Gutrufs Inszenierungen des Kolosseums

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Gutrufs Inszenierungen des Kolosseums
Gutrufs Inszenierungen des Kolosseums
Gutrufs Inszenierungen des Kolosseums
Das Italienische Kulturinstitut in Wien ist der ideale Ort, um die beeindruckenden
Ergebnisse der jahrzehntelangen Beschäftigung Gerhard Gutrufs mit dem Kolosseum in
Rom in einer umfassenden Ausstellung zu präsentieren und den Zusammenhang von
Kunst, Geschichte und Archäologie sichtbar zu machen. Von Philipp Maurer
Seit Beginn der 1970er Jahre, als Gerhard Gutruf als Absolvent der Wiener Akademie das
Romstipendium erhalten hat, ist er von diesem Wahrzeichen Roms fasziniert (s. auch Um:Druck
Nr.21/12, S.12). Das Kolosseum, im Jahr 80 n.Chr. fertiggestellt, ist bis heute ein Symbol der majestas
Romae, das in jedem Jahr von ungefähr sechs Millionen Touristen besucht, besichtigt und fotografiert
wird. Auch Gutruf reist immer wieder nach Rom und reiht sich in den Strom der TouristInnen ein.
Die aquarellierten, in Öl gemalten und in Linol geschnittenen und mit Sieb gedruckten Paraphrasen,
die Gutruf als Hommagen an das Kolosseum versteht, sind eine Konstante in seinem Werk, denn das
Kolosseum, für Gutruf die „Verkörperung Roms, großartig und furchterregend“, hat, wie der
Kunsthistoriker Dr. Karl Rudolf, ehemaliger Direktor des Österreichischen Historischen Instituts in
Madrid, bei der Eröffnungsrede anmerkte, „sich aller Sinne Gutrufs bemächtigt“. In Zeichnungen,
Druckgraphiken und Gemälden erforscht Gutruf das Gebäude, seine Geschichte und Gegenwart und
vor allem seine künstlerische, nur subjektiv zu erlebende Aura, die es zum einzigartigen Erlebnis und
zum Ort der Bewunderung macht.
Johann Wolfgang Goethe notierte im Tagebuch seiner italienischen Reise unter dem 11. November
1786: „Abends kamen wir ans Coliseo, da es schon dämmrig war. Wenn man das ansieht, scheint
wieder alles andre klein, es ist so groß, daß man das Bild nicht in der Seele behalten kann; man
erinnert sich dessen nur kleiner wieder, und kehrt man dahin zurück, kommt es einem aufs neue
größer vor.“ (J.W.Goethe: Italienische Reise, 11. November 1786, in: Hamburger Ausgabe, Bd.11.,
S.135)
Die Bewunderung für das Kolosseum und der permanente Versuch, seine künstlerische Aura im Werk
festzuhalten, gemahnt dank der emotionalen und ikonographischen Eigenschaften der Bilder
durchaus an Besessenheit oder gar an Anbetung, die mit der intensiven Auseinandersetzung
Cézannes mit seinem Mont St. Victoire durchaus zu vergleichen ist. Ähnliche Intensität in der
Beschäftigung mit seinen Motiven entwickelt Gutruf in seinen Paraphrasen zu Vermeers „Allegorie der
Malerei“ und in seinen „Kleinen Variationen nach großen Meistern“, (s. auch Um:Druck Nr.19/12, S.17
f.) den bisher etwa 100 kleinformatigen Linolschnitten nach weltberühmten oder auch fast
unbekannten Meisterwerken der Malereigeschichte, die er bearbeitet im Sinne der Aneignung und
Anverwandlung des kulturellen Erbes und in seine eigenen Bilder übersetzt.
Das römische Amphitheater, das amphitheatrum flavium, wurde im 1. nachchristlichen Jahrhundert
unter Kaiser Vespasian erbaut und war bis zum Ende des 5. Jahrhunderts als Veranstaltungsort für
Gladiatorenkämpfe, Tierhetzen, Hinrichtungen, nachgespielte Schlachten und andere Unterhaltungen
römischer Art in Verwendung. Ab dem 4. Jahrhundert wurde der Name Kolosseum gebräuchlich, weil
neben dem Amphitheater eine Kolossalstatue Kaiser Neros aufgestellt war. Bereits ab dem 6.
Jahrhundert galt das Kolosseum als Inbegriff vergangener römischer Macht, Baukunst und Kultur. Der
Historiker Beda Venerabilis prägte schon im 6. Jahrhundert das Wort, dass, solange das Kolosseum
stehe, auch Rom stehe, falle aber das Kolosseum, falle Rom und damit die Welt.
Seit dem 16. Jahrhundert wird das Kolosseum wissenschaftlich erforscht, und seit dieser Zeit werden
Bilder vom Kolosseum gemalt, vor allem aber in Holz geschnitten oder in Kupfer gestochen, um das
Bedürfnis der Reisenden nach Souvenirs zu befriedigen. Denn das Kolosseum bildete im 17. und 18.
Jahrhundert einen der Höhepunkte der Grand Voyage, auf der sich Adelige und gehobene
Bürgersöhne ein aktuelles Bild von Europa und seinem kulturellen Erbe verschafften. Einen
Höhepunkt der Inbesitznahme des kulturellen Erbes bedeutet das druckgraphische Werk von Giovanni
Battista Piranesi (1720 – 1778). Piranesi war Archäologe, Druckgraphiker, Verleger und Händler in
Personalunion (vgl. Um:Druck Nr. 7/08, S.17). Es gibt mehrere Ansichten des Kolosseums aus
Piranesis Werkstatt, womit die große Bedeutung des Bauwerkes und der Respekt, ja sogar Verehrung,
die ihm vom internationalen Reise- und Sammlerpublikum entgegengebracht wurde, sichtbar werden.
Durch die sehr dezent eingesetzten, aber höchst wirkungsvollen bildnerischen Mittel Piranesis, vor
allem die Weitwinkelperspektive und die nicht maßstabgetreu, sondern stark verkleinert dargestellten
Menschen auf seinen Bildern wirken die römischen Ruinen noch imposanter und das Kolosseum im
Besonderen noch höher, breiter, kolossaler. Piranesi setzt damit Goethes Erfahrung ins Bild.
Gerhard Gutruf befreit in seinen Bildern das Kolosseum aus seiner urbanen Umgebung, zeigt es quasi
alleinstehend im All, erhoben zu zeitloser Bedeutung und Würde. Wie Piranesi steigert Gutruf die
Wirkung des Gebäudes durch bildkünstlerische Mittel, indem er in kubistischer Manier mehrere
Perspektiven auf einem Blatt zusammenzufasst. Besondere Wirkungen erzielt Gutruf, indem er seine
Linolschnitte (teilweise übertragen als Siebdrucke) auf 200 x 300 cm große Holztafeln mit
aufgeklebtem Büttenpapier neben- und übereinander druckt und so die Wiederholung des Bildmotivs
als kultische Qualität sichtbar macht, und dann, quasi als Steigerung des optischen Spektakels,
dasselbe Motiv, aufs Fünf- oder Sechsfache vergrößert, darüber malt. Gerade in der Vervielfältigung
erweist sich die Einmaligkeit des Kolosseums! Wie Warhol formulierte, als er Abbildungen der Mona
Lisa als Siebdrucke auf ein Blatt nebeneinander druckte: „Thirty are better than one.“
Paul Rotterdam, New York, über Gerhard Gutrufs Architekturparaphrasen: „Von stilistisch besonderer
Eindringlichkeit sind Gutrufs Linolschnitte mit architektonischen Themen wie Kolosseum und San
Pietro. Trotz der Stärke des Sachinhaltes steht der Entwurf ganz im Zeichen der Abstraktion. Unser
Auge folgt der Bewegung schwungvoller Linien, die im Rhythmus barocker Musik wie Notationen einer
höheren Ordnung dem bildnerischen Raum sein Leben geben. Das dargestellte Motiv erhebt sich ganz
langsam aus der Schönheit des abstrakten Geheges, nur um wieder langsam in ihm zu versinken, wie
in einem Traum. Dieses Vorwärts und Zurück der Erscheinung breitet sich wie in den Strophen eines
bildnerischen Gedichtes besonders in jenen Blättern aus, in denen das gleiche Motiv sich in einer
Anzahl von Betrachtungen findet, als wäre es das Zentrum der Welt, von Zelle zu Zelle, in einer
Utopie der Verwandlung ohne Veränderung.“
Die druckgraphischen Techniken ermöglichen es Gutruf, in seinem Kunstwerk den Charakter des
abgebildeten Werkes auch in seiner Historizität und in seiner heute massenmedial und touristisch
vervielfältigten Form verstehbar zu machen, indem er die Möglichkeiten des Nacheinander- und
Übereinanderdruckens nützt. Dazu der Kunsthistoriker Heribert Hutter: „Nun aber variiert und
bereichert er aber diese Bildmotive dank der spezifischen Möglichkeiten der grafischen Techniken, die
er jeweils einzeln und in Überlagerung einsetzt. Zunächst bilden auf einem Blatt jeweils neun
Siebdrucke eines Motivs ein eigenes rhythmisches Liniennetz; ihre wiederholte Anordnung ergibt ein
dekoratives System. Das gleiche Thema wird auch, formal fast identisch, als großformatiger
Linolschnitt ausgeführt, und dieser wird schließlich über das Blatt mit den Siebdrucken gelegt. Diese
verschiedenen Druckelemente steigern einander zu einem komplexen Gefüge, dessen lineare
Parallelismen völlig neue Zusammenhänge bloßlegen. So erreicht der Einblick in die Substruktionen
des Kolosseums, Carceri gleichend, ungewöhnliche strukturelle Transparenz und expressive
Eindringlichkeit.“
Gerhard Gutruf verbindet seine Kunst und deren Präsentation gerne mit wissenschaftlichen
Forschungen und Erkenntnissen. Im Italienischen Kulturinstitut berichtete der Archäologe Prof. Dr.
Heinz-Jürgen Beste, Leiter des Deutschen Archäologischen Institus in Rom, neuere Erkenntnisse über
die seltsam anmutenden unterirdischen Baukons-truktionen unter dem Bühnenboden im Innenraum
des Kolosseums. Die unterirdischen Mauern bilden enge Gänge und weisen Vertiefungen auf, die wie
Führungsschienen für Gleise oder Halterungen für Trennbretter wirken. Tatsächlich dienten diese
Vertiefungen als Führungsschienen für Aufzüge, die mittels Seilwinden, von Menschenkraft betrieben,
Kulissen, Akteure und Tiere aus dem Keller auf den Bühnenboden der Arena hievten. Und die
schrägen Vertiefungen waren Auflagen für einzelne Elemente des Bühnenbodens, die abgeklappt
werden konnten und über die Menschen und/oder Tiere aus den Aufzügen auf die Oberfläche
marschierten oder sprangen. Man stelle sich vor: welch Inszenierung! Im Sand, der den Bretterboden
bedeckte, entsteht plötzlich ein schwarzes Loch und daraus stürzen die Akteure hervor! Ein echtes
Spektakel, unter freiem Himmel und in südlicher Sonne vermutlich noch beeindruckender als die
barocken Inszenierungen des Jesuitentheaters oder die heutigen Videoeinspielungen! Dieses
Beeindruckende, wegen seiner Brutalität der Aktion Furchterregende meint Gutruf mit seinen Bildern,
das stellt er gleichwertig neben die ästhetische Schönheit.
Die Ausstellung „Gerhard Gutruf, Kolosseum“ ist im Italienischen Kulturinstitut vom 26. September bis
29. November 2013 zu sehen (Veranstaltungskalender S.30).
Aus: Um:Druck – Zeitschrift für Druckgraphik und visuelle Kultur. Nummer 24, Oktober 2013, S. 8f.
Giovanni Battista Piranesi:
Veduta dell‘Anfiteatro Flavio,
detto il Colosseo. Aus: Vedute di
Roma, Radierung, 405 x 685 mm
Giovanni Battista Piranesi:
Giovanni Battista Piranesi:
Veduta dell‘interno
Veduta dell‘Anfiteatro Flavio,
dell‘Anfiteatro Flavio, detto il detto il Colosseo. Aus: Vedute di
Colosseo. Aus: Vedute di Roma, Roma, Radierung, 491 x 715 mm
Radierung, 450 x 695 mm
Gerhard Gutruf: La
Gerhard Gutruf: Visitate il nostro
Rappresentazione del Colosseo.
Gerhard Gutruf: Colosseum von
Colosseo. 2002, Linoldruck, 55 x
2013, Acryl und Öl über Linol- u.
oben. 1992, Linoldruck, 55 x 80
80 cm
Siebdruck, Papier auf Holz, 199 x
cm
281 cm
Gerhard Gutruf: Kolosseum.
Linolschnirr, 55 x 80 cm