er verlängerte die Frist auf Wunsch des Pharmakonzerns noch zweimal, doch ließ die Frankfurter Hoechst-Kanzlei Boesebeck-Droste auch den letzten Termin ohne Angabe von Gründen verstreichen. Erst drei Tage vor dem ersten Verhandlungstag am 8. März dieses Jahres und über sechs Wochen nach der letzten Fristset- zung reichte die Firma einen Schriftsatz ein. Richter Stefan Ostermann rügte die Versäumnisse und meinte, der Prozess könne für Hoechst allein aus diesem Grunde verloren gehen. Der Anwalt der klagenden Frau vermutet Strategie hinter der Bummelei: Verliert Hoechst nun in Frankfurt, müsste der Konzern nur an die kranke Hessin zahlen.Würde das Unternehmen hingegen ein reguläres Urteil kassieren, könnten sich andere Hepatitis-Infizierte darauf berufen. Weil es sich um ein laufendes Verfahren handele, wollte Hoechst gegenüber dem SPIEGEL keine Stellung zu dem Fall abgeben. Hoechst-Sprecher Carsten Tilger: „Wir weisen jedoch die Vermutung, eine Prozessverzögerung anzustreben, entschieden von uns.“ Müsste die Firma in Frankfurt ein Präzedenzurteil hinnehmen, dürfte es für die Branche teuer werden. Zwischen 200 000 und 400 000 Träger des Hepatitis-C-Virus gibt es in Deutschland. Die genaue Zahl kennt niemand, da viele nichts von ihrer Infektion wissen. Die Krankheit bricht bisweilen erst 10 bis 20 Jahre nach der VirusInfektion aus. Viele Opfer haben sich durch Bluttransfusionen oder Blutprodukte angesteckt. Die „Arbeitsgemeinschaft Plasmaderivate herstellender Unternehmen“ rechtfertigte sich, „allen Beteiligten und Betroffenen“ sei die Gefahr verseuchter Produkte bekannt gewesen. Es habe aber letztlich keine sicheren Tests gegeben, um das Spenderblut von Viren freizuhalten. Und „der überragende Nutzen“ der Behandlung habe die „unvermeidbaren Risiken der Therapie bei weitem“ übertroffen. Erst 1990 seien sichere Untersuchungen der Blutprodukte möglich geworden. „Und nun stellt sich plötzlich heraus, dass die uns womöglich die ganze Zeit be- logen haben“, schimpft Egon Stachel aus Baunatal-Rengershausen, der sich 1980 bei einer Nierenstein-Operation infiziert hat. Der CSU-Bundestagsabgeordnete Gerhard Scheu fand bei Recherchen für seine juristische Doktorarbeit heraus, dass der Wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer bereits im November 1976 einen so genannten ALT-Test als Standard bei Gerinnungspräparaten verbindlich vorgeschrieben hatte. Mit diesem Verfahren hätte sich schon vor mehr als 20 Jahren feststellen lassen, ob ein Blutspender an den Symptomen einer leberschädigenden Krankheit leide; die Gefahr, gesammeltes Blut mit Viren zu kontaminieren, hätte auf diese Weise wesentlich vermindert werden können. Die Plasmahersteller kritisieren indes bis heute die „große Ungenauigkeit der ALT-Testung“, sie hätten damit „keinen Sicherheitsgewinn“ erreichen können. Seit Scheus Ergebnisse bekannt geworden sind, fordert die DHG von der Pharmaindustrie vehement Entschädigungen für die rund 3000 infizierten Bluter – bisher vergeblich. Der Hamburger Anwalt Jürgen Schacht bereitet deshalb Musterklagen gegen Unternehmen wie die Leverkusener Bayer AG vor. Schacht prüft zudem, ob er in geeigneten Fällen die Klage mit Hilfe von USKollegen auch in Kalifornien einreichen kann. Das könnte Erfolg haben, weil der Bundesgerichtshof in der so genannnten Apfelschorf-Entscheidung zur Produkthaftung festgestellt hat, dass Geschädigte nach dem internationalen Privatrecht auswählen können, wo sie vor Gericht ziehen wollen. Der Vorteil eines Abstechers in die Vereinigten Staaten: Amerikanische Gerichte sprechen Opfern fehlerhafter Produkte wesentlich höhere Entschädigungen zu als deutsche. Carolin Emcke, Udo Ludwig Werbeseite Werbeseite SPIEGEL-Serie über Wende und Ende des SED-Staates (6) Die Woche vom 30. 10. 1989 bis zum 5. 11. 1989 »Rücktritt ist Fortschritt« R. SUCCO / ACTION PRESS Mit halbherzigen Reformversprechungen und Rücktritten will die SED das Volk besänftigen, mit Stasi-Hilfe eine Großdemonstration umdrehen – vergebens. Fast eine Million Menschen fordern auf dem Berliner Alexanderplatz: „Der SED den Laufpass“. Massendemonstration auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz am 4. November 1989 d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 91 100 TAGE IM HERBST: »RÜCKTRITT IST FORTSCHRITT« CHRONIK »Politik zum Weglaufen« Montag, 30. Oktober 1989 Halle Fasziniert verfolgt Michael Beleites, 25, die Rundfunk-Nachrichten: Endlich hat das Thema Umweltschutz die Straßen erreicht, auf denen an diesem Montag hunderttausende von DDR-Bürgern demonstrieren. „Sägt die Bonzen ab, nicht die Bäume“, „Öko-Daten ohne Filter“, „Leipzigs Luft ohne Schwefelduft“, „In Elbe, Mulde, Pleiße gehen Abwässer visafrei auf Reise“ – überall mischen sich Umweltschutzparolen in die Forderungen nach Meinungs- und Reisefreiheit. Gelegentlich kam Hilfe aus dem Westen. Zwar versuchten Stasi-Einflussagenten wie der grüne Bundestagsabgeordnete Dirk Schneider beharrlich, die Öko-Partei auf SED-Kurs zu trimmen*. Umweltkämpfer wie Petra Kelly aber zeigten sich solidarisch mit der ökologischen Opposition im Osten. Grünen-Geschäftsführer Eberhard Walde ließ sogar Druckmaschinen und Geigerzähler, getarnt als Diplomatengepäck, in die DDR schmuggeln. Doch nun, durch die Montagsdemonstrationen, gewinnt die grüne Bewegung an Schubkraft, kommen tabuisierte The* Hubertus Knabe: „Die unterwanderte Republik. Stasi im Westen“. Propyläen, Berlin; 590 Seiten; 49,90 Mark. men außerhalb der Kirchenzirkel zur Sprache – von der Verschmutzung der Elbe bis zum Waldsterben im Erzgebirge. „Der Morgen“, die Zeitung der Blockpartei LDPD, prescht vor und veröffentlicht bislang strikt geheim gehaltene Umweltdaten: Alljährlich werden fast fünf Millionen Tonnen Schwefeldioxid und fast eine Million Tonnen Stickoxide in den Himmel über der DDR geblasen. Die Umweltbewegung im Osten Deutschlands, so scheint es an diesem Tag, ist nicht mehr zu stoppen, die Gründung einer grünen Partei in der DDR nur noch eine Frage der Zeit. Parole der ersten Öko-Demo in Halle: „Lasst Taten folgen, wir sind dabei.“ Ost-Berlin Im Bezirk Halle, der mit Umweltschmutz meistbelasteten Region Deutschlands, demonstrieren 50 000 Menschen für saubere Luft und sauberes Wasser – zur Freude von Öko-Pionieren wie Beleites. Auf verlorenem Posten hatte der Tierpräparator lange Zeit gegen die Umweltvergiftung durch den Uranabbau der Sowjetisch-Deutschen Aktiengesellschaft Wismut gekämpft; allein durch WismutEmissionen starben nach Expertenschätzung binnen 40 Jahren mehr als 5000 Menschen. Vier Jahrzehnte lang war Umweltschutz ein Fall für die Stasi gewesen, galten ÖkoKämpfer wie Beleites als Spione und Saboteure. Nur unter dem Schutz der Kirche konnten Samisdat-Zeitschriften wie die „Umweltblätter“ oder die „Arche Nova“ erscheinen, die über die verseuchte Luft in Bitterfeld oder über die Devisengeschäfte der DDR-Führung mit westlichem Giftmüll berichteten. Umweltschützer Beleites in Wismut (r.), Stasi-Observationsfotos von Beleites (o.) Über 5000 Tote durch Uran-Abbau 92 P. BIALOBRZESKI / LAIF Das Ende kommt um 21.35 Uhr, plötzlich, aber nicht unerwartet. „Guten Abend, meine Zuschauerinnen und Zuschauer, liebe JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO A. VOSSBERG / PLUS 49 / VISUM Genossinnen und Genossen“, verkündet der bebrillte Bärbeiß auf dem Bildschirm, „diese Sendung wird nach fast 30 Jahren die kürzeste sein, nämlich die letzte.“ Nie zuvor bei einer der 1519 Folgen seines „Schwarzen Kanals“ konnte sich Karl-Eduard von Schnitzler, 71, des Beifalls seiner Zuschauer so sicher sein wie an diesem Abend. Denn kein anderer Ost-Berliner Journalist ist im Volk so verhasst wie der DDRChefkommentator, den sie überall „Karl-Eduard von Zurückgetretener Schnitzler (bei seiner letzten Sendung), Gewerkschafter Tisch: „Unsre Erde ist eckig“ Schni...“ nennen – dem Spottwort zufolge schalten alle ab, wenn am frühen Abend diesen Spruch skandiert Jetzt, zwei Tage nach dem „ungeheuren eine Schnitzler-Sendung angesagt wird. haben, ahnten nicht, dass, was eben noch Satz“, so Simon, kippt die Stimmung unter Groteske Schwarzmalerei über den Wes- Forderung war, binnen Stunden Fakt wer- den Funktionären: „Die Berichte über die ten, devote Hofberichterstattung über den den sollte – und zugleich Auftakt einer Wo- Unruhen in den Bezirken reißen nicht ab“, Osten – für das Volk verkörpert der adlige che der Rücktritte. eine „Explosion“ droht – ein ArbeiteraufAgitator die Erzübel des sogenannten Jourstand. nalismus in der DDR: Propaganda statt BeMehrere Vorsitzende von Zentralvorrichterstattung, Zensur statt freier Aus- Dienstag, 31. Oktober 1989 ständen suchen Tisch in dessen Amtsräusprache (siehe Analyse Seite 102). men auf, die ständig von der Volkspolizei In den Wochen vor der Wende zeigte Ost-Berlin bewacht werden. „Du musst erklären, dass sich der Polemiker, ganz wie sein Förderer Helle Aufregung herrscht in der Zentrale du zurücktrittst, Harry, sonst ist die Honecker, außer Stande, die Zeichen der des Freien Deutschen Gewerkschaftsbun- Empörung nicht mehr zu bremsen“, forZeit zu erkennen. Als er dem Publikum des (FDGB). Meterweise quellen Protest- dert IG-Bau-Holz-Chef Lothar Lindner. weismachen wollte, der anschwellende Telexe aus den Fernschreibern. Tisch, fassungslos, blickt in die Runde: Bürgerprotest („Großangriff auf die DDR“) Die Basis in den Betrieben empört sich „Meint ihr das wirklich?“ Alles nickt. sei vom Westfernsehen gesteuert, wurde seit Tagen über verheerende Auftritte von „Tisch wendet sich ab. Schluchzen erder Hetzer zum Hatzobjekt Nummer eins. Harry Tisch, 62, dem Vorsitzenden der par- schüttert ihn. Lothar Lindner umarmt ihn „Schnitzlers Visage bringt alle in Rage“, teitreuen Scheingewerkschaft. Wochenlang tröstend“, beschreibt Simon das „un„Schnitzler in die Muppet-Show“, hatte der Funktionär auf die Unruhe im rühmliche Ende“ eines „Kapitels Gewerk„Schnitzler in den Tagebau“, „Schnitzler Lande ähnlich taub reagiert wie Honecker; schaftsgeschichte in der DDR“. weg von Bild und Ton, er besudelt die dann plötzlich warf er den VertrauensleuNach ein paar Minuten hat Tisch sich Nation“ – auf das Stakkato der Demo- ten seiner Gewerkschaft vor, sie seien all- gefangen. Mannhaft diktiert er seinem Sprüche kann die SED-Spitze nur noch zu lange den Vorgaben der Partei gefolgt. Chefredakteur den ersten Satz einer Presdefensiv reagieren. „Massenproteste werden angekündigt, seerklärung in den Block: „Harry Tisch hat Die Volksnäheren unter den Parteigrößen Streiks“, notiert Günter Simon, Chefre- mitgeteilt, er werde auf der Sitzung des haben ohnehin seit längerem geahnt, dass dakteur des FDGB-Blattes „Tribüne“, an FDGB-Bundesvorstandes am Donnerstag der Schnitzlersche Journalismus der SED diesem „stürmischen“ Vormittag. seinen Rücktritt erklären.“ mehr schadet als nützt – wie es von andeDie Meldung geht über die Sender – und Erst am Wochenende hat Tisch eine blarer Warte Wolf Biermann formulierte: mable Diskussion in der zunehmend auf- inspiriert sogleich Wortwitzbolde zu einem müpfigen TV-Sendung „Elf99“ absolviert – neuen Transparent-Text für die nächste Hey, Schnitzler, du elender Sudel-Ede „eine Katastrophe“, wie selbst hauptamt- Demo: „Krenz zu Tisch!“ Sogar, wenn du sagst, die Erde ist rund liche Funktionäre urteilen. Simon: „ReDann weiß jedes Kind: Unsre Erde ist eckig dakteure, die eine Nachricht für unsere Karl-Marx-Stadt Du bist ein gekaufter verkommener Hund … Montag-Ausgabe über die Sendung schrei- Exakt zwei Monate ist es her, da waren In Dresden hat Oberbürgermeister Wolf- ben wollten, erklären sich außer Stande, sich die Stasi-Gewaltigen noch sicher, das richtige Rezept für den Umgang mit der gang Berghofer kurz vor der letzten Sen- den Auftrag zu erfüllen.“ Am Sonntagabend im FDGB-Präsidium Opposition zu kennen. dung zornigen Protestlern versprochen, er Am 31. August, bei einer Dienstbesprewerde deren Forderung „Schnitzler weg“ hat Simon den Rücktritt von Tisch geforans DDR-Fernsehen weiterleiten. Bei ei- dert. Begründung: Der Vorsitzende be- chung, berichtete Generalleutnant Siegnem „Sonntagsgespräch“ mit 20 000 Teil- handele den FDGB „wie sein Privateigen- fried Gehlert, 64, welche Mittel er in Karlnehmern vor dem „Roten Rathaus“ in Ost- tum“; ihm fehle es an „moralischer Stär- Marx-Stadt bevorzugt, um das Neue FoBerlin am Vorabend von Schnitzlers letz- ke“; er sei unfähig, für „Eigenständigkeit rum, „diese Banditen, wie man so schön sagt, in die Furche zu ducken“. tem Auftritt hatte auch SED-Bezirkschef der Gewerkschaften“ zu sorgen. Doch der Redakteur fand keine UnterDem Forum-Mitgründer Rolf Henrich, Günter Schabowski den Kanal voll: „Ich bin sicher, dass Karl-Eduard diese Stim- stützung. Arrogant setzte sich Tisch noch einem mit Berufsverbot belegten Rechtsmungslage nicht verborgen geblieben ist, einmal über die Massenproteste hinweg: anwalt und Ex-SED-Mitglied, werde die dass er ein kluger Mann ist und daraus „Es wird zwar so sein, dass einige hun- Stasi mit Hilfe bestellter Störer in Kürze in derttausend Gewerkschafter austreten, Zwickau denselben Empfang bereiten wie Konsequenzen zieht.“ „Schwarzer Kanal, heut’ zum letzten aber bei 9,6 Millionen Mitgliedern ist das neulich einem „so genannten Liedermacher“ aus Berlin. Gehlert: Mal“: Die Leipziger Demonstranten, die zu verkraften.“ d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 93 100 TAGE IM HERBST: »RÜCKTRITT IST FORTSCHRITT« Am selben Tag unterzeichnet der amtsmüde Stasi-Minister einen Befehl an die Chefs der Kreisdienststellen: Alle „operativen Unterlagen“ seien unverzüglich in Sicherheit zu bringen – „in Stahlblechbzw. Panzerschränken“. Nun, acht Wochen später, hocken die Stasi-Oberen selbst in der Furche. Als am Vormittag das SED-Politbüro zusammentritt, liegt Krenz und Genossen ein Geheimbericht der Sicherheitsorgane zur Beratung vor, der das alarmierende Wort „Ausnahmezustand“ enthält – und das Eingeständnis, dass die bisher verfolgten Strategien gescheitert sind: Moskau Mittwoch, 1. November 1989 Moskau Wuschelig schamponiert und braun gebrannt tritt Egon Krenz vor die internationale Presse. Mit strahlendem Lächeln versucht er den Journalisten weiszumachen, dass zwischen ihm und Gorbatschow pure Harmonie herrscht. In Wahrheit musste Krenz dem Kremlchef berichten, über eine Anerkennung des Neuen Forum sei „noch nicht entschieden“ worden. Daraufhin hat Gorbatschow laut Protokoll die Zögerlichkeit Ost-Berlins gerügt: Die Partei dürfe „solchen Problemen nicht ausweichen“, sie müsse „mit diesen Kräften arbeiten“. Der Journalistenfrage, ob die DDR freie Wahlen mit alternativen Kandidaturen gestatten werde, weicht Krenz aus: „Selbst wenn ich andere Gedanken hätte... Aber ich habe keine anderen Gedanken...“ Auch in diesem Punkt differieren die Positionen der Gesprächspartner. Zuvor bereits hat KPdSU-Sprecher Nikolai Schischlin Fragen von Journalisten zur Zukunft der DDR beantwortet. DPA Schneeregen fegt über die Piste, als die Interflug-Sondermaschine mit Egon Krenz abends in Moskau landet. Eine Sil-Limousine bringt ihn in ein Gästehaus auf den Leninbergen, wo sich Krenz auf sein Gespräch mit Gorbatschow vorbereiten will. Der SED-Chef, der die Sowjetunion als seine „zweite HeiWenn es nicht gelingt, den mat“ bezeichnet, hat viele BeFührungsanspruch unserer Parkannte in Moskau. Einer von ihtei durch Führungsqualität innen, ein hochrangiger KGBnerhalb der Partei und im Volk Mann, sucht ihn zu später Stunzu beweisen, sind Eskalationen de im Gästehaus auf und bittet nicht zu vermeiden ... Wenn es ihn zu einem nächtlichen Spanicht gelingt, den Masseneinfluss ziergang durch den Park der mit politischen Mitteln zurückResidenz. zudrängen, ist ein möglicher Dort eröffnet der Besucher – Ausnahmezustand nicht auszudessen Namen Krenz auch zehn Anwalt Henrich schließen. Jahre später noch geheim halDass der Versuch, die Opposition in ten wird – dem Staatsgast: „Ihre FreunScheindialoge zu verwickeln und einzu- de, Genosse Krenz, möchten Sie davor Schischlin: „Niemand kann sagen, was geschläfern, fehlgeschlagen ist, entnehmen bewahren, morgen ins offene Messer zu schehen wird. Aber ich bin sicher, dass diese Lage geändert werden sollte und geändie Politbürokraten einem zweiten Papier. laufen.“ Das Dossier berichtet über eine Tagung Gorbatschow, warnt der Namenlose, ste- dert werden wird.“ am 27. Oktober, bei der die SED-Bezirks- he unter wirtschaftlichem Druck und sei Frage: „Wie wird es geändert werden?“ fürsten Niederschmetterndes zu Protokoll dabei, sich mit Bonn zu arrangieren – auf gegeben haben. „In den Betrieben fängt Kosten der DDR. Schischlin: „Durch das Recht zur Wahl.“ die Partei an zu wackeln“, lautet die Hi„Die Sowjetunion“, zitiert Krenz seinen obsbotschaft aus Schwerin. „Die durchge- KGB-Freund, „erlebt die schwierigste Lage Während des vierstündigen Gesprächs führten Foren entwickeln sich zu Ge- seit der Oktoberrevolution ... Um wieder mit Gorbatschow quälen Krenz – wie er richtsverhandlungen“, meldet der Statt- auf die Beine zu kommen, brauchen wir später bekunden wird – nagende Zweifel halter aus Neubrandenburg. Und aus Dres- reiche Freunde ... Genosse Krenz, seien an der Loyalität des mächtigen Bündden rapportiert Hans Modrow: „So, wie Sie wachsam. Die Gefahren für die DDR nispartners, „der letztlich über Sein und gegenwärtig die Lage ist, können wir die sind groß.“ Nicht-Sein der DDR entscheidet“. Weiterentwicklung des Neuen Forums Um 3 Uhr morgens legt sich Krenz zur Vorsichtig erkundigt sich Krenz nach der nicht aufhalten.“ Ruhe. „Schlafen“, notiert er, „kann ich in künftigen Rolle der DDR in dem von GorIm Politbüro versucht Schabowski an dieser Nacht kaum.“ batschow propagierten „gesamteuropäidiesem Vormittag, Krenz zu radikalen Reformen zu bewegen. Er müsse mehr „Gags“ bringen, fordert der Berliner Bezirkschef: große und kleine Geschenke ans ungeduldige Volk, beispielsweise „ein neues Auto versprechen“ – so etwas müsse „jeden zweiten Tag kommen“. Doch das Politbüro zeigt sich, wie der Magdeburger SED-Bezirkschef Werner Eberlein rügt, „nicht im Stande, politische Entscheidungen zu treffen“. Ein Beschluss über den Umgang mit dem Neuen Forum wird vertagt, ebenso eine kritische Vorlage der FDJ. Volkskammerpräsident Horst Sindermann, 74, kann das klein Gedruckte nicht lesen, andere ärgern sich über den forschen Ton. Immerhin: Um dem „Erneuerungsprozess nicht länger im Weg zu stehen“, kündigen fünf Altgenossen zwischen 73 und 81 Jahren ihren baldigen Rücktritt aus dem Politbüro an – darunter mit Anzeichen tiefer Resignation auch Erich Mielke. Staatsgast Krenz, Gastgeber Gorbatschow: „Dies ist der Judaskuss“ 94 d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 SIPA PRESS Durch Trampeln und Pfeifen der gesellschaftlichen Kräfte musste er sein Programm, was er für zwei Stunden geplant hatte, nach 10 Minuten abbrechen, weil niemand mehr zugehört hatte. Werbeseite Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »RÜCKTRITT IST FORTSCHRITT« schen Haus“: „Die DDR ist ein Kind der Sowjetunion. Es ist für uns wichtig zu wissen, ob ihr zu eurer Vaterschaft steht.“ Die Reaktion seines Gesprächspartners hält Krenz mit den Worten fest: Als übersetzt wird, beobachte ich mein Gegenüber. Er ist nachdenklich. Er spricht leise einen Satz vor sich hin, so als würde er mit sich selbst reden. Ich glaube, es ist ein russisches Sprichwort, das sinngemäß heißt: Wie lang sich die Schnur auch windet, es kommt doch ein Ende. In meinen Notizen steht dahinter ein Fragezeichen. Setzt Gorbatschow auf eine Wiedervereinigung Deutschlands? Der KP-Chef weicht aus und verweist auf die angeblich skeptischen Amerikaner – was den Argwohn von Krenz verstärkt: „Interessant, denke ich, sie reden mit den USA über die deutsche Einheit, nicht aber mit der DDR.“ Als Krenz zurückfliegt, ist gewiss: Von den sowjetischen Freunden kann er weder eine militärische Beistandsgarantie für den Fall eines Volksaufstandes noch irgendwelche ökonomische Hilfe zur Restabilisierung der Macht erwarten. Gorbatschows Versprechen, die Staaten des ehemaligen Ostblocks dürften ihren „eigenen Weg“ gehen, hat der Sprecher des Außenministeriums, Gennadij Gerassimow, soeben auf eine bündige Formel gebracht: „Wir schauen, schauen sehr genau, aber wir mischen uns nicht ein.“ Diese neue Moskauer „Doktrin“ könne, so Gerassimow, auch als „Frank-Sinatra-Doktrin“ bezeichnet werden – nach dessen Erfolgssong „I did it my way“. Schon am Vormittag, als Gorbatschow den Gast aus Ost-Berlin mit dem traditionellen Bruderkuss begrüßte, hatten sich Krenz-Begleiter überzeugt gezeigt: „Dies ist der Judaskuss.“ Ost-Berlin Der Anrufer gibt sich geheimnisvoll. Der Mann stellt sich als Bauarbeiter vor und rät den Redakteuren der SED-eigenen „Berliner Zeitung“: „Schaut euch mal an, was im Ketschendorfer Weg 59 in Biesdorf geschieht.“ Reporter Hans Erdmann fährt an den Berliner Stadtrand und notiert: der „Berliner Zeitung“ – und löst eine Lawine aus. Was vor einem Jahr nur Geraune verursacht hätte, bringt landauf, landab die Volksseele zum Kochen. Kleine Gewerkschafts- und SED-Mitglieder, die selbst hinter grauen, bröckelnden Fassaden leben und für jede Tüte Dübel Schlange stehen müssen, geben wegen der Vorzugsbehandlung des Arbeiterführers zu Abertausenden ihre Mitgliedsbücher zurück. Andere stellen die Beitragszahlung ein. „Ich habe in meinem Leben immer einfach, normal gelebt“ – die Erklärung, mit der Nennstiel auf die bislang beispiellose journalistische Enthüllung reagiert, facht den Zorn der Leser weiter an. Am Abend wird der Gewerkschaftsboss zum Rücktritt gezwungen – erstes Opfer der von Tag zu Tag mutiger agierenden Presse. In den folgenden Wochen werden DDR-Medien zwischen Rügen und Suhl dutzendweise ähnliche Fälle von Funktionärshabgier aufdecken. Donnerstag, 2. November 1989 Warschau Bei seinem Antrittsbesuch in Polen wird Krenz auf dem Warschauer Flughafen von „guten Freunden“ empfangen. Wenig später, auf Schloss Belvedere, teilt der kommunistische Staatspräsident Wojciech Jaruzelski dem Genossen aus Ost-Berlin Tröstliches mit. Die Staaten Westeuropas seien ebenso wie Polen strikt gegen eine Wiedervereinigung Deutschlands, versichert der Präsident dem tief verunsicherten Krenz. Ein Stenograf hält Jaruzelskis Worte fest: In meinen Gesprächen mit Cossiga, Andreotti, Mitterrand und Thatcher sagten sie auch, dass (eine Wiedervereinigung) überhaupt nicht möglich sei. Frau That- cher erklärte in einem Vier-Augen-Gespräch, eine Wiedervereinigung sei absolut unannehmbar. Man dürfe keinen Anschluss zulassen, sonst würde die BRD auch noch Österreich schlucken. Das wäre eine reale Kriegsgefahr. Öffentlich geben sie das natürlich nicht zu, aber sie sind sich dessen bewusst, was das bedeuten würde. Im Übrigen ist der Staatsbesuch wenig geeignet, Krenz optimistisch zu stimmen. Gestern, im Gespräch mit Gorbatschow, hat der SED-Führer seine Angst eingestanden, dass sich nach einer Zulassung des Neuen Forum in der DDR „etwas Ähnliches wie die Solidarnosƒ“ entwickelt, das Bündnis zwischen Arbeitern und Bürgerrechtlern. Nun verspricht er sich von den polnischen Genossen guten Rat für die OstBerliner Regierungspolitik. Doch die Warschauer haben nur Warnungen parat. Die Partei hat es mit dem Kriegsrecht versucht – und ist gescheitert. Mit Panzern, sagt Jaruzelski, hätten die Kommunisten geglaubt, „den Deckel auf dem Topf halten zu können, aber die Arbeiterklasse stand in der ersten Reihe gegen uns“. Dann hat sich die Partei mit der Opposition an einen Runden Tisch gesetzt – und durch ungeschicktes Taktieren die zu lange als Satelliten missachteten Blockparteien gegen sich aufgebracht.Auf diese Weise hätten die Kommunisten, so Parteichef Mieczyslaw Rakowski zu Krenz, „die Quittung für unsere früheren Sünden“ bekommen. Am Ende habe die Partei nach langem Zögern freie Wahlen zugelassen – und haushoch verloren. Nun könne sie froh sein, sagt Juruzelski, dass ihr wenigstens „ein Kontrollpaket Aktien“, ein Rest von Einfluss, geblieben sei: die „Beteiligung an der Regierung, die Sicherheitsorgane und die Armee und das Amt des Präsidenten“. Schließlich gibt Rakowski dem Gast die Warnung vor drei gefährlichen Fehlern mit auf den Weg nach Berlin: Gefängnisstrafen Auf der Baustelle eröffnen Bauarbeiter dem Journalisten, das Domizil im Grünen sei ein Objekt der „FDJ-Initiative“; die Maurer seien dafür eigens vom U-BahnBetriebswerk Friedrichsfelde abgezogen worden. Bauherr sei Gerhard Nennstiel, 43, Vorsitzender der Ost-IG Metall. Erdmanns Bericht über den korrupten Gewerkschaftsbonzen erscheint auf Seite 3 96 C. HIRES / GAMMA / STUDIO X Da steht ein Eigenheim kurz vor seiner Vollendung: Zwei Etagen mit reichlich 200 Quadratmeter Wohnfläche, zehn Räume, Gasheizanlage, Bäder und Duschen, die Fenster sind BRD-Import, ein zweistöckiger Wintergarten ist im Entstehen. Staatsgast Krenz, Gastgeber Jaruzelski: „Deckel auf dem Topf halten“ d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »RÜCKTRITT IST FORTSCHRITT« ordner. Unterbrochen wurde das bürokratische Einerlei einmal im Jahr durch eine skurrile Faschingsfeier, bei der sich Mielkes Offiziere als Staatsfeinde verkleideten – als Bischöfe, Pazifisten und Hooligans. An diesem Tag ist alles anders. In der Zwingburg an der Normannenstraße herrscht Endzeitstimmung: Trotz massiver Stasi-Einmischung droht die für morgen angekündigte Großdemonstration auf dem Alexanderplatz außer Kontrolle zu geraten. Ein Marsch auf die Geheimdienstzentrale ist nicht auszuschließen. Im Ministerium geht im Wortsinne das Licht aus. Die MfS-Spitze befiehlt den P/F/H stärkten nur den „Märtyrer-Mythos“ von Oppositionellen; „Privilegien“ für die Regierenden „reizten die Menschen in besonderer Weise“; „was man legalisieren darf und was nicht“, müsse rechtzeitig entschieden werden. Beiden Gesprächspartnern ist klar: Genau diese Fehler sind in der DDR bereits begangen worden – unter der Verantwortung oder Mitverantwortung von Krenz. Am Ost-Berliner Flughafen Schönefeld wird der Rückkehrer von ZK-Sicherheitschef Wolfgang Herger erwartet. Welche Schlussfolgerungen die beiden auf der Rückfahrt in die Stadt ziehen, offenbart tion mit den Ordnungshütern bedacht – sich ängstigen, die Angelegenheit könnte ihnen über den Kopf wachsen. Manch einer würde aus Angst vor der eigenen Courage die Kundgebung am liebsten wieder absagen. „In einer Beratung der Gewerkschaftsvertrauensleute der Theaterschaffenden Berlin“ ist laut Stasi-Notiz daher „festgelegt“ worden, „eine weitere Bekanntmachung größeren Stils – z. B. in Massenmedien – zu unterbinden, weil sonst die Teilnehmerzahl zu hoch ansteigen könnte ... Einige Organisatoren brachten die Befürchtung zum Ausdruck, die Teilnehmerzahl könnte 500000 Demonstranten erreichen, falls die Werbung dafür nicht gestoppt werde“. Doch die Mobilisierung haben zu diesem Zeitpunkt längst andere in die Hand genommen. „Die Absicht zur Durchführung der Demonstration“, meldet die StasiHauptabteilung XX, „ist republikweit popularisiert worden, vornehmlich in Künstler- und Kirchenkreisen.“ In der Zentrale macht sich die Angst breit, die bevorstehende – möglicherweise entscheidende – Machtprobe mit der Opposition könne mit einem Sturm auf die Mauer oder auf die Normannenstraße enden. Um gegen „mögliche Angriffe“ auf ihr Quartier gewappnet zu sein, lässt die Stasi Waffenkammern und Munitionsräume sichern. Zugleich wird „die schnelle Verlagerung operativ bedeutsamer Materialien und Unterlagen“ vorbereitet. Herger später einem Historiker: „Jetzt half nur noch Modrow, den Gorbatschow sehr gelobt hatte, als Ministerpräsident.“ Freitag, 3. November 1989 Ost-Berlin Seit 40 Jahren wuchert im Ost-Berliner Stadtteil Lichtenberg ein gargantueskes Parallel-Universum. Um Platz zu schaffen für seine Zentrale des Schreckens, hat Erich Mielke einen ganzen Stadtteil mit Beschlag belegt. In dem grauen Konglomerat aus Hochhäusern und Flachbauten, Kliniken und Kantinen, Archiven und Werkstätten arbeiten 25 000 Hauptamtliche – allesamt mit militärischem Rang; die Küchenfrauen im Ministerium für Staatssicherheit etwa sind Feldwebel. Jahrzehntelang ging in „der Firma“ alles seinen sozialistischen Gang. Der „Genosse Armeegeneral“ hortete Gastgeschenke, vom bulgarischen Zinnteller bis zum mongolischen Krummsäbel, und sammelte Orden (insgesamt 274); Tüftler montierten Geheimkameras in Gießkannen und Wanzen in Handtaschen; Führungsoffiziere füllten Regale mit Spitzelberichten, im Laufe der Zeit 122 Kilometer Akten98 Tschekisten, sich einzuigeln: „Bei Dunkelheit sind die Arbeitsräume zu verdunkeln.“ Wochenlang hatte die Geheimpolizei geglaubt, die Veranstalter des geplanten „Meetings“ im Griff zu haben. Als völlig unkalkulierbar gilt neuerdings jedoch das Verhalten des Fußvolks, das, wie Spitzel aus allen Ecken der Republik melden, zu zehntausenden nach Berlin strömen will. Vergebens haben sich SED und Stasi bemüht, den Zulauf aus der Provinz zu drosseln. Noch am 31. Oktober schrieb Mielke an seine Dunkelmänner: Durch Dialogangebote und andere gesellschaftliche Möglichkeiten in den Wohnorten, Arbeits- und Unterrichtsstätten soll gezielt einer Teilnahme von Personen, Arbeits- und Schulkollektiven an dieser Demonstration bzw. an dem Meeting in der Hauptstadt entgegengewirkt werden. Doch der greise Minister hat die Sogkraft der Veranstaltung unterschätzt. Bereits einen Tag nach dem Mielke-Brief notierte Stasi-Leutnant Edgar Hasse im Anschluss an eine Dienstbesprechung: „Demo am 4. 11. scheint nicht mehr überschaubar ... Sache kann nicht mehr gestoppt werden.“ So gewaltig ist der erwartete Ansturm, dass selbst die Veranstalter – in rotpreußischer Disziplin um Kooperad e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO Geschenkesammlung im Mielke-Büro: „Arbeitsräume verdunkeln“ SED-Politikerin Honecker Gemüter besänftigen Ihre Waffen sollen die Sicherheitskräfte nicht einsetzen dürfen. „Die Anwendung der Schusswaffe im Zusammenhang mit möglichen Demonstrationen ist grundsätzlich verboten“, hat der Verteidigungsrat angeordnet. Um das Schlimmste zu verhindern, mobilisiert die Berliner SED tausende bewährter Anhänger, die darin erfahren sind, ihrer Partei als Claqueure zu dienen und Störer aus dem Weg zu rempeln. Es sei veranlasst, halten die Geheimdienstler fest, dass „gesellschaftliche Kräfte in Abstimmung mit der Partei wirkungsvoll zum Einsatz gebracht werden“. Die wichtigste Aufgabe hat an diesem Tag SED-Generalsekretär Egon Krenz zu erfüllen. Er soll am Vorabend der Großkundgebung die Gemüter der Bürger be- Werbeseite Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »RÜCKTRITT IST FORTSCHRITT« Als der Morgen graut, hat die Stasi ihre Vorbereitungen für die mit Bangen erwartete Kundgebung auf dem Alex abge- R. SUCCO / ACTION PRESS Sonnabend, 4. November 1989 Ost-Berlin Krenz sitzt unterdessen, hochgradig nervös, im Arbeitszimmer von Innenminister Dickel. Mit Stoph sowie Stasi-Minister Mielke und Verteidigungsminister Keßler verfolgt er per Monitor das Geschehen. Für den Fall, dass es zu dem befürchteten Grenzdurchbruch am Brandenburger Tor kommt, sind ein heißer Draht zu Gorbatschow und Standleitungen zur Sowjetarmee in Wünsdorf und zur KGB-Zentrale in Karlshorst geschaltet. Trotz feuchtkalten Wetters haben sich auf dem Alex nicht – wie von der Stasi befürchtet – 500 000 Menschen versammelt, sondern fast eine Million. Und viele tragen nicht die staatstreuen Parolen, die zuvor zwischen Veranstaltern und Volkspolizei abgesprochen worden waren, sondern Plakate mit jener Mischung aus Biss und Witz, die aus Leipzig und anderswo bekannt ist: „Kein Artenschutz für Wendehälse“, „Trittbrettfahrer, zurücktreten!“ Die Kundgebung leitet Henning Schaller vom Maxim-Gorki-Theater, ein von der Stasi als „politisch-negativ“ eingeschätzter Mann – der klammheimliche Versuch der Geheimpolizei, „Einfluss“ auf die „Festlegung des Moderators“ zu nehmen, ist fehlgeschlagen. Wie zum Hohn lassen die Organisatoren den Protestbarden Kurt Demmler singen: Irgendeiner ist immer dabei von der ganz leisen Polizei. Irgendeiner macht immer ’n Strick und wenn du’s nicht bist, bin’s ick. Das DDR-Fernsehen überträgt live. So sind Abermillionen Zeuge, wie der StasiPensionär Markus Wolf (siehe Porträt Seite 100) mehr Buhrufe als Beifall erntet: Ihn hat Schallers listige Regie unmittelbar nach Kundgebungsredner Heym, Kundgebung auf dem Alexanderplatz „Als habe einer die Fenster aufgestoßen“ J. WITT / SIPA PRESS schlossen. In konspirativen „Objekten und Wohnungen mit Telefonanschluss“ entlang der Demonstrationsstrecke liegen befehlsgemäß hunderte von Stasi-Leuten auf der Lauer. Vom Marx-Engels-Platz bis zur Grenze haben bewaffnete Geheimpolizisten Posten bezogen. Die Befehlslage ist klar: Geschossen werden darf während der Demonstration nicht, und auch Festnahmen sollen möglichst unterbleiben. Gewaltanwendung, „der jeweiligen polizeilichen Situation angemessen“, ist nur außerhalb des „Sichtbereiches von Kameras und Fotoapparaten“ erlaubt. Als gegen neun Uhr die ersten Demonstranten auftauchen, unternehmen StasiMänner in Räuberzivil noch den hoffnungslosen Versuch, sie wieder nach Hause zu schicken: Nach der jüngsten KrenzRede sei die Kundgebung doch überflüssig, argumentieren sie. Unterdessen wartet Bärbel Bohley am Grenzübergang Friedrichstraße vergebens auf die Einreise von Wolf Biermann, den sie zur Demonstration eingeladen hat. Der Liedermacher wird von den Grenzern nicht durchgelassen – und spricht Journalisten ins Mikrofon: „Vor 25 Jahren wurde ich verboten, ausgeulbrichtet, 1976 in den Westen ausgehoneckert und jetzt ausgekrenzt.“ sänftigen, die allerorten „Rücktritt ist Fortschritt“ rufen. In einer abendlichen TV-Ansprache verkündet Krenz ein Bündel von Demissionsankündigungen und Reformversprechen. Bereits tags zuvor waren diverse Abdankungen publik geworden – von Bildungsministerin Margot Honecker, den Blockpartei-Vorsitzenden Gerald Götting (CDU) und Heinrich Homann (NDPD) sowie zwei SED-Bezirkschefs. Nun gibt Krenz die am Dienstag im Politbüro abgesprochene Demission der Seniorenriege bekannt, darunter, neben Mielke, auch Hermann Axen (Außenpolitik) und Kurt Hager (Ideologie). Am kommenden Montag soll zudem, wie Krenz mit Willi Stoph vereinbart hat, der gesamte Ministerrat zurücktreten. Über diesen Termin und die geplante Nachfolgeregelung informiert der SEDChef den Sowjetbotschafter Kotschemassow: „Ich werde dem ZK vorschlagen, Hans Modrow als Kandidaten für den neuen Ministerpräsidenten zu nominieren.“ Um den Volkszorn zu dämpfen und um eine erneute Besetzung der Prager Botschaft zu vermeiden, gibt die Regierung überdies eine erstaunliche Entscheidung bekannt: Die DDR gestattet ihren Bürgern, vorerst – bis zum Inkrafttreten des geplanten neuen Reiserechts im Dezember – die Republik via ∏SSR gen Westen zu verlassen, ohne jegliche Formalitäten. Kaum jemandem erschließt sich zu diesem Zeitpunkt die politische Tragweite des Beschlusses. Werbeseite Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »RÜCKTRITT IST FORTSCHRITT« Sonntag, 5. November 1989 Ost-Berlin Die Fenster der Stasi-Wohnung über dem Fleischerladen an der Plesser Straße 8 bleiben heute abend dunkel – die Geheimpolizei hat ihre Agenten auf der anderen heimpolizei konspiriert, spielen Vertreter der von der Stasi infiltrierten Öko-Gruppen und des SED-nahen Kulturbundes auf Zeit. Die Versammlung löst sich auf. Enttäuscht fährt Jordan mit seinem Trabi nach Hause. Zur Gründung einer grünen Partei wird es – spät, zu spät – erst am 24. November kommen, zu einem Zeitpunkt, zu dem das Thema Wiedervereinigung die Umweltproblematik wieder in den Hintergrund gedrängt hat. Um 22 Uhr verschließt Hilse die Pforten seines Gotteshauses. Gegenüber, in der konspirativen Wohnung, auf deren Balkon „die Herren von der Firma“ an warmen Sommerabenden gern ein paar Runden Skat spielten, ist noch immer alles dunkel. Straßenseite platziert, mitten im Beobachtungsobjekt, dem rotbraunen Ziegelbau der Treptower Bekenntniskirche. Gegen 19.30 Uhr versammeln sich in dem Gotteshaus rund 300 Menschen. Pfarrer Werner Hilse, 55, Betreuer von Ausreisewilligen, Homosexuellen und Umweltschützern, hat neben dem Taufbecken an der Stirnwand (Aufschrift: „Eine feste Burg ist unserer Gott“) einen Tisch aufbauen lassen. Dahinter verliest der bärtige Carlo Jordan, 38, Mit-Initiator der Ost-Berliner „Umweltbibliothek“, einen Aufruf zur „Gründung einer Grünen Partei“. Doch der Vorschlag wird zerredet. Energisch und eloquent versucht der Vertreter des Demokratischen Aufbruchs, Rechtsanwalt Wolfgang Schnur, eine formale Parteigründung zu verhindern. Ähnlich wie der Anwalt, der unter dem Decknamen „IM Torsten“ mit der Ge- Prag „Eure Politik ist zum Weglaufen“ – die Zukunftsangst, die der Demonstrationsspruch einfängt, hat auch der Liberalisierer Krenz den DDR-Bürgern nicht nehmen können. Seit Jahresbeginn hat der Arbeiter-und-Bauern-Staat rund 180 000 Menschen verloren, mehr als ein Prozent der Bevölkerung. Und die Absetzbewegung hält weiter an. Über Ungarns grüne Grenze haben 50 000 DDR-Bürger die Flucht ergriffen. Bis Silvester sind sämtliche InterflugMaschinen auf den Stecken Berlin–Budapest und Dresden–Budapest ausgebucht; zu haben sind nur noch RückGrünen-Treffen in Treptow: Die Stasi spielt auf Zeit flüge. Seit Krenz vor zwei Tagen die ∏SSRGrenze geöffnet hat, ist die Ausreisebewegung zur Stampede geworden: Binnen 48 Stunden sind mehr als 20 000 Menschen in den Westen gereist. Allmählich erst erschließen sich den Beobachtern die Dimensionen des Wandels. Der Kommentator der West-Berliner „Tageszeitung“ schreibt für die Montagsausgabe seines Blattes: T. HEIMANN Demmlers umjubeltem Auftritt aufs Podium geschickt. Günter Schabowski macht die letzten Partei-Hoffnungen zunichte, auf die Demo „stimulierend im progressiven Sinne einwirken zu können“ (SED-Bezirksvize Helmut Müller im geheimen Vorbereitungsgespräch). Dem beflissenen Wendehals – „Wir lernen unverdrossen“ – müssen die Veranstalter beispringen gegen die überbordenden Zurufe: „Aufhören, aufhören!“ Den richtigen Ton treffen hingegen Redner wie der Liberaldemokrat Gerlach („Es geht jetzt um den Rücktritt der Regierung“) oder Stefan Heym: „Es ist“, ruft der Schriftsteller, „als habe einer die Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der Stagnation, nach all den Jahren der Dumpfheit und des Miefs, des Phrasengewäschs und bürokratischer Willkür.“ Die Schauspielerin Steffi Spira zitiert am Ende Bert Brecht: „So wie es ist, bleibt es nicht ... Aus Niemals wird: Heute noch!“ Dem werden Historiker später wenig hinzuzufügen haben. „Der 4. November ist ein Markstein“, urteilt der Wende-Chronist Stefan Wolle: „Von nun an geht nichts mehr zurück.“ Die Mauer ist gefallen ... Seit Freitagnacht kann sich ein DDR-Bürger aus Karl-Marx-Stadt in seinen Trabi setzen und nach München fahren ... Der Wind, der aus dem Osten kommt, hat eine solche Wucht bekommen, dass die historischen Relikte, die da vorbeiwirbeln, kaum noch Aufmerksamkeit erregen … Es ist die erstaunlichste, die unvorstellbarste Revolution, die man sich denken kann. DPA Unvorstellbar, in der Tat. So unvorstellbar, dass keinem Kommentator in den Sinn kommt, die Mauer könnte drei Tage nach Erscheinen dieses Textes wirklich brechen. DDR-Bürger auf Westkurs (bei Schirnding): „Die Mauer ist gefallen“ 102 d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Jochen Bölsche; Hans Halter, Sebastian Knauer, Norbert F. Pötzl, Irina Repke, Cordt Schnibben, Peter Wensierski Werbeseite Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »RÜCKTRITT IST FORTSCHRITT« perfekt wie früher. Den auflagenträchtigen Vorwurf etwa, der verstorbene SPD-Politiker Herbert Wehner sei ein DDR-EinPORTRÄT flussagent gewesen, musste er 1997 umgehend korrigieren: Wehner habe „nie und in keiner Weise“ im Dienste Ost-Berlins gestanden. Immer häufiger verstrickt sich der Altmeister der Camouflage in dem Wust aus Lebenslügen und Legenden, mit denen er seine eigene Biografie kaschiert, die vor allem eines beweist: wie weit sich einer von den humanitär-marxistischen Idealen seiner Jugend entfernen kann. „Mut, Mut und nochmals Mut“ hatte ls der ehemalige Spionagechef die seine einstigen Offiziere appelliert: „Wir mikrofonbestückte Rednertribüne schweigen.“ Bald aber zeigte er sich selbst ihm sein Vater gepredigt, der aus Naziauf dem Ost-Berliner Alexander- in immer neuen Interviews und Büchern, Deutschland nach Moskau emigrierte Arzt platz verließ, blieb ihm „tatsächlich die für die ihm teils sechsstellige Honorare ge- und Schriftsteller Friedrich Wolf. Doch Spucke weg“ – er brachte „keinen weite- boten wurden, so red- und schreibselig wie selbst nachdem viele von „Mischas“ Lehkein anderer Würdenträger der verflosse- rern und Freundeseltern stalinistischen ren Satz mehr heraus“. Säuberungen zum Opfer gefallen waren, Mit schrillen Pfeifkonzerten und erreg- nen DDR. Dabei beherrscht der einstige „Spiona- bewahrte sich der begeisterte Jungkomten Zwischenrufen („Aufhören!“, „Aufhängen!“) hatten am 4. November 1989 gechef im geheimen Krieg“ (Wolf-Buch- munist (Jahrgang 1923) den Glauben an hunderttausende von Demonstranten den titel 1997) die „Kunst der Verstellung“ den Massenmörder Stalin, der „fast ein Versuch des Spitzenkommunisten Markus (Wolf-Buchtitel 1998) keineswegs mehr so Halbgott“ seiner Jugendjahre war. Der im Gulag-Staat antrai(„Mischa“) Wolf vereitelt, sich nierte „Verdrängungsmechanach Jahrzehnten im Dienste nismus“ (Wolf) bewährte sich, der Staatssicherheit an die nachdem der KominternSpitze der Reformer zu schumSchüler, im Mai 1945 im Gemeln. Für Wolf war der Tag folge der „Gruppe Ulbricht“ eine „Zäsur“. nach Berlin beordert, mit 29 Der einstige Leiter der Jahren Spionagechef der DDR „Hauptverwaltung Aufklägeworden war. Nicht ein einzirung“ (HVA) im MfS, Autor ges Mal während seiner Blitzeines gerade erschienenen Bukarriere – Generalleutnant, ches mit später, verhaltener Generalmajor, Generaloberst Stalin-Kritik, hatte allen Erns– bewies der Spitzenmann des tes geglaubt, die Massen würSpitzelamtes so etwas wie den in dem pensionierten Zivilcourage. Tschekisten nun plötzlich nur Natürlich durchschaute Ostnoch den „Hoffnungsträger“ Berlins „Vorzeige-Intelligenzsehen – einen Mann, den der ler“ (Wolf), dass die Ursachen „Weg vom Stasi-General zum des blutig niedergewalzten Fürsprecher von Glasnost und Volksaufstandes vom 17. Juni Perestroika“ geläutert hat. 1953 „im Innern lagen“. DenAuf dem Alex begriff der noch galt jahrzehntelang für MfS-Veteran: Der Pritschenihn wie für den letzten dumpwagen, der als Rednertribüne fen Politruk die Parteiparole: diente, war ihm zur „Richt„Keine Fehlerdiskussion, das statt“ geworden; die „Verantnutzt die andere Seite!“ wortung für die VergangenNatürlich hat der Stellverheit“ würde ihn einholen. treter jenes Mielke, der MeuSeit jenem Tag übt sich der chelmorde, Psychoterror und einstige Mielke-Vize, der ein Todesurteile gegen AndersdenDritteljahrhundert lang das kende befahl, „Repressionen „Schwert der Partei“ geführt und Opfer wahrgenommen“, hat, vorwiegend in Selbstverund er hat auch gewusst, „dass teidigung. Getrieben von es Tote gab“. Doch obgleich er Rechtfertigungszwang und beispielsweise in den SiebziDarstellungsdrang, zog der gern „entsetzt über die Unter„Mann ohne Gesicht“ – von drückung“ von Intellektuellen dem es jahrzehntelang, bis zu durch das MfS gewesen sein einem SPIEGEL-Titelbild im will, sah er „keine Möglichkeit, Jahre 1979, kein aktuelles Foto etwas dagegen zu tun“ – Wolf gab – in den Neunzigern von reagierte mit „Rückzug in die Talkshow zu Talkshow. eigene Nische“, die HVA. Nach der Wende hatte der Von seiner sauberen Nische Mystery-Man des deutschaus nutzte der Spionagechef deutschen Agentenkrieges an Redner Wolf am 4. November 1989: „Aufhören! Aufhängen!“ »Mut, Mut und nochmals Mut« Markus Wolf: Wie der „Mann ohne Gesicht“ zum Mann mit den tausend Gesichtern wurde AFP / DPA A 104 d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite mit Hilfe von „Romeos“ Dagegen sei es „schon die Vereinsamung Bontoll“ gewesen, verrät er ner Sekretärinnen aus; im „Playboy“-Interview, mit gefälschten Brie„mit Westpapieren in der fen und verfälschten TeTasche frei reisen zu könlefon-Abhörprotokollen nen und in einer guten setzte er westdeutsche Bar den Martini zu schütPolit-Prominenz unter teln oder zu rühren“. Druck; mit elektroniWenn der Gourmet zu schen Wanzen startete Hause im grauen Staer Lauschangriffe auf cheldrahtstaat dringend Politiker wie Egon Bahr; Granatapfelsirup benöper Abgeordnetenkauf tigte, besorgte ihm ein hielt er 1972 den EntKollege vom KGB die spannungskanzler Willy Rarität mal eben „als Brandt im Amt, die Ent- SPIEGEL-Titel 10/1979 Freundschaftsdienst aus tarnung des HVA-Spions Aserbaidschan“. Günter Guillaume schließlich löste 1974 Dass Mielke den kulinarischen Marxisden Sturz des Staatsmanns aus. ten 1986 in den Ruhestand schickte, erDem Publikum präsentiert sich der Viel- klärte Wolf seinem Publikum lange Zeit schreiber und Vielredner seit Jahren als mit Differenzen über Gorbatschows Politik Mann mit tausend Gesichtern. sowie mit eigenen Buchplänen. Den wohl Mal spielt er, vor Pathos vibrierend, den wichtigsten Grund behielt er für sich: Moralapostel, der „Ehrlichkeit“ als seine Nachdem Wolf seine zweite Ehefrau zu Lieblingstugend und „Doppelzüngigkeit“ Gunsten von deren bester Freundin verals den unverzeihlichsten aller Charakter- lassen hatte, geriet die Verflossene am bulmängel bezeichnet. Versteht er sich als Re- garischen Strand ausgerechnet an einen volutionär? Wolf: „Ja, weil ich ohne Rück- V-Mann des BND. Mielke tobte. sicht auf mein persönliches Leben für das Nach dem Ende der DDR sah sich der eintrete, was ich für gut und richtig halte. Mann, dessen Metier der Verrat war, selbst Und weil ich konsequent bin.“ schmählich im Stich gelassen – von GorMal gibt er den Widerständler, der das batschow: „Er hat uns einfach verraten.“ „stalinistisch geprägte Sicherheitsdenken“ Seit seiner Rückkehr aus Moskau, wo der seiner DDR „innerlich nie geteilt“ und bei- „halbe Russe“ (Wolf über Wolf) zeitweise spielsweise die Ausbürgerung Wolf Bier- Asyl gefunden hatte, spielt er seine vermanns 1976 „schon damals nicht für rich- mutlich letzte Rolle – als Opfer der Bontig gehalten“ hat. Dennoch sah Wolf ner „Siegerjustiz“. während seiner 34-jährigen Dienstzeit keiSein Lamento über „regelrechte Hene „Möglichkeit, dagegen zu opponieren“ xenjagden“ könnte glatt vergessen ma– allenfalls ein wenig: Wenn Mielke „auf chen, dass Wolf dank Haftverschonung und den Genossen Stalin ein dreifaches mi- Bewährung insgesamt gerade mal elf Tage litärisches Hurra“ ausbringen ließ, will der in Haft war – und das unter BedingunNischenmann in der schneeweißen Gala- gen, die er selbst „eine Wucht“ nennt. Im uniform stets stumm in der Runde gestanden haben, „mit versteinerter Miene“. Immer häufiger verstrickt sich Mal wiederum präsentiert sich Wolf, im Gespräch mit der New Yorker Zeitschrift der Altmeister der Camouflage „Tikkun“, als glühender Freund Israels, der väterlicherseits einer „langen Linie von in den Lebenslügen und Rabbis“ entstamme und der sein „vorranLegenden, mit denen er seine giges Ziel“ stets im Kampf gegen deutsche Nazis und Neonazis gesehen habe. AllerBiografie kaschiert. dings: Konfrontiert mit dem Vorwurf, die DDR habe heimlich arabischen Anti-IsraelTerroristen Unterschlupf gewährt, muss er Anstaltskino gab’s James Bond, in der Aneinräumen, er könne „dies nicht völlig von staltsbücherei „3-mal John le Carré“, dazu der Hand weisen“. Dass im kommunisti- auf speziellen Wunsch Nescafé, Früchteschen Osteuropa zeitweise „ziemlich hefti- würfel und Gesichtssalbe: „Was will man ger Antisemitismus“ herrschte, ist „Ost- noch?“ deutschlands jüdischem Meisterspion“ Kein Vergleich mit dem „Gelben Elend“ („Tikkun“) auch „erst später bewusst“ ge- in Bautzen – sein West-Knast wirke wie worden – dann aber „hat man es ver- ein „modernes Krankenhaus“, schrieb der drängt“: „Sicher hatten wir Scheuklappen.“ Häftling seiner dritten Ehefrau aus dem Am besten gefiel sich Wolf offenbar in Gefängnis im hessischen Weiterstadt: der Rolle des Welt- und Lebemannes, als „Selbst die hohen Zäune haben ein moroter James Bond zwischen Budapest und dernes Design.“ Havanna, Stockholm und Sansibar: „Die Allerdings, so mäkelte der Ästhet, „die Arbeit am Schreibtisch hat mir nie be- Mauern mit den Wachtürmen wenihagt.“ ger“. Jochen Bölsche 106 d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »RÜCKTRITT IST FORTSCHRITT« ANALYSE »Das sagen wir natürlich so nicht« DDR-Presse: Als der SED-Staat fast schon am Ende war, zielte die „schärfste Waffe der Partei“ auf die Regierenden I hren Zeitungen haben DDR-Bürger nie geglaubt. Vier Jahrzehnte lang wurden über das SED-Organ „Neues Deutschland (ND)“ vorwiegend Witze gerissen – nach dem Muster: Was ist ein Sechstel der Erde? Sowjetmacht. Ein Drittel der Produktion? Schund. Ein Hundertstel der Wahrheit? „ND“. lach als Vizevorsitzender des Staatsrates angekündigt hatte. Gleichsam über Nacht wechselte der Ton. Aus der Chemnitzer „Freien Presse“ etwa verschwanden Wendungen wie „Die Rädelsführer brüllten …“ (9. Oktober). Stattdessen hieß es wenig später: „Tausende Bürger formierten sich“ (11. November). Aus Plauen wurde Unerhörtes gemeldet: das Eingeständnis eines Volkspolizeiführers, bei den Demonstrationen zum 40. Jahrestag der Republik seien zwei Drittel der „Zugeführten“ unschuldig verhaftet und dann auch noch „entwürdigend“ behandelt worden. Was seit 40 Jahren jeder wusste, wagte nun auch die Dresdner „Union“ zu drucken: Die öffentliche Meinung im Lande stehe „oft genug im Gegensatz zu der veröffentlichten Meinung“. Zwar fehlte es in diesen Wochen nicht an Durchhalteparolen. Die populäre „Neue Keine andere Berufsgruppe ist so umfassend kontrolliert worden wie die akribisch ausgewählten 8500 Journalisten des Landes. JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO DDR-Redakteure waren nicht ihren Lesern verpflichtet, sondern laut „Journalisten-Handbuch“ in erster Linie „Mitkämpfer in der Nationalen Front des demokratischen Deutschland unter Führung der Partei der Arbeiterklasse“. Für die Presse galt der Leninsche Kampfauftrag, „schärfste Waffe der Partei“ zu sein. Ob „Aktuelle Kamera“, „ND“ oder ein ganzer Schwarm von Parteibezirkszeitungen – mit ermüdender Regelmäßigkeit versorgten die Medien das Volk mit dem richtigen Standpunkt. Spartenblätter von „Pramo“ (Praktische Mode) bis „Sowjetfrau“ hüllten es in Biedersinn. Im Wendeherbst 1989 sackte die Glaubwürdigkeit der gleichgeschalteten Medien, die weder über Fluchtgründe noch über Demonstrationen berichten durften, auf einen Tiefpunkt ab. Das Kürzel „ND“ war nur noch Gegenstand verächtlicher Wortspiele: „Na Du? Noch da? Na denn.“ „ND“-Kommentare wie jener, die DDR müsse Ausreisern „keine Träne nachweinen“, verstärkten die Flucht- und Protestwelle noch. Im Volk herrsche der „Eindruck, dass die Zeitungen nur für die Partei- und Staatsführung gemacht würden“, berichtete das Ministerium des Inneren am 5. Oktober über die Stimmung im Lande. Knapp drei Wochen später, nach dem Amtsantritt und den „Dialog“-Versprechungen von Egon Krenz, wurde den Medien erstmals gestattet, über Demonstrationen zu berichten; verschweigen ließen sich die Proteste zu diesem Zeitpunkt ohnehin nicht mehr. Als auf einmal die Sprachregelungen von den alten Männern im Politbüro ausblieben, verfielen die leitenden Befehlsempfänger in den Redaktionen in Sprachlosigkeit. „Der alte Chefredakteur knackte ab, war handlungsunfähig“, erinnert sich Wolfgang Spickermann vom „ND“. So richtete sich in den folgenden Wochen die „Waffe der Partei“ mehr und mehr gegen die Regierenden selbst. Wahrheitsgemäße Berichte über den Protest fachten den Protest noch an – und verhalfen der Wende zu jener Dynamik, die schließlich den SED-Staat hinwegfegte. Zuerst merkten die Zeitungsleser in der Provinz, was das „Aufbrechen von Verkrustungen“ bedeutete, das Manfred Ger- DDR-Reporter in Wandlitz (Dezember 1989): Täglich kippten Tabus 108 d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Berliner Illustrierte“ druckte den Appell des Anwalts Gregor Gysi, „Anarchie und Chaos“ nicht nachzugeben. Gegen die Anfechtung durch trügerische Verlockungen aus dem Westen, so riet die „Wochenpost“, helfe „nur eins: Klassenstandpunkt“. Doch die meisten Medien ergriffen schließlich Partei für den Protest. Leipziger Demonstranten etwa können es kaum glauben – aber es ist das Ostfernsehen, das in der Menge Unmutsstimmen einholt: „Das sind ja unsere eigenen.“ Auf einmal müssen sich Parteigrößen vor Mikrofon und Kamera für ihren Volvo und sonstige West-Attribute rechtfertigen, und das TV-Magazin „Elf 99“ fragt SED-Generalsekretär Krenz nach dessen Trinkgewohnheiten und filmt in einem Wandlitzer Privilegierten-Laden. Täglich kippen Tabus. Sogar die Verteilung einer Ladung Bananen auf den Fluren des Fernsehzentrums Adlershof – Etablierte schleppen ganze Stauden ab – wird gesendet. Ende Oktober ist der „Schwarze Kanal“ ebenso vom Schirm verschwunden wie das SED-Abzeichen („Bonbon“) vom Revers der Nachrichtensprecher. Fast jeder Tag bringt Medien-News. Da gelobt Günter Pötschke, Generaldirektor des Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienstes (ADN), „nie wieder die Selbstherrlichkeit Einzelner“ durchschlagen zu lassen. Und das „ND“ verblüfft durch das Eingeständnis, seine Leser mit Erfundenem betrogen zu haben. Die meisten Altgenossen trifft das Medienbeben völlig unvermittelt. Denn wohl keine andere Berufsgruppe ist so umfassend kontrolliert worden wie die akribisch ausgewählten und geschulten 8500 Journalisten des Landes. Deren Chefredakteure mussten sich allwöchentlich zu „Argumentationssitzungen“ in der SED-Zentrale einfinden. Dort vergatterte sie Heinz Geggel, der von 1973 bis zum Schluss die ZK-Abteilung Agitation leitete. Der Oberpropagandist (Branchenschmäh: „Dr. Geggels“) diktierte die Linie der Berichterstattung manchmal bis in einzelne Formulierungen. Eine seiner Lieblingsfloskeln: „Das sagen wir natürlich so nicht.“ Für die großen Parteiblätter in der Hauptstadt und in den Bezirken blieben keinerlei Freiräume. 42 hauptamtliche und rund 350 Inoffizielle Mitarbeiter der Stasi hielten Wacht, dass niemand aus der Reihe tanzte. Sogar Setzfehler standen unter Subversionsverdacht. 1981 wurde eine Ausgabe der Hallenser CDU-Zeitung „Neuer Weg“ eingestampft: Sie hatte sich verdruckt, beim Sowjetparteitag seien „8 Rentner“ (statt Redner) aufgetreten. Der Form nach stimmte das HoneckerWort „Wir hatten keine Zensur“ – einer Zensur bedurfte es auf Grund der Willfährigkeit der Medien gar nicht erst. Journalisten im Osten seien „Täter und Opfer zugleich“ gewesen, urteilt der Berliner Medienexperte und Buchautor Gunter Holzweißig („Zensur ohne Zensor“). Die stromlinienförmige Presse habe „zur geistigen Kastration“ der Republik beigetragen, räumte nach der Wende PolitbüroMitglied Günter Schabowski ein. Er muss es wissen: Als „ND“-Chefredakteur hat er selbst lange genug mitgeschnippelt. Nicht weniger als über solche Selbstbezichtigungen oberster SED-Chargen staunte die plötzlich gewendete Branche über sich selbst. Seine Leute seien immer besser gewesen als ihr Programm, erklärte sich ein Ost-Berliner TV-Chef den jähen Wandel: „Denen ist immer durch den Kopf gegangen, was sie machen könnten, wenn … Und nun können sie.“ Christian Habbe Im nächsten Heft Mauerfall aus Versehen? – Opposition unter der Bettdecke – Krenz macht mobil – Volksfest um Mitternacht – „Lenin spricht“ d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 URTEILE Grätsche zum Jahreswechsel Für Jahr-2000-Fehler in der Software müssen die Hersteller haften – so entschied erstmals ein deutsches Gericht. C. EISLER / TRANSIT 110 d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 IFA D ie Kleinstadt Schkeuditz bei Leipzig in den Morgenstunden des 1. Januar 2000. Draußen herrscht Frost, doch im „Technischen Zentrum“ an der Frankfurter Straße, dem Rechenzentrum der Deutschen Bank, wird Wärme zum Problem. Die Klimaanlage ist ausgefallen, und die Großrechner, mit denen die Bank ihren ge- Neujahrs-Feuerwerk im Frankfurter Bankenviertel: Fehler im System samten Zahlungsverkehr in gab es noch keinen Präzedenzfall“, so Berlin und den neuen Ländern Holzmann-Sprecher Semar. besorgt, laufen heiß. VergeDen gibt es jetzt. Denn das Landgericht bens versuchen die Techniker, Leipzig nahm den Hersteller in die Pflicht, die komplizierte Anlage zu reobwohl dieser keine Garantie übernomparieren. Nach einigen Stunmen hatte. Die mangelnde Jahr-2000-Fähigden schalten sich die überkeit sei ein Fehler, befanden die Richter, für hitzten Großrechner automaden der Hersteller einstehen müsse. Zwar tisch ab. Ein Horrorszenario sei die Jahr-2000-Tauglichkeit bei Vertragsfür jeden Bankmanager. abschluss von ABB nicht ausdrücklich Das System ist nicht „Jahrzugesichert worden. Dass dies hier zur 2000-fest“, hatte der Herstel„Soll-Beschaffenheit“ der Anlage gehöre, ler der Klimaanlage, die ABBergebe sich aber „aus den Umständen“, Gebäudeautomation GmbH, nämlich der üblichen Nutzungsdauer der schon am 23. Oktober 1998 beSoftware, dem Vertragszweck und dem dauernd mitgeteilt. Wechsle Projektvolumen. das Datum von 1999 auf 2000, Wichtig war somit, dass es nicht um einwürden Teile der Elektronik Bank-Rechenzentrum*: „Anspruch auf Nachbesserung“ fache PC-Software ging, sondern um Hausnur die beiden letzten Stellen registrieren – teils wähnt sich die Anlage im sich auf die Jahr-2000-Haftung spezialisiert technik, die „mit enormen AnschaffungsJahr 1900, teils im Jahr 2000. hat. Allein in Deutschland werden nach kosten verbunden“ war. Da die Software Unter dem Jahrtausendproblem leiden Schätzungen von Experten etwa 150 Mil- folglich länger als bis Ende 1999 genutzt vor allem ältere Computersysteme. Mit er- liarden Mark ausgegeben, um Computer werden sollte, durfte Holzmann bereits bei heblichem Arbeitsaufwand müssen sie auf und elektronische Systeme gegen den Mil- Vertragsabschluss im Jahr 1993 „die Jahr2000-Festigkeit der erworbenen Software die neue Zeitrechnung umgestellt werden lennium-Crash zu wappnen. – 131 595 Mark verlangten beispielsweise Wenn die Elektronik versagt, drohen erwarten“. ABB wandte ein, dass sich der die ABB-Techniker für das Update der enorme Folgeschäden. „Wir haften gegen- Fehler erst zum Jahrtausendwechsel und 870 000 Mark teuren Anlage im Rechen- über der Deutschen Bank für die Funk- damit nach der vereinbarten Gewährleiszentrum der Deutschen Bank. tionsfähigkeit des Gebäudes“, sagt Ger- tungszeit auswirken werde. Das Gericht Bauherr des Bankkomplexes war die hard Semar, Sprecher der Holzmann-AG, ließ das nicht gelten: Der Fehler stecke Philipp Holzmann AG mit Sitz in Frank- „und dieses Risiko mussten wir abwälzen.“ schon jetzt im System. Es genüge, dass „der furt. Dort sah man jedoch nicht ein, Auch die Ausgaben für die Behebung sol- Mangel vor Fristablauf geltend gemacht warum die Gebäudetechniker für einen cher Jahr-2000-Fehler hätten sich womög- wird“. Deshalb habe ABB die nötige UmProgrammfehler auch noch Geld bekom- lich schnell summiert – das „Technische stellung kostenlos zu übernehmen. „Die tragenden Gedanken des Urteils men sollten, und klagte. „Dass die Haus- Zentrum“ in Schkeuditz ist nicht das technik an Neujahr die Grätsche macht, einzige Gebäude des Konzerns mit ABB- sind auch auf andere Fälle übertragbar“, meint Rechtsanwalt Bartsch: „Für Jahrhatten wir ja schriftlich“, sagt Holzmann- Technik. Anwalt Andreas Bruse aus Leipzig. Nach der Einreichung der Klage auf 2000-Festigkeit wird nicht erst gehaftet, Vor dem Landgericht Leipzig erwirkte kostenlose Reparatur der umfangreichen wenn es für die Vorsorge zu spät ist.“ Für ABB hatte der Rechtsstreit um die Bruse nun das erste rechtskräftige Urteil System- und Applikationssoftware erzum Jahr-2000-Problem. Die Leipziger Rich- mäßigte ABB sein Reparaturangebot Technik im Schkeuditzer Rechenzentrum ter gaben dem Kläger in vollem Umfang prompt auf knapp 40 000 Mark. Die Holz- doch noch ein Gutes: Man einigte sich Recht und sprachen ihm einen kostenlosen mann-Verantwortlichen beschlossen den- darauf, bei der Nachbesserung der fehler„Anspruch auf Nachbesserung“ zu. noch, den Fall durchzufechten. „Immerhin haften Software auch gleich den veralteten Leitrechner auszutauschen – gegen Be„Ein Urteil mit Signalwirkung“, sagt der zahlung. Karlsruher Anwalt Michael Bartsch, der * In Schkeuditz bei Leipzig. Dietmar Hipp RAF Mysteriöses Treffen AP Bei Mord-Ermittlungen verfolgen Italiens Terrorfahnder eine deutsche Spur. Sie belegt, dass Linksextremisten über die Alpen hinweg kooperieren. D FOTOS: VIENNAREPORT as 3000-Seelen-Dorf Giano, 40 Ki- Totenfeier für Terroropfer D’Antona: „Die RAF war stärker als wir“ lometer von Perugia entfernt, liegt einsam im Hügelland der italieni- Mai dieses Jahres in der römischen Via Sa- bislang wenig Spuren. Kölner Verfassungsschen Region Umbrien, ein verschlafenes laria getötet worden. Terrorspezialisten gab schützer meldeten sogar „Zweifel“ an, ob Nest. Doch Ende August, mitten im träg- der Mord Rätsel auf – war er doch der er- Meyer und Klump überhaupt „zum Kreis sten Ferienmonat, herrschte dort plötzlich ste seit elf Jahren. Bekannt dazu hatte sich der Illegalen“ gehörten. Am 6. Juli fiel italienischen Grenzschüthektisches Treiben. die „Kämpfende Kommunistische Partei“, Carabinieri und Polizisten in Zivil ob- eine Neugruppierung aus den Resten der zern bei einer Routinekontrolle im „Eurostar“-Zug von Wien nach Mailand ein servierten Touristen, bauten Straßensper- altterroristischen Roten Brigaden. ren und kontrollierten Pässe. Eine Frau Der Anschlag auf D’Antona weckte in unvollständiges Bekennerschreiben zum wies sich als Monica Arini aus. Italien sofort alte Ängste. In der „bleiernen Mordfall D’Antona in die Hände. Da keiner Drei Wochen später wurde bei einer Zeit“ vor 20 Jahren, als sich brutale Gewalt der sechs Reisenden im Abteil etwas mit wilden Schießerei in Wien ein Deutscher mit einer verquasten Linksideologie ex- dem Papier zu tun haben wollte, wurden getötet – Horst Ludwig Meyer, 43, gelern- plosiv mischte, gab es hunderte von Toten. alle gründlich kontrolliert. Eine der Anter Starkstromelektriker. Er trug einen geAls öffentlich über eine Kooperation von wesenden war Andrea S., 49, eine umtriestohlenen italienischen Pass auf den Na- Rotbrigadisten und übrig gebliebenen bige Schweizer Linksaktivistin. Ende August stieß die italienische Polimen Francesco Spinola bei sich und eine RAF-Terroristen spekuliert wurde, wiegelitalienische Pistole mit ausgefräster Se- te Regierungschef Massimo D’Alema noch zei ein zweites Mal auf die Frau – als Teilriennummer, Marke Beretta, Kaliber 7,65. ab. Er schloss die „ausländische Spur“ aus. nehmerin jenes mysteriösen Treffens euDie Frau, die bis zum Schluss bei ihm Doch die ist nun plötzlich ganz heiß – und ropäischer Radikaler in Giano, wo auch blieb und mit festgenommen wurde, war ruft Erinnerungen an die Hochzeit des Ter- eine Monica Arini kontrolliert worden war. Um ein mögliches Netz durchleuchten Meyers Lebensgefährtin Andrea Klump, rorismus wach. 42. Sie hatte einen falschen Fahrschein in Den ersten Kontakt hatte Anfang der zu können, filzten Sondereinheiten von der Tasche, dazu 100 Schilling – und einen siebziger Jahre der Mailänder Verleger Carabinieri und Polizei am 19. Oktober italienischen Ausweis. Name: Giangiacomo Feltrinelli ge- rund 50 Wohnungen und Büros in mehreMonica Arini. knüpft. Damals, so der ehe- ren italienischen Städten. Sie entdeckten Beide wurden seit 1985 malige Rotbrigadist Valerio nicht nur Dokumente, die sich mit dem steckbrieflich als mutmaßliMorucci, sei „die RAF stär- D’Antona-Anschlag befassen – sie stellten che Terroristen der Roten Arker als wir“ gewesen. Ihre auch fest, dass zu den regelmäßigen Besumee Fraktion (RAF) gesucht. „Abstraktheit“ allerdings chern eines autonomen Jugendzentrums Bei ihrer Festnahme sagte habe die „revolutionäre Ent- in Rom zwei Leute gehörten, mit deren Klump alias Arini nur einen wicklung“ gefährdet, RAF Papieren Meyer und Klump reisten: Franeinzigen Satz: „Ihr tut euren und Rote Brigaden habe cesco Spinola und Monica Arini. Die beiJob – und ich tue meinen.“ schließlich fast „feindlicher den echten Italiener hatten ihre Ausweise als gestohlen gemeldet. Seitdem schweigt die DeutKonkurrenzneid“ entzweit. Bislang haben die italienischen Fahnder sche beharrlich auf Fragen Erst nach dem so genannnach ihrer Vergangenheit. ten Deutschen Herbst 1977, diese Spuren weder der BundesanwaltDoch: Italienische Terrorder die RAF aufsplitterte, ka- schaft noch dem Bundeskriminalamt gefahnder sind auf ihre Spur ge- Klump alias „Arini“ men sich die Reste der bei- meldet, dessen Experten derzeit in Wien stoßen. Die Ermittlungen beden Terrorgruppen wieder beschlagnahmte Unterlagen mit den vorstätigen Hinweise, es gebe näher. Morucci stellte „selbst handenen Asservaten aller ungeklärten enge Verbindungen zwischen Personalausweise für die RAF-Morde vergleichen. Den Ermittlern versprengten Extremisten auf RAF“ her – „einer war für geht es vor allem um die „Sicherung mobeiden Seiten der Alpen. Christian Klar bestimmt“, der lekulargenetisch auswertbarer Spuren“. „Vielleicht“, spekuliert ein hoher SiDie Beamten vermuten, wegen terroristischer Morde dass im umbrischen Giano immer noch im Gefängnis cherheitsbeamter, „öffnet sich ja doch noch ein Treffen europäischer sitzt. Der RAF-Deckname für ein Reißverschluss.“ Vergangenen DonLinksradikaler stattfand, an die Rotbrigadisten: „Stiefel“. nerstag war im Wiener Landesgericht der dem auch ihre eigentlichen Wo sich Meyer und Andrea Haftprüfungstermin für Klump angesetzt. Zielpersonen teilnahmen – Klump die ganzen Jahre auf- Sie habe signalisiert, so ein Ministerialer, die Mörder des früheren hielten, ist weitgehend unbe- dass sie „grundsätzlich mit einer AusliefeStaatssekretärs Massimo kannt. Klar ist, dass beide seit rung nach Deutschland einverstanden ist“. D’Antona. Der einflussreiche 1996 im österreichischen UnGeorg Bönisch, Georg Mascolo, Hans-Jürgen Schlamp Regierungsberater war am 20. Meyer alias „Spinola“ tergrund lebten. Sonst gab es d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 111 Werbeseite Werbeseite Wirtschaft Trends STROMINDUSTRIE Aus für Obrigheim? it einem verlockenden Angebot versucht der Chef des Stromproduzenten Energie Baden-Württemberg (EnBW), Gerhard Goll, der Politik den heftig umstrittenen Einstieg des französischen Strom- und Atomgiganten EdF in sein Unternehmen schmackhaft zu machen. Als Gegenleistung für eine politische Unterstützung des deutschfranzösischen Milliarden-Deals, deutete Goll bei einem Kanzler-Gespräch an, könne er sich vorstellen, das Kernkraftwerk Obrigheim vorzeitig vom Netz zu nehmen. Die Umsetzung der überraschenden Offerte würde Gerhard Schröder aus einer prekären Situation retten. Denn in dem seit Monaten festgefahrenen Energie-Konsenspoker mit der Stromwirtschaft braucht die Koalition dringend ein Erfolgserlebnis. Das rasche Abschalten des ältesten deutschen Atommeilers käme da sehr gelegen. Goll könnte eine Still- legung von Obrigheim vor seinen Aktionären gut vertreten. Denn: Bei dem geplanten Einstieg würden die Franzosen reichlich Atomstrom aus ihren nicht ausgelasteten Meilern als Hochzeitsgeschenk für den Schwaben-Konzern mitbringen. Golls Bauernopfer brächte damit sogar zusätzlichen Profit: Statt mit teurer heimischer Kernkraft könnte ein deutsch-französischer Stromkonzern EnBW seine Kunden mit billigerem Franzosen-Strom beliefern. Auch Baden-Württembergs Ministerpräsident Erwin Teufel hat als Verkäufer des 25-prozentigen EnBW-Anteils bereits prinzipielle Zustimmung zu dem Geschäft signalisiert, zumal das Angebot der Franzosen rund eine Milliarde Mark über den Offerten der deutschen Konkurrenz liegt. Allerdings will der neue EU-Wettbewerbskommissar Mario Monti zunächst prüfen, ob die Franzosen, die ihren eigenen Markt rigoros vor jedem Wettbewerb abschotten, zusammen mit der EnBW eine unzulässige Marktmacht ausüben. A. KULL / VISION PHOTOS M Triebwerksproduktion (in Dahlewitz) BMW Milliarden-Desaster im Luftfahrtgeschäft Goll, Kernkraftwerk Obrigheim FOTOS: P. FRISCHMUTH / ARGUS ( gr.); DPA ( kl.) B DEUTSCHE BAHN Neue Millionenlast N ach erheblichen Mehrbelastungen durch Mineralöl-, Mehrwert- und Ökosteuern will Finanzminister Hans Eichel nun abermals in die Kassen der Deutschen Bahn greifen: 250 Millionen Mark soll die Bahn jährlich für den Einsatz des Bundesgrenzschutzes auf den Bahnhöfen zahlen – und sich mit weiteren 100 Millionen an der geplanten Entschädigung für ehemalige Zwangsarbeiter bei der Reichsbahn beteiligen. Die zusätzlichen Belastungen von 350 Millionen Mark würden den gesamten Jahresgewinn aufzehren und seien deshalb „nicht mehr verkraftbar“, heißt es im Aufsichtsrat der Bahn. Die Entschädigung der Zwangsarbeiter könne ihr nicht angelastet werden, weil sie keine Rechtsnachfolgerin der Reichsbahn sei. d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 eim Münchner Automobilkonzern BMW endet der vom ehemaligen Vorstandschef Eberhard von Kuenheim 1990 beschlossene Einstieg ins Triebwerksgeschäft mit einem MilliardenDesaster. Die 50,5-Prozent-Beteiligung von BMW an der Gemeinschaftsfirma mit dem Triebwerksbauer Rolls-Royce wird den Münchnern von 1994 bis Ende dieses Jahres einen Verlust von insgesamt 3,2 Milliarden Mark vor Steuern einbringen. Weil ein Ende der Verluste nicht in Sicht war und die Belastungen durch die Sanierung der britischen Rover-Tochter ebenfalls gewaltig sind, steigt BMW jetzt aus dem Triebwerksgeschäft aus. Der Konzern übergibt seinen Anteil an der Verlustfirma dem Triebwerksbauer Rolls-Royce und erhält dafür 33,3 Millionen Aktien von Rolls-Royce, die einem Wert von gerade mal 220 Millionen Mark entsprechen. Diese Finanzbeteiligung kann BMW jederzeit an der Börse verkaufen, wenn der Autokonzern zusätzliche Mittel benötigt. Mehrere Aufsichtsräte drängten schon länger auf einen Ausstieg aus dem Triebwerksgeschäft. Kuenheim und sein Nachfolger als Aufsichtsratsvorsitzender, Volker Doppelfeld, wehrten sich jedoch lange dagegen. Durchgesetzt wurde der Ausstieg jetzt vor allem vom Großaktionär des Unternehmens, der Familie Quandt. 113 Trends WERBUNG „Gigantische Kapitalvernichtung“ 114 Börsenhändler in New York WA L L S T R E E T Die neuen Spekulanten H och riskante Spekulationsfonds sind in den USA wieder im Aufwind. Erst vor einem knappen Jahr reagierte das Weltfinanzsystem höchst labil, als der milliardenschwere HedgeFund LongTerm Capital Management (LTCM) zusammenbrach. Doch die Anleger hat das nicht gebremst: Inzwischen sind wieder über 355 Milliarden Dollar in Hedge Funds investiert, so die US-Consulting-Gruppe Cerulli Associates. Zwar meldeten Branchengrößen wie George Soros zuletzt schlechtere Ergebnisse. Viele neue Fonds sorgten aber für Aufschwung: Um im Schnitt rund 15 Prozent legten solche Fonds der Studie zufolge bis Ende August zu – fast doppelt so viel wie der US-Aktienindex Standard & Poor’s 500. Ein Grund dafür: Die aggressiven Fondsmanager können auch auf fallende Kurse spekulieren. Während die US-Aktien seit Monaten stark schwanken, versprechen sich nun zunehmend auch große institutionelle Investoren bei den riskanten Hedge Funds höhere Gewinne – ihr Anteil an den Geldgebern ist inzwischen auf 25 Prozent gestiegen. DORNIER Satellit für Taiwan? W egen politischer Rücksichten der Bundesregierung gegenüber der Volksrepublik China fürchtet Dornier um einen Großauftrag, den der Raumfahrtkonzern schon vor Monaten aus Taiwan erhalten hatte. Der Bundessicherheitsrat hat keine Exportgenehmigung für einen Erdbeobachtungssatelliten (Wert: 142 Millionen Mark) erteilt, um Peking nach der Botschaftsbombardierung in Belgrad während des Kosovo-Krieges nicht erneut Dornier-Satellitenfabrik (in Ottobrunn) zu verärgern. China betrachtet das de facto souveräne Taiwan noch immer als Teil seines Herrschaftsgebiets. Eine Genehmigung nach dem in diesen Tagen geplanten Besuch von Bundeskanzler Schröder in Peking käme aber womöglich zu spät – denn Taiwan dringt auf zügige Lieferung. Vertreter des französischen Dornier-Konkurrenten Matra versprachen in Taiwan, sie könnten sofort liefern. Beim sinofranzösischen Gipfel Ende Oktober hatte Chinas Staats- und Parteichef Jiang Zemin dem Deal zugestimmt. d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 AP SPRINGER & JACOBY SPIEGEL: Hoechst heißt bald Aventis, aus British Steel wurde Corus, eine neue RWE-Tochter nennt sich Avanza. Was bringen die neuen Namen? Jacoby: Corus klingt komisch, British Steel dagegen stolz und groß. Nur wenn Firmen nichts mehr mit ihrer Vergangenheit zu tun haben wollen, macht so eine Namensänderung Sinn. Sonst ist das eine gigantische Vernichtung von Vertrauenskapital. SPIEGEL: Wie kommen die Firmen auf so klangvolle PhanJacoby tasienamen? Jacoby: Man nimmt einen Computer und lässt 58 Millionen Mal die Konsonanten und Vokale durcheinander wirbeln. Das Ergebnis wird dann noch bis zum Umfallen getestet. Am Ende heißt das dann „Opel Tigra“. Oder eben Aventis und Avanza. Nach vorn wollen sie offensichtlich alle – diese Avantgardisten. SPIEGEL: Lohnt sich der Aufwand? Jacoby: Fraglich. Bei Markennamen sind uralte Kräfte im Spiel: Sie können im Leben vieles kaufen – nur keine großen Bäume. Die müssen wachsen. So ist es auch mit Namen. Ein Beispiel: Miele war 1990 im Osten die angesehenste Hausgerätemarke, obwohl Miele dort 40 Jahre lang nicht zu kaufen war. SPIEGEL: Welches Unternehmen würden Sie am liebsten umbenennen? Jacoby: Die Deutsche Bahn. Wenn ich das höre, wird mir spontan übel: Die sind versifft wie Viehwaggons in Usbekistan. Darum nennen sie ihren schicken Zug jetzt „Metropolitan“ und kleben kein DB-Logo dran. SPIEGEL: Was halten Sie davon, eine Firma nach der hellgrauen Wandfarbe ihrer Büros, „Elephant Seven“, zu taufen? Jacoby: Sie meinen unsere Multimediatochter? Das war meine Spontanidee: Damals gab’s schon so viele neue Firmen mit Bits, Pixels, Bizzy-Fuzzy – das vergisst doch jeder sofort. Ich hab dann auf die Wand geguckt und die Farbe „Elephant Seven“ entdeckt. AP Konstantin Jacoby, 46, Gründer der Hamburger Werbeagentur Springer & Jacoby, über die Flut neuer Firmennamen Geld 160 100 AMAZON AOL 80 80 CD NOW 22 LAND'S END ETOYS 120 80 70 60 18 60 80 60 14 50 40 40 40 Jan. 40 10 20 20 1999 1999 Okt. 1999 0 Jan. Okt. I N T E R N E T- A K T I E N Fröhliche E-Christmas A ktionäre von Internet-Anbietern freuen sich schon jetzt auf fröhliche Festtage. In dieser Weihnachtssaison, so schätzen Experten, werden sich die Online-Verkäufe weltweit auf zwölf Milliarden Dollar verdreifachen. Allein in den USA wollen Umfragen zufolge 30 Millionen Menschen ihre Geschenke per Internet ordern. Von dem Online-Boom werden vor allem die bekannten US-Konzerne profitieren. Bücher, CDs und Spielzeug kaufen die Internet-Shopper nach einer Analyse von Forrester Research am liebsten bei Amazon, dem 1999 6 Jan. Okt. Jan. Okt. Effektivzins für Baudarlehen mit zehnjähriger Laufzeit in Prozent 6,4 11 7 5,6 5 1970 80 90 99 5,2 1999 Jan. März Mai Juli Sept. 4,8 HYPOTHEKEN Bauen wird teurer Handy-Aktien in Euro MOTOROLA NOKIA 100 36 32 28 24 20 O 100 90 90 80 80 70 70 60 60 50 1999 J 6,0 9 BONN-SEQUENZ ur selten gab es unter professionellen Analysten so viel Einigkeit: Aktien der drei großen HandyHersteller Nokia, Ericsson und Motorola, so ihr Fazit, seien eine prächtige Geldanlage, denn der weltweit boomende Handy-Markt biete weiterhin gute Wachstumschancen. Besonders beliebt bei den Experten ist der finnische Konzern Nokia. Von der Deutschen Bank über Goldman Sachs bis hin zur Sparkasse Norden raten die Bankexperten zum „Kaufen“ oder „Übergewichten“ und vergeben sogar das Höchstprädikat „Strong buy“. Dabei haben die Aktien der Handy-Spezialisten schon einen steilen Anstieg hinter sich, der selbst durch Meldungen über schrumpfende Gewinne bei Ericsson oder die Pleite des Satelliten-Telefondienstes Iridium, bei dem Motorola das Sagen hat, kaum gebremst wurde. Besonders kontinuierlich stieg das Nokia-Papier: Seit Ende 1997 hat sich sein Kurs verfünffacht. O Okt. Zinstal durchschritten N J Juni weltweit größten Internet-Kaufhaus. Auch die Online-Buchhandlung Barnesandnoble.com, an der Bertelsmann zu 50 Prozent beteiligt ist, hofft auf Zuwächse. Beliebte Adressen sind auch der Spielzeugversender Etoys und der Musikshop CDNow. Der Versandhändler Land’s End betreibt bereits die weltgrößte Internet-Abteilung für Bekleidung. Zu den Gewinnern des Weihnachtsgeschäfts rechnen Analysten auch das Auktionshaus eBay und den Internet-Dienst America Online. Die Kurse etlicher Anbieter sind seit dem Sommer bereits kräftig gestiegen, von ihren Höchstständen zumeist aber noch weit entfernt. Keineswegs werden alle Internet-Aktien anziehen, warnen Analysten, vor allem kleinere Anbieter seien oft schlecht auf den Ansturm vorbereitet. Schon im Vorjahr kamen einige tausend Präsente zu spät oder gar nicht beim Empfänger an. „Strong buy“ 1999 30 1999 H A N DY- A K T I E N ERICSSON Quelle: Datastream Internet-Aktien in Euro 50 1999 J O Quelle: Datastream d e r S teigende Zinsen haben in diesem Jahr die Kosten für den Hausbau kräftig in die Höhe getrieben. Gegenüber dem Februar, als die Hypothekenzinsen auf den tiefsten Stand seit 50 Jahren gefallen waren, sind die Kapitalkosten um zwölf Prozent gestiegen – nach einer Faustregel verteuert eine Zinserhöhung von einem Prozent den Bau um insgesamt acht Prozent. Mit einem Effektivzins von derzeit knapp 6,4 Prozent für Kredite mit zehnjähriger Laufzeit sind Hypothekendarlehen allerdings immer noch günstig; im Schnitt der letzten 30 Jahre lag der Effektivzins bei knapp neun Prozent. Nahezu alle Experten rechnen jedoch damit, dass Baugeld im nächsten Jahr nochmals teurer wird. s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 115 Heribert Zitzelsberger Der Steuerexperte W. SCHUERING Wirtschaft Klaus Gretschmann Der Währungsfachmann Beamteter Staatssekretär im Finanzministerium Leiter der Abteilung Wirtschaftsund Finanzpolitik im Kanzleramt WIRTSCHAFTSPOLITIK „Der ruft einfach nicht an“ Nach einem Jahr an der Macht hat der Kanzler bei den Unternehmern viel an Kredit verspielt. Dabei verfügt die Regierung über angesehene Wirtschaftsberater, doch deren Sachverstand wird kaum genutzt. Das System Schröder läuft auf hohen Touren – im Leerlauf. N ach dem rot-grünen Wahlsieg waren die Wirtschaftsgrößen des Landes zunächst neugierig, dann schweigsam, jetzt sind sie nur noch empört. Die Präsidenten von Industrieverband, Handwerkskammer und Arbeitgebervereinigung attackieren den neuen Kanzler fast täglich. Seine Steuerpolitik sei „absurd“ (BDI-Chef Hans-Olaf Henkel), zahlreiche Gesetze gingen „zu Lasten der Wirtschaft“ (Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt), die Regierung fahre auf „Zickzackkurs“ (Handwerkspräsident Dieter Philipp). Als am vergangenen Mittwoch SPD-Fraktionschef Peter Struck auch noch die Aufweichung des Bankgeheimnisses forderte, schüttelten viele nur noch den Kopf. „Bild“ titulierte den Genossen als „Schnüffel-Struck“. Auch die eher zurückhaltenden Chefs der Großkonzerne murren oder verweigern sich. Erst kürzlich hatte Schröder ein Dutzend von ihnen geladen – nicht alle kamen. „Da gehe ich nicht mehr hin“, sagte einer der Vorstandschefs. Ihm sei längst unverständlich, welchen wirtschaftspolitischen Kurs die Regierung eigentlich verfolge. „Was soll ich also da rumsitzen?“ Manche Wirtschaftsführer geben sich überhaupt keine Mühe mehr, ihre Verach116 tung für die Akteure in Berlin zu verbergen – selbst wenn die dabei sind. Warum sie sich eigentlich auf einen Ausstieg aus der Kernenergie im Konsens mit der Regierung einlassen sollten, fragten Ende Oktober die Vorstandsvorsitzenden der vier größten Energiekonzerne Wirtschaftsminister Werner Müller. „Was gibt uns die Gewähr, dass ihr euch an euren Teil der Abmachung haltet?“, wollten sie wissen. Müller habe, so berichtet ein Teilnehmer, wenig zu erwidern gewusst. Nach nur einem Jahr an der Regierung haben Schröder und seine Truppe bei der Wirtschaft viel an Kredit verspielt. Der Kanzler der Wirtschaft, als der sich Schröder gern selbst sieht, ist in den Augen der Unternehmer entzaubert. „Das Verhältnis zwischen dem Regierungschef und der Wirtschaft ist mittlerweile genauso zerrüttet wie am Ende der Ära Kohl“, stellt ein Beamter im Kanzleramt resigniert fest. Verärgert sind die Unternehmensführer vor allem, weil die Vorhaben der rotgrünen Regierungsriege, gleichgültig ob bei der Umwelt-, Sozial- oder Steuerpolitik, für sie mittlerweile völlig unkalkulierbar sind. Sie vermissen das, was für Investitionen unabdingbar ist: verlässlid e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 che Rahmendaten und damit Planungssicherheit. Die Herren der Wirtschaft verstehen ihren Kanzler nicht mehr. Der Mann, der ihnen als Ministerpräsident so nahe stand, der für sie die Weser ausbaggerte und Pipelines durchs Wattenmeer zog, versagt in ihren Augen auf der Bundesbühne. Wie erklären sich all die handwerklichen Mängel, die beinahe jedem Gesetz eine Korrekturfassung folgen lassen? Wo sind vor allem seine Berater, fragen sich viele. Dass der Kanzler über kenntnisreiche Fachleute in seiner Mannschaft verfügt, ist selbst unter Managern unbestritten. Hat nicht erst kürzlich Bundesfinanzminister Hans Eichel mit Heribert Zitzelsberger einen der angesehensten Steuerexperten der deutschen Industrie vom Chemieriesen Bayer abgeworben und zu seinem Staatssekretär gemacht? Dient nicht Alfred Tacke, in Niedersachsen industriepolitischer Tausendsassa, heute als Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium? Dort wirkt auch Siegmar Mosdorf als Parlamentarischer Staatssekretär, jener Mann, der zur Globalisierung schon alles gedacht und geschrieben hat, der mit großem Erfolg die Enquetekommission CH. KELLER F. OSSENBRINK J. H. DARCHINGER Siegmar Mosdorf Alfred Tacke Der Stratege Der Krisenmanager Parlamentarischer Staatssekretär im Wirtschaftsministerium Beamteter Staatssekretär im Wirtschaftsministerium MELDEPRESS des Bundestags zur Zukunft der neuen Me- Rubin startete seine politische Karriere im letzt nebenbei an der Universität Regensdien leitete. Und selbst im Kanzleramt sitzt Beraterkränzchen des Weißen Hauses. Er burg lehrte, wider bessere Erkenntnis ein hoch kompliziertes Unternehmensteuerdoch mit Klaus Gretschmann ein öko- kam von der Wall Street. Der Politikbetrieb in Deutschland tut recht basteln. nomisches Allround-Talent, vielsprachig, sich schwer, Seiteneinsteiger aufzunehmen. Schröder bräuchte nur die von Lafonunideologisch und pragmatisch. Schröder scheint es gleichgültig, welchen Das Problem: Die meisten Ministerialbe- taine verordnete Spreizung der Tarife zu Fundus an Fähigkeiten und Erfahrungen amten empfinden die Externen als Stören- widerrufen. Dann wäre ein Steuersystem er für sich und seine Politik nutzbar ma- friede, die Karriereposten verstopfen. Die aus einem Guss möglich, mit niedrigen chen könnte. Die Berater haben kaum was Politiker lassen sich gelegentlich beraten, Sätzen für Unternehmen und Privatleute. Dann könnte Zitzelsberger, wie er es sich zu tun, am allerwenigsten arbeiten sie für entscheiden wollen sie ganz allein. im kleinen Kreis des Öfteren Schröder. Das letzte längere Vierwünscht, steuerpolitisch das „ganz augengespräch, so Staatssekretär große Rad drehen“: ein einfaches Tacke gegenüber Vertrauten, fand System, niedrige Sätze und eine kurz nach der Wahl statt. „ganz erhebliche Entlastung“. Andere Regierungschefs verDas Drehen großer Räder war trauten ihren Männern in der in Niedersachsen das Markenzeizweiten Reihe mehr an und trauchen Alfred Tackes. Als Staatsten denen auch mehr zu – nicht sekretär im Wirtschaftsministezuletzt Schröders Amtsvorgänger rium fungierte er als Schröders Helmut Kohl. Allzweckwaffe. Wo immer es Der hielt sich mit seinem Wirtklemmte, beherzt griff Tacke ins schaftsabteilungsleiter und späteRäderwerk der Wirtschaft ein. ren Staatssekretär im WirtschaftsDas gehorchte nicht immer den ministerium Johannes Ludewig eiRegeln der reinen Lehre, war für nen regelrechten Hof-Ökonomen. ihn und seinen Mentor aber höchst Der kleine Mann mit Schnauzer Kabinettssitzung: Verachtung für die Akteure in Berlin erfolgreich. Sein größter Coup war bestimmte zeitweilig den ökonoDie Experten können zuweilen nicht die vorübergehende Verstaatlichung der mischen Kurs der Kohl-Regierung, den Aufmehr tun, als Schlimmeres zu verhindern. Preussag Stahl AG. Eine Aktion, die Schröbau Ost managte er fast im Alleingang. Auch die Clinton-Administration hätte So ergeht es derzeit Staatssekretär Zitzels- der den Wahlsieg bei den Landtagswahlen ohne brillante Zuarbeiter in der zweiten berger mit der geplanten Unternehmen- und damit die Kanzlerkandidatur sicherte. In Berlin ist Zupacker Tacke abgetaucht. Reihe ihr Wirtschafts- und Job-Wunder steuerreform. Die krankt noch immer an nicht zu Stande gebracht. Clintons jetziger den ideologischen Vorgaben des früheren Er äußert sich nicht mehr in der ÖffentFinanzminister Larry Summers begann als Finanzministers Oskar Lafontaine. Nur die lichkeit, anders als sein Vorgänger Ludewig. wirtschaftspolitischer Berater. Er gilt als Steuersätze für Unternehmen sollten sin- Das Gleiche gilt für den mehrfachen Buchebenso arrogant wie genial, unbestritten ken, nicht die für normale Steuerpflichtige. autor Mosdorf. In seinem jüngsten Werk, So muss Zitzelsberger, der vor seiner das er zusammen mit dem grünen Vordenaber, dass er ein exzellenter Wirtschaftswissenschaftler ist. Er war der jüngste Har- Zeit in der Industrie schon Referatsleiter ker Hubert Kleinert verfasst hat, beschreibt vard-Professor in der Geschichte der Elite- im Finanzministerium war, in seiner Frei- er präzise, an was es in Deutschland manUniversität. Auch Summers Vorgänger Bob zeit promovierte und habilitierte und zu- gelt: an unternehmerischem Wagemut, d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 117 Wirtschaft weshalb er Freiheit für Innovationen und größere Akzeptanz gegenüber den neuen Technologien fordert. Während Kanzler Schröder Worthülsen wie die „digitale Revolution“ in seine Reden einflicht, um sich zeitgemäß zu geben, Wie Ex-Lafontaine-Berater Wolfgang Filc das alltägliche war Mosdorf einer der ersten Politiker in Deutschland, der die wirtschaftliche Macht Chaos im rot-grünen Regierungsalltag erlebt hat und die Möglichkeiten des Internet erkannte. Im Alleingang konzipierte er zuür den Wirtschaftsprofessor aus Auch mit dessen Staatssekretär Heidem noch zu Oppositionszeiten ein ÖkoTrier war es ein Ausflug in die ner Flassbeck seien keine tief schürsteuer-System, aus dem sich Vertreter aller ganz große Welt. Fünf Monate fenden Gespräche zu Stande gekomParteien anschließend bedienten. lang, von Dezember 1998 bis Mai 1999, men, erinnert sich Filc: „Sie sind an Heute nutzt Schröder Mosdorfs Expersaß der Akademiker Wolfgang Filc als den Fingern einer Hand abzuzählen“. tise nur wenig. Seit Monaten schon sucht Ministerialdirektor im Bundesfinanz- Makroökonom Flassbeck habe sich der Kanzler keinen Rat und keine Auskunft ministerium. Als hochrangiges Mitglied ganz auf die große Linie konzentriert mehr. „Der ruft einfach nicht an“, beklageiner Beratergruppe rund um den da- und nicht wissen wollen, warum Wechte sich der Staatssekretär bei Vertrauten. maligen Finanzminister Oskar Lafon- selkurse schwanken können. Schröder beschädigte ihn auch noch: Erst taine sollte der Ökonom das WeltImmerhin reichte es einmal, am Ranbrachte er Mosdorf als neuen Verkehrsmifinanzsystem neu ordnen. de einer internationalen Finanzkonfenister ins Gespräch, dann entVon dem Rollenwechsel war der Seischied er sich doch lieber für teneinsteiger offenbar so fasziniert, den Traditionalisten und saardass er die Erinnerungen an seine Kurzländischen Wahlverlierer Reinkarriere als Buch verarbeitete**. Er hard Klimmt – aus taktischen schildert Banales („In Bonn stand ich Gründen. um 7.00 Uhr auf, aß eine Scheibe Das Problem der Berater ist Brot“), Persönliches („In meinem Benicht allein, dass Schröder ihnen rufsleben war ich gewohnt, in jeder nicht zuhört. Auch untereinanGruppe zumindest zu den ersten Drei der sind sie nur unzureichend zu gehören“) und Geheimnisvolles vernetzt. Niemand kanalisiert („Im Finanzministerium war zumindest Ideen, keiner verteilt Aufträge, ein U-Boot tätig, das gegen den Finicht einmal die drängendsten nanzminister arbeitete“). Vorhaben werden koordiniert. Vor allem aber enthüllt der wackere Stattdessen geben sich die Streiter für politisch korrekte WechselÖkonomen dem Stress des Takurse Alltagsszenen aus der Chefetage Minister Lafontaine*: „Da passte wenig zusammen“ gesgeschäfts hin. Mosdorf verdes Ministeriums – und da geht es oftritt seinen Minister bei Verbandstagen und fenbar zu wie in einem schlecht orga- renz, zu einem abendlichen Bier mit im Bundestag, Gretschmann fliegt als Shernisierten Kaninchenzüchterverein. Lafontaine und Flassbeck, was den isopa des Kanzlers um den Erdball. Für kon„Da passte wenig zusammen“, resü- lierten Wissenschaftler versöhnte: Er zeptionelles Arbeiten findet er kaum Zeit, miert der Ex-Abteilungsleiter für In- fühlte sich „im Banne der Persönlichvielleicht mal auf dem Rücksitz seines ternationale Finanz- und Währungsbe- keit von Oskar Lafontaine“. Dienstwagens oder im Flugzeug. ziehungen: „Keiner wusste von dem Mit dem Bundeskanzleramt hatte Zitzelsberger ist, wie vergangene Woanderen, es gab keine gegenseitige In- Filc wenige, aber drastische Erlebnisse. che auf dem Steuerberatertag in Dresden, formation zwischen den Abteilungen, So sei eines seiner Papiere zur Wähimmer wieder damit beschäftigt, die HinAbstimmungen auf höherer Ebene fan- rungspolitik dort stark verändert terlassenschaft von Lafontaine und dessen den kaum statt.“ So habe es in seiner worden, als Übeltäter machte er den Gefolge zu beseitigen. In Dresden kündigDienstzeit gerade mal eine Bespre- volkswirtschaftlichen Leiter Klaus te er an, das Steuerbereinigungsgesetz für chung zwischen den Abteilungsleitern Gretschmann aus. Ein Mitarbeiter des das nächste Jahr werde Maßnahmen, die gegeben, und die fand ohne Staats- Spitzenbeamten habe ihm barsch erLafontaine ins Steuergesetz schreiben ließ, sekretär und Minister statt. klärt, es gebe keinen Konsens zwischen wieder rückgängig machen. Der Neu-Ministeriale freute sich an- Kanzleramt und Finanzminister in Der Unmut in der Wirtschaft wächst fangs über eine grenzenlose Freiheit: Währungsfragen. „Der in der Hierarderweil weiter. Selbst Schröders Freunde „Ich konnte bei konzeptionellen Fra- chie nachrangig eingeordnete Beamte“ aus der Autoindustrie, die den bekennengen machen, was ich wollte. Der Mi- habe ihm übers Telefon zugeschrien, den Automann noch am längsten geschont nister fragte nicht ein einziges Mal da- „dass jede Kooperation in Wähhaben, gehen auf Distanz. „Wir können nach.“ Es habe mit Lafontaine keine rungsfragen zwischen Ländern immer auf den weltweiten Märkten nur erfolginhaltlichen Gespräche gegeben – nur zu Lasten Deutschlands gehe“ und reich sein, wenn die Rahmenbedingungen „hierfür blieb dem Minister wohl kei- dass dem Kanzler „die ganze Richtung stimmen“, ermahnte BMW-Chef Joachim ne Zeit“. Ausgerechnet auf einem nicht passt“. Milberg bei der Eröffnung der Berliner Schlüsselgebiet seiner Politik hat sich Nach Lafontaines Flucht war es auch Konzernrepräsentanz den anwesenden Lafontaine demnach für Konkretes we- um Helfer Filc geschehen. Zum ersten Kanzler. nig interessiert. Mal durfte der Professor jetzt das Büro Auch ein anderer ehemaliger Schröderdes Ministers betreten: Der neue Amts* Mit Wim Duisenberg (l.) am 15. Januar. Fan ist mehr als enttäuscht. „Meine Erchef Hans Eichel teilte ihm im Sie** Wolfgang Filc: „Mitgegangen, mitgehangen – Mit wartungen sind Erwartungen geblieben“, Lafontaine im Finanzministerium“. Eichborn Verlag, ben-Minuten-Gespräch die Entlassung sagt Unternehmensberater Roland Berger, Hans-Jürgen Jakobs Berlin/Frankfurt am Main; 208 Seiten; 24,80 Mark. mit. „Schröder hat manches anders, aber nichts besser gemacht.“ Christian Reiermann Das Geisterschiff ARGUM F 118 d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Wirtschaft Autohersteller und Zulieferer registrieren einen Boom im Handel mit gefälschten Ersatzteilen. Die Plagiate sind billig – und oft lebensgefährlich. S ein Gesicht ist nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. „Keine Fotos“, insistiert Steffen Dörner. Der 56Jährige sorgt sich um seine körperliche Unversehrtheit, sollte sein Bild in der Presse erscheinen. „Ich bin oft in Osteuropa unterwegs“, sagt er, „da kann schnell mal was passieren.“ Dörner ist für die Kölner Ford-Werke AG auf der Jagd nach Produkt- und Markenpiraten. Denn die produzieren nicht nur gefälschte Boss-Anzüge und RolexUhren, sondern immer häufiger auch Autoersatzteile – Fußmatten und Felgen, Bremsanlagen und Blinker, Kotflügel und Kraftstoff-Filter. Jedes zehnte Ersatzteil in der Europäischen Union ist inzwischen eine Fälschung, schätzt der Verband der Automobilindustrie. Produktpiraten bereiten den großen deutschen Fahrzeugherstellern jährliche Umsatzverluste zwischen jeweils 40 und 100 Millionen Mark, so der Verband. „Sprunghaft“ habe das Phänomen in den vergangenen Jahren zugenommen, sagt auch Gerhard Voth, Chef der Patentabteilung beim Zulieferer Mann und Hummel. Ford richtete als erster Automobilhersteller eine eigene Ermittlergruppe gegen Teilefälscher ein. Es geht den Konzernen nicht allein ums entgangene Geschäft: Gefälschte Teile bergen vor allem enorme Risiken für die Autofahrer und damit fürs Image der Hersteller. „Autos mit eingebauten Plagiaten sind tickende Zeitbomben auf unseren Straßen“, sagt Opel-Manager Gerd Roth. Es gibt nach seinen Angaben Motorhauben ohne Sollbruchstellen, „die schieben sich bei einem Auffahrunfall in den Innenraum“. Auch Windschutzscheiben aus Fensterglas seien auf dem deutschen Markt. „Da fliegen bei einem Unfall die Splitter wie Dolche nach innen.“ Selbst nachgemachte Fußmatten seien gefährlich, sagt Ford-Mann Dörner: „Sind sie nicht aus dem richtigen Material, können sie unter das Bremspedal rutschen.“ Bei Fälschern beliebt sind vor allem alle Komponenten der Bremsanlage. In der Asservatenkammer der Zentralstelle Gewerblicher Rechtsschutz in München, die republikweit die Beschlagnahme von Piratenprodukten an den Grenzen koordi120 A. PENTOS Da fliegen die Splitter Fast immer sitzen die Produktpiraten im Ausland, hauptsächlich in Osteuropa und Asien. Dort sind die Fälschungen wesentlich weiter verbreitet als hier zu Lande. Ein Zulieferer schätzt, dass ihn Plagiate in einigen Ländern um die Hälfte des Umsatzes bringen. In Deutschland würden die Piratenteile überwiegend über „Ameisenkanäle“ vertrieben, sagt Manfred Lotze vom Düsseldorfer Detektiv-Institut Kocks: „Plagiate werden meist als Überproduktion ausgegeben und über persönliche Kontakte, telefonisch oder per Zeitungsinserat angeboten.“ Verkauft werden sie dann in Hinterhofwerkstätten und auf Flohmärkten. Immer wenn außerhalb von Vertragswerkstätten vermeintliche Originalteile Plagiatsfahnder Brormann: Enorme Risiken mit den Markenzeichen der niert, finden sich derzeit mehrere Porsche- Autohersteller angeboten würden, solle Bremsbeläge, die nicht von Porsche stam- man misstrauisch werden. „Aber auch men – „drei Vollbremsungen, und die sind seriöse Händler sind nicht vollständig dahinüber“, sagt Rolf Brormann, Vize-Chef vor gefeit, auf Fälscher reinzufallen“, sagt Doris Möller, Vorstandsmitglied des Akder Zentralstelle. Über Unfälle durch gefälschte Ersatz- tionskreises der Deutschen Wirtschaft geteile gibt es keine Statistiken – weil bei der gen Produkt- und Markenpiraterie. Für das Kölner Zollkriminalamt sind Unfallforschung nicht danach gesucht werde, meint Ralf Scheibach, Leiter der VDA- gefälschte Ersatzteile „längst keine EinRechtsabteilung beim Automobilverband. zelfälle mehr“, so Behördensprecher Nicht die Technik, sondern menschliches Leonhard Bierl. Im vergangenen DeVersagen werde in der Regel für einen zember beschlagnahmte der Zoll im Crash verantwortlich gemacht. Scheibach: Hamburger Hafen 7500 Felgen aus der „Wie soll ein Polizeibeamter vor Ort auch Türkei, die das Opel-Zeichen trugen. Im erkennen, dass ein Plagiat der Grund für Januar fingen dieselben Ermittler vier Container mit nachgebauten Generaleinen Unfall war?“ Prominentestes Opfer von Produktfäl- Motors-Schalldämpfern ab, einen Monat schern ist wahrscheinlich Formel-1-Pilot später an der tschechischen Grenze eiMika Häkkinen. Im vergangenen Jahr war nen Sattelzug mit gefälschten Fußmatten der Finne beim Großen Preis von San Ma- des US-Konzerns. Der Zoll findet nach eigener Einschätrino in Runde 17 ausgeschieden – Getriebeschaden, verursacht durch ein minder- zung nur einen Bruchteil der tatsächlich wertiges Kugellager. Das Teil, erklärte geschmuggelten Plagiate. Die Beamten McLaren später vor der Presse, sei einem können an den Grenzen bloß zwei bis Zulieferer vermutlich von Produktfäl- drei Prozent aller Einfuhren „beschauen“. schern in Asien untergeschoben worden. Und sie haben es oft schwer, Original und Bis heute konnte der Rennstall die Her- Fälschung zu unterscheiden. Ford benutzt deshalb seit Jahren Etiketten, bei kunft des Kugellagers nicht aufklären. denen das Firmenlogo unter UV-Licht sichtbar wird, DaimlerChrysler seit kurzem Verpackungen, die mit Hologrammen gekennzeichnet sind. Ab und zu staunen die Konzerne allerdings über die hervorragende Qualität der Plagiate. Ein Produktpirat, der in der Türkei Mercedes-Sterne gefertigt hatte, sei von DaimlerChrysler „einfach umgedreht“ worden, berichtet ein Branchenkenner. „Der war so gut, dass er offizieller Lieferant wurde.“ Plagiatsopfer Porsche: Gefährliche Bremsbeläge Olaf Storbeck A. LINDLAHR / AUTO BILD AU T O I N D U S T R I E d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Wirtschaft ASIEN Chinas Größenwahn So viel Leerstand war nie: In Schanghai purzeln die Preise für Immobilien ins Bodenlose. Viele Investoren haben sich verhoben. A ls der alte Mann 1992 zum letzten Mal in den Süden seines Reiches reiste, hatte er Revolutionäres im Sinn. KP-Patriarch Deng Xiaoping, damals 88, wollte die ineffektive Planwirtschaft mit den scharfen Zutaten des Kapitalismus würzen. So entstanden in den Provinzen Kanton, Fujian und Hainan Sonderwirtschaftszonen, die ausländische Unternehmen mit großzügigen Steuernachlässen anlockten. Allenthalben wuchsen neue Stadtviertel, aus Reis- und Gemüsefeldern erhoben sich Auto- und Startbahnen, aus kleinen Fischerhäfen wurden Containerterminals für Ozeanriesen. Die Wirtschaft im Süden Chinas wuchs seither jedes Jahr zeitweise um über 15 Prozent. Für Schanghai, die alte Handelsstadt am Huangpu, hatte der Alte eine besondere Direktive: „spürbare Änderungen jedes Jahr, entscheidende alle drei Jahre“. Die Stadtväter nahmen sich seine Worte zu Herzen. Kaum eine chinesische Metropole hat sich in den vergangenen Jahren so heftig gewandelt wie die „Stadt über Der Absturz Vermietungsindex der Firma CB Richard Ellis (Büroflächen in Schanghai) INDEX: 1993 = 100 140 100 60 20 1990 91 92 93 94 95 96 97 98 99 dem Meer“, wie Schanghai auf Chinesisch heißt. Jeder fünfte Baukran der Welt, verkündete Bürgermeister Xu Kuangdi jüngst stolz, dreht sich mittlerweile in seiner Metropole. Vor allem am Ostufer des Huangpu, im einst als rückständig verachteten Stadtteil Pudong, stehen nun modernste Fabriken und Werkhallen. Krupp-Thyssen baut derzeit für 1,4 Milliarden Dollar ein Stahlwerk, die Messegesellschaften von Hannover, Düsseldorf und München planen ein großes Ausstellungsgelände. Breite Avenuen, Parks, Golfplätze und Villenanlagen kommen demnächst hinzu; sie sollen Pudong zum „Tor für den riesigen China-Markt“ machen. Doch der Traum wird allmählich zum Alptraum – die Stadt hat sich übernommen. Zahlreiche neue Bürotürme sind derzeit nur zur Hälfte besetzt, andere stehen ganz leer. Ein Merkmal der Stadt ist in diesen Tagen das chinesische Zeichen „Zu“, das in langen Bannern von den Häusern hängt: „Zu vermieten“. Zwei Millionen Quadratmeter, so schätzen Immobilienhändler, liegen derzeit in Pudong brach, Tendenz steigend. Japanische Investoren verschoben deshalb bis vor kurzem ihren 676-Millionen-Dollar-Plan, das „Schanghai Weltfinanz-Zentrum“ zu bauen. Der Platz, auf dem der zweithöchste Kasten der Welt (460 Meter) ragen sollte, liegt brach. Schanghais Mieten, einst mit die höchsten der Welt, purzeln in die Tiefe. Ein deutsches Unternehmen muss im Merchants Tower von Pudong anstatt der ursprünglich geforderten 1,10 Dollar pro Quadratmeter und Tag nur noch 39 Cent bezahlen. „Es gibt eine Menge nutzloser Gebäude mit niedriger Qualität in Pudong“, sagt Sam Crispin von der Schanghaier Filiale der US-Maklerfirma FPD Savills. Seine düstere Prognose: „Viele werden wohl noch eine lange Zeit leer bleiben.“ GAMMA / STUDIO X Investoren-Alptraum Schanghai: „Spürbare Veränderungen jedes Jahr, entscheidende alle drei Jahre“ Die Verluste japanischer, thailändischer und Hongkonger Unternehmen dürften täglich in die Millionen gehen. Manche versuchen bereits, die Immobilien wieder loszuschlagen. Die meisten leer stehenden Projekte gehören allerdings einheimischen Bauherren. Peking zwang viele Betriebe, Banken, Provinzregierungen und Ministerien, sich in Pudong anzusiedeln: So sollten ausländische Investoren angelockt werden. Nicht nur in Pudong zeigt sich, dass die Chinesen in den vergangenen Jahren zu schnell und zu groß geplant haben: In der Sonderwirtschaftszone Shenzhen vor den Toren Hongkongs reicht der bereits fertige Platz für die nächsten drei Jahre aus. Und in der Hauptstadt Peking „schneiden sich Bauherren und Eigentümer gegenseitig die Kehle durch“, um Mieter abzuschleppen, berichtete die von der Stadtregierung finanzierte Zeitschrift „Business Beijing“. Sinnfälliges Beispiel für den Ehrgeiz der Pekinger, ihre Stadt mit prestigeträchtigen, aber womöglich überflüssigen Projekten zu schmücken, ist der Glaspalast des Hongkonger Tycoons Li Kashing an der Straße des Ewigen Friedens. Er durfte in Chinas bester Lage, nicht weit vom TiananmenPlatz entfernt, das „Oriental-Plaza“ errichten: 300 000 Quadratmeter Wohn- und Bürofläche, für die er bei dem Überangebot nach Meinung von Immobilienhändlern so leicht keine Kunden finden dürfte. Die Immobilienkrise spiegelt die Unsicherheit über Chinas wirtschaftliche Zukunft wider. Die Symptome im Reich der Mitte ähneln denen der asiatischen Grippe in den Nachbarländern: wuchernde Korruption und Vetternwirtschaft, windige Projekte, Not leidende Kredite. Chinas Banken haben inzwischen mehr Außenstände als die maroden Geldhäuser Thailands und Südkoreas zusammen. „Eine beträchtliche Zahl von Krediten verschwindet wie Steine, die ins Meer geworfen werden“, sorgte sich jüngst die unter anderem von der Zentralbank herausgegebene Finanzzeitung „Jinrong Shibao“. Die Schanghaier hoffen, dass sich ihre Lage im 50. Jahr der Volksrepublik China, das am 1. Oktober begann, verbessert. Auf Pudongs neuem internationalen Flughafen, gerade erst eingeweiht, sollen neue Investoren landen, so die Hoffnung. Gleichzeitig will die Stadtregierung durch einen Tunnel unter dem Huangpu-Fluss das Finanzzentrum mit dem Rest der Stadt verbinden, um so die Attraktivität der Stadt für Ausländer zu erhöhen. Wie Eltern, die „dem Kind ein wenig zu große Kleider kaufen, in die es später hineinwachsen kann“, habe man in Pudong halt für die Zukunft geplant, begründet Pressesprecher Hua Xinxiang den Bauboom. Immobilienhändler Crispin hält dies für wenig vernünftig: „Man kauft doch einem Säugling nicht Schuhe der Größe 46.“ Andreas Lorenz d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 N. NORDMANN Munitioniert mit einem 132Seiten-Gutachten der Münchner Wirtschaftsprüfungsgesellschaft BDO holten die neuen Herren zum entscheidenden Schlag gegen die alte Hypo-Führung aus. Weil Martini und seine Mannen kein funktionierendes Kontrollsystem für ihre Kreditrisiken aus Immobiliengeschäften installiert hatten, so stellen es die Prüfer fest, hätten sie drohende Verluste aus waghalsigen Grundstücksgeschäften um 3,6 Milliarden Mark zu niedrig bewertet. Damit, folgern die Experten, sei auch der 97er-Bilanzabschluss der Hypo-Bank null und nichtig. So etwas wurde vor Martini noch keinem anderen Bankchef bescheinigt. Verstehen möchte oder kann Martini das alles noch immer nicht. Wohl auch, weil zum Verständnis gehört, dass der Bankmanager erkennt: Schuld an seinem Absturz sind nicht nur die anderen. Bis zuletzt weigerte sich der Spross einer Augsburger Fabrikantenfamilie, von einem Wirtschaftsblatt einst als „Deutschlands unkonventionellster Banker“ gefeiert, zuzugeben, dass er Fehler gemacht hatte. Stattdessen beschimpfte er öffentlich sei- Ehemalige Hypo-Zentrale (in München): Berauscht von den eigenen Großtaten H Y P OV E R E I N S BA N K Opfer oder Täter? Der Sturz des Eberhard Martini: Der zurückgetretene HypoVereinsbank-Aufseher will die Schuld nicht allein auf sich nehmen. Hypo-Kontrolleure hätten die Schummelei gedeckt. 124 Hypo-Bank mit seinen Aufsichtsratskollegen der fusionierten HypoVereinsbank die neuesten Zahlen des Kreditinstituts diskutieren. Danach freute Martini sich schon auf das Essen mit den Aktionärsvertretern, das traditionell der Münchner Edelgastronom Käfer auffährt. „Das habe ich bei der Hypo-Bank so eingeführt“, bekannte der Feinschmecker einst stolz. Doch statt mit seinen Kollegen zu plaudern und zu tafeln, saß Martini einsam und verbittert im 21. Stock des Münchner Hypo-Hochhauses. Dort hatte ihm sein Auf- Martini-Gegner Schmidt: Abrechnung im ersten Stock sichtsratschef Kurt Viermetz 24 Stunden vorher eröffnet, dass er sein nen Rivalen und Vorstandsvorsitzenden Kontrollmandat bei der Bank niederlegen Albrecht Schmidt: „So ein Mann kann keimüsse. Andernfalls, drohte Viermetz sei- ne Bank führen.“ nem Freund aus alten Augsburger Zeiten, Die Konkurrenz zu Schmidt begann werde er auf der Hauptversammlung am schon vor vielen Jahren. Erfüllt von dem 17. Dezember seine Entlassung fordern. Wunsch, die benachbarte Vereinsbank zu Als Martini erfuhr, dass auch sechs an- überrunden, ließen sich Martini und seine dere ehemalige Hypo-Topmanager abtreten Mitarbeiter Anfang der neunziger Jahre würden, willigte der einst so kampfeslusti- auf Geschäfte ein, die ihre Kollegen am ge Bayer ein. Voller Groll musste er später nahe gelegenen Tucherpark lieber nicht anam Bildschirm mit ansehen, wie Viermetz fassten. und Albrecht Schmidt, Chef der HypoVerWährend Schmidt und seine Berater einsbank, 20 Stockwerke tiefer mit ihm und konservativ Anteile an der Allianz und seinen Ex-Kollegen abrechneten. Münchener Rück erwarben, investierten REUTERS S o haben ihn nur wenige erlebt. Leicht abgemagert und um Haltung bemüht, nahm Eberhard Martini am vergangenen Dienstag zusammen mit seiner Frau ein bescheidenes Abendessen ein. Statt des einst so geliebten Bordeaux begnügte sich der Banker mit einer Flasche Bier (Augustiner Edelstoff), die passte besser zu seiner Stimmung. Wenig war zu sehen von dem Selbstbewusstsein, von dem Martini, 64, einst nur so strotzte, als er noch Chef der bayerischen Hypo-Bank war. Ein Mann, der es wie kaum ein anderer Bankmanager verstand, seine Macht auch nach außen zu demonstrieren. Dessen Zigarren stets ein bisschen länger und dicker waren. Und der, wenn er prominente Wirtschaftsbosse zu einem Glas Wein einlud, nur die feinsten Tropfen bestellte. Der ehemalige Bankenpräsident war einer, der sich wohl fühlte in der Geldszene, einer, dessen Wort galt. Und jetzt? Jetzt wird Martini von ehemaligen Kollegen so rüde und gnadenlos öffentlich hingerichtet, wie vor ihm noch kein anderer deutscher Bankführer. „Was ist der Unterschied zwischen der ‚Titanic‘ und der Hypo-Bank?“, heißt ein eingängiger Banker-Scherz. Die Antwort: „Auf der ‚Titanic‘ war der Martini besser.“ Dabei sollte der vergangene Dienstag für Eberhard Martini ein richtig schöner Tag werden.Vormittags wollte der Ex-Chef der d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Wirtschaft F. HELLER / ARGUM Martini und seine Mannen in Brauereibe- lianz gelegen, der noch knapp 25 Prozent teiligungen und den Fleischkonzern März, an der Hypo-Bank hielt. Zumindest hätten dessen skandalumwitterter Firmengründer zwei der Allianz nahe stehende AufsichtsJosef März einst eng verbandelt war mit räte – darunter ein ehemaliger Allianzdem ehemaligen DDR-Devisenbeschaffer Finanzchef – Bedenken geäußert, ein solcher Ausreißer bei den Abschreibungen Alexander Schalck-Golodkowski. Trotz dreistelliger Millionenbeträge, die könnte angesichts der bevorstehenden Fusie auf ihre maroden Beteiligungen ab- sion mit der Vereinsbank einen schlechschreiben mussten, hielten die Hypo-Ban- ten Eindruck machen. Ein Allianzsprecher, ker an ihrem Expansionskurs fest – und nach Rücksprache mit dem Vorstand: „Uns hatten damit teilweise sogar Erfolg. Im- ist ein solcher Vorgang bis heute nicht merhin waren es die experimentierfreudi- bekannt.“ Auch die Experten der Wirtschaftsprügen Bayern, die 1994 als erste deutsche Großbank einen Billigableger gründeten, fungsgesellschaft Wedit hätten Zweifel gedie Direktanlagebank. Das Aldi-Institut, habt, ob ein so hoher Betrag von den Fidas den Münchnern Anlaufverluste von 50 nanzbehörden anerkannt werde, so MartiMillionen bescherte, ist inzwischen gut ni im kleinen Kreis. Nach guter bayerischer zwei Milliarden Mark wert und soll dem- Sitte einigte man sich schließlich auf einen Kompromiss, der Martini nächst an die Börse geheute belastet, ihm damals bracht werden. aber nicht ganz unrecht Auch waren die Hypowar. 1,5 Milliarden Mark Banker die ersten, die wurden abgeschrieben, der nach der Wende in OstRest der Immobilien blieb deutschland Selbstbedieals Wert in den Büchern. nungsfilialen errichteten. Die Nonchalance, mit „Wir waren die Kreatider er solche Konflikte jahven“, sagt ein Ex-Hyporelang geregelt hatte, wurVorstand, „die Vereinsde dem Banker nun zum banker galten dagegen als Verhängnis. Martini hoffte brav und stocksolide.“ offenbar bis zuletzt, das Berauscht von den eivon seinem Widersacher genen Großtaten, setzten Schmidt offenbarte 3,5Martini und seine Kollegen Milliarden-Loch mit raffizu ihrem bis dahin größten nierter Bilanzkosmetik kaCoup an und verhoben sich schieren zu können, wenn dabei kräftig. Für zwei- Aufsichtsrat Martini (1998) nur alle mitzögen. stellige Milliardenbeträge Umso entsetzter reagierte der Ex-Bankkauften die Hypo-Manager im großen Stil unbebaute Grundstücke und Geschäfts- Chef, als er jetzt das Gutachten der Prühäuser auf. Doch die Bürobrachen erwiesen fer in den Händen hielt. Der gläubige Katholik hatte allen Ernssich zum größten Teil als gigantische Fehltes gehofft, die Bilanzexperten würden spekulation. Martini weigerte sich lange, zu lange, ihm und seinen Kollegen darin endlich die das drohende Desaster wahrzuhaben. Um lang ersehnte Absolution erteilen. StattDetails der Bilanzenstellung und Risiko- dessen besiegelten sie das Ende seiner Karkontrolle habe er sich nie gekümmert, riere. Martini versteht die Bankenwelt, in der rechtfertigte er sich gegenüber Vertrauten. Sein Terrain waren Empfänge und Gala- er jahrelang eine zentrale Rolle spielte, veranstaltungen, wo der Lebemensch selbst nicht mehr. Und die Bankenwelt versteht ihn nicht mehr. seine Kritiker für sich einnahm. Nach wie vor glaubt Martini, dass er seiMulmig wurde es Martini offenbar erst, als seine eigenen Immobilienexperten im- ne rund ein Dutzend Aufsichtsratsmandamer massiver drängten, die Grundstücke te, die er noch ausübt, auch in Zukunft und die darauf ausgereichten Kredite ab- behalten kann, darunter Posten bei der zuschreiben. Doch auch das konnte einen Spaten-Franziskaner-Brauerei oder dem Mann wie Martini nicht erschüttern. Die Bankhaus Maffei. Die Chefaufseher der wollten die Projekte doch nur bewusst run- Firmen überlegen dagegen längst, wie sie terreden, um bei einem späteren Verkauf ihn elegant loswerden können. Selbst sein Vorstandsbüro am Arabellabesser dazustehen, glaubte er zunächst. Im Herbst 1997 dämmerte Martini und park inklusive Fahrer und Sekretärin nutzt seinem Finanzchef Werner Münstermann, Martini weiterhin, als wäre nichts gewedass die Probleme durch Aussitzen nicht sen. Den täglichen Spießrutenlauf in den lösbar waren. Deshalb schlugen sie dem 21. Stock will der tief gestürzte Ex-Banker Aufsichtsrat vor, Verlustobjekte im Jahres- offenbar bewusst in Kauf nehmen. Schließabschluss um rund 2,2 Milliarden Mark ab- lich läuft sein Vorstandsvertrag, der noch nach seinem Wechsel in den Aufsichtsrat zuwerten. Dass es so weit nicht kam, so stellt es verlängert wurde, bis Mai nächsten Jahres. Martini heute im kleinen Kreis dar, habe Und den will Martini auskosten – bis zum vor allem am damaligen Großaktionär Al- letzten Tag. Dinah Deckstein d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 125 Wirtschaft LIAISON / GAMMA / STUDIO X Lehrverpflichtung und des Publikationsdrucks abgestreift und sich in die oberen Ränge großer Unternehmen aufgeschwungen. Nun sind sie Entscheider mit Millionen-Budgets, großzügigen Hightech-Labors und großen Stabsabteilungen. Statt mühselig aus Projektgeldern ein Ticket für die Touristenklasse zusammenzukratzen, reisen die neuen Pharma-Fürsten nun mit dem Firmenjet zu den Kongressen. Und statt einer mageren Professorenvergütung streichen sie Aktienoptionen und Bonuszahlungen ein. Der US-Genetiker Craig Venter etwa kann sich endlich ein nettes Spielzeug leisten: eine 25-Meter-Rennjacht, die er „Sorcerer“ genannt hat, Hexer. Ihre Ex-Kollegen an den Universitäten beneiden diese neue Generation von Biologen, Biochemikern und Medizinern. Nur Idealisten beklagen deren Sündenfall vom unabhängigen Freigeist zum Handlanger Genforscher Venter: Aktienoptionen statt magerem Professorengehalt J. STRICKLAND / BLACK STAR BIOTECHNIK Professor mit Profit Universitäten werden für viele US-Biotech-Forscher als Arbeitgeber immer unattraktiver: Im PharmaGeschäft gibt es weniger Bürokratie – und deutlich mehr Geld. 126 Exzentriker mit Stabsabteilung der profitgierigen Pharma-Industrie. Neben Spitzenleuten wie Venter und Roses gilt es, deren Erben, risikofreudige Jungforscher, aus den akademischen Hinterstübchen nach vorn an die kapitalistische Front zu locken, wo Shareholder-Value wichtiger ist als der Abgabetermin der Doktorarbeit. Die Industrie steckt immer mehr Geld in die amerikaniMikrobiologe Rosenow: 1000 Dollar täglich fürs Labor schen Universitätslabors, in diesem Jahr werden es schätzungsweise 2,2 Milliarden Dollar sein. Wer den Unterschied zwischen der Großzügigkeit der Konzerne und dem Betteln um öffentliche Gelder erlebt hat, dem fällt es leicht, sich nach der Ausbildung bei einer Biotech-Firma im Silicon Valley zu verdingen, anstatt sich jahrelang für die Habilitation im Elfenbeinturm einzumauern. „Hier dürfte ich, wenn nötig, jeden Tag tausend Dollar für Laborausstattung Er gehört zu einem neuen Forscher-Typ, der immer häufiger vor allem in den USA anzutreffen ist: Chimären aus Unternehmergeist und wissenschaftlichem Ehrgeiz. Nach einem mühseligen Dauermarsch durch die Universitätsbürokratie haben er und die anderen Wissenschaftsmanager die Fesseln der öffentlichen Fördermittel, der A. FREEBERG M anager weltweit operierender Konzerne tragen keine Slipper. „Internationale Direktoren“ von Pharma-Multis schleichen sich auch nicht ins Büro eines Vizepräsidenten und laden ihm ihr eigenes grinsendes Gesicht als Bildschirmschoner auf den Computer. Und es kommt in der angelsächsischen Unternehmenskultur wohl eher selten vor, dass einer der Bosse seinen schwarzen Chauffeur auf ein Bierchen in die Kneipe entführt. Aber Allen Roses ist eben von Haus aus kein Manager. Die Chefs des Pharma-Konzerns GlaxoWellcome haben den 56-jährigen Amerikaner vor zwei Jahren aus einem Universitätslabor in North Carolina rekrutiert – er ist Wissenschaftler. Als solcher darf er exzentrisch sein. Sein zukünftiger Boss James Niedel wollte ohnehin kein Mauerblümchen für den Job. So haben die Briten den Alzheimer-Spezialisten in ihre US-Niederlassung nahe seiner alten Arbeitsstätte gesteckt und dafür gesorgt, dass es ihm gut geht. „I’m happy!“, findet Roses und lacht sein verrücktes Lachen. Alzheimer-Spezialist Roses Werbeseite Werbeseite Wirtschaft ausgeben“, schwärmt Carsten Rosenow. Der 36-jährige Chemiker und Mikrobiologe aus Berlin arbeitet bei der BiotechFirma Affymetrix im kalifornischen Santa Clara. Ob es ergonomische Pipetten sind oder eine neue Tischzentrifuge – solchen Kleinkram bestellen Rosenow und seine Kollegen mit einer Leichtigkeit wie ihre armen Brüder und Schwestern an den Unis höchstens die Pizza zum Lunch. Andere Jungforscher gründen selber ein Gentech-Start-up. Und für viele lohnt sich auch eine Zwischenlösung: an der Universität bleiben, nebenher aber in der eigenen Firma das Wissen versilbern. So eine Doppelrolle spielt etwa Richard Wurtman, ein Pharmakologe am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und, in seinem anderen Leben, Mitgründer und Direktor der Firma Interneuron Pharmaceuticals. Der Trend zur profitablen Ausbeutung des eigenen Wissens begann schon mit den ersten Gentech-Firmengründungen vor rund 20 Jahren. Aber noch lange glich die Gentechnologie einem halbblinden Stochern im Erbgut. Erst seit Ende der achtziger Jahre revolutionierten bahnbrechende Erkenntnisse, schnellere Computer und immer ausgefeiltere Labortechniken das Forschungsfeld und verwandelten es in eine Verheißung vor allem für die Pharma-Industrie. Der Schlüssel zu einer Zukunft ohne Altern und Kranksein, so heißt das Credo, liege in der DNS. Der Zellkern berge die Goldadern des nächsten Jahrtausends. Wer sich jetzt das Wissen um die Gene sichert, die Claims sorgsam absteckt, der beherrscht morgen die Märkte, glauben die Manager bei Bayer in Leverkusen ebenso wie die von Bristol-Myers Squibb in New York und GlaxoWellcome in London. Die britische Firma steckt in diesem Jahr 1,3 Milliarden Pfund in Forschung und Entwicklung. Niemand vermag auszurechnen, wie viele Milliarden ein Medikament gegen Alzheimer – allein in den USA leiden vier Millionen Menschen unter der Krankheit – oder gar, das ist der eitelste Traum, eine Jungbrunnen-Arznei einfahren würde. „Das Wissen um die menschlichen Gene“, prophezeit Craig Venter, „wird eine der stärksten Antriebskräfte der Weltwirtschaft.“ Geld plus Gehirn – die Industrie braucht für ihre genetische Großoffensive die Forscher wie einst die Minenbesitzer die Goldschürfer. Ein solches Investment in „Humankapital“ lohnt sich: Das von Roses geleitete Glaxo-Team hat gerade erst mit einer schnellen neuen Methode Gene für drei Geißeln der Menschheit gefunden: Migräne, Diabetes und Schuppenflechte. Roses war leicht aus der Universität zu locken. An einem Abend im Mai 1997 entschied er sich innerhalb von 15 Minuten für den Job bei GlaxoWellcome und hat es 128 seitdem nie bereut. „Ich habe dort innerhalb von einem Jahr soviel geschafft wie vorher in 20 Jahren an der Uni“, sagt er. „Was hat das für einen Sinn, zwei Jahre an Anträgen für öffentliche Fördermittel zu schreiben, nur um am Ende eine Absage zu bekommen?“ Das sei Universitätsalltag, nicht etwa die Ausnahme. „Ich will in diesem Leben ein Mittel gegen Alzheimer finden“, verkündet Roses, „und das kann ich bei einer Pharma-Firma besser und schneller als irgendwo sonst.“ Dass sie nun ihre Forschungsergebnisse nur noch eingeschränkt veröffentlichen dürfen, ihr geistiges Eigentum komplett abtreten müssen an ihre privaten Sponsoren, stört weder große Pharma-Funktionäre wie Roses noch Jungforscher wie Rosenow. Angriffen von Kritikern, die eine Gefahr in der Kommerzialisierung der Grundlagenforschung sehen, begegnet Roses gern mit der Naivität des Gutmenschen: „Ich will den Alzheimer-Patienten helfen, was ist denn daran schlecht?“ Außerhalb ihrer schönen neuen Welt wird die Debatte um die Folgen ihres Tuns immer lauter. Es lässt sich nicht wegdiskutieren, dass Profitstreben oft als natürlicher Feind der traditionellen wissenschaftlichen Unabhängigkeit auftritt. Interessenskonflikte sind bei diesem Balanceakt programmiert. So stand Allen Roses’ Name unter dem Papier einer unabhängigen Expertenkommission, die genetische Tests zur Alzheimerdiagnose beurteilen sollte. Die Fachleute hatten darin das Verfahren einer bestimmten Silicon-Valley-Firma favorisiert. Später kam heraus, dass Roses dieses Unternehmen nicht nur berät, sondern auch Lizenzgebühren für ebendiesen Test kassiert, da er auf seinen Ergebnissen basiert. Und wie könne es sein, fragen die Ethiker, dass Stücke menschlicher DNS etwa einer Firma gehören? Oder das Erbgut gefährlicher Krankheitserreger im Privatbesitz ist? Fast ein Drittel aller weltweit auftretenden Infektionen mit dem KrankenhausKeim Staphylococcus aureus lässt sich mit den meisten gängigen Antibiotika nicht mehr behandeln. Die Bakterien-DNS, fordern Gesundheitspolitiker und Mediziner, müsste der internationalen Forschergemeinde zugänglich sein, damit diese so schnell wie möglich den weltweiten Kampf gegen eine drohende Seuche aufnehmen kann. Doch börsennotierte Unternehmen, sagt die Sprecherin von Incyte Pharmaceuticals im Silicon Valley, einem der Besitzer der Staphylokokken-Infos, seien nun einmal in erster Linie ihren Investoren verpflichtet. Wissenschaftsmanager Craig Venter spricht gänzlich unverblümt über seine Arbeit am Erbgut: „Dies ist kein Akt der Nächstenliebe, das ist Business, Geschäft an vorderster Front von Forschung und Medizin.“ Rafaela von Bredow d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Ecclestone war so beeindruckt von dem Deal, dass er die WestLB als Ratgeber auf die Suche nach Großinvestoren schickte. „Nach der erfolgreichen Platzierung standen plötzlich jede Menge strategischer Investoren bereit“, sagt Andrew Gardner, Direktor im Londoner Anleiheteam der WestLB. Amerikanische Risikokapitalgeber wie KKR und Doughty Hanson zeigten sich interessiert. Auch die Fondsgesellschaft Warburg Pincus, die kürzlich mit 40 Prozent beim irischen Rennstall Jordan eingestiegen ist, war im Rennen. Selbst Ron Dennis, Manager von McLaren, prüfte das Angebot. Schließlich setzte sich die DeutscheBank-Tochter Morgan Grenfell Private Equity durch. Ein Sprecher des DeutscheBank-Chefs Rolf Breuer legt Wert auf die Feststellung, dass sie selbst kein Geld in Ecclestones Imperium stecken wird. Hinter dem Deal stehen institutionelle Großanleger, die mit einem Teil ihres Kapitals bereit sind, auch höhere Risiken einzugehen. Die Deutsche-Bank-Tochter mit Sitz in Rennsport-Manager Ecclestone, Fahrer Eddie Irvine: Jede Menge Investoren London hat für solche Großinvestoren inseine Aktiengesellschaft umzuwandeln, gesamt 1,8 Milliarden Dollar in 46 UnterR I S I K O K A P I TA L scheiterte. Der ehemalige Brüsseler Wett- nehmensbeteiligungen gesteckt. Dabei habewerbskommissar Karel Van Miert hatte ben die britischen Fondsmanager der Deut15 Verstöße gegen das Kartellrecht bei der schen Bank offensichtlich ein Faible für Vermarktung des Motorsports moniert, die röhrende Motoren. Am Formel-1-Rennstall sich Ecclestone für 15 Jahre vom Automo- Arrows haben sie sich mit 50 Prozent bil-Weltverband hat übertragen lassen. Der beteiligt. Beim italienischen Motorradhersteller Piaggio sind sie gerade eingeBörsengang wurde abgeblasen. Selbst eine Unternehmensanleihe ließ stiegen, während sie sich bei dem MotorFormel-1-Boss Bernie Ecclestone sich nicht so ohne weiteres unters Volk radbauer Ducati nach Sanierung und macht Kasse: Die Deutsche bringen. Ecclestone wollte gut zwei Mil- Börsengang schon wieder aus dem UnterBank steigt in sein Imperium ein. liarden Dollar auf dem Kapitalmarkt auf- nehmen verabschieden. So soll das auch bei Ecclestones Unternehmen. Die Rückzahlung des Geldes war ach eigener Einschätzung ist Ber- den Investoren jedoch zu unsicher. Schließ- nehmen funktionieren. Weitere Motornie Ecclestone, 69, ein bescheide- lich gelang es der WestLB zusammen mit sportfans wie der italienische Modefabriner Mann. „Ich brauche nur mein Morgan Stanley Dean Witter, im Mai eine kant Benetton wollen Anteile übernehSteak, meinen Hubschrauber und meinen Anleihe in Höhe von 1,4 Milliarden Dollar men. Um den angestrebten Börsengang Lear-Jet“, sagt der Herrscher über den For- mit deutlich verkürzter Laufzeit und sehr vorzubereiten, schickt die Deutsche Bank mel-1-Zirkus. hohen Zinsversprechen auf dem interna- zwei Manager, die Ecclestone im Vorstand In Zukunft könnte sich der exzentrische tionalen Kapitalmarkt zu platzieren. Das kontrollieren sollen. „Die Formel 1“, sagt Scott Brite bei seinen Reisen zu den Autorennen Geld kassierten Stiftungen, die Lanphere, einer der neuen in Kanada, Brasilien oder Japan auch eine Ecclestone für seine beiden Bankchef Breuer Vorstände bei Ecclestone, „ist Boeing 747 leisten. Die Morgan Grenfell Töchter und seine Frau Slavica der führende Markenname in Private Equity, eine Fondstochter der Deut- eingerichtet hat, ein Ex-Model der Welt des Sports.“ Die Banschen Bank, hat ihm für 325 Millionen aus Jugoslawien, das gern mit ker wollen ihn deshalb auch für Dollar 12,5 Prozent an Ecclestones For- hohen Absätzen und monströandere Produkte einsetzen, ihn mula One Administration abgekauft. Zu- sen Sonnenbrillen durchs Fahim E-Commerce-Geschäft via sätzlich erwarb sie die Option, für weitere rerlager stolziert. Internet nutzen und das wenig 925 Millionen Dollar ihren Anteil an der entwickelte Lizenz- und MerFirma auf 50 Prozent aufzustocken. chandising ausbauen. Endlich hat der ehemalige GebrauchtBevor irgendwelche Dividenwagenhändler und wenig talentierte Rennden fließen, muss die Anleihe fahrer sein persönliches Ziel erreicht: Die von 1,4 Milliarden Dollar inWelt der Hochfinanz liegt ihm zu Füßen. klusive Zinsen zurückgezahlt „Der macht jetzt richtig Kasse“, sagt ein werden. Einschließlich dieses Rennstallbesitzer. Fremdkapitals hat die DeutEcclestone hat die Formel 1 nach Olymsche Bank den Wert von Ecclepia und Fußball-WM zum größten Sportstones Imperium auf über sieEvent der Welt gemacht. Seit zwei Jahren ben Milliarden Mark taxiert. ist er von der Idee besessen, den GrandEs scheint so, als habe der Prix-Zirkus an die Börse zu bringen. Doch ehemalige Gebrauchtwagender erste Versuch der amerikanischen Inhändler gut verhandelt. vestmentbank Salomon Smith Barney, das wild verflochtene Firmenkonglomerat in Deutsche-Bank-Zentrale: Kein eigenes Geld Christoph Pauly Ein Faible für Motoren M.-S. UNGER N T. RAUPACH A. TILL / ATP Wirtschaft 130 d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Trends Medien „BILD“-ZEITUNG Kurzer Höhepunkt GERDES / THOMAS & THOMAS D as von der „Bild“-Zeitung veröffentlichte „geheime Tagebuch“ der Verona Feldbusch hat anscheinend nicht allzu viele Zusatzkäufer gebracht, obwohl der Werbeaufwand für die Aktion in der Branche auf etwa vier Millionen Mark geschätzt wird. In der Woche voll zweifelhafter Enthüllungen („Lucky toastete ihr ein Nutella-Brot“) zeigte die Auflage kaum Ausschläge. Mit einer Ausnahme: Am zweiten Tag, als sich das „deutsche Sex-Symbol des 21. Jahrhunderts“ nur mit weißer Unterwäsche auf der Titelseite räkelte, griffen rund 150 000 Käufer mehr als sonst zu dem Boulevardblatt aus dem Springer-Verlag (Auflage: circa 4,6 Millionen). Ein kurzer Höhepunkt: Als Verona in den Ta- „Tatort“-Folge (mit Dominic Raacke, Stefan Jürgens) FERNSEHEN ARD macht Quotendruck eil sich die Konkurrenz der TVSender verschärft, verordnet sich die ARD (Vorsitzender: Peter Voß) neue Quotenvorgaben. Die jetzt definierten Anforderungen sollen die „Sendeplatzprofile“ von 1994 ersetzen. So erwarten die ARD-Programmchefs für den „Tatort“ am Sonntag sechs bis sieben Millionen Zuschauer (20 bis 25 Prozent Marktanteil), am Dienstagabend um 20.15 Uhr sind vier bis fünf Millionen Zuschauer (14 bis 16 Prozent) vorgesehen. Quotenschwache Sendungen würden nach den Voß neuen Vorgaben konsequent aus dem Programm fliegen. Für die Sendezeit am Mittwochabend ist festgelegt, dass jede fünfte Sendung keine Zu- schauerquote bringen muss: „Sie ist für besondere Produktionen freigegeben“, heißt es in einem ARD-Protokoll.Vor allem Unterhaltungschef Henning Röhl will mit harten Maßnahmen die Reichweiten anheben. Als Hauptschwäche hat er den Donnerstagabend ausgemacht, wo die ARD künftig mehr 90Minuten-Shows gegen SerienKonkurrenz wie „Der Clown“ (RTL) oder „Kommissar Rex“ (Sat 1) setzen will. Da müsse, so Röhl, eine „Strukturdiskussion“ einsetzen. Die ARD, die 1998 noch TV-Marktführer war, liegt derzeit (Januar bis September 1999) mit 14,4 Prozent Marktanteil hinter RTL (15 Prozent) – und muss das ZDF fürchten (13,1 Prozent). Feldbusch J. GIRIBAS W gen darauf von der Titelseite verschwand, schrumpfte auch die „Bild“Auflage wieder auf Normalmaß. Echte Verona-Fans wussten sich immerhin damit zu helfen, dass sie die freizügigen Werbeplakate aus den Schaukästen klauten, in denen für das Tagebuch geworben wurde. DEUTSCHE TELEKOM Schneller Verkauf der Kabelnetze m Milliarden-Poker um den Verkauf des TV-Kabelnetzes will sich TelekomChef Ron Sommer noch in diesem Jahr von drei der insgesamt neun regionalen TV-Kabelgesellschaften trennen. Neben dem Bereich Nordrhein-Westfalen sollen nach derzeitiger Planung auch die Regionen Hessen und Bayern noch vor W. v. BRAUCHITSCH I Sommer d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 dem Jahreswechsel veräußert werden. Grund für die plötzliche Eile bei der Telekom ist die Sorge um eine ausgeglichene Bilanz. Nachdem Umsatz und Ergebnis durch die heftige Preisschlacht im Festnetzgeschäft drastisch zurückgegangen sind, braucht Sommer die Sondererlöse aus dem Verkauf des TVKabels, um eine mit den Vorjahren vergleichbare Dividende ausschütten zu können. Insgesamt rechnet die Telekom beim Verkauf des TV-Kabels mit seinen rund 18 Millionen Teilnehmern mit einem Erlös von über 25 Milliarden Mark. 133 Medien S AT I R E V orvergangene Woche: RTL kam, sendete – und die Konkurrenten erstarrten zu Salzsäulen. Die Rede ist von „Arche Noah – Das größte Abenteuer der Menschheit“. Wenn es nach den Kritiken gegangen wäre, hätte der zweiteilige US-Film „Schnarche Noah“ heißen müssen: „Biblischer US-Kitsch“ („Tagesspiegel“), „mit Abstand schlechtestes Fernsehspiel der letzten zehn Jahre“ („SZ“). Es geht aber nicht nach den Kritiken. Der computeranimierte Holzkasten sammelte am vorletzten Sonntag 8,80 Millionen Zuschauer, einen Tag später gar 9,21 Millionen, 28,6 Prozent aller an jenem Montag Fernsehenden. Die Konkurrenz ging in der Sintflut baden. Abendlandswarte könnten sich nun animiert fühlen, das Publikum zu beschimpfen. Warum krebst ein Qualitätsprodukt wie die Verfilmung von Klemperers Tagebüchern bei schwachen zweieinhalb Millionen Zuschauern, während so ein Kinderkram mit Infantil-Dialogen (Gott: „Alles oder nichts, Noah“) abräumt? Doch heiliger Zorn wider das Heilige hilft nichts. Das Numinose hat im Medium Konjunktur. Der ARDTatort „Apokalyptische Reiter“, in dem die von Dürer entworfenen Schreckgestalten aus der Offenbarung für Grusel sorgten, war am Arche-Sonntag die einzige Sendung, die sich neben der RTL-Bibel-Verfilmung behaupten konnte: mit Gott zur Quote. Die Entkirchlichung sorgt dafür, dass religiöse Symbole und Geschichten zur frei verfügbaren Ware für die Erzählmaschinen des Fernsehens werden. Heiligenfiguren, Beichtstühle, Mönchskutten, liturgischer Singsang gehören zu unverzichtbaren Fernsehzutaten. Den Zölibat muss der Papst schon deswegen aufrechterhalten, damit die TV-Movies in libertinären Zeiten noch von geknebelten Trieben fabulieren können. Fliege hat schon lange erkannt, dass „der alte Gangster da oben“ ein Quotenhelfer hier unten ist.Wann eigentlich wird Mutter Beimer gebenedeit gen Himmel fahren? „Kein Schmuddelkram“ Rüdiger Jung, Autor der kommende Woche ausgestrahlten RTL-ComedySerie „Wie war ich, Doris?“, über die Kritik des Bundeskanzlers SPIEGEL: Naddel musste ihre Witze auf Anweisung der RTL-2-Aufseher einstellen – befürchten Sie Ähnliches? Jung: Ich fand die Witze auch unter aller Kanone. So etwas würde ich nicht machen. SPIEGEL: Können Sie verstehen, dass sich Bundeskanzler Schröder Witze über sein Privatleben in Ihrer Sendung verbittet? Jung: Nein. Er weiß überhaupt nicht, was wir machen, und hat auch nie nachgefragt. Er hat offenbar gemerkt, dass er falsch beraten wurde und daraufhin versucht, sich anders zu geben. In dieser Zeit wurde bekannt, dass wir eine Satire planten. Anstoß genommen hat Schröder allein wegen des Titels, der zeigen soll, dass jemand aus purer Eitelkeit über seine Wirkung nachdenkt. Die harsche Reaktion zeigt für mich den hohen Grad der Verunsicherung. SPIEGEL: Haben Sie nach der Reaktion des Kanzlers noch etwas verändert? Jung: Nein, das ganze Drehbuch lag ja schon vor. Wir haben nur auf politische Aktualität hin umgeschrieben. SPIEGEL: Und das Private? Szene aus „Wie war ich, Doris?“ ZEITGESCHICHTE Tunneldurchblick A m 14. September 1962, ein Jahr nach der Errichtung der Mauer, gelang 29 Menschen durch einen 135 Meter langen Tunnel die Flucht aus OstBerlin in den Westen. 41 Studenten aus West-Berlin hatten ihn gegraben, und Tunnel unter der Mauer 134 jahrzehntelang hielt sich das Gerücht, die CIA habe das Unternehmen finanziert. Die spannende filmische Rekonstruktion des Tunnelbaus – sie ist an diesem Samstag um 20.15 Uhr auf Südwest III zu sehen – räumt mit dieser Legende auf. Der Geheimdienst war allerdings wohl informiert, denn wegen eines Wasserrohrbruchs hatten sich die Tunnelbauer an West-Berliner Behörden gewandt, und so dürfte die CIA von der Sache Wind bekommen haben. Das Doku-Drama (Regie: Marcus Vetter) befragte die ehemaligen Buddelarbeiter und benutzt Aufnahmen der NBC. Zwei der Tunnelbauer hatten die Filmrechte damals für 50 000 Mark an die US-Gesellschaft verkauft. SDR Göttliche Quote Jung: Doris SchröderKöpf ist First Lady, die an seiner Seite steht. Aber es geht nicht um private Details. SPIEGEL: Obwohl alles in der Satire erlaubt ist? Jung: Ich würde keinen Schmuddelkram Jung machen, keine privaten Details auspacken. Da gibt es für mich eine klare Grenze. SPIEGEL: Rechnen Sie mit weiterer Kritik des Kanzlers? Jung: Nein. Jahrzehntelang gab es politisches Kabarett in Deutschland. Es ist doch in Ordnung, wenn die Mächtigen der Republik aufs Korn genommen werden. Ich mache ja nichts Schlimmes. SPIEGEL: Werden Sie nach den sechs Folgen weitere Fortsetzungen schreiben? Jung: Warum sollte es nächstes Jahr nicht weitergehen, wenn es ein Erfolg wird? d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Fernsehen Vorschau III nach 9 Freitag, 22.00 Uhr, Nord III 25 Jahre talkt es jetzt aus Bremen. Und die Stadtmusikanten haben Recht: Etwas Besseres als den Tod haben wir in der Sendung immer gefunden. Einschalten Schindlers Liste Montag, 20.15 Uhr, Pro Sieben Der Holocaust als Darstellung mit allen Mitteln Hollywoods: Die meisten überzeugte Steven Spielbergs DreiStunden-Film. Schimanski – Sehnsucht Sonntag, 20.15 Uhr, ARD Dienstag, 20.15 Uhr, Sat 1 Brandanschläge auf Wiener Museen – Kunsthistorikerin Lena (Natalia Wörner) begutachtet nicht nur die Schadenshöhe, sondern erkennt zusammen mit einem Polizeimann (Heino Ferch), dass der Bösewicht seine neuen Taten in Bildmontagen ankündigt. Regisseur Curt Faudon beweist, dass in einem guten TV-Movie Spannung ohne Geballer auskommen kann. Liebe ist stärker als der Tod Mittwoch, 20.15 Uhr, RTL Regisseur Dominique Othenin-Girard ist immer für einen kleinen Skandal gut. Vor zwei Jahren scheuchte er mit seinem Movie „Die heilige Hure“ – eine Dozentin für Priester wird Domina – nicht nur konservative Gemüter auf, sogar RTL verschob aus Vorsicht zunächst die Ausstrahlung. Auch diesem neuen Film geht der Ruch des Skandals voraus, ein „BamS“-Leser empörte sich, ohne das Stück zu kennen, über „Sex mit Toten“. Tatsächlich: Die Chirur- Karven, Bettermann in „Liebe ist ...“ gin Judith (Ursula Karven) koitiert mit ihrem hirntoten Freund (Bernhard Bettermann), um ein Kind von ihm zu empfangen. Doch ein Festival der Obszönität ist dieser Film durchaus nicht, vielmehr ein konsequent sentimentalisches Melodram, das mit Gefühlen, Symbolen und schönen Bildern nur so um sich wirft, um Eros zu feiern. Da nervt zwar manche penetrante Wiederholung der Stilmittel (aufflatternde Tauben), aber nie wirkt der warmherzig-naive Film abgefeimt. Und selten wurde Hirnchirurgie so farbig, fast schön ins Bild gesetzt. George (mit Martin Bruhn r.) in „Schimanski – Sehnsucht“ Ausschalten Nach dem Fall Dienstag, 23.05 Uhr, Südwest III Um diesen Film von Frauke Sandig und dem amerikanischen Regisseur und Kameramann Eric Black über das Ex-Stasi-Offizier Hagen Koch Verschwinden der Berliner Mauer kann es einem Leid tun, denn er enthält durchaus witzige Details. Da sieht der Zuschauer zum Beispiel englische Homöopathen, die allen Ernstes Mauerbröckchen zu Mitteln wider Depressionen und Asthma verarbeiten. Und wirklich komisch wirken die Warnungen durchgeknallter Esoteriker, das für neue Bauten wieder verwendete Mauermaterial würde „dunkle Energien“ in der Stadt verbreiten. Auch die Erinnerungen eines bayerischen Abbruchunternehmers verfehlen ihre Wirkung nicht, wenn er erzählt, wie er mit seinen Maschinen die ersten Mauerblöcke zermahlte und den umstehenden DDR-Grenzern zur d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Feier des Anlasses auf seinem Akkordeon vorspielte. Doch leider beschränkt sich die Dokumentation nicht auf die Sammlung konkreter Spuren der nahezu verschwundenen Mauer, sondern versucht den gesamten Komplex deutscher Spaltung und deutscher Einheit zu erfassen. Da reflektiert ein evangelischer Pfarrer, eine Psychotherapeutin geht den Spuren des Teilungsbauwerks in der Seele nach, ein Ex-Stasi-Offizier präsentiert sich als Mauer-Kulturpfleger, der amerikanische Historiker Brian Ladd erinnert sich weitschweifig und erzählt am Ende ein Märchen – das Thema ufert aus, und der mit kunstvollen Bildern arbeitende Film übernimmt sich. 135 WDR Der Feuerteufel – Flammen des Todes Männertreu gegen Frauenlist – das Sponti-Raubein (Götz George) tritt mindestens dreimal die Türen ein, um einem liebeswunden Knacki-Riesen (beeindruckend: Veit Stübner) zur Erkenntnis der ewigen Schlange Weib (Renée Soutendijk) zu verhelfen. Duisburg, Suff und machomarkige Sprache, dazu die Rückkehr des Schimi-Kumpels Hänschen (Chiem van Houweninge) – Hansjörg Thurn (Buch) und Hajo Gies (Regie) lassen die wunderbare Prärie des alten 68er Cowboys wieder erstehen. Ach, Thanner, könntest du noch dabei sein. Medien NIEDERLANDE Big Brothers kleiner Bruder In Holland treiben die Enkel Rudi Carells das Fernsehen an die Geschmacksgrenze: Von 24 Kameras beobachtet, leben junge Leute 100 Tage ohne Intimsphäre und von der Außenwelt abgeschottet zusammen. W strahlend und fährt zärtlich mit der rechten Hand über die Mattscheibe. Die Figuren, die da auf den Bildschirmen zu sehen sind – nette, junge Menschen mit blendend weißen Zähnen und harmlosen Ansichten –, hat er zwar nicht erschaffen, schließlich ist der Sprössling einer alteingesessenen Amsterdamer Schauspielerfamilie nicht Dr. Frankenstein. Trotzdem sind sie seine Geschöpfe. Denn er hat diese Bildschirmwesen unter 2500 Bewerbern ausgesucht und berühmt gemacht. Paul Roemer ist so etwas wie Big Brothers kleiner Bruder. Er dirigiert 24 versteckte Kameras, die auf die Bewohner des Bungalows gerichtet sind und pausenlos aufnehmen, was sich in dem von der Außenwelt abgeschnittenen Gelände gerade tut. Nasepopeln, Essen, Schlafen, Sex, die Zigarette danach oder das Gähnen am Frühstückstisch – nichts bleibt für Roemers elektronische Augen unsichtbar. Fernsehproduzent Roemer: „Bestimmte Szenen Der smarte Enddreißiger und seine 107 Mitarbeiter, darunter auch ein Psychologe, verdichten die Geschehnisse täglich zu einer halben Stunde Programm. Der zur RTL-Gruppe gehörende Fernsehsender „Veronica“ sendet das Handlungsextrakt täglich zur Prime Time um acht Uhr. Die Zuschauerquoten sind sensationell. FOTOS: HOLLANDSE HOOGTE ie ein gestresster Papa, der von schlechtem Gewissen geplagt zu spät nach Hause kommt und sofort ins Kinderzimmer hetzt, stolpert Paul Roemer in den Monitorraum. Weil er seit Tagen mit Fernsehmanagern in der Medienstadt Hilversum verhandelt, bleibt ihm im Moment viel zu wenig Zeit für seine Schützlinge, obwohl er weiß, dass „sie gestern sehr nervös und gereizt waren“. Der TV-Produzent steht in der Kommandozentrale seines Studios in Almere bei Amsterdam. Vor ihm flackern 24 Fernsehgeräte. Jedes zeigt einen anderen Ausschnitt aus einer Wohnung, die aussieht wie aus einem Ikea-Katalog. Auf dem Breitbildschirm sind ein paar junge Leute zu sehen, die sich in einem Zimmer mit rosa Teppichen auf gelben Sofas lümmeln und lachen. Roemer ist glücklich. „Jetzt sind sie wieder relaxt“, sagt er „Big Brother“-Haus im niederländischen Almere: Mit Stacheldraht abgesichert wie ein deutsches Sträflingslager 136 d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 im Badezimmer, die bringen wir nicht“ Bis zu 1,8 Millionen Menschen schauen sich täglich an, wie Bart und Sabine miteinander ins Bett hüpfen, wie Ruud seinen Tischnachbarn knuddelt oder Mona ihr wieherndes Lachen ausschüttet. Der Marktanteil bei den von der Werbeindustrie besonders geschätzten konsumfreudigen 20- bis 44-jährigen Zuschauern liege bei viel versprechenden 60 Prozent, brüstet sich Roemer. Die Sendung, die Roemer mit dem niederländischen TV-Produzenten John de Mol entwickelt hat, gehört schon nach fünf Wochen Sendezeit zu den erfolgreichsten Projekten, die das europäische Fernsehen je hervorgebracht hat. De Mol und Roemer, die geistigen Enkel Rudi Carells, rollen gerade den Markt auf. Dabei gibt es in ihrer Show nicht einmal ein Drehbuch. Die Helden von „Big Brother“ sind „ganz normale Menschen“, darunter eine Kellnerin, eine Hausfrau, ein Masseur, ein ehemaliger Zeitsoldat und ein Autoverkäufer. Alle paar Wochen müssen die Bewohner dem Fernsehpublikum vorschlagen, wer die Wohngemeinschaft verlassen sollte. Die Entscheidung fällt dann der Zuschauer per Ted-Anruf. Zum Schluss kann es nur einen geben: Wer am Morgen des 1. Januar als Letzter übrig ist, kassiert rund 220 000 Mark, teilen verboten. Der Erfolg der „Big Brother“-Produktion ist rätselhaft. Auf den ersten Blick passiert in dem Containerhaus nicht mehr als bei den Zuschauern zu Hause. Meistens sitzen die Bewohner rauchend am Wohnzimmertisch und produzieren unbrauchbaren Wort- und Bildmüll. Da sie das Haus nicht verlassen dürfen, werden sie von einer Off-Stimme mit Aufgaben und Fragen beschäftigt. Beispielsweise: „Wie lautet die Postleitzahl von Rotterdam?“ Fernsehen und Radio sind im Bungalow verboten, die Bewohner sollen sich ganz und gar ihresgleichen widmen. Bei Bart und Sabine endete die Wohnsymbiose sogar auf der Drahtpritsche. Im Containerhaus bildeten die beiden plötzlich ein Liebespaar, die eifersüchtigen Mitbewohner setzten die Separatisten sofort auf die Rausschmiss-Liste. Das Publikum feuerte Sabine, die einer Wohngenossin unter vier Augen vor laufender Kamera und damit den ganzen Niederlanden anvertraut hatte, „das mit Bart“ sei keine allzu ernste Sache. „Sie hat ihn nur benutzt und ihm was vorgespielt!“, erklärt Roemer Hände reibend, „Bart hingegen hat sich richtig verliebt.“ Mit der unverhofften Love-Story WG-Bewohnerin Sabine (l.) Vom Publikum gefeuert d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 ging die Quote noch mal in die Höhe. Ganz Holland weiß nun, dass der 22-jährige Macho bei der properen Sabine längst abgemeldet ist – nur Bart, gemein gemein, weiß es noch nicht. Behauptungen, die Reality-Show sei eine kalkulierte Fälschung, widerspricht Roemer energisch: „Barts Tränen beim Abschied von Sabine waren echt.“ In dieser Authentizitätsgarantie liegt offenbar das Geheimnis des Erfolgs. „Schauspieler machen den Leuten was vor“, sagt Roemer, „meine Bewohner aber spielen nicht, sondern sind, was sie sind.“ Fernsehunterhaltung soll Emotionen in die Wohnstube bringen, und echtere Gefühle als bei „Big Brother“ gibt es nirgendwo: „Das spürt der Zuschauer.“ Dass zur Zeit mehr Menschen Big Brother im Fernsehen gucken als Nachrichten aus Hollands krisengeschüttelter Ex-Kolonie Indonesien oder das Fußballspiel Ajax Amsterdam gegen Haifa, ist dem Holländer selbst ein bisschen unheimlich. Woran liegt es? „Voyeurismus“, sagt Roemer. Für den Produzenten ist der Blick durchs Schlüsselloch so normal wie Hunger oder Durst. Das Recht aufs eigene Bild haben die Bewohner an Roemer abgetreten. Er darf alles ausstrahlen, was er vor die Linse bekommt. Wirklich alles? „Das mache ich natürlich nicht“, sagt er und fügt so ernst wie möglich hinzu: „Für einige Bewohner ist der sexuelle Druck natürlich sehr groß. Da gibt es dann bestimmte Szenen im Badezimmer, die bringen wir nicht.“ Extreme Charaktere hat Roemer bei der Auswahl seiner Chargen vermieden, denn „die sorgen bloß für Spannungen und die Gefahr, dass die WG auseinander fliegt“. Das wäre tatsächlich schlimm, denn „dann hätte ich ja kein Programm mehr“, sagt er und rückt sich die Nickelbrille zurecht. Die Konkurrenzsender von „Veronica“ leiden zusehends unter dem Zuschauer- magneten. Das Privatfernsehen SBS bot deshalb jedem „Big Brother“-Mitspieler eine Prämie von 25 000 Gulden dafür an, das Containerhaus zu verlassen.Vergebens, denn die Bewohner leben ja isoliert. Sie erfuhren gar nicht erst von dem nicht ganz todernst gemeinten Angebot. Der holländische Fernsehentertainer Willibrord Frequin, eine Mischung aus Lou van Burg und Rambo, versuchte sogar per Fallschirm im Garten des Hauses zu landen. Er wollte den Sendebetrieb durcheinander bringen und eine eigene Geschichte produzieren. Frequin landete aber meterweit neben dem Gelände. Nun lässt Roemer seit ein paar Tagen das Areal mit Stacheldraht und Sichtblenden schützen, weil immer mehr Hallodris in die verbotene Zone eindringen wollen. „Leider sieht der Drehort jetzt aus wie ein deutsches Sträflingslager“ – ausnahmsweise eine Assoziation, die Roemer nicht besonders schätzt. Egal, Big Brother ist längst ein Selbstläufer. 17 Millionen Besucher surften bisher auf die Website (www.Big-Brother.nl). Dort kann man das Geschehen im Haus auf vier Bildfenstern rund um die Uhr live verfolgen. Schon spekulieren die holländischen Illustrierten munter über weitere Sexaffären im „Big Brother“-Haus, die der Sender aber unter Verschluss halte. Der holländische „Playboy“ verpflichtete sogleich die 21jährige Tara als Nacktmodell. Sie hatte das Haus nach zwei Wochen freiwillig verlassen und macht seitdem in den Talkshows Karriere – ihr gingen die Mitbewohner wegen der übertriebenen Freundlichkeit und den ständigen Umarmungen auf die Nerven. Es stimme schon, dass sich die Bewohner zu Beginn etwas „unnatürlich benahmen“, räumt Roemer ein, doch inzwischen verhielten sich alle „wie im wirklichen Leben“. Da läuft plötzlich Maurice über den Bildschirm. Roemers Stirn legt sich in Falten: „Bis auf den, der ist zu still und versteckt sich immer noch ein bisschen.“ Protest gegen den öffentlich übertragenen Versuch am Menschen kam nur zu Beginn der Sendung vom niederländischen Psychologenverband, der die Serie als inhuman und gefährlich kritisierte. Tierschützer protestierten, weil im Garten des Hauses Hühner gehalten werden und das Gerücht kursierte, die Bewohner würden sie vor laufender Kamera schlachten. Erkennbare Psycho-Defekte hat die Show bei den Teilnehmern bisher nicht hinterlassen. Als sie nach ihrem Rausschmiss nach fünf Wochen Dauer-WG zum ersten Mal ihr Ebenbild auf dem Fernsehschirm erblickte, entsetzte sich Sabine nur darüber „dass ich da so dick aussehe“. Vor ein paar Tagen hat Roemer das Format der Sendung nach Deutschland verkauft. Von April an soll „Big Brother“ mit deutschen Testpersonen in Köln oder Berlin produziert werden. Weitere Anfragen 138 d e r FOTOS: B. FRIEDLANDER Medien Szenen aus der „Big Brother“-Show Mit dem Fallschirm in den Vorgarten aus den USA, Frankreich, Australien und einem halben Dutzend anderer Länder will der Produzent noch verhandeln. Orwells Roman „1984“ hat Roemer vor 20 Jahren als Schüler, aber nicht zur Vorbereitung der Show gelesen. Mit der Parabel auf Totalitarismus und Zensur habe seine Sendung „nichts zu tun“. Eher damit, dass die Beobachtung durch Kameras inzwischen ganz normal geworden ist und niemanden mehr aufregt. Roemer konstatiert das nur, er bewertet es nicht. Vor zehn Jahren hätte man eine Show wie „Big Brother“ noch für ScienceFiction gehalten. Heute weiß jeder Camcorder-Besitzer, was technisch alles geht. In der Welt von Paul Roemer gibt es nicht nur einen, sondern Millionen Big Brothers. Wie Orwells Romanheld Winston Smith haben die Bewohner im Bungalow trotz aller Technik eine Ecke gefunden, in die Big Brother nicht hineinlinsen kann. Hinter aufgehängten Handtüchern im Badezimmer, zwischen Dusche und Klo, ertrotzten sie sich ein winziges Fleckchen Intimität. Da kommt keine Kamera hin. Claus Christian Malzahn s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Medien JOURNALISTEN Straßenschnüffler a. D. E wie Max und Moritz oder Clever und Smart. Das Land feierte die beiden als Hohe Priester des unbestechlichen Journalismus. Zwei Straßenschnüffler in Schlaghosen hatten es den hochnäsigen Politikreportern gezeigt und das Land von einer korrupten Führung befreit. Für ihre Recherchen erhielten sie den Pulitzerpreis, ihr Buch über Watergate wurde ein Bestseller. Die Verfilmung mit Robert Redford und Dustin Hoffmann machte die beiden Reporter zu Popstars. Ein Ansturm auf die Journalistenschulen begann. Die Schüler wollten dem Vorbild der zwei Männer folgen, die mit viel Fußarbeit und Beharrlichkeit eine Regierung stürzten. Dass dies mit Hilfe eines bis heute unbekannten Informanten – Deckname „Deep Throat“ („Tiefer Schlund“) – geschah, machte den Mythos nur geheimnisvoller. Bob Woodward und Carl Bernstein schienen unverwundbar. Doch nun, 25 Jahre nach Nixons Rücktritt, scheint der Denkmalschutz abgelaufen. Das neueste Buch von Woodward, „Schatten: Fünf Präsidenten und das Erbe von Watergate“, wird von der US-Presse zum Anlass genommen, die Ikonen gehörig abzutropfen. Skandalpolitiker Nixon (1974) „Dieser Präsident wird enthoben“ Offenbar haben etliche Kollegen die Auftritte leid, in denen die beiden Mittfünfziger beharrlich wie Kriegsveteranen das Phänomen Watergate erklären und jedes Gespräch auf ihre ruhmreiche Schlacht von einst lenken. Woodwards Buch kam da wie gerufen, um Dampf abzulassen. Der Erfolgsjournalist unterzog alle Präsidenten seit Nixon einer Art Watergate-Lackmustest. Alle fielen durch. Keiner habe aus Watergate gelernt, klagt der Autor, immer noch versuchten die Herrscher des Weißen Hauses, ihr Volk, die Berichterstatter und vor allem ihn anzulügen. Das war die Vorlage für heftige Kritik. „Man muss fast Mitleid haben mit Bob Woodward“, ätzte das „New York Times Magazine“, „mit jedem Jahr, das ins Land zieht, schwindet Starreporter Woodward, Bernstein (mit Freundin): „Mit jedem Jahr schwindet der Respekt“ der Respekt vor ihm.“ Seine aktuellen Enthüllungen seien eher skurril, spottet das Blatt, etwa dass Hillary Clinton in übersinnlichem Kontakt mit Eleanor Roosevelt stehe und Bill böse sei, weil Tochter Chelsea den Starr-Report lesen wollte. „Entschuldige, Bob, aber dieser Schmutz ist schon ausgegraben“, höhnt das Magazin „Fortune“. Sogar im eigenen Blatt, der „Washington Post“, erschien ein Verriss. Der Spott jedoch ist nur Vorwand. Tatsächlich geht es um eine fundamentale Kritik an der Arbeit von Woodward und auch Bernstein, die bereits an ihrem zweiten und letzten gemeinsamen Buch geäußert wurde: das Verstecken hinter anonymen Quellen, das Konstruieren LIAISON / GAMMA / STUDIO X SIPA PRESS s war früh am Morgen, als den beiden jungen Reportern klar wurde, welcher Sache sie da auf der Spur waren. Sie standen im Großraumbüro der „Washington Post“ vor dem Kaffeeautomaten und verglichen ihre RechercheErgebnisse. Kein Zweifel: Sie hatten eine schwarze Kasse aufgestöbert, kontrolliert von Nixons Gefolgsleuten zu dem Zweck, Opponenten der Demokraten auszuspionieren. „O mein Gott“, sagte Carl Bernstein, damals 28 und Reporter für den Nachbarstaat Virginia, „dieser Präsident wird des Amtes enthoben.“ Sein Kollege Bob Woodward, 29, der sich vor dem seltsamen Einbruch im Watergate-Gebäude dem Problem von Ratten in Hotelküchen journalistisch genähert hatte, starrte ihn an. „O mein Gott, du hast Recht.“ An diesem Morgen im Sommer 1972 wurde Nixons Schicksal besiegelt – doch auch das Schicksal seiner Jäger. Denn als zwei Jahre später der Helikopter mit dem zurückgetretenen Präsidenten vom Rasen des Weißen Hauses abhob, wurden die Watergate-Zwillinge aneinandergekettet. Woodward und Bernstein verschmolzen im kollektiven Gedächtnis zu Woodstein, so unzertrennbar AP Die „Watergate“-Enthüller Bob Woodward und Carl Bernstein haben bis heute mit ihrem frühen Ruhm zu kämpfen. Nun, 25 Jahre nach Nixons Rücktritt, stehen sie selbst in der Kritik. Werbeseite Werbeseite Medien einer Dramaturgie der Unterhaltung zu- verdiente Millionen als Bestsellerautor. liebe. Seine Reputation als Ausnahmejournalist Adrian Havill, der 1993 ein kritisches öffnete ihm alle Türen – nur die zum ChefBuch über die Watergate-Zwillinge schrieb, redakteurszimmer blieb verschlossen. Einmisstraut Woodsteins angeblicher Armee mal hatte er eine Geschichte verantwortet, von kleinen „tiefen Schlünden“. Er be- die den Pulitzerpreis gewann, sich dann zweifelte in seinem Buch „Deep Truth“ aber als Fälschung herausstellte. Nun leidie Exaktheit vieler Quellen und mut- tet er ein eigens für ihn geschaffenes Entmaßte gar, dass „Deep Throat“ nur eine Er- hüllungsressort und verfügt über die besfindung im Dienste der Dramaturgie ge- ten Informanten im Land. Er hat Quellen wesen sei. Als er das Buch recherchierte, direkt im Zentrum der Macht, die nur so weigerte sich Woodward, mit ihm zu reden. sprudeln, wenn er ein neues Buchprojekt „Den Journalismus hat Bob Woodward plant. Das Washingtoner Establishment hinter sich gelassen“, glaubt die konserva- fühle sich geehrt, wenn Woodward mit ihm tive „Washington Times“, „in den Bü- rede, glaubt das Magazin „Washington chern, die Woodward nach Watergate Monthly“. schrieb, waren seine Quellen sogar noch Autor Art Levine sieht Woodward längst geheimnisvoller als ‚Deep Throat‘.“ als Teil dieses snobistischen Washingtoner Der Zorn entlädt sich allein auf Wood- Establishments. Nicht nur, dass er dessen ward, weil Bernstein nicht mehr als Prü- Mitglieder beschütze, er belohne seine erstgelknabe taugt. Er tat sich nach dem klassigen Informanten mit wohlwollender Watergate-Coup mit seiner plötzlichen Be- Berücksichtigung in seinen Büchern. „Sie rühmtheit schwer. Den Film hat er so oft erscheinen gewöhnlich als Quellen sokragesehen, dass er die Realität und den Hol- tischer Weisheit, die ihre sturen, kurzsichlywood-Streifen nicht mehr auseinander tigen Präsidenten eindringlich drängen, die halten konnte. Während der disziplinierte volle Wahrheit im gerade heraufziehenden Woodward brav an die nächste Geschichte Skandal mitzuteilen.“ ging – ein Brand in einem Eckhaus –, verLevine lässt seine Kritik an Woodward ließ seine besser schreibende Hälfte die in einer fragwürdigen Satire gipfeln. Titel: Zeitung und arbeitete erfolgreich an sei- „Die letzten Tage des Dritten Reiches, nem Ruf als Säufer, Partygänger und Schür- wie man es Woodward und Bernstein zenjäger. In New York verprasste Bernstein erzählt hat.“ Dort erscheinen Reichssein Geld mit Frauen wie Bianca Jagger marschall Hermann Göring und SS-Chef und Liz Taylor, er baute Heinrich Himmler als Unfälle im Vollrausch, sympathische Menschen heiratete die Drehbuchund besorgte Bedenkenautorin Nora Ephron, und träger, die versuchen, ließ sich mit großem Traihren bornierten Führer ra wieder scheiden. Adolf Hitler von seinem Zehn Jahre lang schrieb Antisemitismus abzubriner kaum noch. Auch sein gen. Woodward als GeEngagement beim TVschichtsklitterer, so soll es Sender ABC war wenig scheinen. erfolgreich. 1989 erschieBislang hat Woodward nen seine Kindheitserinnur auf einen seiner Peinerungen – und fielen niger reagiert. Der Medurch. Sein hoch dotierdienkritiker Steven Brill ter Zwei-Jahres-Vertrag Woodward, Bernstein (1974) hatte ihm in seiner Zeitmit „Time“ wurde ebenschrift „Brill’s Content“ falls nicht verlängert. Erst 1996 sollte ihm vorgeworfen, er stricke Informationen aus wieder etwas gelingen: Sein Buch über den zweiter Hand ohne Rücksicht auf den Papst wurde ein Verkaufsschlager. Wahrheitsgehalt zu scheinbar authentiHeute schmückt „Vanity Fair“ sein Im- schen Dialogen um. Nur um das Buch bespressum mit dem Namen Bernstein, doch ser vermarkten zu können. sein letzter Beitrag erschien im März 1998. „Hollywoodisierung“ sei das: „Es ist deUm im Gespräch zu bleiben, kündigte er primierend und ein Zeichen unserer Zeit, kürzlich ein neues Buch an – über Hillary dass einer der besten Journalisten … sich Clinton. Fünf andere Autoren haben die mit großem kommerziellem Erfolg entgleiche Idee. schieden hat, seine Leser lieber zu unterTatsächlich tingelt Bernstein vorwiegend halten, als ihnen die ganze Geschichte zu im Vortragszirkus und schimpft für hohe erzählen.“ Gagen über den Niedergang des JournaDaraus entspann sich ein Zweikampf lismus. Weil keiner mehr – so wie er sei- zwischen den beiden Journalisten, der in nerzeit – nach der Wahrheit wühlen wolle, Washington mit großem Vergnügen ververkomme der Journalismus zu Unterhal- folgt wurde. Doch wie immer hatte Woodtungsmüll und kreiere eine Idiotenkultur, ward das letzte Wort. Brill sei von sich zetert er von den Podien des Landes. selbst besessen, so der Starreporter, und Bob Woodward dagegen machte eine wisse nicht, wovon er rede. glänzende Karriere bei der „Post“ und Michaela Schießl 142 d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Medien ZEITSCHRIFTEN Barbusige Grazien Ein Nürnberger Jungverleger ist mit seinen Computer- und Videospielmagazinen deutscher Marktführer – jetzt macht ihm „Computer Bild“ Konkurrenz. W. M. WEBER E mu-ähnliche „Vimps“ grasen auf grünen Auen, „Krabbenmonster“ paaren sich am Strand, und „Verms“ flattern durch die milden Lüfte. Plötzlich verdunkelt sich der Himmel, denn der „gigantische Kabuto“ hat sich auf die Suche nach frischer Nahrung gemacht. Rasch grapscht er sich ein Vimp und verschlingt es. Man muss schon „TAP“ sein, um Computerzeitschriften wie „PC Games“ verstehen zu können. Denn TAPs sind als Technical Advanced Persons technisch Fortgeschrittene und damit die erklärte Zielgruppe des Blattes, von dem monatlich etwa 300 000 Exemplare verkauft werden. TAPs sind typischerweise männlich, 21 Jahre alt, Angestellte oder Studenten, sie sind sportbegeistert und kaufen gern „Energy Drinks“. In ihrer Freizeit sitzen sie vor Computer oder Fernseher und versuchen, in Spielen wie „Abomination“ den Niedergang der Zivilisation zu stoppen, während eklige Schleimbatzen Häuser und Menschen befallen. Oder lassen in „Giants“ düstere Riesenaffen gegen barbusige Grazien antreten. TAPs sind es auch, die Christian Geltenpoth, 29, zum Multimillionär gemacht haben. Denn sie lesen die Zockermagazine („PC Games“, „N-Zone“, „Mega Fun“), mit denen seine Computec Media den deutschen Markt für Computer- und Videospielzeitschriften dominiert. Der Nürnberger hat früh erkannt, dass man auch als Verleger von dem Boom der virtuellen Spiele profitieren kann. Im vergangenen Jahr wurden allein in Europa und in den USA fast neun Milliarden Dollar mit Computerspielen umgesetzt, in vier Jahren sollen es über 17 Milliarden sein, schätzen Marktforscher. Drei Millionen Deutsche gelten in der Branche als Hardcore-Spieler, die einen großen Teil ihrer Freizeit darauf verwenden, Kunstfiguren wie die legendäre Abenteurerin Lara Croft auf ihren Bildschirmen gegen fiese Doggen in Venedig oder wilde Tiger in Indien antreten zu lassen. Jeden Monat kommen etwa hundert neue Spiele dazu, und auch die selbst ernannten „Profis“ unter den ComputerSpielern haben Schwierigkeiten, den Verleger Geltenpoth: Freizeit mit Lara Croft und wilden Tigern 2,0 Spielen und lesen Verkaufte Auflage von ComputerspieleMagazinen 1,5 in Millionen Quelle: IVW 1,0 0,5 1. Halbjahr 1989 1990 1995 1999 Überblick zu behalten. Zudem sind die „Tomb Raiders“, „Command and Conquers“ und „Age of Empires“ nicht billig: Die Software-Pakete kosten in der Regel um die hundert Mark. „Wenn Sie da das Falsche aussuchen, wird es teuer“, sagt Geltenpoth, der mit seinen acht deutschen Spielemagazinen vor allem „Kaufberatung“ anbieten will. Er ist nicht der Einzige, der auf den Daddel-Boom setzt. Inzwischen erscheinen 13 Titel mit einer Gesamtauflage von über 1,7 Millionen Exemplaren. Auch die großen Verlage sind auf den lukrativen Markt aufmerksam geworden. So verbreitet der Heinrich Bauer Verlag seit zwei Jahren mit „Bravo-Screenfun“ (Auflage: 253 000) Tipps, wie man die Spiele überlisten kann („Dumah muss in den Ofenraum gelockt und dort geröstet werden“) und internationale Verlage wie Future („Playstation-Fun-Magazin“) oder IDG („Game Star“) machen dem deutschen Pionier Konkurrenz. Doch die größte Herausforderung steht dem Jungunternehmer noch bevor: Am Mittwoch wird der Springer-Verlag seine d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 „Computer Bild Spiele“ mit einer Startauflage von etwa einer Million in den Markt drücken. Der Ableger von Europas größter Computerzeitschrift soll nach dem Willen der Hamburger Verlagsstrategen auf Anhieb die Nummer eins werden. „Richtig ist, dass wir Marktführer werden wollen“, tönte „Computer Bild“-Chefredakteur Harald Kuppek im Branchenblatt „Werben & Verkaufen“. Im Gegensatz zu den meisten Magazinen, die von Spezialisten für Spezialisten gemacht würden, will Kuppek auf die „typischen ‚Bild‘-Tugenden“ setzen: „klare, einfache Aussagen und eine Schreibe, die auch Lesespaß vermitteln soll“. Jedes Spiel soll aufwendig in einem eigenen Labor in München auf 36 unterschiedlichen PC getestet werden. Die erste Ausgabe ist 256 Seiten dick, enthält eine CD-Rom und erscheint im gleichen Format wie „Computer Bild“. „Kuppek ist ein Sprücheklopfer, dem im Spielemarkt jede Kompetenz fehlt“, macht sich Geltenpoth Mut, doch Stephan Scherzer vom Konkurrenzverlag IDG sieht die Herausforderung kritischer: „Im Anzeigenbereich wird es eng.“ Geltenpoths Mannschaft hat umgehend reagiert. Zeitgleich mit dem Konkurrenzblatt aus Hamburg werden die Nürnberger ihr „PC Games“ in einem neuen Design anbieten. Doch die Aufmerksamkeit des jungen Chefs ist derzeit abgelenkt: In diesen Tagen wird er in den USA zwei neue Spielemagazine einführen, die er mit einer 15 Millionen Mark teuren Werbekampagne ganz nach oben katapultieren will. Denn: „Nur der Marktführer in den USA kann Weltmarktführer werden.“ Selten nur noch setzt sich Geltenpoth an den Computer, um virtuelle Monster zu jagen: „Geschäfte zu machen ist spaßiger“, sagt er. Konstantin von Hammerstein 145 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Gesellschaft Szene PSYCHOLOGIE MODE Meinungsstarkes Europa B isher gingen Modemacher diesem Material aus dem Weg: Wattierte Stoffe schienen allein für den Skisport zu taugen und für Farmer in Alaska. Dass der mit Daunen oder Baumwollvlies gefüllte Stoff nicht bloß wärmt, sondern auch Eleganz ausstrahlen kann, war unbekannt. Aber dann ließen Jean-Paul Gaultier, Helmut Lang und Gianfranco Ferré aus wattiertem Material lange Röcke und Abendkleider schneidern. Hochbeinige Nachtschwärmerinnen sind damit bestens gekleidet. Auch Damen, die morgens schwer aus den Federn kommen, können sich auf diese Winterröcke freuen. In sie gehüllt, kann man den Morgenschlaf verlängern, und wer nachts auf der Tanzfläche vor Erschöpfung umfällt, fühlt sich gleich wie zu Hause im Bett, als habe er alles Schöne oder Enttäuschende des Abends bloß geträumt. Wattierter Rock von Gaultier J. DIMMOCK ine britische Telefongesellschaft hielt es vor kurzem für angebracht, Broschüren zu verschicken, in denen erklärt wird, wie man ein verständliches und vernünftiges Gespräch führt. Wer nun glaubt, das müsse und könne jedes miteinander kommunizierende Paar selbst entscheiden, der hat ein dickes Fell oder taube Ohren. Nach Ansicht des britischen Historikers und Rundfunk-Autors Theodore Zeldin, 66, ist die Kunst des Gesprächs auf den Hund gekommen. Als interessantes Gespräch lässt Zeldin dabei nur jenes gelten, das wir „mit der Bereitschaft beginnen, aus ihm als ein etwas anderer Mensch hervorzugehen“. Verheerend wirkt das Vorbild der Talkshows. Hier beschränkt sich der Wille des Einzelnen auf das Reservieren oder Erkämpfen von Redezeit. Statt miteinander zu sprechen, wird gegeneinander argumentiert. Statt sich der Wahrheit anzunähern, möchte man eine Auseinandersetzung gewinnen. Wie sooft kommt das Schlimme aus Amerika, während das alte Europa noch Zeldin wacker um Werte kämpft: Streitigkeiten unter Kindern, förderte eine Untersuchung zu Tage, hatten bei 31 Prozent der italienischen Sprösslinge Meinungen und Ansichten zum Gegenstand, beim amerikanischen Nachwuchs kümmerten sich bloß 6 Prozent um solche Stilfragen. Der Rest stritt vorwiegend um Spielzeug und andere Gegenstände, was die kleinen Italiener nur halb so häufig interessierte. Es gibt aber auch Positives zu vermelden: Theodore Zeldins gelehrte und witzige BBC-Sendungen über den elenden Zustand unserer Gesprächskultur sind jetzt auf Deutsch erschienen („Der Rede Wert – Wie ein gutes Gespräch Ihr Leben bereichert“. Malik-Verlag, München; 120 Seiten; 24,80 Mark). Wenn man auch nicht als ein anderer Mensch aus der Lektüre hervorgeht, so doch mit dem Gefühl, gut unterhalten worden zu sein. H AU P T S TA D T Berlins allerletzter Frauenfreund S H. FUCHS E Daunen für Nachtschwärmer Mike W. d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 ind Heteros in Berlin eine gefährdete Spezies? Diesen Eindruck vermittelt jedenfalls ein jüngst auf den Markt gebrachtes T-Shirt mit der Aufschrift „Last Hetero Berlin“. Wer sich damit auf die Straße traut, kann sich auf unterschiedlichste Reaktionen gefasst machen. „Männer schauen betreten weg“, erzählt der T-Shirt-Schöpfer und Graffiti-Künstler Mike W., „Frauen lächeln mich komplizenhaft an.“ Ein anderer Träger, der in dem Hemdchen in der Brandenburger Provinz joggte, wurde von einem kahl geschorenen Jugendlichen „Schwein“ gerufen. Das auf 1000 Stück limitierte Shirt ist inzwischen ein heiß begehrtes Sammelobjekt – besonders bei Berliner Schwulen. 149 Sänger Gildo (im April 1997 in Schenefeld bei Hamburg): „Das muss sehr hart für ihn gewesen sein“ S TA R S „Er kam, sang und ging wieder“ Vierzig Jahre lang trug der ewige Sonnyboy Rex Gildo unermüdlich Schlager wie „Fiesta Mexicana“ und „Speedy Gonzales“ vor – zuletzt auf Betriebsfesten in der Provinz. Isolation, Liebeskummer und Alkohol gelten als Motive für Gildos tödlichen Fenstersturz. V or dem Eingang der Universitätsklinik in der Münchner Nußbaumstraße lungerten am vergangenen Dienstagnachmittag gelangweilt rund ein Dutzend TV- und Zeitungsreporter. Manche schliefen zwischendurch in ihren Autos, andere lehnten an den Übertragungswagen. Sie warteten auf Nachricht von Rex Gildo: Schafft es das Herz? Funktioniert die Lunge? Stehen seine Überlebenschancen immer noch fünfzig zu fünfzig? Ansonsten blieb es vor und im Krankenhaus erstaunlich ruhig. Es lagen keine Blumen vor der Tür, es waren keine Postsäcke voller Genesungswünsche angekommen, und kein einziger Fan bangte vor dem Hospitaleingang um das Schicksal des Schlagerhelden: trauriger Beleg für die Vermutung, der Hitparaden-Veteran habe zuletzt nur noch wenige Bewunderer gehabt. 150 Oben, auf der Intensivstation, lag Gildo im Sterben. Beim Sturz aus dem Badezimmer-Fenster einer Wohnung in der Münchner Ottostraße hatte er am Wochenende zuvor mehrere Knochenbrüche und schwere innere Verletzungen erlitten, darunter eine Herzquetschung und einen Milzeinriss. In der Nacht, um 23.45 Uhr, versagte das Herz, der Kreislauf brach zusammen. Die Ärzte hatten sich vergebens bemüht. „Verzweifelt. Einsam. Angst vorm Altern“ – so erklärte „Bild“ den Fenstersturz von Gildo am vergangenen Montag. Nach dem offensichtlichen Selbstmordversuch des Entertainers spekulierten Medienleute, Kollegen und Branchenkenner über die Motive des unglücklichen Stars. Die „Zeit“ hämte in einer Glosse: „Der * Peggy March, Roy Black, Ireen Sheer in den achtziger Jahren. d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Schlagerstar Gildo, Kollegen*: Gnadenloser Gesellschaft CMK IMAGES / ACTION PRESS die anderen Kosten: für die tadellosen AnEs gibt Parallelen zu Roy Black, der vor züge, für den Friseur. 200 Auftritte pro Jahr, acht Jahren allein in einer bayerischen Fisagt Gildos Manager Uwe Kanthak, habe scherhütte starb. Offizieller Befund: Herzder Sänger absolviert, Beierlein vermutet, versagen, Sohn Thorsten sprach von Selbstes seien eher 50 gewesen. Vom ironisch- mord. Berichte über Alkohol-Exzesse und nostalgischen Schlager-Revival der vergan- Depressionen waren dem Tod Roy Blacks genen Jahre hatte er nicht profitiert. vorausgegangen. Der Sänger verabscheute 40 Jahre lang hatte Gildo der Öffentlich- die Schlager, mit denen er identifiziert wurkeit die immer gleiche perfekte Oberfläche de. Er hätte lieber Rock’n’Roll gesungen. präsentiert: blaugrüne Augen, braune Haut, Ähnliches wird nun auch von Gildo belakritzschwarze Haare, elegante Anzüge, richtet – doch das Publikum verlangte von Zahnpasta-Lächeln. So war er angetreten, beiden Stars die immer gleichen alten Hits. als er in den Sechzigern Hossa, hossa. „Gildo war und Siebzigern mit „Das seine eigene Marionette Ende der Liebe“, „Fiesta geworden“, sagt sein Mexicana“ oder „Speedy Komponist Willy Klüter. Gonzales“ berühmt wurGildos Kollegen, die de; so wollten ihn die Zuwie er von Betriebsfeier schauer sehen, wenn er in zu Stadtfest tingeln, haden achtziger und neunben oft keine andere ziger Jahren in FernsehWahl: Gegen Costa Corshows, bei Stadtfesten dalis eröffnete das Amtsund Kaufhauseröffnungen gericht Freudenstadt im sang. Dezember 1998 ein KonAm vorletzten Samstag kursverfahren, weil er war der Schlagersänger fast drei Millionen Mark bei der Jubiläumsfeier eiSteuerschulden hatte. nes Möbelhauses in Bad Werner Böhm alias GottVilbel aufgetreten. „Gildo lieb Wendehals wurde wirkte unfit, litt an einer wegen SteuerhinterzieVirusinfektion und reiste hung zu 14 Monaten auf früher als geplant ab“, Bewährung verurteilt; er sagt ein Angestellter des Unglücksort in München bekannte sich, AlkoholiGeschäfts. Es muss ein ker zu sein. Desaster für Gildo gewesen sein. „Der ist Im Juni veröffentlichte Gildo sein neues doch besoffen“, „Zieh mal an seiner Album „… sonst gar nichts“. Die VerkäuPerücke“, „Singt er oder lallt er?“, schrie fe, so Karl-Heinz Voell von der Plattendas Publikum, wie zwei Gäste berichteten. firma Koch International, hätten die ProAbends besuchte Gildo seinen Freund duktionskosten jetzt schon eingebracht, und Privatsekretär in München. Um 20.10 obwohl „deutsche Interpreten sich eher Uhr rief dieser den Rettungsdienst. Als langfristig verkaufen“. Genaue Zahlen will die Sanitäter eintrafen, hatte der Sänger Voell nicht nennen. Nach dem Tod ihres sich im Badezimmer eingeschlossen und Stars kündigte die Firma ein Doppelalbum rief dem Notarzt zu, dass alles in Ord- mit dem Titel „Unvergesslich“ an. nung sei. Sekunden später muss er über An den Lizenzen seiner alten Hits verdie Badewanne zum Fenster geklettert diente Gildo wahrscheinlich nur wenig. sein. Er stürzte acht Meter in die Tiefe und Zwar ist er auf den vielen, regelmäßig erblieb schwer verletzt auf dem Rasen liegen. Nach Gildos Fenstersturz wurden sofort Skandalberichte aus den vergangenen Jahren herbeizitiert: 1993 forderte ein badischer Wäscheversand die Gage vom Sänger zurück, weil dieser betrunken auf die Bühne getorkelt sei. Gildo stritt die Vorwürfe ab, ließ sich jedoch auf einen Vergleich ein. Sein Image blieb beschädigt. Mal erklärte er sein unsicheres Auftreten mit Cortison-Spritzen, mal mit Schmerzmitteln, mal mit den Nebenwirkungen von Erkältungsmedikamenten. Als wieder einmal ein Veranstalter behauptete, Gildo sei betrunken, ließ der Schlagerstar noch vor Ort einen polizeilichen Alkoholtest machen. Ergebnis: 0,0 Promille. Die Gerüchte blieben. Parodist Horn: Nostalgische Witzfigur KASNITZ Umgang mit den Kultfiguren d e r DPA SCHNEIDER-PRESS deutsche Schlager ist aus dem Klofenster gesprungen.“ Sah sich der Sänger, 60 – nach anderen Angaben 63 –, vom Ruin bedroht? „Ich warne davor anzunehmen, Gildo sei als reicher Mann gestorben“, sagt der Musikmanager Hans Beierlein. Für Auftritte auf Betriebsfesten und in Möbelmärkten werde den Altstars oft nicht mehr als 5000 Mark bezahlt. Manchmal müssten sie sogar noch die Musikanlage mitbringen, wenn sie nicht über schrammelige Lautsprecher singen wollen; oft bewegten sie auch nur die Lippen zum dröhnenden Playback. Und dann s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 151 scheinenden Schlager-Hitsammlungen mit einem Stück vertreten – doch erhielt er, wie in dem Geschäft üblich, nur Pfennigbeträge pro verkauftes Album. In der Branche wussten viele von Gildos zunehmender Verzweiflung. „Rex Gildo erzählte mir, wie einsam und verlassen er sich fühlt“, sagt Uwe Hübner, Moderator der „ZDF-Hitparade“. In der Sat-1-Sendung „Akte 99“ wurde eine „langjährige Freundin“ Gildos vorgestellt, die von früheren Suizidankündigungen berichtete. Die Mitleidsbezeugungen und Erklärungsversuche seiner Kollegen offenbaren nun, wie isoliert der Sänger war. Ralph Siegel, der „Fiesta Mexicana“ komponiert hatte, erklärte, er sei mit Gildo „auf liebenswerte Weise“ befreundet gewesen, habe aber schon lange nicht mehr mit ihm zusammen gearbeitet, schließlich habe er „einen großen Stall von Künstlern“. Conny Froboess nutzte die Gelegenheit, das Showgeschäft zu kritisieren, „das gnadenlos mit seinen Kultfiguren umgeht, von denen es lebt“. Gitte Haenning, mit der Gildo einst erfolgreich Duette sang, gab Belangloses wie „Er hat sein Publikum immer geliebt“ von sich. Costa Cordalis behauptete, der Sänger habe das Altern nicht ertragen. Bernhard Brink erklärte, Gildo habe nicht anders gekonnt, als „diesen Pseudo-Beau zu spielen“, und müsse sehr verzweifelt gewesen sei. Die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Schlager empörte sich über „geschmacklose Profilierungsversuche einiger Kollegen“. „Er kam ins Studio, sang und ging wieder“, sagt Gildos Komponist und Produzent Klüter, „das war ganz merkwürdig, da war eine Wand.“ Persönliches wurde nie besprochen. Aber sehr liebenswürdig und respektvoll sei der Sänger gewesen; „zu Weihnachten“, so Klüter, „schickte er mir einen Kaschmir-Schal“. Das satirische Schlager-Revival, in den vergangenen Jahren in Gang gesetzt von singenden Komikern wie Guildo Horn und Dieter Thomas Kuhn, widersprach der ernsten Selbstinszenierung von Rex Gildo und war deshalb für ihn keine ComebackChance, sondern eher eine Verhöhnung seiner Person. „Das muss sehr hart für ihn gewesen sein“, vermutet der Schlagersänger Jürgen Drews. Dieser müht sich seinerseits um ironische Distanz zur Witzfigur „Onkel Jürgen“, die er auf der Bühne mimt. Auf Mallorca, so Drews, habe ein aufgeheiztes Publikum zur Melodie von „Yellow Submarine“ gegrölt: „Jürgen Drews ist homosexuell!“ Verblüfft sei er gewesen und dann amüsiert. „Aber was wäre wohl passiert“, sagt Drews, „wenn Rex Gildo an meiner Stelle gewesen wäre?“ Zumindest öffentlich ging Alexander Ludwig Hirtreiter, wie der Sänger mit bürgerlichem Namen hieß, nie auf Distanz zum schön-schmalzigen Schlagerstar und d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Gesellschaft Frauenschwarm Rex Gildo, als der er 1960 mit „Sieben Wochen nach Bombay“ bekannt wurde. Zuvor hatte der gebürtige Münchner eine Handelsschule besucht – sein Vater hatte ihn dazu gezwungen. Doch Gildo wollte unbedingt ins Showgeschäft. Er überzeugte schließlich seinen Vater und machte eine Schauspiel-Ausbildung an der Münchner Otto-Falckenberg-Schule. Außerdem nahm er jahrelang Tanz- und Gesangsunterricht. Das zahlte sich aus: Gildo galt als einer der besten Tänzer unter den deutschen Showstars. Seine Theaterkarriere begann er 1956 mit „Peterchens Mondfahrt“ an den Münchner Kammerspielen. In „Immer wenn der Tag beginnt“ hatte er 1957 erstmals eine kleine Filmrolle. Zwei Jahre später rief er Autogrammsammler in seinen Antwortbriefen dazu auf, Filmproduzenten und Plattenfirmen um neue GildoWerke zu bitten. Bei der deutschen Uraufführung von „My Fair Lady“ im Berliner Theater des Westens übernahm er 1961 den Part des Freddy. 1962 kam der Durchbruch: Mit „Speedy Gonzales“ landete er einen großen Hit. Pin-up-Model Gildo (1962): Erfolg in jungen Jahren Insgesamt spielte Gildo in 30 Unterhaltungsfilmen mit, nahm Duette mit Conny Froboess und Gitte auf („Vom Stadtpark die Laternen“) und sang Schuberts „Winterreise“ fürs Radio. Mehr als 25 Millionen Platten verkaufte er. „Wer in jungen Jahren Erfolg hat“, sagt der Manager Beierlein, habe es „später umso schwerer“, den Abstieg vom Gipfel des Ruhms zu überstehen. Und schnell verdientes Geld sei schnell wieder ausgegeben. Schon zu Anfang seiner Laufbahn bedauerte Gildo, wie schwierig es für einen Schlagersänger sei, eine ernste Theateroder Fernsehrolle zu bekommen. Ihm jedenfalls ist es nie gelungen, und so musste er sich beispielsweise damit begnügen, im Schlagerduo Gitte, Gildo (1963) richtigen Leben mit Gitte das Traumpaar Inszenierte Liebesgeschichte zu spielen. Die allerdings erklärte einmal auf die Frage nach ihrer besten Leistung im Showgeschäft: „Das war meine ‚Liebesgeschichte‘ mit meinem Partner Rex Gildo. Die hat aber kein Regisseur inszeniert, sondern ein Pressechef.“ Gerüchte, er sei homosexuell und führe mit seiner Kusine Marion eine Scheinehe, haben Gildo seine Karriere lang verfolgt – er selbst hielt strikt am Image des sanften Heteros fest. Der Abschied vom „Hossa, hossa“ singenden Sonnyboy hätte vermutlich das Karriere-Aus bedeutet. „Es passiert selten, dass Musiker mit verschiedenen Stilen erfolgreich sind“, sagt der Komponist Klüter. Einmal habe Gildo erzählt, seine Fans wollten Texte auf Grönemeyeroder Westernhagen-Niveau hören. Als ihm dann anspruchsvollere Lieder vorgelegt wurden, habe er einen Rückzieher gemacht: Der Stoff passe nicht zu ihm. Der Musik-Manager Manni Schulte hat Gildo oft zu Rundfunk- und Fernsehauftritten begleitet. „Er war einer der nettesten Künstler überhaupt, und ich kenne fast alle“, sagt Schulte, „aber er hatte ein Problem: Ohne sich auf den Sockel zu heben, sah er alles durch eine rosarote Brille. Er hat nicht ganz mitbekommen, dass die musikalische Landschaft sich verändert hat.“ In der Hörerhitparade des SWR 4 zum Beispiel liegt sein „Fiesta Mexicana“ auf Platz 213. Bei einer Hamburger Schlagerparty im Mai dieses Jahres, zu der auch Gildo als Stargast eingeladen war, erschienen statt der erwarteten 3000 Gäste nur 185. Die Veranstaltung wurde abgesagt. Wenn jüngere Zuhörer sich über Gildo lustig machten, erzählt Schulte, habe der gesagt: „Lass doch denen ihren Spaß. Die finden eben AC/DC gut.“ Offenbar hat Rex Gildo die rosarote Brille am Ende doch abgenommen. Marianne Wellershoff Gesellschaft „Ron’s Angels“-Website: „Frauen wollen Schutz“ FORTPFLANZUNG Schönheit gegen Kasse Ein US-Fotograf offeriert im Internet Eizellen von hübschen Models – und macht mit dem Medien-Wirbel ein prächtiges Geschäft. 154 A. SIEBMANN L os Angeles ist bekannt dafür, ein Ort moderner Katastrophen zu sein, und deshalb ist es kein Wunder, dass – nach komplett verriegelbaren Wohnvierteln, Nasenoperationen für 12-Jährige und neuartigen Killerbienen – letzte Woche eine weitere Desaster-Variante auf die Menschheit losgelassen wurde. Ein Mann namens Ron Harris, 66, versteigert auf seiner Website „Ron’s Angels“ die Eizellen von Fotomodellen, hofft auf einen Stückpreis von mindestens 15 000 Dollar und will mit einer Provision von zusätzlich 20 Prozent seine Konten füllen. Allein am ersten Tag konnten Rons Engel mehr als fünf Millionen Hits verbuchen, und wem Foto und Nummer der Models nicht genügten, der konnte nach der Zahlung von 24,95 Dollar auch noch andere zur Fortpflanzung wichtige Details erfahren: zum Beispiel die Oberweite der auserwählten Eizellenspenderin. Ein Ehepaar bot sofort 42 000 Dollar, aber Harris hat es nicht eilig, denn das meiste Geld, so steht zu vermuten, verdient er mit den Zusatzinformationen, die er den Neugierigen verkauft. Schon deshalb hatte der Eizellen-Auktionator rechtzeitig zur Geschäftseröffnung merkwürdige Evolutionstheorien verbreitet, die klangen, als hätten sie sich Charles Darwin und „Playboy“-Chef Hugh Hef- Models auf dem Laufsteg „Männer wollen Sex“ ner im Vollsuff ausgedacht. „Das ist natürliche Auslese at its very best“, pries Harris seine Plastikgesichter. „Wer am meisten zahlt, bekommt Jugend und Schönheit.“ Leute, die in ihm einen sonnenhirnverbrannten Lifestyle-Nazi sehen, versuchte er mit folgender Weisheit zu beruhigen: „Ich schlage hier nicht vor, eine Super-Gesellschaft der schönen Menschen zu schaffen. Diese Website spiegelt lediglich unsere gegenwärtige Gesellschaft, in der Schönheit immer dem zuteil wird, der am meisten dafür zahlt.“ Aufklärung im Zeitalter der Silikonkissen. Aber Kant hin oder her – am Ende kommt es beim Überlebenskampf der Schönen auch auf Kleinigkeiten an: „Wenn Sie die Chance erhöhen könnten, schöne Kinder zu bekommen und ihnen daduch das Leben später leichter zu machen, würden Sie das tun?“, fragt er scheinheilig und d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 reproduziert damit jenes Klischee, das der Rest der Welt insgeheim für viele Kalifornier bereithält: groß, blond, muskelbepackt und völlig verblödet. Auf ein Echo des aufrechten Amerika musste der Internet-Marktschreier nicht lange warten. Religiöse Verbände wetterten, aber am aufgebrachtesten protestierten ausgerechnet jene Agenturen und Kliniken, die seit Jahren fremde Eizellen an fortpflanzungswillige Paare verhökern. „Das ist Furcht erregend und schrecklich, und das Schlimmste ist, dass sicher noch viel grauenhaftere Dinge geschehen werden“, sagte Shelley Smith, Direktorin des „Egg Donor Program“ in Los Angeles. Dabei ist es in den USA seit Jahren durchaus üblich, dass Spenderinnen ihre Eier samt Passfoto, High-School-Abschlußnote und Stammbaum im Internet anpreisen. Nur eben für rund 5000 Dollar und nicht unter dem Versteigerungshammer eines Ron Harris, der dazu recht einfache Vorstellungen von glücklichen Partnerschaften hat: „Männer versuchen doch nur, Frauen das zu geben, was sie wollen, nämlich Schutz und Unterstützung, und dafür wollen Männer im Austausch wilden Sex.“ Wahrscheinlich nennt man so etwas kalifornische Lebenserfahrung – fest steht jedenfalls, dass Harris, bevor er zum Herrenmenschen mutierte, jahrelang für Herrenmagazine Fotos und Videos produzierte und auf einer Ranch Hengste züchtete. Auch die Produktion des eigenen Nachwuchses betrieb er eifrig. In insgesamt vier Ehen zeugte er drei Kinder, „aber erst mein drittes Kind ist schön“. Rons Engel sollen dafür sorgen, dass solch qualvolle Versuchsreihen endgültig der Vergangenheit angehören. Gerätselt wird zur Zeit nur noch, in welchen Metiers die angeblichen Spenderinnen – von ursprünglich acht sind inzwischen fünf vor dem ersten Eisprung abgesprungen – tätig waren, ehe sie ins Muttergewerbe gewechselt sind. Fest steht nur, dass die bekannteste Anbieterin im ursprünglichen Gen-Pool eine Dame namens Nicole Newman ist, die vor ein paar Jahren in der amerikanischen Krimiserie „Homicide“ als Leiche auftrat. Jetzt ist sie 25 Jahre alt und möchte Musik studieren, und weil das College 28 000 Dollar kostet, will sie mit ihrem Ei einen Ertrag von 30000 Dollar erzielen. „Auf diese Weise“, sagt sie, „muss ich nicht bei meinen Eltern anrufen und um Geld betteln.“ Vorbildlich auch, dass sie nie etwas nicht Vorbildliches getan hat: nie geraucht, nie getrunken, nie Drogen genommen. „Mein einziges Laster“, sagt sie, „ist, dass ich zu oft ins Fitness-Studio gehe.“ Da ist es doch auch völlig egal, dass – selbst wenn die Fortpflanzung optimal verläuft – gefärbte Haare, operierte Nasen und aufgespritzte Lippen nicht vererbbar sind. Thomas Hüetlin Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Ausland FOTOS: DPA ( li.); REUTERS ( re.) Panorama Polizeieinsatz bei einer Demonstration Oppositioneller in Minsk, belorussischer Präsident Lukaschenko BELORUSSLAND Traum von der Slawenunion D ie „stolzen und freien Völker Belorusslands und Russlands“ will Alexander Lukaschenko, autoritärer Machthaber von Minsk, so rasch wie möglich vereinigt sehen – gegen den Westen und die Nato. Ein anderthalbstündiges Plädoyer des belorussischen Präsidenten für die Wiederherstellung der Union mit Moskau vor der russischen Staatsduma am Mittwoch voriger Woche quittierten die meisten Abgeordneten mit stehenden Ovationen. Lediglich die Liberalen der Jabloko-Fraktion waren dem Auftritt fern geblieben. Sie hatten vergebens versucht, in der Duma eine Verurteilung von Polizeiausschreitungen gegen einen so genannten Freiheitsmarsch von 20 000 Oppositionsanhängern in Minsk zu erreichen. Laut Lukaschenko soll der Protest vom amerikanischen Geheimdienst inszeniert worden sein. In der künftigen Slawenunion, wie sie dem früheren Direktor eines sowjetischen Staatsguts vorschwebt, dürfe es keine „Oligarchen und Kriminelle“ mehr geben und niemanden, der „vor den Schurken des Internationalen Währungsfonds niederkniet“. Bislang waren Lukaschenkos Großrussland-Pläne am Hinhalten des Kreml gescheitert. Aus Sorge, zu viele Russen könnten sich für den Mann aus Minsk erwärmen, hatte Russland Anfang Oktober für die Unionsspitze lediglich einen gemeinsamen Staatsrat vorgeschlagen. Dieses Projekt geht Lukaschenko längst nicht weit genug: Er will einen baldigen Volksentscheid zwischen Brest und Wladiwostok auch darüber, ob das Volk einen gemeinsamen Präsidenten wünscht und welchen. Zum Beispiel: Lukaschenko. I TA L I E N Gnade vor Recht ergangenheitsbewältigung auf italienisch: Nach dem Freispruch des siebenmaligen christdemokratischen Regierungschefs Giulio Andreotti vom Vorwurf der Zugehörigkeit zur Mafia wird nun die Rehabilitierung seines langjährigen sozialistischen Koalitionspartners, Bettino Craxi, betrieben. Craxi, von 1983 bis 1987 Ministerpräsident, war der erste prominente Politiker, gegen den 1992 eine Gruppe junger Mailänder Staatsanwälte ermittelte. Ihre Untersuchung „Mani pulite“ (Saubere Hände) stieß schnell auf einen Sumpf von Schmiergeldern, Parteispenden und Mafia-Connections. Mächtige Parteien, wie Andreottis Democrazia Cristiana und Craxis Partito Socialista Italiano lösten sich auf. Craxi, der in verschiedenen Verfahren zu M. HORACEK / BILDERBERG V Craxi im tunesischen Exil d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 mehrjährigen, teilweise rechtskräftigen Haftstrafen verurteilt wurde, entkam 1994 ins tunesische Hammamet. Aus Gesundheitsgründen wird nun seine straffreie Heimkehr betrieben: Ein unbefristeter Haftaufschub wegen Craxis schwerer Zuckerkrankheit schien sogar dem Mailänder Chefankläger Gerardo D’Ambrosio angemessen. Auch die regierenden Linksdemokraten von Ministerpräsident Massimo D’Alema hatten gegen einen „Akt der Menschlichkeit“ nichts mehr einzuwenden. Sie befinden sich in schwierigen Koalitionsverhandlungen unter anderem mit Craxis sozialistischen Nachfolgern und Freunden. Ein solcher Gnadenerweis passt ins neue politische Klima Italiens. Weil von rund 500 Verurteilten nur 2 hinter Gitter mussten, wandten sich die Italiener enttäuscht oder gelangweilt von den Vorhaben der Justiz ab, die Affären der so genannten Ersten Republik strafrechtlich zu ahnden. 157 Panorama INDONESIEN Kapital zurückholen B ei seiner Regierungsbildung überraschte Indonesiens erster demokratisch gewählter Präsident Abdurrahman Wahid, 59, weil es ihm gelang, die Macht des Militärs zu schwächen. So hat Wahid das Verteidigungsministerium an einen Zivilisten übergeben. Der Politikwissenschaftler Juwono Sudarsono, 57, soll sicherstellen, dass die Soldaten sich in Zukunft auf die Landesverteidigung beschränken. Die Schlüsselrolle in der 35-köpfigen Ministerriege wird Kwik Kian Gie, 64, übernehmen – ein enger Vertrauter von Vizepräsidentin Megawati Sukarnoputri. Der in den Niederlanden ausgebildete Ökonom gehört der finanzstarken chinesischen Minderheit an, die nach den von Teilen des Militärs gesteuerten Unruhen im Landemanöver der Volksbefreiungsarmee in der Festlandsprovinz Fujian gegenüber CHINA „Wir werden siegen“ Oberst Wang Baoqing, 48, Forscher an der Akademie für Militärwissenschaften in Peking, über die Haltung der chinesischen Armee zum Taiwankonflikt AP SPIEGEL: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit eines Krieges mit Taiwan? Wang: Sie liegt wohl bei 50 Prozent. SPIEGEL: In welchem Fall wäre ein Angriff unvermeidbar? Wang: Wenn die Regierung in Taipeh sich für unabhängig erklärt. Aber auch wenn sie zu lange an der so genannten ZweiLänder-Theorie festhält, ist eine militärische Lösung nicht ausgeschlossen. SPIEGEL: Kann die Volksbefreiungsarmee Taiwan überhaupt besiegen? Wang: Zwar ist Taiwan eine relativ starke Militärmacht, aber wir würden in jedem Fall siegen. Die Volksbefreiungsarmee ist zahlenmäßig überlegen und besser ausgerüstet. Vor allem haben wir einen wichtigen strategischen Vorteil: Wir können entscheiden, wann Superminister Kwik, Präsident Wahid Frühjahr 1998 aus dem Land geflohen war. Kwik soll als Superminister für Wirtschaft, Finanzen und Industrie die Chinesen ermutigen, ihr Kapital wieder in dem von der Asienkrise gebeutelten Land anzulegen. Dass Präsident Wahid den Posten des Generalstaatsanwalts an den Menschenrechtler Marzuki Darusman, 53, vergeben hat, ist ebenfalls ein Beweis für das politische Geschick des schwer sehbehinderten Staatschefs. Obwohl Marzuki der einstigen Regierungspartei Golkar von Ex-Präsident Bacharuddin Jusuf Habibie und seinem Mentor Suharto angehört, hat der Diplomatensohn nie verheimlicht, dass er den ehemaligen Diktator für Verbrechen während seiner Amtszeit zur Rechenschaft ziehen will. Um die nach wie vor einflussreichen Militärs ruhig zu stellen, berief Wahid neben dem früheren Armeechef Wiranto, 52, weitere fünf hohe Offiziere ins Kabinett, die jedoch ausnahmslos dem demokratischen Reformflügel der Streitkräfte zugerechnet werden. 158 KOREA Angst vor dem Gifttod D ie 600 000 Soldaten der südkoreanischen Armee sollen in einer Blitzaktion gegen tödliche MilzbrandBakterien und Pocken geimpft werden. Grund für die Eile: In einem Weißbuch erklärt das Verteidigungsministerium in Seoul, „die chemische und biologische Bedrohung aus Nordkorea“ sei unterschätzt worden. Nach neuen Erkenntnissen könnten die feindlichen Brüder im Norden bis zu 5000 Tonnen B- und C-Waffen mit Artilleriegranaten und Raketen verschießen – fünfmal mehr als angenommen. Pjöngjang halte zehn verschiedene Typen solcher Massenvernichtungswaffen bereit. Schon bei einem Angriff mit 50 Raketen, die nur zu einem geringen Teil von den im Süden stationierten amerikanischen „Patriot“Raketen abgeschossen werden könnten, müssten in der Zwölf-Millionen-Stadt d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Produktion chemischer Waffen Lagerung chemischer Waffen Einrichtungen für biologische Waffen CHINA NORDKOREA Japanisches Meer Pjöngjang Demarkationslinie Seoul Quelle: Federation of American Scientists SÜDKOREA 100 km Seoul bis zu vier Millionen Einwohner sterben. Besonders gefährdet sind auch die 37 000 in Südkorea stationierten USSoldaten. Ein nordkoreanischer Überläufer berichtet, dass Diktator Kim Jong Il glaubt, er könne einen Krieg gewinnen, wenn 20 000 GIs getötet werden. Ausland USA XINHUA / CORBIS SYGMA Wang: Bis zum Einsatz dieses Systems Taiwan der Kampf beginnt, auf welche Weise und aus welcher Richtung er geführt wird. Taiwan kann sich nur passiv verteidigen. SPIEGEL: Experten sagen, Sie hätten nicht genug Schiffe, um die Insel zu erobern. Wang: Das stimmt nicht. Zudem können wir auch mit taktischen Raketen angreifen. SPIEGEL: Dann wären Ihre Landsleute Ihrer Ansicht nach zwar frei, aber tot. Wang: Wir würden ja nicht blind angreifen, sondern nur militärische Ziele attackieren. SPIEGEL: Die Taiwaner suchen bereits Schutz unter einem amerikanischen Raketenabwehrsystem. Explosion der Armut werden noch einige Jahre vergehen. Außerdem ist bei der geringen Entfernung zwischen dem Festland und Taiwan ein Raketenabwehrsystem nur bedingt wirksam. Es gibt noch viele andere Möglichkeiten des Kampfes. SPIEGEL: Welche zum Beispiel? Wang: Eine Seeblockade oder eine schrittweise Eroberung, die mit der Einnahme der vorgelagerten Inseln beginnt. Hinzu kommen moderne Kampfformen wie ein Handels-, Finanz-, Internet- und Elektronikkrieg. Wir wollen auf jeden Fall die Verluste der Bevölkerung soweit wie möglich vermeiden. SPIEGEL: Müssen Sie nicht ein Eingreifen der Amerikaner fürchten, falls es zu einem konventionellen Krieg kommt? Wang: Wir haben keine Angst. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Amerikaner sich einschalten werden. Aber ihr Engagement dürfte sich in Grenzen halten, denn sie wollen nicht endgültig mit China brechen. SPIEGEL: Sind Sie jemals auf die Idee gekommen, dass die Bewohner Taiwans nicht mit Ihnen wiedervereinigt werden wollen? Wang: Es ist möglich, dass ein großer Teil der Bevölkerung auf Taiwan unser politisches System nicht mag. Doch Deng Xiaoping hat das Problem mit der Formel „Ein Land, zwei Systeme“ schon gelöst. Nach dem Völkerrecht ist die Volksrepublik China die einzige legitime Regierung Chinas. N ot und Armut sind im Wohlstandsstaat USA viel weiter verbreitet als bislang angenommen. Nach neuen Berechnungen leben 46 Millionen Amerikaner unterhalb der Armutsgrenze. Das sind 17 Prozent der Gesamtbevölkerung und 4,3 Prozent mehr, als noch im September von der US-Regierung angegeben. Grund für die drastische Zunahme: Erstmals seit Präsident Lyndon B. Johnson Mitte der sechziger Jahre seinen Feldzug gegen die Armut begann und dazu die Grenze für das Existenzminimum feststellen ließ, wurden die Berechnungsfaktoren den längst veränderten Lebensbedingungen in den Vereinigten Staaten angeglichen. Nach den bisherigen Vorgaben galt ein Jahreseinkommen von 16 600 Dollar für eine vierköpfige Familie als ausreichend, einen minimalen Lebensstandard zu garantieren. Tatsächlich, so die Statistiker, müsse die Durchschnittsfamilie dafür heute 19 500 Dollar ausgeben. Unabhängige Sozialforscher gehen davon aus, dass sogar noch mehr Amerikaner arm sind. Nach ihren Berechnungen werden 28 000 Dollar benötigt, um vier Personen mit dem Lebensnotwendigen zu versorgen. Mit der Übernahme von vollständig neu definierten Berechnungsgrundlagen will sich das Weiße Haus allerdings noch „einige Jahre“ Zeit lassen – aus Angst vor einer Debatte ausgerechnet im Wahljahr 2000. FRANKREICH Schwarze Kassen für Afrika n der Schmiergeldaffäre des Ölriesen Elf Aquitaine müssen Pariser Politiker jetzt mit peinlichen Enthüllungen rechnen. Der ehemalige Afrika-Chef des Unternehmens, der Korse André Tarallo, 72, hatte in einem Interview mit „Le Monde“ geschildert, wie afrikanische Staatschefs von dem vornehm „parallele Bonusse“ genannten Bestechungssystem profitieren konnten. Nun steht zu befürchten, dass bekannt wird, ob die Empfänger sich ihrerseits erkenntlich zeigten und den Pariser Gönnern mit Zuwendungen gefällig waren. Von 1990 bis 1997 waren mehr als 600 Millionen Francs (rund 180 Millionen Mark) über drei Schweizer Konten Tarallos gelaufen. Das Geld diente dazu, afrikanische Staatschefs zu schmieren, um leichter P. ROBERT / CORBIS SYGMA I Präsident Chirac, Amtskollege Bongo d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 an Bohrkonzessionen heranzukommen. Wichtigster Empfänger war anscheinend der Präsident von Gabun, Omar Bongo. Die Erdölgesellschaft mit den schwarzen Kassen war seinerzeit Staatseigentum und diente auch dazu, die Interessen der früheren Kolonialmacht Frankreich in Westafrika zu verteidigen. Es wäre nicht das erste Mal, dass Gaben aus Afrika französische Politiker kompromittieren. So wurde der damalige Staatspräsident Giscard d’Estaing wohl auch deshalb nicht wieder gewählt, weil Diamanten-Geschenke des zentralafrikanischen Staatschefs Bokassa bekannt geworden waren. In einer Liste über die gravierendsten Fälle internationaler Korruption, die vorige Woche veröffentlicht wurde, nimmt Frankreich unter den westeuropäischen Ländern sowohl bei aktiver als auch bei passiver Bestechung einen Spitzenplatz ein. Überdies hat Frankreich die AntiKorruptions-Konvention der OECD nicht ratifiziert. 159 Ausland Sozialdemokratische Regierungschefs Blair, Jospin, Schröder*: Ein Kampf um Kopf und Herz AP S O Z I A L D E M O K R AT I E „Wir sind die neuen Radikalen“ Wohin steuern Europas Sozialdemokraten? Auf dem Höhepunkt ihrer Macht als Regierungsparteien streiten Erneuerer und Traditionalisten um die richtige Balance von Wirtschaftsreformen und sozialer Sicherheit. Zwei Polit-Gipfel sollen Klärung bringen. O ffene Schadenfreude verbietet die gallische Höflichkeit. Nach außen beschwören die französischen Sozialisten die Unerschütterlichkeit ihrer Entente mit den Parteifreunden in Deutschland. Sie preisen den „gelehrigen“ Kanzler und finden, von Kosovo bis Haushaltsnot, vielerlei Entschuldigungen für dessen Fehlstart als Regierungschef. Intern jedoch können sich die an der Macht gereiften „camarades“ aus Paris süffisante Bemerkungen über Gerhard Schröder nicht verkneifen. Bisweilen bespötteln sie den deutschen Genossen gar als „Gurke“ – in Anlehnung an eine hämische Theorie ihres Finanzministers und Lafontaine-Freundes Dominique Strauss-Kahn: 160 „Man nehme eine Karotte, lege sie lange genug in ein Glas mit Gurken, und irgendwann wird sie grün.“ Hohn und Spott über den Schlingerkurs ihrer sozialdemokratischen Nachbarn symbolisieren, wenn auch hinter vorgehaltener Hand geäußert, das neue Selbstbewusstsein der Franzosen im Richtungsstreit mit den sozialdemokratischen Erneuerern Tony Blair und Gerhard Schröder. Mit Befriedigung verfolgen sie den politischen Praxisschock, der die deutschen Genossen fast schon im Wochentakt zu Anpassung und Kurskorrektur zwingt – zurück an die Seite Lionel Jospins und seiner Sozialisten. * Vor der Europawahl im Mai bei einem Treffen in Paris. d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Ein Kampf um Kopf und Herz der europäischen Sozialdemokratie ist ausgebrochen, und die Franzosen zeigen sich entschlossen, ihn zu gewinnen. Jospin, der auf hervorragende Wirtschaftsdaten verweisen kann, ist Wortführer und zugleich Galionsfigur jener Fronde, die Front macht gegen die selbst ernannten Modernisierer Blair und Schröder. Das deutsch-britische Populistenduo hatte der Öffentlichkeit Anfang Juni, wenige Tage vor den Wahlen zum Europäischen Parlament, überraschend seinen Entwurf zur radikalen Erneuerung der Sozialdemokratie präsentiert. Das Papier, wiewohl vollgestopft mit Allgemeinplätzen und Banalitäten, löste einen heftigen Richtungs- L. CHAMUSSY / SIPA PRESS Demonstration der Linken in Paris: „Das Elend aus den Augen verloren“ F. ROGNER / NETZHAUT Der von der Fahne gegangene SPD-Chef Oskar Lafontaine tobte aus dem selbstverordneten Polit-Exil, seine Erben definierten „den Menschen nur noch als Kostenfaktor, als disponible Masse“. Die linksliberale Pariser „Le Monde diplomatique“ kommentierte, Ziele wie „die Beseitigung der Armut“ und des Elends von 18 Millionen Arbeitslosen sowie 50 Millionen Armen in Europa hätten die Autoren „völlig aus dem Auge verloren“. Premier Jospin markierte gleich den programmatischen Gegenpol: „Wir gehen als moderne Linkspartei unseren eigenen Weg.“ Selbst die sonst eher betulichen schwedischen Sozialdemokraten gifteten, der „dritte Weg“ rücke die neue Mitte „radikal nach rechts“. Schon in den nächsten Wochen dürfte es zum Showdown zwischen Modernisierern und TraditionaProtestumzug in Bonn: Spott über die „Gurke“ listen kommen. Die Sozialisstreit aus. Schröders und Blairs Zustands- tische Internationale (SI) will auf ihrem am beschreibung war vernichtend. Die herr- 8. November beginnenden Treffen in Paris schende Politik der sozialen Demokratie in nicht nur einen neuen Präsidenten wählen. Europa sei viel zu sehr „mit Konformität Die Partei- und Regierungschefs wollen und Mittelmäßigkeit verbunden statt mit vor allem auf Betreiben der französischen Kreativität, Diversität und herausragender Sozialisten zugleich eine RichtungsentLeistung“. Fortan gelte es deshalb, die scheidung über die Zukunft der Sozialsozialdemokratische Politik „an objektiv demokratie herbeiführen. Nur wenige Tage später, am 20. und 21. veränderte Bedingungen anzupassen“. Die Regierungschefs propagierten einen November, erwartet Italiens Minister„dritten Weg“ (Blair) in die politische und präsident Massimo D’Alema seine Kollegesellschaftliche „neue Mitte“ (Schröder), gen Jospin, Schröder, Blair sowie US-Präder – konsequent zu Ende gedacht – nicht sident Bill Clinton, den brasilianischen weniger bedeutet als den historischen Staatschef Fernando Henrique Cardoso Bruch mit der Arbeiterbewegung. Das Pa- und EU-Kommissionspräsident Romano pier stürzte die parlamentarische Linke in Prodi in Florenz zum „Gipfel der Modernisierer“. eine tiefe Sinnkrise. d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Ursprünglich hatte Clinton vorgehabt, dort die in die Jahre gekommene Internationale auf den neuen Kurs zu verpflichten. Inzwischen sind die Organisatoren angesichts des Richtungsstreits bemüht, die grundsätzliche Bedeutung des Treffens herunterzuspielen. Reizworte wie „dritter Weg“ sind von der Tagesordnung verbannt. „Fortschrittliches Regieren im 21. Jahrhundert“ heißt jetzt, ganz neutral, das Treffen der linken und linksliberalen Modernisierer. Ausgerechnet auf dem Scheitelpunkt ihrer parlamentarischen Erfolge und ihrer politischen Macht steht die sozialdemokratische Linke am Scheideweg. In 12 von 15 Ländern der Europäischen Union tragen Sozialdemokraten oder Sozialisten zu Beginn des neuen Jahrtausends Regierungsverantwortung. Und doch haben sie auf dem Weg zu einem vereinten Europa in wirtschaftlicher und sozialer Sicherheit für alle 375 Millionen Bürger kein gemeinsames Konzept. Mehr als 100 Jahre lang gehörte es, ob in Hamburg oder Stockholm, in London oder Madrid, zum guten sozialdemokratischen Ton, an der Seite der abhängig Beschäftigten zu stehen und für all jene Partei zu ergreifen, von deren Lohnarbeit das Kapital profitierte. Noch in jedem Wahlkampf beantworteten die Genossen diese Klassenfrage in Konkurrenz zu Neoliberalen und Konservativen getreu ihrer traditionellen Maxime von Freiheit, Gleichheit und Solidarität – oder was im ausgehenden 20. Jahrhundert davon übrig geblieben ist. Und ausgerechnet dieses ideologische Stützkorsett will zumindest Blair, angeführt von seinem wissenschaftlichen Vordenker Anthony Giddens, dem Direktor der renommierten London School of Economics, nun weitgehend einmotten. Wer Sozialdemokraten auch in Zukunft zuerst als Anwälte des kleinen Mannes versteht, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, ein „Traditionalist“ zu sein, der den „modernen Ansatz des Regierens“ nicht kapiert (siehe SPIEGEL-Gespräch Seite 168). Die neuen Parolen dafür lauten „flexible Märkte“, „Leistung und Erfolg“, „Eigenverantwortung“, „Unternehmergeist“. Das klingt wie ein neoliberaler Wertekanon aus dem Katechismus des Shareholder-Value. Dreh- und Angelpunkt des sozialdemokratischen Dreikampfes um die Zukunft von politischer Freiheit, wirtschaftlicher Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit ist die Rolle des Staates. Nach herkömmlichem sozialdemokratischem Verständnis reguliert der als starker Steuermann die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Konflikte und korrigiert fürsorglich soziale Schieflagen. In der Neudefinition à la Blair und Schröder hingegen soll dem Kapital ein Höchstmaß an Freiheit und Flexibilität eröffnet werden. Wirtschaft und Unternehmer sollen „genügend Spielraum“ er161 Ausland EINWOHNER Deutschland EINWOHNER 82,0 in Millionen Großbritannien EINKOMMEN Nettoverdienst eines Haushalts; monatlich 1997 in Mark 3860 REGIERUNG Sozialdemokraten mit Grünen seit 1998 10 8 INFLATION EINKOMMEN Nettoverdienst eines Haushalts; monatlich 1997 in Mark REGIERUNG 6 4 30 Gesamt 9,1 bei den unter 25jährigen 9,0 29,4 28 1,3 6,1 Juli 1999 6 ARBEITSLOSENQUOTE 4 standardisiert; in Prozent 4 3 2 1 0 –1 2,8 Quellen: OECD/IWF/Eurostat/BA 3359 bei den unter 25jährigen 12,9 Juni 1999 WIRTSCHAFTSWACHSTUM Bruttoinlandsprodukt gegenüber dem Vorjahr in Prozent SOZIALLEISTUNGEN Bruttoinlandsprodukt gegenüber dem Vorjahr in Prozent 2,1 30 SOZIALLEISTUNGEN 28 Anteil am Bruttoinlandsprodukt in Prozent 26 Anteil am Bruttoinlandsprodukt in Prozent 24 Gesamt 8 Juli 1999 26 in Prozent Stand: Juli 1999 10 WIRTSCHAFTSWACHSTUM 4 3 2 1 0 –1 INFLATION Sozialdemokraten seit 1997 ARBEITSLOSENQUOTE standardisiert; in Prozent 58,8 (ein Arbeitslohn, zwei Kinder) 0,7 in Prozent Stand: Juli 1999 26,7 24 22 1989 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 22 1989 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 ginnend 1935 unter Franklin Roosevelt mit dem „Social Security Act“. Entsprechend gilt der Markt in Amerika als entscheidender Regelungsmechanismus der Gesellschaft, nicht der Staat. Während sich Gewerkschaft und Linke in Europa bisweilen noch über die skrupellosen Mächte des Kapitals erregen, gelten Unternehmen in den Staaten meist als Vorbilder und Heroen. Dies Verständnis befördert eine Gesellschaft voller Widersprüche. Immer noch ist der Traum vom American Way of Life allgegenwärtig, der Aufstieg des Studenten zum Computermilliardär möglich. Gleich- zeitig wächst die Kluft zwischen Arm und Reich unablässig; schneller als in Europa entstehen Millionen neuer Stellen, gleichzeitig bietet die Mentalität des „Hire and fire“ keine Gewähr dafür, dass diese Jobs von Dauer sind. Oder ist der Wohlfahrtsstaat skandinavischer Prägung die für Europa Erfolg verheißende Alternative? Ein Modell, das mit rigiden Arbeitsmarktprogrammen die Wirtschaft in Schweden, Dänemark oder Finnland seit Jahren zum Boomen bringt, zugleich aber mit massiven Steuerabgaben auf Arbeit, Vermögen und Umweltverbrauch den Sozialstandard auf Rekordniveau hält. Dort immerhin hatte der „dritte Weg“ der Sozialdemokratie seinen eigentlichen Ursprung. Dort nahm der Richtungsstreit innerhalb der Arbeiterbewegung und politischen Linken seinen Probelauf. Es war Olof Palme, Schwedens 1986 ermordeter Ministerpräsident, der in den siebziger Jahren für seine Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SAP) den Kurs des „tredje vägen“ formulierte. Es waren Palmes sozialdemokratische Erben, die zur Haushaltssanierung und Ankurbelung der heimischen Wirtschaft am offenen Herzen ihres Wohlfahrtsmodells operierten und Therapien zur Gesundung der öffentlichen Finanzen erprobten. Ende 1994, nach dem Ende der konservativen Periode in Stockholm, war das Haushaltsdefizit auf über zwölf Prozent Sozialdemokraten Kreisky, Brandt, Palme*: Arbeit, Wohlstand, Sicherheit 162 in Millionen (ein Arbeitslohn, zwei Kinder; alte Bundesländer) J. H. DARCHINGER halten, damit „die Märkte ihre Wunder“ (Giddens) vollbringen können. Die Hinterlassenschaft der konservativen Epoche Europas unter Maggie Thatcher, Helmut Kohl oder Alain Juppé mit explodierender Arbeitslosigkeit, klaffenden Haushaltslöchern und steigenden Verschuldungsraten soll nun mit deren marktradikalen Werkzeugen und Rezepten bekämpft werden: durch „Einstiegsjobs“ in einen „Sektor mit niedrigen Löhnen, um gering Qualifizierten Arbeitsplätze verfügbar zu machen“; mit weniger Staat und einer Senkung der Lohnnebenkosten, getreu der festen und immer wieder enttäuschten Überzeugung, blühende Unternehmen würden quasi automatisch auch neue Stellen schaffen. Wohin also führt der Weg der modernen europäischen Sozialdemokratie? Welches der drei vorherrschenden Modelle, das angelsächsische marktorientierte, das französische staatsfixierte oder die skandinavische Wohlfahrtsidee, verspricht den Menschen mehr Arbeit, Wohlstand, Sicherheit und damit ihren politischen Protagonisten auch Wahlerfolge? Soll sich Europa wieder mal, wie es die Briten gern hätten, an US-amerikanischen Leitbildern orientieren, an einem Wirtschafts- und Beschäftigungswunder, das auf einem aufgeheizten Kreditmarkt basiert, aber zigtausende so genannter McJobs schuf, die oft nicht einmal die nackte Existenz sichern? Ein System, das in seinem globalen Agieren Helmut Schmidt bisweilen an „Raubtierkapitalismus“ erinnert? Anders als in Europa, wo Bismarck den Deutschen 1883 als erstem Land eine Arbeiterkrankenversicherung bescherte und danach über den ganzen Kontinent Sozialsysteme gegen Unfälle, Krankheit, Invalidität und Tod entstanden, ist die Tradition des Wohlfahrtsstaates in den USA kaum ausgeprägt. Spät erst wurden in der neuen Welt Sicherungssysteme eingeführt, be- d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 * Bei einer Tagung der Sozialistischen Internationale 1975 in Berlin. EINWOHNER Frankreich EINWOHNER 58,4 in Millionen Dänemark EINKOMMEN Nettoverdienst eines Haushalts; monatlich 1997 in Mark 2779 REGIERUNG 14 ARBEITSLOSENQUOTE 12 standardisiert; in Prozent 10 8 6 0,4 in Prozent Stand: Juli 1999 Gesamt 11,0 Nettoverdienst eines Haushalts; monatlich 1995 in Mark REGIERUNG Juli 1999 6 4 28 produkt gegenüber dem Vorjahr in Prozent 3,2 29,2 26 SOZIALLEISTUNGEN 24 Anteil am Bruttoinlandsprodukt in Prozent 22 1989 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 des Sozialprodukts gewachsen und so hoch wie in keinem anderen westlichen Land. Die Zinsen explodierten zwischenzeitlich auf ein Rekordniveau, der Geldwert verfiel rapide. In dieser Situation verkündete die Regierung das „härteste Sanierungsprogramm, das eine europäische Regierung jemals umgesetzt hat“, so der schwedische Ministerpräsident Göran Persson. Seine Sozialdemokraten senkten Arbeitslosen- und Krankengeld, beschränkten die Sozialhilfe, führten einen Karenztag bei Krankheit ein, reformierten das Rentensystem um eine Eigenbeteiligung. Und die öffentlichen Arbeitgeber strichen 100 000 Stellen. Die Reformer büßten mit deutlichen Sympathieverlusten. Trotzdem reichte es 1998 immerhin noch zur Fortsetzung ihrer Politik als Minderheitsregierung, toleriert von den Grünen und der Linkspartei der früheren Kommunisten. Der Grund: Die Einschnitte erfolgten auf sehr hohem Niveau; Arbeitslosengelder beispielsweise wurden zwar kräftig gekürzt, aber lediglich von 90 auf 75 Prozent, und inzwischen sogar wieder auf 80 Prozent angehoben. Sozial-, Gesundheits- und Ausbildungssystem blieben weitgehend in öffentlicher Hand, finanziert aus den konstant hohen Steuerabgaben. Denn an einem Grundsatz wollen Schwedens Sozialdemokraten auch in entbehrungsreichen Zeiten keinesfalls rütteln: „Die Wohlfahrt ist unser Kind, und das bringen wir nicht um.“ Jetzt, nachdem die Arbeitslosigkeit (5,5 Prozent) nahezu halbiert ist, der Haushalt wieder einen Überschuss ausweist, die 2,4 Gesamt bei den unter 25jährigen ARBEITSLOSENQUOTE 6,4 Juli 1999 standardisiert; in Prozent 2,4 34 32,7 32 SOZIALLEISTUNGEN Anteil am Bruttoinlandsprodukt in Prozent 28 1110 Sozialisten seit 1995; Minderheitskabinett INFLATION in Prozent Stand: Juli 1999 ARBEITSLOSENQUOTE 6 4 2 standardisiert; in Prozent 2,1 Gesamt 4,8 bei den unter 25jährigen 9,8 Juli 1999 Bruttoinlandsprodukt gegenüber dem Vorjahr in Prozent 30 REGIERUNG 4,4 WIRTSCHAFTSWACHSTUM 6 5 4 3 2 1 0 9,8 (ein Arbeitslohn, zwei Kinder) in Prozent Stand: Juni 1999 10 WIRTSCHAFTSWACHSTUM Bruttoinlands4 3 2 1 0 –1 –2 30 Nettoverdienst eines Haushalts; monatlich 1997 in Mark 3708 INFLATION Sozialdemokraten seit 1993; Minderheitskabinett 8 bei den unter 25jährigen 25,2 in Millionen EINKOMMEN (ein Arbeitslohn, zwei Kinder) INFLATION EINWOHNER Portugal EINKOMMEN (ein Arbeitslohn, zwei Kinder) Sozialisten mit Grünen und Kommunisten seit 1997 5,3 in Millionen 1989 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 6 5 4 3 2 1 0 –1 20 18 16 14 12 WIRTSCHAFTSWACHSTUM Bruttoinlandsprodukt gegenüber dem Vorjahr in Prozent 4,0 19,3 SOZIALLEISTUNGEN Anteil am Bruttoinlandsprodukt in Prozent 1989 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 Wachstumsraten wieder europäisches Spit- etwa haben nach sechs Monaten von Staats zenniveau erreichen und die Prognosen wegen das Recht auf einen Ausbildungsstabil sind, will Persson „die Bürger für die platz oder auch einen Job – allerdings auch Entbehrungen entschädigen“ – mit Steuer- die Pflicht, entsprechende Angebote anzuerleichterungen und Entlastungen zum Bei- nehmen. Sonst gibt’s kein Geld mehr. spiel für Niedrigeinkommen. Mit dieser Koppelung von skandinaviGroßzügige Sozialsysteme müssten re- scher Wohlfahrtstradition und einer Flexiformiert werden, „wo sie die Versuchung bilität amerikanischer Spielart kombinierzu unehrlichem Verhalten erzeugen“, die ten die Dänen zwei Denkschulen, die in Arbeitsbereitschaft müsse „durch Anrei- Deutschland als nahezu unvereinbar gelze, wenn nötig durch gesetzliche Ver- ten. Das Ergebnis ist ein kleines Jobpflichtungen gefördert werden“ Wunder mit fast 200 000 neuen – das fordert Blair-Berater AnStellen. Und dennoch: Mit über Das kleine thony Giddens zur „Erneuerung 17 000 Mark pro Einwohner sind Dänemark der sozialen Demokratie“. die dänischen Sozialleistungen schafft Beim schwedischen Nachbarn nach Luxemburg noch immer Dänemark führte diese Einsicht ein Job-Wunder Spitze in Europa. ohne großes ideologisches BrimSein Land habe bewiesen, mit fast borium bereits 1993 zu radikadass es „keinen Widerspruch 200 000 neuen zwischen sozialer Sicherheit und lem Umdenken. Nach Jahren Stellen staatlicher Defizitwirtschaft und hoher Wirtschaftskraft gibt“, der Erkenntnis, dass es sich imglaubt Premier Nyrup Rasmusmer mehr Dänen im üppig abgefederten sen. „Wir sind stolz auf unser Modell, denn System der Arbeitslosenhilfe bequem es funktioniert“, sagt auch seine Parteimachten, entschloss sich die sozialdemo- Vize Lene Jensen und fragt: „Wozu braucht kratische Regierung unter Poul Nyrup Ras- es dann einen dritten Weg?“ mussen zur konsequenten Reform der BeDer war Lionel Jospin in Paris zunächst schäftigungspolitik. keineswegs unsympathisch. „Wir sind anLeistungen wurden gekürzt, der Kündi- ders“, antwortete Jospin selbstbewusst auf gungsschutz ist weitgehend aufgehoben. den Vorstoß aus Berlin und London. Doch Arbeitslosengeld gibt es statt für neun nur sein politisches Handeln war so anders lannoch für maximal fünf Jahre, Rentenrege- ge nicht. In den 29 Monaten seiner Amtslungen wurden reformiert und sogar die zeit ließ der linke Pragmatiker Jospin zum beliebte und großzügige Vorruhestandsre- Beispiel mehr Staatsunternehmen privatigelung „Efterlön“ vorsichtig beschnitten. sieren als die letzten drei rechten VorgänDas schlichte Rezept lautet: üppige So- gerregierungen zusammen. zialleistungen einerseits, rigide Auflagen Geradezu geschockt reagierten Öffentandererseits. Jüngere Arbeitslose unter 25 lichkeit und Teile seiner Partei, als der Reid e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 163 Ausland „Nein zum dritten Weg“ Der französische Europaminister Pierre Moscovici über den Richtungsstreit der sozialdemokratischen Parteien und die deutsch-französischen Beziehungen G. SAUSSIER / GAMMA / STUDIO X SPIEGEL: Herr Minister, die Linke regiert stellung brechen, dass der Staat alles jetzt beginnenden Gesprächen der Welthandelsorganisation. in 12 von 15 Mitgliedstaaten der Europäi- regeln könne. schen Union. Aber sie marschiert nicht Moscovici: Der dritte Weg ist ein ambiva- SPIEGEL: Da zeichnen sich Konflikte mit in die gleiche Richtung. Wird der Kon- lentes Konzept. Wenn damit eine Alter- den Amerikanern ab. Die wollen nicht gress der Sozialistischen Internationale native zum Kommunismus und zum Wirt- neue Regeln, sondern Deregulierung. nächste Woche in Paris eine Annäherung schaftsliberalismus gemeint ist – gut. Aber Moscovici: Wenn ich mir die Kapitalströbringen? das ist nichts Neues, sondern der Weg, me rund um den Globus ansehe, vermag Moscovici: Ein gemeinsames Programm ist den die Sozialdemokratie in Europa seit ich nicht zu erkennen, dass wir an einem Übermaß an Kontrollen leiden. für die nächste Zukunft nicht vorgesehen, hundert Jahren eingeschlagen hat. aber die Sozialisten in Europa teilen vie- SPIEGEL: Wenn aber der dritte Weg zwi- SPIEGEL: Aber lehrt nicht das angelsächle Ansichten und haben einen gemeinsa- schen der traditionellen Sozialdemokra- sische Beispiel, dass ein Abbau von Remen politischen Willen. Wir wollen alle tie und dem Neoliberalismus liegt? gulierungen Arbeitsplätze schafft? den Erfolg bestimmter Regulierungen, ein Moscovici: Dann sagen wir nein. Wir den- Moscovici: Frankreich ist derzeit ein MoGleichgewicht zwischen Staat und Markt, ken, dass es nach dem Zusammenbruch tor des Wirtschaftswachstums in der EU. nicht das Laisser-faire der Liberalen. des totalitären Kommunismus nur noch Ich behaupte, dass die Regierung etwas SPIEGEL: Sind die Sozialisten unter dem zwei Wege gibt, keinen dritten. Wir sind dafür getan hat. Das beweist doch wohl, Druck des globalen Kapitalismus nicht keine Sozialliberalen. Unsere Partei steht dass die vermeintlichen Traditionalisten zwar in der Mitte der französischen Ge- mindestens genauso viel Erfolg haben wie selbst verkappte Liberale geworden? Moscovici: Keineswegs. Unsere Gesell- sellschaft, aber sie ist keine zentristische die so genannten Modernisierer. schaften brauchen Freiheit und Sicher- Partei geworden. SPIEGEL: Und was ist das Geheimnis dieheit. Wir setzen uns für die Modernisie- SPIEGEL: Lässt sich der globale Kapitalis- ses Erfolgs? rung des Wohlfahrtsstaates ein, aber mus überhaupt noch zähmen, wenn der Moscovici: Zunächst das Vertrauen der Franzosen in unser Modell. Das hat, zunicht, um ihn abzuschaffen, sondern um Nationalstaat an Bedeutung verliert? ihn als Instrument der Regulierung und Moscovici: Nationale Regulierungen rei- sammen mit unserer Einkommenspolitik, chen nicht, um unsere Gesellschaften ge- den Konsum in Schwung gebracht. Aber des Ausgleichs zu erhalten. SPIEGEL: Sind Sie sicher, dass Tony Blair gen die Exzesse des globalen Marktes zu wir haben auch Erfolg mit unseren Beschützen. Gerade deshalb brauchen wir schäftigungsprogrammen. Und die Arda mit Ihnen am selben Strang zieht? Moscovici: Es gibt Unterschiede im Tem- Europa: einen organisierten, geregelten beitszeitverkürzung wird weitere Stellen perament, in der nationalen Tradition, in Wirtschafts-, Währungs- und Rechtsraum, schaffen. der Kultur. Aber wir können auf unseren der sich auf Grund seiner Größe und sei- SPIEGEL: Haben Sie das Gefühl, dass der nes Gewichts auch für globale Regeln deutsche Kanzler sich von Ihrem Poligemeinsamen Werten aufbauen. SPIEGEL: Ihre Partei hat unter dem Titel stark machen kann, zum Beispiel in den tikmodell entfernt hat? „Auf dem Weg zu einer gerechteren Welt“ ein Dokument erarbeitet, das weithin als Antithese zum so genannten Schröder-Blair-Papier verstanden wird. Moscovici: Es ist ein Diskussionsbeitrag, und er richtet sich gegen niemanden. Aber natürlich, die Differenzen zwischen den beiden Texten sind eindeutig. Wir legen den Akzent auf neue Formen der Regulierung, im nationalen wie im internationalen Maßstab. Die öffentliche Hand ist gegenüber der Globalisierung nicht machtlos. Wir akzeptieren sie, aber wir wollen sie auch organisieren. SPIEGEL: Wie denn? Moscovici: Für uns bleibt der soziale Ausgleich zentral, deshalb betonen wir immer wieder das Ziel der Gleichheit – gleiche Chancen, gleiche Lebensbedingungen. Dazu ist eine gewisse Umverteilung, ein gewisser Dirigismus unerlässlich. SPIEGEL: Modernisierer würden Sie einen Traditionalisten nennen, denn der dritte Weg, wie Schröder und Blair ihn einschlagen, soll ja gerade mit der Vor- Paris-Besucher Kohl, Präsident Mitterrand (1989): „Nichts kann das Band ersetzen“ 164 d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 J. M. ARMANI / RAPHO / AGENTUR FOCUS Europaminister Moscovici „Umverteilung ist unerlässlich“ Moscovici: Es stimmt, es hat in den deutsch-französischen Beziehungen eine Phase nicht der Spannung, aber des gegenseitigen Beobachtens gegeben. Mein Gefühl sagt mir, dass sich das ändert. Kanzler Schröder und Premier Jospin haben inzwischen eine gute persönliche Beziehung zueinander aufgebaut. Das ist sehr wichtig. SPIEGEL: Eine gute Atmosphäre allein bewegt noch nichts. Moscovici: Deshalb ist beispielsweise der Zusammenschluss von Aerospatiale Matra mit der Dasa so wichtig. Frankreich und Deutschland haben den Euro zusammen geschaffen, nun werden wir das Europa der Luft- und Raumfahrt aufbauen. Damit haben wir die industrielle Grundlage, den bewaffneten Arm für die Europäische Verteidigungsunion. SPIEGEL: Schröders Flirt mit Tony Blair macht Paris also nicht eifersüchtig? Moscovici: Franzosen und Deutsche sind das Herz Europas. Die Briten sind nicht voll in Europa integriert. Wie groß die Versuchung auch sein mag, mit den Briten anzubändeln, nichts kann das Band zwischen Frankreich und Deutschland ersetzen. SPIEGEL: Ist das Gerede über die gestörte Ehe also hinfällig? Moscovici: Verdächtigungen sind unter Freunden immer fehl am Platz. Aber ein gewisser Realismus drängt sich auf. Doch gerade seit dem Umzug der deutschen Regierung nach Berlin nehmen wir vermehrt positive Signale der Deutschen Richtung Europa und Richtung Frankreich wahr. Ich habe also nicht den geringsten Grund zur Beunruhigung. Interview: Romain Leick d e r fenhersteller Michelin im September zeitgleich eine rekordverdächtige Gewinnsteigerung von 17,3 Prozent sowie Massenentlassungen von 7500 Arbeitern verkündete – und der linken Regierungskoalition mit Grünen und Kommunisten nichts anderes dazu einfiel, als abzuwiegeln. „Man kann nicht alles vom Staat erwarten“, beruhigte Jospin, „man kann die Wirtschaft nicht mehr dirigieren.“ So spricht einer, der den dritten Weg als Handlungsmaxime für sich akzeptiert hat: links blinken, rechts abbiegen. Drei Wochen ließ Jospin ins Land gehen. Dann besann er sich, begleitet von Protesten lange nicht mehr gekannten Ausmaßes, zumindest rhetorisch auf seine linken Wurzeln. „Die Globalisierung macht den Staat nicht machtlos“, droht nun auf einmal mutig der Premier. In einem eilends zusammengezimmerten Positionspapier zeigen die Sozialisten Flagge. Kernsatz: Der „Weg zu einer gerechteren Welt“, so der Titel, dürfe „eine Politik der Umverteilung nicht ausklammern“, die Das neue „Exzesse des MarkHeil der tes“ müssen beeuropäischen kämpft werden. In einer Art zweiSozialdemoter Regierungserklä- kratie liegt im rung vor der sozialispolitischen tischen Fraktion in Erfolg Straßburg präsentierte der Premier einen ganzen Katalog neuer Sozialmaßnahmen – vorrangig gegen Massenentlassungen und den Missbrauch ungesicherter Beschäftigungsverhältnisse. 21-mal, hohe Symbolik seines Auftritts, gebrauchte er dazu den Schlüsselbegriff „Regulierung“. „An Jospin gefällt mir“, sekundiert sogar der – mit einem strikt auf Konsens ausgerichteten Modell – selbst so erfolgreiche niederländische Regierungschef Wim Kok, „dass er das Verhältnis von Markt und Staat nicht unter den Tisch kehrt.“ Linke Sprüche, rechte Politikentwürfe – sieht so das sozialdemokratische Zukunftsmodell aus? Selbst bei den Modernisierern der neuen Mitte werden die eigentlichen Absichten inzwischen mit Unmengen linken Vokabulars garniert. „Unsere Grundwerte haben Bestand“ – so traditionalistisch beginnt auf einmal der Leitantrag von Schröders SPD für den Parteitag im Dezember, der das Hickhack um den rechten Kurs in Deutschland endlich beilegen soll. Zeitgleich schmierte Kanzler Schröder Balsam auf die linke Seele. Er stellt dem linken Flügel seiner Partei eine Vermögensabgabe in Aussicht, eine Art Lastenausgleich zwischen Arm und Reich, wie auch immer die am Ende aussehen mag. Und lässt seinen Arbeitsminister Walter Riester, Arm in Arm mit der mächtigen Metall-Gewerkschaft, die „Rente mit 60“ forcieren – die freilich den Staat und seine öffentlichen Pensionskassen s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 165 Ausland * Mit Ehefrau Christa Müller auf der Frankfurter Buchmesse. 166 Dritter-Weg-Kritiker Lafontaine* „Die Reaktion der Wähler ist eindeutig“ d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 P. JUELICH / RIRO AFP / DPA nichts kosten darf und eiles illustriert zumindest eine nen Sturm der Entrüstung zweite, nicht zu unterschätauslöste. Neidvoll musste zende Komponente des der Enkel Willy Brandts ersozialdemokratischen Richkennen, dass die Modertungskampfes: das Machtnisierer bei den Europakalkül. Was nützt der richwahlen im Sommer deuttige Weg, die politisch korlich Stimmen einbüßten, rekte Überzeugung, wenn Jospin dagegen Gewinne die Wähler weglaufen? verbuchte. In Portugal etwa, dem „Gerechtigkeit und Inärmsten Land der Euronovation“ ist jetzt wieder Zone, hat fast die Hälfte das Motto. Mit dem war die der 4,8 Millionen BeschäfSPD schon im letzten Bun- Schweden-Premier Persson tigten keine geregelten Ardestagswahlkampf erfolgbeitsverträge; der Durchreich. Und das setzt, welche Ironie, ausge- schnittslohn liegt bei 1000 Mark monatlich. rechnet jenen Akzent nach vorn, den noch Da interessiert kein zweiter und kein dritvor Jahresfrist Oskar Lafontaine personifi- ter Weg, sondern allein die Frage nach Auszierte. „Die Reaktion der Wähler“, ließ der kommen und Überleben. Saarbrücker Polit-Rentner wissen, „ist einWer das glaubwürdig zum Thema deutig und unmissverständlich: Der dritte macht, bekommt das Vertrauen der Wähler Weg ist ein Holzweg.“ – so einfach kann Politik sein. Bei den Tony Blair hat seinen Parteitag bereits Wahlen vor drei Wochen war das in ershinter sich. Auch ihn holte die real exis- ter Linie die regierende Sozialistische tierende Sozialdemokratie ein. Ende Sep- Partei von Ministerpräsident António tember, auf dem Labour-Konvent in Guterres. Sie erhielt nach leichter SteigeBournemouth, rückte er wortreich wieder rung mit 44 Prozent ihr bestes Ergebnis ein Stück nach links. aller Zeiten. Ausdauernd strapazierte er traditionelGuterres, der sich stets zu seinen linken le sozialdemokratische Werte wie Freiheit, Idealen bekannte, gilt jetzt als aussichtsGleichheit, Solidarität. „Der Klassenkampf reicher Kandidat für das Amt des Präsiist vorbei, aber der Kampf um echte denten der Sozialistischen Internationale. Gleichheit hat gerade erst begonnen“, sagGibt es für Europas Sozialdemokratie te Blair unter dem Jubel der Delegierten. am Ende gar „nicht einen oder zwei Wege, Über 20-mal in der knapp einstündigen sondern 15“, für jedes EU-Land den eigeRede berief sich der Taktiker auf lin- nen, wie der italienische Wirtschaftswiske Ideale wie Chancengleichheit und so- senschaftler und Europapaabgeordnete der ziale Gerechtigkeit. Ähnlich wie Willy Linksdemokraten Giorgio Ruffolo beBrandt 1969 bediente er die Gemütslage hauptet? Liegt das Geheimnis womöglich seiner Parteigänger und forderte „gleiche darin, sich überall die erfolgreichsten TeiChancen für alle zur Selbstverwirk- le abzugucken – ein bisschen Blair, eine lichung“ und „gleichen Zugang zu Bil- Prise Schröder, einen Happen Jospin? dungs- und Lebenschancen“. Die „neuen Dann läge das Heil der europäischen Somoralischen Ziele“, die der versierte Par- zialdemokratie nicht links, nicht rechts, teitagsredner seinem Anhang offerierte, und auch nicht in der neuen Mitte. Dann gegen Rassismus, gegen Armut, für Ein- definierte sich deren künftiger Kurs viel haltung der Menschenrechte, entstammen einfacher: Wer politisch Erfolg hat, hat eher dem alten Repertoire linker Sozial- auch Recht. demokraten. Manfred Ertel, Rüdiger Falksohn, Horand Knaup, Romain Leick, „Wir sind die neuen Radikalen“, tönte Hans-Jürgen Schlamp, Helene Zuber Blair gleichwohl markig. Rund 18 Monate vor den nächsten Wahlen hat auch er erkannt, dass er die Herzen gewinnen muss, wenn er die Köpfe seiner Anhänger für Reformen freimachen will. Die Erneuerer also auf dem geordneten Rückzug? Blairs rhetorische Verbeugung vor dem linken Flügel, Schröders Reaktion auf die Wahlschlappen, Jospins Schlingerkurs zwischen Marktwirtschaft und Marktgesellschaft – dies al- Werbeseite Werbeseite Ausland S P I E G E L - G E S P R ÄC H „Eine neue Brücke bauen“ Anthony Giddens, Vordenker des britischen Premiers Tony Blair und Autor des „dritten Wegs“, über seine Vision einer modernen Sozialdemokratie, den radikalen Umbau der Rentensysteme und den Streit zwischen Schröder und Lafontaine SPIEGEL: Oskar Lafontaine sagt, der von Ihnen proklamierte dritte Weg sei ein Holzweg. Giddens: Das beruht auf einem falschen Verständnis der Situation. Wir müssen vorbereitet sein zur Erneuerung. Und wie immer man es nennt: Nur eine wirklich modernisierte Linke kann eine Politik formulieren, die Antworten auf die neuen Ungleichheiten der Gesellschaft gibt. SPIEGEL: Bislang lautet die Antwort von Schröder und Blair vor allem: mehr Flexibilität, weniger Staat. Das ist für viele Kritiker neoliberale Politik in neuem Gewand. Giddens: Das ist wirklich lächerlich. Im Sog der südostasiatischen Wirtschaftskrise ist der Neoliberalismus quasi über Nacht zu einer toten Philosophie geworden. Die Menschen wollen nicht ungeschützt den globalen Märkten zum Fraß überlassen werden. Zwar brauchen wir einen effektiven Markt, um Wohlstand zu garantieren, gleichzeitig brauchen wir aber auch eine funktionierende Bürgergesellschaft und einen aktiven Staat. SPIEGEL: Was bedeutet das konkret? Giddens: Zum Beispiel, dass die Linke nicht nur instinktiv auf Regulierung setzen oder immer gleich nach höheren Steuern schreien darf.Wir haben viele Beispiele dafür, dass Steuersenkungen manchmal so- J. LEIGHTON / NETWORK / AGENTUR FOCUS sche Bundeskanzler Gerhard Schröder gefragt wurde, was eigentlich der „dritte Weg“ sei, spöttelte der, er kenne nicht mal die ersten beiden. Können Sie helfen? Giddens: Ich kann es versuchen. Die Debatte geht um die Modernisierung der Sozialdemokratie und die Frage, wie in einer Welt radikaler Veränderungen wichtige Grundwerte wie Solidarität, Gleichheit, Sicherheit oder die Rolle eines aktiven Staates zu verstehen sind. Das sind für mich essenzielle sozialdemokratische Werte. Und wir müssen moderne Antworten finden, wie die in der aktuellen Politik überleben können. Ob die Überschrift für diese Debatte nun dritter Weg lautet oder anders, das ist egal. SPIEGEL: Die Grundwerte, von denen Sie reden, würde jeder gute Sozialdemokrat in Europa unterstützen. Was ist daran neu? Giddens: Nicht die Werte sind neu, sondern die Erkenntnis, dass die alten Rezepte zu ihrer Umsetzung nicht mehr taugen. Wir können nicht einfach zurück zum traditionellen Sozialismus, der einst den westlichen Wohlfahrtsstaat geprägt hat. Wir dürfen die Welt aber auch nicht als einen gigantischen Marktplatz verstehen und erwarten, dass der Markt schon mit allen Problemen irgendwie fertig wird. Blair-Berater Giddens „Gerechtigkeit durch Weiterbildung“ gar effektiver sein können. In den meisten Ländern wird diese Politik nur noch von zehn Prozent der Wähler unterstützt. SPIEGEL: Woran ist die traditionelle Sozialdemokratie denn gescheitert? Und wann? Giddens: Bis in die späten sechziger Jahre war vieles von der traditionellen Wohlfahrtsmentalität und ihrer Philosophie erfolgreich. Dann schlug die Situation um, die ersten Kritiker sprachen von einer Armutsfalle oder von der moralischen Gefahr dieses Systems. Es waren zumeist Linke, die erkannten, dass der Wohlfahrtsstaat nicht nur eine Antwort auf die Probleme der Menschen ist, sondern deren Zusammenleben zum Teil radikal verändert hat. SPIEGEL: Jetzt streitet Europa darüber, welches der sozialdemokratischen Reformmodelle das zukunftsfähigste ist. Ist es das Modell von Schröder und Blair, ist es die französische Variante, die auf mehr Regulierung setzt, oder ist es gar das skandinavische Wohlfahrtssystem? Giddens: Es ist keines von allen. Wir sollten aufhören, immer nur in Vorbildern zu denken. Es kämpfen zwar alle Staaten mit ähnlichen Problemen, aber jede Nation hat ihre eigene Geschichte und Entwicklung hinter sich. In Großbritannien zum Beispiel gibt es, zum Teil als Folge der neoHOPI MEDIA SPIEGEL: Professor Giddens, als der deut- * Bei einem Treffen der Sozialistischen Internationale am 10. Dezember 1998 in Wien. Sozialreformer Blair, Schröder* „Neoliberalismus ist eine tote Philosophie“ Werbeseite Werbeseite S. MENDEL / NETWORK / AGENTUR FOCUS Obdachloser in der Londoner Innenstadt: „In Deutschland ist die Armut geringer“ liberalen Regierungen, viel zu viel Armut, weitaus stärker an Schweden als an den und wir müssen was dagegen tun. In USA. Aber die Frage ist doch nicht, ob Deutschland ist die Armut geringer, und Deutschland mehr wie Großbritannien trotzdem gibt es dort einen Streit um das- werden sollte oder wie Schweden, sondern selbe Thema. welche Ideen nützlich sein können, die SPIEGEL: Also braucht jedes Land seinen deutsche Wirtschaft anzukurbeln und die eigenen dritten Weg? Arbeitslosigkeit abzubauen. In SkandinaGiddens: Man sollte sich von der scheinbar vien etwa ist die Toleranz, hohe Steuern gegensätzlichen Rhetorik der politischen und Abgaben zu zahlen, seit jeher sehr viel Führer nicht täuschen lassen, sondern die größer als in Deutschland. Politik in den einzelnen Ländern verglei- SPIEGEL: Viele Linke verstehen das Schröchen. Dann stellt man fest, dass die Unter- der-Blair-Papier als Aufforderung, dass schiede gar nicht so groß sind. Deutschland dem britischen Muster folgen SPIEGEL: Wirklich? Die deutsche SPD dis- sollte. kutiert derzeit, sich stärker an Lionel Giddens: Vielleicht hat das Papier nicht geJospin zu orientieren, der auf staatliche nug verdeutlicht, dass es der SozialdemoRegulierung der Wirtschaft setzt, statt an kratie nach wie vor um soziale GerechtigTony Blair und seinen Vorstellungen von keit geht – nur eben in zeitgemäßerer mehr Deregulierung und Flexibilisierung. Form. Deshalb haben sich Lafontaine und Wo ist da die Ähnlichkeit? andere Genossen wohl so sehr erregt. InGiddens: Man muss sich doch nur Jospins teressanterweise fand das Papier in der aktuelle Politik ansehen: Wenn man etwa britischen Presse keine große Aufmerksamkeit. Höchstens ein paar Indie geplante Einführung der 35tellektuelle erinnern sich überStunden-Woche und ihre prakti„Wer von der haupt noch daran, dass Blair dieschen Auswirkungen genauer Gesellschaft se Thesen jemals vorgelegt hat. analysiert, wird man feststellen, profitiert, dass sie nur der Hebel für mehr SPIEGEL: Vielleicht liegt die geFlexibilität des Arbeitsmarkts ringe Aufregung daran, dass die muss auch sein wird, und nicht ein Mittel Briten sich seit Margaret Thateine zur Regulierung. Ob nun Blair, an brutale Umbrüche in ihGegenleistung cher Schröder oder Jospin – alle drei rer Wirtschaft gewöhnt haben. erbringen“ sehen doch die Notwendigkeit, Anderswo in Europa haben die öffentliche Einrichtungen zu priMenschen mehr Angst vor der vatisieren, die Sozialsysteme zu reformie- Modernisierung, weil diese ja auch mit der ren und das Rentenproblem zu lösen. Und Aufgabe lieb gewonnener Gewohnheiten der Glaube an die Bedeutung des Arbeits- verbunden ist. markts als Mittelpunkt der Sozialpolitik Giddens: Das stimmt. Gerade in Deutschwächst rapide. land lässt sich das derzeit beim Streit um SPIEGEL: Nur die Antworten scheinen sehr den Sparhaushalt der Bundesregierung besonders gut beobachten. In keinem andeunterschiedlich auszufallen. Giddens: Nein, nicht wirklich. Schauen Sie ren Land in Europa stößt der Wandel auf sich doch die praktische Politik an. Das derart große Widerstände, nicht einmal in britische Modell, Sozialhilfe und Beschäf- Skandinavien oder Frankreich. tigungspolitik unmittelbar miteinander zu SPIEGEL: Leiden die Deutschen an einer beverbinden, orientiert sich zum Beispiel sonderen Blockade-Mentalität? 170 d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Giddens: Nein, auch anderswo in Europa sehen die Menschen bestimmte Leistungen des Wohlfahrtsstaats als naturgegebene Rechte. Doch im Zeitalter der Globalisierung dürfen wir Sozialpolitik nicht mehr losgelöst von der Wirtschaftspolitik betrachten. Sozialpolitik darf sich nicht allein auf die Umverteilung konzentrieren und an den alten Strukturen festhalten. Weil der Arbeitsmarkt viel dynamischer als früher ist und sich durch die InternetRevolution alles schneller ändert, müssen wir stärker in die Fähigkeiten der Menschen investieren, in deren Aus- und Weiterbildung. Nur so können wir auch für soziale Gerechtigkeit sorgen. SPIEGEL: Wie würden Sie als Modernisierer denn soziale Gerechtigkeit definieren? Giddens: Auf die klassische, immer noch gültige Weise: Es ist der Versuch, durch ein Netz von Beziehungen und finanziellen Regelungen soziale Ungleichheit und Benachteiligungen abzubauen und stattdessen Chancengleichheit und soziale Solidarität zu garantieren. Die Idee des dritten Wegs setzt dabei nur viel stärker auf die Berücksichtigung von Humankapital, anstelle einer direkten finanziellen Umverteilung von den Reichen an die Armen. SPIEGEL: Dennoch reden Sie oft davon, dass wir mehr Staat brauchen, nicht weniger. Sind Sie letztlich doch ein Traditionalist, der die Wohlfahrt auf Pump finanziert? Giddens: Nein, nein. Auch wenn Lafontaine das anders sehen mag, der keynesianische Ansatz des „deficit spending“ hat sich überlebt. Der Staat kann die Probleme der Gesellschaft nicht allein lösen. Mehr noch: Wenn er dies versucht, erreicht er oftmals nur das Gegenteil. Ich meine etwas anderes: Der Staat muss flexibler handeln und genauso schnell reagieren, wie es Unternehmen tun. Bürokratische Behörden und Vetternwirtschaft müssen verschwinden, dann gewinnt die Demokratie auch wieder das Vertrauen der Menschen. SPIEGEL: Gerhard Schröder scheint dieses Vertrauen im Moment vollends zu verspielen, anders als Jospin, der bei den Europawahlen gewann. Selbst Blair bemühte zuletzt auf dem Labour-Parteitag wieder die alten Ideale von Gleichheit und Gerechtigkeit. Hängt Erfolg oder Misserfolg der Sozialdemokratie also davon ab, wie sie die Herzen der Leute gewinnt? Giddens: Das ist nicht das entscheidende Problem. Es ist schon erstaunlich, wie sehr sich die Meinungen ähneln, wenn man die Menschen in Europa zum Wohlfahrtsstaat befragt. Fast überall nennen sie ähnliche Prioritäten, wollen ein gutes Bildungs- und Gesundheitssystem. Zugleich sind sie sehr sensibel, wenn es um die Kosten des Sozialsystems geht. Entscheidend für den Erfolg sind derzeit wohl die Unterschiede in den politischen Systemen: Tony Blair hat durch das Mehrheitswahlrecht in Großbritannien eine Machtposition erlangt, die Werbeseite Werbeseite Ausland kein anderer Politiker in Europa oder Amerika besitzt. SPIEGEL: Glauben Sie wirklich, dass die Mehrheit der Europäer für Einschnitte ist? Die Skandinavier etwa halten trotz aller Reformen immer noch an einem üppigen Wohlfahrtsstaat fest und sind bereit, dies über hohe Steuern zu bezahlen. Giddens: Aber ich kenne niemanden, der sagt, andere Länder sollten den gleichen Weg gehen. Und vielleicht hat das skandinavische Modell Veränderungen vor sich, die mit den heutigen noch gar nicht vergleichbar sind. Die Menschen sind nicht blöd und wissen genau, dass wir nicht bloß an alten Strukturen festhalten können. Nötig ist ein neuer Gesellschaftsvertrag, für den gilt: keine Rechte ohne Verantwortungen. Diese Regel muss für die Bedürftigen ebenso gelten wie für die Reichen. SPIEGEL: Welche Pflichten sollten die Sozialdemokraten den Reichen auferlegen? Giddens: Nötig ist eine Mischung aus Anreizsystemen und Regulierung. Das System muss dafür sorgen, dass die Unternehmen sich global wie national ihrer Verantwortung bewusst sind. Es kann nicht sein, dass bestimmte Eliten sich aus der Gesellschaft ausklinken. Wir müssen auch verhindern, dass Manager ihre Machtpositionen zum Schaden der Allgemeinheit ausnutzen. In Europa wäre es unerträglich, wenn ein Manager, so wie in den USA, ein paar hundertmal so viel verdient wie einer seiner Arbeiter. Um solche Gier zu verhindern, reicht aber nicht eine platte Umverteilungspolitik nach dem Motto: den Reichen nehmen, den Armen geben. Vielmehr geht es auch darum, das ideologische Klima zu verändern und den moralischen Druck gegen solche Auswüchse zu erhöhen. SPIEGEL: Welche Pflichten wollen Sie umgekehrt den Bedürftigen auferlegen? Giddens: Es muss dasselbe Prinzip gelten: Wer von der Gesellschaft profitiert, muss auch eine Gegenleistung erbringen. Konkret: Wer zum Beispiel Arbeitslosen- oder Sozialhilfe bekommt, muss sich aktiv um einen neuen Job bemühen und etwas aus seinem Leben machen. In Dänemark oder Großbritannien funktionieren solche „welfare to work“-Programme, die auch Sanktionen für Arbeitsunwillige enthalten, sehr gut; Deutschland dagegen schreckt davor zurück. Dabei ist die Logik doch einfach: Wenn so viele Menschen wie irgend möglich wieder einen Job haben, wächst die Wirtschaft und damit auch das Steueraufkommen. Dann ist auch mehr Geld für die entscheidenden Zukunftsaufgaben des Wohlfahrtsstaats vorhanden, für Bildung und Gesundheit. SPIEGEL: Den europäischen Regierungen geht das Geld aber vor allem auch wegen der Altersvorsorge aus, das bei Ihrer Aufzählung nicht vorkommt. Giddens: Das demografische Problem ist in der Tat krass. Deshalb sollten die Europäer hier besonders radikal denken: Warum d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 J. LEIGHTON / NETWORK / AGENTUR FOCUS zwingen wir die Menschen ab einem bestimmten Alter in Pension? Warum versuchen wir, das Rentenalter noch weiter zu senken? Dadurch entsteht bloß ein Ghetto der Alten, in dem die Gesellschaft ihnen das Arbeiten verbietet. Jeder sollte frei wählen können, wie lange er arbeitet. SPIEGEL: Umfragen in Deutschland zeigen aber, dass 70 Prozent der Bevölkerung nicht länger arbeiten, sondern lieber früher, mit 60 statt mit 65 in Rente gehen wollen. Giddens: Wer genug Geld gespart hat, kann von mir aus auch mit 30 den Job aufgeben. Giddens (M.) beim SPIEGEL-Gespräch* „Die Menschen sind nicht blöd“ Aber wer bis 70 oder 80 arbeiten will, sollte das auch dürfen. Eigentlich sollte man das jetzige Rentensystem sogar ganz abschaffen und … SPIEGEL: … wie bitte? Das meinen Sie doch nicht etwa ernst … Giddens: … erst mal ist das nur ein Gedankenspiel. Aber ich bezweifle, ob die Rente, so wie sie heute funktioniert, wirklich sinnvoll ist. Stattdessen wäre zu überlegen, ob der Staat nicht besser auf andere Weise für seine Bürger vorsorgt. Anstatt alle wie in Deutschland mit 65 in Rente zu zwingen, könnte die Regierung denjenigen, die das wollen, auch mit 35 oder 45 einen Kredit für Fortbildungsmaßnahmen geben. Im Prinzip muss ein moderner Wohlfahrtsstaat stets für zweierlei sorgen: Zum einen sollte jeder die Chance erhalten, ein befriedigendes Leben zu leben, ein möglichst gutes Auskommen zu erlangen; zum anderen muss der Staat natürlich weiterhin die Bedürftigen vor Armut schützen. Aber beides hat überhaupt nichts mit dem Alter zu tun, sondern damit, eine neue Brücke zwischen den Generationen zu bauen. SPIEGEL: Solch radikaler Umbau bedeutet doch für jede sozialdemokratische Partei politischen Selbstmord. Giddens: Natürlich ließe sich eine solche Idee nur in kleinen Schritten umsetzen. Aber nur wenn die Linke bereit ist, radikal zu denken, kann sie die Probleme wirklich an den Wurzeln packen. SPIEGEL: Professor Giddens, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. * Mit Redakteuren Manfred Ertel und Ulrich Schäfer in seinem Londoner Büro. d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Ausland TSCHETSCHENIEN Sturm auf Ruinen AFP / DPA Die Grenzen sind abgeriegelt, Grosny wird bombardiert: Ein Moskauer Wahlmanöver gerät zum totalen Krieg. Russische Patrouille vor Grosny: „Keinen Schritt weiter, wir schießen sofort“ tagsüber halten dieselben Rekruten in schmutzstarrenden Uniformen und durchlöcherten Stiefeln auf der Fernstraße nach Grosny die Flüchtlinge in Schach. Als „erfolgreichen Schlag“ gegen die islamistischen Terroristen haben Russlands Armeeführer die Abriegelung der Tschetschenen-Republik gefeiert. Dabei haben es ihre Soldaten vor Ort ausschließlich mit wütenden, weinenden, verzweifelten Zivilisten zu tun. „Alles läuft nach Plan“, versichert in Moskau Premier Wladimir Putin. Westlich der Absperrung stehen jene, die sich im Moment der Grenzschließung aus irgendeinem Grunde im benachbarten Inguschien aufhielten, eine Autostunde von Grosny entfernt. Taus Junussowa, 40, hielt sich nur wenige Stunden zur Krebsbehandlung in Nasran auf, ihr Sohn Edelbek, 9, blieb beim Großvater im tschetschenischen Schali zurück. „Alle Tschetschenen, die älter sind als zwölf, sind Terroristen, hat Putin gesagt. Zählt mein Sohn auch schon dazu?“, will die Frau in Galoschen und schwarzer Tschetschenen-Tracht von den russischen Posten wissen. Die schweigen. Saibudin Huldatow wiederum will wegen seines Neffen Bagdan, 38, der neben ihm im Auto liegt, nach Grosny zurück. REUTERS Bagdan ist tot, im Krankenhaus von Nasran an einer Lungenentzündung gestorben – er hat die kalten Bombennächte im Luftschutzkeller in Grosny nicht überlebt. HulRussischer Premier Putin in Moskau datow besitzt alle Papiere für die Über„Alles läuft nach Plan“ führung. Er hört von den Posten: „Keinen Schritt weiter, wir schießen sofort.“ uf manches war die Tschetschenin Für die Tschetschenen auf der anderen Sunja Oschikowa in ihrer ersten Seite des Kordons ist die Lage noch draFluchtnacht gefasst, nur nicht auf matischer. Sie sitzen in der Falle – mit KinBesuch. Den ganzen Tag hatte sie gedern und Frauen, mit Verwundeten und braucht, um sich einen Meter tief in das den Leichen. Allein Ceda Ischanowa hat Maisfeld zu graben. Sie hatte Planen über nach einer Schreckensnacht mit ihren fünf die Grube gespannt und das von den KinKindern den Grenzübertritt ins rettende dern aufgetriebene Ofenrohr über die kleiInguschien geschafft. Als die Familie neben ne Feuerstelle gestülpt. Da bittet jemand der Straße Brennholz suchte, feuerten die von draußen um Einlass. Soldaten drei Garben aus ihren MaschiIn die Erdhütte rutschen zwei unifornenpistolen. Dann ließen sie die Frau pasmierte Jungs mit dreckverschmiertem Gesieren – für 500 Rubel, umgerechnet 36 sicht – Soldaten von der Westfront der rusMark, und ein wenig Goldschmuck. sischen Tschetschenien-Armee. Die beiAus Süden her orgeln die Geschosse der den, die tags zuvor mit ihren Kameraden im inguschischen Dorf Arschpy stationierbefehlsgemäß die nahe gelegene inguten Raketenwerfer Richtung Grosny. Die schisch-tschetschenische Grenze abgerieRuinen der tschetschenischen Hauptstadt gelt hatten, den letzten Fluchtweg aus werden sturmreif geschossen. der kaukasischen Rebellenrepublik, waGeneral Gennadij Troschew, Kommanren im Schutz der Dunkelheit heimlich deur der Ostfront gegen Tschetschenien, aus ihrer Stellung ins Maisfeld geschlibegnügt sich nicht mit militärischen Mitchen. Sie bitten die Flüchtlingsfrau Sunja teln: Er hat „patriotische Geschäftsleuum Brot und ein bisschen Zucker. te“ gefunden, welche für den Die Verpflegung ihrer TrupKopf seines tschetschenischen pe sei viel zu knapp, Bittbriefe Tschetschenen nach Luftangriff: Moskau fürchtet Gräuelbilder Erzfeindes Schamil Bassajew nach Hause aber seien verboeine Million Dollar gestiftet ten. Sie hätten auch Tauschwahaben. re dabei: einen Kasten voller Was sich derzeit an der Patronen. Sold wie im Kosovo tschetschenischen Grenze abwar ihnen angekündigt worspielt, ist für Inguschiens Präsiden, 1500 Mark im Monat. denten Ruslan Auschew – eiKaum ein Zehntel davon benem früheren Sowjetgeneral – kommen sie ausgezahlt plus das Werk einer „Militärdiktavier Mark am Tag Zuschlag. tur“, selbst im letzten Krieg Im Krieg des Kreml gegen habe sich Moskau „eine solche die Kaukasier zwingt schlichBrutalität gegenüber Flüchtlinter Hunger die Verfolger des gen nicht erlaubt“. Nachts zu den Verfolgten. Doch C. MORRIS / BLACK STAR A 174 Der eigentliche Grund für die Totalblockade ist in den Ängsten der Moskauer Führung zu suchen: Mehr noch als die Freischärler fürchtet die Regierung Bilder, wie sie nach der blutigen Raketenattacke auf den Zentralmarkt von Grosny um die Welt gingen. Weitere Belege über die ansteigende Zahl ziviler Opfer könnten den Westen womöglich doch noch veranlassen, Russland den Geldhahn zuzudrehen. Deshalb verschweigen die russischen Fernsehnachrichten auch, dass Tschetschenen-Präsident Aslan Maschadow ein neues Verhandlungsangebot vorgelegt hat. Kein Wort, kein Bild erscheint vom Mord auf dem Markt in Grosny. Sie melden ebenfalls nicht, dass russische Intellektuelle gegen die Unterbrechung der Stromzufuhr nach Tschetschenien protestieren („Todesurteil für Arme und Kranke“). Es darf nicht bekannt werden, dass der Menschenrechtler Sergej Kowaljow die „Anti-Terror-Aktion“ für ein Wahlmanöver hält, das zum „totalen Krieg gegen die gesamte tschetschenische Bevölkerung“ führt. Die Popularität von Premier Putin wächst denn auch dramatisch: Inzwischen ist er der beliebteste Anwärter auf das Präsidentenamt. Russlands Medien stellen „die Tatsachen auf den Kopf“, beschwerten sich die Tschetschenien-Korrespondenten der drei wichtigsten Moskauer TV-Sender. Als Said-Hussein Zarnajew, freier Mitarbeiter des russischen Fernsehprogramms ORT, Bilder vom Bombenangriff auf die Dörfer Samai-Jurt und Noschai-Jurt nach Moskau überspielte, „da haben die Leute vom Sender nur höhnisch gelacht“, sagt er. Jedes Videoband werde von einem Zensor geprüft. Aber auf allen Kanälen des russischen Fernsehens tanzt ein fröhliches Feldballett zur Truppenbetreuung an der Front. Mosdok, das russische Hauptquartier vor der tschetschenischen Nordwestgrenze und der wichtigste Luftwaffenstützpunkt, ist bereits der eigenen Propaganda erlegen – es herrscht Siegesstimmung. Ruslan Ussujew, in Nasran lebender Flüchtling aus Grosny, bekommt sie zu spüren. Er hat sich in seinem Auto über die Berge bis in die Garnisonstadt durchgeschlagen, als er seinen Ausweis vorzeigen muss. „Was“, schreit ein Hauptmann mit hochrotem Kopf, „du wagst dich als Tschetschene hierher? Natürlich ist das Auto geklaut, drei Tage Haft, zur Feststellung deiner Personalien.“ Dann begnügt er sich mit 200 Rubel Wegegeld, umgerechnet 14 Mark. „Diesmal nehmen wir Grosny in die Zange und drehen euch ganz, ganz langsam die Luft ab“, gibt er dem Tschetschenen schnell noch seine Sicht der Dinge mit auf den Weg: „Auch der letzte tschetschenische Terrorist wird vernichtet, und wenn dabei ein paar zehntausend Menschen über die Klinge springen.“ Christian Neef d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 AP REUTERS Ausland Learjet-Absturzstelle in South Dakota, Pilotin Bellegarrigue: Letzter Funkkontakt über Gainesville USA „Ein fliegender Sarg“ Der vierstündige Geisterflug eines Learjets schockte Amerika. Unglücksursache war vermutlich ein Druckverlust, der auch für Passagiere von Linienmaschinen tödlich sein kann. A m vergangenen Mittwoch begannen Bagger, einen Graben um einen drei Meter tiefen und neun Meter breiten Krater auszuheben im Weideland nahe Mina im US-Staat South Dakota. Mitarbeiter der amerikanischen Unfallbehörde National Transportation Safety Board (NTSB) wollen sich wie Archäologen nun von den Rändern des Grabens aus zu den zerfetzten Überresten eines Jets vorarbeiten. Am Montag um 13.14 Uhr Ortszeit hatte sich die Maschine fast senkrecht in den weichen Grund gebohrt. „Um mögliche Spuren für den Unfallhergang nicht zu zerstören“, erklärte der Leiter der NTSB-Ermittler Robert Francis, sei äußerste Vorsicht bei der Bergung geboten. Wie Teile eines Puzzles sollen die Fetzen verbogenen und gerissenen Metalls anschließend in einem Hangar ausgebreitet werden. Es dürfte viele Monate dauern, so Francis, bis die Ursache für den Geisterflug des Learjets 35 zu rekonstruieren sei. Wie ein fliegender Holländer war die Maschine per Autopilot vier Stunden lang über Amerika geflogen – Besatzung und Passagiere vermutlich tot. An Bord war auch das US-Golf-Idol Payne Stewart. Die Piloten des 23 Jahre alten Jets der Betreiberfirma Sunjet Aviation – Michael Kling, 43, und Stephanie Bellegarrigue, 27 – hatten sich 25 Minuten nach dem Start in Orlando in Florida zum letzten Mal über 176 Gainesville im Norden des Bundesstaates gemeldet. Für den Flug nach Dallas in Texas erteilten die Lotsen den Piloten die Genehmigung, auf 39 000 Fuß (11 900 Meter) zu steigen. Aber als der Jet 37 000 Fuß erreichte, mutierte die eben noch kontrollierte Maschine zum Geisterflieger. Der Funkkontakt riss ab, das Flugzeug driftete vom ursprünglichen Kurs nach Nordwesten ab. Da forderte die Luftaufsichtsbehörde Federal Aviation Administration Kampfmaschinen bei der Air-Force an – als Eskorte für den offenbar nur noch vom Autopiloten gesteuerten Learjet. Wäre der Privatflieger auf eine Stadt zugestürzt, hätten sie K A N A D A SOUTH DAKOTA Absturzstelle Mina U S A 500 km geplantes Ziel Dallas Gainesville Start FLORIDA Orlando TEXAS Golf von Mexiko d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 ihn auf Befehl von US-Präsident Bill Clinton, nur er könnte diese Order erteilen, abschießen müssen. Noch während des Irrfluges erfuhr der Fernsehsender CNN von dem Drama über den Wolken, Millionen von Amerikanern verfolgten die Live-Berichterstattung – unter ihnen auch Tracey Stewart, die Frau des prominenten Golfspielers. Ihr Mann hatte den Jet gechartert. Gemeinsam mit seinen zwei Managern und einem weiteren Fluggast wollte Stewart zum Golfturnier in Houston reisen. Über Handy versuchte die Verzweifelte noch, ihren todgeweihten Ehemann zu erreichen. 2250 Kilometer legte der Geisterjet zurück, fünf Kampfflugzeuge lösten sich ab, bis die Turbinen der Privatmaschine über menschenleerem Gebiet trocken geflogen waren. Air-Force-Piloten, die sich bis auf wenige Meter genähert hatten, waren es, die erste Hinweise auf die mutmaßliche Unglücksursache gaben. Die Scheiben des Jets seien milchigblind gewesen, von Eis überzogen, sagten sie. Deshalb glaubt Chefermittler Francis, ein plötzlicher Druckabfall in der Learjet-Kabine könne des Rätsels Lösung sein. Allerdings sei das vorerst nur eine Hypothese, schränkte Francis ein, das NTSB werde „sich allein von den aus den Wrackteilen ermittelten Fakten leiten lassen“. Doch außer einem Triebwerk und einem Flügel, die weitgehend intakt geborgen werden konnten, findet sich am Unfallort nur zerrissenes Metall. Ob die handtellergroßen Fetzen reichen, um die Unglücksursache zweifelsfrei zu ermitteln, erscheint fraglich. Der Einsatz einer Black Box, die Dutzende von Flugdaten und technischen Parametern aufzeichnet, war für das Geschäftsflugzeug nicht vorgeschrieben. Der Voicerecorder könnte selbst dann, wenn er gefunden würde, kaum Aufschluss geben: Derartige Geräte erfassen nur die letzten 30 Werbeseite Werbeseite Ausland AP Unglücksmaschine Learjet 35: Verkaufsofferte im Internet wäre dies, wie NTSB-Ermittler erklärten, geschehen. Allerdings sei eines der Ventile zwei Tage vor dem Absturz erneuert worden, weil es nicht richtig funktionierte. Piloten werden im Simulator darauf trainiert, bei einem lebensgefährlichen Druckabfall rasch zu reagieren. Normalerweise entspricht der Kabinendruck in einem Passagierjet etwa dem der Luft in 2000 Meter Höhe über dem Meer. Sackt er jäh unter 178 Die „time of useful consciousness“, wie Piloten die Zeit bis zur Ohnmacht nennen, fällt mit der Höhe rapide: Sind es bei plötzlichem Druckverlust in 6000 Meter Höhe noch zehn Minuten, so bleiben Piloten bei 12 000 Metern – übliche Reise-Höhe auf Transatlantik-Flügen – nur noch 15 Sekunden, um zu reagieren. In etwa dieser Höhe ereilte auch den Unglücksjet das Verhängnis. Sollten Crew d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 und Passagiere zu diesem Zeitpunkt in Ohnmacht gefallen sein, so war „der Learjet kaum mehr als ein fliegender Sarg“, wie ein US-Experte erklärt: Der Sauerstoffmangel in solcher Höhe führe nach wenigen Minuten zum Hirntod. So etwas passiert in Passagierund Geschäftsflugzeugen sehr selten. Vor drei Jahrzehnten ermittelte die FAA einen Druckabfall alle 54 300 Flugstunden. Neuere Untersuchungen gibt es nicht, doch treten derartige Unfälle heute eher noch seltener auf. Aber wenn es zu einem Druckabfall kommt, sind JetPassagiere heute in größerer Gefahr als früher. Denn aus ökonomischen Gründen fliegen Verkehrsmaschinen immer höher. Moderne Geschäftsflugzeuge wie neue Learjets oder Gulfstreams erreichen bereits Höhen von über 15 000 Metern. Der Grund: In größerer Höhe fällt der Luftwiderstand und damit der Treibstoffverbrauch. Das ÜberschallPassagierflugzeug Concorde kann im Reiseflug gar über 60 000 Fuß erreichen. Bei Höhen von über 48 000 Fuß aber, so der Flugmediziner Heiko Welsch vom Flugmedizinischen Institut der Luftwaffe, ist jeder Mensch ohne Druckanzug extrem gefährdet. Zwar muss bei Flügen mit der zweifach schallschnellen Concorde einer der Piloten ständig mit angelegter Sauerstoffmaske fliegen, doch das würde die Passagiere im Falle eines Druckverlusts wohl nicht vor dem Tod bewahren. Flugmediziner geben ihnen bei Druckabfall in Höhen von 50 000 Fuß kaum Überlebenschancen. „Bei 60 000 Fuß“, so Welsch, „geht für Flugmediziner die Raumfahrt los.“ Bei 63 000 Fuß kocht im Falle eines Druckverlustes das Blut – keine Chance. Schon bei einer Höhe von 40 000 Fuß kann Gewebe im Körper zerreißen. Die „wasserstoffgesättigten“ Gase in Lunge und Darm, so Welsch, dehnen sich dann explosionsartig auf das Siebenfache ihres ursprünglichen Volumens aus, in Höhen zwischen 50 000 Fuß und 60 000 Fuß gar auf das 10- bis 20-fache. Ob die Menschen an Bord des Learjets innere Verletzungen davontrugen, wird sich vermutlich nie ermitteln lassen. Zu sehr wurden die Körper beim Aufprall zerfetzt. Während Amerika noch um sein GolfIdol Stewart trauerte, das Sternenbanner auf halbmast flatterte, empörte viele eine makabre Panne des Learjet-Eigners Sunjet Aviation aus Sanford in Florida: Auf einer Internetseite bot Sunjet die Unglücksmaschine zum Verkauf an – „innen und außen in erstklassigem Zustand“. Am Tag nach dem Absturz in South Dakota war die Annonce noch immer nicht gelöscht. Ulrich Jaeger DPA Minuten der Cockpit-Gespräche in einer Endlosschleife. Da der Jet vier Stunden lang führerlos flog, kann das Magnetband keinen Hinweis mehr auf die entscheidenden Minuten geben. Gewebefetzen der Learjet-Insassen, die im Umkreis des Einschlagkraters gefunden wurden, werden derzeit auf Spuren von Drogen, vor allem aber auf Rauchbestandteile wie Kohlenmonoxid untersucht. Die würden auf einen Brand an Bord schließen lassen. Ob die Opfer nach einem Druckabfall in der Kabine erstickten, lässt sich so hingegen nicht feststellen. Tests für die wahrscheinlichste der Theorien, so einer der beteiligten Pathologen, „lassen sich in diesem Fall nicht anwenden“. Da die Kampfjet-Piloten an Unfallopfer Stewart: Anruf der verzweifelten Ehefrau dem Geisterflieger keine äußeren Schäden wie zerborstene oder fehlen- diesen Wert, werden die Piloten durch opde Fenster erkennen konnten, scheint der tische und akustische Signale alarmiert. Druck jedoch nicht plötzlich und explo- Dann müssen sie sofort Sauerstoffmasken sionsartig abgesackt zu sein. über Mund und Nase ziehen und den Jet Möglich ist, dass die Versiegelung eines auf eine Höhe von etwa 10 000 Fuß Fensters oder der Tür versagte, denkbar drücken. auch, dass feine Risse in der Druckkabine In den Kabinen von Passagiermaschinen des 23 Jahre alten Flugzeugs zu einem fallen dabei automatisch Atemmasken aus „fließenden Druckabfall“, wie Experten der Decke, die alle Passagiere vor Schädas nennen, führten. den durch Sauerstoffmangel schützen solAuch zwei Ventile des Learjets, die den len. Entscheidend für die Folgen eines Druck in der Kabine regeln, gelten als mög- Druckabfalls sind dessen Tempo und die liche Unfallauslöser. Nachdem der Herstel- Flughöhe. Je rascher der Druckabfall, desler der Ventile eine potenzielle Fehlerquel- to drastischer die Folgen. Je höher das le ausgemacht hatte, ordnete die US-Luft- Flugzeug fliegt, desto verheerender der aufsichtsbehörde 1995 an, dass sie auszu- mögliche Ausgang für Crew und Passatauschen seien. Auch bei dem Unglücksjet giere. Werbeseite Werbeseite E. WIEDEMANN / DER SPIEGEL Ausland BALKAN Orchester aus Solisten Bodo Hombach stößt bei seinem Versuch, Ordnung in den Wirrwarr der Hilfsapparate für Südosteuropa zu bringen, auf Widerstand. N ichts zu essen an Bord, der Kaffee ist alle, aus der Klimaanlage zischen abwechselnd eiskalte und brühwarme Luftduschen. Wenn einer der mitfliegenden Soldaten pinkeln will, muss Bodo Hombach die Beine anziehen, um den Weg zum Urinal hinter der Persenning freizumachen. Dazu fünf Stunden lang Motorenlärm, dass sich das Trommelfell biegt. Reist so des deutschen Bundeskanzlers bester Mann? Warum tut er sich das an? Der derbe Landserkomfort der Transall hebt das Pionierbewusstsein des „Sonderbeauftragten für den Stabilitätspakt in Südosteuropa“. Außerdem ist es billiger als zehn Linienflüge für den EU-Koordinator, seine fünf Referenten und vier Leibwächter. Die Transall soll Fracht aus Kreta holen. Eine Zwischenlandung im Kosovo kostet nur ein paar Mark Landegebühren extra. Bevor Hombach das Flugzeug durch die Frachtluke verlässt, gehen seine Leibwächter draußen mit entsicherten Maschinenpistolen in Stellung. Eine überflüssige Vorsichtsmaßnahme. Das Flugfeld von Pri∆tina liegt – abgesehen von ein paar britischen und amerikanischen Wachsoldaten – fast menschenleer im lauwarmen Mit180 tagsdunst. Hier wünscht Bodo Hombach niemand was Böses. Hier nicht. Im Uno-Regionalhauptquartier im Zentrum der Stadt trifft der Brüsseler Koordinator Hombach zunächst den Uno-Koordinator Bernard Kouchner. Mit ihm wird er erörtern, „wie man aus Projekten Baustellen macht“ (Hombach). Kouchner ist offensichtlich nicht erfreut über den Besuch. Es ist ja kein Geheimnis: Der Mann aus Avignon und der Macho von der Ruhr pflegen keine Herzensbeziehung. Immerhin: „Das Verhältnis der beiden entspannt sich langsam“, sagt hinterher einer der Beisitzer. Hombach gibt sich betont verbindlich. Jetzt bloß nicht den Großrevisor spielen. Aber er nimmt auch Anstoß, wenn er etwas für anstößig hält. Das Kosovo muss für die Wintermonate mit katastrophalen Engpässen in der Stromversorgung rechnen, weil der Brennstoffnachschub nicht klappt. Das macht ihn wütend: „Die haben hier mit die reichsten Braunkohlevorkommen Europas. Und die Leute müssen frieren, weil die Kohle nicht rausgeholt werden kann.“ Im Januar wolle Kouchner eine Energiekonferenz einberufen. „Im Januar, wenn der Winter fast vorbei ist. Na, ja, der Mann ist Arzt.“ Den letzten Satz nuschelt er so leise, dass er bei Beschwerden hinterher sagen kann, er sei missverstanden worden. Der Augenschein weckt Zweifel daran, dass das Wiederaufbaumandat in guten Händen ist: Einige Büros sehen noch immer so aus wie nach dem letzten NatoBombardement im Juni. Kaputte Türen, faulender Aktenmüll zwischen umgekippten Schränken; im zweiten Stock hängen spitze Glasscherben wie Fallbeile in den Fensterrahmen. Die CDU-Europaabgeordnete und Balkan-Spezialistin Doris Pack hat ein fabeld e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 K. MÜLLER Balkan-Koordinator Hombach in Pri∆tina: Wer sich kooperativ zeigt, erhält Sonderrationen Aufbaueinsatz der Bundeswehr im Kosovo „Multiplikation der Strukturen“ haftes Patentrezept für das Kosovo: Man brauche jetzt einen, der bestimmt, und viele Macher, die das Richtige tun. „Das Labyrinth der Hilfsorganisationen ist völlig unüberschaubar. Die Menschen haben die Nase voll von runden Tischen. Sie wollen Ergebnisse.“ Frau Pack sagte aber nicht, wie sie sich die Lösung vorstellt. Im Kosovo, so hat der ehemalige EUKommissionspräsident Jacques Santer gesagt, habe eine „Multiplikation der Strukturen ohne präzise Konsequenzen“ stattgefunden. Richtig. Doch die Konfusion müsste beispielsweise Kouchner nicht daran hindern, sich der Sanierung der Elektrizitätswerke sowie der Braunkohlegruben zu widmen und das Kosovo winterfest zu machen. Es fehlt ihm nicht an Geld und Entscheidungsbefugnis, um das zu tun, was er für nötig erkannt hat. Außer dem Meeting mit Kouchner stehen nacheinander Treffen mit dem serbisch-orthodoxen Bischof Artemije sowie mit den Albanerführern Ibrahim Rugova und Hashim Thaçi auf Hombachs Agenda. Der Bischof erscheint nicht, angeblich, weil er sich bedroht fühlt. Und die zwei Politiker, so ein Teilnehmer der Blitzkonferenz, wussten offenbar nichts von den geplanten Tagesordnungspunkten. Sie fanden sich im Gewirr der Zuständigkeiten einfach nicht mehr zurecht. Hombach bleibt dabei: „Wir haben hier unten ein Orchester aus prima Solisten, die müssen nur richtig orchestriert werden.“ Nur, was tun, wenn sie sich nicht orchestrieren lassen wollen? Hombachs Stab zählt 28 Mann aus 15 Nationen. Alles ausgesprochene „Glücksfälle“. Jetzt muss er das geballte Glück nur noch zweckdienlich einsetzen. Vorletzte Woche war Hombach in Sofia, Skopje und Tirana. Er sagt, dort habe er viel Sympathie und viel Verständnis gefunden. Es wäre gut gewesen, wenn er auch Belgrad besucht hätte. Denn ohne die Beteiligung der Serben ist der Balkan nicht sanierbar. Der bulgarische und der rumänische Außenhandel liegen darnieder, weil die westliche Wertegemeinschaft nicht mit Serben-Zar Slobodan Milo∆eviƒ über die Räumung der blockierten Donau und über den Wiederaufbau der zerstörten Brücken in Novi Sad verhandeln will. Ein Hombach-Mitarbeiter: „Die serbische Kuh steht mit allen vieren fest auf dem Eis.“ Um die Blockade zu unterlaufen, hat sich Hombach im südungarischen Szeged mit oppositionellen Bürgermeistern aus 20 serbischen Städten getroffen, um sie zu Partnerschaften mit deutschen Städten zu animieren. Wer sich kooperativ zeigt, soll mit Sonderrationen Strom und Heizöl für den Winter belohnt werden. Mit dem Bürgermeister der Industriestadt Novi Sad schloss Hombach ein Abkommen: Die Stadtverwaltung lässt die Pontonbrücke zwischen dem Zentrum links der Donau und der alten Festung Petrovaradin abräumen; dafür soll ihr die EU eine richtige Brücke bauen, unter der auch Schiffe hindurchfahren können. Nur, die Pontonbrücke ist Eigentum der Zentralregierung in Belgrad. Niemand wird es wagen, sie ohne die Zustimmung von Milo∆eviƒ abzureißen. Und diese Zustimmung ist derzeit nicht erhältlich. Bodo Hombach verfolgt das Projekt trotzdem weiter. Er wehrt sich gegen die These, dass die normative Kraft politischer Ranküne auf dem Balkan noch endgültiger sein soll als in Berlin. Hombach wehrt sich auch gegen den Verdacht, sein Kanzler habe ihn zur EU abgeschoben, damit er dort seine Immobilienaffären aussitzen könne. Ganz das Gegenteil sei der Fall gewesen. Er selbst habe sich um den Job beworben. Doch der Kanzler habe ihn erst ausgelacht. Er sagte: „Ich glaube, du bist bekloppt.“ Tags darauf habe Schröder ihn gefragt: „Sag mal, meinst du das ernst?“ Um zu beweisen, wie ernst er seine Südosteuropa-Mission nimmt, will er sich zu seinen Wohnungen in Brüssel und Mülheim an der Ruhr demnächst noch eine dritte in Budapest leisten. Erich Wiedemann d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Ausland SCHWEIZ Schlaue Verrenkung Großmäulig fordert Wahlsieger Blocher das Ende der seit 40 Jahren bewährten Koalition. Doch für einen Rechtsruck fehlt ihm – noch – die Kraft. D AP as hektische Treiben von nervösen Kameraleuten, Journalisten und Fotografen erinnerte an Auftritte von Filmstars und Popmusikgrößen. „Wie eine Dampfwalze“ (so das Boulevardblatt „Blick“) bahnte sich am vorletzten Sonntag Wahlsieger Christoph Blocher, 59, im Zürcher Fernsehstudio einen Weg zum Mikrofon. Der Milliardär und Volkstribun, der seinen Anbetern einredet, die Heimat sei durch Horden von Steuereintreibern und kriminellen Asylbewerbern in Gefahr, war gekommen, um einen „historischen Wahlsieg“ zu feiern. Blochers nationalkonservative Schweizerische Volkspartei (SVP), bislang hinter Freisinnigen und Christdemokraten die dritte bürgerliche Kraft im Parlament und mit einem Sitz Juniorpartner in der siebenköpfigen Regierung, gewann diesmal im 200-köpfigen Nationalrat 15 Sitze hinzu. „Die Schweiz“, resümierte die Lausanner „24 heures“ am Morgen nach dem Wahltag, „wacht mit Kopfweh auf.“ Seinen Triumph erreichte der heimliche Parteiführer Blocher, der das Präsidium von dem Getreuen Ueli Maurer verwalten lässt, mit fremdenfeindlichen Angstparolen, mit der Forderung nach Steuersenkungen und mit Schmähreden gegen jede Öffnung des Landes zur Uno oder zur EU. Auch stehen keinem anderen Politiker der- die Alles-oder-nichts-Haltung Blochers haart unbeschränkte Mittel für seine Propa- ben seine ganze Partei erfasst“, kommentierte der „Tages-Anzeiger“. „Je mehr gandamaschine zur Verfügung. Folgten früher vor allem Bauern, Hand- Macht die SVP hat, desto weniger weiß sie werker, Kleinunternehmer und frustrierte damit anzufangen.“ Auch sein Durchmarsch auf der natiokalte Krieger dem Neutralitätsapostel, zog er mit seinem Ruf nach weniger Steuern nalen Ebene wird sich selten in die diesmal sogar Bankiers in sein Lager. Als großmäulig versprochene rechtsbürgerliBonus garantierte er ihnen, dass er die che Politik ummünzen lassen, zumal sein Schweiz aus der EU raushalten werde und Erfolg aus der Nähe betrachtet nicht so sie dadurch ihre Anziehungskraft als Fi- überwältigend ist. Mehr als die Hälfte seiner Sitzgewinne holte er bei rechten Splitnanzdrehscheibe behalten könne. Predigt und Praxis des Pfarrersohnes tergruppen, die keine Rolle mehr spielen. stimmen allerdings selten überein. Er ist Zudem profitierte er von der Arithmetik berüchtigt für schnelle Wendemanöver und des Verhältniswahlrechts. Die drei großen schlaue Verrenkungen. So verkündete er Blöcke in der Volksvertretung – links und jedem, der es hören will, er habe „mit Ras- grün, bürgerliche Mitte und rechts – sind sismus, Antisemitismus und Revisionismus praktisch gleich stark geblieben. Deshalb ist absehbar, dass die beiden nichts am Hut“. Doch als er im März 1997, auf dem Parlamentskammern am 15. Dezember die Höhepunkt der Debatte über das Nazi- seit 40 Jahren gültige Zusammensetzung gold und die herrenlosen Vermögen von der Regierung aus zwei Sozialdemokraten, Holocaust-Opfern, von einem Anhänger – zwei Freisinnigen, zwei Christdemokraten zum Dank für den Einsatz „gegen jüdi- und einem SVP-Vertreter bestätigen wersche Machenschaften“ – das Werk eines den. „Weder für eine Mitte-Rechts-Regienotorischen Holocaust-Leugners erhielt, rung ohne Sozialdemokraten noch für beendete er seinen Dankbrief mit: „Wie einen zweiten SVP-Sitz und den RausRecht er doch hat.“ Das Buch habe er nie schmiss eines sozial- oder christdemokragelesen, rechtfertigte er sich vor der Wahl tischen Ministers gibt es im neuen Parlaund spielte das verfolgte Unschuldslamm, ment eine Mehrheit“, analysierte die freidas sich gegen eine „perfide Schlamm- sinnige Parteiführung das Wahlergebnis. schlacht der Medien“ wehren muss. Sitzverteilung im neuen Schweizer Nationalrat Im politischen Alltag sind in Klammern: bisherige Sitze die Erfolge des gelernten ChristlichFreisinnigLiberalLandwirts und promovierDemokratische Demokratische Demokratische ten Juristen bislang bescheiVolkspartei Partei Partei den. Im Zürcher KantonsGrüne 9 (9) 6 (7) 35 (34) 43 (45) parlament, wo SVP und SozialdemoFreisinnige über die absolu- kratische te Mehrheit verfügen, ist Partei 51 (54) Schweizerische Volkspartei von einer „dezidiert bür44 (29) gerlichen Politik“ nichts zu sehen, weil sich die Parteien Partei sonstige 200 Sitze nicht einigen können. „Das der Arbeit 3 (3) 9 (19) Sendungsbewusstsein und Wahlsieger Blocher, Volksparteichef Maurer: „Die Quittung folgt 2003“ 182 d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Allerdings werden Blocher und sein lautstarker Anhang die in den letzten Jahren erprobte „Koalition der Vernunft“ (so die sozialdemokratische Parteichefin Ursula Koch) zur Rücksichtnahme zwingen – mit Widerstand in den Kommissionen, mit effektvollen Auftritten im Plenum gegen jede Annäherung an Uno oder EU und, wenn nötig, mit Volksabstimmungen. „Der nächste Wahlkampf“, ließ er seine Leute wissen, „hat schon begonnen.“ Und er droht: „Die Möglichkeit, eine Politik rechts der Mitte zu machen, ist da. Ergreifen die anderen bürgerlichen Parteien diese nicht, werden sie 2003 die Quittung dafür erhalten.“ Blochers Auftritte seit der Wahl alarmierten die sozialdemokratische Bundespräsidentin Ruth Dreifuss. Auch Hitler, warnte sie im Fernsehen, habe einen ersten Wahlerfolg gehabt. „Wir dürfen nicht zulassen, dass die Demokratie von ihren Gegnern missbraucht wird.“ Jürg Bürgi R. SIGHETI / REUTERS Ausland 200 km UKRAINE Leprakranke auf dem Dorfplatz von Tichile≠ti*: Wie Wölfe in den Wald gebracht Am Rand des Donaudeltas liegt die Leprakolonie Tichile≠ti. Seit dem Ende des Kommunismus steht es den Aussätzigen frei zu gehen. Doch sie bleiben – aus Altersschwäche, Scham oder Angst vor der draußen drohenden Not. Barbu Ignatescu, Direktor der Leprakolonie Tichile≠ti. Seit 1929 leben hier Aussätzige aus ganz Rumänien und dem angrenzenden, heute ukrainischen Bessarabien. Beinahe 200 Insassen waren es anfangs. Auf umgestürzten Holzkreuzen oben am Friedhofshügel verwittern die Namen der Toten. Drunten, in der Glasvitrine von Doktor Ignatescu, sind 27 Dossiers verblieben – die Akten der letzten Überlebenden. Tichile≠ti ist ein Museum der alten Aussätzigenkolonien auf dem Kontinent: streng abgeschieden, mit gepflegten Alleen und Greisen auf schattigen Holzbänken, ist hier durch erzwungenen Weltverzicht ein Gemeinwesen entstanden. Diktator Ceau≠escu (1989) L. DELAHAYE / SIPA PRESS orbei an Pferdewagen und Ochsenkarren führt der Weg durchs Grenzland zur Leprakolonie. Im Dunst drüben, am anderen Ufer der Donau, sind die ersten Weiler der Ukraine zu erkennen. Auf rumänischer Seite mühen sich Bauern um Wein, Mais und Sonnenblumen. Bei Kilometer 132 weist ein Straßenschild nach rechts: Tichile≠ti Hospital. Am Talschluss taucht im Mischwald ein Häuflein gekalkter Häuser auf. Die Eisentore am Eingang zum Gelände stehen offen, das Wächterhäuschen ist verwaist. Ein massiger Mann im Arztkittel kommt näher: d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Bukarest u na Do SERBIEN BULGARIEN rzes Me er Karpaten Tichile≠ti Sch wa „Nur der Knochen bleibt stehen“ * Mit dem Kind einer Krankenschwester. MOLDAWIEN RUMÄNIEN RUMÄNIEN V UNGARN Es gibt eine Kirche, eine Kapelle und eine Art Dorfplatz. Das Regiment führen ein Arzt und Krankenschwestern in weißen Kitteln. Im fahlen Licht des frühen Morgens balsamieren sie offene Wunden und die Seelen der Kranken. Vasile ist 68 und 1945 in einem Viehwaggon nach Tichile≠ti gebracht worden. Gekrümmt, mit Hut und dunkler Brille, setzt er Langmut gegen das Leiden: „Glaubst du“, fragt er und reckt Stümpfe empor, die einmal Hände waren, „diese Finger sind von heute auf morgen abgefallen? Nein. Einer nach dem anderen. Stück für Stück.“ Außer den Fingern hat Vasile der Lepra einen Unterschenkel geopfert und den Großteil seines Augenlichts – nicht aber das Gedächtnis. Er ist die Datenbank der Kolonie. Seine Mitinsassen nennen ihn „Bürgermeister“. Vasile kennt alle, die nun nach und nach über den Hauptplatz geschlendert kommen, ihre Lebensgeschichte, ihre Krankengeschichte, ihre Kose- und Spottnamen. Die wahre Identität wollen die Aussätzigen gehütet sehen – aus Angst, ihre Verwandten draußen könnten Nachteile erleiden. Vasile stellt vor: „Kunta“ Kinte, bürgerlich 183 Werbeseite Werbeseite FOTOS: R. SIGHETI / REUTERS Leprakranke Florusa (2. v. l.), Grigore (r.) mit Leidensgenossen, Weinbauer Vasile (mit Hut): Totgeschwiegen, versteckt und bekämpft Christachi, seiner Arbeitswut und verschmutzten Kleider wegen nach dem TVSklaven gleichen Namens benannt; der „Barsch“, bürgerlich Grigore, ein noch junger und trinkfester Zimmermann aus dem nahen Donaudelta; die „Baptistinnen“ Iufimia und Ustina, zwei fromme Alte; und „die Mandoline“, wortreich klagend Vasiles Nachbarin am Hang. Sie alle gelten fachsprachlich als „ausgebrannte Fälle“ – nicht mehr ansteckend, weil mit einer Mischung aus Antibiotika behandelt. Doch ihre zuvor vom Erreger befallenen Nervenzellen sind tot, Tastsinn und Schmerzgefühl verschwunden. Die geringste Verletzung, Erfrierung oder Verbrennung genügt, und das Fleisch verfault ihnen am lebendigen Leib. Lepra in Europa? Seit Mitte der achtziger Jahre ist die Zahl der Kranken weltweit von sieben Millionen auf eine Million zurückgegangen. Nur einige hundert davon sind auf dem Kontinent gemeldet. Die Aussätzigen von Tichile≠ti sind hoch betagt oder stammen aus abgelegenen Dörfern, in denen die Scham vor Entdeckung den zeitigen Gang zum Arzt verhindert hat. Ein Serum, mit dem das „Mycobacterium leprae“ prophylaktisch bekämpft werden könnte, ist bis heute nicht gefunden. Der Lepra-Erreger breitet sich bevorzugt unter Armutsbedingungen aus und bei 33 Grad Wärme – was dem sommerlichen Normalwert im Donaudelta entspricht. In dessen oft nur wasserseitig zugänglichen Dörfern sind viele der Patienten geboren. Die Baptistinnen in ihren mit Heiligenbildern geschmückten Häusern am Hügel sind als Kinder im Delta erkrankt und in Tichile≠ti, wie sie sagen, durch gottgefälligen Lebenswandel alt geworden: „Die Lepra ist wie ein verwöhntes Weib“, sagt Iufimia: „Sie will, dass du gut isst, auf dich achtest, dich nicht gehen lässt.“ Folgerichtig waren die Aussätzigen im öffentlichen Leben Rumäniens bis 1989 nicht existent. Mit karpatenkommunistischer Beharrlichkeit meldete das Regime von Nicolae Ceau≠escu Jahr für Jahr an die Statistiker der Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Lepra-Quote Null. Denn die biblische Geißel der Sünder, in Wahrheit eine Krankheit der Armen, der Mangelernährten, der auf engem Raum von verschmutztem Wasser Lebenden, hätte schlecht zur Propaganda vom sozialistischen Paradies im Reich Ceau≠escus gepasst. Sie wurde totgeschwiegen, versteckt und bekämpft. Nur Professor Pavel Vulcan, der jetzt, knapp 80-jährig, noch immer in seinem winzigen Bukarester Kabinett residiert, kennt die Kranken von Tichile≠ti beim Namen und ihre Geschichte. Von 1950 an, sagt er, „bin ich mit dem Pferdewagen ausgerückt“. Er habe in abgelegenen Dörfern Lepraverdächtige getestet und, im Fall des Falles, einweisen lassen. Worum es ging, erfuhren fast alle Neuankömmlinge erst in Tichile≠ti. „Warum bringt ihr mich in den Wald wie einen Wolf?“, hat Iufimia ihren Eltern geschrieben. Und der Bürgermeister erinnert sich: „Als ich das Lager sah, war mir klar, dass ich hier für den Rest meines Lebens bleiben würde. Natürlich habe ich ge- Lepraarzt Ignatescu Visionen von Buße in der Kolonie weint. Nicht einmal meine Mutter wusste, wo ich bin.“ „Ich war gegen die Isolation“, sagt Professor Vulcan heute: „Die Menschen hätten zu Hause behandelt werden können.“ Aber Leprakranke seien damals wie Vogelscheuchen betrachtet worden. Die Patientendaten kamen im rumänischen Gesundheitsministerium unter Verd e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 schluss. Noch nach 40 Jahren Kommunismus soll die Sache so geheim gewesen sein, dass der neurotisch Ansteckung fürchtende Staats- und Parteichef nicht im Bilde war: „Ceau≠escu hat nichts davon gewusst“, sagt Victor Ciobanu, bis 1989 Gesundheitsminister im Reich des „Conducators“. Grigore, mit 34 Jahren jüngster Bewohner der Leprakolonie, hat seinen großen Führer trotzdem persönlich gesehen. 1978 war’s, zur Werfteröffnung in Sulina am Schwarzen Meer. Ceau≠escu kam, das Volk stand Spalier, und mittendrin er, Grigore, der begeistert mit seiner verkrüppelten linken Hand winkte und klatschte. Keiner habe etwas bemerkt damals, sagt er. Die Furcht, entdeckt zu werden, hat er erst später verspürt und ins neue Rumänien mitgenommen. Fährt Grigore heim nach Sulina, wie neulich zum Flottenfest im August, dann erzählt er Freunden von früher, er arbeite das Jahr über auswärts als Zimmermann. Und die verkrüppelte Hand? „Arbeitsunfall“, antworte er meistens. Splitter sorgsam verdrängter Wirklichkeit kommen zum Vorschein, wenn die Kranken sich öffnen. Sie erzählen dann Geschichten, die von der Angst handeln, in der neuen, marktwirtschaftlich orientierten Gesellschaft Ballast zu sein, ein Stigma gar für den Ehepartner oder die Kinder draußen. Die Mandoline, eine ausgezehrte Frau von Ende sechzig, ist nach langen Jahren draußen bei ihren Töchtern zurück in die Kolonie gekommen, weil die Krankheit wieder aufbrach: „Es frisst meine Gelenke“, sagt sie: „Das Fleisch fällt einfach ab. Nur der Knochen bleibt stehen. Dann kommt der Doktor und schneidet ihn ab.“ Letzteres sei Einbildung, sagt eine der Krankenschwestern. Der Knochen lasse sich am Ende „einfach so herausziehen“. Auch wenn die Mandoline verkünde, ihr einziges Glück seien die gesunden Kinder, verweigere sie die Wahrheit. Eine der Töchter sei gleichfalls an Lepra erkrankt. Nicht die alten Fälle seien das Problem in Ländern wie Rumänien, sagen westliche Experten. Die Neuerkrankungen würden weder registriert noch der WHO gemeldet; 185 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite das „Case-finding“, die präventive Reihen- staltet wurden, im Kinosaal indische untersuchung, sei unterentwickelt. Die Bot- Schnulzen zu sehen waren und in der Koschaft aus Europas Osten laute: „Das krie- lonie Kinder geboren wurden, doch hat die gen wir schon selbst in den Griff.“ Lust am Leben in Tichile≠ti nicht wirklich Weil seriöse Zahlen fehlen, bleibt das gelitten. Jetzt, wo die Trauben gepresst sind Bild von der hartnäckig verschwiegenen und der trübe Most fließt, der „turbule“, Seuche im Land. „Es gibt viele Lepröse in der schnell zu Kopf steigt, kämpfen sich Rumänien. Wenn sie alle eingesammelt selbst Beinamputierte wie der Bürgermeiswürden, wäre das Krankenhaus hier nicht ter vor Richtung Rachelu, ins nächste Dorf groß genug“, sagt Gheorghe Panait, der an der Straße nach Isaccea. alte Parteisekretär der Kolonie. „Wären wir ansteckend“, sagt er und Oben am Hügel von Tichile≠ti steht Kun- schmunzelt wie ein Junger, „müsste halb ta Kinte, der mächtige Malocher. Vera, die Rachelu die Lepra haben.“ An Verkehr zweite Leidensgenossin, die er sich ins zwischen Kolonie und Außenwelt fehle es Haus geholt hat, ist im Sommer gestorben. nicht, in keiner Hinsicht. Geblieben sind Erinnerungsfotos im Haus, Als unter Ceau≠escu Wahnsinn noch als die der Halbblinde nicht mehr erkennt. Normalfall galt, taugte die vorgebliche AbHinzugekommen ist Veras Sohn aus ers- normität den Leprakranken als Schutzter Ehe. Nach der Wende aufgetaucht, sitzt schild. Rund um die Kolonie sind damals er nun bisweilen mit Kunta Kinte am Fuß Wälder gerodet, Seen trockengelegt und des Weinbergs. Der Junge war jahrzehnte- Kolchosen geschaffen worden. In Tichile≠ti lang verschollen. Geboren in Tichile≠ti, nichts von alledem, stattdessen: Eigenheim, musste er auf Druck der Herrscher zur Federvieh, Brennholzklau. Zwangsadoption freigegeben werden. Wie durch eine Milchglasscheibe haben „1959 dürfte das gewesen sein“, sagt der die Insassen der Kolonie jahrzehntelang alte Professor Vulcan in Bukarest: „Ich war verfolgt, was draußen vorging. Den Komzuständig für den Beschluss, die Kranken munismus, sagt der Bürgermeister, habe er sollten künftig keine Kinder mehr haben.“ daran erkennen gelernt, dass die Bewohner Er habe das damals so formuliert: „Wenn des nächsten Dorfs eines Tages begannen, ihr weiter Kinder kriegen wollt, gut. Aber die eigenen Lämmer für Ostern hinter zudann nehmen wir sie euch weg.“ gezogenen Vorhängen zu schlachten. Von etwaigen Zwangsabtreibungen aber Noch heute gilt die Leprakolonie als wisse er nichts, sagt Professor Vulcan. „Das Sonderfall – als Basisstation in unwirtlicher war Anfang der Siebziger“, rechnet hinge- Gegend, durch staatliche und karitative, gen Florusa vor, die in der Kolonie mit dem westliche Hilfe. Brot, Arznei, Gemüse, Eier, Bürgermeister lebt. Ihr zweites Kind sei Wein und Geld gehen von hier aus hinaus damals unterwegs und die Verordnung ge- ins Land, zu Verwandten und Not leidenrade erlassen gewesen – Kinder von Le- den Freunden. prakranken müssten abgetrieben werden: „Bleibe ich hier, bekomme ich 400 000 „Ich bin dann nach Tulcea ins Kranken- Lei Invalidenrente, und das Essen ist frei“, haus gefahren. Dort ist es passiert.“ sagt der junge Grigore. „Draußen kostet Sagt’s, verschwindet und serviert Hüh- schon ein einziges Brot 2000 Lei. Warum nersuppe für die Arbeiter vor ihrem Haus. sollte ich gehen?“ Auch die KrankenEs ist Weinlese in der Leprakolonie, und schwestern und der Arzt, entschädigt mit der Bürgermeister hat den größten Hang doppeltem Gehalt dank Gefahrenzulage, von allen. Aurel, seines Mundwerks wegen können die Kolonie gebrauchen. „die Kettensäge“ genannt, schneidet die Und so sind die geächteten Aussätzigen Trauben. Der Barsch steht an der Kurbel- von gestern die Mächtigen von heute. „Sie presse. Der Bürgermeister, obwohl beina- werfen mit Schuhen nach uns und schlagen he blind, verzeichnet jeden Kübel frisch zu“, sagen die Krankenschwestern, „aber gepressten Mosts penibel in seiner Kladde. was sollen wir tun?“ Eine Ansammlung Während die Männer sich im eigenen von „Primadonnen“ konstatiert Doktor Weinberg mühen, werkeln in jenem des Herrn die frommen Baptistinnen vom gegenüberliegenden Hügel. „Ich habe mit denen drüben nichts gemein“, sagt Iufimia. Den Bürgermeister hat sie für die Sache der Täufer zu gewinnen versucht, einmal und nie wieder. Er versprach, sich bekehren zu lassen, wenn vorher gemeinsam noch ein wenig Sünde möglich sei. Zwar liegt die Zeit lange zurück, als im alten Sanatorium noch Bälle veran- Pflege einer Leprapatientin: Gefahrenzulage für Gesunde d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 FOTOS: R. SIGHETI / REUTERS Ausland Prediger Nedelcu (l.), Gemeindemitglieder Tränen beim letzten Vaterunser Ignatescu: „Vergleichbares habe ich in 35 Jahren als Arzt noch nicht erlebt.“ Vielleicht aber macht auch Einsamkeit verrückt. Der Doktor, früher immerhin medizinischer Chef der Flotte unter dem Oberbefehlshaber Ceau≠escu, berichtet von seiner Vision, er müsse hier Sünden abbüßen, und von „negativen Energien, da, wo die orthodoxe Kirche steht“. Die Krankenschwestern tuscheln von einer Patientin, die einen Sohn geboren habe und sich im Tod als Mann entpuppte. Ungerührt wie Wärter in der Nervenheilklinik sitzen derweil abends die Leprakranken auf ihren Bänken am Dorfplatz. Einer klaut dem Bürgermeister, der das nicht mehr sehen kann, drei Viertel der Zigaretten. Auf den Hügeln liegt golden das Herbstlicht. Libellen schwirren, Grillen zirpen, in der Ferne grunzt eine Sau. Ansonsten herrscht Stille. Sie macht die Tage hier gleich und verschmilzt die Jahre zu Klumpen. Am Morgen, bei der Messe, haben sich einige der Alten auf den ochsenblutroten Bänken die Augen gewischt, als der Prediger Roman Nedelcu vom Tod, vom Vergehen und vom letzten Vaterunser sprach. Nur Kunta Kinte, der zwei Frauen zu Grabe getragen hat, ist bei Laune. „Wer schneller sterben will, muss zu mir ziehen“, sagt er, grinst und ahnt nichts Böses. Oben, am Friedhofshügel aber, wo Kunta Kintes letzter Platz in der Leprakolonie sein soll, ist inzwischen von unbekannter Hand sein Sterbedatum vermerkt worden: „Dezember 2000“. Walter Mayr 189 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Ausland K R OAT I E N Eisen und Blut Den verdutzten Richtern überbrachte der unangemeldete Präsidenten-Emissär ein Weißbuch, das angeblich die „wahre Problematik des kroatischen Befreiungskampfes in den Jahren 1991 bis 1995 gegenüber der serbischen Aggression und deren langfristigen Auswirkungen“ darlegt. Kroatien wünsche, dass sich das Tribunal in „gewisse innere Angelegenheiten eines souveränen Staates“ nicht länger einmische. Dass er selbst der Klügste und Weitsichtigste seiner Nation ist, kann der „Poglavar“, der Führer, wie sich der Staats- FOTOS: REUTERS (li.); A. KULL / VISION PHOTOS (re.) Mit Nationalismus will das Tudjman-Regime auch die nächsten Wahlen gewinnen. Doch das Volk ist der alten Parolen überdrüssig. ben von der Macht der neuen Herren. Anstelle der serbischen Trikolore weht die kroatische Fahne mit dem Schachbrettmuster an öffentlichen Gebäuden und in den Vorgärten der Vorzeige-Patrioten. Gleich dreisprachig begrüßt das Ortsschild von Knin, einst Zentrum der autonomen „Serbischen Republik Krajina“, den Reisenden: „Welcome, Willkommen, Dobro Do∆li.“ Auf serbisch-kyrillisch grüßt es nicht. Die Krajina ist Kroatenland. Keine Kritik kann das autoritäre Regime des Franjo Tudjman, 77, erschrecken. Der Präsident Tudjman, verlassenes Serbendorf in der Krajina: Freude über die Vertreibung der Andersgläubigen S childer am Rand der Dörfer erzählen von den früheren Bewohnern dieser Region: Djevrske, Kakanj, Varivode – Serbenland. Überall in der buckeligen Landschaft der Krajina stehen Häuser ohne Eigentümer, fensterlos, die Dächer weggeblasen. An der orthodoxen Kirche in Mokro Polje sind frische Brandspuren. Jeder in der Gemeinde weiß, wer es war. „Pravi Hrvati“, sagen die katholischen Bauern, „aufrechte Kroaten“. Die Sieger haben ihre Freude über die Vertreibung der Andersgläubigen allerorts verewigt. Wo einst kyrillische Inschriften auf Wegweisern, Ladenfenstern und Schulen standen, zeugen lateinische BuchstaSchätzungen KROATIEN Das Bruttoinlandsprodukt 1998 liegt mit 19 Milliarden Dollar unter dem von Bremen Arbeitslosigkeit 20 % Veränderung zum Vorjahr Bruttoinlandsprodukt –1,5% Industrieproduktion –2,0% SLOWENIEN UNGARN 100 km Zagreb KROATIEN Krajina Don a u Knin Adria ITALIEN 194 BOSNIENHERZEGOWINA Belgrad Sarajevo MONTENEGRO SERBIEN Zagreber Staatspräsident ignorierte einfach den diesjährigen Report der US-Regierung zur internationalen Lage der Menschenrechte und eine Studie der OSZE. In der wurde Kroatien als ein Land mit begrenzten demokratischen Freiheiten eingestuft. Beide Institutionen beschuldigen Kroatien der Diskriminierung seiner serbischen Mitbürger, prangern die Verletzung von Bürgerrechten gegenüber Roma und Muslimen an und beanstanden die Knebelung der Presse. Doch der an Magenkrebs leidende Tudjman kontert: „Das sind Missverständnisse.“ Keiner soll ihm mehr in seine Politik hineinreden. Doch solch platter Nationalismus verfängt nicht länger. Die Stimmung im Lande ist umgeschlagen. Und obwohl Tudjmans Amtszeit erst 2002 endet, droht seiner Regierungspartei, der Koratischen Demokratischen Gemeinschaft (HDZ), bei Neuwahlen im Dezember der Machtverlust. Für das heimische Publikum präsentiert sich der Staatschef mit den Tito-Luxusallüren pausenlos als „Steuermann der Nation“. Der scheut keine Anstrengungen, um „Kroatien als friedliebende Insel im stürmischen Balkanmeer“ gegen Verleumdungen und Unterstellungen „serbophiler Kreise“ zu verteidigen. Deshalb schickte Tudjman unlängst seinen Justizminister Zvonimir Separoviƒ nach Den Haag zum Uno-Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien. d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 präsident gern nennen lässt, täglich in der streng überwachten Partei- und Regierungspresse lesen. Tudjman gefällt sich in der Rolle eines Balkan-Bismarck, der sein Reich mit Eisen und Blut zusammenschmiedet und die politische Landkarte Südosteuropas neu zeichnet. Der Erfolg seiner Armee, die im August 1995 die aufständischen KrajinaSerben hinwegfegte, war in der Tat ein Wendepunkt im jugoslawischen Erbfolgekrieg, den Serbenführer Slobodan Milo∆eviƒ mit seiner Wahnidee von einem Großreich vier Jahre zuvor ausgelöst hatte. Damals waren es die fanatisierten Serben in ihrer Hochburg Knin, die den Belgrader Chauvinisten bedingungslos folgten und Zagreb den Krieg erklärten. Der Brudermord in Bosnien zeichnete sich bereits ab – eine Blutspur, die schließlich bis ins Kosovo führen sollte. Doch das unmenschliche Prinzip von ethnischer Vertreibung und gewaltsamer territorialer Völkertrennung verbindet Tudjman, den ehemaligen kommunistischen Partisanengeneral, mit seinem Widerpart Milo∆eviƒ bis heute. Es war der KroatenVormann, der trotz eindringlicher Warnungen des Westens im April 1993 das kroatisch-muslimische Verteidigungsbündnis in Bosnien aufkündigte und eine Annäherung an den serbischen Aggressor betrieb. In einem Separatfrieden mit Belgrad wollte Tudjman damals sein schmales, hufeisenförmiges Land vergrößern – auf Kosten ei- ner Teilung Bosniens in eine kroatische und eine serbische Hälfte. Der Plan scheiterte, vor allem am Starrsinn Milo∆eviƒs. Tudjman wusste sich zu rächen: Die Militäraktion vertrieb 200 000 Serben aus ihrer angestammten Heimat. Europas Regierungen äußerten Unbehagen, fühlten sich aber erleichtert, dass Tudjman Uno und Nato die Schmutzarbeit auf dem Schlachtfeld abgenommen hatte – und das Kroatenvolk dankte es dem Poglavar bei vorgezogenen Wahlen. Im Oktober 1995 eroberte Tudjmans HDZ die Mehrzahl der Parlamentssitze. Der Partei- und Staatschef nutzte den Erfolg, um die Republik in ein seltsames janusköpfiges Gebilde zu verwandeln: mit dem Westen liiert, wirtschaftlich im Aufbruch, aber auch mit finsteren Traditionen behaftet und von einem Partei-Clan beherrscht, der sich nur dem Patriarchen rechenschaftspflichtig fühlt. Das kostete auf Dauer seinen Preis: Vier Jahre danach ist Kroatien in Europa isoliert und wirtschaftlich ins Abseits geraten. Während die direkten Nachbarländer Slowenien und Ungarn bereits Kandidaten der ersten Runde bei der EU-Osterweiterung sind, besitzt der Adria-Staat nicht einmal ein Handelsabkommen mit der EU. Eine Aufnahme in die Welthandelsorganisation WTO ist nicht in Sicht. Experten erwarten dieses Jahr einen weiteren Rückgang der Industrieproduktion um 2 Prozent, und das bei einem Niveau von 57 Prozent des Vorkriegsstands. Nicht nur der Verlust sozialer Sicherheiten und die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten bei einer Arbeitslosenrate von 20 Prozent schürten den Unmut gegen das Regime. Wirklich Wut ausgelöst im Lande haben immer neue Korruptionsskandale, illegale Privatisierungsgeschäfte sowie die Kungeleien höchster Staatsvertreter mit dem organisierten Verbrechen. Und immer wieder tauchten dabei Namen aus der Tudjman-Dynastie auf. Vergebens hatten die EU-Staaten im Frühjahr weitere Wirtschaftshilfe und eine Aufnahme Kroatiens in europäische Organisationen mit der Forderung verknüpft, der Präsident müsse zuvor sein Familienimperium auflösen. Tudjman bockte und wartet seitdem vergeblich auf Einladungen zu Staatsbesuchen. Jüngste Meinungsumfragen sehen die Regierungspartei HDZ nur noch bei 20 Prozent, die oppositionellen Sozialdemokraten klar in Front. Aber Tudjman gibt sich sicher, „dass wir erneut siegen“. Unbeirrt hält der Patriarch an seinem Kurs fest. Und auch als Geschichtsforscher will er weiter von sich reden machen. Jüngste ausschweifende Erkenntnis des Dr. Tudjman: Die Vorfahren der Kroaten lebten in der heutigen Türkei, und es handelte sich um niemand anderen als die vorchristliche Zivilisation der Hethiter. Roland Schleicher d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite F. SCHULTZE / LAIF Maltesische Hauptstadt Valletta: Dicht besiedelt wie Monaco, teuer wie London oder Paris bald passieren“, meinte auch Altbundespräsident Roman Herzog bei einem Besuch in Brüssel. 1990 hatte die konservative Regierung in Valletta die Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft beantragt, Beihilfen lockten. Die EG-Kommission prüfte, Maltas Regierung will in die EU. Die Opposition mit positivem Befund, die Beitrittsreife des hingegen droht schon mit dem Austritt aus der Gemeinschaft. Winzlings. Zweimal befassten sich die Staats- und Regierungschefs mit den Maltesern und beie große weiße Uhr mit schwarzen günstig gelegenen Kalkfelsen schlossen, dass die InselreZiffern im linken Turm der Sand- zwischen zwei Kontinenten publik dabei sein sollte. stein-Kirche von Xaghra zeigte angelaufen und wieder ver1996 kamen in Valletta die zehn vor zwölf, die Uhr im rechten Turm lassen. Die Briten hätten die MalSozialisten wieder an die Rezwanzig nach zwei. Für die Leute der Inteser gern dabehalten. 164 gierung. Die Macht wechselt selrepublik Malta macht das Sinn. leicht im Parlament, in dem, Der Teufel, wenn er denn den winzigen Jahre herrschte London mileinzigartig in Europa, nur Staat in den Weiten des Mittelmeeres de und zeichnete die Malzwei Parteien vertreten sind: überhaupt findet, soll in die Irre geführt teser 1942 kollektiv für ihre Ein Vorsprung von 5000 bis werden. Deshalb zeigen viele der 356 Kir- „unerschütterliche Tapfer7000 Wählerstimmen reicht chen auf Malta und der kleinen Insel- keit“ im Kampf gegen die fafür den Wechsel. schwester Gozo – das streng katholische schistischen Achsenmächte Die neue Regierung wollte Land hat mehr Gotteshäuser als Quadrat- Italien und Deutschland mit nun aber der EU nicht mehr kilometer (316) – nur rechts die rechte dem „Georgskreuz“ aus. Seine Landsleute wären 1964, Staatspräsident de Marco beitreten, weil die Nachteile Zeit an. des freien Wettbewerbs für Wohl auf Grund der mannigfachen Er- berichtet Staatspräsident Guifahrungen mit unheilvollen Mächten muss do de Marco, lieber Untertanen der Krone die mit vollen Händen subventionierte heimische Wirtschaft zu groß würden. Mit der tief im Malteser die Neigung wurzeln, viel geblieben als unabhängig geworden. Nun heißt die neue Vormacht Brüssel. EU wollte man lediglich über eine Freihandafür zu tun, dass man nicht weiß, woran man eigentlich bei ihm ist. Über Jahrhun- Und die Malteser bleiben ihren Gewohn- delszone verbunden sein. Die EU-Kommisderte hatten die Phönizier, Römer, Ara- heiten treu. Von der Größe her ganz hinten sion fügte sich, die Minister des EU-Assober, Normannen, Spanier, Osmanen, die in der Reihe der 13 Staaten, die sich zum ziierungsrats stimmten im April 1998 zu. Fünf Monate später dann Neuwahlen in Mönchsritter des Johanniterordens, Napo- Beitritt in die EU drängeln, der Wirtleon und die Engländer jene strategisch schaftskraft nach aber weit vorne, weiß der Malta: Die Konservativen siegten mit fast Kleinstaat nicht so recht, was er eigentlich 13 000 Stimmen Vorsprung. Nun kam die will. Rein oder raus? Vereinbarung über die Freihandelszone in Malta ist ein Lehrbeispiel für ein Land die Ablage und der Antrag auf EU-Vollam Rande Europas: Dass mit den höheren mitgliedschaft wieder auf den Tisch. Rom Umweltstandards der EU oder durch den Die EU-Kommission empfahl Mitte OkZwang von Wirtschaftsreformen zur Qua- tober, die Staats-und Regierungschefs sollBarcelona Neapel lifikation für den Binnenmarkt die Mal- ten beim Dezember-Gipfel in Helsinki Beiteser Vorteile aus dem Beitritt ziehen wür- trittsverhandlungen beschließen, die binden, steht außer Frage. nen Jahresfrist abgeschlossen sein könnMittelm ee Nur, welche Vorteile hat die EU von der ten. Eine Volksbefragung wäre dann noch Algier r Aufnahme dieses Zwergstaats (374 000 Ein- fällig, die Konservativen glauben an eine Tunis wohner) an ihrer südlichen Peripherie? Die Ja-Mehrheit. Malta könnte 2003 EU-MitFrage stellt sich nicht. Der EU-Vertrag be- glied sein – und die Gemeinschaft womögstimmt, wer die rechtsstaatlich-demokrati- lich wenig später wieder verlassen. Gozo 25 km schen und wirtschaftlich-sozialen Voraus„Wir werden entweder die Bewerbung Valletta setzungen erfüllt, darf rein in die Union. für die EU-Mitgliedschaft wieder zurückM A LTA 400km Wo Europa enden soll, geografisch und po- ziehen oder auch aus der EU austreten“, litisch, ist nicht festgelegt. „Müsste aber kündigt der Oppositionspolitiker George E U R O PA Weit weg und ziemlich anders AFP / DPA D 198 d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Ausland DPA Straßen. 70 bis 80 Prozent der Malteser sind regelmäßige Kirchgänger. Der römisch-katholische Glaube ist Staatsreligion laut Verfassung. Die bestimmt auch, dass die Kirche das Recht und die Pflicht zu lehren hat, „welche Prinzipien richtig und welche falsch sind“. Wie eine Reliquie verehrt wird der Stuhl, auf dem Papst Johannes Paul II. während seines Malta-Besuchs 1990 Platz nahm. Scheidung? Überall in Europa ist sie möglich, seit etwa zwei Jahren selbst in Irland. Nur hier gibt es sie nicht. Malta, das nicht einmal so viele Einwohner wie Wuppertal hat, liegt 93 Kilometer südlich von Sizilien. Bis Tunis sind es etwa 350 Kilometer, bis Libyens Hauptstadt Tripolis gerade 500. Bis Rom ist der Weg knapp 700 Kilometer weit, bis Brüssel fast 2000. Und so ist der Zwergstaat auch: verdammt weit weg von Europa und ziemlich anders. Malteser sind Süditaliener, die sich für Engländer halten, Arabisch AP Vella an, „je nachdem, wann wir wieder an die Regierung kommen.“ Auch ein positiver Ausgang des Referendums werde daran nichts ändern. Die Abstimmung sei „rechtlich nicht bindend“. Obendrein hält Vella den Beitritt seines auf strikteste Neutralität verpflichteten Landes zu einer EU, die sich gerade einen bewaffneten Arm schafft, für verfassungswidrig. Vella, der als stellvertretender Regierungschef und Außenminister bis 1998 Verantwortung trug, argumentiert unverfroren: Im EU-Vertrag fehle eine Bestimmung über das Verlassen der Gemeinschaft. „Also ist ein Austritt nicht ausdrücklich verboten, wer raus will, kann raus.“ Das Land sei noch nicht reif für die EU, heizt der Sozialist seinen Anhängern ein. Mit dem Beitritt stiegen erst die Preise, dann die Löhne. Die Investoren, bisher von den um zwei Drittel unter dem deutschen Niveau liegenden Lohnkosten angelockt, würden abgeschreckt. Premier Mintoff mit Staatsgast Gaddafi (1982), Sozialist Vella: „Wer will, kann raus“ Zudem wäre mit anderen sozialen Errungenschaften, da hat Vella wohl Recht, bald Schluss: Alle Studenten erhalten, unabhängig vom Einkommen der Eltern, ein staatliches Monatsgehalt von 300 Mark; Gesundheitsvorsorge ist frei; Brot, Zucker und Trinkwasser sind subventioniert. Im ersten Stock der Parteizentrale ist Labours Welt noch wie immer: Männer, Frauen und Kinder, vereint zu einer großen Familie. Bier fließt reichlich. Zwei Fernseher dröhnen. An der Wand hängen Marmor-Ehrentafeln mit den Namen alter und aktueller Parteigrößen, Fotos von Massenaufmärschen. Dazwischen der über alles verehrte Dom Mintoff. Hier lebt es noch, das Malta aus den Zeiten seines ersten sozialistischen Premiers, der zwischen Libyen und Europa sein eigenwilliges Arbeiterparadies basteln wollte, seinen Sonderweg zwischen Washington und Moskau, London und Havanna suchte und dabei den Umgang mit politischen Parias wie Gaddafi, Kim Il Sung oder Ceauçescu nicht scheute. Aber auch das ist Malta: Tausende von Autos stauen sich sonntags morgens in den 200 sprechen und katholischer sind als die römische Kurie. „Mein Malti muss offizielle EU-Sprache werden“, fordert Präsident de Marco – obwohl Englisch auf den Inseln Verwaltungssprache ist. Es wäre das erste semitische Idiom im Sprachenpotpourri der Gemeinschaft. Die Insel, ihrer neun Sonnenmonate wegen bei Touristen beliebt, hat sich marktwirtschaftlich ordentlich entwickelt. Kleine Betriebe aus ganz Europa siedelten sich an, 40 aus Deutschland. Sie lassen Elektronikbausteine stecken, Anzüge nähen oder Playmobil-Elemente fertigen. Die Menschen sind fleißig, das Ländchen ist heute politisch stabil. Vorbei die Zeiten, als Labour-Jungs und die Boys der Nationalist Party mit Fäusten und Waffen übereinander herfielen, als Labour-Bekenner von der kirchlichen Trauung ausgeschlossen wurden und im Gegenzug schon einmal loszogen und einen Priestersitz abfackelten. Heute träumt New Labour, wie Parteivize Vella, von Malta als der „Schweiz des Mittelmeers“. Dazu freid e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 lich fehlt noch manches. Das Haushaltsdefizit stieg 1998 unter der neuen nationalistischen Regierung auf 11,8 Prozent, so der jüngste Bericht der EU-Kommission über die Entwicklung des Beitragsaspiranten. 40 Prozent aller Beschäftigten werkeln im Öffentlichen Dienst, und das nicht besonders effizient, wie die EU-Prüfer monierten. Landwirtschaft, Schiffbau und etliche andere Branchen arbeiten unter geradezu behüteten Bedingungen. Bei freiem Wettbewerb nach einem EU-Beitritt, befürchtet Vella, „kommt das Desaster“. Mehr als 3000 Jobs, behaupten Euro-Skeptiker von Labour, gingen unmittelbar verloren. Dabei hat der wirtschaftlich allzu schnell gewachsene Kleinstaat Probleme genug: Malta ist, nach Monaco und Singapur, das am dichtesten besiedelte Land der Welt. 1189 Menschen quetschen sich auf jeden Quadratkilometer. Die Bodenpreise liegen in Valletta auf dem Niveau von London oder Paris.Wasser wird knapp, zumal 60 Prozent durch lecke Leitungen versickern. Malta ist das Land mit der höchsten Autodichte: 240 000 Wagen stinken zum Himmel. „In allen Bereichen des Umweltschutzes muss viel getan werden“, verlangt der neue EU-Prüfbericht. Gemessen an den früheren Untersuchungen der EU-Kommission sei „keinerlei Fortschritt gemacht worden“. Und noch ein Problem hätte die EU mit dem Mitglied Malta: Drei Millionen Zugvögel fallen dort jährlich den Flinten und Netzen der 27 000 Jäger zum Opfer. In Malta, so Arnold Cassola, von Dezember an Generaldirektor der europäischen Grünen in Brüssel und bislang Literatur-Professor in Valletta, erkranken wegen der schlechten Luft mehr Kinder an Asthma als irgendwo sonst in der Welt. Nicht nur die Uralt-Busse und allzu vielen Pkw sind dafür verantwortlich. Die Fabriken pusten ihre Abgase genauso ohne Filter gen Himmel wie die Kraftwerke. Und weil es am billigsten ist, verbrennen die Stromerzeuger zudem besonders schwefelhaltiges Öl. Auch der laut Cassola höchste Berg Maltas ist von Menschenhand errichtet: Eine gewaltige Müllhalde im Nordwesten überragt sämtliche Hügel. Und aus dem Erdreich darunter, weiß Cassola, sickern die Abwässer ins Meer – just da, wo Touristen gern baden. Wie soll man mit solch einem bizarren Kandidaten umgehen? Garantien verlangen, dass Brüssel nicht weiter genarrt wird? Das geht leider nicht, weil Malta ja eine Demokratie ist und die Regierenden nicht für die Opposition bürgen können. EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen weiß sich nicht anders zu behelfen, als eindringlich an Malta zu appellieren: Mit der Aufnahme der Beitrittsverhandlungen verbinde man „die Erwartung, dass dies diesmal wirklich Maltas Wunsch ist und bleibt“. Dirk Koch, Hans-Jürgen Schlamp Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Fechtzentrum in Tauberbischofsheim: „Mami, mach es dir gemütlich zu Hause, ich bin nie da“ FOTOS: BONGARTS FECHTEN Emils Geisterbahn Über Jahrzehnte hat Emil Beck seine Sportler und Trainer gefördert, ausgesaugt und fallen lassen. Jetzt geriet der Medaillenschmied selbst in die Kritik. Bei den Weltmeisterschaften in Seoul fehlt er erstmals an der Planche. Von Rücktritt will Beck jedoch nichts wissen. J e älter das Jahrhundert wird, desto mehr bläht sich der Leib dieses kleinen runden Mannes auf den Fotos. Und je mehr er sich ausdehnt, desto besser klingen die Namen der vielen Menschen, die bei ihm zu Besuch waren. Die Bilder, mit denen die Wände im Fechtzentrum von Tauberbischofsheim behangen sind, schrauben sich nach oben wie ein Wagnersches Crescendo: Emil Beck mit Lothar Späth, einst Landesvater in BadenWürttemberg; Emil Beck mit Richard von Weizsäcker, als der noch im Hubschrauber der Luftwaffe unterwegs war. Und dann, fortissimo, Emil Beck mit Helmut Kohl, als der Chef in Deutschland war und die Gelenke noch geschmeidig – die Abbildung zeigt den frühen Kanzler bei einer Dehnübung auf dem Trimm-dichfit-durch-Sport-Gerät. Alle großen Christdemokraten waren bei ihm. Beim Emil, bei 204 dem sich Leistung lohnt; der den verfetteten Deutschen gezeigt hat, wie ein Wirtschaftswunder geht: Emil, das letzte von 13 Kindern, das sich zum Friseur ausbilden ließ und anderen für 50 Pfennig die Haare schnitt; Emil, der in den fünfziger Jahren den Film „Die drei Musketiere“ sah und bei sich dachte, dass es mit einem Degen in der Hand im Leben schneller vorangeht als mit einer Schere. Emil, der vor 47 Jahren einen Fechtclub gründete und viele Jahre später als „Medaillenschmied“ Deutschlands bekannt wurde. Die Galerie mit den Dokumenten klebriger Antrittsbesuche aus Bonn endet mit Helmut Kohl, als sei nach ihm die Welt untergegangen. Es ist, als müsse Emil Beck im Sog seines „lieben Helmut“ gleich mit absaufen. Der Dicke aus Bonn gewann keine Wahlen mehr, der Dicke aus Tauberbischofsheim gewann keine Medaillen mehr. d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Von Montag an müssen Emils Kämpfer, die in den letzten Jahren so oft ins Leere stießen, bei den Weltmeisterschaften in Seoul wieder auf die Planche. Beck, hauptberuflich Boss in Tauberbischofsheim und obendrein Chefbundestrainer aller deutschen Fechter, hat bis vor kurzem gehofft, dass nach diesem Turnier vielleicht noch mal ein Fluggerät aus der Hauptstadt bei ihm landen und einen dieser neuen Politiker ausspucken würde, was bestimmt ein schönes Foto hergäbe. Aus. Vorbei. Emil Beck, 64, fehlt in Südkorea. Er hat sich eine Formel erdacht, nach der er sein Amt als Bundestrainer „vorerst ruhen“ lasse. Die Wahrheit ist, dass Deutschlands oberster d’Artagnan als Führungskraft nicht mehr zumutbar ist. Emil Beck ist Amok gelaufen. Es war, als habe er die Nation zum Tag der offenen Tür geladen und unfreiwillig vorgeführt, Sport was sich hinter seinen Gemäuern in Wirklichkeit verbirgt: eine Geisterbahn. Am Kassenhäuschen sitzt Emil, und innen drin ziehen Gestalten Grimassen, die alle aussehen wie lauter kleine fiese Emils. Vom Besuch des Kanzlers Kohl muss er behalten haben, dass an Niederlagen immer die anderen schuld sind. Schuld am Niedergang des Fechtzentrums von Tauberbischofsheim sind nach Ansicht seines Chefs die Angestellten Matthias Behr, 44, und Alexander Pusch, 44. Der eine ist Leiter des Sportinternats, der andere Bundestrainer für die Degenfechter, beide waren Weltmeister und Olympiasieger. Behr und Pusch haben für Tauberbischofsheim die Trophäen gewonnen, auf die sich der kleine Mann gestellt hat, um immer noch ein Stück größer zu werden. Und als er wieder so klein war wie damals im Frisiersalon, wollte er sie aus ihren Posten jagen. Der vormalige Figaro hat die Ikonen des Taubertals gemobbt und sich damit gewissermaßen selbst rasiert – seine Opfer sind jetzt an seiner Stelle bei den Weltmeisterschaften im Einsatz. Die Geschichte von Matthias Behr und Alexander Pusch zeigt, wie Tauberbischofsheim, diese vorbildliche Werkstatt Im Reich der Klingen Leiter des Olympiastützpunkts Tauberbischofsheim Beauftragter des Landessportverbandes für die Olympiastützpunkte in BadenWürttemberg 400 des deutschen Sportwesens mit freundlicher Unterstützung von Mercedes und dem Bundesministerium des Inneren (siehe Kasten Seite 206), zu Ruhm kam. Beck, ihr Erfinder, hat die Menschen um sich herum in ein subtiles Abhängigkeitsverhältnis manövriert; er hat Sportler zu Siegern gemacht und dafür das Recht auf ihre Persönlichkeit kassiert; er hat sich junge Menschen ausgesucht, denen er beibiegen konnte, dass sich die Welt in Leute teilt, die fechten, und andere, die nicht fechten. Und solche, die fechten, machen ihr ganzes Leben lang Überstunden. „Mami“, so will Beck einst zu seiner Gattin gesagt haben, „Mami, mach es dir gemütlich zu Hause, ich bin nie da.“ Er hat den eigenen Lebensentwurf auf andere projiziert, weil er sie dafür brauchte. Er selbst sagt: „Ich tue für meine Mitarbeiter – egal, zu welcher Zeit – alles, was mir möglich ist. Immer direkt, korrekt und geradeaus.“ A m 6. Juli 1999 findet der Trainer Alexander Pusch in seinem Postfach einen drei Seiten langen Brief, in dem ihm angekündigt wird, dass er demnächst seinen Job los ist. Der Absender hält ihm gebremsten Arbeitseifer vor. Pusch, meint Ämter, die Emil Beck bekleidet 1. Vizepräsident des Fecht-Clubs Tauberbischofsheim 1344 Mitglieder Chefbundestrainer im Deutschen Fechter-Bund (DFeB) Fechter 24 475 Mitglieder Vizepräsident der Gesellschaft zur Förderung des Fecht-Clubs Stellvertretender Vorsitzender des Stiftungsrats der Stiftung Fechtsport Ständiger Gast im Aufsichtsrat der Stiftung Fechtsport Beratendes Mitglied im DFeB-Präsidium Trainer Beck, Medaillengewinnerinnen*: „Wie eine Reise in den Himmel“ d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Beck, habe zu lange schon keine Sieger mehr produziert. Er schreibt: „Und in diesem Punkt hast Du in allen Belangen versagt, Deinen Arbeitsauftrag keinesfalls erfüllt (…) Du hast nie begriffen, dass nur der Gesamterfolg letztendlich erst stark macht (…) Du stellst für leistungsorientierte Fechter keine Alternative dar. Man kann und muss es leider so deutlich sagen: Dies ist ein Armutszeugnis und der sportliche Offenbarungseid!“ Pusch sagt, er habe „Erleichterung empfunden“, als er das las. Er lebt zwar von dem Moment an in fortwährender Existenzangst, aber hat endlich schriftlich, was er schon lange vermutet. Seit Wochen hat er diffuse Rauchzeichen aus dem Taubertal empfangen. Einmal trifft er beim Waldspaziergang eine Bekannte, die ihn fragt: „Alex, stimmt es eigentlich, dass dein Vertrag nicht verlängert wird?“ Auf welchem Niveau es irgendwann enden wird, ahnt Puschs Ehefrau Ute schon seit zwei Jahren. Sie erinnert sich an einen Dialog, der sie in einen Nervenzusammenbruch treibt. Bei der Ehrung der Sportler des Jahres sitzt Emil Beck an ihrem Tisch und klagt über „meine Trainer“, die nicht mehr spuren. „Die arbeite nix, die schaffe nix. Die werde scho sehn, was sie davon haben.“ Ihr ist klar, dass der Tischherr damit ihren eigenen Mann meint. Die Bankkauffrau Ute Pusch ist eine selbstbewusste Frau, sie antwortet ihm: „Wenn ich das höre, bin ich froh, dass ich einen Job habe, der zur Not uns beide über Wasser hält.“ Attacken dieser Art ist Beck im richtigen Leben nicht gewohnt. Er denkt einen Moment nach und sagt dann zu der Frau, die er gern als seine „Lieblingsschwiegertochter“ bezeichnet: „Eh, wie läuft es eigentlich bei euch beiden? Wenn du nicht mehr zufrieden bist, brauchst du mir nur Bescheid zu sagen.“ Na und? Beck findet: „Sicherlich war meine Äußerung unbedacht und zu vorgerückter Stunde ausgesprochen. Aber wenn man jedes Wort auf die Goldwaage gelegt bekommt – das ist ja furchtbar.“ Alexander Pusch verbringt sein Leben bei Emil Beck, seit er elf Jahre alt ist. Er ist der talentierteste Sportler, den Beck jemals zu fassen bekam, aber er fühlt sich 33 Jahre lang ununterbrochen gegängelt. Pusch ist Becks Gegenentwurf: Er muss sich den Erfolg nicht mit Zusatzstunden erarbeiten und lebt sein Leben mit einer Leichtigkeit, die Emil Beck suspekt ist. Alles, was Pusch macht, macht er mit einem schlechten Gewissen. „Man lebt hier in ständiger Angst“, sagt er. Pusch spielt nebenher Golf, und Beck wirft ihm vor, er stecke zu viel Energie in sein Privatvergnügen. Mit 20 wird er Einzel-Weltmeister mit dem Degen, im Mann* Sabine Bau, Anja Fichtel, Zita Funkenhauser bei den Olympischen Spielen 1988 in Seoul. 205 Sport Finte in der Buchführung IOC-Exekutivmitglied Bach Fassungslose Reaktion D ie drei Beamten des Bundesverwaltungsamtes (BVA), die Anfang vergangener Woche im Fechtzentrum Tauberbischofsheim erschienen, erwiesen sich als alte Bekannte. Dreimal innerhalb weniger Wochen waren die Prüfer, Mitarbeiter einer Revisionsstelle für das Bundesinnenministerium (BMI), bereits vorstellig geworden im hintersten Winkel Nordbadens. Nun setzten sie zum finalen Schlag an. Fünf Tage lang durchforsteten die Kontrolleure den Aktenbestand von Emil Becks Fechtimperium – sie sichteten Schriftsätze, Rechnungen, Belege und Organigramme. Als sich das Trio auf den Heimweg nach Köln machte, hatte es – kopiert oder gleich im Original – zahlreiche Dokumente im Gepäck. Der diskrete Besuch der Abteilung II (Verwendungsnachweisprüfung) des BVA markiert einen einschneidenden Punkt im deutschen Spitzensport. Denn niemals zuvor ist ein Olympiastützpunkt, der zum größten Teil mit öffentlichen Geldern subventioniert wird, derart akribisch auf sein Finanzgebaren durchleuchtet worden wie die einstige Medaillenschmiede im Taubertal. Bis Mitte November, so gibt das BVA zu verstehen, soll der Abschlussbericht (Az: VII A3 99040) erstellt sein. 206 Wie keinem zweiten Sportfunktionär hier zu Lande ist Emil Beck von Politikern gehuldigt worden. Allein aus Bonn flossen in den letzten zehn Jahren rund 33 Millionen Mark in sein weit verästeltes Reich. Doch Liebling Beck wird nicht mehr gehätschelt. Das Regierungspräsidium in Stuttgart untersagte ihm unlängst, die Stiftung Fechtsport in Emil-BeckStiftung umzutaufen. Gelockert sind auch die Seilschaften im Deutschen Fechter-Bund. Erst musste Beck auf Druck sein Amt als Cheftrainer ruhen lassen, dann gab er, nach heftiger Kritik des DSB-Präsidenten Manfred von Richthofen, den Vorsitz des Trainerbeirats im Deutschen Sportbund ab. Die alten Spezis distanzieren sich, weil ein schwerwiegender Verdacht auf dem Lebenswerk des Degengurus lastet: Es geht um Betrug und Urkundenfälschung. Mittlerweile interessiert sich auch die Staatsanwaltschaft Mosbach für die Angelegenheit und hat ein Ermittlungsverfahren gegen Emil Beck als Verantwortlichen des Fechtzentrums eingeleitet (Az: 24 Js 6179/99). Jahrelang sollen in Tauberbischofsheim ehemalige Spitzenfechter ohne deren Wissen als so genannte B2-Kadermitglieder geführt worden sein, damit das Fechtzentrum Zuschüsse kassiert. Pro Kopf und pro Jahr honoriert das BMI den Einsatz ehemaliger Athleten, die sich vor Wettkämpfen als Trainingspartner zur Verfügung stellen, mit rund 1000 Mark Materialkosten, dem „Klingengeld“. Die Vernehmungen sind seit letzter Woche weitgehend abgeschlossen. Zwei Beamte der Landespolizeidirektion Stuttgart haben 26 von 29 ehemals Aktiven verhört, die auf den B2-Kaderlisten auftauchen. Bei drei Betroffenen haben die Ermittler auf einen Besuch verzichtet: Die Ex-Fechter leben mittlerweile im Ausland. Die Aussagen bringen Beck arg in Bedrängnis. Denn die Hälfte der Befragten gab zu Protokoll, weder als Sparringspartner gefochten noch das Geld für die Ausrüstung bekommen zu haben. Der Schaden für den Bund liegt nach Auskunft des zuständigen Oberstaatsanwalts Herbert Heister bislang „weit unter 70 000 Mark“. d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Das scheint ein überschaubarer Betrag. Weitaus gravierender ist jedoch der Verdacht der Urkundenfälschung. Denn in einigen Fällen, so Heister, haben die Befragten ausgesagt, dass Unterschriften auf Belegen nicht von ihnen stammen. Beim BVA in Köln, das mit den Stuttgarter Ermittlern in ständigem Kontakt steht, spricht man von Unterschriften „in einer Art Kinderschrift“. Dass das Ausmaß der Vorwürfe nicht noch erdrückender wird, liegt an den Verjährungsfristen. Die Listen, die der Staatsanwaltschaft Mosbach vorliegen, reichen 20 Jahre zurück. Doch die Strafverfolger interessieren sich nur für die B2-Kader der vergangenen fünf Jahre. Unbeantwortet wird deshalb die Frage bleiben, ob die rund 134 000 Mark, die das Fechtzentrum von 1979 bis Mitte 1994 aus Bonn erhielt, erschwindelt worden sind oder nicht. Peinlich bleiben die Finten in jedem Fall. So wird der Olympiasieger von 1976, Thomas Bach, für die Jahre 1980 bis 1986 in der Disziplin Herrenflorett als B2-Kader geführt. Der Wirtschafts- BAUMANN W. WITTERS In Emil Becks Fechtimperium wird wegen Betrugs und Urkundenfälschung ermittelt. Stützpunktleiter Beck: Seilschaften gelockert anwalt aus Tauberbischofsheim, als Mitglied im IOC-Exekutivkomitee zu einem der gewichtigsten Repräsentanten der internationalen Sportpolitik aufgestiegen, reagierte auf Anfrage des SPIEGEL fassungslos: „Ich habe keine Erklärung dafür.“ Derweil schiebt Beck die Verantwortung auf andere: Mit dem B2-Kader habe er, lässt Beck wissen, nichts, aber auch gar nichts zu tun. Horand Knaup, Michael Wulzinger schaftswettbewerb verliert er ein Gefecht, Deutschland gewinnt nur Silber. Pusch erinnert sich, dass ihm Beck später Absicht unterstellt habe: Er sei ein „Egoist“, er habe vorsätzlich schlecht gefochten, um seine Einzelmedaille aufzuwerten. Beck bestreitet das. „Ich habe nur gesagt: Alexander, wenn man Weltmeister im Einzel wird, dann sollte man auch in der Mannschaft eine entsprechende Leistung bringen.“ Pusch macht neben seinem Sport eine Lehre als Bauzeichner und lässt sich zum Diplom-Fechttrainer ausbilden. 1980 arbeitet er in Tauberbischofsheim zudem als Koordinator und Trainer. Er erteilt einem jungen Mädchen „Lektionen“, wie Übungsstunden in dieser Sportart genannt werden: Es ist Anja Fichtel, die später die erfolgreichste deutsche Fechterin aller Zeiten sein wird. Aber das reicht nicht. „Mach deine minimale Arbeit wenigstens richtig“, hört er von Beck. Am 20. Dezember 1980 kündigt Pusch. Er schreibt, er sei „diesen psychischen Belastungen nicht mehr gewachsen“. Beck fängt ihn ein, aber erwachsen darf Pusch auch danach nicht werden. 1983 schreibt sein Aufpasser einen Vermerk: „E. Beck hat am 14. April 1983 mit Alexander Pusch ein Gespräch geführt: es wurde vereinbart, dass A. Pusch ab sofort nur noch dann Prämien vom Fecht-Club annimmt, wenn er das Rauchen einstellt.“ Zwei Jahre später scheint es, als würden sich die Dinge zum Guten fügen: Beck hat sich aus dem täglichen Geschäft an der Planche zurückgezogen, und Pusch wird in den nächsten Jahren von dem DiplomFechtmeister Berndt Peltzer trainiert. Peltzer hat mit dem Fechten begonnen, als er zur Hitlerjugend kam. 1971 lotste ihn Beck nach Tauberbischofsheim, die Arbeit an den Waffen wurde damals noch im Heizungskeller der örtlichen Festhalle verrichtet. Beck und Peltzer wirkten hier in symbiotischer Beziehung miteinander. „Er war fanatisch, ich war fanatisch“, sagt Peltzer. Er arbeitete als Trainer und war nebenher für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Er bediente die Lokalredaktionen mit Fotos und selbst abgefassten Artikeln. Mit den Jahren, sagt Peltzer, habe er gemerkt, d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite BAUMANN WEREK Olympiasieger Pusch (1988) R. FESSEL / BONGARTS Sport Olympiasieger Behr Bundestrainer Peltzer (1994) Beck-Weggefährten: „Je mehr Erfolg er hatte, desto größenwahnsinniger wurde er“ dass der Emil eklig werden kann. „Wenn wir Erfolg hatten, sagte er: Ich habe Medaillen geholt. Er sagte nie: wir.“ Damals war noch eine Frau im Zentrum angestellt, die man die gute Seele des Hauses nannte: Marga Hein, die Mutter des Fechters Harald Hein, kochte für die Belegschaft das Essen. Eines Tages war sie weg. „Dem Emil“, sagt Peltzer, „hat ihre Nase nicht mehr gepasst.“ Je mehr Erfolg er gehabt habe, „desto größenwahnsinniger wurde er“. Auffällig ist, dass Beck so gut wie jeden Gedanken, der ihm durch den Kopf zuckt, schriftlich festhalten lässt. Wo immer er ist, trägt er ein Diktiergerät bei sich, dem er sich anvertraut. Wenn ein Band voll ist, muss die Sekretärin ran. Sie soll alles so abschreiben, wie es Emil gesagt hat. Eindrucksvoll ist beispielsweise, was ihm während eines Turniers zu einem Psychologen mit dem Namen S. einfiel, der zum ersten Mal dabei war: „Vermerk: S., wer auch immer das Band abschreibt, bitte das ist ein vertraulicher Vermerk (…) Liegt irgendwo in der Halle oben rum, in der Halle rum und pennt und schläft beim Europa-Cup (…) Entweder er ist frech (1.), 2. er ist so dumm, dass er eben nichts dafür kann, 3. oder er hat einfach Komplexe und ist ein Psychopath, was auch mein Eindruck ist, dass er einfach Komplexe hat und selbst ein Psychopath ist, wie soll so ein Psychopath unseren ,wenn wir welche haben‘ Psychopathen helfen (…) Jetzt kommt S. auf uns zu. Irrtum, Irrtum, er dreht ab und geht jetzt rüber.“ Ende 1994 hat Berndt Peltzer das Pensionsalter erreicht. Er möchte im Retiro freiberuflich weiterarbeiten. Beck bietet ihm 20 Mark die Stunde oder eine Anstellung „zum so genannten Hausfrauentarif“. Peltzer schreibt ihm, mit diesem Angebot sei sein „Wertigkeitsgefühl im höchsten Maße verletzt“, er sei doch „keine Putzfrau“ und verlangt 25 Mark. Im März 1995 bekommt er einen Antwortbrief. Beck schreibt: „Bin aber auch mit 25,– DM einverstanden, wenn Dein Glück bzw. Dein sozialer Status davon abhängt.“ Am 15. Mai hat 210 Berndt Peltzer Geburtstag. Emil Beck gratuliert ihm am Telefon und schreibt auch noch einen Glückwunschbrief, in dem er auf künftige Zusammenarbeit hofft. Dann ruft Becks Sekretärin an und bittet Peltzer für den nächsten Morgen, 7.45 Uhr, ins Fechtzentrum. Berndt Pelzer ist schon um 7.20 Uhr in seinem alten Arbeitszimmer. Er sucht noch etwas in seinem Schreibtisch, als Emil Beck durch die Tür tritt. Beck hat seinen Geschäftsführer Emil Kappus („Emil 2“) und den Betriebsratsvorsitzenden Peter Märtsch im Schlepp. Die beiden Aufpasser bleiben stehen, Beck sitzt Peltzer gegenüber und sagt: „Von dieser Sekunde an ist unsere Zusammenarbeit beendet. Bitte räume deinen Schreibtisch. Herr Kappus und Herr Märtsch werden warten, bis du fertig bist.“ Dann verlässt er den Raum. Kappus und Märtsch warten, bis der Pensionär seine letzte Schublade geleert hat. Beck sagt, sein verblüffender Stimmungswandel sei als Akt menschlicher Fairness zu verstehen. „So etwas sagt man jemandem ja nicht an seinem Geburtstag. Da wartet man wenigstens, bis der vorbei ist.“ Und: „In Bezug auf Berndt Peltzer habe ich mir wirklich nichts vorzuwerfen.“ S eit er von Peltzer betreut wird, findet Alexander Pusch aus dem Tal. Sein Sport geht ihm wieder leichter von der Hand, er gewinnt den Weltcup und wird zweimal hintereinander Weltmeister mit der Mannschaft. Aber Emil Beck hält weiter den Daumen drauf. Als Pusch ihm 1987 eröffnet, dass er bei einer Deutschen Meisterschaft nicht antreten will, weil er an einer Grippe mit Hautausschlag und Atemnot leide und seit Tagen keinen richtigen Schlaf mehr gefunden habe, nennt Beck ihn einen „Feigling“. Denn: „Der Arzt hat gesagt, dass er fechten kann. Und wenn der Arzt das sagt, dann sollte er auch fechten. Die Entscheidung liegt jedoch beim Athleten.“ Pusch nimmt gegen seinen Willen am Turnier teil und verliert in der ersten Runde. Weil er sich rechtfertigen will, erzählt d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 er einem Journalisten vom Dialog mit Beck, und das rächt sich. Journalisten nennt Emil Beck gern – angeblich nur im Spaß – „Ratten“ oder „kleine Stinker“, weil sie ihm nach seiner Auffassung den Erfolg neiden. Alexander Pusch bekommt eine schriftliche Verwarnung und einen Brief hinterher, in dem Beck „Dankbarkeit“ einfordert: „Vielleicht erinnerst Du Dich, dass ich Dir in der Trainersitzung bereits gesagt habe, dass Du möglicherweise heute auch an einem 2. oder 3. Zeichenbrett in einem Büro als Technischer Zeichner bei einem Monatsgehalt von vielleicht 2000,– DM brutto arbeiten könntest. Stattdessen hast du ,nur‘ mit der Mittleren Reife eine tolle Karriere gemacht.“ Als Pusch 1989 mit der Firma „Musketier“ einen Werbevertrag abschließen will, wird ihm der Deal verboten, weil das Fechtzentrum Verträge mit anderen Ausrüstern hat. In einem Vermerk liest Pusch: „Du hast ein Daimler-Benz-Fahrzeug kostenlos gefahren, hast eine wunderschöne Wohnung, trägst sehr gute Kleidung und kannst es Dir leisten, in sehr guten Lokalen essen zu gehen. Du siehst, es geht Dir glänzend, und darauf bin ich stolz und glücklich darüber, dass ich einiges dazu beitragen konnte.“ Längst ist Pusch zum Outcast von Tauberbischofsheim geworden. Dass er gelegentlich mit der Hausordnung über Kreuz gerät, weiß Beck auch von Menschen, die ihm als Zuträger behilflich sind. Emils Detektive. Einer von ihnen hat zu dieser Zeit den Beinamen „das Auge“: Matthias Behr ist ein erfolgreicher Fechter und leitet zudem das hauseigene Internat. Auch Behr war elf Jahre alt, als er Emil Beck zum ersten Mal begegnete. Der Junge, der ohne Vater aufwuchs, sah seinen beiden Brüdern beim Fechten zu. Beck fragte ihn, warum er nicht auch Sport treibe, gab ihm einen Schlag auf den Hinterkopf und sagte: „Nächste Woche fängst du an.“ Matthias Behr hat Emil Beck fast zwei Jahrzehnte seines Lebens bewundert. Beck war Behrs Vaterersatz. Behr erzählte Beck, Werbeseite Werbeseite was er wusste, etwa, wenn ihm auffiel, dass Alexander Pusch weniger trainierte als die anderen. Über Jahre verband Behr und Pusch Misstrauen. Behr heiratete zum ersten Mal, als er 22 war. Seine Ehe war wie bei Emil und Mami: Er war nie da. Mit 31 erfuhr er von Beck, dass er mal dessen Nachfolger werden soll. Mit 34 ließ er sich scheiden, wichtig war ihm nur sein Sport. Das ändert sich, als er Zita Funkenhauser näher kennen lernt. Sie ficht ebenfalls in Tauberbischofsheim und verhilft Beck zu jenem Moment während der Olympischen Spiele 1988 in Seoul, den er „wie eine Reise in den Himmel“ empfindet: Drei seiner Fechterinnen gewannen Gold, Silber und Bronze. Zita Funkenhauser wurde Dritte, fanatisch war sie nie. 1993 führt Matthias Behr ein Gespräch mit Emil Beck, das ihrem Verhältnis eine Wendung gibt. Behr möchte noch einmal heiraten und hat sich entschlossen, die Nachfolge von Beck abzulehnen, „weil sonst die nächste Scheidung programmiert ist“. Er möchte mehr Zeit in seine Familie investieren und riskiert, dass er damit Eingang findet in eine Kladde, die Beck „Handicap-Akte“ nennt. Er vermerkte darin die aus seiner Sicht negativen Eigenschaften aller Mitarbeiter. 1996 will Emil Beck noch einmal auf den Gipfel, es ist das Jahr der Olympischen Spiele in Atlanta. Zita Funkenhauser bringt per Kaiserschnitt Zwillinge zur Welt. Einen Tag bevor Matthias Behr als Betreuer der deutschen Fechter nach Amerika fliegen soll, wird sie aus dem Krankenhaus entlassen. Sie ist pflegebedürftig, und Behr beschließt, bei seiner Frau zu bleiben. Atlanta wird zum Desaster für Tauberbischofsheim. Eine einzige müde Bronzemedaille bringt die Entourage mit nach Hause – und Emil schreitet zur Abrechnung. Matthias Behr bekommt weniger Gehalt, Beck entzieht ihm die Leitung des Ressorts „Soziales“ und erklärt ihn zur unerwünschten Person bei Führungskonferenzen. In einem Brief legt er nach: „Obwohl sodann die Niederkunft zeitgerecht erfolgte, die Zwillinge und Mutter wohlauf waren (…) hast Du damals auf eine Teilnahme verzichtet (…) Dein ,öffentlicher Feldzug für Familie und Freizeit‘ ist daher ein Schlag ins Gesicht all derjenigen, die Woche für Woche und Jahr für Jahr erhebliche persönliche Opfer bringen. In Atlanta, als es um die Existenz des Fechtzentrums ging, hast Du Deine Trainerkollegen und mich ganz persönlich im Stich gelassen.“ Zita Funkenhauser hat sich inzwischen in Tauberbischofsheim als Zahnärztin niedergelassen. In ihr erkennt Beck eine Art subversives Element, das den Gatten von der Arbeit abhält und so allmählich das schöne Sportzentrum zersetzt: „Richtig ist, dass Du nicht in Not geraten bist, sondern Deine beruflichen Ambitionen den beruflichen und privaten Wünschen 212 von Zita untergeordnet hast. Diese hätte nach meinem Dafürhalten zunächst durchaus als Assistentin arbeiten und das Investitionsrisiko, das unweigerlich mit der Einrichtung einer neuen Praxis verbunden ist, sowie die zeitliche Belastung verringern können. Leidtragender ist – wie so oft – der Olympiastützpunkt.“ Nur so kann es gehen, findet der Absender. „Wie soll man zu Leistung kommen in unserer heutigen Zeit, wenn ich nicht ständig motivierend tätig bin?“ E mil Beck hat den Gipfel nicht wieder erreicht. Der Zeitgeist der Neunziger hat sich seinen Weg sogar bis nach Tauberbischofsheim gebahnt. Auch im toten Winkel von Baden-Württemberg gibt es Internet und Ecstasy, und Fechten ist wieder das, was es vor Emil Beck war: eine Angelegenheit für Liebhaber. Am 29. Juni 1999 tritt Beck zu seinem letzten Gefecht an. Er fürchtet, dass seinem Lebenswerk wegen des anhaltenden Misserfolgs die Fördergelder gekürzt werden. Er will seinen Lebensfilm noch mal an den Anfang spulen. Um elf Uhr ruft er 39 Trainer und Mitarbeiter zu einer Sitzung zusammen. Darin erklärt er, die Schuld am Niedergang trügen Matthias Behr und Alexander Pusch. Behr hat zuletzt 350 Überstunden im Jahr geleistet, Pusch kam auf 500. „Hiermit fordere ich dich auf zu gehen“, sagt Beck zu Behr. Pusch gibt er eine Frist bis zum nächsten Jahr. Neben Behr sitzt Ute Vahid. Sie ist seit 21 Jahren Behrs Stellvertreterin im Internat. In den letzten zehn Jahren ist Behr bei Beck mehrfach wegen einer Gehaltserhöhung für sie vorstellig geworden. Vergebens, Ute Vahid musste zum Tarif weiterarbeiten. Jetzt sagt Beck zu ihr: „Und wenn der Behr weg ist, kriegen Sie 1000 Mark mehr.“ Beck sagt heute: „Ich bedaure diese Äußerung. Das ist mir leider so rausgerutscht.“ Behr und Pusch werden wegen „psychischer Überforderung“ krank geschrieben. Nach Wochen kehren sie auf ihre Planstellen zurück. Funktionäre, Trainer und Sportler haben sie ihrer Solidarität versichert und Beck zum Rücktritt gedrängt. Rücktritt? Er denkt nicht dran. Emil Beck sitzt in seinem Büro und hat die Jalousien runtergelassen. Er befindet sich zurzeit generell zwischen Licht und Schatten. Einerseits, meint er, sei ja für die Angestellten inzwischen wieder alles gut. „Es läuft optimal. Wir arbeiten gut zusammen, denn wir haben ein gemeinsames Ziel.“ Andererseits gehe es ihm jetzt persönlich ziemlich schlecht. Die Zeitungen trieben ein böses Spiel mit ihm. „Ich bin weich, viel zu weich“, sagt Emil Beck. „Glauben Sie mir, ich bin nicht der Feldwebel, zu dem mich einige machen wollen.“ Das tut ihm weh. Im Stillen habe er deshalb schon oft geweint. Matthias Geyer d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Wissenschaft•Technik Prisma Öko-Regionen der Aktion „Global 200“ ■ stark bedroht Quelle: WWF ■ gefährdet U M W E LT Weltkarte der Vielfalt N eue Wege im Artenschutz will die Umweltstiftung World Wide Fund for Nature (WWF) mit der Aktion „Global 200“ gehen. Auf einer „Weltkarte des Lebens“ haben die Naturschützer insgesamt 232 ökologische Schlüsselregionen der Erde verzeichnet, die einen Großteil der biologischen Vielfalt beherbergen. „Wenn es gelingt, diese Öko-Regionen zu schützen, könnten 90 Prozent der Biodiversität langfristig erhalten werden“, sagt WWF-Mitarbeiter Michael Evers. Zu den ausge- Zu dick ohne Milch K inder, die nicht gestillt werden, haben ein höheres Risiko, schon in jungen Jahren übergewichtig zu werden. Das geht aus einer im Fachblatt „Ärztliche Praxis“ veröffentlichten Studie hervor. Fast jedes fünfte Kind, das nie an Mutters Brust lag, war bereits bei der Einschulung zu dick oder litt sogar unter „Fettsucht“ mit einem Körpergewicht von mindestens 20 Prozent über der Norm. Bei Kindern, die länger als ein Jahr gestillt wurden, waren nur knapp sechs Prozent zu dick. Eine Erklärung für dieses Phänomen gibt es bislang nicht. Stillen gilt jedoch ohnehin als förderlich für die Entwicklung von Kindern. Das natürliche Alter für den Verzicht auf die Mutterbrust liegt nach Ansicht der amerikanischen Anthropologin Katherine Dettwyler sogar erst zwischen 2,5 und 7 Jahren: „Es gibt viele Kulturen in der Welt, in denen die Kinder drei, vier oder gar fünf Jahre lang gestillt werden.“ AIDS Nothilfe am Morgen danach W Stillende Mutter d e r ■ „Global 200“-Meeresgebiete wählten Regionen zählen die Amurregion im Osten Russlands, die Galapagos-Inseln vor der Küste Südamerikas oder auch das Great Barrier Reef vor Australien. Die ausgewählten Lebensräume zeichnen sich durch großes Artenspektrum oder besondere ökologische Phänomene aus. „Wir wollen unsere Energien auf diese Schlüsselregionen konzentrieren, anstatt zu suggerieren, wir könnten überall etwas tun“, sagt Evers. Deutschland schneidet im internationalen Vergleich mager ab. Nur das Wattenmeer, die Alpenregion sowie einige Vogelrastplätze sind bei „Global 200“ erfasst. Mit dem neuen Konzept hofft der WWF, dem Verlust an biologischer Vielfalt entgegentreten zu können. Fast die Hälfte der ausgewählten Gebiete sind nach Angaben der Umweltstiftung stark bedroht. PICTURE PRESS ERNÄHRUNG ■ Zustand noch stabil s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 er fürchtet, sich beim Sex mit dem Aids-Erreger infiziert zu haben, kann neuerdings darauf hoffen, die HI-Viren wieder loszuwerden, ehe sie sich in seinem Körper fest einnisten. Immer mehr amerikanische Aids-Kliniken und AidsÄrzte bieten rund um die Uhr eine „Post-Exposure Prophylaxis“-Therapie (PEP) an, die spätestens 72 Stunden nach dem sexuellen Kontakt begonnen werden sollte. Die 2500 Dollar teure und 30 Tage dauernde Behandlung basiert auf mittlerweile bewährten Aids-Medikamenten wie AZT, 3TC und Sustiva. Bislang ist nicht eindeutig erwiesen, ob diese Behandlung am Morgen danach eine HIV-Infektion wieder zu eliminieren vermag, auch wenn viele Anzeichen dafür sprechen. So kam es bei keinem von 436 PEP-behandelten, sexuell aktiven Patienten in San Francisco zu einer HIV-Infektion. Trotz der hohen Kosten und des Risikos von Nebenwirkungen ist die Nachfrage groß. Der New Yorker Aids-Arzt Gabriel Torres, der die PEP-Behandlung anbietet: „Wir bekommen unglaublich viele Anfragen.“ 215 Prisma Wissenschaft•Technik MEDIZINTECHNIK Techno-Nase riecht Krankheiten S. GILL ediziner in England haben ein Gerät entwickelt, das Krankheiten riechen kann. Die „Diag-Nose“ arbeitet mit chemischen Sensoren, die denen der menschlichen Nase ähneln. „Bestimmte Krankheiten produzieren charakteristische Gerüche“, erklärt Selly Saini von der Cranfield University im englischen Bedfordshire, der das Gerät zusammen mit seinem Kollegen Jan Leiferkus entwickelt hat. Derzeit werde das Verfahren zur Diagnose von Harnwegsentzündungen getestet. Auch Tuberkulose, bestimmte Darmkrebse oder Wundinfektionen kämen für die Schnüffeldiagnostik in Frage. Im Vergleich zu bisherigen Analyseverfahren soll die Methode sehr preiswert und schnell sein. Um etwa Urin auf Krankheitskeime hin zu untersuchen, wird eine Pinkelprobe mit Nährlösung versetzt, die infektiöse Bakterien zum Wachstum und damit zur verräterischen Geruchsstoffproduktion anregt. Während konventionelle Analysemethoden bis zu zwei Tage dauern können, liefert der technische Schnüffler seine Diagnose schon nach knapp sechs Stunden ab. In Laborexperimenten arbeitete das System zudem mit 95-prozentiger ErfolgsErfinder Leiferkus, Saini quote. Sogar 80 Prozent der an den Infektionen beteiligten Bakterientypen konnte das Gerät erschnuppern. „Menschen müssen sehr gut trainiert sein, um Krankheiten zu riechen“, sagt Saini und verweist auf die Schnüffelkünste vor allem chinesischer Ärzte, die das Verfahren seit Jahrhunderten kennen. Diabetiker sollen beispielsweise einen „fruchtigen“ Mundgeruch haben. ELEKTRONIK Scharfe Chips AGENTUR FOCUS M Jugendliche bei der Vogelbeobachtung ORNITHOLOGEN Peilgerät für Piepmätze G emeinhin jagt der Vogelkundler mit den Ohren. Irgendwo im Geäst, das hört er genau, verbirgt sich der Dreizehenspecht oder flötet der Pirol „ogloühö“ – nur sehen kann er ihn nicht. Geradezu unsportliche Peilhilfe leistet ein neuartiger Lauschangriff mit dem Laptop. John Spiesberger von der University of Pennsylvania nutzt den Umstand, dass Geräusche mit Zeitverzögerungen auf mehrere Mikrofone auftreffen. Aus der Laufzeitdifferenz lässt sich ungefähr die Position der Geräuschquelle errechnen. Mindestens fünf Mikros, fand Spiesberger heraus, sind notwendig für eine halbwegs genaue Ortung in allen drei Raumachsen. Doch Reflexionen und Echos verfälschen die Messungen. Mit Hilfe des Computers lassen sich die schwächeren Echos vom direkt auftreffenden Vogellaut trennen. Durch die Kombination beider Verfahren ist eine Lokalisierung der Vögel möglich. Herkömmliches CCD neue Anordnung der Fotodioden Licht igitale Fotos in besserer Qualität verspricht ein neuartiger Bildsensor der japanischen Firma Fuji. Herzstück von digitalen FotoapparaFototen ist ein so genannter CCD-Sensor („Chargedioden Coupled Device“): Schachbrettartig angeordnete Fotodioden, die für Licht in den drei Grundfarben Rot, Grün und Blau empfindlich sind, erzeugen bei Beleuchtung Elektronen, die auf Transportkanälen an eine Kante des Sensorchips befördert und in elektrische Signale umgewandelt werden. Im Streben nach höherer Auflösung bringen Hersteller immer mehr Sensoren auf einem Chip unter, dadurch schrumpft aber die Fläche der einzelnen Fotodioden und damit auch ihre Lichtempfindlichkeit. Der jetzt neu entwickelte Chip enthält achteckige Fotodioden, die in einem wabenförmigen Muster dichter beieinander liegen als bei herkömmlichen Sensoren. Mit „Super CCD“ aufgenommene Bilder wirken daher wesentlich detailreicher, und die im Ver- D 216 Super CCD d e r Transportkanal Elektronen Licht Elektronen Transportkanal Fotodioden gleich zur Schachbrett-Anordnung größere Fläche der Fotodioden sorgt für höhere Lichtempfindlichkeit und bessere Wiedergabe des Bildkontrasts. Die scharfen Chips will Fuji vom kommenden Jahr an in seine Kameras einbauen. s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Wissenschaft „Moai“-Felsskulpturen auf der Osterinsel: Mit Hebeln zur Küste gewuchtet, standen die tonnenschweren Steinkolosse als Totenwächter ETHNOLOGIE Botschaft aus Fantasia Sie waren schreibkundige Kannibalen, feierten Sexualriten und errichteten Riesenstatuen aus Tuffstein – die Bewohner der Osterinsel schufen eine rätselhafte Hochkultur. Nun liegt ein Entzifferungsversuch ihrer Schrift vor. Handeln die Texte von der Entjungferung junger Mädchen? M it hochragendem Bug rollten die Schiffe der spanischen Südpazifikexpedition von Peru aus Richtung Westen. 3800 Kilometer Wasserwüste hatte die Flotte bereits durchsegelt – ohne Landkontakt. Nervös blickte der Kommandeur Don Felipe González de Haedo zum Horizont. Am 19. November 1770 löste sich die Spannung. Kurz vor dem 110. Längengrad tauchte das „isolierteste Eiland der Welt“ auf (so der US-Forscher Steven Roger Fischer): nahezu baumlos, mit schroffen Gestaden; im Hintergrund erhoben sich Vulkankegel. Tätowierte Eingeborene, melodiös die Osterinsel-Sprache „Rapanui“ plappernd, liefen am Strand zusammen. Am Tag darauf ließ der Flottenchef, unterwegs im Auftrag des peruanischen Vizekönigs, uniformierte Soldaten ans Ufer bringen. Trommelwirbel erklang, Musketensalven wurden abgefeuert. Dann wurde den Wilden ein Annexions-Dekret vorgelesen. 218 Am Ende der Zeremonie gaben die an- schwersten Exemplare jedoch, bis zu 20 kernden Schiffe „San Lorenzo“ und „San- Meter lang, blieben unfertig in den Steinta Rosalia“ 21 Salutschüsse ab. Doch was brüchen liegen. Wenige Hammerschläfür Fremdlinge waren da eingemeindet ge würden genügen, um sie von ihren worden? Monolithbüsten, dünnen Felsstegen zu löbeinlosen Krüppeln gleisen. Das ferne Fantasia 3000 km chend, lagen auf den Felfasziniert. Genetiker und dern. Am Strand erhoben Knochenforscher haben PA Z I F I K sich große Steinpodeste, sich mit dem 180 QuadratMarquesasdie Ahu. Auf Klippen und kilometer großen Soziotop Inseln Kraterhängen prangten Äquator beschäftigt. Dutzende von eingeritzte Vulva-Zeichen. Archäologen wühlten seiDie Ohrläppchen vieler nen Boden um. Doch geSamoa Tahiti Eingeborenen waren grobracht hat die Fahndung tesk in die Länge gezogen. wenig. Schon die Eckdaten Osterinsel Rapa Nui („großes Paddieser Kultur liegen im del“), die östlichste der poDunkeln. lynesischen Inseln, bot eine ungeheure KuUm 1350 nach Christus, erzählen alte lisse. Rund 1000 langnasige Kolosse, die Inselsagen, soll König Hotu Matua, nach Moai, haben die Osterinsulaner mit Obsi- 120 Tagen Irrfahrt, mit 300 Menschen in dianmessern und Beilen aus dem Tuff der zwei Doppelbooten das karge Land anVulkanhänge geschlagen. Etliche davon, gesteuert haben. Linguisten gehen von mit Hebeln zur Küste gewuchtet, standen einer ersten Einwanderungswelle kurz als Totenwächter auf den Grabanlagen. Die nach Christi Geburt aus. Archäologen d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Y. GELLIE / AGENTUR FOCUS FOTOS: BAVARIA ( li.); B. BEHNKE (re.) im „Telegrammstil“. Übersetzen konnte er sie nicht. Auch der Dekodierversuch von Steven Roger Fischer (er lehrt in Auckland/Neuseeland und kennt 25 Sprachen) scheiterte. Bis nach Honolulu und Berlin ist der Experte gereist, um alle in Museen gelagerten Originaltexte abzuzeichnen. In seinem 1997 erschienenen Opus „Rongorongo“ sind über 12 000 Glyphen abgebildet. Nur beim Entziffern haperte es. Eine Sequenz in Fischers Lesung lautet: „Alle Vögel kopulieren mit den Fischen und zeugen die Sonne.“ Geschlaucht von dem semantischen Wirrwarr, erlitt der Gelehrte einen Nervenzusammenbruch. Als bleibender Schaden blieb ein nervöser Tick, seine Hand zittert. Jetzt liegt ein neuer, vielleicht sinnvollerer Anlauf vor. Der Bremer Sprachforscher, Religionswissenschaftler und Übersetzer altindischer Schriften, Egbert Richter, 61, hat beim Seminar für Südseesprachen der Universität auf den Grabanlagen Schriftforscher Richter: „Ich kann die Glyphen lesen“ Hamburg eine Promotionsarbeit Am erstaunlichsten aber blei- eingereicht. Schlichter Titel: „Die Schriftben die Krakelzeichen. Ausge- tafeln der Osterinsel – ein Beitrag zu ihrer rechnet jene traumversunkenen Entzifferung“. Krähwinkler, deren Kultur abDas Werk, 214 Seiten lang, bietet an, was geschottet wie unter einer Kä- die Zunft seit Unzeiten ersehnt. „Ich kann seglocke gedieh, entwickelten die Glyphen lesen“, behauptet der Außenaus eigener Kraft ein unabhän- seiter. Vier Tafeltexte hat er komplett übergiges Schriftsystem, „Rongo- setzt. rongo“ genannt – das einzige Die Arbeit strotzt von Exotika und in ganz Ozeanien. schrillen Resultaten. Richter zufolge „Kohau Rongorongo“, spre- berühren die Texte – halb Bibel, halb Kachendes Holz, nannten die Ein- masutra – das geheimste Kultwesen der geborenen ihre aus Piktogram- Osterinsel. „Die Tafeln enthalten Details men (Bildsymbolen) bestehen- über Deflorationen und Sexualriten“, sagt de Geheimlektüre. In Men- der Codeknacker, „alle Texte umkreisen schenhaar gewickelt, galten die die Sphäre des Heiligen.“ Brettchen als „tapu“ („heilig, Mit seinem Deutungsansatz begibt sich verboten“). Als Schnitzinstru- der Epigrafiker auf spannendes Terrain. ment dienten Haizähne und Was die Ethnologie über die Sitten der Obsidianstichel. Nur 21 Holzta- Osterinsulaner in Erfahrung gebracht hat, feln sind bis heute erhalten ge- ist an Bizarrerie kaum zu übertreffen. Kostblieben. proben: Doch welche Botschaft ist in π Im großen Stil frönte das Volk dem Kanden heiligen Zeichen gespeinibalismus. Priester opferten Kriegsgechert? Während Missionare die fangene und Straffällige, aber auch – bei „Moai“-Figuren*: Ruinen im Rongorongo-Land Sprache der Osterinsulaner Fruchtbarkeitskulten – kleine Kinder. Hernach wurde geschlemmt. „Als bewiederum tippen aufs 7. oder 8. Jahr- recht bald von diesen erlernten, sind bis heute alle Versuche gescheitert, auch die gehrteste Stücke galten Finger und Zehundert. hen“ (der Ethnologe Alfred Métraux). Auch über die Herkunft der Rätselrasse Schrift zu entschlüsseln. Seit 130 Jahren mühen sich Epigrafiker, π Alle Jugendlichen mussten sich einer wird gestritten. Viele Experten vermuten, schmerzhaften Tätowierung unterziedass die Seefahrer von den rund 3600 Ki- in das System aus Strichmännchen, Vögeln hen. Farbstoff aus Pflanzenasche wurde lometer entfernten Marquesas-Inseln aus und stilisierten Früchten einzudringen. Naihnen mit Knochenspitzen in die Haut starteten. Andere nennen als Ausgangs- vigationszeichen wurden darin gesehen, geritzt. punkt der Reise die Gesellschafts-Inseln Ahnenlisten, auch pure Ornamentik. Der (4300 Kilometer) oder Samoa (6400 Kilo- deutsche Epigrafiker Thomas Barthel, der π Mädchen der Oberschicht sperrten die „Doyen der Rongorongo-Forschung“ Priester in Höhlen. Sie wurden mit Brei meter). („New Scientist“), deutete die Glyphen in gemästet und – zur Gelbtönung der * Wiederaufrichtung umgestürzter Osterinsel-Statuen. den fünfziger Jahren als „Embryoschrift“ Haut – mit Safran eingerieben. Forscher d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 219 deuten die Strapaze als „ästhetische Maßnahme“: Fett und bleich zu sein galt in dem Mini-Land als erotisch. Als Mitte des 19. Jahrhundert Missionare vom Orden Sacrés-Coeurs das Eiland betraten, fühlten sie sich wie in einen Höllenpfuhl versetzt. Die Häuptlinge frönten der Vielweiberei. Arme Tröpfe trieben es umgekehrt und teilten sich zu zweit oder dritt eine Geschlechtspartnerin. Ehescheidungen wurden „ohne jede Formalität durchgeführt“ (Métraux). In der Götterwelt wimmelte es von halb verwesten Unholden und wirren Kopulationsakten. Am schlimmsten treibt es der Fruchtbarkeitsgott „Makemake“. Um den Menschen zu erschaffen, ejakuliert er zuerst in einen Kürbis. Dann begattet er einen Felsklumpen, ehe er im dritten, endlich erfolgreichen Anlauf in einen Haufen geformten Sand onaniert. Und überall regierte die Macht irrationaler Verbote. Tabu war der Verzehr von Tunfisch während der Wintermonate. Kreuze und aufgehäufte Zweige markierten heilige Stätten. Auch die Schrifttafeln, in separierten Hütten aufbewahrt, umgab eine Aura des Unnahbaren. Solchen Naturburschen die unbefleckte Empfängnis nahe zu bringen, fiel den Missionaren anfangs nicht leicht. Mit allgegenwärtiger Zauberkraft hielt der „Timo“, der Kultchef, seine Untertanen im Bann. Der Oberschamane war zuständig fürs Regenmachen und Wunderheilen. Er konnte bei Zwist die Blutrache ausrufen. Seine Helfer nabelten Babys ab und wickelten Verstorbene in Bastmatten, ehe diese auf den Ahu-Terrassen abgelegt wurden und langsam verwesten. Kaum 10000 Einwohner bevölkerten den Zwergstaat zu Spitzenzeiten. Bananen, Zuckerrohr und Süßkartoffeln bauten die Bauern an. Ihre Häuser waren bis zu hundert Meter lang. Die Kinder sausten mit Blätterschlitten aus Keulenlilien die Vulkanberge hinunter. Mit Binsenflößen in Form von Elefantenstoßzähnen surften die Jungmannen auf Pazifikwellen. Als die Spanier im 18. Jahrhundert das Eiland aus der Isolation rissen, war es mit dem Wohlleben längst vorbei. Kriege und Öko-Katastrophen hatten das Volk auf rund 4000 Einwohner dezimiert. Umgestürzt lagen die Steinstatuen auf den Feldern. Ihre Hüte aus rotem Tuff waren zerbrochen, die Korallen, die einst ihre Augenhöhlen zierten, herausgebrochen. Dann ging der Niedergang in den freien Fall über. Im Dezember 1862 und im März 1863 deportierten Sklavenjäger ein Drittel der Urbevölkerung. Die wenigen Rückkehrer schleppten Pocken auf die Insel ein. Im Jahr 1877 lebten dort nur noch 111 Eingeborene. Was für ein Aderlass! Innerhalb weniger Jahrzehnte waren die „Einsteins der Oster220 BRITISH MUSEUM Wissenschaft insel“ (Fischer) zu einer aussterbenden Spezies herabgesunken, ihre Kulturtaten ins Unerklärliche entrückt. Und auch die schriftliche Botschaft dieses Volkes, eingekerbt in glatt polierte Holztableaus, schien für immer unentzifferbar. Bei den Schrifttafeln waren die Verluste besonders hoch. Als 1864 die ersten Missionare anrückten, entdeckten sie verwundert „in allen Häusern“ die sonderbaren Tabletts. Kurz danach veranstalten die Wilden eine Art Bücherverbrennung. Eilig warfen sie ihre Schrifttafeln ins Feuer. Nur wenige Exemplare konnten gerettet werden. Kult auf dem Krater Die Lesung der Osterinselschrift Die Schrift der Osterinsel besteht, wie ursprünglich das Chinesische, aus Bildzeichen (Piktogrammen). Hinweise auf ihre Bedeutung lieferten im 19. Jahrhundert Ureinwohner, die einige der Holztafeln übersetzten. Mann Federstab Fregattvogel Vulva Feder Vogel mit gesenktem Kopf (untersuchen, einritzen) Berg Die Bedeutung der meisten Glyphen blieb jedoch unklar. Richter zufolge verstecken sich dahinter so genannte Fusionszeichen. Sie sind aus mehreren Bildern zusammengesetzt. Interpretation nach E. Richter gemeint ist das religiöse Oberhaupt der Insel, der Timo gemeint ist der geschmückte Absolvent der Jugendweihe, der poki manu (Vogelkind) gemeint ist die Untersuchung der geschlechtsreifen Mädchen anlässlich des Fruchtbarkeitsfests auf dem Orongo-Felsen d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Ganz ohne Anhaltspunkte stehen die Epigrafiker dennoch nicht da. Neugierig geworden durch das Zerstörungswerk, hakten die ersten Besucher nach. Welche Art von Nachrichten waren auf den Tafeln fixiert? Die Wilden verweigerten die Auskunft. Schließlich gelang es doch, zwei Eingeborene zum Dolmetschen zu bringen. 1873 nahm der Bischof Tepano Jaussen den nach Tahiti ausgewanderten Plantagenarbeiter Metoro ins Verhör. Der Geistliche hielt den Daumen auf jede einzelne Glyphe und ließ sie sich isoliert übersetzen. Doch die Gesamtlesung ergab keinen Sinn. Eine Glyphen-Abfolge etwa lautet in Metoros Übersetzung: „er tanzt“, „das Boot“, „der Mensch verneigt sich“, „die Hand für die Fruchtbarkeit“. Noch konfuser wirken jene „kosmogonischen Gesänge“, die der Greis Ure Vaeiko ablieferte. Er ließ sich 1886 – angeheitert durch Alkohol – zum Glyphenlesen überreden. Der Alte blickte auf die Tafeln. Dann schloss er die Augen und verfiel für Stunden in einen raunenden Singsang. Waren die Europäer geleimt worden? Oder überstieg der religiöse Kosmos der Insulaner ihre Vorstellungskraft? Kein Gelehrter hat es je geschafft, den diffusen Wortbrei mit Bedeutung zu füllen. Viele Forscher halten Metoro und Ure Vaeiko für Betrüger. Sie seien „Plapperer“ gewesen. Der Bremer Experte Richter sieht das ganz anders. Immer wieder hat er die von Metoro erstellten Wortlisten analysiert, und – gestützt auf die ethnologische Forschung – nach kultischen Zusammenhängen gesucht. „Plötzlich schälte sich das Leitmotiv der Texte heraus“, erläutert er, „die Glyphen handeln von der Initiationsfeier auf dem Orongofelsen.“ Mit diesem Stichwort ist die geheimste Kultpraxis der Insel berührt. Einmal im Jahr, zum Frühlingsanfang, strömte das Volk zum Zauberplatz von Orongo, um ein Fruchtbarkeitsfest zu feiern. Der Ethnologe Métraux nannte die Party zu Ehren des Hauptgottes Makemake ein „langes mystisches Drama“. Zumindest der Ort des Geschehens lässt sich eindeutig identifizieren. Das Kultdorf Orongo, Sitz des Timo, lag, 300 Meter hoch, auf dem windigen Grat des Vulkans Rano Kao. Archäologen haben dort 46 Schieferplattenhäuser freigelegt. Die umliegenden Felsen sind mit Petroglyphen übersät, vornehmlich Darstellungen des weiblichen Geschlechtsteils. Auch über den Ablauf der Zeremonie ist einiges bekannt. Die Stämme führten Tänze auf. Rauschgetränke, hergestellt aus Rauschpfeffer („Piper methysticum“), heizten die Stimmung an. Wer als Erster das Ei einer Seeschwalbe ergatterte, war Werbeseite Werbeseite Y. GELLIE / AGENTUR FOCUS Wissenschaft Zeremonial-Felsen von „Orongo“*: „Die Blume zittert, der Stock dringt ein“ Osterinsel-Figur * Mit eingeritzten Steinglyphen. 222 metscher Metoro gesteckt haben könnte. Um sich aus der Affäre zu ziehen, so Richter, habe der Ureinwohner „die Bedeutung mancher Worte bewusst verschleiert“. Für seine These kann der Epigrafiker Beweise vorlegen. Die Glyphe für Vulva etwa übersetzt Metoro vornehm mit „Pua“ (Rapanui für „Blüte“) oder „gebundene Frucht“. Kopulationssymbole umschreibt er mit „kua huki“ („er durchbohrt“). Die Glyphe für den Timo – ein Strichmännchen mit Federstab – ließ der Eingeborene völlig im Vagen. Hier steht manchmal nur das Personalpronomen „er“. Seitenweise deckt Richter solche Camouflagen auf. Unverständliche Wortbilder rücken plötzlich in einen sinnvollen Zusammenhang. Und immer wieder wird in den Glyphen jenes „besondere Werk“ (Metoro) angesprochen, das der Timo ausführt. In einem anderen Manuskript heißt es: „Der Stock bannt, die Blume zittert, der Stock dringt ein.“ Ob der Autor bei seinem Vormarsch ins Rongorongo-Dickicht wirklich den rechten Weg eingeschlagen hat, muss nun der Hamburger Universitätsprofessor Rainer Carle entscheiden. „Ein interessanter Ansatz“, sagt er, „aber die Überprüfung ist extrem schwierig.“ Diesen Monat will eine Uni-Kommission einen Zweitgutachter ernennen. Fragt sich nur wen. Rapanui ist eine absolute Exotensprache. Keine zehn Menschen weltweit können sie verstehen. J. AMOS / AGENTUR FOCUS der Star des Tages. Er wurde zum Ritualkönig („Vogelmann“) gewählt, mit Frauenhaar geschmückt, in eine Hütte gesperrt und durfte sich ein Jahr lang nicht waschen. Im Mittelpunkt standen indes die Jugendlichen. In Scharen wurden alle geschlechtsreifen Jungen sowie Mädchen nach der ersten Blutung auf den Vulkanberg geführt. Die Kandidaten, „poki manu“ („Vogelkinder“) genannt, überbrachten dem grell angemalten Timo Früchte und kleine Geschenke. Dann ging es zur Sache: π Die Jungen mussten sich hinlegen. Priester ritzten ihren Penis ein („Inzision“). π Bei den Mädchen wurde mit einem Stock untersucht, ob die Vulva „teketeke“ („unberührt“) war. Bei Auserwählten machte der Timo von seinem Recht der ersten Nacht Gebrauch. Als britische Ethnologen, die Anfang dieses Jahrhunderts auf der Insel recherchierten, Wind von dem Ritual bekamen, hielten sie es erst für „ein Phantasieprodukt der modernen Osterinsulaner“. Mittlerweile steht fest, dass es solche Zeremonien tatsächlich gab. Auf dem SamoaArchipel wurden Deflorationen sogar auf öffentlichen Plätzen durchgeführt. Angesichts dieser heidnischen Handlung wird deutlich, in welcher Klemme der frisch zum Christentum konvertierte Dol- d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Matthias Schulz Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Wissenschaft Angst vor Männerpanik Taugen Blutdrucksenker als Pille für den Mann? Eine US-Medizinerin hat ihre verhütende Wirkung entdeckt. Doch in der Pharmaindustrie stößt sie auf Widerstand. I rgendwann begann sich Susan Benoff zu wundern. Immer wieder kamen Paare zu der Reproduktionsmedizinerin von der New York University School of Medicine, die darüber klagten, keine Kinder zeugen zu können. Nur warum? Die Spermien der Männer, so beteuert Benoff, erwiesen sich im Labor als „absolut normal“. Und doch waren sie ganz offensichtlich unfruchtbar. Die Wissenschaftlerin fand die Lösung des Rätsels, als sie die Krankengeschichten ihrer Patienten miteinander verglich. Es stellte sich heraus, dass alle verhinderten Väter unter Bluthochdruck litten und das Problem mit so genannten Calciumblockern bekämpften. In Tests fand Benoff ihren Verdacht bestätigt: Der Calciumblocker Nifedipin bewirkt eine subtile Veränderung männlicher Samen. Er verhindert, dass Rezeptoren an die Oberfläche der Spermien dringen, mit deren Hilfe sie an der weiblichen Eizelle andocken und diese befruchten. Und noch ein Weiteres entdeckte Benoff: Die Unfruchtbarkeit setzt Paar beim Sex: Trick mit dem Rezeptor etwa nach einmonatiger EinnahDenn bisher ist es nicht gelungen, Mänme eines blutdrucksenkenden Medikaments mit dem Wirkstoff Nifedipin ein. Wird das nern eine Substanz anzubieten, die so zuMittel abgesetzt, so ist der Mann nach etwa verlässig verhütet wie die Pille der Frau, nur für begrenzte Zeit die Befruchtung verdrei Monaten wieder zeugungsfähig. Benoff war begeistert. Sie war offenbar hindert, keine Einbuße der Potenz mit sich dem idealen Verhütungsmittel für den bringt und auch keine weiteren ernsten Nebenwirkungen zeigt. Mann auf die Spur gekommen. Fettige Sperre Verhütende Wirkung von Bluthochdruckmitteln Im Hoden reifen die Spermien heran. Unter dem Einfluss des Wirkstoffs Nifedipin bildet sich an ihren Membranen eine cholesterinhaltige Fettschicht. Weg der Spermien Nif ed ipi n Gebärmutter 226 Eizelle Spermium 1 2 Eizelle Eileiter Hat der Mann Calciumblocker genommen, können die Rezeptoren die Fettschicht nicht durchdringen. 3 Das Spermium kann deshalb nicht an die Eizelle andocken – die Befruchtung ist unmöglich. Eizelle ohne Nifedipin Eierstock Hoden FOLIO ID MEDIZIN Die jüngste Errungenschaft auf diesem Gebiet zum Beispiel, die im Frühjahr aus Großbritannien gemeldet wurde, erfüllt kaum eines dieser Kriterien. Medizinern aus Manchester ist es gelungen, mit einer Kombination aus dem männlichen Sexualhormon Testosteron und Desogestrel – einer Progesteronform, die auch in der Antibabypille eingesetzt wird – die Spermienproduktion bei Männern zu unterbrechen. Doch selbst hohe Verabreichungsdosen erreichten in Tests nur eine Verhütungsquote von rund 65 Prozent. Der tiefe Eingriff in den Hormonhaushalt der Männer führte zudem zu beträchtlichen Nebenwirkungen wie Hautausschlag oder deutlichem Absinken des Cholesterinspiegels im Blut. All dies, so versprechen Benoffs Versuche, wäre bei einer Verhütungspille auf Basis der Calciumblocker nicht zu befürchten. Schon bei ersten Tests im Reagenzglas zeigte sich eine Zuverlässigkeit von 95 Prozent. Würde die Substanz auf ihre empfängnisverhütenden Eigenschaften hin optimiert, so wären noch weit bessere Ergebnisse denkbar. Der Trick mit dem Rezeptor macht zudem einen Eingriff in den Hormonhaushalt des Mannes überflüssig. Anders als bei der Sterilisation ist die Unfruchtbarkeit vorübergehend. Ernste Nebenwirkungen sind nicht zu befürchten, das hat die jahrzehntelange Erfahrung mit Nifedipin-Präparaten hinlänglich bewiesen. Auf einer Veranstaltung der American Society of Reproductive Medicine vorigen Monat erklärte die Sprecherin der Gesellschaft und Benoff-Kollegin Shaun Goodman vom St. Michael’s Hospital in Toronto detailliert, wie Nifedipin auf Sperma wirkt. Frisch ejakulierter Samen, so Goodman, ist zunächst nicht in der Lage, ein Ei zu be- 3 1 Rezeptoren im Inneren des Spermiums gelangen kurz vor der Befruchtung auf die Zelloberfläche. 2 Mit Hilfe dieser Rezeptoren dockt das Spermium an die Eizelle an – es kommt zur Befruchtung. d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 mit Nifedipin Werbeseite Werbeseite fruchten. Ungefähr eine halbe Stunde spä- wächst die Zahl der Männer, die in einer ter schicken die Spermien Rezeptoren, die Zweitehe auch in höherem Alter noch ein in ihrem Inneren gelagert sind, an die Kind zeugen möchten. Außerdem könnte Oberfläche der sie umgebenden Membran. allein das Wissen um die eigene UnfruchtErst dann ist der männliche Samen im barkeit viele schrecken, die gar keinen KinStande, sich auf dem weiblichen Ei festzu- derwunsch mehr hegen – für die Industrie setzen (siehe Grafik Seite 226). alles Gründe, um Umsatzeinbußen zu Nifedipin und andere Wirkstoffe dieser fürchten. Benoff: „Die haben einfach Art jedoch erhöhen in den Samen die Pro- Angst, Geld zu verlieren.“ duktion von Cholesterin, das sich wie eine Hinzu kommt, dass Verhütungsmittel für Fettschicht um die Membran legt und auf Männer bei Pharmafirmen als Ladenhüter diese Weise den Transport der Rezeptoren gelten. „Die gehen davon aus, dass die von innen nach außen verhindert. meisten Männer gar keine aktive Rolle bei Die Probleme für die New Yorker Wissenschaftlerin begannen, als sie in der Industrie nach einem Partner suchte, um die Entwicklung der Pille für den Mann voranzutreiben. Bei sechs führenden Pharmakonzernen, die Nifedipin-Präparate im Sortiment haben, klopfte sie an – und bekam sechsmal eine Absage. Auch die Bayer AG, für die in den sechziger Jahren der deutsche Herzpapst Xaver Fleckenstein den damals als Wundermittel gepriese- Medizinerin Benoff: Sechs Absagen von Pharmafirmen nen Wirkstoff entwickelt hatte, winkte ab. Bei Bayer bestehe „kei- der Familienplanung übernehmen wollen“, ne Absicht“, so ließen die Leverkusener erfuhr Benoff bei ihrer Rundreise durch verlauten, „eine Weiterentwicklung von die Pharmawelt. Nifedipin in der von Dr. Benoff angeregten Wie drastisch die Angst vor NebenRichtung zu betreiben“. wirkungen dem Geschäft schaden kann, Das Unbehagen bei Unternehmen wie zeigte sich vor einigen Jahren in den Bayer, das mit „Adalat“ zu den Markt- USA. Auch Anfang 1995 ging es um Nifeführern bei blutdrucksenkenden Mitteln dipin. gehört, ist verständlich. Weltweit benötiIn obskuren Untersuchungen behaupgen rund 100 Millionen Menschen blut- tete ein Pharmaforscher, nachgewiesen zu drucksenkende Medikamente, um einem haben, dass der Bayer-Wirkstoff das Herzinfarkt oder einem Schlaganfall vor- Herzinfarktrisiko erhöhe, statt es zu verzubeugen. In Deutschland werden Nifedi- ringern. pin-Präparate jährlich über 20 Millionen Prompt brach unter den Patienten in den Mal verordnet. USA die Panik aus. Hunderttausende setzAllein die Nifedipin-Präparate Adalat ten Adalat und andere Calciumblocker ab. von Bayer und Procardia von Pfizer be- An einem Tag verloren die Hersteller an scheren pro Jahr einen Umsatz von knapp der New Yorker Börse eine Milliarde vier Milliarden Mark. Bestätigen sich Dollar. Hauptexporteur Bayer musste UmBenoffs Untersuchungen, dann sind rund satzeinbußen von rund 50 Millionen Mark 95 Prozent aller Männer, die diese Mittel – verkraften. oft viele Jahre lang – schlucken, medikaBenoffs Entdeckung kommt gerade mentös bedingt unfruchtbar. jetzt ungelegen, da die Pharmariesen dabei Millionen zeugungsunfähiger Männer sind, für die Calciumblocker ganz neue durch Blutdrucksenker: für die Industrie Märkte zu erschließen. Jüngste Forschunein Schreckensszenario. Da hilft es we- gen haben ergeben, dass Nifedipin von nig, wenn die Unternehmen beteuern, Arteriosklerose bedrohten Gefäßen helfen dass die meisten Bluthochdruckpatienten kann. Um diesen erfreulichen Nebeneffekt über 40 Jahre alt sind und somit ihre Fa- zweifelsfrei zu belegen, finanziert Bayer milienplanung normalerweise abgeschlos- zurzeit zwei klinische Studien. sen haben. Susan Benoff dagegen ist immer noch auf Zum einen werden Calciumblocker zu- der Suche nach Geldgebern, um für Männer nehmend auch bei chronischen Kopf- die ideale Verhütungspille zu entwickeln. schmerzen eingesetzt – ein Leiden, das al- Für alle Fälle hat sie sich ihre Entdeckung tersunabhängig eintritt. Zum anderen patentieren lassen. Heiko Martens 228 d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 T. EVERKE Wissenschaft Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite P. GINTER / BILDERBERG Wissenschaft Teilchendetektor im Hamburger Forschungszentrum Desy: „Messungen von nichts sagender Genauigkeit“ D E BAT T E Sperrt das Desy zu! Der Teilchenbeschleuniger Desy bei Hamburg, der jedes Jahr 250 Millionen Mark verschlingt, liefert nur irrelevante und langweilige Ergebnisse – ein Musterbeispiel dafür, wie die moderne Physik den Laien für dumm verkauft.Von Hans Graßmann M. BRUZZO / D-DAY Graßmann, 39, lehrt Physik an der Universität Udine in Italien. Mehrere Jahre arbeitete er unter der Leitung des Nobelpreisträgers Carlo Rubbia am Forschungszentrum Cern bei Genf. 1994 war er im Fermilab bei Chicago an der Entdeckung des TopQuarks beteiligt. In Büchern („Das Top Quark, Picasso und Mercedes-Benz“, „Alles Quark?“) versucht er, sein Fach einem breiten Publikum schmackhaft zu machen. I n Deutschland ist die Zahl der Studienanfänger im Fach Physik in den letzten Jahren auf die Hälfte gefallen. Und das ist gut so. Es war höchste Zeit. Sicher wird nun wieder die Forderung kommen nach noch mehr Geld für die Forschung, um die Labors noch reicher auszustatten, die jungen Leute anzulocken mit der Aussicht auf einen sicheren Job, eine sichere Rente. Zugegebenermaßen würde ein solcher Geldregen die Hörsäle sofort wieder füllen. Fragt sich nur: Wofür? Nun ist ja der drastische Rückgang der Studentenzahlen nur ein Anlass, Journa232 listen nennen es Aufhänger, den es braucht, um einen Aufsatz wie diesen auch nur beginnen zu können. Wie es um das Verhältnis unserer Gesellschaft zu den Naturwissenschaften bestellt ist, konnte schon vorher sehen, wer nur wollte. Es reicht, in einen Laden zu gehen und sich ein paar Bücher über eine der gegenwärtigen Modetheorien zu kaufen – Chaostheorie etwa. Ich habe mir also Bücher über Chaostheorie gekauft, mehr als ein Dutzend, sicherheitshalber. Da lese ich Zeugs wie dies: Die Küste Englands sei unendlich lang, das kriege man nur durch Fraktale in den Griff, deswegen brauche man die Chaostheorie. In Wahrheit ist die Küste Englands aber gar nicht unendlich lang. Sie besteht ja aus einer endlichen Zahl von Atomen endlicher Ausdehnung. Sollten wir die Existenz der Atome bereits wieder vergessen haben? Ein einzelner Schmetterling im Urwald, so lese ich weiter, könne einen Orkan auslösen, vielleicht in New York, vielleicht in Europa, das müsse berechnet werden, damit es nicht unversehens einen Orkan gibt in d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 New York. Die herkömmliche Physik kann das nicht, also müsse eine Chaostheorie her. Aber wenn tatsächlich ein einziger Schmetterling eine relevante Auswirkung aufs Wetter hätte, so gäbe es sicher keinen Wetterbericht, bei all den Milliarden von Schmetterlingen und Vögeln und Blättern. Und so geht das immerzu weiter. Ich weiß trotz der Lektüre all jener Bücher bis heute nicht, was das eigentlich sein soll: die Chaostheorie. Ich glaube, es gibt sie gar nicht. In diesen Büchern steht nichts, was man verstehen könnte. Denn das Falsche oder Inhaltslose lässt sich nicht verstehen. Aber es fehlt vielen Menschen am Mut zu denken: „Ich versteh es nicht, folglich ist es entweder schlecht erklärt oder einfach nur unsinnig.“ Sondern sie glauben, es liege an ihnen, wenn sie nichts verstehen; Wissenschaft könne man offensichtlich nicht begreifen als Laie. Und bräuchte das wohl auch gar nicht, sonst würden jene Bücher doch wenigstens den Versuch unternehmen, es zu erklären. Auf die Spitze getrieben wird der Trend, das Wissen hinwegzulügen, durch die Behauptung, Wissenschaft könne gar nicht verstanden werden ohne Mathematik. Als SPL / AGENTUR FOCUS Beispiel Desy, Hamburg, Großfor- deutung hat. Im Grunde genommen nicht eines von vielen Beispielen ein Artikel aus der „Zeit“: „Naturwissenschaft lässt sich schungslabor für Teilchenphysik mit weit einmal für die Strukturforscher selbst, denn mit Bildern popularisieren, aber nur mit über 1000 Mitarbeitern und um die 250 die Messungen werden allmählich genauer Mathematik verstehen“, heißt es da („Die Millionen Mark Etat pro Jahr. Wissen Sie, als die theoretischen Vorhersagen, sind also Zeit“, Nr. 37/99, Seite 55). Stimmte das, so lieber Steuerzahler, was die „Teilchen- von nichts sagender Genauigkeit. Auf diedürfte niemand die Bewegung der Erde physiker“ am Desy tun? Und vor allem, se Kritik antwortete der Desy-Mann, man könne nun einmal so genau messen mit den um die Sonne verstehen, und wir müssten warum sie es tun? Sie möchten es gerne wissen? Bitte sehr, Geräten, die man habe. Deshalb tue man es. immer noch glauben, es sei die Sonne, welDerartige Argumente sind zwar schlüsche sich um die flache Erde dreht. Denn dies ist, was das Desy tut: Neben einigen kaum einer versteht die Differentialglei- weniger wichtigen Dingen studiert man vor sig, insofern als sie in sich widerspruchsfrei chungen, welche die Bahn der Planeten allem Pomeronen, Strukturfunktionen und sind. Man kann tatsächlich messen, was um die Sonne beschreiben. Selbst die Ma- Leptoquarks. (Diese Auflistung basiert auf man messen kann, und wenn man ein teuthematiker, die doch angeblich als einzige einem Vortrag, den kürzlich ein leitender res Messgerät hat, so soll man es nutzen. die Physik verstehen, müssten noch beim Desy-Manager am Cern gab. Sie berück- Aber diese Schlüssigkeit wird erkauft um mittelalterlichen Bild des Sonnensystems sichtigt nur die Teilchenphysik, mein eige- den Preis, die Frage nach der Relevanz der Messungen explizit auszuklammern. verharren, denn die den Planetenbahnen nes Spezialgebiet.) Bei den Leptoquarks hinzu Grunde liegenden Diffegegen fehlt sogar die innere rentialgleichungen sind prinSchlüssigkeit. Mit ihnen nämzipiell unlösbar. Ebenso welich verhält es sich so: Vor nig kann man aus der Madrei Jahren hat man am Desy thematik die Existenz der angeblich neue Physik geAtome ableiten oder die funden, die man damals mit Thermodynamik noch sonst dem Namen „Leptoquarketwas. Teilchen“ benannt hat. InWoher kommt das, warum zwischen gibt es diese Lepversuchen so viele Leute, toquarks aber nicht mehr, dem so genannten Laien einwenn ich es recht verstanden zureden, er verstünde die habe, aber dafür gibt es irPhysik nicht? Es liegt am gendeine andere neue PhyGeld, woran sonst. Denn leisik, die nicht einmal mehr eider lässt sich viel Geld danen Namen zu haben scheint. mit verdienen, den „Laien“ Man habe „more events für dumm zu verkaufen. Es than expected from the Stanhat sich ein riesiger Markt dard Model“ beobachtet, so gebildet, auf dem nichts gelese ich ganz groß auf der tan wird, als den Laien für Website des Desy (www. dumm zu verkaufen. Ein Fraktales Gebilde: „Ich glaube, die Chaostheorie gibt es gar nicht“ desy.de/pr-info/desy-recentBombengeschäft, weil man Der Reihe nach: Ein Pomeron ist, wenn hera-results-feb 97_e.html). Genauer geverkauft, ohne irgendwas selbst zu produman sich vorstellt, es gäbe ein Teilchen, sagt: Das lese ich, wenn ich mir meine Laizieren. Aber was ist es eigentlich, was man ver- das es aber gar nicht gibt, und dann be- enbrille aufsetze oder mir vorstelle, nur so kauft? Es ist das Ansehen, welches die For- rechnet, wie es aussähe, wenn es es gäbe. zum Beispiel, ich sei Sachbearbeiter im Forschung einmal zu Recht genossen hat, die Als am Ende des besagten Vortrages ein schungsministerium, vielleicht einer, der Autorität, die früher einmal der Verstand Theoretiker den Desy-Mann darauf hin- über Forschungsgelder entscheidet. Nun besaß. Die werden zu Cashflow, in bunte wies, dass heutzutage niemand mehr an muss man wissen: Für dieses „more events die Existenz eines Teilchens namens Po- than expected from the Standard Model“ Büchlein verpackt, voller Fraktale. Dieser Ausverkauf ist verheerend für die meron glaube, da war die Antwort, man wäre eigentlich der Nobelpreis fällig. Denn gesamte Gesellschaft, nicht nur für den ein- könne doch messen, was man wolle. Und wenn einer tatsächlich „mehr Ereignisse als zelnen Laien. Weil auch jeder Fachmann es sei doch egal, wie man das dann nenne vom Standardmodell erwartet“ beobachtet, so ist ihm die Ehrung in Stockholm siLaie ist auf allen Gebieten außer auf sei- – warum nicht Pomeron? Die Strukturfunktion des Pro- cher. nem Fachgebiet. Wenn ich aber tons beschreibt, wie das Proton Allerdings wird das alles ein wenig späals Physiker nicht mehr über Philosophie nachdenken darf, „Ein Pomeron (ein Bestandteil des Atomkerns) ter, im klein Gedruckten, schon wieder re„weil ich ja kein Fachmann bin“, ist, wenn man aus kleineren Quark- und Gluon- lativiert. War, scheint’s, doch nicht so gewo soll das enden? Wenn ich am sich vorstellt, teilchen zusammengesetzt ist. meint. Und wenn ich meine Laienbrille abDenn das Proton ist kein punkt- nehme und stattdessen meinen Doktorhut Ende selbst als Physiker nicht es gäbe ein mehr über Physik nachdenken Teilchen, das förmiges Teilchen, sondern es hat aufsetze, so lese ich sogar das Gegenteil eine innere Struktur. Entdeckt von dem, was in der Überschrift steht. In darf, weil ich ja kein Mathematies aber gar wurde dies in Stanford vor über den entsprechenden Fachveröffentlichunker bin, der doch einzig die Phynicht gibt“ 40 Jahren. Die Protonstruktur gen jedenfalls ist von neuer Physik gar sik verstehen könne, angeblich: wurde inzwischen – Zeit genug nichts mehr zu sehen. Es gibt keine neue Wo soll das hinführen? Diese Entwicklung wird zum Horror, war ja – ziemlich genau vermessen. Das Physik am Desy. Das ist nicht meine perwenn man weiß, dass sie sogar schon staat- Desy ist nun damit beschäftigt, jährlich sönliche Meinung, sondern das sagen die lich institutionalisiert ist. Auch ein Teil der neue Weltrekorde der Messgenauigkeit auf- Forscher des Desy in den für andere Fororganisierten Forschung hat gemerkt, wie zustellen. Zum Beispiel zu messen, ob das scher bestimmten Schriften selbst. Wenn man wenigstens auf die Zukunft bequem es sich leben lässt, wenn man sich Proton bei einer bestimmten Energie 200 von der Allgemeinheit abschottet und dar- oder doch eher 205 Gluonen enthält – eine hoffen dürfte, das geht ja fast immer. Hier auf verzichtet zu erklären, was man ei- Frage, die weder für den Rest der Physik nicht. Für die Zukunft hat das Desy das noch für den Rest der Welt irgendeine Be- „Hera-B“-Experiment organisiert: mit cirgentlich tut. d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 233 Wissenschaft ca 300 Physikern (Techniker nicht mitgezählt), und mit wie viel Geld, will ich lieber nicht wissen. Es ist das weltweit erste und einzige Experiment, das schon gescheitert ist, ehe es in Betrieb geht. Die Idee für Hera-B war folgende: Früher hat man geglaubt, Antiteilchen seien sozusagen das genaue Gegenteil der Teilchen. Seit einigen Jahrzehnten weiß man, dass das nicht immer der Fall ist, es gibt gelegentlich eine kleine Abweichung vom genau spiegelbildlich gegenteiligen Verhalten von Teilchen und Antiteilchen. Hera-B sollte diese kleine Abweichung, den kleinen Unterschied zwischen dem b-Teilchen und dem Anti-b-Teilchen, studieren. Kennt man ihn genau genug, so lässt sich daraus ziemlich eindeutig auf die ihm zu Grunde liegenden Mechanismen schließen. Nun hätte Hera-B zwar so fein sowieso nicht messen können. Aber es hätte versuchen sollen, den Unterschied bei den bTeilchen wenigstens grob zu sehen, ehe das jemand anders schafft. Wäre nicht umwerfend wichtig, denn in diesem Fall kommt es wirklich auf die Feinmessung an, aber eine nette Trophäe wäre es immerhin. Erstbesteigung des bTeilchens, sozusagen. Doch alle Liebes- „Wenn die am Desy sagen, müh vergeblich, die Erstbesteigung hat das sei Physik, unterdessen ein amewas sie marikanischer Detektor chen, dann zu Wege gebracht, glauben viele der leider nicht das das einfach“ Taktgefühl aufbrachte, Hera-B den Vortritt zu lassen, ein ziemlich großer, der das zum allgemeinen Entsetzen geradezu im Vorbeigehen erledigte; eigentlich war er dafür nicht einmal gemacht. Inzwischen sind auch schon Experimente angelaufen, welche die für Hera-B sowieso unmöglichen Präzisionsmessungen in Angriff nehmen. Hera-B dümpelt derweilen halt so vor sich hin, alle Zeitpläne grotesk überschritten, sämtliche Finanzrahmen gesprengt. (Dergleichen steht übrigens nicht auf der Desy-Website.) Die resultierende Verschwendung von Steuergeldern ist noch das wenigste, in so einem großen Staat gibt’s halt nun mal Ineffizienzen.Wobei allerdings die insgesamt für die Physik verfügbaren Gelder begrenzt sind. Wenn sie zu einem erheblichen Teil auf Nimmerwiedersehen im Desy verschwinden, so findet im entsprechenden Ausmaß andere Physik eben nicht statt. Doch viel schlimmer ist dies: Das Desy genießt immer noch eine enorm große Autorität. Wenn die sagen, das sei Physik, was sie da machen, dann glauben viele Menschen das einfach – und wenden sich ab von der Physik, die ja offensichtlich langweilig ist und irrelevant. Auf den ersten Blick betrifft das zwar nur die Teilchenphysik, aber auf Grund seiner Größe dominiert das Desy die öffentliche Wahrnehd e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 mung der Physik überhaupt. Deshalb schadet das Desy der Physik. Sperrt es zu. Weder bin ich gegen die Großforschung als solche noch gegen die Teilchenphysik. Ich bin selbst Teilchenphysiker. Die Frage zu beantworten, woher die Teilchen, woher also die Welt kommt und warum sie da ist, das wäre sicher 250 Millionen Mark wert. Ich finde, man könnte dafür sogar 250 Milliarden ausgeben, wenn man denn so viel Geld hätte. Aber ob das Proton bei einer bestimmten Energie 200 oder 205 Gluonen enthält, das ist nicht mehr wert als drei oder vier Doktorarbeiten. Wir befinden uns in einem Teufelskreis: Die Physik ist eindeutig auf dem Rückzug aus unserer Gesellschaft. Und das führt zu Zuständen, wie sie am Desy herrschen. Und das Desy wiederum, indem es behauptet, seine sinnlose Massenproduktion von Zahlenkolonnen sei Physik, treibt diesen Rückzug weiter voran, unter Dampf gehalten von einer Unmenge verbrannter Steuergelder. Es besteht die Gefahr, dass eine sich immer besser organisierende, gleichgültig gemachte Spaßgesellschaft irgendwann nicht mehr in der Lage ist, diesen Rückzug auch nur zu bemerken. So gesehen bin ich froh, das keiner mehr Physik studiert. Die jungen Leute haben doch etwas gemerkt! Das ist die einzige Hoffnung, die es noch gibt für die Physik. Vergleichen Sie die deutsche Physik vor und nach 1933, so sehen Sie in der Tat, dass man nach 1945 den Neuanfang der Physik versäumt hat. Wir sollten ihn nachholen. Wir sollten dabei nicht nur an die jungen Leute denken, wenngleich die sicher entscheidend sind, sondern auch an die alten: Ich war vor vielen Jahren Sommerstudent am Desy und habe dort hoch befähigte Physiker und Techniker kennen gelernt. Darunter Hofstadter selbst, den Entdecker der Protonstruktur. Menschen, die mich beeindruckt und beeinflusst haben. Aber diese Leute wirken nicht mehr nach außen. Die Physik erliegt dem Überhandnehmen der Organisationsmacht. Es muss auch heute noch Könner und Physiker im Desy eingeschlossen geben. Sie sollten wieder frei zum Geistesleben unserer Gesellschaft beitragen dürfen: Befreit sie aus dem Zauberberg. Glaubt den Desy-Managern nicht: Die öden Zahlenkolonnen, die das Desy produziert, das ist nicht die Physik. Die wahre Physik ist anders. Sie ist etwas außerordentlich Lebendiges, das von den letzten und äußersten Dingen handelt. Vom Leben zum Beispiel. Davon, woher die Welt kommt und warum sie da ist. Und davon, dass da draußen keineswegs das Nichts auf uns lauert, sondern das Etwas ist. Das sagt uns die Physik. Von Schönheit handelt sie und vom Denken, somit vom Bewusstsein. Davon, wer wir sind. Und warum. Und all das kann man durchaus verstehen, selbst ein Kind kann es verstehen. Mitschuldig, wer schweigt. Sperrt das Desy zu! ™ d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite A. PRAUASH schon seit mehreren Jahren regelmäßig ins fernöstliche Krisengebiet, um technische Soforthilfe zu leisten. Mit Satelliten oder vom Flugzeug aus messen die Experten die Temperatur der Erdoberfläche. Rote Flecken auf den Infrarotfotos zeigen an, wo es unterirdisch glüht – Daten, die dazu dienen, ein Frühwarnsystem für die örtliche Feuerwehr aufzubauen. Noch allerdings ist die Hilfe kaum mehr als symbolisch. „Die Kohlevorkommen in China sind riesig“, stöhnt Vekerdy. Manche der Brände fressen sich bereits seit Jahrhunderten durch die Steinkohle. Einige Flöze fangen von Natur aus Feuer. In den trockenen Gebirgsregionen lagern sie nahe der Erdoberfläche fern jeglichen Grundwassers und neigen zu spontaner Selbstentzündung. „Wenn die Kohle mit Sauerstoff in Berührung kommt, entsteht durch die Oxidation Hitze“, erläutert der Aachener Geologe Ralf Littke.Werde diese nicht abgeführt, fange die Kohle schließlich von selbst an zu brennen. Zur ökologischen Katastrophe wuchs sich das chinesische Kohlefeuer jedoch erst durch die industrielle SteinkohleFörderung aus. „Nur zehn Prozent der Brände sind natürlich entstanden“, glaubt Glühendes Kohleflöz in China: Eine der größten ökologischen Katastrophen der Welt U M W E LT Feuer unter China Im Norden Chinas kokeln gewaltige Kohlelager vor sich hin. Dabei entsteht viermal so viel Kohlendioxid wie im deutschen Autoverkehr. Zum Löschen fehlen die Technik und das Geld. D as Tor zur Hölle öffnet sich gleich hundertfach im Reich der Mitte. Aus gähnenden Spalten steigt zischend Rauch in den Himmel. Lodernde Gesteinsmassen liegen in den Schlünden offen zu Tage. Ganze Berghänge glühen. Der heiße Atem der Erde scheint nah zu sein im Norden Chinas. Doch nicht Magma oder Lava brennt Risse ins Gestein. Hunderte von Kohleflözen sind es, die ununterbrochen vor sich hin kokeln. Während die Nationen der Welt derzeit auf der Klimakonferenz in Bonn um eine Verringerung der Treibhausgas-Emissionen feilschen, spielt sich in Chinas Steinkohlegürtel fast unbemerkt eine der weltweit größten ökologischen Katastrophen ab. Bis zu 200 Millionen Tonnen Kohle lösen sich dort jährlich in Kohlendioxid und schwefelschwangeren Rauch auf. Manche Flöze brennen über eine Länge von 20 Kilometern. Andere Kohlefeuer reichen fast einhundert Meter tief in die Erde hinein. Die Brände verteilen sich über eine Fläche, die fast so groß ist wie die der gesamten EU. „Ein schwerwiegendes, globales Problem“, sagt Zoltán Vekerdy vom International Institute for Aerospace Survey and Earth Sciences (ITC) im niederländischen 238 Enschede. „Wir schätzen, dass die Kohlefeuer in China zwei bis drei Prozent zum weltweiten Kohlendioxidausstoß beitragen.“ Viermal so viel Treibhausgas wie alle Autos Deutschlands zusammen bläst der Schwelbrand demnach jährlich in die Luft. Vekerdy reist mit seinen Kollegen vom ITC Der lange Brand Kohlefeuer in Nordchina Heilongjiang Innere Mongolei Jilin Tokio Pjöngjang Seoul Ningxia Xinjiang Gansu PEKING Shanxi Schanghai Taipeh 500 km Hongkong Quelle: ITC Hanoi d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 brennende Kohleminen brennende Kohlefelder Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Wissenschaft den Kohlen sitzt nicht nur China. Weltweit fangen Kohleflöze Feuer. In 32 US-Staaten züngeln beispielsweise gelegentlich Flammen aus der Erde. Entfacht werden die Feuer durch Blitzschlag, Steppenbrände oder Selbstentzündung. Doch mit modernem Löschschaum, der sich um die Glut legt und zu einem harten Panzer erstarrt, werden die Brände meist erstickt. In industriellen Schwellenländern wie Indonesien, Indien oder China fehlt den Ingenieuren diese Technik. Gerade diese Staaten gehören zu den größten Kohleproduzenten der Welt. Über eine Milliarde Tonnen Steinkohle werden jährlich aus der chinesischen Erde geholt – 34 Prozent der Weltproduktion. Der fossile Schatz versorgt nicht nur China mit Energie. Etwa 30 Millionen Tonnen Kohle exportiert das Riesenland in alle Welt. Da ist es auch eine richtet Tan. Ackerböden seien „öde und wüst“, das Wasser verschmutzt. Ganze Wiesen und Wälder fangen Feuer. Der Husten sei zur Volksseuche geworden, Magenund Darmkrankheiten grassierten. Auch die Krebsrate liege höher als in anderen Gebieten. Vorsintflutlich mutet die Technik an, mit der die Chinesen die Flächenbrände im Untergrund zu stoppen versuchen. Ist beispielsweise in der Region Ningxia ein Kohlebrand ausgemacht, rücken die Feuerwehrleute mit Bulldozern und Lastwagen zu Werke. Großflächig verteilen sie feines Schüttgut über den Flözen, um den im Gestein schwelenden Brand zu ersticken. In den von der unterirdischen Hitze aufgerissenen Boden gießen sie Schlamm und Wasser. Liegt die glühende Kohle an der Erdoberfläche, wird sie auf Laster verladen und andernorts zum Ausglühen wieder abgelagert. „Die Brände sind teilweise schon lange in Gang und deshalb sehr großflächig“, kommentiert Vekerdy vom ITC. „Es ist extrem schwierig und gefährlich, sie zu löschen.“ Nur technische Hilfe der Industrieländer könne Abhilfe schaffen, sagt der Experte. Die müssten schon aus eigenem Interesse handeln, denn das aus der chinesischen Erde dampfende Kohlendioxid trage auch in Europa und Amerika zur globalen Erwärmung bei. „Die entwickelten Länder tragen hier notgedrungen eine Verantwortung“, mahnt Vekerdy. Die Schwelbrände im Fernen Osten zu löschen sei wahrscheinlich billiger und effektiver, als etwa die Kohlendioxid-Emissionen der Autos technisch weiter zu verringern. Auch die Chinesen glauben inzwischen nicht mehr daran, das Problem allein bewältigen zu können. Bislang würden die Feuer lediglich in den Kohleflözen von Ningxia und Xinjiang bekämpft, berichtet Chefingenieur Tan. Um die übrigen Brandherde kümmere sich niemand. „Wir hoffen auf finanzielle Unterstützung der Uno“, sagt Tan. Auch Indien habe von den Vereinten Nationen zur Bekämpfung von Kohlefeuern Kredite erhalten. Ob indes die Führung in Peking überhaupt bereit ist, Geld für diesen Zweck aufzunehmen, hält Tan für fraglich. „Unsere Zentralregierung hat dringendere Aufgaben zu bewältigen als die Bekämpfung der Kohlefeuer“, glaubt der Ingenieur. Ein Grund des Desinteresses: Es ist zu viel Kohle vorhanden. Derzeit liegen in China rund 75 Millionen Tonnen auf Halde. Philip Bethge, Andreas Lorenz BILDERBERG Vekerdy. „An allen anderen waren Menschen zumindest mitschuldig.“ Veraltete Minenanlagen und zu intensive Nutzung der Flöze seien die Hauptursachen des Dramas. Beispiel Ningxia, eines der wichtigsten Kohleabbaugebiete Chinas: In der rund tausend Kilometer westlich von Peking gelegenen Region versuchen die niederländischen Experten seit 1996, neuen Bränden vorzubeugen. Die Kohle führenden Schichten erstrecken sich hier über eine Fläche von 45 Quadratkilometern. Eine der besten Steinkohlen der Welt, schwefelarme Anthrazitkohle, wird in Ningxia für den Export gefördert. Doch selbst hier hat das schwarze Gold an 18 Stellen Feuer gefangen. Bis zu 400 Grad messen die Geologen des ITC in den kaminartigen Bodenspalten, die sich über den Bränden bilden. An der Kohleabbau im Norden Chinas: 30 Millionen Tonnen in alle Welt exportiert Erdoberfläche über den Feuern erreichen die Temperaturen „leicht hundert Grad“, berichtet Vekerdy – für die nahen Dörfer und ihre Bewohner eine ständige Gefahr, die ihre Ursache häufig in der untauglichen Bergbautechnik der Chinesen habe. Viele Minen werden nicht richtig entlüftet und setzen Methan frei, das sich mit Luft zu entzündlichem Grubengas vermischt. Veraltete Generatoren und Beleuchtungsanlagen in den Minenstollen von Ningxia sprühen Funken.Auch lässt der Kohleabbau die Erdoberfläche reißen. Durch aufklaffende Spalten strömt Sauerstoff in die Flöze, der wiederum die Selbstentzündung begünstigt. „Niemand überwacht die Temperatur in den Minen“, klagt Vekerdy. Dabei ist die Technik zur wirksamen Kontrolle und Vorhersage von Kohlebränden längst entwickelt. Denn auf glühen242 wirtschaftliche Katastrophe, wenn der Brennstoff statt in Kraftwerken und Hochöfen schon vor Ort verglüht. Chinesische Experten schätzen den Verlust durch die Kohlebrände auf jährlich knapp fünf Milliarden Mark. Insgesamt sind seit den fünfziger Jahren nach Berechnungen des Geologischen Zentralamts für die Kohlegebiete Chinas 4,2 Milliarden Tonnen Steinkohle verbrannt – 85-mal so viel, wie in Deutschland jährlich gefördert wird. Besonders betroffen sollen neben Ningxia die Regionen Xinjiang, Gansu, Shanxi, Jilin, Heilongjiang und die Innere Mongolei sein. „Das ökologische Gleichgewicht in diesen Gebieten ist zerstört“, sagt Tan Yongjie, Chefingenieur des Zentralamtes. Neben Kohlendioxid entstehen bei den Bränden auch gesundheitsschädliche Schwefel- und Stickstoffverbindungen, bed e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Technik AU T O M O B I L E Wut des Bauernsohns Mit dem neuen Diablo GT bietet Lamborghini den derzeit schnellsten Straßensportwagen an – ein neuer Superlativ im ewigen Wettstreit mit Ferrari. D as gelenkigste Autoradio der Welt fährt serienmäßig mit im neuen Lamborghini Diablo GT. Auf Knopfdruck schnurrt es elektrisch aus dem Armaturenbrett hervor, dreht sich an einem Gestänge um die eigene Achse und offenbart an seiner flachen Unterseite einen kleinen Monitor. Der Bildschirm, verbunden mit einer Kamera am Wagenheck, dient als Tele-Rückspiegel und löst erstmals ein Problem, das Lamborghini-Fahrer seit jeher plagt: Beim Einparken sind die unübersichtlichen Sportwagen aus Sant’ Agata bei Bologna ungefähr so gut zu manövrieren wie Lastzüge. Ihre Behändigkeit beschränkt sich klar auf die Vorwärtsrichtung. Eine Spitzengeschwindigkeit von 338 km/h erreicht der 575 PS starke und 560 000 Mark teure Diablo GT. Er ist damit der schnellste erhältliche Straßensportwagen der Welt. Die Bestmarke persönlich anzustreben, wird dem Kunden laut Herstellerunterlagen jedoch „nicht empfohlen“. Sie wurde bei Versuchsfahrten ohne den stabilitätsfördernden, aber bremsenden Heckspoiler erzielt, ist also ein eher akademischer Wert. Die Karosserie des Diablo GT besteht zu großen Teilen aus dem extrem teuren Leichtbau-Werkstoff Kohlefaser, wodurch das Gewicht gegenüber dem Basismodell Diablo SV um 40 Kilogramm auf 1,49 Tonnen gesenkt wurde. In dieser Größenordnung, meint Lamborghini-Chefentwickler Massimo Ceccarani, „beginnt der Fahrer, einen Unterschied zu spüren“. Etwas Feingefühl ist dafür sicher erforderlich, denn der um 200 000 Mark billigere EinstiegsDiablo (530 PS) ist laut Werksangaben nur drei Stundenkilometer langsamer. Den Spurt von 0 auf 100 km/h erledigen beide Modelle in weniger als vier Sekunden. Zweifellos dient der neue Diablo GT in erster Linie als Marketing-Instrument gegen den bislang stets überlegenen Erzrivalen Ferrari. Der Wettstreit begann der Legende nach in den sechziger Jahren mit der Wut des Ferrari-Kunden Ferruccio Lamborghini. Der Bauernsohn und Traktorenfabrikant hatte nacheinander vier Ferraris gekauft und an allen Probleme mit der Kupplung gehabt. Er beschwerte sich bei Firmenchef Enzo Ferrari und wurde schroff abgewiesen. Grimmig gründete er seine eigene Sportwagenfabrik. Bis heute, die zerstrittenen Firmengründer sind längst tot, jagt die Marke Lamborghini, einen angreifenden Stier im Firmenwappen, dem Konkurrenten Ferrari, dessen Emblem ein steigendes Pferd ziert, ebenso erbittert wie erfolglos hinterher. Kaum mehr als 200 Autos produziert die Fabrik in Sant’ Agata pro Jahr, bei Ferrari sind es etwa 3500. AP * Bergung des verunglückten Testwagens (r.) am 13. Oktober bei Olbia. Unter wechselnden Besitzern, zeitweise dem US-Konzern Chrysler, später einem indonesischen Präsidentensohn, flossen weder die nötigen Investitionssummen in den Betrieb noch sprossen wegweisende strategische Visionen. Seit Jahren beschränkt sich die Produktpalette auf das Modell Diablo, dessen krawallige Formensprache offenbar nicht gerade die vorbildlichste Klientel anzieht. Als prominentester Kunde wird der schwer erziehbare Boxchampion Mike Tyson genannt. Im Juli 1998 erwarb die VW-Tochter Audi die chronisch darbende Traumwagenfabrik. Seitdem, sagt Chefentwickler Ceccarani, „haben wir einen Ansprechpartner, der unsere Sprache versteht“ — allerdings auch einen, der eine sehr deutliche Sprache spricht. Der damals fast fertige DiabloNachfolger wurde kurzerhand eingestellt. Die Form erschien den neuen Statthaltern „zu weich“. In spätestens zwei Jahren soll der Wagen in völlig neuem Kleid auf den Markt kommen. Wenig später soll ein etwas günstigeres Einstiegsmodell (um 250 000 Mark) mit voraussichtlich zehn Zylindern folgen und die Gesamtverkaufszahl langfristig auf über 1000 Lamborghinis pro Jahr anheben. Für die Entwicklung steht nun das gesamte Instrumentarium des VW-Konzerns bereit, einschließlich werkseigener Teststrecken. Bislang erfolgte die Fahrerprobung in einem eher provisorischen Umfeld. In Ermangelung einer eigenen Teststrecke erledigten die Versuchsfahrer ihre Arbeit teils auf angemieteten Pisten, teils auf den öffentlichen Straßen rund um Sant’ Agata. Im Schutze stillschweigender Duldung der örtlichen Polizei jagten die Prototypen zuweilen Kanonenkugeln gleich über die Straßen der Po-Ebene. Diese Praxis, beteuert das Management, gehöre definitiv der Vergangenheit an. „Die heroischen Zeiten sind vorbei“, erklärt Chefentwickler Ceccarani, der inzwischen ein generelles Verbot für gesetzwidrige Freistil-Testfahrten ausgesprochen hat. Getrübt wird das neue Bild der Vernunft indes durch einen tödlichen Unfall im Rahmen der Pressevorführung auf Sardinien. In der Nähe von Olbia fuhr ein Diablo GT, gesteuert von Werkstestfahrer Antonio Leandro, 28, am 13. Oktober rücklings gegen einen Fiat Uno. Leandro und eine Insassin des Kleinwagens starben am Unfallort. Nach Aussagen der örtlichen Verkehrspolizisten flogen die Trümmer etwa 350 Meter weit. Expertenschätzungen über die Geschwindigkeit des Lamborghini liegen noch nicht vor. Ein Polizist: „Sicher war er nicht langsam.“ Christian Wüst Lamborghini Diablo GT, Unfall-Diablo*: „Der Kunde spürt den Unterschied“ 246 d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite AFP / DPA Technik Atomraketen-Abschuss-Silo der russischen Armee: „Der Westen hat Angst, weil er nichts weiß“ COMPUTER Raketenstart um Mitternacht Droht ein Atomkrieg aus Versehen? Westliche Militärs befürchten, dass die russischen Frühwarnsysteme beim Jahrtausendwechsel verrückt spielen. S tille herrscht in dem fensterlosen Raum. Angespannt starren die Uniformierten auf die Radarschirme. Je näher die Uhr auf Mitternacht rückt, desto nervöser wirken die Männer. Von ausgelassener Silvester-Stimmung ist im Gebäude 1840 des neuen Raketenkontrollzentrums im amerikanischen Bundesstaat Colorado nichts zu spüren. Russische und amerikanische Militärs, so haben es die Verteidigungsminister beider Länder kürzlich vereinbart, sollen gemeinsam den Jahrtausendwechsel verbringen. Bereits Mitte Dezember werden die Raketenexperten aus Moskau anreisen. Ihr Auftrag: den Weltuntergang zu verhindern. Das ungewöhnliche Jahr-2000-Treffen geht auf Initiative der Amerikaner zurück. Westliche Militärs sind in Sorge, dass Russlands nukleares Führungs- und Kontroll248 system nicht ausreichend auf den Jahrtausendwechsel vorbereitet sein könnte. Das Horrorszenario: Bei der Datumsumstellung spielen plötzlich die russischen Militärcomputer verrückt, die Frühwarnsysteme gaukeln einen amerikanischen Raketenangriff vor – und es kommt zum Atomkrieg aus Versehen. Bevor sich eine solche Katastrophe ereignet, so die Idee, sollen die russischen Besucher in Colorado im Notfall an die Heimat melden, dass die Amis nicht eine einzige Rakete gestartet haben. „Sie sollen mit unseren Leuten zusammensitzen und sensible Daten des Frühwarnsystems über mögliche Raketenstarts überwachen“, erläutert US-Verteidigungsminister William Cohen. Russische Militärs halten einen Raketen-Fehlstart beim Jahrtausendwechsel allerdings für äußerst unwahrscheinlich. „Der Westen hat Angst, weil er nichts weiß“, erklärt Igor Korotschenko, ein ehemaliger Oberst aus dem Generalstab und heute Armee-Experte einer Moskauer Tageszeitung. „Ein Raketenfehlstart, verursacht durch einen durchgedrehten Computer – das ist völlig ausgeschlossen, schon allein deshalb, weil bei uns viel zu viel per Handbetrieb funktioniert.“ Tatsächlich soll ein komplexes Sicherheitssystem dafür sorgen, dass keine russische Atomrakete irrtümlich abgefeuert wird. Als Erstes muss der Präsident den Teil eines Codes mit seinem so genannten d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Atomköfferchen aktivieren, den zweiten Teil steuert der Verteidigungsminister mit seinem schwarzen Koffer bei, und schließlich gibt der Chef des Generalstabs den Rest der Zeichenfolge hinzu. Selbst dann bleiben die Flugkörper noch im Silo. Jedes einzelne Projektil braucht einen gesonderten Einsatzbefehl und muss vor Ort aktiviert werden – exakt so, wie es Kinogänger aus James-Bond-Filmen kennen: Zwei Offiziere holen die Startschlüssel aus dem Safe, stecken sie ins Steuerpult und müssen die Auslöser innerhalb von 20 Sekunden synchron betätigen. Dann erst startet die Rakete. So viel menschliche Einmischung macht einen computerverursachten Fehlstart nahezu unmöglich, versichert Nuklearexperte Alexander Pikajew von der Moskauer Niederlassung der Carnegie-Stiftung. Allerdings sei das noch lange kein Grund, sich erleichtert zurückzulehnen. „Das schwache Glied in der Kette ist das russische Frühwarnsystem“, warnt der Experte. „Damit hat es immer Probleme gegeben, und damit wird es immer wieder Probleme geben.“ Zu sowjetischen Zeiten verfügte die Armee über neun Satelliten, die dazu dienten, den Feuerschweif startender amerikanischer Raketen rechtzeitig zu erkennen. Sechs dieser Satelliten sind mittlerweile ausgefallen, Ersatz gibt es nicht. Von neun Frühwarnradaranlagen wiederum, die Flugkörper bereits mehrere tausend Kilo- als eine norwegisch-amerikanische Wetterrakete zur Erforschung des Nordlichts. Und eigentlich hätten die russischen Militärs davon wissen müssen, denn einen Monat zuvor hatte die norwegische Regierung Moskau über den geplanten Abschuss informiert, so wie es international üblich ist. Allerdings kam diese Mitteilung niemals bei den zuständigen Stellen an, sondern ging im postsozialistischen Bürokratiesumpf unter. Fehlmeldungen, Kommunikationsprobleme, mögliche Panikreaktionen – beim Jahrtausendwechsel wollen die Russen das Risiko so gering wie möglich halten. Aus diesem Grund haben sie sich auch bereit erklärt, die Beobachtergruppe ins gemeinsame Frühwarnzentrum nach Colorado zu schicken. Nötig sei diese gemeinsame Silvesterfeier aber eigentlich nicht, meint Militärexperte Safronow. In Wahrheit diene die vertrauensbildende Maßnahme lediglich der Beruhigung der überängstlichen Amerikaner. „Die Westler vertrauen immer auf ihre Technik, wir dagegen lieber auf die Menschen“, sagt Safronow. „Wenn ein Signal kommt, wird es geprüft, dann wird nachgedacht und noch mal überprüft. Dann erst wird entschieden.“ Irina Schedrowa R. WALLIS / REA / LAIF meter vor ihrem Eintreffen identifizieren, arbeiten noch ganze drei. Und während die Sowjetunion sich zudem auf zehn Nahwarnradare verlassen konnte, befinden sich nun sieben dieser Stationen außerhalb des russischen Territoriums. In den noch funktionierenden Teilen des russischen Frühwarnsystems fällt zudem regelmäßig der Strom aus. „Von 24 Stunden in einer Schicht sind wir mindestens Russische Atomraketen-Basis: Störanfälliges System sechs Stunden lang blind“, schätzt Iwan Safronow, Militärexperte der Safronow. „Das Einzige, was uns damals Moskauer Tageszeitung „Kommersant gerettet hat, waren die Ruhe und die BeDaily“, der selbst jahrelang als Presseoffi- sonnenheit der Dienst habenden Profis. zier bei den Raketenstreitkräften gedient Die haben nach kurzer Zeit erkannt, dass hat. Es läge durchaus im Bereich des Mög- es sich um eine Fehlmeldung handelt.“ lichen, so Safronow, dass das anfällige Ein falscher Alarm war es auch, der BoFrühwarnsystem den Jahrtausendwechsel ris Jelzin 1995 zum ersten Mal in seiner nicht verkraftet und in der Silvesternacht Amtszeit zum Atomköfferchen greifen ließ: oder an den darauf folgenden Tagen für Am frühen Morgen des 25. Januar meldefalschen Alarm sorgt. te das Radar eine angreifende MilitärrakeAls störanfällig erwies sich das System te aus Richtung Nordeuropa. Jelzin telefoschon zu sowjetischen Zeiten. Am 26. Sep- nierte mit dem Verteidigungsministerium, tember 1983 entdeckte ein Frühwarnsatel- gebannt verfolgten die Generäle die Fluglit fünf aus amerikanischer Richtung an- bahn des Objekts. Alle waren erleichtert, fliegende Raketen und löste Alarm aus. als die Rakete um 9.48 Uhr schließlich ins „Tatsächlich waren es nur ein paar Son- Nordmeer stürzte. nenreflexe auf dem Wasser, die den SatelEin geplanter Absturz übrigens – der liten in die Irre geführt hatten“, erzählt angebliche Angreifer war nichts anderes Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Kultur Szene L I T E R AT U R Grauzonen des Gemüts E FOTOS: D. SANDISON (gr.); PA / DPA (kl.) s ist Sommer: heiße Luft, tiefblauer Himmel und „überall der Geruch nach getrocknetem Gras“. In den Geschichten von Kirsty Gunn aber löst die heitere Jahreszeit nur drückende Erinnerungen aus. Meist sind es Mädchen und junge Frauen, die in den elf Erzählungen dieses Buchs ihre Gedanken schweifen lassen und dabei in den Grauzonen ihres Gemüts landen. Da ist jene Ich-Erzählerin, die in der Titelgeschichte „Zuhause ist, wohin du zurückkehrst“ an die unbeschwerten Sommer mit ihrer Schwester erinnert. Im Haus der Großmutter erleben die beiden leuchtende Tage. „Zusammen über die Wiese laufen, uns im Kreis um die eigene Achse drehen, rundherum und rundherum. Es musste so sein.“ Aber es liegt ein Schatten über den fröhlichen Kinderspielen, fast unmerklich wird die Heiterkeit trüb. Gunn, 38, ist ein Meisterin darin, den Leser behutsam an den Abgrund zu führen, um ihn dann allein dort hinunter sehen zu lassen. In „Das Schwimmbad“ etwa versengen drei Geschwister mit einer Lupe Ameisen. Die Kinder waren in der Kirche – obwohl nicht Sonntag ist. Ganz allmählich verdichtet sich die Gewissheit, dass die Mutter der drei gerade erst beerdigt wurde. An den kleinen Katastrophen der Kindheit sind in Gunns Erzählungen fast immer die Erwachsenen schuld, die selbst mit ihren Kindheitserinnerungen zu kämpfen haben. Ein neurotischer Kreislauf, den die neuseeländische Autorin beklemmend schildert. Emin-Werk „My Bed“, Attentäter Jian, Yuan KÜNSTLER Vandalen im Bett W er es selbst nicht weit gebracht hat, schmarotzt gern als Attentäter an fremdem Ruhm – wie jener sprichwörtliche Herostrat, der den Tempel von Ephesos anzündete. Seine Künstler-Epigonen von heute sprayen Dollar-Zeichen auf Malewitsch-Bilder, gießen Tinte in Damien-Hirst-Vitrinen mit eingelegten Lämmern – oder sie hüpfen schwungvoll in ein ungemachtes Bett. So geschehen am 24. Oktober in der Londoner Tate Gallery. Da war gerade die Kandidaten-Schau für den diesjährigen Turner Prize eröffnet worden, zumeist mit kühlen Film- und Foto-Installationen. Nur Tracey Emin, 35, dank Enthüllungen aus angeblichem Kindheitselend und turbulentem Sexleben zum hoch bezahlten „Bad Girl“ der britischen Kunst aufgestiegen, gibt sich wieder ungeschönt autobiografisch. Sie Kirsty Gunn: „Zuhause ist, wohin du zurückkehrst“. Aus dem Englischen von Stefanie Schaffer-de Vries. Berlin Verlag, Berlin; 216 Seiten; 38 Mark. H O L LY W O O D H ollywood steigt ins Drogen-Geschäft ein: „Blow“, so der Titel eines aktuellen Großprojekts, zeigt den Siegeszug des Kokains in den USA TOBIS Johnny Depp als Mann mit dem Koks Depp (in „Fear and Loathing in Las Vegas“) d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 zeigt „Mein Bett“, eine aufgewühlte, mit Tampons, Kondomen, schmutziger Unterwäsche und leeren Wodkaflaschen garnierte Lagerstatt. Auf der will sie, von einem Freund verlassen, eine Woche lang mit Selbstmordgedanken gerungen haben. Zwei chinesische Künstler aber, Jian Jun Xi und Yuan Cai, fühlten sich eingeladen, halbnackt durch Kissen und Laken zu tollen. Ehe sie dazu kamen, „Traceys Höschen anzulegen“, ja „einen Geschlechtsakt zu vollziehen“, wie es ihrer Meinung nach dem Werk entsprochen hätte, schritten TateAufseher ein. Tags darauf war das Bett wieder leidlich so in Unordnung, wie von der Künstlerin arrangiert. Eine durch deren Gejammer schwer gerührte „Independent“-Kolumnistin wünscht ihr nun aber doch, sie würde mal „ihr Bett machen und etwas anderes tun“. während der siebziger Jahre, als „dieses Land vom Hasch zum Koks wechselte“, erklärt Regisseur Ted Demme. Die Hauptrolle, einen Kokain-Dealer, spielt Hollywoods notorischer MainstreamVerweigerer Johnny Depp, der schon vor wie hinter der Kamera mit Drogen herumexperimentiert hat. Erst letztes Jahr war Depp in der LSD-Saga „Fear and Loathing in Las Vegas“ zu sehen. 253 Szene MUSIK Smarter Chopin-Kraftakt P S. BAYAT / DGG ianisten, die auch dirigieren, machen meist nichts Halbes, geschweige denn Ganzes: An den Tasten und mit dem Taktstock sind sie regelmäßig überfordert. Nun hat der polnische Klaviervirtuose Krystian Zimerman, 42, endlich einmal vorgeführt, dass sich so ein Doppel-Job durchaus zweifach auszahlen kann. In Erfüllung einer patriotischen Pflicht, zum 150. Todestag seines Landsmanns Frédéric Chopin (1810 bis 1849), liefert er nicht nur eine Neuaufnahme der beiden Klavierkonzerte (Deutsche Grammophon 459 684-2), sondern gleich eine stereofone Sensation. Nicht nur, dass er seinen Solopart, diese Mischung aus smarter Noblesse und pianistischem Kraftakt, mit lupenreiner EleZimerman ganz und herrlich saftigem Zugriff hinlegt; verblüffender noch ist seine Feinarbeit mit dem neuen „Polish Festival Orchestra“. Während das Chopin-Tutti von etablierten Maestros stets lustlos runtergepinselt wird und dabei zu blutleerem Background verblasst, zaubert der Klavier spielende Kapellmeister Zimerman aus dem 55köpfigen Ensemble eine ungeahnte Fülle von Nuancen in hoch romantischer Schwelgerei. Darger-Aquarell „Sie befreien sich aus der Gefangenschaft“ KUNST Erotische Außenseiter E in „wirklicher Künstler“, fand der Sonderling, brauche „keine Unterweisung“, dafür bleibe er auf seiner „Seite des Lebens“, die „große Mehrheit“ hingegen auf der anderen. Eugene von Bruenchenhein wusste, wovon er sprach. Er war brav seinem Brotberuf in einer Bäckerei in Milwaukee nachgegangen, bevor er wild zu malen anfing und in endlosen Fotositzungen daheim seine phantastisch ver- und entkleidete Ehefrau zum Pin-up verklärte. Erst nach Bruenchenheins Tod 1983 kam seine Manie an den Tag. Wohl wahr: Außenseiter sind die Künstler allemal, aber wer gleichermaßen fernab von Tradition wie Avantgarde die persönliche Macke pflegt, ist doppelt draußen – es sei denn, er wird von Szene-Insidern erspäht und als unverfälschtes Naturgewächs gewürdigt. So jetzt beim Kölnischen Kunstverein, der unter dem Schau-Titel „Obsession“ vier erotisch inspirierte „Outsider“ aus den USA vorstellt (bis 23. Dezember). Neben Bruenchenhein sind das Morton Bartlett, der sich eine Gesellschaft niedlicher Kindfrauen zusammenmodellierte, Henry Darger mit comicartigen Mädchenidyllen und -martyrien sowie Paul Humphrey, der vorgefundene Frauenbilder durch Übermalung systematisch in „Sleeping Beauties“ verwandelte, bevor er jüngst selber die Augen schloss. „Vielleicht“, überlegte er, „bin ich verrückt. Das hilft, in dieser Welt zu sein.“ Kino in Kürze WARNER BROS. herumdoktern. Doch die Biester erweisen sich als unerwartet renitent; die Forschungsstation säuft ab, selbst in der Laborküche schwappt überall „Deep Blue Sea“ – und mittendrin schwimmen, logisch, die heimtückischen Rückenflossenträger. Regisseur Harlin kombiniert dabei Versatzstücke aus „Alien“ und den „Zehn kleinen Negerlein“, auch wenn er die GenreBezeichung Reißer manchmal allzu wörtlich nimmt. Szene aus „Deep Blue Sea“ „Deep Blue Sea“. Und der Haifisch, der hat inzwischen die dritten Zähne: 25 Jahre nach Steven Spielbergs Klassiker „Der weiße Hai“ hat jetzt auch der finnische Action-Regisseur Renny Harlin („Stirb langsam 2“) Unterwasserkameras und Blutkonserven ausgepackt. Als Fischfutter in spe dienen ehrgeizige Wissenschaftler, die in einem Meereslabor an lebenden Haien 254 d e r „Little Tony“. Eine Prise Ohnsorgtheater, eine Prise Sex, zwei Prisen schwärzeste Anarchie – nach diesem Rezept hat der Holländer Alex van Warmerdam seinen lapidaren, unberechenbaren Leinwandschwank gedreht: Ein Bauer (Warmerdam selbst) steht zwischen zwei Frauen, verheiratet mit der einen, verliebt in die andere. Doch die Gattin verkneift sich ihre Eifersucht, weil sie die Nebenbuhlerin einspannen will: als Mutter des Babys, das sie selbst nicht bekommen kann. „Little Tony“ wird in ein Bermudadreieck der Gefühle hinein geboren. Wo sich bei Ohnsorgs am Ende immer alles in Wohlgefallen auflöst, wird hier Mord und Totschlag fällig. Drei Menschen und ein Baby – das ist ganz entschieden eine Person zu viel. s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Kultur AKADEMIKER „Traurige Formblindheit“ Wolf-Dieter Narr, 62, Politologe in Berlin, über die Kommunikationsprobleme von Studenten und Dozenten, die er soeben in dem Aufsatzband „Lust und Last des wissenschaftlichen Schreibens“ (Suhrkamp Verlag) dokumentiert hat Am Rande Waren wir blöd! M. WEISS / OSTKREUZ SPIEGEL: Herr Professor Narr, wie kamen Sie und Ihr Kollege Joachim Stary darauf, Tipps und Kniffe zum Schreiben zu sammeln? Narr: In allen Fächern wird die Darstellung von Gedanken viel zu wenig geübt. Statt eleganter Gliederung und Ausdrucksweise regiert oft traurige Formblindheit. Dagegen bieten wir Seminare an. Es lag nahe, sich auch bei anderen erfahrenen Schreibern zu erkundigen. SPIEGEL: Sie haben Stimmen vom Literaturwissenschaftler bis zum Juristen und Geologen eingeholt. Aber keiner gibt der Schule die Schuld für die UniSchreibmisere. Warum? Narr: Da sitzen wir doch im Glashaus. Wir wollen nicht Ohrfeigen verteilen, sondern Angst abbauen und Hilfe geben. SPIEGEL: Neben Stolz aufs Handwerk klingt in manchem Beitrag hartnäckige Schreib-Unlust durch. Sollte einer, der nicht gern formuliert, die Uni meiden? Narr: Seine Schreibqual zu bekennen ist natürlich eine Form bescheidenen Auftretens. Wer sich aber wirklich nicht ausdrücken mag, sollte in der Tat überlegen, ob er ins akademische Geschäft einsteigt. SPIEGEL: Die Ratschläge fallen ganz verschieden aus: Naturwissenschaftler warnen vor Schachtelsätzen, Geisteswissenschaftler vor Jargon. Bleibt es bei den zwei Kulturen wie eh und je? Narr: Es sind sogar mehr als zwei. Jedes Fach hat andere Sprachprobleme. Das könnte sich in Zukunft noch verschärfen, zum Schaden der Allgemeinverständlichkeit und damit der Demokratie. SPIEGEL: Mutige Worte, wo Sie das Virus schon im Haus haben: „Teleologische Funktionsdifferenzierung“ – solche Ungetüme lauern auch in Ihrem Buch. Narr: Richtig. Wir haben bewusst kaum redigierend eingegriffen. Die Kollegen zeigen eben selbst einen Teil des Problems, über das sie schreiben. BUCHMARKT Das Herz schlägt ein O skar Lafontaines Abrechnung „Das Herz schlägt links“ entwickelt sich zum Hit des Bücherherbstes: Am vergangenen Donnerstag wurde die fünfte Auflage ausgeliefert. Damit hat der Münchner Econ-Verlag inzwischen 270 000 Exemplare der Erinnerungen des Polit-Pensionärs abgesetzt. „Die sechste und siebte Auflage“, so eine Econ-Sprecherin, „sind in Planung“ – und wohl auch erforderlich, um wenigstens Lafontaines Garantie-Honorar (rund 800 000 Mark) wieder einzuspielen. Auf der SPIEGEL-Bestsellerliste, wöchentlich erLafontaine (auf der Frankfurter Buchmesse) mittelt vom Fachmagazin „Buchreport“, taucht Lafontaine gleichwohl – noch – nicht auf: Dort werden nur solche Bücher aufgenommen, die die Buchhändler nicht nur bestellt, sondern tatsächlich verkauft haben. „Lafontaines Durchmarsch auf die vorderen Ränge der Bestsellerliste“, prophezeit „Buchreport“-Chefredakteur Uwe Schmid, „wird nächste Woche kommen.“ WEGNER / LAIF Narr Noch achtmal werden wir wieder wach, dann ist großer Mauerfall-Tach – dann ist es genau zehn Jahre her, dass die Besitzer stinkender Trabis ins ruhige Charlottenburg einfielen und „Wahnsinn! Wahnsinn!“ riefen, immer nur „Wahnsinn! Wahnsinn!“ Dieser historische Augenblick muss gefeiert werden – mit einem 43 Kilometer langen Lichterband, dem Bundesjugendjazzorchester, George Bush, Michail Gorbatschow und Gerhard-thewall-Schröder sowie einem Feuerwerk am Brandenburger Tor. Wahnsinn. Nur wenige bleiben da gelassen und nachdenklich. Einige besonders Nachdenkliche haben ein riesiges Transparent an die Fassade eines jener Hochhäuser angebracht, die den Ruf des Berliner Alexanderplatzes als Rollfeld der sibirischen Steppe rechtfertigen: „Wir waren das Volk“, mahnt es von der eisigen Höhe des dialektischen Gedankens herab. Geschichte als zynischer Austausch von Präsens gegen Imperfekt – wer hat uns verraten? Wessi-Demokraten! Sogleich schwirren uns die Obertöne in den schmerzempfindlichen Wessi-Ohren: „Jetzt sind wir nur noch Untertanen. Wir wollten Guatemala-Bananen, den Opel Ascona und Gerechtigkeit und haben Herta Däubler-Gmelin bekommen!“ Böse Sache. Des Nachts aber, wenn man mit dem Fahrrad, Leander Haußmanns netten DDR-Erinnerungsauffrischungsfilm „Sonnenallee“ im Kopf, an jener bitter-sauren Mahnung vorbeiradelt, fällt einem eine kleine Variation ein: „40 Jahre waren wir das Volk – und haben es nicht gemerkt!“ Kürzer und transparenttauglich: „Leute, waren wir blöd!“ Wahnsinn, Deutschland. 255 Kultur AU T O R E N Sinfonie der tausend ARD-Fernsehserie „Klemperer – Ein Leben in Deutschland“*: „Auf alles das steht im 3. Reich für mich der Tod“ D er gute Tagebuchschreiber, notierte 1920 die Schriftstellerin Virginia Woolf, schreibe entweder für sich allein oder für eine Nachwelt „in so weiter Ferne, dass sie ruhig jedes Geheimnis hören und jedes Motiv gerecht abwägen kann“. Für „ein solches Publikum“ seien weder Geziertheit noch Zurückhaltung nötig. Gilt das ebenfalls für Tagebücher, die knapp zwei Jahrzehnte danach entstanden sind? Geschrieben 1939 und in den folgenden Jahren in deutschen Lagern oder deutschen Trümmerstädten, an der Front oder auf der Flucht? Will man wirklich jedes Geheimnis hören – und lässt sich heute jedes Motiv gerecht abwägen? 256 Eines zumindest hat vor wenigen Jahren der überraschende Erfolg von zwei auf Tagebüchern basierenden Buchkassetten nachdrücklich widerlegt: die Behauptung nämlich, in Deutschland wolle niemand mehr etwas über den Zweiten Weltkrieg, über das Alltagsleben in der Diktatur und die mörderische Jagd auf die europäischen Juden hören. Von Walter Kempowskis kollektivem Tagebuch „Das Echolot“ (1993), einer Montage unterschiedlichster Stimmen aus dem Zeitraum von Anfang Januar bis Ende Februar 1943, deren erste Lieferung in vier * Mit Dagmar Manzel und Matthias Habich. d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 DT. FOTOTHEK DRESDEN CINETEXT Aufzeichnungen aus der Nazi-Zeit gelten seit dem Erfolg von Victor Klemperers Tagebüchern als Buchmarkt-Hits. Nun folgen weitere Notizen von Tätern und Opfern, einige davon neu ediert – allen voran Walter Kempowski mit dem zweiten Teil seines „Echolots“. Von Volker Hage Bänden rund 3200 Seiten umfasste, sind knapp 50 000 Exemplare verkauft worden (davon etwa 18 000 als Taschenbuch). Und auf gut Klemperer (1946) 270 000 (davon 100 000 als Taschenbuch) haben es mittlerweile die ersten beiden – die Jahre 1933 bis 1945 nachzeichnenden – Bände der Tagebücher des jüdischen Romanisten Victor Klemperer (1881 bis 1960) gebracht, der das Dritte Reich in Dresden überlebte: „Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten“ (1995). Im deutschen Fernsehen läuft derzeit eine zwölfteilige TV-Adaptation dieser akribischen Aufzeichnungen („Klemperer W. STAHR DT. FOTOTHEK DRESDEN H. PÖLLOT – Ein Leben in Deutschland“), weitere caust und die Welt des Krieges am Ende zu gerade stattfindenden Luftangriff auf das nahe München äußerte („Die schönste MuBände der Tagebücher des Autors aus der einem Modethema werden. Das zeitliche Zusammentreffen des Er- sik, die ich kenne“): Gewiss sei diese BomZeit vor 1933 und nach 1945 sind inzwischeinens (oder der Wiederveröffentli- bardierung für den Sieg notwendig, schrieb schen ebenfalls erschienen. Nun folgen in diesem Herbst, als wäre chung) von Journalen aus dem Volk der Tä- er, zugleich aber müsse man doch fühlen, vor dem Jahrhundertende Eile geboten, ter wie aus den Reihen der Opfer rückt „dass sich hier eine Tragödie abspielt“. Selbst bei jenen, die dieser Tragödie in gleich eine ganze Reihe weiterer, zum Teil zunächst noch einmal jene unwiderrufliche wiederum äußerst umfangreicher Tage- Diskrepanz ins Bewusstsein, die sich schon den Bunkern und Luftschutzkellern ausan der ungleichen Zahl der Zeugnisse ab- gesetzt waren, zumeist Frauen und Kinbuch-Editionen aus der Nazi-Zeit: π Kempowski, 70, liefert noch einmal vier lesen lässt: Den Millionen im KZ Ermor- dern, lassen sich Zeugnisse differenzierter Bände seines „Echolots“ nach, dieses deten war es weder erlaubt noch überhaupt Wahrnehmung finden. „Wir kamen gerade Mal mehr als 3400 Seiten aus der Zeit möglich, Aufzeichnungen zu machen – von noch zur rechten Zeit in den Hauskeller“, den wenigen Ausnahmen ist wiederum nur notierte die damals 18 Jahre alte Erika S. vom 12. Januar bis 14. Februar 1945; π der Fernsehautor Heinrich Breloer, 57, ein Bruchteil erhalten geblieben. Dem am 12. März 1945 in Hamburg. „Es dröhnhat unter dem Titel „Geheime Welten“ steht, wie nun immer deutlicher wird, eine te, der Fußboden schien sich zu heben, alfür die „Andere Bibliothek“ eine neue immense Zahl privater Notizen aus dem les schaukelte … Das Licht ging aus – wieder an, aus … und blieb dann aus.“ Trotz Auswahl aus seiner schon vor vielen Jah- deutschen Kriegsalltag gegenüber. Immerhin konnten Überlebende aus der Schrecken des Bombardements resüren veröffentlichten und in einer TV-Serie verarbeiteten Sammlung deutscher dem KZ Dachau nach dem Krieg alles in miert die Jugendliche aus sozialdemokraTagebücher aus den Jahren 1939 bis 1947 allem etwa 50 Protokolle, Berichte und Ta- tischem Elternhaus (der Vater wurde mehrgebücher vorlegen, wie Wilfried F. Schoel- fach von der Gestapo verhaftet): „Es ist getroffen; π im früheren DDR-Verlag Volk & Welt ist ler im Nachwort zu Nico Rosts Dachau- ganz furchtbar, aber wenn es den Krieg eine Neuausgabe des 1948 erstmals dort Aufzeichnungen berichtet, einem Tage- verkürzt, ist es ja gut und hilft allen, wenn edierten KZ-Tagebuchs „Goethe in buch, das einen geradezu anrührend ver- auch Opfer gebracht werden müssen.“ Heinrich Breloer präsentiert in seiner Dachau“ erschienen, das der Nieder- söhnlichen Grundton hat, geschrieben von länder Nico Rost (1896 bis 1967) zwi- einem für die deutsche Literatur schwär- Sammlung „Geheime Welten“, wo diese schen Juni 1944 und April 1945 im Lager menden Journalisten und Übersetzer aus Notizen nachgedruckt sind, eine Reihe von skizzierte und nach der Befreiung aus- Holland, der lange in Berlin gelebt hatte Regimegegnern mit eindrucksvoll kritiund sich im Lager mit Werken von Goethe, schen Äußerungen neben überzeugten arbeitete; π für November hat der Verlag Das Do- Jean Paul und Rilke in eine Gegenwelt Nazi-Anhängern mit Ergebenheitsadreskument einen knapp 1700 Seiten um- zurückzog, die ihm den zum Überleben sen – wie jene der jugendlichen Edelgard B. aus Siegen (Januar 1945): „Unser armer, fassenden Band im Großformat an- nötigen psychischen Rückhalt gewährte. Rost konnte den Tod eines deutschen La- armer Führer, der wird wohl keine Nacht gekündigt, der unter dem Titel „Das Leben im Krieg“ die zwischen 1939 und gerhäftlings mit den Worten „Ein typischer mehr schlafen und hat doch mit Deutsch1946 verfassten Tagebücher von Paul- Deutscher von der allerbesten Art“ betrau- land das Beste im Auge gehabt.“ Die Sammlung, die umfangreicher schon heinz Wantzen (1901 bis 1974) enthalten ern und sich darüber empören, wenn ein ansoll, einem Journalisten aus dem Müns- derer Mithäftling sich begeistert über einen einmal 1984 in der Kölner Verlagsgesellterland, der seine Erlebnisse handschriftlich in 19 Bü- Autor Rost, KZ-Häftlinge in Dachau: Mit Goethe, Jean Paul und Rilke in einer Gegenwelt chern von zusammen 6100 Seiten notierte. Woher diese Massierung? Warum gerade jetzt? Die in dieser Größenordnung unerwarteten Erfolge der Editionen von Kempowski und Klemperer erklären allenfalls den Mut der Verlage zu immer neuen Unternehmungen dieser Art. Die Frage bleibt, wem mit einer derartigen Häufung gedient ist – und ob der Holo- AKG Bombenopfer auf dem Dresdner Altmarkt (1945), Autor Kempowski: „Den Russen zeigen, was das Bomberkommando kann“ Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Kultur Ein Volk von Umfallern Der Bericht der jüdischen Journalistin Käthe Vordtriede, ursprünglich verfasst für ein US-Preisausschreiben, schildert die Brutalität des Nazi-Alltags in der Provinz. 260 voller Sarkasmus. Dass ihr manchmal auch Hass und Wut die Feder führen, verkennt und verhehlt sie nicht. Besonders genau nimmt Vordtriede die Kommunisten aufs Korn. Die wohnten in der „Laubenkolonie“ nahe ihrem Wohnviertel Haslach und schlüpften 1933 „geschwind und fast restlos in die braunen SA-Hosen“, schreibt sie. Unter ihnen waren „die schlimmsten Denunzianten“ und „die grauenhaftesten Peiniger in den Konzentrationslagern“. Am 1. April 1933, dem Tag des so genannten Judenboykotts, sieht sie einen SA-Mann vor einem jüdischen Warenhaus postiert, „dessen Familie ich Weihnachten 1932 von Kopf bis Fuß mit den warmen Sachen eingekleidet hatte, die mir der jüdische Inhaber dieses Warenhauses als Spende für die Arbeiterwohlfahrt geschenkt hatte“. Vordtriede schrieb ihren Bericht nicht für ein Leserpublikum – eine Veröffentlichung war 1940 in der politisch taktierenden Schweiz kaum vorstellbar. Ihre Adressaten waren drei Professoren der Harvard University, die die „gesellschaftlichen und seelischen Wirkungen des Nationalsozialismus auf die deutsche Gesellschaft“ erforschen wollten und das Material dazu mit Hilfe eines Preisausschreibens suchten. Gut 200 Texte gingen in Cambridge (Massachusetts) ein. Käthe Vordtriedes Arbeit erschien der Jury so interessant, dass einer der Preisrichter, der Soziologe Edward Hartshorne, sie mit nach Washington nahm, zu seinem neuen Arbeitgeber: dem „Coordinator of Information“. Das war der neue zentrale Auslands-Geheimdienst der Vereinigten Staaten, der bald in OSS – „Office of Strategic Services“ – umbenannt und zur Legende wurde. Die Abteilung, in der Hartshorne arbeitete, versuchte sich – das war eine kriegswichtige Aufgabe – ein Bild über SCHILLER NATIONALMUSEUM A m 17. März 1933 wurde die „Volkswacht“ in Freiburg erobert. Das heißt, SA- und SSMänner stürmten das Gebäude, in dem die Zeitung der Sozialdemokraten hergestellt wurde, plünderten und verwüsteten es, beschmierten die Waschräume mit Kot und warfen Papier, Lettern und Schreibmaschinen auf die Straße, zum Gaudium der dort versammelten Menge. Käthe Vordtriede, Lokalredakteurin des Blatts, sah dem Vandalismus zu, telefonierte ergebnislos mit der Polizei und einem Anwalt und stellte sich dann, eine Zigarette im Mund, ans Fenster. „Raus mit der Marxistenhexe!“, brüllte der Mob und versuchte, die „Volksfeindin“ zu lynchen. Wie ausgewechselt gebärdete sich nach diesem Tag die Belegschaft des SPD-Blatts. Vom Geschäftsführer bis zur Putzfrau – alle dienerten vor den neuen Herren. Sogar der politische Redakteur Reinhold Zumtobel wechselte, nachdem er aus dem KZ entlassen worden war, auf die Seite der Sieger und gab ein antisemitisches Buch heraus. Opportunismus überall: Käthe Vordtriede beobachtet charakterlose Anpasser, eilfertige Speichellecker, Denunzianten und Profiteure in allen Schichten, quer durch alle Lager – und schreibt es auf. Ihr Bericht „Es gibt Zeiten, in denen man welkt“, im Schweizer Exil verfasst, im Nachlass eines US-Geheimdienstlers entdeckt und jetzt erstmals veröffentlicht, ist ein einzigartiges Dokument über sechs Jahre Hitlerei in der Provinz**. Die haben Vordtriedes Landsleute bis zur Unkennt- Vordtriede lichkeit verändert. Ein Volk von Umfallern, gierig, gewalttätig und gemein: so ihr Fazit. Das Urteil ist unerbittlich, die politische Analyse der überzeugten Marxistin ungleich schärfer als die des eher weltfremden Professors Victor Klemperer, dessen Tagebücher eine Welle des Interesses am Alltag im „Dritten Reich“ ausgelöst haben. Vordtriedes Sprache ist nüchtern und direkt, ohne Larmoyanz, dafür * Einzug der Division Richter am 23. Juli 1940. ** Käthe Vordtriede: „,Es gibt Zeiten, in denen man welkt‘. Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933“. Hrsg. von Detlef Garz. Libelle Verlag, Lengwil (Schweiz); 280 Seiten; 39 Mark. d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 NS-Begeisterung in Freiburg*: Lauter Opportunisten den inneren Zustand des „Dritten Reiches“ zu machen: durch Zeugnisse wie das von Käthe Vordtriede. Politisch gesehen hält sie die Deutschen für erledigt, für „Sklaven, die vergessen haben, dass sie in Freiheit aufgewachsen sind“. Ihre beiden Kinder hatte Vordtriede schon früh ins Ausland geschickt; ihr selbst gelang erst in letzter Minute und unter abenteuerlichen Umständen die Flucht. Am 2. September 1939 steht sie auf dem Basler Bahnhofsvorplatz. Mit dem Stoßseufzer „Ich war gerettet“ endet der Bericht. Aber erst 1941 gelangte sie in die Vereinigten Staaten und wirklich in Sicherheit. Ihre Hoffnung, wenn schon keinen Preis für ihren Bericht, dann doch wenigstens „eine winzige Sekretärsstelle an einer University“ zu erhalten, erfüllte sich nicht. In den folgenden Jahren fristete die glänzende Journalistin ein Dasein unter erbärmlichen Bedingungen. Die 50-Jährige muss sich als Putzfrau und Haushaltshilfe verdingen. Käthe Vordtriede spürt, dass ihre Fähigkeiten auf immer brachliegen werden. Ihre Verbitterung wächst, auch in den Briefen an die Kinder. 1964 stirbt sie, nach mehreren Herzanfällen, in ihrer New Yorker Wohnung – es dauert eine Woche, bis sie gefunden wird. Martin Ebel KREISARCHIV BREISGAU-HOCHSCHWARZWALD schaft Schulfernsehen erschienen war, ist ein überschaubares Kaleidoskop aus nunmehr zwölf Tagebüchern, die in sich geschlossen (freilich gekürzt) angeordnet sind – ergänzt jeweils um einen kurzen Lebenslauf und Auszüge aus Fernseh-Interviews mit den Tagebuchschreibern. Problematisch sind dabei weniger die vom Herausgeber verantworteten und markierten Auslassungen als der Umstand, dass einige wenige dieser Tagebücher nicht im handschriftlichen Original vorlagen, sondern von den Urhebern später noch einmal abgeschrieben und möglicherweise überarbeitet worden sind (wie auch im Fall von Erika S.) – was manche der kritischen Äußerungen immerhin fragwürdig erscheinen lässt. Vollständigkeit allein ist noch kein Wert. Das zeigt das ungekürzte, später auch nicht mehr redigierte Tagebuch des Journalisten Wantzen, das mit staunenswerter Unermüdlichkeit auf mehreren tausend Seiten vom Kriegsbeginn bis in den September 1946 führt – im Original sind zusätzlich noch 4500 Dokumente eingefügt: Zeitungsausschnitte, amtliche Formulare und Flugblätter der Alliierten. Beeindruckend ist dabei allenfalls das Gigantomanische des Unternehmens. Doch die Beschreibung des Kriegsalltags wird, wenn der Horizont zu klein ist, bei aller Materialfülle schnell zum Einerlei – Wantzen kann, anders als etwa Klemperer in seinen Tagebüchern, keine eigene Perspektive aufbauen. Seine Sicht auf die historischen Ereignisse bleibt, bei aller Skepsis gegenüber den Machthabern, weit- Heinrich Breloer (Hrsg.): „Geheime Welten. Deutsche Tagebücher aus den Jahren 1939 bis 1947“. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main; 288 Seiten; 49,50 Mark. Nico Rost: „Goethe in Dachau“. Hrsg. von Wilfried F. Schoeller, aus dem Niederländischen von Edith Rost-Blumberg. Verlag Volk & Welt, Berlin; 464 Seiten; 48 Mark. Walter Kempowski: „Das Echolot. Fuga furiosa“. Knaus Verlag, München; 4 Bände in Kassette; zus. 3456 Seiten; 298 Mark (bis 30. April 2000, danach 348 Mark). Paulheinz Wantzen: „Das Leben im Krieg. 1939 – 1946“. Verlag Das Dokument, Bad Homburg; circa 1660 Seiten; 98 Mark (bis 31. Dezember 1999, danach 128 Mark). gehend blind. Das ist dem Tagebuchschreiber zwar nur bedingt vorzuwerfen – in der ungekürzten Häufung dieses Konvoluts bleibt es dennoch schwer erträglich. An Tagebüchern aus dieser Zeit fehlt es schließlich nicht. Nach 1945 hat es eine große Zahl stilistisch gelungener Tagebücher aus dem deutschen Kriegsalltag gegeben. Erinnert sei etwa an Emil Barths Aufzeichnungen „Lemuria“ (1947, wieder aufgelegt 1997), an Erich Kubys Tagebuch „Mein Krieg“ (1975) oder die weitgehend in Berlin entstandenen Journale von Ursula von Kardorff („Berliner Aufzeichnungen“, 1962) und Marie Wassiltschikow („Die Berliner Tagebücher“, 1985) – und an das 1956 erstmals publizierte, 1997 neu aufgelegte Tagebuch des Schriftstellers Jochen Klepper („Unter dem Schatten deiner Flügel“), der zusammen mit seiner jüdischen Frau Selbstmord beging und bis zum letzten Tag auf ergreifende Weise Zeugnis ablegte. Das alles – mit Ausnahme von Kleppers bis 1942 reichende Notizen – kehrt nun auch auszugsweise in Kempowskis zweiter „Echolot“-Lieferung wieder: der vielstimmigen Tagebuch-Collage aus jenen knapp fünf Wochen Anfang 1945, die zwischen dem Start der sowjetischen Großoffensive auf das Deutsche Reich und der Bombardierung Dresdens liegen. Mehr als 300 bereits veröffentlichte Quellen hat der Arrangeur diesmal angezapft – neben der weitaus größeren Zahl privater Tagebücher und Aufzeichnungen, die Kempowski seit den Siebzigern, parallel zu Breloer, gesammelt hat. Das „Echolot“ ist und bleibt (es soll noch weitere Folgen geben) ein einzigarti- Kultur ges Unterfangen – und wird weiterhin Vorbehalte ebenso wie Bewunderung provozieren. Im Chor dieser bedacht komponierten Sinfonie der tausend kann jeder entdecken, was er finden will – der auf das politisch Korrekte Erpichte die Verwischung der Trennlinie von Tätern und Opfern, der sich einlassende Leser Abgründe hinter scheinbar banalen Notizen und Szenen von Mord und Völkermord, die verstummen lassen. Der Untertitel „Fuga furiosa“ verweist nicht nur auf das musikalische Prinzip der Anordnung der Einzelteile, sondern auch auf einen der inhaltlichen Schwerpunkte dieses „Echolot“-Komplexes: in der Bedeutung als „fürchterliche Flucht“ nämlich. Das Tabuthema der durch die Sowjetoffensive ausgelösten Fluchtwelle der deutschen Bevölkerung, als „Vertreibung“ von den entsprechenden Verbänden jahrzehntelang mit einem revanchistischen Unterton ausgestattet, wird bei Kempowski wie nie zuvor aufbereitet und ausgebreitet – was ihm prompt den Vorwurf der „neudeutschen Unbekümmertheit“ („Frankfurter Rundschau“) eingebracht hat. Der finstere Höhepunkt und das monumentale Schlusskapitel der „Fuga furiosa“, der 120 Seiten umfassenden mosaikartigen und minutiösen Darstellung der verheerenden Luftangriffe auf das mit Flüchtlingen überfüllte Dresden am 13. und 14. Februar 1945, nötigten allerdings sogar dem strengen „Rundschau“-Kritiker von Kempowskis Methode Bewunderung ab: „Das sind höchst aufschlussreiche und in einer solchen geradezu epischen Verdichtung bisher noch nie zusammengefasste Dokumente.“ Tatsächlich ist das furiose Arrangement dieser zwei Tage, die Kempowski abweichend vom übrigen „Echolot“ zu einem einzigen, untrennbaren Abschnitt zusammengefasst hat, heute schon ein Stück Literaturgeschichte – die Vielfalt der Notizen und Perspektiven umfasst die Menschen in den Bombenkellern ebenso wie die deutschen Nachtjagdpiloten oder die Bombenschützen in den Maschinen der Royal Air Force, die in drei Angriffswellen jener Aufgabe nachkommen, die der Einsatzbefehl auch darin sieht, „den Russen, wenn sie einmarschieren, zu zeigen, was das Bomberkommando tun kann“. Einer unter den vielen, die Kempowski zitiert, ist der schon vor den Luftangriffen in Dresden um sein Leben bangende Jude Klemperer, der in den Wirren des Luftangriffs und danach einen bis dahin unmöglichen Schritt wagte: Er riss sich seinen Judenstern vom Mantel. „Ich saß in Restaurants, ich fuhr Eisenbahn und Trambahn – auf alles das steht im 3. Reich für mich der Tod.“ Für Klemperer war die Bombardierung nicht nur die „doppelte Gefahr“, sondern auch ein Stück Befreiung. ™ d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Madonna (1990) Effenberg (1992) Kinski (1971) FOTOS: DPA (l. o.); BONGARTS (l. u.); SIPA PRESS (r. o.); K. MEHNER Wehner (1971) Provozierende Prominente: Wertewandel unterhalb der Gürtellinie S P R AC H E „Die Deutschen schimpfen anders“ Der Freiburger Sprachwissenschaftler Hans-Martin Gauger über fundamentale Unterschiede zwischen deutschen, französischen und britischen Flüchen und die letzten Tabus in unserer redseligen Gesellschaft Gauger, 64, lehrt in Freiburg Romanistik und veröffentlichte zuletzt das Buch „Über Sprache und Stil“. SPIEGEL: Professor Gauger, in Ihrem Auf- satz „Sprache und Sexualität“ vergleichen Sie das Schimpfverhalten in Europa*. Was treibt einen unbescholtenen Gelehrten zum Vulgären? Gauger: Mir ist aufgefallen, dass in romanischen Sprachen sexuelle Dinge herangezogen werden, um etwas Negatives zu bezeichnen. Im Deutschen ist es vollkommen anders. Das fand ich faszinierend. Ich werde meine Beobachtungen bald auch als Buch herausbringen. SPIEGEL: Als Beweis für eine kulturelle Wasserscheide quer durch Europa? Gauger: Ja, ein Beispiel: „Joder“ ist im Spanischen der vulgäre Ausdruck für „Geschlechtsverkehr haben“, heißt aber auch „belästigen“. „No jodas“ meint „belästige mich nicht“, wörtlich übersetzt heißt es aber: „Vögle mich nicht.“ Das * Hans-Martin Gauger: „Sprache und Sexualität“. Erschienen in „Merkur“, Nr. 598, 1/99. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart. ist uns Deutschen – als Ausdruck – ja völlig fremd. SPIEGEL: Wie schimpft es sich teutonisch? Gauger: Wir nehmen unsere entsprechenden Ausdrücke aus einer anderen Sphäre, dem Exkrementellen. Unsere Sprachbilder hängen fast ausschließlich mit den Ausscheidungen zusammen, mit Kot und Urin. Das scheint durch, wenn wir sagen, jemand sei angeschmiert worden. Wir schimpfen mit Ausdrücken wie „Arsch“, „Arschloch“, die, so gebraucht, den romanischen Völkern wiederum eher fremd sind. Die kennen zwar auch vereinzelte Ausdrücke aus dem Exkrementellen, wir Deutschen beschränken uns aber eigenartigerweise darauf. SPIEGEL: Wie deuten Sie diesen Wertewandel unterhalb der Gürtellinie? Gauger: Ich habe noch keine Erklärung dafür gefunden, warum in den romanischen Sprachen Sexuelles für die Bezeichnung von Negativem benützt wird. Warum wir Deutsche das nicht machen? Auch keine Ahnung. Mit dem Protestantismus hängt es nicht zusammen. SPIEGEL: Die puritanischen Angelsachsen verwenden ja ungeniert sexuelle Formulierungen wie „fuck off“. d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Gauger: Stimmt, die schimpfen romanisch. Ich würde Ihr Beispiel mit „verpiss dich“ übersetzen – sexuell geprägt im Englischen, exkrementell bei uns. Ein anderes Paar wäre „fucking rain“ und „Scheiß-Regen“. SPIEGEL: Sind die offenbar unrettbar analfixierten Deutschen eine Ausnahme? Gauger: Scheint so zu sein. Selbst bei unseren Nachbarn, den Niederländern, wimmelt es von Ausdrücken der sexuell orientierten Art. Das Deutsche ist eine Art Insel. SPIEGEL: Ein weites Feld für Psychologen. Gauger: Ja, das wird aber nicht einfach. Es gibt ein Buch von dem amerikanischen Volkskundler Alan Dundes, das bei uns den hübschen Titel hat „Sie mich auch!“. Der kritisiert die Deutschen wegen ihrer Fixierung auf das Anale. SPIEGEL: Womit will er uns anschmieren? Gauger: Er hält uns für zurückgeblieben, historisch und überhaupt. Er denkt, dass unsere Fixierung auf die Ausscheidungen mit der Art zusammenhängt, wie die Kinder seit dem frühen Mittelalter gewickelt wurden. Eher unwahrscheinlich. SPIEGEL: Und diese windelweiche Theorie soll nun unser sprachliches Desaster sein? 263 Kultur men Sie den ausgestreckSicher, unter ten Mittelfinger … Kumpeln. Da wäre die Hochsprache dann die SPIEGEL: … Sie meinen Abweichung. In Spanien den beleidigenden Stingibt es ein interessantes kefinger à la Effenberg. Phänomen. Da hält sich Gauger: Ja, wir nennen eine drastische Männerdiese Geste bezeichnensprache, die auch sehr derweise so und schieben vornehme Señores besie ins Exkrementelle ab. nutzen, aber nur, wenn Aber in ihrem Ursprung sie unter sich sind. Wir in den romanischen Länwären da schockiert. dern ist sie rein sexuell. Der phallische Finger ist SPIEGEL: Was führen die eine Androhung der Señoras im Munde? Penetration. Außerdem Gauger: Als Ergebnis der spielt die Geste auch, weil Emanzipation bedienen Redner Schmidt (1981) sie ja besonders unter sich heute überall immer mehr Frauen dieser Ausdrücke. Denken Sie Männern gebraucht wird, mit dem Honur an die Show-Diva Madonna. Mich mosexualitätstabu. Wie auch diese spanischockiert es aber, wenn ich aus dem Mund schen Männerzirkel, von denen ich sprach. einer Studentin Ausdrücke wie „Scheiße“ SPIEGEL: Abgründe in Macho-Clubs? oder gar „Arschloch“ höre. Gauger: Wer so stark das Heterosexuelle SPIEGEL: Flucht und schimpft die Jugend betont wie diese Männer in ihren drastischen Redensarten, der will sich ja wohl denn anders? Gauger: Kann man wohl sagen. Da ist neu- auch vor dem Homosexualitätsverdacht erdings eine ganz deutliche Entwicklung schützen. Das ist genauso bei der Bundesvom Exkrementellen zum Sexuellen zu be- wehr, wo die Soldaten ihre Spinde mit Pinobachten. Man hört jetzt immer öfter von up-Girls schmücken. Das ist weniger ein jungen Leuten: „Die haben uns ganz schön erotischer Stimulus als eine deutliche Klargefickt.“ Oder auch die Aufforderung: „Fick stellung, ein Ausweis der Heterosexualität. dich ins Knie.“ Das ist sprachgeschichtlich SPIEGEL: Frauen haben das offenbar nicht neu. Dabei haben die Deutschen doch im- nötig. Was sagt die feministische Linguistik mer ins Exkrementelle transformiert. Neh- zum Thema Sexualität und Sprache? Gauger: J. H. DARCHINGER Gauger: Das denkt sich Kollege Dundes so. Dabei finde ich unsere Art zu schimpfen gar nicht verwerflich. Wir bezeichnen etwas Negatives mit Negativem. Das mag bieder, brav und phantasielos sein. Aber moralisch zu kritisieren ist das nicht. SPIEGEL: Vielleicht haben Völker, die das Sexuelle im Munde führen, ein ungezwungeneres Verhältnis zum Geschlechtlichen. Gauger: Vermutlich. Wir stehen mit dem Exkrementellen im vorsexuellen Raum. SPIEGEL: Liegt das daran, dass in Deutschland der Einfluss der Kirche geringer war als in den romanischen Ländern? Gauger: Kaum. So gering war er ja nicht. Aber in einem katholisch bestimmten Land ist der Tabubruch beim Sexuellen größer, besonders, wenn man noch die Jungfrau Maria mit ins Spiel bringt. Wie es etwa die Italiener machen, die sie in einem Fluch als Dirne beschimpfen: „Porca Maria“. Das hat für Protestanten weniger Dramatik, für Katholiken ist es ein enormer Tabubruch. SPIEGEL: Den aber durch häufigen Gebrauch niemand mehr wahrnimmt. Gauger: Das ist bei Tabubrüchen so. Außerdem kann man solche Ausdrücke eben nicht in jeder Situation anwenden. Wir haben ein Gefühl dafür, wann man es sagen kann, ja sagen muss. SPIEGEL: Gibt es Situationen, in denen man „verpiss dich“ sagen muss? K. SCHÖNE / ZEITENSPIEGEL Gauger: Die ist komischersonders gut geeignet. Das ist weise nicht darauf gekomQuatsch. Englisch ist nicht men. Die Frauen, denen ich geeigneter als jede andere meinen Aufsatz geschickt Sprache auch. habe, haben letztlich genau SPIEGEL: Also könnte man so reagiert wie meine männinternationale Konferenzen lichen Kollegen. Die fanden genauso gut auf Kisuaheli das Thema nicht wichtig. abhalten? SPIEGEL: Was hatten Sie Gauger: Natürlich. Prinzidenn erwartet? piell ist das kein Problem. Manche Sprachen sind terGauger: Ich hatte gedacht, minologisch nicht so ausgedass sie es bemerkenswert baut. Was aber die leichte finden, wenn im Deutschen Erlernbarkeit angeht, wäre das Wort für das weibliche das Spanische am geeigGeschlechtsorgan nicht zu netsten. Es hat eine ziemlich einem gängigen Schimpf- Sprachforscher Gauger genaue Übereinstimmung wort wird, wie es im Französischen mit „con“ geschehen ist. Dieser zwischen Schriftbild und Aussprache, die Wortstamm hat sich weiterentwickelt; „dé- im Englischen nun wirklich nicht existiert, conner“ heißt durchdrehen und „conne- und eine einfache Grammatik. rie“ Blödsinn. Aber die Kolleginnen wollten SPIEGEL: Welche Sprache ist die schönste? wohl unsere Sprache nicht loben müssen. Gauger: Jeder hält die eigene für die schönste, richtigste und normalste. Wir nennen SPIEGEL: Haben Sprachen ein Wesen? Gauger: Es ist normal, dass man es sucht, das muttersprachliche Selbsttäuschung. und auch in Ordnung, aber wir Sprach- Vielleicht ist die Ausgewogenheit von Konwissenschaftler sind sehr vorsichtig. Diese sonanten und Vokalen ein Kriterium. Dann nationalpsychologischen Ableitungen ha- stünde das Italienische an erster Stelle. ben sich als nicht haltbar erwiesen. Eines SPIEGEL: Auf Italienisch klingen sogar ist aber komisch: Über 90 Prozent aller Flüche noch wie Arien. Deutsch hat keinen wissenschaftlichen Publikationen sind auf Belcanto-Bonus. In unzähligen Talkshows Englisch, nur noch gut zwei Prozent auf über Inzest und Piercing-Erfahrungen Deutsch. Und jetzt behaupten einige triumphiert das Vulgärvokabular. Wird die Angelsachsen, ihre Sprache sei auch be- Sprache dadurch nicht letztlich flacher? Gauger: Auf jeden Fall einheitlicher. Talkshows waren aber immer schon Schimpfarenen. Denken Sie nur an die legendären Auftritte von Klaus Kinski. Die Vulgärsprache sickert nun aber langsam in höhere soziale Schichten ein. SPIEGEL: Ein Bundeskanzler, der öffentlich „Scheiße“ sagt, ist akzeptabel? Gauger: Ich denke schon. Helmut Schmidt hat das Wort einmal im Bundestag gebraucht. Er wurde nicht gerügt. Er war und ist ja ein Meister der Rede, der genau wusste, wann man was sagen kann. Im Gegensatz zum Choleriker Herbert Wehner. Es gibt noch so eine exkrementelle Stelle bei Schmidt. Über Franz Josef Strauß sagte er: Der rede mal so, mal so – „wie der Bulle pisst“. Das hatte er sich genau überlegt. SPIEGEL: Wenn wir über alles reden können, bleibt nichts ungesagt, oder? Gauger: Doch, aber sicher. Das Religiöse und der Tod. Früher genierte man sich, über Sexualität zu sprechen. Man sprach aber offen über persönliche Glaubensfragen. Heute ist es umgekehrt. Und in der Vergangenheit sprach man über den Tod, heute aber nicht mehr. Die sprachlichen Tabus, die es früher gab, sind inzwischen inhaltliche Tabus. Wir haben jetzt eine Sprache für alles, könnten also über alles sprechen. Aber beim Glauben und beim Sterben schweigen wir. Interview: Joachim Kronsbein Kultur GESCHICHTE Der Schöngeist lässt die Blitze zucken War der Bayernkönig Ludwig II. scharf auf Fotos nackter Jünglinge? 26 Briefe des von Trieb- und Geldnot geplagten Märchen-„Kini“, die nun in einem Münchner Auktionshaus versteigert werden, erregen Aufruhr unter weißblauen Royalisten. E chiemsee ging gar nichts mehr weiter, in Neuschwanstein stimmten die Stickereien nicht, und sowieso fehlte Geld, Geld, Geld. Es war so unwürdig für einen König, für einen Gralsritter zumal! An Graf Dürckheim: „Wenn es nicht gelingt, eine bestimmte Summe (etwa in vier Wochen) herbeizuschaffen, so wird Linderhof und Herrenchiemsee, mein Eigentum also, gerichtlich beschlagnahmt!“ Der Graf solle ein Kontingent treuer Mannen in schräger Vogel war er freilich, aber ein Paradiesvogel. Und wie das so ist in Paradiesen: Da gibt es immer auch Erzengel, die ihren Garten Eden besenrein haben wollen. Sobald sich einer seitab in die Büsche drückt, ziehen sie ihr Flammenschwert und rufen: „Raus, du Wüstling!“ Bayernkönig Ludwig II. liebte bekanntlich das Schöne, und also liebte er auch ebenmäßige Mannsbilder, die er mit Baum- C. LEHSTEN / ARGUM Bayerischer König Ludwig II. (1865) Briefe Ludwigs an Freund Hesselschwerdt kuchen, Zigarren und seinen Porträts beschenkte. Ob es die Architektur der Wagner-Klänge, die von Holzfällerleibern oder von Schlössern war – Harmonien ließen ihn alles vergessen, für sie tat er alles, jede störende Disharmonie machte ihn rasend. Gegen Ende seines Lebens, das der 40Jährige 1886 im Wasser beschloss, saß er eingedüstert im Schloss Hohenschwangau, schaute hinüber, wo die weiße Gralsburg Neuschwanstein aus Gerüsten erwuchs, und verzweifelte, weil so viel, so Uferloses noch zu bauen und zu schmücken blieb: „Vorwärts mit dem Schlafzimmer im Linderhof, St. Hubertus-Pavillon und mit dem Ausbau der Burg von Herrenwörth und Falkenstein. Mein Lebensglück hängt davon ab. Er soll es erschinden, durchreißen, alle Schwierigkeiten beilegen und Hindernisse niederreißen.“ Das schrieb der König, in steiler deutscher Gänsekielschrift, dem Marstallfourier Karl Hesselschwerdt, seinem Vertrauten, auf dass dieser den Bauleitern und Handwerkern einheize; denn überall fehlte es: Hier galt es, erste Entwürfe, dort letzte Details zu erdenken. Auf Herren266 AKG „Verbrenne dieses Blatt“ sammeln, das notfalls „das rebellische Gerichtsgesindel hinauswirft“. Viel hat der umtriebig triebhafte Kini geschrieben, vieles liegt längst gedruckt vor; am Mittwoch dieser Woche aber wird ein Konvolut von 26 Briefen, insgesamt 70 Seiten und allesamt an seinen Vertrauten Hesselschwerdt, bei Hartung & Hartung, dem Münchner Antiquariat und Auktionshaus, versteigert: Schätzpreis: 120 000 Mark. Sind sie das Geld wert – mit dem Ludwig gewiss herrliche Schwanenpaneele hätte bezahlen können? In energisch scharfzackiger Schrift hingefetzt, zeigen sie uns Ludwig zwischen 1882 und 1885, und da war er schon ziemlich durch den Wind, der Schöngeist als Tyrannosaurus Rex, umwittert von Umnachtungsgewölk, aus dem die Blitze zucken: „Nun aber bleue ihm [dem Hofsekretär] Gehorsam ein, gehe zu ihm, werde sehr grob u. wild u. schleudere diesem Diener, der nicht gehorchen kann [,] mit aller Macht Mein Mißfallen, Meine Empörung entgegen.“ „Die Zimmer, der Ausbau des Flügels, die beiden Fontainen, der Marmor fertig bis August, dies muß erzwungen werden und das Geld hierfür muß beschafft werden.“ „Ich habe die unausstehlichen, stets unangenehmen Kostenund Geld-Meldungen satt. Fertig damit. […] Dein entschuldigendes Gewäsch war falsch u. will Ich nicht mehr hören. Gehorche stets u. behellige Mich nie mit Deinen Ansichten, an denen Ich genug habe. Ludwig.“ Kunstfreund Ludwig (1881)* Überschwang fürs Ästhetische Ein König, der als stinkwütender Bauherr auftritt, verzweifelt inmitten branchenüblicher Unzulänglichkeiten: „Die Termine müssen gehalten werden […] Dollmanns Schuld, der stets mehr braucht als angesetzt wurde […] Wie steht es also mit den Kandelabern für den Sängersaal? Sei eifrig! Nur keinen Scheineifer, wie so oft bisher!“ * Mit Schauspieler Josef Kainz. d e r Der Märchenkönig war sehr real auf sich gestellt; schließlich zahlte er die Bauten aus „eigner Tasche“, jedenfalls nicht aus der Staatskasse, musste daher mit Macht und mit Gewalt Sponsoren finden. Wenn heute so ein Kanzleramt statt 270 Millionen derzeit 465 Millionen kostet, spart man’s eben woanders ein, bei Jugendheimen, Altenpflege, oder man erhöht die Steuern. Das konnte sich Ludwig nicht erlauben. Solch ein Monarch musste sein Geld auf dem freien Markt schnorren, indem er etwa seine Zustimmung, den Preußenkönig zum Deutschen Kaiser zu ernennen, teuer verkaufte (und so aus Wilhelms Gloria Ludwigs Glanz erschuf) und indem er ungeniert Geldgeber anzapfte: „Geld ist in der Welt in Hülle und Fülle vorhanden, folglich muß es her um jeden Preis, man muß nur geschickt zu Werke gehen“, schrieb er an Hesselschwerdt. „Sehr mißfällt es Mir […], daß die durch dich vorgeschlagenen Geldmenschen zuerst so sehr ins Zeug gingen u. dann nicht einmal einen Teil des Verlangten erhalten konnten, geschickt sind sie nicht.“ Flugs zählt er die Häupter seiner Lieben und stachelt Hesselschwerdt an, bei Großunternehmern und Fürsten Druck zu machen: „Ein Leichtes ist es ihnen, die nötigen Summen vorzustrecken.“ Hat er da nicht völlig Recht? „Beschwöre den Fürsten Taxis wegen der Summe, sonst ist es mit dem Bauen aus.“ „Ich las gerade, daß der Fürst v. Lippe 300 – 400 Millionen besitzt, wie leicht könnte dieser etwas hergeben.“ Abermals nicht abwegig, und jedenfalls dreht sich über Neuschwanstein kein Mercedesstern, über Linderhof keine Fleischklopsreklame. Ist dies panische Geldraffsyndrom schon vielen bayerischen Royalisten nicht geheuer, so klinken sie vollends aus, sobald sie von Ludwigs strenger Männerwahl lesen müssen, und auch dafür gibt es einige reizende, vor allem aber irreleitende Passagen in den Auktions-Briefen. Denn offenbar ließ sich Ludwig von seinen Vertrauten häufig Fotos von Männern zuschicken, doch: „Sei mit Deinen Aufträgen recht vorsichtig.“ Und als Schlussfloskel meist: „Verbrenne dieses Blatt.“ Er beklagt, ein Bild sei „leider nicht recht ähnlich“, ein andres solle „in einem noch größeren Format“ gemacht werden, dies wieder gelte es mit List zu ergattern: „Hoffentlich bist Du dann recht intim u. bringst mir das Bild sicher mit. Das Original selbst könnte ich vielleicht dann im November in Hohenschwangau kennenlernen.“ „Götz soll recht fleißig in Linz suchen u. in Neapel verhüten, daß es Spektakel gebe, er muß jenem Mann Geld geben […] damit er sich photographieren lasse. […] Vorsicht ist dringend geboten.“ Ganz besonders bewegte ihn Behaarung: „Melde, ob seine Haare gewachsen sind od. nicht.“ „Früher erfuhr ich, daß Schanderl einen starken Bartwuchs hat und sich oft rasieren müsse, sieh ihn dir auf un- s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 267 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite bemerkte Art ganz an, vielleicht ist auch trennten. Und ist es nicht ein geradezu faussonst der Haarwuchs stark.“ Und: „Du tisches Gelüst? „Schaff mir ein Halstuch schriebst außerdem er wäre bei Joseph et- von ihrer Brust, / Ein Strumpfband meiner was gewachsen, ist das wahr, […] nochmals Liebeslust!“, fordert unser Geistesriese von genauere Meldung. – Sieh Dir auch Niebler Mephisto. ohne Aufsehen an. Wie ist der Heizer Na„O Begeist’rung komme wieder / Allgegler? Vorsicht stets!“ – Ein Heizer! Man walt’ge Zaub’rin, du!“, seufzt Schwarmdenke, und Nagler! geist Ludwig Eins nach Thron- und LolaRudolf Reiser, einem Redakteur der Verzicht, und sein Enkel Ludwig Zwei, am „Süddeutschen Zeitung“, haute es spätes- 25. August geboren wie sein Großvater, ist tens hier die Sicherungen raus, und er fiel so schönheitskrank, dass er einen Diener aus seinen weißblauen Wolken. Dass „bei mit Beule am Kopf nicht sehen will, und Joseph etwas gewachsen“ sei, liest sich in der Kammerlakai Mayr hatte ein Jahr lang seinem „SZ“-Artikel über die nun zur mit schwarzer Gesichtsmaske zu bedienen. Auktion feilgebotenen Briefe wie HardWie also, wenn Ludwig sein Personal core, selbst dem „größeren Format“ un- aus rein ästhetischen Gründen von Hesterstellt er „verschlüsselt“ Begier und sieht selschwerdt beäugen ließ? Von „nackt“ ist Ludwig „endgültig in der Gosse“, ernennt nirgends die Rede. Überschwänglich war dessen Vertraute zu „Büchsenspannern“ er, in Wolkenkuckucksheimen Wolken und „Kupplern“, die ihm „Fotos mit nack- schiebend und mit ungemein realen Widten Jünglingen“ zu beschaffen hatten. rigkeiten kämpfend; doch bei allen RoDann freilich entwindet er sich der Wit- mantizismen war er einer der Modernsten, telsbacher-Schmach, indem er die alte er fuhr im Schlitten das erste Fahrzeug der Schutzthese, „wonach Ludwig II. nicht der Sohn seines Vorgängers Max II. war, also gar kein Wittelsbacher“, nunmehr „untermauert“ sieht, denn „soviel Verrücktheit, Schwachsinn, Bösartigkeit und Perversität“ könnten nie und nimmer von einem Max herrühren. Da wäre freilich zu fragen, ob ein Schwuler (und das war er bekanntlich – wie „körpernah“, ist unbekannt) statt Männer besser Briefmarken betrachten sollte, und zu antworten wäre auch, dass Porträts zu sammeln guter Wittelsba- Ludwig II., Kusine „Sisi“ im Film*: Heimliche Fotosammler cher Brauch ist: Ludwigs Kusine, die Kaiserin „Sisi“, ließ ihre Diplo- Welt mit elektrischer Beleuchtung, instalmaten aller Länder heimlich Fotos schöner lierte schon 1882 in der Residenz zu MünFrauen von Welt und Halbwelt besorgen, chen ein Telefon, ließ sich ein Jahr zuvor und sie erhielt so manche halbnackte Ba- ein Fahrrad nach Hohenschwangau brinjadere zugesandt; Ludwigs Großvater (und gen und trieb bereits 1869 seinen „vielgeVererbung überspringt ja gern die Eltern), liebten Friedrich“, den genialen MaschiLudwig I., ließ Frauen vieler Länder und nenmeister Brandt, dazu an, „eine FlugStände für seine „Schönheitengalerie“ por- maschine zu Fahrten über den Alpsee bei trätieren und gab sich nicht immer mit dem Hohenschwangau anzufertigen“. Ölgemalten zufrieden. Lange plante und rechnete Brandt daran Für so manche hatte er danach Alimen- herum, es klappte nicht. „Wenn, was mir te zu zahlen, für eine den Thron zu quit- sehr, sehr unlieb wäre, unser durch Gas zu tieren, für Lola Montez, deren Bild zu küs- treibender Luftwagen bis zum November sen ihm nicht genügte, wenn sie in Figura nicht fertig zu bringen ist […], so bitte ich nicht greifbar war. Weshalb er ein Dich dringend sogleich den nur zum AnseStückchen Stoff erbat: „Schreibe und sag hen, nicht für Menschen bestimmten Pfaumir, ob Du das Flanellstück an beiden Stel- enwagen zu bestellen, dieser kann leicht in len getragen hast.“ Ja, hatte sie; auf der sehr kurzer Zeit vollendet werden, wenn es Brust und „auf meinem Bauch“. Und so mit Gas durchaus nicht gehen sollte, so könlegt danach er es sich auf die Brust „und nen wir ihn mittels Drähten fliegen lassen.“ auch etwas tiefer“. Nicht dumm, sondern kühn. Tollkühn. Toll. Das aromatisierte Flanell zieht sich wie Ludwigs Flugträume dienten in Bernein rotes Tuch durch die Briefe der Ge- hard von Guddens psychiatrischem Gutachten als Nachweis seiner Geisteskrankheit. So flog er nicht übers Wasser, son* Romy Schneider und Helmut Berger in Luchino Visdern ertrank darin. contis Film „Ludwig II.“ von 1972. Michael Skasa 270 d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 PWE VERLAG Kultur Werbeseite Werbeseite Kultur SCHRIFTSTELLER Von Fleisch und Fleisches Lust Die nostalgische Kuba-Begeisterung in Europa beschert auch exilkubanischen Autoren Erfolg. In „Havanna Blues“ feiert Daína Chaviano ihre Heimat als Weltnabel der Erotik. G MIAMI HERALD lücklich, wer sich So unverblümt hebt der rühmen darf, eines Roman an, der 1998 im spaMetzgers Freund zu nischen Alicante den resein. Der hütet auf Kuba, nommierten Azorín-Preis wo Fleisch das „Gold der (knapp 120 000 Mark) erArmen“ ist, seine Ware wie hielt. Eine vergleichbare den Nibelungenhort. Mehr Ehrung ist keinem Miaminoch als der schriftkundige Kubaner je widerfahren: „schochet“ (Schächter) unDie galten bislang in literater streng gläubigen Juden rischen Kreisen von New ist der profane Fleischer bei York, Madrid oder Paris als den Kubanern eine Rerechts und politisch untragspektsperson: wohlgenährt, bar, wogegen die weniger angesehen, begehrt. suspekte Diaspora zwiMit der Goldwährung schen Chile und SchweHackfleisch kann der Metzden längst salonfähig ist. ger Toño sich Zutritt zu Ha- Autorin Chaviano Spaniens großzügig dotiervannas Touristen-Nachtclub te Literaturpreise wurden Tropicana erkaufen, sogar – höchstes der letzthin vielfach von Castro-Flüchtigen Gefühle – einen Tisch im Wolkenkratzer- abgeräumt. Restaurant La Torre ergattern. Der Fleischer Wie beim Untergang der „Titanic“ wirkann sich feste Liebschaften mit drei Frau- belt die absaufende Revolution alles um en gleichzeitig leisten, und selbst seinem sich. Die weltweite Kuba-Konjunktur – in Freund Gilberto steigen die Weiber nach in der Vermarktung von Salsa und Son, in der Hoffnung auf eine Extra-Ration. Tourismus, Filmgeschäft und der (kulinaDass der neue Mensch des kubanischen risch durch nichts zu rechtfertigenden) Sozialismus dem alten zum Kotzen ähnlich Eröffnung kubanischer Restaurants – zeisieht, ist keine überraschende Erkenntnis. tigt auch auf dem Buchmarkt Symptome. Doch Daína Chaviano, 42, die in Castros Die einfallsreiche Erotomanin Zoé Kuba mit Science-Fiction bekannt wurde Valdés („Das tägliche Nichts“) findet seit und seit 1991 im Exil in Miami lebt, zeich- gut drei Jahren in Deutschland ein allem net die schäbigen Alltagskompromisse von Kubanischen aufgeschlossenes Publikum, Havanna mit leichter Hand, einem Stich das sich von den Castro-feindlichen Tirains Übersinnliche und sicherem Griff fürs den der Asylantin nicht schrecken lässt. Sinnliche. Westlichen Nostalgikern der ge- Auf Pro oder Kontra kommt es ja längst strandeten Revolution suggeriert Chaviano nicht mehr an: Die Passion der Westler für zum Trost, nirgends werde so hingebungs- Kuba ist postrevolutionär geworden – ein voll kopuliert wie auf Kuba*. mitfühlend-nostalgischer Voyeurismus. Dieser Ansicht sind die Kubaner allerDen Exil-Kubanern ist das nicht entgandings seit jeher – wie manches Lied der gen. Ramón Alejandro, Maler und Lyrikrührenden Oldtimer vom „Buena Vista So- Herausgeber in Miami, spricht vom „morcial Club“ bezeugt, mit denen Wim Wen- biden Interesse“ der Europäer, die ihre ders die Kinogeher bezauberte. Schon das Haut in der letzten Heimstatt des Sozialisvorrevolutionäre Kuba feierte die Mulattin mus bräunen lassen und schnell noch einen als Sex-Symbol und Traumprodukt der Blick auf die früher bewunderte, nun im Rassenmischung, und Daína Chaviano stuft Absacken begriffene Gesellschaft werfen. die „karibische Frau“ nicht anders ein: Dass es sich bei den Kuba-Liebhabern „Jetzt geht sie die Allee entlang und ge- um Voyeure handelt, trifft sich gut, denn nießt den Wind, der ihre seidene Unter- die Kubaner sind Exhibitionisten. Sie schäwäsche durchdringt. Sie wiegt sich in den men sich ihrer trostlos-schlüpfrigen LebensHüften und, erregt vom zudringlichen umstände keineswegs, sondern stellen sie Atem der Meeresbrise, spürt die lustvolle zur Schau. Insofern ist Chaviano nur Vermittlerin. Ihre Romanheldin Claudia, eine Feuchtigkeit zwischen ihren Beinen.“ junge Kunsthistorikerin, legt abends Musik der mystischen Nonne Hildegard von Bin* Daína Chaviano: „Havanna Blues“. Aus dem Spanigen auf, „ein wenig transzendentale Meschen von Yasmin Bohrmann. Lichtenberg Verlag, Münditation, bevor sie auf den Strich geht“ – dachen; 304 Seiten; 36,90 Mark. 272 d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 mit sie sich für ihr kleines Kind den Obstsaft aus dem Dollarshop leisten kann. Indessen wäre es keine wahre Kubanerin, der die Prostitution den Spaß am Sex total verderben könnte. „Jemand drang in sie ein, sie überließ sich der Lust“, schreibt Chaviano. „Sie kam wie eine Hündin – mitten in der Nacht in einem Luxushotel.“ Irgendwie hängt das mit dem ethnischspirituellen Selbstverständnis der Kubaner in der ausgehenden Castro-Ära zusammen: was halt dabei herauskommt, „wenn europäisches und afrikanisches Blut zusammenfließen und dann vierzig Jahre lang auf der kleinen Flamme des Atheismus kochen“. Carlos Widmann Bestseller Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „Buchreport“ Belletristik Sachbücher 1 (1) Isabel Allende Fortunas Tochter 1 (1) Marcel Reich-Ranicki Mein Leben Suhrkamp; 49,80 Mark DVA; 49,80 Mark 2 (2) Günter Grass Mein Jahrhundert 2 (2) Sigrid Damm Christiane und Goethe Insel; 49,80 Mark Steidl; 48 Mark 3 (3) Elizabeth George Undank ist der Väter Lohn Blanvalet; 49,90 Mark 3 (3) Waris Dirie Wüstenblume Schneekluth; 39,80 Mark 4 (4) Corinne Hofmann Die weiße Massai A1; 39,80 Mark 4 (5) Noah Gordon Der Medicus von Saragossa Blessing; 48 Mark 5 (5) Dale Carnegie Sorge dich nicht, lebe! Scherz; 46 Mark 5 (4) Donna Leon Nobiltà Diogenes; 39,90 Mark 6 (6) John Irving Witwe für ein Jahr Diogenes; 49,90 Mark 7 (7) Henning Mankell Die falsche Fährte Zsolnay; 45 Mark 8 (8) Marianne Fredriksson Maria Magdalena W. Krüger; 39,80 Mark 9 (9) Henning Mankell Die fünfte Frau Zsolnay; 39,80 Mark 6 (6) Tahar Ben Jelloun Papa, was ist ein Fremder? Rowohlt Berlin; 29,80 Mark 7 (7) Bodo Schäfer Der Weg zur finanziellen Freiheit Campus; 39,80 Mark 8 (9) Ulrich Wickert Vom Glück, Franzose zu sein Hoffmann und Campe; 36 Mark 9 (8) Ruth Picardie Es wird mir fehlen, das Leben Wunderlich; 29,80 Mark 10 (11) Daniel Goeudevert Mit Träumen beginnt die Realität 10 (11) Ken Follett Die Kinder von Eden Lübbe; 46 Mark Rowohlt Berlin; 39,80 Mark Hippies drohen damit, die Erde künstlich zum Beben zu bringen, um den Bau eines Stausees zu verhindern Manager-Visionen für einen humanen Kapitalismus 11 (10) Klaus Bednarz Ballade vom Baikalsee Europa; 39,80 Mark 11 (10) Nicholas Sparks Zeit im Wind Heyne; 32 Mark 12 (13) Johannes Mario Simmel Liebe ist die letzte Brücke Droemer; 44,90 Mark 13 (12) Siegfried Lenz Arnes Nachlass Hoffmann und Campe; 29,90 Mark 12 (14) Günter Ogger Macher im Machtrausch Droemer; 39,90 Mark 13 (13) Peter Kelder Die Fünf „Tibeter“ Integral; 22 Mark 14 (14) Martha Grimes Die Frau im 14 (12) Jon Krakauer In eisige Höhen Pelzmantel Malik; 39,80 Mark Goldmann; 44 Mark 15 (–) Walter Moers Die 131/2 Leben des Käpt’n Blaubär Eichborn; 49,80 Mark 15 (15) Guido Knopp Kanzler – Die Mächtigen der Republik C. Bertelsmann; 46,90 Mark d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 273 ARTHAUS Kultur Almodóvar-Stars Roth, San Juan: Schrill bunt, einladend, wohnlich FILM Vatermutterkind Das jüngste Kino-Kunststück des spanischen Melodramatikers Pedro Almodóvar hält, was es verspricht: „Alles über meine Mutter“. D ass Männer lieber Frauen sein möchten, in der uneingestandensten Tiefe ihres Narzissmus zumindest, in ihrem geheimsten Traum von sich selbst, ist statistisch wohl nicht zu beweisen. Nicht jeder kleine Junge stellt sich im Nachthemd seiner Mutter vor den Schlafzimmerspiegel, um sich lieben zu können, doch die Phantasie davon ist mächtig. Pedro Almodóvars Sache war noch nie das platt Wahrscheinliche, das statistisch Beweisbare, vielmehr jene Art von Wahrheit, die erst im Künstlichen, im Phantastischen zum Vorschein kommt. Er bedient sich mit Lust und geschmeidiger Bravour der Stilmittel des traditionellen Melodrams, ohne Scheu vor den Rührseligkeiten oder Kitsch-Gipfeln des Genres, und landet doch nicht bei traditionellen Gewissheiten, sondern macht daraus den Entwurf einer Welt, in der Geschlechterrollen und Identitäten beweglicher sind, frei, wandelbar, abenteuerlich ungewiss. Sein neuer Film beginnt mit einem Todesfall und ist eine Überlebensgeschichte: Manuela, von Beruf Krankenschwester, allein erziehende Mutter, verliert am Abend seines 17. Geburtstags ihren geliebten Sohn Estéban, der Dichter werden wollte und an einer Erzählung mit dem Titel „Alles über meine Mutter“ schrieb – in schwärmerischem Leichtsinn ist er in ein Auto hineingerannt. 274 Sein Herz, transplantiert, schlägt nun in der Brust eines fremden Mannes, und Manuela – wohin sonst mit ihrer Trauer? – macht sich auf die Suche nach seinem verleugneten und verschollenen Vater, der ebenfalls Estéban hieß. Der einzige Hinweis, den der Sohn je zu Gesicht bekam, am Tag vor seinem Tod, waren ein paar „halbe“ Fotos, die seine Mutter als junge Frau zeigten. Kein Zweifel, auf der abgerissenen anderen Hälfte wäre der Mann zu sehen gewesen, sein Vater, den er mehr und mehr als Lücke in seinem Leben wahrnahm, als fehlende Hälfte seiner Identität. Manuela, als wäre sie das ihrem Sohn schuldig, fährt von Madrid nach Barcelona, zurück in die Stadt, aus der sie vor bald 18 Jahren, schwanger, geflohen ist: geflohen vor jenem ersten Estéban. Hals über Kopf aber gerät sie dort in einen wahren Strudel von Frauenschicksalen: Sie hatte Hilfe gesucht und wird, da dies ihr Beruf ist, überall selbst zur Helferin. Almodóvars Blick auf die Frauen ist (wie der von Ingmar Bergman) niemals possessiv; er bringt sie mit so viel Liebe zum Leben, als könnte er dadurch eine von ihnen werden. In einem jener schrill bunten, aufdringlich überladenen und doch einladend wohnlichen Innenräume, Seelenräume, in denen, man kennt das längst, alle Almodóvar-Figuren zu Hause sind, sitzen ein einziges Mal – da sie sonst unentwegt in Bewegung sind – drei der weiblichen Hauptfiguren entspannt beisammen: Jede repräsentiert (auf den männlichen ersten Blick) platt eine stereotype Frauenrolle: die Nonne (Penélope Cruz), die Hure (Antonia San Juan), die Mutter (Cecilia Roth); doch jede stellt, auf den zweiten Blick, durch ihre Individualität das Klischee auf den Kopf (die Nonne ist schwanger, die Hure ein Mann). Und dann tritt als vierte, überragend in ihrer Grand e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 dezza, die Diva auf (Marisa Paredes), das höhere oder gar höchste Wesen in dieser ganz und gar almodóvarschen Frauenphantasiewelt. Die Diva nämlich ist nicht einfach von Natur aus Frau, wie sonst irgendeine Dahergelaufene, sondern sie erschafft sich erst durch Pose, Maske, Kostüm, durch Selbstinszenierung und Selbstüberhöhung ihre Identität, die nur ein stumpfer Macho für Lug und Trug halten wird. Das Ziel der Diva ist dem ganz ähnlich, das der Transvestit sich erträumt: Frau sein in einer höheren Potenz. Wenigstens zwei aus der Gruppe der Frauen, von denen Almodóvar erzählt, sind in der Tat, platt biologisch betrachtet, Männer. Sie sei früher Lkw-Fahrer gewesen, sagt eine von ihnen, aber „dann habe ich mir Titten machen lassen und bin Nutte geworden“. Sie zählt auf, wo überall Silikon ihr zu ihren Kurven und also zu ihrer weiblichen Identität verholfen hat, und sagt: „Man ist umso authentischer, je näher man seinem Traum von sich selbst kommt.“ Schein oder Sein? Elegant und verwirrend jongliert Almodóvar (zu dessen Figuren auch eine Kunstfälscherin gehört) mit den Begriffen von Maske und Wesen, von Fälschung und Original. Am Ende erinnert die Diva mit einem Szenenzitat, der Klage einer Mutter um ihren toten Sohn, an García Lorcas schwulschwülstige Mutterschaftsmystik. Am Ende wird ein Kind geboren, das, den Gesetzen des Melodrams gemäß, den Namen Estéban bekommt. Am Ende wird auch der Vater gefunden, der erste Estéban, nach dem sich, vor Monaten, Manuela auf die Suche gemacht hatte. Er kommt langsam und gemessen eine hohe Treppe herabgeschritten wie eine Revue-Diva, sehr fahl, schmal, schon dem Tode nah, im schwarzen Kostüm sehr ladylike – seine Erscheinung erinnert daran, dass für die spanische Phantasie der Tod eine Frau ist. Vor sechs Wochen, ein paar Tage nach ihrem Tod, hat Almodóvar einen Nachruf auf seine Mutter veröffentlicht. Er erinnert sich an die bäuerlich-ärmliche Kindheitswelt, in der die Mutter ihm als erste Verkörperung der Phantasie erschien. Zum Namen eines Spaniers gehört neben dem väterlichen auch der mütterliche Familienname (der doch auch eine Hälfte seiner Identität bezeichnet); manche verzichten im Alltag darauf, bei anderen verdrängt der Muttername den des Vaters, halbwegs etwa bei Lorca, ganz bei Picasso. Almodóvar hat sich, zum Bedauern seiner Mutter, ihren Namen nie zu Eigen gemacht; vielleicht, weil er unbewusst vor dem Männlichen darin zurückscheute. Doch der Nachruf nun, erstmals, ist unterzeichnet: Pedro Almodóvar Caballero. Sollen wir umlernen? Wenn er weiter so wunderbar satte, stürmische, exaltierte Filme macht, wollen wir ihn fortan gern Caballero nennen. Urs Jenny Werbeseite Werbeseite Kultur KINO Traum von Größe Luc Bessons monumentale Neuverfilmung der Jeanne-d’ArcLegende beflügelt den Nationalstolz der Franzosen. D COLUMBIA TRI-STAR ie Unerbittlichkeit von Generationen französischer Lehrer hat sich ausgezahlt. Für die Bürger der Grande Nation sind Napoleon, Karl der Große und Jeanne d’Arc unverrückbar die markantesten Gestalten ihrer Geschichte. So hat es gerade wieder eine Meinungsumfrage der Zeitung „France-Soir“ bestätigt. Nun bekommen die Franzosen eine neue Jungfrau von Orléans vorgeführt, in einem überwältigenden Filmepos des Regisseurs Luc Besson, 39. In 500 Kinos läuft das Historienspektakel seit vorigem Mittwoch, ein nationales Ereignis, die französische Antwort auf Hollywood: zwei Stunden und 40 Minuten lang, Produktionskosten weit über 100 Millionen Mark, eine internationale Starbesetzung, in der USSchauspieler wie John Malkovich, Faye Dunaway und Dustin Hoffman sich mit Nebenrollen bescheiden müssen. So geziemt es sich ja auch bei diesem Stoff, der von Januar an auch in Deutschland zu sehen sein wird. Die Heldin, von der es keine gesicherte zeitgenössische Darstellung gibt, wird von dem Ex-Mannequin Milla Jovovich verkörpert: ein androgynes Energiebündel mit dem Türkisblick der Erleuchteten, von mörderischer Wut gegen die Feinde des Königs geschüttelt, dann wieder von Selbstzweifeln zerfressen angesichts des von ihm verursachten Gemetzels. Bessons Schlachtengemälde, in dem tausende von Geharnischten aufeinander losgehen, schert sich nicht um historische Genauigkeit – wie auch, sind doch Wahrheit und Legende unauflöslich ineinander verwoben bei dieser Figur, in die Frankreich seine Phantasien von Einigkeit, Widerstand, Verrat und Befreiung hemmungslos romantisch hineinprojiziert hat. Kein anderes Land in Europa ist wohl so verliebt in die eigene Geschichte, hat ein so ungebrochenes Verhältnis zu Trommelwirbel und Pfeifenklang. Jeanne d’Arc, die Hirtin aus dem winzigen Vogesendorf Domrémy, hat ihren herausragenden Platz in diesem Traum von Größe. In ihrer Verehrung spiegelt sich auch die Sehnsucht eines Volkes, das sich nur schwer damit abfindet, vom Leitbild der Weltzivilisation zu einer „Jeanne d’Arc“-Darstellerin Jovovich: Von mörderischer Wut geschüttelt 276 d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Mittelmacht mit verminderten Souveränitätsrechten herabgesunken zu sein. Bessons Jeanne d’Arc wirkt da wie das kulturelle Gegengift zu einer globalisierten Welt, in der nichts mehr seinen angestammten Platz behält. Wie General Charles de Gaulle, der in einem Theaterstück zurzeit ebenfalls nostalgisch verklärt wird, ist die Jungfrau von Orléans Leitfigur geworden für das „Frankreich, das Nein sagt“: Nein zu den fremden Eindringlingen, Nein zu Kapitulation, Unterwerfung und Verfälschung seiner Lebensart. „Was an der Gestalt der Jeanne d’Arc so verführerisch wirkt, ist der Wille zum Widerstand“, urteilt der Historiker Olivier Bouzy, „das hat sie mit Asterix gemeinsam“, dem unbeugsamen Gallier, der zufällig gerade seinen 40. Geburtstag feierte. Im Hundertjährigen Krieg zwischen Engländern und Franzosen war Jeannes große Zeit nur eine Episode: jene 27 Monate zwischen dem 23. Februar 1429 und dem 30. Mai 1431, in denen sie dem zaudernden, an seiner Legitimität fast irre gewordenen König Karl VII. Mut einflößte und das von den Engländern belagerte Orléans befreite. Niemand weiß, wer dieses Mädchen wirklich war, das mit 13 erstmals die Stimme Gottes zu hören behauptete und mit 19 Jahren auf dem Marktplatz von Rouen lebendig verbrannt wurde – als Häretikerin verurteilt nicht von den feindlichen Engländern, sondern vom französischen Bischof Pierre Cauchon und von Theologen der Sorbonne, die es für eine Hexe hielten. Der lästerliche Voltaire hat Jeanne d’Arcs Weg zum Ruhm 1762 noch als Burleske geschildert. Während der Revolution wurde sie als Vertreterin des Feudalismus und des Aberglaubens geächtet. Der bedeutende Historiker Jules Michelet machte die Verteidigerin der Monarchie im 19. Jahrhundert paradoxerweise zur Ikone des republikanischen Patriotismus. Das vom deutschen Nachbarn bedrohte Frankreich brauchte eine starke Symbolfigur, hinter der es sich sammeln konnte. Luc Besson hat, in seinem bisher besten Film, die Heldinnensage entstaubt und ins Menschliche zurückgeholt. Er zeigt eine exaltierte, von ihren Eingebungen getriebene junge Frau, die fanatisch das Absolute will und am Ende in der frei erfundenen Zwiesprache mit ihrem überirdischen Beichtvater (gespielt von Dustin Hoffman) aus dem Kerker voller Gewissensnot auf das zurückblickt, was sie angerichtet hat: kein Instrument göttlichen Willens, sondern ein Spielball von Emotionen und politischen Intrigen. Der Legende wird das keinen Abbruch tun, denn Franzosen wissen: Ein Land, das keine Legenden mehr hat, ist dazu verurteilt, vor Kälte zu sterben. Romain Leick Werbeseite Werbeseite GLOBE / INTER-TOPICS Popstars Crosby, Young (stehend), Stills, Nash in New York (1999): „Wir sind vier Brüder“ POP „Was heißt hier modern?“ Die Musiker David Crosby, Stephen Stills und Neil Young über die Kraft ihrer Musik, den Fall der Berliner Mauer und die neue Crosby-Stills-Nash-&-Young-CD „Looking Forward“ SPIEGEL: Ihre Platte wurde seit langem immer wieder angekündigt … Young: Sehen Sie? Sehen Sie? Aber nicht von uns. Das ist ein gutes Beispiel dafür, warum wir Ihnen nicht erzählen können, was wir in Zukunft machen wollen. Denn wer weiß, ob wir es uns nicht anders überlegen? Stills: Wir tun nur, was wir wollen. Ich wollte noch was sagen, hab aber vergessen, was … Young: … tja, das ist mir noch nie passiert. SPIEGEL: Sie vier sind als Egozentriker bekannt.War es sehr anstrengend, sich auf die zwölf Stücke des neuen Albums zu einigen? Crosby: Egozentriker? Wir sind vier Brüder. Und ab und zu streiten wir mal, genauso wie andere Brüder auch. Aber die Presse stürzt sich nur auf die negativen Geschichten. So wie: „Drei Nonnen von Planierraupe überfahren – Bilder um 11 Uhr!“ Das lieben die. Young: Um allen Streit unter Brüdern zu vermeiden, hatten wir im Studio eine Tabelle an der Wand hängen. Da waren alle Songs aufgeführt und unsere Initialen. Und wer meinte, dass ein Stück auf der Platte sein müsste, machte einfach einen Haken. Crosby: Ein Problem war, dass Neil nur unter seinen Songs Haken gemacht hat. Die sporadische Zusammenarbeit der Amerikaner Crosby, 58, Stills, 54, und des Briten Graham Nash, 57, mit dem Kanadier Young, 53, begründete die Legende einer „Supergruppe des Folkrock“ („Rolling Stone“). Von Januar an will das Quartett gemeinsam durch die USA und möglicherweise auch durch Europa touren. in drei Jahrzehnten haben Sie es auf drei gemeinsame Studioalben gebracht, zuletzt zusammen auf Konzerttour waren Sie 1974. Sind Crosby, Stills, Nash & Young eine Band oder mehr ein loser HippieHerrenclub? Crosby: Also, nun passen Sie mal gut auf und merken sich genau, was wir Ihnen sagen. Wir verkünden das seit Ewigkeiten und tun das hier noch dieses eine Mal: Als wir anfingen, haben wir unsere eigenen Namen benutzt, weil wir parallel Solokarrieren und andere Projekte verfolgen wollten. Wir haben es verdammt noch mal von Anfang an jedem erzählt. Und als wir es dann tatsächlich getan haben, schrien alle: „Sie haben sich getrennt!“ Und jedes Mal, wenn wir uns wieder zusammengetan haben, brüllten die Leute: „Wiedervereinigung!“ Einfach alles, was wir gesagt haben, wurde ignoriert. Stills: Was? Young: Achten Sie nicht auf ihn. Er hört nur das, was er hören will. SPIEGEL: Warum war es Ihnen unmöglich, längere Zeit in einer Band zusammenzubleiben wie tausende andere Musiker auch? 278 R. ELLIS SPIEGEL: Mr. Young, Mr. Crosby, Mr. Stills, Erfolgsgruppe Crosby, Stills, Nash & Young (1974): „Ab und zu Streit“ Stills: (singt) Inquisition! Inquisition! Crosby: Weil es einfach langweilig ist. Ich Young: Na ja! Crosby: Ein anderes Problem war, dass ich möchte nicht ständig das Gleiche machen. Man kann künstlerisch nicht wachsen, wenn man ständig mit denselben Partnern arbeitet. SPIEGEL: Wie Sie sich künstlerisch allein verwirklichen, interessiert aber deutlich weniger Menschen, als wenn Sie zu viert antreten. Frustriert das die Künstlerseele? Crosby: Zu viert verkaufen wir tatsächlich zehnmal so viel wie jeder von uns allein – mal abgesehen von Neil Young. Aber das ist in Ordnung und kein Problem. Wir sind alle längst gut versorgt. Was wir hier tun, tun wir aus Spaß. Nicht weil eine Plattenfirma oder die Steuer uns zwingt. nur für meine Songs gestimmt habe … Hey, das war nur ein Scherz! Ein Witz. Kapiert? Stills: Du musst dir das Publikum für deine Scherze sorgfältiger aussuchen, Crosby. Crosby: Ja? Echt? SPIEGEL: Um den Stil kann es in den vergangenen 30 Jahren kaum Zank gegeben haben. Ihr milder Country-Rock hat sich bis heute als resistent gegen alles Moderne erwiesen. Stills: Hey, wir machen einfach unser Zeug und scheren uns einen Teufel um die anderen. Crosby: Und was heißt hier bitte schön „modern“? Egal, wie laut sie werden und welche merkwürdigen Akkorde sie spie- d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Kultur 280 d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 schen Widerstands und der Bürgerrechtsbewegung, und wir haben versucht, eine Menge Interviews mit einer Menge von Menschen zu führen. Der Film wird auch im deutschen Fernsehen gezeigt werden, und ein Buch kommt auch. SPIEGEL: Warum die Mühe? Wollen Sie bei einer jungen Generation ein Bewusstsein reaktivieren, das verloren gegangen scheint? Crosby: Es festhalten, zelebrieren und hoffentlich aufrechterhalten. SPIEGEL: Stimmt die Geschichte, dass Sie nach dem Fall der Berliner Mauer vor zehn Jahren sofort nach Berlin geflogen sind? Crosby: Ohne zu zögern. Vor allem, weil ich die Reise auf Stephen Stills’ Kreditkarte gebucht habe. Stills: Ich habe es im Fernsehen mitbekommen und gedrängelt, bis wir im Flugzeug saßen. Wir hatten Hammer und Schraubenzieher dabei und haben uns Teile aus der Mauer herausgeschlagen. Meins liegt nun auf dem Kamin. Crosby: Peng. Peng. Und sie haben uns erlaubt, vor dem Brandenburger Tor zu spielen. Das hat uns sehr viel bedeutet. Die Mauer war ein Symbol dafür, was am Kalten Krieg alles böse war. Young: Wir haben den Fall der Mauer als ein Zeichen großartiger Zeiten gesehen. Es war kein Panzer, der sie umgestürzt hat. Es war keine Armee, die sie umgestürzt hat. Es waren Ideen und Ideale, es waren Menschen, die diese Mauer zu Fall gebracht haben. SPIEGEL: Und wirtschaftliche Faktoren. Crosby: In Ordnung. Aber es waren Ideologen, die diese Mauer errichtet haben. Und wir sind Idealisten, das ist ein ganz entscheidender Unterschied. Und danke noch mal, Stephen, dass du alles bezahlt hast. Stills: Verdammt noch mal, ihr schuldet mir Geld. Aber ist auch egal. War ja ’ne gute Sache. Wir sind Optimisten. SPIEGEL: Was nährt Ihren scheinbar unerschütterlichen Optimismus? Crosby: Wir waren schon immer so. Young: Ich war optimistisch. Und ich war zornig. SPIEGEL: Was macht Sie zornig? Crosby: Er hasst es, wie ich mich kleide. Young: Mir gefällt die negative Ausrichtung Ihrer Frage nicht, und ich werde sie nicht beantworten. Stills: Um welche Frage geht es? Young: Was mich zornig macht. Stills: Hab ich schon kapiert, war nur ein Witz. Young: Aha. Sonst noch etwas? Crosby: Ende der Schimpfkanonade. SIPA PRESS len, alle diese Bands spielen doch nur Young: … jede Woodstock-Debatte abzuimmer verfluchten Rock’n’Roll. Ich habe lehnen. Das alte Woodstock ist wirklich zu auch wieder angefangen, Radio zu hören. alt, und das neue hat gestunken. Nächste Die guten Songs sind dünn gesät, aber es Frage bitte. sind immer wieder welche dabei. Ich liebe SPIEGEL: Im Titelsong des neuen Albums dieses Latin-Zeug, das bringt sogar mich gibt es diese Zeile „Trying not to use the zum Tanzen. Aber ich weiß auch, dass word ‚old‘“. Heißt das, Sie fühlen sich guter Rock’n’Roll, so wie unserer, so gut manchmal oder ständig alt? wie eh und je klingt. Unser Harmonie- Young: Nein, das ist einfach eine beiläufige gesang ist richtig frisch und lebendig. Bemerkung. Ich habe das Wort bereits in Wir kennen auch die ganze moderne der ersten Strophe verwendet. Es ist ein Technik und wissen trotzdem, wie man Witz. erstklassig Gitarre spielt. Wir werden sogar immer besser. SPIEGEL: Ganz ignorieren können Sie trotzdem nicht, dass wir inzwischen am Ende der neunziger Jahre angelangt sind. Das Radio hat stark an Bedeutung verloren. Werden Sie ein Video für MTV machen? Stills: Video? Young: Videoclips. Stills: Was ist damit? Young: Danach fragen sie. Crosby: Ach ja, wir werden einen prächtigen Videoclip aufnehmen. Stills: Ich finde, das Video sollte eine Gruppe von nackten Mädchen zeigen. SPIEGEL: Gab es nicht schon zu Ihrem gemeinsamen Song „American Dream“ Ende der Achtziger einen Videoclip? Young: Ja, aber auf Videos sind wir echt mies. Wir wissen, was Videos sind, sind aber keine von diesen Videobands. Crosby: Wir könnten ein Video machen mit Strichmännchen, die Spielzeugeisenbahn fahren. Stills: Nein, keine Eisenbahn. Die schlagen sich einfach eine Zeit lang die Köpfe ein, und dann spielen sie wieder als Band zusammen, die Strichmännchen. SPIEGEL: Ihre Plattenfirma hat Ihr Werk ursprünglich für August an- Woodstock-Festival 1969: „Das W-Wort ist böse“ gekündigt – könnten die Leute dort an das 30-jährige Jubiläum von Woodstock Crosby: Superwitz. gedacht haben? Stills: Was? Stills: Was für eine energische Frage. Young: Egal. Young: Da müssen Sie die Plattenfirma SPIEGEL: Parallel zum Album haben Sie fragen, ich weiß nicht, was die sich ge- an einer Fernsehdokumentation über dacht hat. die Geschichte des Protestsongs mitgearSPIEGEL: Aber Sie haben die Woodstock- beitet … Neuauflage in diesem Jahr verfolgt? Im- Crosby: … dem Dokumentarfilm „Stand merhin haben Sie dort 1969 gespielt, und And Be Counted“ über Menschen, die für Ihr Debütalbum „Déjà vu“ gilt als Dinge eingetreten sind, an die sie glaubten: Soundtrack der so genannten Woodstock- Bürgerrechtsdemonstrationen gegen den Generation. Von Ihren Idealen ist dem Fes- Krieg, Live Aid, Entwicklungshilfe, Amtival nicht viel erhalten … nesty International und so weiter. Wir haCrosby: Stopp! Stopp! Hören Sie auf, das ben eine Menge gelernt von dem ProtestW-Wort zu benutzen. Pfui! Das W-Wort ist sänger Pete Seeger. böse. Stills: Mal abgesehen von der Kommunistensache. SPIEGEL: Keine Antworten zum W-Wort? Young: Wir haben abgestimmt darüber Crosby: Das ist nicht lustig, da hört der und einhellig beschlossen, jede Wood- Spaß auf. Dieser Mann ist ein Nationalstock … held. Die Vereinigten Staaten von AmeriCrosby: Aus! Pfui. ka haben eine große Tradition des politi- Interview: Christoph Dallach, Wolfgang Höbel Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite SERVICE Leserbriefe SPIEGEL-Verlag, Brandstwiete 19, 20457 Hamburg Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] Fragen zu SPIEGEL-Artikeln Telefon: (040) 3007-2687 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] Nachbestellung von SPIEGEL-Ausgaben Telefon: (040) 3007-2948 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] Nachdruckgenehmigungen für Texte und Grafiken: Deutschland, Österreich, Schweiz: Telefon: (040) 3007-2869 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] übriges Ausland: New York Times Syndication Sales, Paris Telefon: (00331) 47421711 Fax: (00331) 47428044 für Fotos: Telefon: (040) 3007-2869 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] DER SPIEGEL auf CD-Rom / SPIEGEL TV-Videos Telefon: (040) 3007-2485 Fax: (040) 3007-2826 E-Mail: [email protected] Abonnenten-Service SPIEGEL-Verlag, Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg Reise/Umzug/Ersatzheft Telefon: (040) 411488 Auskunft zum Abonnement Telefon: (040) 3007-2700 Fax: (040) 3007-2898 E-Mail: [email protected] Abonnenten-Service Schweiz: DER SPIEGEL, Postfach, 6002 Luzern, Telefon: (041) 3173399 Fax: (041) 3173389 E-Mail: [email protected] Abonnement für Blinde Deutsche Blindenstudienanstalt e. 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S C H L U S S R E D A K T I O N Rudolf Austenfeld, Reinhold Bussmann, Dieter Gellrich, Hermann Harms, Bianca Hunekuhl, Rolf Jochum, Katharina Lüken, Reimer Nagel, Dr. Karen Ortiz, Gero RichterRethwisch, Hans-Eckhard Segner, Tapio Sirkka B I L D R E D A K T I O N Michael Rabanus (verantwortlich für Innere Heft- gestaltung), Josef Csallos, Christiane Gehner; Werner Bartels, Manuela Cramer, Rüdiger Heinrich, Peter Hendricks, Maria Hoffmann, Antje Klein, Matthias Krug, Claudia Menzel, Peer Peters, Dilia Regnier, Monika Rick, Karin Weinberg, Anke Wellnitz. 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M., Tel.(069) 9712680, Fax 97126820 H A N N O V E R Hans-Jörg Vehlewald, Rathenaustraße 12, 30159 Hannover, Tel. (0511) 36726-0, Fax 3672620 K A R L S R U H E Postfach 5669, 76038 Karlsruhe, Tel. (0721) 22737 M Ü N C H E N Dinah Deckstein, Wolfgang Krach, Heiko Martens, Bettina Musall, Stuntzstraße 16, 81677 München, Tel. (089) 4180040, Fax 41800425 Tel. (0385) 5574442, Fax 569919 S T U T T G A R T Jürgen Dahlkamp, Katharinenstraße 63a, 73728 Esslingen, Tel. (0711) 3509343, Fax 3509341 REDAKTIONSVERTRETUNGEN AUSLAND BAS E L Jürg Bürgi, Spalenring 69, 4055 Basel, Tel. (004161) 2830474, Fax 2830475 B E L G R A D Renate Flottau, Teodora Drajzera 36, 11000 Belgrad, Tel. (0038111) 669987, Fax 3670356 B R Ü S S E L Dirk Koch; Winfried Didzoleit, Sylvia Schreiber, Bd. Charlemagne 45, 1000 Brüssel, Tel. (00322) 2306108, Fax 2311436 I S T A N B U L Bernhard Zand, Be≠aret Sokak No. 19/4, Ayazpa≠a, 80040 Istanbul, Tel. (0090212) 2455185, Fax 2455211 J E R U S A L E M Annette Großbongardt, 16 Mevo Hamatmid, Jerusalem Heights, Apt. 8, Jerusalem 94593, Tel. (009722) 6224538-9, Fax 6224540 J O H A N N E S B U R G Birgit Schwarz, P. O. Box 2585, Parklands, SA-Johannesburg 2121, Tel. (002711) 8806429, Fax 8806484 K A I R O Volkhard Windfuhr, 18, Shari’ Al Fawakih, Muhandisin, Kairo, Tel. (00202) 3604944, Fax 3607655 L O N D O N Michael Sontheimer, 6 Henrietta Street, London WC2E 8PS, Tel. (0044207) 3798550, Fax 3798599 M O S K A U Jörg R. Mettke, Uwe Klußmann, 3. Choroschewskij Projesd 3 W, Haus 1, 123007 Moskau, Tel. (007095) 9400502-04, Fax 9400506 N E W D E L H I Padma Rao, 91, Golf Links (I & II Floor), New Delhi 110003, Tel. (009111) 4652118, Fax 4652739 N E W YO R K Thomas Hüetlin, Mathias Müller von Blumencron, 516 Fifth Avenue, Penthouse, New York, N Y 10036, Tel. (001212) 2217583, Fax 3026258 PA R I S Dr. Romain Leick, Helmut Sorge, 1, rue de Berri, 75008 Paris, Tel. (00331) 42561211, Fax 42561972 P E K I N G Andreas Lorenz, Ta Yuan Wai Jiao Ren Yuan Gong Yu 2-2-92, Peking 100600, Tel. (008610) 65323541, Fax 65325453 P R A G Jilská 8, 11000 Prag, Tel. (004202) 24220138, Fax 24220138 R I O D E J A N E I R O Jens Glüsing, Avenida São Sebastião 157, Urca, 22291-070 Rio de Janeiro (RJ), Tel. (005521) 2751204, Fax 5426583 R O M Hans-Jürgen Schlamp, Largo Chigi 9, 00187 Rom, Tel. (003906) 6797522, Fax 6797768 S A N F R A N C I S C O Rafaela von Bredow, 3782 Cesar Chavez Street, San Francisco, CA 94110, Tel. (001415) 6437550, Fax 6437530 S I N G A P U R Jürgen Kremb, 15, Fifth Avenue, Singapur 268779, Tel. (0065) 4677120, Fax 4675012 T O K I O Dr. Wieland Wagner, Chigasaki-Minami 1-3-5, Tsuzuki-ku, Yokohama 224, Tel. (008145) 941-7200, Fax 941-8957 WA R S C H A U Andrzej Rybak, Krzywickiego 4/1, 02-078 Warschau, Tel. (004822) 8251045, Fax 8258474 WA S H I N G T O N Michaela Schießl, Dr. Stefan Simons, 1202 National Press Building, Washington, D.C. 20 045, Tel. (001202) 3475222, Fax 3473194 W I E N Walter Mayr, Herrengasse 6-8/81, 1010 Wien, Tel. (00431) 5331732, Fax 5331732-10 D O K U M E N T A T I O N Dr. Dieter Gessner, Dr. Hauke Janssen; JörgHinrich Ahrens, Sigrid Behrend, Dr. Helmut Bott, Lisa Busch, Heiko Buschke, Heinz Egleder, Dr. Herbert Enger, Johannes Erasmus, Cordelia Freiwald, Silke Geister, Dr. Sabine Giehle, Thorsten Hapke, Hartmut Heidler, Gesa Höppner, Stephanie Hoffmann, Christa von Holtzapfel, Bertolt Hunger, Joachim Immisch, Michael Jürgens, Ulrich Klötzer, Angela Köllisch, Anna Kovac, Sonny Krauspe, Peter Kühn, Peter Lakemeier, Hannes Lamp, Marie-Odile Jonot-Langheim, Michael Lindner, Dr. Petra LudwigSidow, Rainer Lübbert, Sigrid Lüttich, Rainer Mehl, Ulrich Meier, Gerhard Minich, Wolfhart Müller, Bernd Musa, Werner Nielsen, Margret Nitsche, Thorsten Oltmer, Anna Petersen, Peter Philipp, Katja Ploch, Axel Pult, Ulrich Rambow, Thomas Riedel, Constanze Sanders, Petra Santos, Maximilian Schäfer, Rolf G. Schierhorn, Ekkehard Schmidt, Thomas Schmidt, Andrea Schumann-Eckert, Margret Spohn, Rainer Staudhammer, Anja Stehmann, Dr. Claudia Stodte, Stefan Storz, Rainer Szimm, Dr. Wilhelm Tappe, Dr. Eckart Teichert, Dr. Iris Timpke-Hamel, Heiner Ulrich, Hans-Jürgen Vogt, Carsten Voigt, Peter Wahle, Ursula Wamser, Peter Wetter, Andrea Wilkens, Holger Wilkop, Karl-Henning Windelbandt B Ü R O D E S H E R A U S G E B E R S Irma Nelles I N F O R M A T I O N Heinz P. Lohfeldt; Andreas M. Peets, Kirsten Wiedner, Peter Zobel K O O R D I N A T I O N Katrin Klocke L E S E R - S E R V I C E Catherine Stockinger S P I E G E L O N L I N E (im Auftrag des SPIEGEL: a + i art and information GmbH & Co.) Redaktion: Hans-Dieter Degler, Ulrich Booms N A C H R I C H T E N D I E N S T E AP, dpa, Los Angeles Times / Washington Post, New York Times, Reuters, sid, Time Nachdruck und Angebot in Lesezirkeln nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken und Mailboxes sowie für Vervielfältigungen auf CD-Rom. SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG Verantwortlich für Vertrieb: Ove Saffe Verantwortlich für Anzeigen: Christian Schlottau Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 53 vom 1. Januar 1999 Postbank AG Hamburg Nr. 7137-200 BLZ 200 100 20 Druck: Gruner Druck, Itzehoe V E R L A G S L E I T U N G Fried von Bismarck M Ä R K T E U N D E R L Ö S E Werner E. Klatten G E S C H Ä F T S F Ü H R U N G Rudolf Augstein, Karl Dietrich Seikel DER SPIEGEL (USPS No. 0154-520) is published weekly. The subscription price for the USA is $310 per annum. K.O.P.: German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631. Telephone: 1-800-457-4443. e-mail: info @ glpnews.com. Periodicals postage is paid at Englewood, NJ 07631, and at additional mailing offices. Postmaster: Send address changes to: DER SPIEGEL, German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631. d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Chronik SAMSTAG, 23. 10. FORMEL 1 Das Berufungsgericht des Inter- nationalen Automobilverbands hebt die Disqualifikation der Ferrari-Fahrer wieder auf. STARS Schlagersänger Rex Gildo („Fiesta Mexicana“), 60, springt aus dem Fenster und stirbt drei Tage später an seinen Verletzungen. SONNTAG, 24. 10. KRIEG Russland setzt trotz wachsender Kritik des Westens seine militärische Offensive in Tschetschenien fort. SCHWEIZ Rechtsrutsch bei den Schweizer Parlamentswahlen: Die Schweizerische Volkspartei (SVP), die eine harte Ausländerpolitik fordert, wird zweitstärkste Partei hinter den Sozialdemokraten. MONTAG, 25. 10. KLIMASCHUTZ Deutschland will den Aus- stoß von Kohlendioxid bis zum Jahr 2005 um 25 Prozent verringern, verspricht Kanzler Gerhard Schröder zu Beginn der Klimaschutzkonferenz in Bonn. ROT-GRÜN Die Lieferung eines Test-Pan- zers an die Türkei führt zu heftigen Auseinandersetzungen in der Koalition. Ein Export von 1000 Panzern soll nur erfolgen, wenn es Fortschritte in der Menschenrechtspolitik der Türkei gebe. PROZESSE Im Hooligan-Prozess gegen die Schläger, die den französischen Polizisten Daniel Nivel bei der Fußballweltmeisterschaft schwer verletzt hatten, fordert der Staatsanwalt Haftstrafen bis zu 14 Jahren. DIENSTAG, 26. 10. AFFÄREN Sechs Vorstände und ein Auf- sichtsratsmitglied der HypoVereinsbank 23. Oktober bis 28. Oktober SPIEGEL TV treten zurück, weil die frühere Hypobank Risiken von 3,6 Milliarden Mark in der Bilanz nicht berücksichtigt hatte. MONTAG 23.00 – 23.30 UHR SAT 1 FORMEL 1 Die Deutsche Bank will für Welche Farbe hat der Krieg? Das Dritte Reich: 1940 – 1945 SPIEGEL TV 1,3 Milliarden Mark 50 Prozent des Formel-1-Imperiums von Bernie Ecclestone kaufen. REPORTAGE BUNDESWEHR Die Weigerung der Bundeswehr, Frauen auch im Waffendienst einzusetzen, verstößt nach Ansicht des Generalanwalts der Europäischen Union gegen die Gleichbehandlungsrichtlinie. MEDIZIN In Bad Oeynhausen wird weltweit erstmals einem Patienten eine mit eigenem Antrieb ausgestattete HerzHilfspumpe implantiert. Deutsche Soldaten (1945) SPIEGEL TV Zweiter Teil der Reportage mit bislang unveröffentlichtem Farbmaterial aus der Nazi-Zeit. Darunter Aufnahmen von einem Sommerlager der Hitlerjugend, Szenen aus dem Russlandfeldzug und von Rommels Afrikakorps, aber auch Bilder aus dem Warschauer Ghetto und von KZHäftlingen. MITTWOCH, 27. 10. PROZESSE Vor dem Bundesgerichtshof be- ginnt der Revisionsprozess gegen den letzten DDR-Staatschef Egon Krenz, der wegen Totschlags an DDR-Flüchtlingen zu einer Freiheitsstrafe von sechseinhalb Jahren verurteilt wurde. RÜSTUNG Das Verteidigungsministerium bestätigt, dass die Bundeswehr die Türkei beim Aufbau eines C-Waffen-Labors unterstützt. DONNERSTAG 22.10 – 23.00 UHR VOX STEUERN Banken sollen Kontrollmittei- Bunkerwelten lungen über Zinserträge ihrer Kunden ans Finanzamt senden, fordert SPD-Fraktionsvorsitzender Peter Struck. Auf persönlichen Befehl Hitlers sollten alle deutschen Städte mit ausreichenden Luftschutzanlagen ausgestattet werden. Nach dem Krieg ließ man die meisten Anlagen einfach stehen, ein Abriss war in der Regel zu teuer. Viele Bunker werden inzwischen neu genutzt: als Möbelhaus, Restaurant, Bürogebäude oder Aquarium. SPIEGEL TV ARMENIEN Der armenische Ministerpräsi- dent Wasgen Sarkisjan wird bei einem Anschlag im Parlament getötet. DONNERSTAG, 28. 10. EXTRA SAMSTAG 22.00 – 23.00 UHR VOX KULTUR Kanzler Schröder eröffnet in Hamburg die Ausstellung „Querbeet“ mit Bildern des verstorbenen Malers Horst Janssen. SPIEGEL TV SPECIAL People’s Century – Das Jahrhundert Die Herrenrasse Während des Manövers „Bright Star“ in der ägyptischen Wüste, an dem elf Staaten teilnahmen, überflogen amerikanische B-1Bomber die Pyramiden. Der Holocaust: vierter Teil der zehnteiligen Dokumentationsreihe. SONNTAG 22.10 – 23.25 UHR RTL SPIEGEL TV MAGAZIN REUTERS Herbstgeschichte – Das Ende der deutschen Teilung Als am Abend des 9. November 1989 der Schlagbaum des Berliner Grenzübergangs Bornholmer Straße geöffnet wurde, dokumentierte allein ein Kamerateam von SPIEGEL TV dieses historische Ereignis. Es war der Moment, an dem die Mauer fiel. Aus bisher zum Teil unveröffentlichten Originalmaterialien rekonstruieren Stefan Aust und Katrin Klocke den Herbst, der Geschichte machte. 285 Register DPA GALAZKA Leonard Boyle, 75. Für Scharen von Forschern war der hochgelehrte Dominikaner das gute Herz im ältesten Archiv der Welt: Als Präfekt der Vatikanischen Bibliothek arbeitete Boyle, ein kleiner verschmitzter Ire, seit 1984 an der Öffnung des päpstlichen Schatzhauses. Der Mittelalter-Kenner stellte Frauen ein, lockerte die Kleidungsregeln und ließ ein Café einrichten – ganz zu schweigen vom neuen elektronischen Katalog. Doch 1997 wurde Boyle rüde gefeuert: Der Verkauf von Bibliotheks-Bildrechten an dubiose USSpekulanten hatte die Kurie in Rechtshändel verwickelt, und der liberale Pater ohne Seilschaftsrückhalt war ein willkommener Sündenbock. Boyle wurde zwar von seinen Bibliothekaren weiterhin verehrt. Aber er setzte keinen Fuß mehr in den Vatikan und zog sich zurück. Leonard Boyle starb vergangenen Montag in Rom. Hoyt Axton, 61. Schon seine Mutter Mae Axton war im Pop-Geschäft. Mit Elvis Presley schrieb sie an dem legendären ,,Heartbreak Hotel“. Ihr eiferte der junge Barde Ende der fünfziger Jahre nach. Bald 286 d e r GALELLA / INTER-TOPICS Horst Krüger, 80. Er nannte sich einen Schriftsteller auf Reisen und war überzeugt davon, man fahre weg, „um sich näher zu kommen“. Das tat er mit Erfolg: Seine impressionistischen Beobachtungen und Reisebilder, gesammelt auf Fahrten bis in die hintersten Winkel von China, füllen mehr als 20 Bücher und machten ihn während der fünfziger und sechziger Jahre zu einem populären Autor. Daneben verfasste er literarische und politische Essays, Glossen, Skizzen, Reportagen und Städte-Features fürs Fernsehen. Krüger, geboren in Magdeburg, wuchs in Berlin auf. Sein vielleicht bekanntestes Buch „Das zerbrochene Haus. Eine Jugend in Deutschland“ erzählt die Geschichte seiner Familie während des Nationalsozialismus. Krankheiten hinderten ihn seit einigen Jahren am Weiterschreiben, er verstummte, offenbar ohne Groll. „Ich jedenfalls gehöre nicht mehr ins neue Jahrtausend. Ich danke. Es reicht mir“, sagte er einmal. Horst Krüger starb am 21. Oktober in Frankfurt am Main. schrieb er Hits für das Kingston Trio, für Joan Baez, Waylon Jennings, Linda Ronstadt – und schließlich auch für den ,,King“. Leichte Muse zumeist, doch nicht nur: Steppenwolfs ,,The Pusher“ und Ringo Starrs ,,No No Song“ sind Plädoyers gegen den Drogenmissbrauch. Als die Polizei 1997 bei ihm selbst Marihuana entdeckte, saß Axton, inzwischen auch Film- und Fernsehschauspieler, nach einem Schlaganfall im Rollstuhl. Obwohl er beteuerte, den Stoff nur als Schmerzmittel benutzt zu haben, wurde er zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Hoyt Axton starb vorigen Dienstag auf seiner Ranch in Montana an Herzversagen. Wasgen Sarkisjan, 40. Zu Sowjetzeiten Fußballtrainer und Propagandist, gründete er am Ende Kampfgruppen, die dem Nationalisten Ter-Petrosjan beistanden. Dieser wurde 1991 erster Präsident eines unabhängigen Armenien, bis Sarkisjan, nun Verteidigungsminister, ihn stürzte und sich mit dem Altgenossen Karen Demirtschjan verband, vormals Armeniens KP-Chef. Eine gemeinsame Liste „Einheit“ gewann die Wahlen im Mai, Sarkisjan wurde Premier und Demirtschjan, 67, Parlamentsvorsteher. Beide lehnten sich an Russland an – zum Zorn der Nationalisten, deren Daschnaksutjun-Partei nur noch acht Prozent der Stimmen gewonnen hatte. Ihr ehemaliges Mitglied Nairi Unanjan stürzte vorigen Mittwoch mit Kumpanen ins Parlament und erschoss Wasgen Sarkisjan, auch Karen Demirtschjan und sechs weitere Politiker kamen ums Leben. DPA Gestorben Ehrung Thomas Lehr, 41, aus Speyer stammender und in Berlin lebender Computerfachmann und Schriftsteller, erhält am 7. November auf Schloss Vollrads den mit 15 000 Mark und 111 Flaschen Rheinwein dotierten „Rheingau Literatur Preis“. Der Nachwuchsautor (SPIEGEL 41/1999) wird diese Auszeichnung für seinen neuesten Roman „Nabokovs Katze“ – eine ironische Hommage an die Frauen – entgegennehmen. Bereits für seinen Erstling „Zweiwasser oder Die Bibliothek der Gnade“ wurde ihm 1994 der „Maria-Cassens-Preis“ verliehen. s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Personalien Lord Irvine, 59, britischer Justizminister, REX FEATURES REX FEATURES will die Richter des Landes zu politisch korrektem Verhalten gegenüber Ausländern anhalten. Nach einer Serie von rassistischen Entgleisungen vor Gericht gab seine Behörde kürzlich einen Benimm-Leitfaden für Juristen heraus. Darin werden die Richter aufgefordert, Ausländer vor Beginn einer Verhandlung höflich zu fragen, wie man sie anredet und wie ihr Name ausgesprochen wird. Ausdrücke wie „Paki“ (für Pakistaner), „Orientale“ oder „Neger“ seien grundsätzlich unzulässig. Ferner erfahren die britischen Juristen Nachhilfe in kulturellen Besonderheiten. So sei der Konsum von „ganja“ – Irvine Cannabis – bei den aus Jamaika stammenden Rastafaris eine religiöse Tradition, eine Art „Sakrament“. Zudem kündigte Irvine – sicher ist sicher – weitere Benimm-Regeln an: für das korrekte Verhalten gegenüber „Behinderten, Frauen und Homosexuellen“. Iman Percy Ross, 82, amerikanischer Autor und 288 David Bowie, 52, Pop- PA / DPA gewagt hätte zu sagen oder Margaret ThatIdol aus Großbritannien cher.“ Iman, 44, reagiert („Heroes“), fühlt sich eng verbunden mit dem souveräner auf ihren britischen PremiermiVerehrer: Das somalische nister Tony Blair, 46. „Er Ex-Supermodel und der seit 19 Jahren verheiratewar Gitarrist in einer te Labour-Mann hatten Studenten-Rock-Gruppe, schon vor drei Jahren öfund ich habe phanta- Blair, Iman, Bowie fentlich einen heftigen siert, Premierminister zu sein“, so erzählte der Musiker der verbalen Flirt: Blairs Radio-Beichte, „Times“, offenbar auf Ebenbürtigkeit aus, Iman sei seine Traumfrau, bedachte die denn es galt, ein heikles Blair-Bekenntnis Schöne mit dem charmanten Eingeständaufzufangen. Bowie: „Er erklärte, dass nis: „Ich bin so verliebt in David. Aber er als Mann fasziniert ist von Iman, Tony Blair kann ich nicht widerstehen. meiner Frau, etwas, was John Major nie Er ist ein sehr gut aussehender Mann.“ AP Millionär aus Minneapolis, hat sich um sein komplettes Vermögen gebracht – freiwillig. In seiner Zeitungskolumne „Tausend Dank“ (sie erschien in insgesamt über 800 Publikationen, so in den „Daily News“, New York, und im „Indianapolis Star“) verschenkte er im Laufe von 17 Jahren über 30 Millionen Mark an seine Leser. Unterstützt wurde jeder, der Ross glaubhaft von seiner Not überzeugen konnte. So bezahlte er den Bau von Jugendheimen, bezuschusste Organtransplantations-Zentren und ließ sogar für eine 26-jährige Leserin Geld springen, die sich neue Zahnkronen wünschte. Etwa 10 000 Bettelbriefe erhielt er wöchentlich. Viele davon verwendete der Sohn armer sowjetischer Einwanderer, der sein Geld mit einer Kunststoff-Fabrik gemacht hatte, in den Kolumnen. In seinen letzten Zeilen bedankte Ross sich jetzt bei den Lesern: „Ich habe mein Ziel erreicht. Ich habe alles weggegeben. Trotzdem bin ich heute reicher als zuvor.“ Danach genoss er eine Kreuzfahrt im Mittelmeer – ein Geschenk seines Sohnes und der erste Urlaub seit 17 Jahren. Ross d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9 Joschka Fischer, 51, deutscher Außenminister, machte sich in Paris um besseres deutsch-französisches Verständnis verdient. Bei einem vom deutschen Botschafter Peter Hartmann in dessen Residenz „Palais Beauharnais“ gegebenen Essen mit Journalisten beider Nationen wurde der Grünenpolitiker um eine Erläuterung ersucht, warum sein Freund Daniel Cohn-Bendit es als Grüner in Deutschland nie zu nationalem Rang gebracht habe, während die Franzosen den „Vert“ neuer- dings wie eine Lichtgestalt feierten. Der „wirkliche Freund seit 1969“, so Fischer über Cohn-Bendit, sei halt kein Deutscher, sondern „ein Franzose mit deutschem Pass“. Dessen emotionale Heimat erläuterte Fischer sodann am Beispiel Fußball. Da sehe man, „wo Daniels Herz schlägt“: Wenn nämlich Frankreichs Tricolore-Elf kicke, sei der Dany „absolut unerträglich“. Schlachten wird aber nicht Landfrau Müller, sondern ein Fachmann übernehmen. FOTOS: J. WILLIAMS / BULLS PRESS ( li.); REX FEATURES ( re.) Kerry Packer, 61, australischer Medientycoon und Black-Jack-Fan, geht in die Geschichte der englischen Spielcasinos ein: Christa Müller, 43, Ehefrau von Oskar Lafontaine, offenbarte jüngst ungeahnte Talente: Vom Lamm bis zum Rindvieh kann die diplomierte Volkswirtin nach eige- Crockford’s Club nen Angaben alles fachgerecht zerlegen. Zusammen mit ihrem Mann habe sie sogar schon eine große Wildsau abgeschwartet, das Tier anschließend waidmännisch zerwirkt und in Filets und Braten zerteilt. Diese Fähigkeiten werden ihr sicher zugute kommen, wenn der Bauernhof gefunden ist, auf dem sie und ihr SPD-Pensionär nach ökologischen Grundsätzen wirtschaften wollen. Eine Muttertierherde mit Angus-Rindern soll dann angeschafft werden und Vogelvieh für Söhnchen Carl-Maurice. Das Packer BECKER & BREDEL / ACTION PRESS Der notorische Gambler verspielte im Crockford’s Club im vornehmen Londoner Stadtteil Mayfair 33 Millionen Mark. Damit ist Packer auf der Insel absoluter Rekordverlierer. Der reichste Mann Australiens, der schon acht Herzattacken überlebt hat, nahm es gelassen: Sein Vermögen wird auf 4,5 Milliarden Mark geschätzt. Und Pleiten stehen bei Packers Streifzügen durch die Spiel-Paläste von London bis Las Vegas eher selten auf dem Programm. In Nevada konnte er vor zwei Jahren 39 Millionen Mark in einer Nacht einstreichen. Zocken hat bei Packers zudem Familientradition: Sein tasmanischer Großvater fand einst eine 10-Shilling-Note auf der Straße, setzte sie auf ein Pferd und gewann so das Geld für die Überfahrt aufs australische Festland. Dort schuf der Gelegenheitsjournalist das große australische Medien-Imperium – ein solider Grundstein für die Spielleidenschaft seines Enkels. Rudolf Dreßler, 58, SPD-Sozialexperte, und seine Familie sorgen bei gemeinsamen Ferienreisen für Konfusion an der Hotelrezeption. Sein Schwiegersohn Michael heißt mit Nachnamen Müller, genauso wie Rudolf Dreßlers frisch gebackene dritte Ehefrau Doris, 39, die vom neuen Namensrecht Gebrauch machte. Dresslers Tochter Simone, 37, hat ebenfalls ihren Mädchennamen behalten und trägt sich mit Dreßler ein. „Weil nicht Dreßler mit Dreßler und Müller mit Müller aufs Zimmer gehen, gucken die Leute manchmal ganz komisch“, amüsiert sich der SPD-Mann. Auch die jüngsten Familienmitglieder sorgen für Verwirrung. „Mama, mein Onkel hat mich gehauen“, beschwerte sich kürzlich Dreßlers Enkeltochter Ana-Luca, 5, und meinte damit dessen jüngsten Sohn Tim, 3 Jahre alt. Müller, Sohn 289 Hohlspiegel Rückspiegel Zitate Aus der „Ostfriesen Zeitung“ Aus der „Rhein-Zeitung“: „Hans Hölzel alias Falco, Österreichs international erfolgreichster Popstar, soll zwei Jahre nach seinem Tod als Mittelpunkt einer MusicalShow ins Rampenlicht zurückkehren.“ Aus einem Schreiben der „Haspa“, Hamburger Sparkasse, an einen Kunden: „Die übrigen Veränderungen bleiben unverändert.“ Aus dem „Aschaffenburger Anzeiger“ Aus der Zahnärztezeitschrift „DZW“ Aus der „Rhein-Zeitung“ Aus der „Rheinischen Post“: „Die Malerin beschäftigt sich seit fast 30 Jahren mit der Verschandelung der Umwelt. Sie studierte an der Folkwangschule für Gestaltung in Essen und an der Düsseldorfer Kunstakademie.“ Der „Tagesspiegel“ über die erste Ausgabe von „SPIEGELreporter – Monatsmagazin für Reportage, Essay, Interview“: Der SPIEGEL steht hinter SPIEGELreporter … Gleicher Herausgeber, gleicher Chefredakteur, gleiche Redaktion, gleiche Adresse, ein legitimes Kind des SPIEGEL. Das lässt hoffen und alle Wohlmeinenden können das nur begrüßen. Nach all dem Schrott an Neuerscheinungen, dem journalistischen Vorwand, der auf Anzeigen schielt, nach all den Diät-, Frisur,- Porno-, Fitness-, Fun-, Lifestyle-Publikationen endlich mal wieder ein seriöser Versuch, Leser zu informieren, zu begeistern statt Anzeigenkunden gefällig zu sein … Berichten, was kommt und bleibt, so die redaktionelle Formel von Stefan Aust, dem Kopf des Unternehmens. Mit ihm denken 15 SPIEGEL-Redakteure, die, integriert in der Stamm-Redaktion, das Blatt machen. Ein gutes Blatt. Die Reportagen laufen nicht im Mainstream, sondern beschreiben die Ränder … Ein nachdenkliches, ein anspruchsvolles Programm. Kann das die erhoffte Auflage von 120 000 Exemplaren erreichen? Schwer zu sagen, aber entschieden zu hoffen. Und wenn nicht? Da sollten die Verantwortlichen für das Gesamte (Herausgeber, Chefredakteur, Geschäftsführung) sich auch an Übergeordnetes erinnern und die Entscheidung nicht Spartenleitern (Controller) überlassen. Auch Buchverleger schleppen Wichtiges, Wertvolles mit, was Erfolgreiche (Bestseller) finanzieren. Der SPIEGEL ist mehr als ein Wirtschaftsunternehmen. Er ist eine Bastion für guten Journalismus. Die „Berliner Zeitung“: Die Qualität, die die Stars des Verlags abliefern, ist überwiegend beeindruckend. Das gilt für Cordt Schnibbens Reportage aus einem bolivianischen Gefängnis ohne Wärter sowie Uwe Buses Beitrag über „Die Zukunft des Krieges“ … Schwächen lassen sich verschmerzen, denn den anderen deutschen General-Interest-Zeitschriften ist SPIEGELreporter schon mit der ersten Ausgabe um Lichtjahre voraus. Die „Süddeutsche Zeitung“: Aus der „Ärzte-Zeitung“ Aus „Bild am Sonntag“ 290 Wie ist eine Zeitschrift, die unter anderem von 13 Reportern gemacht wird, die mit dem Kisch-Preis ausgezeichnet wurden? Klar: Sie enthält wunderbare Reportagen. Echte Reportagen, keine Berichte mit atmosphärischen Einsprengseln. Klassische Reportagen, die ein Thema durch den Blick des Reporters erkunden – und nicht den Blick auf den Reporter lenken, wie es modern ist. d e r s p i e g e l 4 4 / 1 9 9 9