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Bernhard Günther Press the Difference Button Bernhard Langs «DW8» für Orchesterloops und zwei Turntable-Solisten Side 1: «Restructuring» (dieb13, charhizma, 1999) Wir sind späte Musiker. Eine ungeheure Vergangenheit ist in uns vererbt. Unser Gedächtniß citirt beständig. Wir dürfen unter uns auf eine fast gelehrte Weise anspielen: wir verstehen uns schon. Auch unsere Zuhörer lieben es, daß wir anspielen: es schmeichelt ihnen, sie fühlen sich dabei gelehrt. (Friedrich Nietzsche) Drücken Sie vor oder während der Wiedergabe die Wiederholungstaste (Repeat). Ein einzelner Titel, ein einzelnes Album (nur MP3) oder alle Titel können wiederholt werden. Für die einzelnen Wiederholungsmodi drücken Sie bitte die folgenden Tastenkombinationen: (1) Wiederholen 1 (2) Alle Wiederholen (3) Wiederholung aus. (SHE-MA 388P BD 302) Am Anfang der instrumentalen Loops, Schleifen, Cuts und Sprünge in den bislang 21 Stücken der Serie Differenz/ Wiederholung, die Bernhard Lang seit 1998 komponiert hat, stand jenes Musikinstrument, das quasi das Urbild zyklischer Form verkörpert: der Plattenspieler. 1877 der Phonograph, 1888 das Grammophon, ab 1925 elektrische Plattenspieler mit Lautsprecher, ab 1948 LPs, ab 1969 die ersten Technics DJ-Plattenspieler, ab 1974 Hiphop Sound Systems – das Rotationsprinzip bildet die technische Basis der musikalischen Kunstform von «Mix, Cuts & Scratches» (Westbam). Loops in der Endlosrille: 1995 kam der experimentelle Turntablist Philip Jeck zum Grazer musikprotokoll im steirischen herbst. Aus dem Versuch, die Loops, Rhythmen und Klänge, die dieser der Spur im Vinyl entlockte, schriftlich auf Notenpapier zu transkribieren, entstand 1998 Bernhard Langs Differenz/Wiederholung 1 für Flöte, Violoncello und Klavier. 2002 lagen beim Wiener Projekt «Black Friday» erstmals Vinylpressungen von Stücken Bernhard Langs auf dem Plattenteller bei Turntable-Performances (mit dieb13, Christof Kurzmann, Christian Fennesz u. a.). Beim SWR New Jazz Meeting 2002 landeten Langs Transkriptionen von Philip Jecks Turntable-Performances (DW1.2, gespielt von Flöte, Tenorsaxophon und Klavier und auf Vinyl gepresst) wiederum auf Philip Jecks Plattenteller. Gemeinsam mit Steve Lacey, Peter Herbert und anderen Musikern entstanden hier großflächige Improvisationen, die Bernhard Lang für Orchester transkribierte (DW11). Eine Orchestereinspielung von DW11 dient wiederum, auf Vinyl, als Material für die Turntablisten in DW8, der knapp 30 Minuten dauernden Komposition, in der Orchester und Turntables 2003 endlich gemeinsam auf der Bühne stehen. Eine Kette von Transkriptionen als Simulation des Originals, der schließlich der Remix, die Beimischung des «originalen» Originals, folgt. Das Spiel mit dem Archiv als Grundprinzip des Plattenspielers prägt sowohl das Material als auch die Form von DW8. Was als Aufnahme existiert, gilt als verfügbar. «Der Orchesterklang als riesiges Sample» (Bernhard Lang): Strawinsky, Debussy, Lachenmann tauchen wie ein Déjà-vu, wie eine kurz angespielte Platte in der Orchesterpartitur von DW8 auf. Die Folge dieses «Zappens» durch das universale Archiv der Orchestergeschichte ist der Verzicht auf Entwicklung: Blöcke, Samples, Loops sind aneinandergereiht wie wechselnde Platten auf dem Plattenteller, als könnte es ewig so weitergehen. Fast, heißt das; denn im Unterschied zu DW11 kehrt DW8 am Ende wieder zum Material des Anfangs zurück. Und natürlich, wie in einem DJ-Set, steht hinter der Reihenfolge der Platten eine gestaltende Überlegung, eine Formarchitektur, die bei DW8 allerdings weder mit den dramaturgischen Gesetzmäßigkeiten des Dancefloors noch mit denen der Orchesterliteratur auf einen Nenner zu bringen ist. Side 2: «Loopholes» (Philip Jeck, Touch Records, 1995) Orchester benötigen Dirigenten unter anderem als laufende Taktgeber im Zeitbereich. Eine Schallplatte braucht keinen Taktgeber, aber einen DJ, der Geschwindigkeiten, wie zum Beispiel zwei Beats, einander angleicht. Er agiert immer gleichzeitig im Zeit- und Frequenzbereich. Er kann nicht anders. Das ist ein wesentlicher Grund, warum die elaborierte Harmonik alteuropäischer Musik auf wenige Muster implodiert ist, die zudem eher Zeit als Frequenz strukturieren. Stattdessen ergibt sich auf dem Feld der Rhythmik ein breites Feld von Differenzierungen. Die Namen von Musikstücken sagen es. Sowenig es eine Symphonie in 130 bpm gibt, sowenig einen Techno-Track in D-Dur. (Stefan Heidenreich) ARCHIV WIEN MODERN | © WIEN MODERN | WWW.WIENMODERN.AT Das Prinzip Schallplatte: Vinyl, das in heißen, zähen Tropfen zwischen zwei minutiös gerillte Formen gepresst wird und zur schwarzen Scheibe erstarrt. Ein analoges, sehr haptisches, «greifbares» Speichermedium, das bei 33 1/3 Umdrehungen pro Minute 1,8 Sekunden braucht, um einmal um die eigene Achse zu rotieren. Fläche, Form und Geschwindigkeit sind bestens geeignet für direkte Manipulationen beim Abspielvorgang – etwas Druck, etwas Schwung, schon ändert sich die Rotationsgeschwindigkeit: «Ein Turntable vermittelt beim Spielen eine starke Körperlichkeit.» (Bernhard Lang) «Die auf den ersten Blick sehr primitiv erscheinende Reduktion der Processing-Mittel des Turntable ist etwas sehr Reizvolles: Geschwindigkeit und Tonhöhe sind zwangsweise miteinander verkoppelt; du kannst den Lesepunkt verändern, sprunghaft, durch Scratchen oder wie auch immer; du kannst an deinen Turntable die gesamten Effektgeräte von Jimi Hendrix anschließen; aber es bleibt doch immer eine sehr limitierte Arbeitsweise. Bereits einzelne Passagen rückwärtslaufen zu lassen, ist relativ schwer. Und diese Beschränkung der Möglichkeiten im Vergleich zu einem computergesteuerten Synthesizer ist das, was das Arbeiten mit dem Turntable künstlerisch reizvoll macht. Wie auch bei Martin Arnold, der, statt der Explosion der digitalen Mittel zu folgen, nur mit Copy und Paste arbeitet: eine methodische Reduktion, wie sie bei Husserl im Buche steht. Durch die Enge der Mittel entsteht etwas Neues. Während die Laptop-Technik durch die unendliche Vielfalt der Möglichkeiten irgendwann ausgereizt war, weil einem die Massen-Elektronik plötzlich völlig egal war, inszeniert sich der Turntablismus bewusst Retro, Low-Fi und haptisch.» (Bernhard Lang) «Plus Minus Acht» (Hans Nieswandt), die Regelung von Geschwindigkeit und Tonhöhe, ist eine der Spielregeln für das Prinzip Schallplatte. Was langsamer wird, wird auch tiefer; was schneller wird, wird höher. Wenn die Drehgeschwindigkeit beim Abbremsen des Plattentellers gegen null geht, sinkt auch die Tonhöhe gegen null. Diese dem Turntable eingebauten Prinzipien finden sich im Orchestersatz von DW8 als Spielanweisung für «das Orchester als Maschine» (Bernhard Lang) wieder. Side 3: «Drop, Hop, Drone, Scratch, Slide & A for Anything» 1999) (Marina Rosenfeld/the sheer frost orchestra, charhizma, Mint (M) – Absolutely perfect in every way. Certainly never been played, possibly even still sealed. Near Mint (NM or M–) – The record should show no obvious signs of wear. Very Good Plus (VG+) Record surfaces may show some signs of wear and may have slight scuffs or very light scratches that don’t affect one’s listening experiences. Slight warps that do not affect the sound are OK. Very Good (VG) – Surface noise will be evident upon playing, especially in soft passages and during a song’s intro and fade, but will not overpower the music otherwise. Groove wear will start to be noticeable, as with light scratches (deep enough to feel with a fingernail) that will affect the sound. Good (G), Good Plus (G+) – The record can be put onto a turntable and will play through without skipping. But it will have significant surface noise and scratches and visible groove wear. Poor (P), Fair (F) – The record is cracked, badly warped, and won’t play through without skipping or repeating. (Goldmine Magazine/Record Collectors Guild: Records Grading System [gekürzt]) Überspannung des Gedächtnisses – sehr gewöhnlich bei Philologen, geringere Entwicklung des Urtheils. (Friedrich Nietzsche) Ein professionelles Orchester ist unter den analog-instrumentalen Klangerzeugern das, was edles «High End» unter den Plattenspielern ist. In DW8 erfährt dieser über Jahrhunderte hinweg perfektionierte audiophile Klangkörper die raue Behandlung, die Turntablisten und Elekronik-Musiker ihren Schallplatten und Instrumenten zumuten. Philip Jeck schließt Rillen auf der Platte mit Klebeetiketten, um Loops zu fixieren; dieb13 versiegelt zuweilen ganze LP-Seiten flächendeckend mit Kreppband oder legt einfach Bilder auf den Plattenteller; Sachiko M entlockt beschädigten Samplern Testtöne; in Marina Rosenfelds «sheer frost orchestra» traktieren 17 Musikerinnen E-Gitarren mit Nagellack-Fläschchen; Hanna Hartman zaubert subtile Sounds mithilfe von Brausepulver und Pick-up-Mikrophonen; Oval forciert mit bemalten CDs das Springen von CD-Playern. Manipulation über die von der Gebrauchsanweisung gesetzten Grenzen hinweg, Störfaktoren, Kontrollverlust und unerwünschte Artefakte bilden eine der Grundzutaten elektronischer Musik. Das Speichermedium Schallplatte scheint in besonderem Maße nach paradoxem Gebrauch zu verlangen: Auf der einen Seite steht der Sammler, dessen Platte nur dann den vollen Wert behält, wenn sie nie abgespielt wird; auf der anderen Seite der Turntablist, dessen Platte sich erst von der normalen Abspielbarkeit verabschieden muss, um von musikalischem Nutzen zu sein. Das Vinyl in den Händen des Turntablisten nimmt Spuren verschiedenster Prozesse in sich auf, vom Hightech der Aufnahme und Pressung bis zum Lowtech des Zerkratzens, Verklebens, Schleifens, Zer- brechens. Die Nadel des Plattenspielers folgt allen Spuren mit gleicher Detailtreue (auch Kreppband klingt komplex). Vinyl ist eine handliche Metapher für das Gedächtnis: Neue Handlungen verwischen die Spuren der vorausgegangenen; der Träger der Erinnerung prägt die Wahrnehmung des Erinnerten. Side 4: «Instrument» (Fennesz, mego, 1995) Es gibt kein anderes Instrument, kein anderes Formgefüge, das dem Orchester als einem Organismus für die Wiedergabe gemeinsamer Gedanken, gemeinsamer Gefühle, gemeinsamer Tendenzen und gemeinsamer Ziele gleichkam. Keine andere Formorganisation spiegelte alle diese Bewegungen so direkt wie das Orchester; denn sein Wesen gründete sich auf die menschliche Gemeinschaft und seine Gesetze wurden durch jede Bewegung der menschlichen Gemeinschaft bestimmt. (Paul Bekker) There are two stages to musique concrète: first, isolating sounds, giving a new beginning and a new end to something that already exists; and secondly, expanding, transforming and transposing them in the recording studio. (Pierre Henry/Rahma Khazam) Record Art ist, kurz gesagt, ein Komponieren neuer Stücke anhand vorhandener Platten. […] Die Methoden der Record Art sind: das Mixen (Übereinander-laufen-Lassen von Platten), das Cutten (Aneinanderschneiden von Platten) und, nicht zuletzt, das berühmt-berüchtigte ‹‹Scratchen›› (das sich allerdings einer kurzen, griffigen Definition sperrt): Keineswegs ist es nur das rhythmische Hin- und Herwackeln, zu dem es von seinen ignoranten Kritikern gemacht und von deutschen Dilettanten Discjockeys zugerichtet wurde […]. (Westbam/Rainald Goetz) Das Orchester in DW8 spielt quasi durch die physische Schicht des Vinyls «hindurch»: Zu Anfang erklingt eine vom Orchester gespielte Transkription einer Aufnahme von Philip Jeck – allerdings auf dem Umweg der Vinyl-Pressung, vom Turntable gespielt von Marina Rosenfeld, bevor das Orchester mit demselben Loop einsetzt und die TurntableEbene verdoppelt, diesmal live gespielt – aber mit allen Artefakten des Vinyls angereichert: Philip Jecks verkratzte Loops mit manipulierten Schallplatten bilden die Basis für die Partitur; vinylartiges Rauschen und Schleifen kommt von den Luftgeräuschen der Trompeten, Knackser liefern die Percussion-Instrumente. Die Abstimmung der Beschallung im Saal soll dazu beitragen, dass Orchester und Turntables wie gleichberechtigte Partner auftreten, ja teilweise nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind. Ist dieses rhythmische Knacksen, dieser Loop, jetzt eine Orchesteraufnahme, abgespielt auf einem Technics SL1200, oder eine vom Orchester gespielte Transkription einer TurntablePerformance? Ein Vexierspiel. Die Begegnung der Instrumente Orchester und Plattenspieler in DW8 führt zu seltsamen Schleifen in den Bedeutungsebenen. Das Wechselspiel von Solist und Orchester wird einerseits ironisiert durch die Verdoppelung des Materials – die Anverwandlung, die dem Plattenspieler als Simulationsmaschine innewohnt (man denke an das Klavier als vermeintlich «neutrales» Soloinstrument), zwingt das Orchester als gewohntermaßen konkurrenzloses Bühnenereignis in die Reflexion. Selten ergänzen sich die Traditionszusammenhänge des Orchesters und des Turntables zu einem von beiden Seiten besehenen schlüssigen Ganzen: «Kadenzen» der Turntables nehmen die Improvisationskunst wieder so ernst, wie es zuletzt in den virtuosen Einlagen klassischer Solokonzerte der Fall war – hier befinden sich sowohl die Turntablisten als auch die Gattung des Orchesterkonzerts in ihrem Element. Doch meistens stehen sich der spontan improvisierende, spielerische, mit dem Underground konnotierte Kontext des Turntablisten und «das Orchester als grundsätzlich humorloser Ort, als alte Machtstruktur in hierarchischer, fast heeresähnlicher Ordnung» (Bernhard Lang) gegenüber. Die Begegnung des Orchesters mit der Lowtech-Maschine Turntable führt stellenweise, wie in der filmtechnischen Zerlegung sentimentaler Hollywood-Melodramen bei Martin Arnold, zu blanker Komik: Die pathetische Geste des großen Apparats bleibt durch die Kratzer und Staubflecken des kleinen Apparats «hängen», kommt, buchstäblich, nicht vom Fleck, «säuft ab» – «ein lockeres Spiel mit dem Material, das seine Schwere verliert» (Bernhard Lang). Doch sollte das nicht als «Underground vs. Hochkultur» missverstanden werden: «Die beiden verstehen sich wunderbar. Eric M spielt längst in der Cité de la Musique mit dem Ensemble intercontemporain. Meine Arbeit ist auch ein Teil der jahrelangen Entwicklung, ‹‹Untergrundkultur›› in die ‹‹Höchstkultur›› zu integrieren. Anregungen aus der ‹‹Kellerszene›› beeinflussen den bürgerlichen Konzertsaal, in spielerischer Form. Eine Kultur des Anti-Establishment ist in der Musikszene heutzutage fast nicht mehr vorhanden.» (Bernhard Lang) Ein Wort zur Unterscheidung von «DJ» und «Turntablist»: Während die «Break Beats» von Grandmaster Flash, die «Broken Beats» von DJs wie Carl Craig letztlich immer tanzbarer Teil eines großen Spannungsbogens für den Dance- floor sind, stehen die «Damaged Beats» (Bernhard Lang) von Turntablisten wie Philip Jeck fast ausschließlich im Kontext der experimentellen Avantgarde der Improvisationsmusik, sind dekonstruktivistische Überreste oder Nebenprodukte eines Beats, der nicht im Mittelpunkt des Interesses steht. «Der Turntablist ist in etwa die FrankensteinVersion des DJ, ironisiert, Post-Techno, Post-Hiphop, postindustriell.» (Bernhard Lang) So gesehen ist das durch das zerkratzte Vinyl des Turntablisten gefilterte Orchester in DW8 ein post-orchestrales Instrument. Bernhard Günther: Press the Difference Button. Bernhard Langs «DW8» für Orchesterloops und zwei Turntable-Solisten, in: Katalog Wien Modern 2006, hrsg. von Berno Odo Polzer und Thomas Schäfer, Saarbrücken: Pfau 2006, S. 83-85.