pdf des Bandes - Historisches Kolleg

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pdf des Bandes - Historisches Kolleg
Schriften des Historischen Kollegs
Herausgegeben
von der
Stiftung Historisches Kolleg
K olloquien
14
R. Oldenbourg Verlag M ünchen 1989
Deutsche Geschichtswissenschaft
nach dem Zweiten Weltkrieg
(1945-1965)
Herausgegeben von
Ernst Schulin
unter Mitarbeit von
Elisabeth M üller-Luckner
R. Oldenbourg Verlag M ünchen 1989
Schriften des H istorischen Kollegs
im Auftrag der
Stiftung Historisches Kolleg im Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft
herausgegeben von
Horst Fuhrmann
in Verbindung mit
K nut Borchardt, Lothar Gail, Alfred Herrhausen, Karl Leyser, Christian Meier, Horst Niemeyer,
Arnulf Schlüter, Rudolf Smend, Rudolf Vierhaus und Eberhard Weis
Geschäftsführung: Georg Kalm er
Redaktion: Elisabeth Müller-Luckner
Organisationsausschuß:
Georg Kalmer, Franz Letzelter, Elisabeth Müller-Luckner, Heinz-Rudi Spiegel
Die Stiftung Historisches Kolleg hat sich für den Bereich der historisch orientierten W issen­
schaften die Förderung von Gelehrten, die sich durch herausragende Leistungen in Forschung
und Lehre ausgewiesen haben, zur Aufgabe gesetzt. Sie vergibt zu diesem Zweck jährlich For­
schungsstipendien und alle drei Jahre den „Preis des Historischen Kollegs“. Die Forschungssti­
pendien, deren Verleihung zugleich eine Auszeichnung darstellt, sollen den berufenen W issen­
schaftlern während eines Kollegjahres die Möglichkeit bieten, frei von anderen Verpflichtungen
eine größere Arbeit abzuschließen. Professor Dr. Em st Schulin (Freiburg) war - zusammen mit
Professor Dr. Johanne Autenrieth (Freiburg) und Professor Dr. Tilemann Grimm (Tübingen) Stipendiat des Historischen Kollegs im sechsten Kollegjahr (1985/86). Den Obliegenheiten der
Stipendiaten gemäß hat Em st Schulin aus seinem Arbeitsbereich ein Kolloquium zum Them a
„Deutsche Geschichtswissenschaft nach dem Zweiten W eltkrieg (1 9 4 5 -1 9 6 5 )“ vom 10. bis 13.
Septem ber 1986 in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gehalten. Die Ergebnisse des
Kolloquiums werden in diesem Band veröffentlicht.
Die Stiftung Historisches Kolleg wird vom Stiftungsfonds Deutsche Bank zur Förderung der
W issenschaft in Forschung und Lehre und vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft ge­
tragen.
CIP-Kurztitelaufnahm e der Deutschen Bibliothek
D eutsche G eschichtsw issenschaft nach dem Zweiten W eltkrieg :
(1 9 4 5 -1 9 6 5 ) / hrsg. von Em st Schulin. Unter Mitarb. von
Elisabeth Müller-Luckner. - München : Oldenbourg, 1989
(Schriften des Historischen Kollegs : Kolloquien ; 14)
ISBN 3-4 8 6 -5 4 8 3 1-X
N E: Schulin, Em st [Hrsg.]; Historisches Kolleg (München): Schriften
des Historischen Kollegs / Kolloquien
© 1989 R. Oldenbourg Verlag G m bH , München
Das W erk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jed e Verwertung au­
ßerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig
und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen.
Gesamtherstellung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe G m bH , München
ISBN 3 -4 8 6 -5 4 8 3 1 -X
Inhalt
Z u r E in fü h ru n g
Ernst Schulin
..............................................................................................................................................
V II
V e rz e ich n is d er T a g u n g s te iln e h m e r .............................................................................................
XI
I. N eu au fbau n a ch d er K a ta stro p h e
Winfried Schulze
D e r N e u b eg in n d er d e u tsch e n G e sch ich tsw isse n sch a ft n ach 1 9 4 5 : E in s ic h ­
ten und A b s ic h tse rk lä ru n g e n d er H is to rik e r n a c h d er K a t a s t r o p h e .................
1
Werner Berthold
Z u r G e s c h ic h te d er G e sch ich tsw isse n sch a ft d er D D R . V o rg e sch ic h te , K o n ­
fro n ta tio n e n u n d K o o p e r a t io n e n ...........................................................................................
39
A dolf Dieckma n n
G e sc h ic h tsin te re sse d er Ö ffe n tlic h k e it im S p ieg el d er V erla g sp ro d u k tio n en
53
II. A lte rtu m und M itte la lter
Reinhold Bichler
N e u o rie n tieru n g in d er A lte n G e s c h ic h te ? .....................................................................
63
Klaus Schreiner
W isse n sch a ft vo n d er G e s c h ic h te des M ittelalters n ach 1 9 4 5 . K o n tin u itä te n
und D isk o n tin u itä te n d er M itte la lterfo rsch u n g im g e te ilte n D eu tsch lan d . .
87
Herwig Wolfram
G e s c h ic h te Ö ste rre ic h s vor sein er E n tste h u n g . D ie A u sein an d ersetzu n g
zw isch en R e g io n a lg e sc h ic h te und d en b a y e risch -ö ste rre ich isch e n L an d es­
g e s c h ic h t e n .........................................................................................................................................
147
III. D ie z e itg e s c h ic h tlic h e F o rsch u n g
Horst Möller
D ie W e im a re r R e p u b lik in d er z e itg e s c h ic h tlic h e n P ersp ek tiv e d er B u n d e s­
rep u b lik D e u tsch la n d w ährend d er fü n fzig er und frü h en sech zig er J a h r e :
D e m o k ra tisc h e T ra d itio n und N S -U r s a c h e n f o r s c h u n g ............................................
157
Konrad Kiviet
D ie N S -Z e it in d er w estd eu tsch e n F o rsch u n g 1 9 4 5 - 1 9 6 1 .....................................
181
Inhalt
VI
Gerhard Lozek
D ie d eu tsch e G e s c h ic h te 1917 / 1 8 b is 1 9 4 5 in d er F o rsch u n g d er D D R
( 1 9 4 5 bis E n d e d er sech z ig er J a h r e ) ......................................................................................
199
IV . D a s P ro b le m d er d e u tsch e n N a tio n a lg esch ich te
Fritz Fellner
N a tio n a les und eu ro p ä isc h -a tla n tisch es G e sch ich tsb ild in d er B u n d esrep u ­
b lik und im W e s te n in d en Ja h r e n n ach E n d e d es Z w eiten W e ltk rie g e s . . . .
213
Jaroslav Kudrna
Z u m n a tio n a len und eu ro p ä isc h -a tla n tisch e n G e sch ich tsb ild in d er d eu t­
sch e n und w estlich en b ü rg erlich en H isto rio g rap h ie .................................................
227
Peter Stadler
D ie „ D e u ts c h e F rag e“ in d er d e u tsch sch w eiz erisch en G e sch ich tsw isse n ­
sch a ft n a ch 1 9 4 5 .............................................................................................................................
233
Volker Berghahn
D e u ts ch la n d b ild e r 1 9 4 5 - 1 9 6 5 . A n g lo a m e rik a n isch e H isto rik e r und m o ­
d ern e d e u tsch e G e s c h i c h t e .......................................................................................................
V.
239
S c h lu ß b e tra c h tu n g e n : Z u r V erän d e ru n g d er d eu tsch en G e sch ich tsw isse n ­
sch a ft in d en se c h z ig e r Ja h r e n
S ta te m e n ts :
Ernst Schulin .................................................................................................................................... 2 7 3
Fritz Fellner ....................................................................................................................................... 2 7 6
Jaroslav Kudrna ............................................................................................................................. 2 7 9
Piermann von der D u n k .............................................................................................................. 2 8 3
Reinhold Bichler............................................................................................................................... ..... 2 8 5
WolfgangJ. M ommsen ................................................................................................................. 2 8 6
P e r s o n e n r e g is t e r .............................................................................................................................
297
Zur Einführung
D ie G e s c h ic h te ih rer e ig e n e n W isse n sc h a ft h ab en d ie H isto rik e r b ish e r n ic h t o ft auf
T a g u n g en b e h a n d e lt; am e h e ste n b ei G e le g e n h e it g e s c h ic h tsth e o re tisc h e r D isk u ssio ­
n en. F a st n ie w urde, w ie im v o rlieg en d en F all, ein z e itlic h e r A b s c h n itt aus d em
20 . Ja h rh u n d e r t
zu m T h e m a ein e s K o llo q u iu m s g e m a ch t. D a b e i g ilt h ier das „tua res
agitu r“ in b e so n d e rer, b e ru fssp e z ifisch e r W e ise . D e r b e o b a c h te n d e H isto rik e r ste h t in
d iesem F a lle d em T ä te r o d e r Z e itz e u g e n b e so n d ers n ah e und k ann so g ar m it ih m
id en tisch sein . In v ielen R e fle x io n e n zur T ra d itio n s- o d er Selb stv erg ew isseru n g sp ielt
das T h e m a d arum a u ch ein e g ro ß e R o lle . A u ch d ie Z e itb e z o g e n h e it g erad e d er G e ­
sch ich tsw isse n sc h a ft läß t sich im 2 0 .Ja h r h u n d e r t bei aller w issen sch a ftlich en V e rfe i­
n e ru n g n ic h t le u g n e n ; uns in D e u tsch la n d w urde sie in g ro ß e m , sch m e rz lic h e m A u s­
m aß vor A u g e n g e fü h rt. H ie r lie g t ab er e b en au ch ein h e m m e n d e r F ak to r. W äh ren d
die V e rtre te r d er Z e itg e sc h ic h tsfo rs c h u n g E rfa h ru n g en und B ed ü rfn isse d er G e g e n ­
w art o h n e w eiteres als A n trie b sk rä fte a n e rk e n n e n , n e ig e n die F a ch le u te frü h erer G e ­
s c h ic h tsb e re ic h e zur m ö g lic h st au ssch lie ß lich e n B e to n u n g d er w issen sch a ftsim m a n en ­
ten E n tw ick lu n g . S ie ste h e n also d er U n te rsu ch u n g ih re r W isse n sch a ft in e in e m d u rch
p o litisch e V e rä n d e ru n g en m a rk ie rte n Z e ita b s c h n itt reserv iert g eg en ü b er. G erad e w e­
g en d ieser D isk rep a n z , m e in e ich , m ü ssen d ie v ersch ie d e n e n F a ch v ertreter m ite in a n ­
d er ü b er das V e rh ä ltn is e x te rn e r und in te rn e r A n trie b sk rä fte in s G esp rä ch k o m m e n .
A n d ern fa lls zerfällt d ie E in h e it d er G e sch ich tsw isse n sch a ft stärk er, als es g e re ch tfe rtig t
und w ü n sch en sw ert e rs ch e in t.
D ie B ed in g u n g , w äh ren d d es Ja h re s stip e n d iu m s d es M ü n ch e n e r H isto risch e n K o l ­
legs ein K o llo q u iu m d u rch zu fü h ren , h ab e ich d esh alb als w illk o m m e n e C h a n ce a n g e­
se h e n , ein so lch e s h is to rio g ra p h ie g e sch ich tlich e s G e sp rä ch zu stan d ezu brin g en . E in e
w ich tig e V o rb e re itu n g d afü r w ar das v o r d em K o lle g ja h r vo n G eo rg G . Iggers und m ir
org an isierte K o llo q u iu m d er H is to risch e n K o m m is s io n zu B erlin ü b er „A lte und n eu e
R ic h tu n g e n d er d e u tsch e n G esch ich tsw isse n sch a ft 1 9 1 8 - 1 9 3 3 “. E s fand A n fan g O k ­
to b e r 1 9 8 5 statt, ist ab er n ic h t im Z u sa m m e n h a n g p u b liziert w ord en . B ei d iesem
T h e m a h a n d e lte es sich u m e in e n relativ k u rzen Z e itra u m , d er am A n fan g und E n d e
du rch stark e p o litis ch e V erän d e ru n g en d eu tlich ab g eg ren zt war. F ü r die G e s c h ic h ts ­
w issen sch aft w ar d ie E n tw ick lu n g n ach d em E rste n W e ltk r ie g in so fern p ro b le m a tisc h ,
als sie sich seit d er Ja h rh u n d e rtw e n d e teilw eise m o d e rn isie rt und n e u en F ra g e ste llu n ­
g en g e ö ffn e t h a tte und n u n d u rch d ie sch w ere N ied erlag e und ih re tiefg reifen d en
sta a tlich e n , k u ltu re lle n und so zialen F o lg e n h erau sg efo rd ert und b e la ste t w urde. N eu e
ö ffe n tlic h e A n s p rü ch e , R e s se n tim e n ts u n d h isto risc h -p o litisc h e V erteid ig u n g sau fg a­
b e n b e a n sp ru ch te n d ie H is to rik e r ü b erm äß ig und b lo c k ie r te n d ie E n tw ick lu n g n e u e ­
rer w isse n sch a ftlic h er M e th o d e n und A n s ch a u u n g e n e rh e b lich . D as h at sich u m so
g rav ieren d er ausgew irkt, als d ie A n sätze e in e r Ü b erw in d u n g d ieser H e m m u n g e n E n d e
V III
Em st Schulin
d er zw anziger, A n fan g d er d reiß ig er J a h r e d u rch d en N atio n also zialism u s w ied er z e r­
stö rt w urd en.
D a s M ü n c h e n e r K o llo q u iu m , teilw eise m it d en se lb e n T e iln e h m e rn , w urde äh n lic h
au fg ebau t. E s so llte ein e k au m län g ere, fü n fz eh n bis zw anzig J a h r e u m fassen d e P h ase
b e sp re c h e n , d eren E n d e -
1960/ 65 - v erg leich sw eise w en ig er m a rk a n t ist. In etw a
h a n d e lt es sich u m das E n d e d er A d en a u er-A ra u n d d en A n fan g ein e r p o litis c h -k u l­
tu re lle n V erä n d eru n g , a b e r au ch u m die Z e it, in d er n eu e h isto risch e B e u rte ilu n g s­
m aß stä b e und M e th o d e n zu r W irk u n g k a m e n , b e so n d ers fü r d ie E rfassu n g d er d e u t­
sch e n G e s c h ic h te des 19. und 2 0. Ja h rh u n d e r ts . A n sä tz e, d ie 1 9 3 3 zerstö rt w ord en w a­
ren , k o n n te n je tz t e n tw ick e lt w erd en , teils d u rch das V o rb ild d er a u slän d isch en G e ­
sch ich tsw isse n sc h a ft und d er d e u tsch e n E m ig ra n te n , teils d u rch die lan g sam e V o r b e ­
reitu n g in d er d e u tsch e n G e sch ich tsw isse n sch a ft selb er. S o se h r d ieser U m b ru ch m it
d er a llg e m e in e n p o litis ch -k u ltu re lle n V erä n d e ru n g d er se c h z ig e r J a h r e z u sa m m e n ­
hän g t, so läßt sich d o ch ern sth a ft a rg u m e n tie re n , daß h ie r d ie w issen sch a ftsim m a n en te
E n tw ick lu n g im V o rd erg ru n d steh t. D e m g e g e n ü b e r ist d er A n fa n g d er in d iesem K o l ­
lo q u iu m b e h a n d e lte n P h a se, d er k atastro p h ale Z u sa m m e n b ru ch D e u tsch la n d s, ein
tie fe r a llg e m e in g e s c h ic h tlic h e r E in s c h n itt, d er d ie d eu tsch e G e sch ich tsw isse n sch a ft
v o n au ß en zur V e rä n d e ru n g zw ang, w eit m e h r, als das 1 9 1 8 d er Fall war.
D as In te re sse an d ieser P h ase ist s e h r v e rb re ite t, a b e r w äh ren d es ü b er d ie d eu tsch e
G esch ich tsw isse n sch a ft d er zw anziger J a h r e b e re its w o h lfu n d ierte D a rste llu n g e n in
B u ch fo rm a t g ib t, b e so n d ers d ie je n ig e n v o n H an s S c h le ie r und B ern d F a u le n b a ch , sind
ü b er die Z e it n a ch 1 9 4 5 b ish e r n u r z a h lreich e Ü b e rb lick sv e rsu ch e in A u fsa tz fo rm er­
sc h ie n e n . S e it A n fa n g d er sieb z ig er Ja h r e , also se itd e m sich die w issen sch a ftlic h e W e i­
te re n tw ick lu n g d u rch zu setzen b e g a n n , w urd e ü b e r d en N eu an fan g u n d N ic h tn e u a n ­
fang von 1 9 4 5 re fle k tiert. D ie A n k ü n d ig u n g m e in e s K o llo q u iu m s lö ste d arum au ch
d ie u n te rsch ie d lich s te n V e rm u tu n g e n ü b e r d ie „ T e n d e n z “ d es U n te rn e h m e n s aus.
M a n ch e K o lle g e n erw arteten ein e n eu e V e ru rte ilu n g d ieser g ern als „restau rad v“ b ez e ic h n e te n P h ase, an d ere h o ffte n auf ein e A u fw ertu n g , die e n d lich d en d am aligen
N eu a n sä tz en G e re c h tig k e it v ersch affen w ürde, w ied er and ere fü rc h te te n ein e so lch e als „ n e o k o n serv a tiv “ v erd äch tig te - A u fw ertu n g . M ir g ing und g eh t es u m d ie A n r e ­
g u n g d er n o c h m a n g eln d en g rü n d lich e re n U n te rsu ch u n g e n , also u m o ffen e F rag en
und u m k e in e b e stim m te T e n d e n z . D ie R e a k tio n e n k o n n te ich a b e r als B estätig u n g
für d ie N ü tz lich k e it des K o llo q u iu m s auffassen . D e r d eu tsch e „ H isto rik e rstre it“, w ie
e r n u n in te rn a tio n a l g e n a n n t w ird, brach erst aus, als die V o rb e re itu n g e n a b g e s ch lo s­
se n w aren, g ab a b e r d en D isk u ssio n e n ein e z u sätzlich e B risan z; d en n d ie V e rs u ch e , ein
n eu es, a n g e b lich
p o sitiveres
und
g eg en w artsp o litisch
g ü n stig eres
n a tio n a les
G e­
sch ich tsb ild zu v erb reiten , ste llte n ja n ic h t n u r d ie M aß stäb e und L eistu n g en d er d eu t­
sch e n G e sch ich tsw isse n sch a ft seit d en se c h z ig e r Ja h r e n in F rag e, so n d ern sch o n d ie je ­
n ig en se it 1 9 4 5 .
W ie sch o n bei d em B e rlin e r K o llo q u iu m ü b e r d ie zw anziger J a h r e w urd e n ic h t nu r
d er F o rsch u n g s b e re ich d er n e u z e itlich e n G e s c h ic h te erö rtert, d er d en e x te rn e n E in ­
flü ssen zw angsläu fig am u n m itte lb a rste n au sg esetzt ist, so n d ern au ch A lte rtu m , M it­
te la lte r und L a n d e sg e sch ich te k am e n zur S p ra ch e. D ab ei sei b e to n t, daß es sich h ie r
u m ein e A u sw ah l h an d e lt und n ic h t etw a d ie g e sa m te d eu tsch e G e sc h ic h tsw isse n ­
Zur Einführung
IX
sch a ft flä c h e n d e ck e n d u n tersu ch t w erd en so llte. Z u g u n ste n d ieser frü h eren B e re ich e
ist e in e sp e z ielle E rö rte ru n g d er frü h n e u z e itlich e n G e sc h ic h tsfo rsc h u n g und sogar
d e rjen ig e n ü b e r das 19. Ja h rh u n d e r t zu rü ck g estellt w ord en .
D as g e sch a h a u ch zu g u n sten ein e r an d eren , m ir viel w ich tig er e rs ch e in e n d e n E r ­
w eiteru n g , und zw ar d e rjen ig en ü b er d ie B u n d esrep u b lik hin aus. A n g e s ic h ts des g e ­
m ein sa m en T h e m a s d er d eu tsch en G e s c h ic h te und d es g e m e in sa m e n k atastrop h alen
A n fa n g sja h res 1 9 4 5 w äre es u n sin n ig , die E n tw ick lu n g d er d eu tsch en G e sc h ic h tsw is­
se n sch a ft se ith e r n u r als die d er B u n d esrep u b lik zu versteh en . E s w äre ab er au ch u n ­
a n g em essen , sie strik t auf das N e b e n e in a n d e r zw eier k o n tra stie ren d er G e sc h ic h tsw is­
se n sch a fte n , d e rje n ig e n d er B u n d esrep u b lik u n d d er D D R , zu red u zieren . Z u m ein er
F reu d e k o n n te n also R e fe r e n te n und T h e m e n aus d er D D R ein b e z o g e n w erd en - was
m ir 1 9 8 5 in B e rlin n o c h n ic h t g elu n g en w ar - , a b e r au ch aus Ö ste rre ich und d arüber
h in au s aus d er C S S R , aus d er S ch w eiz, aus H o llan d , Ita lien und d em a n g lo am erik an isch e n B e re ich . A u c h h ie r k o n n te es sich n u r u m ein e A usw ahl h an d e ln , die ab er so
zu sa m m e n g e se tz t w ar, daß in R e fe ra te n und D isk u ssio n e n viele zu g leich w ich tig e und
v ersch ie d en e P e rsp ek tiv en des T h e m a s zur S p ra ch e k am en .
E s kam n a tü rlich n ic h t n u r auf u n v erb u n d en es N e b e n e in a n d e r und auf V ie ls e itig ­
k e it d er G e sic h ts p u n k te an. F ü r alle T e iln e h m e r w ar es ein e b e m erk en sw erte E rfa h ­
ru ng, an sich und d en a n d e re n zu e rle b e n , m it w ie viel M u t und F o rm u lieru n g sk u n st
S te llu n g n a h m e n a u sz u sp rech en w aren und au ch au sg esp ro ch en w urden - im B eisein
von V e rtre te rn a n d erer h is to risch e r B e re ic h e , von A n g e h ö rig e n an d erer G e n e ra tio n e n ,
d es a n d e re n D e u ts ch la n d u n d an d erer L än d er. O ft g elan g es, oft ab er au ch n ich t. D ie
M ö g lich k e it des g e m e in sa m e n G esp rä ch s w urde vor a lle m auf d ie P ro b e g estellt, als es
n ic h t m e h r u m N eu au fbau und E n tw ick lu n g g e s c h ic h tlic h e r F o rsch u n g g ing , so n d ern
u m das n a tio n a le G e sc h ic h tsb ild und sein e se h r u n te rsch ie d lich e V erän d e ru n g u n te r
d em E in flu ß w e stlich e r und ö s tlich e r Id eo lo g ien . Ü b e r d ie B u n d esrep u b lik und den
W e s te n re fe rie rte ein ö s te rre ic h is c h e r und ein tsc h e c h is c h e r H isto rik er, ü b e r die D D R
und d en O ste n ein b u n d esd eu tsch er. H ie r kam es zur e ig e n tlich e n K rise des K o llo ­
q u iu m s, d ie ab e r in g e m e in sa m e m B e m ü h e n ü b erw u n d en w urde. A u f die E in z e lh e i­
ten k o m m t es n ic h t an, a b e r es v erd ien t festg eh a lte n zu w erd en , was G erh ard L o zek
sag te, als m an w e stlich e rseits m e in te , d ie D D R -H is to r ik e r so llten „d och n ic h t so e m p ­
fin d lic h “ se in : ein H is to rik e r m ü sse e m p fin d lich se in ; o h n e h o h e S e n sib ilitä t h ab e er
se in e n B eru f verfeh lt.
D ie h ie r v e rö ffe n tlich te n K o llo q u iu m sb e iträ g e w erd en n o ch ein ig es v o n d iesem
V e rsu ch ein e s g e m e in sa m e n G esp rä ch es sp ü ren lassen , e in em V e rsu ch , d er von den
m e is te n T e iln e h m e rn in sg esam t als g elu n g en und fö rd erlich b e z e ic h n e t w urde. G e ­
m e in t ist d e r B and a b e r n ic h t als D o k u m e n ta tio n , so n d ern als erste au sfü h rlich ere B e ­
h an d lu n g d ieses T h e m a s, d ie zu w eiteren F o rsch u n g e n an reg en so ll. D ie B eiträg e sind
v on d en V erfa ssern zu m D ru c k ü b e ra rb e ite t und z .T . erw eitert w ord en . E in h e itlic h ­
k e it k o n n te n ic h t a n g e stre b t w erd en. G rü n d lich e A b h an d lu n g en ste h e n n e b e n k ü rz e ­
ren B e iträ g e n , die auf e in e n n e u en A sp e k t n u r au fm erk sam m a ch e n w ollen. M eh r als
g ew ö h n lich sind d ie S te llu n g n a h m e n au ch von d en u n te rsch ie d lich e n w issen sch aftli­
c h e n und p o litis c h e n S ta n d p u n k ten d er V erfasser g ep räg t. A n Ü b ersch n e id u n g e n
fe h lt es sc h o n d arum n ich t, w eil sich viele T e iln e h m e r zu g ru n d sätzlich en E rö r te r u n ­
Em st Schulin
X
g e n g ed rän g t fü h lten . Z w ei V o rträg e k o n n te n leid er n ic h t d ru ck fertig g e m a c h t w erd en
und feh le n d a ru m : d er von G o tth o ld R h o d e ü b er „ M arxistisch es und n atio n ales G e ­
sch ich tsb ild in d er D D R und in O ste u ro p a “ und d er von B ern h ard v o m B ro ck e ü b er
„D ie E rfo rsch u n g d er W isse n sc h a fts g e s c h ic h te 1 9 4 5 - 1 9 6 5 “. E in Sch lu ß v o rtrag ü b er
„ D ie V erä n d e ru n g d er d e u tsch e n G esch ich tsw isse n sch a ft in d en se c h z ig e r J a h r e n : A b ­
k e h r vom ,H isto rism u s“, H in w e n d u n g zu S tru k tu rg e sc h ic h te und p o litis c h e r S o z ia lg e ­
s c h ic h te “ m u ß te sch o n b e i d er T ag u n g a u sfallen ; e r w urde d u rch im p ro v isierte S ta te ­
m e n ts v ersch ie d e n e r T e iln e h m e r e rse tz t; d iese h a b en ihre A u sfü h ru n g en auf m e in e n
W u n s c h für den D ru c k s ch riftlich au sg earbeitet.
E rm ö g lic h t w urde das K o llo q u iu m d u rch d ie G ro ß z ü g ig k eit d es S tiftu n g sfo n d s
D e u ts c h e B a n k und des S tifterv erb an d e s für die D e u ts c h e W isse n sc h a ft, d ie als T rä g er
d er S tiftu n g H is to risch e s K o lle g die M itte l zur V erfü g u n g stellten . B e id e n In s titu tio ­
n e n g ilt m e in b e so n d e re r D a n k . S e h r h e rz lich d an k en m ö c h te ich au ch allen T e iln e h ­
m e rn für ihre M itarb eit. Frau D r. M ü lle r-L u ck n e r h at m ic h in ih re r b e w äh rten A rt
v o m A n fa n g d er T ag u n g sv o rb ereitu n g bis zu m E n d e d er D ru ck le g u n g b e ste n s u n te r­
stü tzt. Ih r und allen , die v o m H is to risch e n K o lle g an d er O rg a n isa tio n d es K o llo ­
q u iu m s m itg ew irk t h a b en , g ilt eb en falls m e in D a n k . Z u m S c h lu ß d en k e ich m it b e ­
so n d ers tie fe r D a n k b a rk e it an zw ei m ir freu n d sch a ftlich v erb u n d en e K o lle g e n , d ie das
K o llo q u iu m le id e r n ic h t m e h r e rle b t h a b e n : an W e r n e r C o n z e , d er au f m e in e B itte so ­
fort b e re it g ew esen war, ein R e fe ra t zu ü b e rn e h m e n , und an H e in rich L u tz, d essen g u ­
ter R a t m ir b ei d er V o rb e re itu n g seh r g e h o lfe n hat.
F re ib u rg i. Br., S e p te m b e r 1 9 8 8
Ernst Schulin
Verzeichnis der Tagungsteilnehmer
Prof. D r. V o lk e r R . B erg h a h n , C oventry / E ng land
Prof. D r. W e r n e r B e rth o ld , L eip zig
Prof. D r. R e in h o ld B ich le r, In n sb ru ck
Prof. D r. K n u t B o rch a rd t, M ü n ch en
D r. B e rn h a rd v o m B ro c k e , G ö ttin g e n
P rof. D r. M artin B roszat, M ü n ch en
D r. R ü d ig er vom B ru ch , M ü n ch en
D r. A d o lf D ie c k m a n n , M ü n ch e n
D r. G erald D ie se n e r, L eip zig
Prof. D r. H e rm a n n v o n d er D u n k , B ilth o v en / N ied erlan d e
Prof. D r. F ritz F e lln e r, Salzb u rg
Prof. D r. F ritz F isch e r, H am b u rg
Prof. D r. F ra n tisek G rau s, B asel
Prof. D r. T ile m a n n G rim m , T ü b in g e n (S tip en d ia t d es H is to risch e n K o lle g s 1985/ 86)
Prof. D r. W o lfg a n g H ardtw ig, E rlan g en
Prof. D r. M an fred H e llm a n n , M ü n ch en
G eo rg K a lm e r, M ü n ch e n (H isto risch e s K o lleg )
D r. W o lfg a n g K rie g e r, E b en h a u sen
Prof. D r. Ja ro s la v K u d rn a , B m o / C S S R
P rof. D r. K o n ra d K w ie t, K en sin g to n / A u stralien
Prof. D r. G erh a rd L o z ek , B e rlin / D D R
D r. R a lp h M arks, M ü n ch e n (H isto risch es K o lleg )
Prof. D r. K a rl-H e in z M etz, E rlan g en
Prof. D r. H o rst M ö ller, E rlan g en
Prof. D r. W o lfg a n g J . M o m m se n , D ü sseld o rf
D r. E lisa b e th M ü lle r-L u ck n e r, M ü n ch e n (H isto risch e s K o lleg )
B rigitta O e stre ic h , K o c h e l am S ee
Prof. D r. E m s t P itz , B erlin
M ich a el R e in h a rd , F re ib u rg
Prof. D r. G o tth o ld R h o d e , M ainz
Prof. D r. P ie tro R o ssi, T u rin / Italien
P rof. D r. K la u s S c h re in e r, B ielefeld
Prof. D r. E m s t S c h u lin , F reib u rg (S tip en d ia t des H is to risch e n K o lle g s 1985/ 86)
P rof. D r. W in frie d S c h u lz e , B o ch u m
Prof. D r. P e te r Sta d ler, Z ü rich
P rof. D r. A n n e lie s e T h im m e , G räfelfin g
D r. H e lm u t T ro tn o w , B o n n
D r. W o lfg a n g W e b e r, A u g sbu rg
Prof. D r. H erw ig W o lfra m , W ie n
I. Neuaufbau nach der Katastrophe
Winfried Schulze
Der Neubeginn der deutschen Geschichtswissenschaft
nach 1945:
Einsichten und Absichtserklärungen der Historiker
nach der K atastrophe 1
H is to rio g ra p h ie g e sch ich te ist w ie alle G e s c h ic h te n ic h t nu r S tre b e n n ach rein er E r ­
k en n tn is. H is to rio g ra p h ie g e sch ich te ist in h o h e m M aße au ch d er V ersu ch d er S e lb s t­
verg ew isseru n g aus d er V e rg a n g e n h e it u n serer D isz ip lin
heraus, um
in d er G e ­
s c h ic h tss c h re ib u n g d er G eg en w art das v e rm e in tlic h R ic h tig e tu n zu k ö n n en . W ir w ol­
len un sere sp e z ifisch e B etrach tu n g sw eise von G e s c h ic h te leg itim ieren , als b ed eu tsam
erw eisen , als die im m e r sch o n rich tig e F o rm von G e s c h ic h te b e stä tig en , uns ein e r sta r­
k en T ra d itio n v ersich e rn o d er uns k ritisch von e in e r an d eren ab setzen . D ie s m a ch t die
b e so n d e re n S c h w ie rig k e ite n ein e r B esch ä ftig u n g m it d er G e s c h ic h te d er G e s c h ic h ts ­
sch reib u n g aus.
1 Die Publikation des erweiterten Münchener Vortrags gibt mir Gelegenheit, mich bei einer gan­
zen Reihe von Kollegen sehr herzlich für klärende Diskussionen und Materialhinweise zu bedan­
ken. Ich nenne meine Bochum er Kollegen Wolfgang Köllmann und Hans Mommsen, dazu Not­
ker Hammerstein (Frankfurt/M.), Ludwig Petry (Mainz), Heinz Gollwitzer (München), Fritz Fi­
scher (Hamburg), Michael Erbe (Berlin), W erner Berthold (Leipzig), Rudolf Vierhaus (der mir
freundlicherweise das Archiv des Verbands der Historiker Deutschlands zugänglich machte), Pe­
ter Schumann (Göttingen) und Hans-Ulrich W ehler (Bielefeld). Erich Meuthen bin ich für seine
Einwilligung zur Benutzung des Archivs der Universität zu Köln zu Dank verpflichtet, Hans
Mommsen für seine Bereitwilligkeit, mir den Nachlaß W ilhelm Mommsen zur Verfügung zu
stellen, Hans Rosenberg für die Einsichtnahme in seine Akten und die Einwilligung, aus ihn be­
treffenden Personalakten zitieren zu dürfen. Frau Else W ühr (Grassau) und Frau Dr. Marianne
Stadtmüller (München) halfen mir mit Informationen und Material über die Tätigkeit ihrer ver­
storbenen Gatten. - Schließlich habe ich sehr herzlich meinem Mitarbeiter Thomas Nieding zu
danken, der mir bei der Vorbereitung durch seine selbständige Auswertung der Literatur und der
Vorlesungs- und Dissertationsverzeichnisse sowie bei vielen Recherchen eine große Hilfe war.
Bei der Vorbereitung dieses Aufsatzes erwies es sich sehr bald als unmöglich, die Fülle des inzwi­
schen ermittelten Materials in einem - ohnehin schon sehr umfangreichen - Beitrag für einen
Sammelband unterzubringen. Ich werde deshalb 1989 eine selbständige Schrift über die deut­
sche Geschichtswissenschaft zwischen 1945 und 1958 publizieren.
2
Winfried Schulze
E in zen trales P ro b le m stellt dabei zw eifellos die K o o rd in a tio n von real sich v erä n ­
d ern d er h is to risch e r E rfah ru n g ein erseits und g e s c h ic h tlic h e m D e n k e n an d ererseits
dar. W ie v erh ält sich G e sch ich tsw isse n sch a ft zu p o litisch -so z ia le r D isk o n tin u itä t, zu
re v o lu tio n ä rer E rfah ru n g , w ie verh ält sie sich u n te r d en B ed in g u n g en m o d e rn e r in d u ­
strie lle r G e se llsch a fte n zu w ese n tlich e n V erä n d e ru n g en p o litis ch -so z ia le r-te ch n o lo g isc h e r A rt? W e lc h e S te u e ru n g sm ö g lic h k e ite n b e ste h e n für staatlich e In sta n z en , w elch e
S p ielrä u m e erg e b en sich für das „S u b sy stem “ G e sc h ich tsw isse n sch a ft in d em o k ra tisch
und n ich td e m o k ra tisch verfaß ten G e se llsc h a fte n ? In w elch em A u sm aß und w od u rch
b e d in g t sind In n o v a tio n e n m ö g lic h ? W ie bew ältig t G e sch ich tsw isse n sch a ft sch lie ß lich
m ilitä risch e N ied erlag en od er g ar den V e rlu st n atio n aler Id e n titä t?
A lle d iese F rag en treffen z u sam m en , w en n w ir uns m it d er d eu tsch en G e s c h ic h ts ­
w issen sch a ft n a ch d er m ilitä risch e n N ied erlag e des „ D ritte n R e ic h e s “ b e sch äftig en
und n a ch d em N eu b eg in n d ieser G e sch ich tsw isse n sch a ft fragen. M an k ann bei e in em
Ü b e rb lic k ü b er den F o rsch u n g sstan d ganz gew iß n ic h t davon red en , daß sich das b e ­
so n d ere In tere sse d er H isto rik e r auf d iesen P u n k t k o n z e n trie rt habe, w obei d ieses U r­
teil vo r allem für d ie G e sch ich tsw isse n sch a ft d er sp äteren B u n d esrep u b lik D e u ts c h ­
land g ilt. D e r N eu au fbau e in e r m arx istisch o rie n tie rte n G e sc h ich tsw isse n sch a ft in d er
D D R h a t sow ohl d o rt als au ch in d er B u n d esrep u b lik relativ stark e A u fm e rk sa m k e it
g e fu n d e n 2. N e n n t m a n für die b u n d esrep u b lik a n isch e E n tw ick lu n g die ein sch läg ig e n
A u fsä tz e H an s M o m m se n s, G ü n te r B irtsch s, E rn s t S c h u lin s, B ern d F a u len b a ch s,
Im a n u e l G e iss’, P e te r S c h u m a n n s und D ie te r H e in s, d en V o rtrag W e rn e r C o n z e s, die
h ie r re le v a n te n B e m e rk u n g e n von G e o rg Ig g ers, d an n h at m an sch o n die w e se n tlich e n
z u sa m m e n fa ssen d en A u ssag en ü b er die R e k o n stru k tio n sp h a se g e n a n n t, au ch w en n
sich d iese d er u n m itte lb a re n N a ch k rieg sz eit o ft n u r seh r kurz zu w en d en 3. D a b ei b e ­
to n e ich das W o r t z u sam m en fassen d , d en n n a tü rlich fin d en w ir in vielen B io g rap h ien ,
N e k ro lo g e n , U n iv ersitäts- u n d F a k u ltä tsg e sch ich te n ein e F ü lle ein z e ln e r H in w eise auf
2 Dies gilt sowohl für die Forschung in der D D R wie in der Bundesrepublik. Ich verweise hier
pauschal auf die Arbeiten von Günther Heydemann, Geschichtswissenschaft im geteilten
Deutschland. Entwicklungsgeschichte, Organisationsstruktur, Theorie- und Methodenprobleme
in der B R D und der D D R (Frankfurt/M. 1980); Dieter Riesenberger, Geschichte und Geschichts­
unterricht in der D D R (Göttingen 1973); Andreas Dorpalen, Geschichtswissenschaft in der
D D R , in: Bernd Faulenbach (Hrsg.), Geschichtswissenschaft in Deutschland (München 1974)
1 2 1 -1 3 7 und ders., German History in Marxist Perspective. The East German Approach (London
1985) bes. 4 6 ff. - Zuletzt der knappe Forschungsbericht von Günther Heydemann, Zwischen
Diskussion und Konfrontation - Der Neubeginn deutscher Geschichtswissenschaft in der S B Z /
D D R 1 9 4 5 -1 9 5 0 , in: Christoph Cobet (Hrsg.), Handbuch der Geistesgeschichte in Deutschland
nach Hitler 1 9 4 5 -1 9 5 0 (Frankfurt/M. 1986) 1 2 -2 9 mit weiterer Literatur. Für die D D R vor allem
Werner Berthold, Marxistisches Geschichtsbild - Volksfront und antifaschistisch-demokratische
Revolution (Berlin 1970).
3 Die einzelnen Titel werden später gesondert genannt. Zu den grundlegenden Voraussetzungen
wissenschaftlichen Arbeitens auf diesem G ebiet gehören auch die Arbeiten von Wolfgang Weber,
Priester der Klio. Historisch-sozialwissenschaftliche Studien zur Herkunft oder Karriere deut­
scher Historiker und zur Geschichte der Geschichtswissenschaft (Frankfurt/M., Bern, New York
1984) und ders., Biographisches Lexikon zur Geschichte der Geschichtswissenschaft in Deutsch­
land, Österreich und der Schweiz (ebd. 1984).
Der Neubeginn der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945
3
u n ser T h e m a . A u s d en verfü gb aren p u b liz ierten Q u e lle n ragen d ie B riefed itio n en von
F ried rich M e in e ck e und G erh ard R itte r o h n e Z w eifel hervor.
In d er b ish e rig e n F o rsch u n g ist m it d er n a h e lie g e n d e n V e rm u tu n g au fg eräu m t w or­
den, als sei d ie N ied erla g e von 1 9 4 5 zu e in e m w irk lich en „ N u llp u n k t“ in d er E n tw ick ­
lung d er G e sch ich tsw isse n sch a ft gew ord en. H an s M o m m sen h at au sd rü ck lich b e to n t,
daß das J a h r 1 9 4 5 für die G e sch ich tsw isse n sch a ft - w ie ü b erh au p t für die d eu tsch e
G e s c h ic h te - „k ein esw eg s ein e so tiefg reifen d e Z äsu r, w ie das von d en H isto rik ern d a­
m als e m p fu n d e n w u rd e“, d a rstellte4. In seh r viel stärk erem M aße, als dies zu n äch st a n ­
g esich ts d er N ich te x is te n z d eu tsch er S ta a tlich k e it d en k b ar e rsch ien , habe sich v ie l­
m e h r e in e R ü c k k e h r zu d en trad ierten m e th o d o lo g isch e n K o n z e p tio n e n und in h a ltli­
c h e n G ru n d o rie n tie ru n g e n e rg eb en . D ies ste h t in e in e m g ew issen W id ersp ru ch zur
B e o b a c h tu n g W o lfg a n g J . M o m m sen s, „daß die U n g e h e u e rlich k e it d er jü n g sten V e r ­
g a n g e n h e it zu e in e r a b so lu t e h rlich e n Ü b erp rü fu n g d er T ra d itio n e n und A n s ic h te n
d er d e u tsch en G e sc h ich tsw isse n sch a ft zw ang“5, w ährend G eo rg Iggers davon sp rich t,
daß d er „ Ü b e rtritt vom D r itte n R e ic h in die N a ch k rieg sz eit für d ie d eu tsch en H is to ri­
k er z iem lich g la tt und sch m e rz lo s v erlief“. G le ic h w o h l h at ab er au ch er n ach 1 9 4 5 e i­
n en w esen tlich tie fe re n „ B ru ch m it d en p o litis ch e n und g esch ich tsw isse n sch a ftlich e n
T ra d itio n e n “ fe stg e ste llt als etw a n ach 1 9 1 8 . Z u le tz t h a t D ie te r H e in ein e d iffe re n ­
zierte B ew ertu n g von K o n tin u itä tslin ie n und N eu an sätzen v o rg esch lag en und vor al­
lem die n a ch 1 9 4 9 b e g o n n e n e Z e itg e s c h ic h ts - und P a rlam en tarism u sfo rsch u n g d er
H a b en se ite d er D isz ip lin g u tg e sc h rie b e n 6. D e s h a lb w ird d em P ro b le m d es „B ru ch s
von 1 9 4 5 “ n o ch b e so n d ere A u fm e rk sa m k e it zu w id m en se in 7.
E rn st S c h u lin hat d iese B efu n d e d ah in g eh en d zu sam m en g efaß t, daß er von ein em
„ p o litisch -m o ra lisch g e z ä h m te n H isto rism u s“ als d em G ru n d to n d er G e sc h ic h tsw is­
se n sch a ft d ie ser J a h r e g e sp ro ch e n h at, d abei v o r allem ab h eb e n d auf das alle n th a lb en
spü rbare n e u e G e fü h l e in e r m o ra lisch en V e ra n tw o rtlich k e it des H isto rik e rs in sein er
Z e it. H a n s-G ü n te r Z m a rz lik h at in sein em se lb stk ritisch e n R ü c k b lic k auf die Z e it
nach d er N ied erlag e iro n isieren d davon g e sp ro ch e n , daß sein e G e n e ra tio n „aus N a tio n a l-T ro m p e te rn zu M o ra l-T ro m p e te rn o d er K u ltu r-C e llis te n “ g ew ord en sei8. D iese
p o litik - und g e iste sg e sc h ic h tlic h e V arian te d es H isto rism u s h ab e -
so die w eitere
T h e se S c h u lin s - z u g leich ein e w ich tig e F u n k tio n in so fern erfü llt, „als o h n e sie ein e
E rfassu ng und w irk sam e g eistig e Ü b erw in d u n g vo n G e sc h e h e n und G e sch ich tsb ild
d er jü n g ste n d e u tsch e n V e rg a n g e n h e it gar n ic h t m ö g lic h g ew esen “ w äre9.
4 Hans Mommsen, Haupttendenzen nach 1945 und in der Ara des Kalten Krieges, in: Bernd F au ­
lenbach (Hrsg.), Geschichtswissenschaft in Deutschland (München 1974) 125.
5 Wolfgang j . Mommsen, Gegenwärtige Tendenzen in der Geschichtsschreibung der Bundesrepu­
blik, in: Geschichte und Gesellschaft 7 (1981) 1 4 9 -1 8 8 , hier 151 ff.
6 Dieter Hein, Geschichtswissenschaft in den W estzonen und der Bundesrepublik 1 9 45-1950, in:
Christoph Cobet( Hrsg.), Handbuch der Geistesgeschichte in Deutschland nach Hitler 1 945-1950
(Frankfurt/M. 1986) 3 0 -4 0 .
7 Georg G. Iggers, Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauf­
fassung von Herder bis zur Gegenwart (München 1971) 327.
8 Hans-Günter Zmarzlik, Wieviel Zukunft hat unsere Vergangenheit? (München 1970) 26.
9 Ernst Schulin, Traditionskritik und Rekonstruktionsversuch. Studien zur Entwicklung von G e­
schichtswissenschaft und historischem Denken (Göttingen 1979) 140.
Winfried Schulze
4
I
W ir m ü ssen z u n ä ch st frag en : W a s ist in d en Ja h r e n 1 9 4 5 - 1 9 4 9 ü b erh au p t d eu tsch e
G e sch ich tsw isse n sch a ft? W e n n G erh ard R itte r sp äter im R ü c k b lic k auf die u n m itte l­
b a ren N a ch k rie g sjah re d avon sp rach , d am als habe es g ar k ein e d eu tsch e G e s c h ic h ts ­
w isse n sch a ft g e g e b e n , sie sei bis zum S o m m e r 1 9 4 9 „ n ich t w ied er a u fg eleb t“ 10, so w i­
d ersp rach d em z u m in d est sch o n im S o m m e rs e m e ste r 1 9 4 9 die L eh rv e ran staltu n g des
B o n n e r H isto rik ers H an s H allm a n n , d er sich „D ie d eu tsch e G e sc h ich tsw isse n sch a ft
se it 1 9 4 5 “ als S e m in a rth e m a v o rn a h m 11. A n g e s ic h ts a lliie rte r V e rb o te und U m e rz ie ­
h u n g sm a ß n a h m e n , d em a n fä n g lich en V e rb o t des S c h u lfa ch s G e s c h ic h te , d er A u ß e r­
k ra ftse tz u n g des b ish erig en G e sc h ic h tsb ild e s auf d er G ru n d lag e d er D ire k tiv e J C S
1 0 6 7 m u ß d iese F rag e an d en A n fa n g g e ste llt w erd en. W e lc h e Ä u ß eru n g en fin d en
sich ü b erh a u p t, die w ir h e u te als q u alifizierte A u ssag en h e ra n z ieh en k ö n n e n für ein e
Z e it, in d er es m a n c h e n H isto rik e rn g an z sin n lo s e rsch ie n , sich n o ch m it d eu tsch er
G e s c h ic h te zu b e sch ä ftig e n , da es d o ch k e in d eu tsch es V o lk m e h r g e b e 12. R e ic h t die
T a ts a ch e aus, daß die Ja h r e s b e r ic h te für d eu tsch e G e s c h ic h te 1 9 4 7 vo n d er D e u ts c h e n
A k a d e m ie d er W isse n sc h a fte n zu B e rlin w eiterg e fü h rt w urd en , daß d ie M o n u m e n ta
G e rm a n ia e H istó rica in d er A b g e s c h ie d e n h e it d es frä n k isch en P o m m e rsfe ld e n ihre
A rb e it fo rtsetz ten o d er d ie H isto risch e K o m m iss io n b ei d er B ay erisch e n A k a d em ie
d er W isse n sc h a fte n ih ren P räsid en ten w e ch se lte und ih re M itg lied er sich im H e rb st
1 9 4 6 zu e in e r ersten S itz u n g trafen, u m von ein em N eu b eg in n d er d eu tsch en G e ­
sch ich tsw isse n sc h a ft zu sp re ch e n ?
D a s g rö ß te P ro b le m b e ste h t ganz sich e rlich darin, daß w ir aus d er Z e it zw ischen
1 9 4 5 und d er N eu g rü n d u n g d es H isto rik erv erb an d es bzw . d em ersten H isto rik erta g in
M ü n ch e n
1 9 4 9 k e in e Ä u ß eru n g en
h a b en , die m an als rep räsen tativ b e z e ich n e n
k ö n n te , au ch n ic h t im ü b ertra g en en S in n e , w eil das k o n tro llie re n d e E le m e n t ein e r
fu n k tio n ie re n d e n fa c h lic h e n o d er ö ffe n tlic h e n D isk u ssio n feh lte. Ü b e rsp itz t läßt sich
sag en , daß m an zw isch en M ai 1 9 4 5 u n d d er W ie d e re rö ffn u n g d er U n iv ersität G ö t t in ­
g e n u n d d en d ann sc h n e ll fo lg en d en a n d eren U n iv ersitä ten nu r In d iv id u en ausfindig
m a ch e n kan n , die sich zu h isto risch e n F rag en äußern. W ir fin d en ex iste n z ie ll b e tro f­
fe n e M e n sch e n , d ie in d en W irre n d es K rie g se n d e s irgend w o U n te rs ch lu p f g efu n d en
h a b en , d ie ihre A n g e h ö rig e n su ch en , a lle r in s titu tio n e lle n B in d u n g en verlu stig g e g a n ­
g e n und o h n e feste Z u k u n ftserw a rtu n g en , die in G e fa n g e n s ch a ft w aren o d er g erad e
e n tla sse n w urd en, allein dazu veru rteilt, m it d er N ied erlag e, ih ren F o lg en und d er Z e r ­
sch la g u n g des N ation alstaats fertig zu w erd en.
D ie h erau srag en d en Ä u ß eru n g en aus d ieser P h ase sind gew iß d ie B ü c h e r von F rie d ­
rich M e in e ck e und G erh ard R itte r, die als erste d en V ersu ch e in e r B ilan zieru n g des
G e s c h e h e n e n u n te rn a h m e n . So w o h l die zeitg en ö ssisch e R e a k tio n au f d iese B ü c h e r als
10 Gerhard Ritter, Deutsche Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert, in: G W U 1 (1950)
8 1 -9 6 , 1 2 9 -1 3 7 , hier 135.
11 Vorlesungsverzeichnis Bonn, SS 1949, S. 75.
12 Dieses Zitat nach Paul Egon llübinger, Um ein neues deutsches Geschichtsbild, in: G W U 1
(1950) 3 8 5 -4 0 1 , hier 388.
Der Neubeginn der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945
5
auch die P o sitio n b e id e r H isto rik e r vor und n ach 1 9 4 5 re c h tfe rtig e n die B esch äftig u n g
m it M ein e ck e s „ D e u ts c h e r K a ta s tro p h e “ und R itte rs „ G e sc h ic h te als B ild u n g sm a ch t“,
beid e im Ja h r e 1 9 4 6 e rs ch ie n e n . S ie b ild en freilich n u r e in e n A u s sch n itt d er in sg esam t
re ich h a ltig e n R e v isio n slitera tu r n ach 1 9 4 5 ä3. E rin n e rt sei an A u to re n w ie A lex an d er
A b u sch , F ritz H a rz en d o rf, F ritz H e llin g , G u stav B ü sch er, K arl Sieg fried B ad er, O tto
H e in rich von d e r G a b le n tz , A lfred von M artin und sc h lie ß lich au ch K arl Ja sp e rs. H in ­
zuw eisen ist a b e r au ch auf die B ü c h e r von U lrich N o ack , F ritz R ö rig und G erd T e lle n ­
b ach, die eb en fa lls u n m itte lb a r n ach K rieg sen d e en tsta n d en und ein e D eu tu n g d er S i­
tuation v e rs u c h te n 14. G le ic h w o h l sp rich t a n g esich ts d er P o sitio n M e in e ck e s und R it ­
ters in n e rh a lb d er d e u tsch e n G e sc h ich tsw isse n sch a ft und d er R e a k tio n auf d iese B ü ­
ch e r viel dafür, h ie r vor allem ihre S te llu n g n a h m e n n äh er zu u n tersu ch en .
W e n n w ir n a ch w eiteren A u ssag en für u n sere F rag estellu n g su ch en , d an n m ü ssen
w ir w eiterh in d ie n e u en L iz e n z z e itsch rifte n e in b e z ie h e n , d ie das b e m erk en sw erteste
neue M ed iu m k u ltu reller Ö ffe n tlic h k e it d arstellten . H ie r w urd en v ielfach Frag en d er
d eu tsch en T ra d itio n e n , d er K o lle k tiv sch u ld und d es W id erstan d s g eg en d en N atio n al­
sozialism us erö rte rt, w ob ei sich je d o c h w eit h äu fig er P u b lizisten und S c h rifts te lle r als
H isto rik er zu W o r t m e ld eten .
E in e d ritte w ich tig e Q u e lle n g n ip p e stellen sch lie ß lic h die V o rlesu n g en und S e m i­
nare und die re ich e V o rtra g stä tig k eit d er U n iv ersitäten dar, die ja au ß ero rd en tlich
sch n ell w ied er ih re n L e h rb e trie b au fn ah m en . V e re in z e lt sind h ie r V o rlesu n g en od er
V o rlesu n g se in le itu n g en p u b liz iert w ord en , w ie z .B . die erste V o rlesu n g sstu n d e des
G ö ttin g e r H isto rik e rs Sieg fried A . K a e h le r v o m H e rb s t 1 9 4 6 13. D a n e b e n m ü ssen aber
auch die T h e m e n d er V o rlesu n g en , S e m in a re und D o k to ra rb e ite n u n tersu ch t w erden,
w enn w ir v erlä ß lich e A u sk u n ft ü b e r d ie F rage n ach S tag n atio n o d er N eu b eg in n e rh a l­
ten w ollen.
E in e vierte Q u e llen g ru p p e ste llt sch lie ß lich das M aterial dar, das im K o n te x t der
N eu g rü n d u n g d es H isto rik erv erb an d es, des ersten H isto rik ertag e s in M ü n ch e n 1 9 4 9
und d er e rsten T e iln a h m e am In te rn a tio n a le n H isto rik e rk o n g re ß in Paris 1 9 5 0 e n t­
stand en ist. D a m it k ö n n e n allerd in gs n u r ein ig e ex e m p la risch e M aterialg ru p p en aus
e in em in sg e sa m t re ich e n Q u e lle n b e sta n d b e n u tz t w erden.
II
F rie d rich M e in e ck e s B u ch „D ie d eu tsch e K a ta s tro p h e “ ist bislan g ü b erw ieg en d u n ­
ter d em G e sic h ts p u n k t sein er p o litisch e n G ru n d ü b e rzeu g u n g u n te rsu ch t w ord en , und
es bestan d in d er e rste n P h ase d er D isk u ssio n ü b er d ieses B u ch die T e n d e n z , diese
S c h rift e h e r als a u to b io g ra p h isch en T e x t zu in te rp re tie re n d enn als w issen sch aftlich e
13 Vgl. dazu etwa Gerhard //a} (Hrsg.), Zur literarischen Situation 1 9 4 5 -1 9 4 9 (Kronberg 1977).
14 Ulrich Noack, Deutschlands neue Gestalt (Frankfurt 1947); Fritz Rörig, Geschichte und G e­
genwart (Berlin 1946) und Gerd Tellenbach, Die deutsche Hot als Schuld und Schicksal (Stuttgart
1947, geschrieben im Som m er 1945).
15 Vom dunklen Rätsel deutscher Geschichte, in: Die Sammlung 1 (1945/46) 140-153.
Winfried Schulze
6
A u sein a n d e rse tz u n g m it d em N atio n also zialism u s und als V e rsu ch e in e r O rts b e s tim ­
m u n g d er N ation n ach d er K a ta stro p h e. E u g en K o g o n h at sie vo ller H o ffn u n g in s e i­
n e r R e z e n sio n in d en „ F ran k fu rter H e fte n “ als „ B eg in n d er G e sc h ic h tsre v is io n “ g e ­
w ürdigt, o h n e freilich H a lb h e ite n und p ro b le m a tisc h e Passagen zu ü b e rs e h e n 16. D ie
A rb e it, gew iß en tsta n d en u n te r d em u n m itte lb a re n E rle b n is des K rie g se n d e s, darf w e­
nig er u n te r d em relativ ieren d en E in d ru ck d er H isto rism u sd isk u ssio n g elesen w erd en
als v ie lm e h r im Z u sa m m e n h a n g d er verzw eifelten S u c h e n ach d en G rü n d en für die
„ d eu tsch e K a ta s tro p h e “.
Z u n ä c h st sc h e in t m ir die Z u m u tu n g g e g e n ü b e r sich se lb st b e m erk en sw ert, m it d er
d er 8 4 jä h rig e H isto rik e r, d er d u rch ein A u g e n le id e n an u m fa n g reich er L ek tü re g e h in ­
d ert war, sich d em Z w an g zur R e c h e n s c h a ft unterw arf. N iem an d k o n n te in d er S itu a ­
tio n d er E v aku ieru n g in e in em frä n k isch en D o rf und seit M itte A u g u st in G ö ttin g e n
v on d iesem M an n erw arten , selb stk ritisch zur eb en zu E n d e g eg an g en en G e s c h ic h te
des D r itte n R e ich e s S te llu n g zu n e h m e n . U n d je d e r h ätte v erm u tlich e in e r e m o tio n a ­
len R e a k tio n p e rsö n lich e r V erzw eiflu n g V e rstä n d n is en tg eg en g eb ra ch t. M e in e c k e je ­
d o ch le iste te e rh e b lich m eh r. D e r M an n , d er sich , w en n au ch als „ V e rn u n ftre p u b lik a ­
n e r“, loyal zur W e im a re r R e p u b lik v erh alten h a t t e 17, d er sich aus g u tem G ru n d e zum
„g eistig en und p o litis ch e n G eg en la g er“ H itlers re c h n e n d u rfte, d er in se in e m A lte r
n o ch v on M ä n n ern des W id ersta n d es ins V ertra u en g ezo g en w ord en war, b e ließ es
n ic h t bei d er n a h elieg en d e n E rk läru n g d es „ H itle rism u s“ aus d em Z u fall, d .h . aus den
Im p o n d e ra b ilie n d er d e u tsch e n In n e n p o litik d er frü h en 3 0 e r Ja h re . D e r N a tio n a lso ­
z ialism u s H itlers w ar für M e in e ck e d arü b er hin au s „ k ein e blo ß aus d eu tsch en E n t ­
w ick lu n g sk rä fte n a b zu leiten d e E rsc h e in u n g “, so n d ern er h atte „auch b e stim m te A n a ­
log ien und V o rstu fen in d en au to ritären S y s te m e n d er N ach b arlän d e r“.
D ie se V e rg le ich e h a tte n je d o ch n ic h t - w ie an g esich ts a k tu elle r D isk u ssio n e n le ic h t
zu v e rm u te n w äre - die F u n k tio n d er E n tla stu n g d er D e u ts c h e n , so n d ern sie fü g ten
sich in e in In te rp re ta tio n sm o d e ll d er e u ro p ä isc h en G e s c h ic h te d es 19. und 2 0 . J a h r ­
h u n d e rts, das darauf a b zielte, die g ro ß e n E n tw ick lu n g slin ie n h erau szu arb eiten und
daraus d ie a k tu elle Lage zu erk lären . D ie se E n tw ick lu n g slin ie n sah M e in e ck e vor a l­
lem in d en „be id en W e lle n des Z e ita lte rs“, d .h . d er so z ialistisch en und d er n atio n alen
B ew eg u n g , d eren so ziale U rsach en e r klar e rk a n n te - so klar, daß er sich e n tsch u ld ig e n
zu m ü ssen g la u b te, d er von ih m bev o rzu g ten g e iste sg e sc h ic h tlic h e n M eth o d e u n treu
g ew ord en zu sein . Im V erh ä ltn is b e id er B ew eg u n g en m e in te er d en S c h lü ssel zur E r ­
k lärun g d er jü n g sten V e rg a n g e n h e it zu seh en .
D ie se G ru n d e in sic h t m a ch te es ih m au ch m ö g lic h , zu e in e r d ifferen z ierten B e tr a c h ­
tu n g d es P re u ß e n tu m s vo rzu sto ß en , d essen „zw ei S e e le n , ein e k u ltu rfäh ig e und ein e
16 Frankfurter Hefte 8 (1946) 776 ff. Wolfgang Wippermann hat demgegenüber zu Recht Meineckes Schrift als systematische Analyse des Nationalsozialismus als Teil des europäischen Fa­
schismus gewürdigt und damit die besondere Qualität dieses Versuchs hervorgehoben. Vgl. dm .,
Friedrich Meineckes „Die deutsche Katastrophe“. Ein Versuch zur deutschen Vergangenheitsbe­
wältigung, in: M ichael jE rif (Hrsg.), Friedrich Meinecke heute (Berlin 1981) 101-121.
17 Vgl. zuletzt dazu H arm Klueling, „Vernunftrepublikanismus“ und „Vertrauensdiktatur“: Fried­
rich Meinecke in der W eimarer Republik, in: HZ 242 (1986) 6 9 -9 8 .
Der Neubeginn der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945
7
kulturw idrige“, e r im V o rg riff auf m o d e rn e In te rp re ta tio n e n erk an n te, d essen „ m erk ­
würdig p e n e tra n te r M ilitarism u s“ ih m n ic h t verb o rg en blieb , d essen „U n ifo rm ieru n g “
und „ g ed an k en lose U n terw ü rfig k eit“ ü b erseh en zu h ab en , er sich und se in e r G e n e ra ­
tion vorwarf. E r m a ch te sich die sp äten W a rn u n g e n ein es T h e o d o r F o n ta n e vor dem
B oru ssism u s“ zu eig en , d er in V erb in d u n g m it d em „M ilitarism u s“ ein e „sch w ere H y ­
p o th ek “ sah, „die auf d em W e rk B ism arck s lag“ . Im K a m p f von 1 8 6 6 und im K rie g
von 1870/ 71 w ollte er je tz t sch o n die „ K e im e des sp äteren U n h e ils“ e rk e n n e n , zum al
die V ersu ch e zur frie d lich e n V ere in ig u n g von n atio n alen und so zialen G ed an k en
_ etwa im W e rk F rie d rich N au m an n s - m iß lan g en . D e r R iß w urde v ertieft d u rch das
E rgebn is d es E rste n W e ltk rie g s. D ie fatale W e n d e in d er E n tw ick lu n g des d eu tsch en
B ü rg ertu m s sah e r in d er V aterlan d sp artei und in d er D o lch sto ß le g e n d e . S ie m a rk ier­
ten die U n v e rein b a rk e it d er beid en G ru n d b ew eg u n g en d es Z e ita lte rs, d er B o d e n für
eine Ü b ersteig eru n g d es M ach tw illen s war m it ih n e n g eg eb en .
M ein e ck es A b h a n d lu n g , ob w oh l p rin zip iell d er C h ro n o lo g ie d er d eu tsch en und e u ­
ro p äisch en G e s c h ic h te d es 19-/20. Ja h rh u n d e rts folg en d , ist je d o c h k ein b lo ß e r A b riß
der E reig n isse. Im m e r w ied er b le n d e t er in die A n aly se d es P rozesses sy stem atisch e
Ü b erle gu n g en ü b e r die w irk en d en F a k to ren d er G e s c h ic h te ein, w ie wir dies bei den
beid en „ W elle n d es Z e ita lte r s “ sch o n g eseh en hab en . Z w isch e n N a ch k rieg sz eit und
D rittes R e ic h sch o b er ein e in teressan te B e tra ch tu n g zur S o zialp sy ch o lo g ie d er m o ­
d ernen W e lt ein , die e r d u rch die „V erd rän g u n g des h o m o sap ien s d u rch den h o m o
faber“ ch a ra k te risie rt sah. D a ru n te r verstand er d ie m it d er V e rm e h ru n g te c h n is c h ­
w issen sch a ftlich er B eru fe ein h e rg e h e n d e Sch w ä ch u n g d er a lteu ro p äisch e n V e rn u n ft
und V ern a ch lä ssig u n g d er „irration alen S e e le n trie b e “. D ad u rch k o n n te aus dem n ü c h ­
tern en F a ch m a n n d er F a n atik er, d er M o n o m an e, d er m o d e rn e T y p des W e ltv e rb e s se ­
rers en tste h e n . R o se n b e rg und H itle r w aren für ih n B eisp iele d ieser E n tw ick lu n g .
Man w ird zu g eb en m ü ssen , daß M ein eck es id ealistisch es V o k ab u lar m a n ch m a l von
d er E rn sth a ftig k e it und T ie fe d er A naly se a b len k t, die h ie r v o rg eleg t w urde und die in
m a n ch er H in sic h t E in s ic h te n v o rw eg n im m t, w ie sie sp äter in H an s F rey ers „ T h eo rie
des g eg en w ärtig en Z e ita lte rs“ von 1 9 5 5 en tw ick elt w urd en. F ü r u n seren Z u s a m m e n ­
hang m a ch t d ieser G a n g d er G ed a n k en aber d e u tlich , daß h ie r von M e in e ck e A n aly se­
verfahren h e ra n g e z o g e n und e m p fo h le n w urd en, die bislan g n ich t im A rsen al des tra­
d ierten H isto rism u s zu fin d en w aren, die v ie lm e h r aus d en A rb e ite n d er zeitg e n ö ssi­
sch en S o z io lo g e n sta m m te n . A u ch h ier sch lu g M e in e ck e w ieder die B rü ck e zu sein em
p re u ß isch -d eu tsch e n H au p tstran g, w enn er d ie V o rfo rm e n d ieses „ m o d ern en te c h ­
n isch u tilita ristisch e n G e is te s “ sch o n im p re u ß isch en M ilitarism u s ein es F ried rich
W ilh e lm I. a n g eleg t sah. E r v erfo lg te d iesen G e d a n k e n k ritisch w eiter bis in die G e ­
sch ich te d er R e ich sw e h r im W e im a re r Staat, und in d iesen P assagen wird d ie A nalyse
oft m it a u to b io g ra p h isch en Z eu g n issen des V erfassers b e leg t, w en n M e in e ck e sein e
vielfältigen U n te rh a ltu n g e n etw a m it G en eral G ro e n e r n u tzte.
M ein eck e s A n a ly se e rr e ic h t zuw eilen ein e E in d e u tig k e it d er A ussage, daß e r vor
d em U n g e h e u e rlich e n z u rü ck z u sch reck en sch e in t, das er h ie r au ssp rech en m uß, dem
einm al b e tre te n e n Pfad d er E rk e n n tn is folg end . S c h a rf setz t er die „w eh rlo sen P ro fe s­
soren von 1 8 4 8 “ vo m „w eh rh aften Ju n k e r O tto von B ism a rc k “ ab. D ie „en tsch eid e n d e
D ev iation von d en w esteu ro p äisch -lib e ralen Id e e n “ war 1 8 4 8 erfo lg t, je tz t k o n n te m an
8
Winfried Schulze
sich e in es sp e z ifisch d e u tsch e n W e g e s zur E in h e it rü h m en . F re ilic h gab sich M ein e c k e k e in e m K u rz s ch lu ß zw isch en d iesen von ih m e rk a n n te n G ru n d p ro b le m e n und
d em S ie g des N atio n also zialism u s hin. S e in e A n aly se d er J a h r e 1 9 3 0 - 1 9 3 3 - häu fig
b e le g t m it p e rsö n lich e n E rin n e ru n g e n an G e sp rä ch e m it h an d e ln d en Z e itg e n o s s e n k re iste u m die B eg riffe von „Z u fall“ und „ A llg e m e in e m “, und es k ann k ein Z w eifel
daran b e ste h e n , daß d er S ie g H itlers für ih n n ic h t n o tw en d ig war.
Es k ö n n e n h ie r n ic h t alle T e ile d er S c h rift in g le ic h e r B reite an aly siert w erd en. W e ­
se n tlic h e rs ch e in t, daß M e in e ck e alles tat, um n ic h t n eu e R a ch e g e fü h le g eg en d ie S ie ­
g e r zu p ro v ozieren . D ie V e rtre ib u n g d er d eu tsch en B ev ö lk eru n g aus d en O stg e b ie te n
„trifft u n s leid er n ic h t sch u ld lo s“ und au ch für die radikale A u sm erzu n g aller n a tio n a l­
so z ia listisch e n Id een sah e r allen A n laß auf seiten d er S ieg er, w en n er sie au ch v o r u n ­
tersc h ie d slo se r B estrafu n g w arnte. A u s d ieser H altu n g herau s fo rm u lierte er sein e z e n ­
trale F o rd e ru n g im le tz te n K a p itel d er S c h rift u n te r d em T ite l „W eg e d er E rn e u e ­
ru n g “. „ D e r rad ikale B ru ch m it u n serer m ilita ristisch en V e rg a n g e n h e it, d en w ir je tz t
auf u n s n e h m e n m ü ssen , fü h rt uns ab er au ch vor die F rag e, was aus u n seren g e s c h ic h t­
lic h e n T ra d itio n e n ü b erh au p t nu n w erd en wird. U n m ö g lich u n d selb stm ö rd e risch
w äre es, sie in B au sch und B o g en ins F e u e r zu w erfen und uns als R e n e g a te n zu g e b ä r­
d en. A b e r u n se r h e rk ö m m lic h e s G e sch ich tsb ild , m it d em w ir g ro ß g ew ord en sin d , b e ­
darf je tz t allerd in gs e in e r g rü n d lich en R ev isio n , um die W e rte und U n w erte u n serer
G e s c h ic h te k lar v o n e in a n d e r zu u n te rsch e id e n .“
D ie s sc h e in t die zen trale B o tsch a ft von M e in e ck e s A n aly se zu sein und n ic h t sein e
e h e r am R a n d e vo rg etrag en e E m p fe h lu n g zur B ild u n g sog. „ G o e th e -G e m e in d e n “, die
o ft m it sp ö ttisch e m U n te rto n zitiert w ord en is t 18. Im ü b rig en b e w eisen d ie u n m itte l­
b aren N a ch k rie g sja h re m it ih rem R ü ck z u g auf d ie k lassisch e L itera tu r und d ie d ort
v e rm u te te m o ra lisch e K o m p e te n z , daß M e in e ck e h ie r zu m in d e st in Ü b e re in stim m u n g
m it d em ta ts ä ch lich e n G ru n d th e m a d ieser J a h r e arg u m en tierte. D o c h ist dies w irk lich
n u r ein m a rg in aler A sp e k t, d er n ic h t die b e a c h tlic h e a n aly tisch e L eistu n g M e in e ck e s
v erd eck en soll, d ie au ch d u rch die R e z e n sio n e n b e leg t w ird, d ie d iese S c h rift erfu h r.
G e rh a rd R itte rs S te llu n g n a h m e n ach d er N ied erlage u n te rsch ie d sich e rh e b lic h von
d er A n a ly se M e in e ck e s. D ie s hin g zu n äch st ein m al m it d em ganz o ffe n s ic h tlic h u n te r­
sch ie d lic h e n In fo rm a tio n ssta n d b e id er H is to rik e r zu sam m en . Im U n tersch ied zu dem
auf private K o n ta k te a n g ew iesen en M e in e ck e h a tte R itte r w ährend des K rie g e s d u rch
V e rm ittlu n g von A d am v o n T ro tt zu So lz für das A usw ärtige A m t ein e A n aly se d er al­
liie rte n K rieg sp ro p ag an d a g eg e n ü b e r D e u tsch la n d e ra rb eitet und w ußte von d ah er um
die S te re o ty p e n e in e r zu erw arten d en P o litik d er „ R e e d u ca tio n “. S c h o n in d er von
ih m re d ig ierte n „F reib u rg er D e n k s c h rift“ vo m Ja n u a r 1 9 4 3 h a tte er sich g eg en die
T h e o rie e in es „Irrw eges“ d er g esa m ten n e u eren d e u tsch e n G e s c h ic h te verw ahrt, und
es e n tsp ra ch d ieser G ru n d au ffassu n g , w en n er je tz t die G e le g e n h e it n u tzte, in sein er
1 9 4 6 e rs c h ie n e n e n S c h rift und in vielen an d eren Z e itsc h rifte n v e rö ffe n tlic h u n g e n und
V o rträ g e n g e g e n ein e so lch e P au sch alv erd am m u n g d er d e u tsch e n G e s c h ic h te sein e
S tim m e zu erh e b e n . E r k o n n te dies u m so e h e r tu n , als e r w äh ren d d er N azih errsch aft
18 Zuletzt dazu K. Schwab, Zum Goethe-Kult, in: Gerhard Iia y (Hrsg.), Zur literarischen Situa­
tion 1 9 4 5 -1 9 4 9 (Kronberg 1977) 2 4 0 -2 5 1 .
Der Neubeginn der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945
9
in k larer G e g n e rsch a ft zum R e g im e g estan d en h a tte, das ih n sch lie ß lich n o ch im
F rü h h erb st 1 9 4 4 in H aft g e n o m m e n h a tte 19, aus d er er erst d u rch das H e ra n n a h en der
R u ssen b e fre it w urde.
E s darf je d o c h n ic h t v erk a n n t w erd en, daß R itte rs zuw eilen verbale und in n a tio n a ­
len Frag en a u ch in h a ltlic h e Ü b e re in stim m u n g e n m it d er n a tio n also zialistisch en B ew e­
gung au ch n o ch n a ch d em K rie g für m a n ch e rle i Irrita tio n e n ü b e r sein e S te llu n g dem
R e g im e g e g e n ü b e r g e so rg t h ab en . D ab ei steh t sein e ein d eu tig e H altu n g zum R eg im e
selb st und sein e in n e re Z u g e h ö rig k e it zur W id erstan d sb ew eg u n g außer Z w eifel. Sie ist
d er d e u tlich e B ew eis dafür, daß R itte r sich in se in e r H altu n g d en N ation alsozialisten
g eg e n ü b er in d em k la ssisch en D ile m m a aller k on serv ativ en K rä fte b efan d , d ie sich
durchaus in d e r L age sa h en , ein S tü ck des W e g e s m it d en N atio n also zialisten g e m e in ­
sam zu g e h e n , so lan g e es z .B . u m die R ev isio n des V e rsailler F ried en s g in g 20.
R itte r p fleg te in d iesen N a ch k rieg sja h ren die v o n ih m atta ck ierte N eig u n g zur p au­
sch alen V e ru rteilu n g d er n e u eren d eu tsch en G e s c h ic h te als „V an sittartism u s“ zu b e ­
zeich n e n . D a h in te r verb arg sich ein e a n tid eu tsch e H altu n g , die in E n g lan d e n ts c h e i­
dend von d em E rste n D ip lo m a tis ch e n B erater (bis 1 9 4 1 ) im F o reig n O ffice Lord V an sittart g ep räg t w ord en w ar und die - in d essen e ig en en W o r te n - k einesw egs auf die
völlige V e rn ic h tu n g D e u ts ch la n d s ab zielte, so n d ern auf „d isarm am en t“ und „reed ucatio n “21.
D ie se r V e rs u ch d er A b w eh r ein e r p au sch alen F e h lin te rp re ta tio n w ar je d o c h k e in e s­
wegs das a lle in ig e Z ie l vo n R itte rs erster S te llu n g n a h m e in B u ch fo rm , die u n ter dem
T ite l „ G e sc h ic h te als B ild u n g sm a ch t. E in B eitrag zur h is to risch -p o litisch e n N e u b e sin ­
nu n g “ e rs c h ie n 22. D a n e b e n ließ R itte r k ein en Z w eifel d arü b er a u fk o m m en , daß es e i­
ner „totalen U m s te llu n g u n seres d eu tsch en G e sc h ic h ts d e n k e n s “ b ed u rfte. S e in e K ritik
an „Staatsv erg ö tzu n g “, M ac h tp o litik , A lld e u tsc h tu m und an d eren Ü b ersteig eru n g en
läßt sich bei so rg fältig er L ek tü re h erau sfin d en , a b e r sie prägt n ic h t den C h arak ter d ie ­
ser S ch rift. F ü r d en L e se r des J a h r e s 1 9 4 6 (und d er fo lg en d en Ja h r e , d en n es e rs ch ie ­
nen n o ch zw ei w eitere A u flag en sow ie Ü b ersetz u n g en ) m u ß te g erad e die V erb in d u n g
von d er Z u rü ck w e isu n g V a n sitta rt’sch e r Ü b erle g u n g en und b e g ren z ter K ritik an e in i­
gen F e h le n tw ick lu n g e n und Ü b ersteig eru n g en d en E in d ru ck erw eck en , daß h ier eine
in M aßen se lb stk ritisch e , ab er d o ch au ch selb stb ew u ß te S te llu n g n a h m e v o rg elegt w or­
den war, die je d en fa lls d en E in d ru ck v erm ied , daß sich die N ation in S a c k und A sch e
zu h ü llen hab e. K e in e „ S e lb stü b e rh e b u n g “, a b e r au ch k ein e „w ürdelose S e lb s te n t­
19 Vgl. dazu die biographische Skizze von Andreas Dorpalen in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.),
Deutsche Historiker 1 (Göttingen 1971) 8 6 -9 9 , hier 92.
20 Ich verweise für die Biographie Ritters zusätzlich auf die neueste Skizze von Klaus Schwabe,
Gerhard Ritter - W erk und Person, in: ders., R o lf Reichardt (Hrsg.), Gerhard Ritter. Ein politi­
scher Historiker in seinen Briefen (Boppard 1984) hier bes. 56 ff. Vgl. jetzt dazu die ergänzende
Rezension von M ax Müller, Gerhard Ritter. Ein politischer Historiker, in: Historisches Jahrbuch
106 (1986) 1 1 9 -1 3 4 , die freilich nicht auf die scharfen Auseinandersetzungen Ritters mit einzel­
nen katholischen Historikern eingeht.
21 Vgl. Lord Robert Gilbert Vansittart, Lessons of my Life (New York 1943) X X und 2 0 ff. („Vansittartism“) und ders., Black Record. Germans Past and Present (London 1941).
22 Erschienen 1946 in Stuttgart bei Brockhaus, 53 S.
10
Winfried Schulze
e h ru n g “ war das M o tto d er S c h rift, v ie lle ich t erk lärb ar bei e in e m M an n e, d er aus k o n ­
servativen G ru n d p o sitio n e n herau s zum W id ersta n d g eg en das R e g im e g efu n d en
h atte. S e in e A b s ic h te n in d ieser N eu b esin n u n g sd eb a tte b e sch rie b R itter, n o ch ein m al
„ n ich t o h n e B itte rk e it“ rü ck sch au en d , im J a h r e 1 9 5 0 , als e r im R a h m e n d er A u s e in a n ­
d ersetz u n g e n um d ie G rü n d u n g des „ In stitu ts für Z e itg e s c h ic h te “ ö ffe n tlic h a n g eg rif­
fen w u rd e: „ S e it 5 Ja h r e n k äm p fe ich n u n allein auf w eiter F lu r steh en d m e in e n
K a m p f für ein e v ern ü n ftig e S e lb stb e sin n u n g d er d eu tsch en G e sch ich tsw isse n sch a ft
o h n e vo reilig e P reisg ab e g ro ß e r T ra d itio n e n .“23
E s bed arf k e in e r g ro ß e n P h an tasie, um sich d en E rfo lg ein es so lch e n P ro g ram m s
in sg esa m t v o rsich tig e r R ev isio n v o rstellen zu k ö n n e n . D as soll n ic h t h e iß en , daß es an
R itte rs P erso n und P ro g ram m n ic h t K ritik g e g e b e n h ätte, g erad e aus d em u n m itte lb a r
n ach K rie g se n d e stark en c h ristlich -a b e n d lä n d isch e n D e n k e n herau s m o ch te R itte rs
O rtsb e stim m u n g in ih rer p re u ß en freu n d lich en S ic h t zu w enig radikal ersch ein en .
S c h o n v o r d er A u sein a n d ersetz u n g um R itte rs R o lle bei d er G rü n d u n g d es „ In stitu ts
für Z e itg e s c h ic h te “ w ar R itte r 1 9 4 9 im „ R h e in isc h e n M erk u r“ an g eg riffen w ord en ,
w eil e r n ic h t an d em von d er fra n zö sisch en K u ltu sv erw altu n g o rg an isierten T re ffe n
fra n z ö sisch e r und d e u tsch e r H is to rik e r in S p e y e r te ilg e n o m m e n h a tte und d eshalb als
„ S a b o teu r d er in te rn a tio n a le n V erstän d ig u n g “ und „g eistig er N ach fah re T r e its c h k e s “
k ritisiert w ord en w ar24.
E in a n d erer G e sic h ts p u n k t soll h ie r h e rau sg e h o b en w erd en, d er sow ohl bei M e in e ck e als auch bei R itte r auffällt. In b e id en F ällen g e h t es e ig e n tlic h n ich t um ein e R e ­
visio n sd isk u ssio n , die u n te r m e th o d o lo g isch e n G e sic h ts p u n k te n für u n s in teressa n t
w äre. V o n b eid en H isto rik e rn w urd en vorw ieg en d In h a lte und fo rsch u n g sleiten d e B e ­
g riffe, Id ee n und In te rp re ta m e n te k ritisiert und in F rage g estellt, n ic h t ab er F o r ­
sc h u n g sm e th o d e n . A m e h e ste n k am e n d iese F rag en n o ch bei M e in e ck e ins B lick feld ,
w en n er von den so zialen W a n d lu n g en d es 19. und 2 0. Ja h rh u n d e r ts als d er e n ts c h e i­
d en d en U rsa ch e aller V erä n d e ru n g en sp rach , ja sich sog ar en tsch u ld ig te , sich d am it
v ie lle ich t von d e r id e e n g e sc h ic h tlic h e n M eth o d e zu e n tfe rn e n . B ei R itte r ab er ist ein
R e fle k tie re n m e th o d o lo g isch e r P ro b le m e n ich t zu e rk e n n e n , so daß sein e b e h u tsam e
K ritik an b e stim m te n ü b erz o g en en In te rp re ta tio n e n e ig e n tlich m e th o d is ch fo lg en lo s
b le ib e n m u ß te, w ie sein e sp äteren A u ssag en zu d iesem P ro b le m n o c h d e u tlich e r z e i­
g e n w erden.
Frag t m an n ach d em G ru n d für d ieses D e fiz it, d en n a n g esich ts des häu figen V e r ­
g le ic h s m it d er p o litisch -so z ia le n E n tw ick lu n g W e ste u ro p a s h ä tte m an so lch e G e d a n ­
k en erw arten k ö n n e n , d rän g t sich die Ü b erle g u n g gerad ezu auf, daß es die D o m in a n z
e in e s b e stim m te n G e sc h ic h tsb ild e s war, das h ie r auf m e th o d o lo g isch e m G e b ie t ein e
R e v isio n v erh in d erte. B ei b e id en H isto rik ern n ä m lich fin d et sich ein e d u rch g e h e n d e
L in ie d er In te rp re ta tio n d es 2 0 . Ja h rh u n d e rts . D ie se s Ja h rh u n d e r t ist fü r sie d u rch
„V e rm a ssu n g “ und „ M a s se n m e n sch e n tu m “ g eprägt. H ie r d ro h t d ie e ig e n tlich e G e fa h r,
h ier lie g t das P o ten tia l für so ziale U n ru h e und p o litis ch e V erfü h rb ark eit.
23 Ritter an Percy Ernst Schramm am 10. 5.1950, Archiv V H D 2. (Das Archiv des V H D befindet
sich im Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen.)
24 So Ritter in einem Rundschreiben an den Vorstand des V H D am 9- 5.1 9 4 9 in Archiv V H D 2.
Der Neubeginn der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945
11
R itte r hat vor alle m in se in e r 1 9 4 8 e rsch ie n e n e n S c h rift „E u ro p a und die d eu tsch e
F rag e“ in d er E n tste h u n g ein e s „ e n tp e rsö n lic h te n M a sse n m e n sch e n tu m s vor allem als
F o lg e des E rste n W e ltk r ie g e s “ ein e w esen tlich e V o rau ssetzu n g d er fa sch istisch en B e ­
w egun gen g e se h e n . B ei M e in e ck e ist die „V erm assu n g “ gerad ezu die Sig n atu r des 20.
Ja h rh u n d e rts . G e g e n so lch e u n iversalen T e n d e n z e n h alf in d er S p rach e R itte rs nu r die
V e rn u n ft e in e s sta rk en S taates, nu r er k o n n te d en A u sg leich d er w id erstreb en d en I n ­
teressen h e rb e ifü h re n . D ie F o lg e ein e s so lch e n V erstän d n isses war n ic h t n u r ein e b e ­
g ren z te W e rtsc h ä tz u n g d er D e m o k ra tie , die n u r als „elitäre“ D e m o k ra tie g ed a c h t w er­
den k o n n te 25, so n d e rn au ch das evid en te D e fiz it g e e ig n e te r K a te g o rie n zur A nalyse
von M a sse n p h ä n o m e n e n , also d er G esellsch a ft. E s ist d u rch au s ch a ra k te ristisch , w enn
R itte r in se in e r G e n e a lo g ie d es eg alitären M assen staates auf R ou sseau und auf die ja ­
k o b in isch e P h ase d er F ra n z ö sisc h e n R ev o lu tio n zu rü ck g riff, w o die E n ta rtu n g sm ö g ­
lic h k e ite n d er D e m o k ra tie sch lag en d u n te r B ew eis g e ste llt sc h ie n e n 26. E s sch e in t, daß
es die G e se llsch a ftsfe rn e so w oh l R itte rs als au ch M e in e ck e s war, die d en G ru n d dafür
b ild e te , daß die K ritik d er h e rk ö m m lic h e n G e sch ich tsw isse n sch a ft in h a ltlich blieb
und k ein e m e th o d is ch e n F o lg ew irk u n g en zeitig en k o n n te . W e n n m an sich v erg eg en ­
w ärtigt, daß es die g e se llsc h a ftlic h e n V erän d e ru n g en des 19. und b e g in n e n d e n 20.
Ja h rh u n d e rts g ew esen w aren , die an v ielen O rte n in E u ro p a ein e „an d ere“ G e s c h ic h ts ­
w issen sch a ft h erv o rg eru fen h a tte n 27, m ag das M an k o e in e r G e sch ich tsau ffassu n g n o ch
d e u tlich e r w erd en, d ie n o c h n ach 1 9 4 5 d em P h ä n o m e n d er m o d ern en in d u striellen
G e se llsch a ft und d er ih r ad äqu aten d em o k ra tisch e n O rd n u n g h ilflo s, w enn n ich t gar
m it A b le h n u n g g eg en ü b erstan d .
III
W ir h a b en bislan g m it F rie d rich M e in e ck e und G erh ard R itte r zw ei H isto rik e r zu
W o r t k o m m e n lassen , die - w en n au ch v e rsch ied en en G e n e ra tio n e n a n g eh ö ren d - zu
d en Ä lte re n g ez ä h lt w erd en m u ß ten . B eid e stan d en g ew isserm aß en stellv ertreten d für
die G e n e ra tio n e n , die für d en V erlau f d er d eu tsch en G e s c h ic h te veran tw o rtlich zu m a ­
ch e n w aren, w enn a u ch n u r in e in e m in d irek ten S in n e . D a m it erg ibt sich die Frage
n ach d er R e a k tio n d e r ju n g e n G e n e ra tio n auf das „ D ritte R e ic h “, die N ied erlag e und
das V a k u u m d er e rste n N a ch k rieg sja h re. Ä u ß eru n g en d ieser G e n e ra tio n fin d en sich
am eh e ste n n o ch in d en n e u g eg rü n d e ten Z e itsc h rifte n je n e r Ja h r e , die in vielen Fällen
25 So Schwabe, Ritter-Briefe, 101.
26 Vgl. Gerhard Ritter, Lebendige Vergangenheit. Beiträge zur politisch-historischen Selbstbesin­
nung (München 1958) vor allem 41 f. Vgl. auch ders., Europa und die deutsche Frage (München
1948) 193 f. In diesem Zusammenhang ist es von Interesse, daß der englische Historiker Geoffrey
Barraciough Ritter in einem Artikel in TLS vom 1 4 .4 .1 9 5 0 vorwarf, er wolle die Idee der westeu­
ropäischen Menschenrechte als Ursprung des Totalitarismus diskreditieren „and that the only
way to check this westem disease is a strong remedial dose of the German Rechtsstaat ... ä la
W ilhelm I. and Bismarck“.
27 Vgl. W infried Schulze, Soziologie und Geschichtswissenschaft. Eine Einführung in die Pro­
bleme der Kooperation beider Wissenschaften (München 1974) 48 ff.
12
Winfried Schulze
je d en fa lls d ie F u n k tio n ein e s Sp ra ch ro h rs d er ju n g e n und m ittle re n G e n e ra tio n ü b e r­
n a h m e n 28. E s sind dies zw ar k ein e Z e its c h rifte n , die w ir als h isto risch e Z e itsc h rifte n
im en g ere n S in n e b e z e ic h n e n k ö n n e n , ab er es sind K u ltu rz e itsc h rifte n m it e in e m re ­
lativ b re ite n th e m a tis ch e n S p e k tru m , die n atü rlich au ch im m e r w ied er zu d en d rän ­
g e n d en Frag en je n e r Ja h r e S te llu n g n a h m e n , d ie uns in d iesem Z u sa m m e n h a n g in te ­
ressieren . M an sp rach dam als von e in e r „ F lu ch t in die Z e its c h r ift“29. S c h o n die N a­
m e n d ieser n e u en Z e its c h rifte n k lin g en m e is t w ie ein e p ro g ram m atisch e A u ssag e:
A u fb a u , A ussaat, D ie S a m m lu n g , B eg e g n u n g , B esin n u n g , B o g en , D as neu e W o r t, E in ­
h eit, E n d e und A n fan g , D ie F äh re, F risch e r W in d , G eg en w art, G e is t und T a t, D a s g o l­
d en e T o r, H o riz o n t, M erk u r, N eu bau , N eu es A b e n d la n d , N eu es E u ro p a, N eu e O rd ­
nu n g , P rism a, D e r R u f, S ta n d p u n k t, U m sch a u , D ie W a n d lu n g (als W ied erg rü n d u n g ),
W e lts tim m e , Z e ic h e n d er Z e it. D ie L ite ra tu rg e sch ich te d ieser J a h r e hat es sich a n g e ­
w ö h n t, von d er „ Z e itsc h rifte n e u p h o rie “ d er N ach k rieg sjah re zu sp r e c h e n 30.
„ D e r R u f“ ist dabei sch o n relativ o ft g ew ü rd ig t w ord en , w eil er, aus e in e r L ag erzeit­
sch rift in e in e m a m e rik a n isch e n K rie g sg e fa n g e n e n la g e r im W in te r 1944/ 45 e n ts ta n ­
d en und seit d em 15. A u g u st 1 9 4 6 auf d em d e u tsch e n M ark t, sch o n im A p ril 1 9 4 7
u n ter H in w eis auf sein e „ n ih ilistisch e n “ T e n d e n z e n w ied er v erb o ten w urde. D as V e r ­
b o t d ieser Z e its c h rift war in so fern vo n B ed eu tu n g , als d ieser V o rg an g die B ild u n g e i­
n e r G ru p p e ju n g e r S c h rifts te lle r und P u b liz iste n v eran laßte, die d ann u n ter d em S ig ­
n u m d er „G ru p p e 4 7 “ zu e in e m w e se n tlich e n E le m e n t d er L iteratu r d er B u n d esrep u ­
blik g ew o rd en sind. „ D e r R u f“, d er sich im U n te rtite l „U n ab h än g ig e B lä tte r d er ju n ­
g en G e n e r a tio n “ n an n te , su ch te bew u ß t n ach d er A b g ren zu n g vo n d er älteren G e n e r a ­
tio n , sie w ar sein P ro g ra m m : „D as ju n g e E u ro p a fo rm t sein G e s ic h t“ war d er T ite l des
L eita rtik e ls d er e rsten N u m m er. C h a rak teristisch erw e ise w ar es d ie F rage d er „ K o lle k ­
tiv sch u ld “ und e in e r daraus ab z u leiten d en „ reed u c a tio n “, die e in e n d er H a u p tstre it­
p u n k te m it d en am e rik a n isch e n Z e n su rin s ta n z e n bild ete. A n g e s ic h ts d er V erb reitu n g
d er Z e its c h rift - ca. 1 0 0 0 0 0 v erk au fte E x e m p la re - , ih rer V era n k eru n g in d er B e v ö l­
k eru n g und ih res au ch p o litisch e n G e w ic h ts k o n n te ein e so lch e P u b lik atio n m it ih rer
e ig e n tü m lic h e n V e rb in d u n g ra d ik a ld em o k ra tisch en , so z ia listisch en , n atio n a len und
e u ro p ä isch en D e n k e n s n ic h t län g er g e d u ld et w erden.
D ie p o litis ch -h is to risch e P o sitio n d ieser Z e its c h rift k ann tro tz d er n o tw en d ig en
D iffe re n z ie ru n g e n in n e rh a lb des H e rau sg e b er- und M itarb eiterk reises d o ch d u rch ei-
28 Zur Pressepolitik der Alliierten nach 1945 vgl. Harry Pross (Hrsg.), Deutsche Presse seit 1945
(1965) 29 f. (Beitrag von H arold Hurwitz über die „Pressepolitik der Alliierten“).
29 So jedenfalls H artm ann Goertz in einem Artikel der „Neuen Zeitung“ vom 13 .1 .1 9 4 7 , abge­
druckt in: Als der Krieg zu Ende war. Literarisch-politische Publizistik 1945 -1 9 5 0 (Stuttgart
1973) 47. Dabei ist jedoch zu bedenken, daß die Existenz von insgesamt 388 Zeitschriften (davon
45 allgemeine Kulturzeitschriften) am 1 .4 .1 9 4 7 nur eine „täuschende Fülle“ insofern darstellte,
als dies nur ein verschwindender Bruchteil der über 8000 Zeitschriften war, die vor dem Krieg in
Deutschland erschienen. Vgl. dazu die Zahlen bei Joachim Besser in: Die Sammlung 2 (1947)
405 ff.
30 Vgl. Hermann Glaser, Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Zwischen Kapitula­
tion und Währungsreform 1 9 4 5 -1 9 4 8 (München, W ien 1985) 197 für die wichtigsten Zeitschriftentitel.
Der Neubeginn der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945
13
n en A rtik e l ch a ra k te risie rt w erd en , d en d er M ith erau sg eb er H an s W e rn e r R ic h te r am
15. Ja n u a r 1 9 4 7 v e rö ffe n tlich te und d er m it d em p ro g ram m atisch en Satz began n :
„ D eu tsch la n d ist ein Land d er h alb en und n iem als b e e n d e te n R e v o lu tio n e n , d er g e ­
g lü ck ten K o n te rre v o lu tio n e n und d er versäu m ten E v o lu tio n en . D as began n m it d er
R e fo rm a tio n , w urde fo rtg esetz t
1 8 4 8 , e rle b te sein e trag isch e W ied erau fersteh u n g
1 9 1 8 , w urde zur v o llen d eten F arce 1 9 3 3 und en d e te m it e in em v ö llig en Sch w eig en
1 9 4 5 “31 R ich te rs K o n z e p t g in g von e in e r n ie g e sch lo sse n e n D isk rep an z zw ischen den
g ro ßen ö k o n o m isc h e n und so zialen U m s c h ic h tu n g e n und d er n o tw en d ig en A n p a s­
su ng d er „ S ta a tsm a sch in e “ aus. A u ch d ie E rfah ru n g d er e rsten b e id en N ach k rieg sjah re
fiel für R ic h te r u n te r d ieses V erd ik t. W ie d e r w ar d ie R ev o lu tio n v erp aßt w ord en , auch
die B esa tz u n g sm ä ch te k o n n te n die R ev o lu tio n n ic h t frei H aus lie fern , die C h a n ce des
N eu anfangs w urde n ic h t g en u tz t. In d iesen Z e ile n R ic h te rs sp ieg elte sich sch o n die
U n z u frie d e n h eit m it d er k o m p ro m iß le risch e n R e a k tio n d er b ü rg erlich en und so zial­
d e m o k ra tisch e n P a rte ien , m it d en fe h le n d e n rad ikalen V erän d eru n g en .
D o c h „ D e r R u f“ v ertrat ein e A u sn a h m e p o sitio n u n d die o h n e h in n u r für ein e kurze
Z e it. D ie a n d eren Z e its c h rifte n , d ie h ie r m it zu u n te rsu ch e n w ären, v erh ielten sich in
d en h ie r in te re ssie re n d e n F rag en e rh e b lich z u rü ck h alten d er, w aren au ch stärk er von
V e rtre te rn d er ä lte re n G e n e ra tio n d o m in iert, etw a die vo n ein e r P äd ag og en g ru p p e u n ­
ter H e rm a n N o h l h e ra u sg e g eb en e „ D ie S a m m lu n g . Z e its c h rift für K u ltu r und E rz ie ­
h u n g “. D ie s g ilt so g ar für die erste n ach d em K rie g p u b lizierte S tu d en ten z eitu n g , die
an d er U n iv e rsitä t G ö ttin g e n seit d em 11. D e z e m b e r 1 9 4 5 e rsch e in e n k o n n te , n a c h ­
d em zu m W in te rs e m e s te r 1 9 4 5 / 4 6 d er L e h rb e trie b w ied er a u fg en o m m en w ord en war.
D ie „ G ö ttin g e r U n iv ersitä tsz eitu n g “ ist ü b er ihre A u ssag en ü b er das G ö ttin g e r G e ­
sch e h e n hin au s v on b e so n d e re m W e r t für die a llg em ein e D isk u ssio n an d en H o c h ­
sch u len d er v e rsch ie d en en Z o n e n . Ih re an d er u n iv ersitären P raxis a u sg erich tete B e ­
rich te rsta ttu n g zeig t ein d ru ck sv o ll, w ie d ie B ew ältig u n g d er „großen F ra g e n “ im A lltag
ablief. Z w ar e rs ch ie n e n a u sfü h rlich e A rtik e l ü b er die S ch u ld fra g e32, d en W id erstan d
g eg en H itler, das V e rh ä ltn is zur P o litik , an g ereg t d u rch V o rträg e o d er V e rö ffe n tli­
ch u n g e n , es g ab a u ch L eserb riefe und D isk u ssio n en , d o ch erstau n lich sch n e ll gew ann
die B ew ältig u ng d er R ea litä t d es Stu d iu m s, d er Z u lassu n g sp raxis, d er W o h n u n g sn o t,
d er w issen sch a ftlich en K o m m u n ik a tio n , a b e r au ch d er U n te rh a ltu n g und des Sp orts
w ieder die O b erh a n d . N ach ru fe auf v ersto rb en e H isto rik e r w ie H e rm a n n O n ck e n ,
K arl B rand i, E rich
B ran d en b u rg lassen k e in e n k ritisch e n G e d a n k e n a u fk o m m en ,
h ö ch ste n s in d en K u rz re z e n s io n e n n e u e r B ü c h e r fin d et sich ab und an ein e e h e r besserw isserisch e als w irk lich k ritisch e B em erk u n g .
31 Der Ruf Nr. 11 vom 15. Januar 1947, 1. Vgl. jetzt Jerom e Vaillant, Der Ruf. Unabhängige Blät­
ter der jungen Generation (1945-1949). Eine Zeitschrift zwischen Illusion und Anpassung (Mün­
chen 1978).
32 Allgemein dazu H ans Ziirrlein, Die Frage der Kollektivschuld aus dem Blickwinkel deutscher
Literaten und Publizisten, in: Gerhard //aj(Hrsg.), Zur literarischen Situation 1 9 4 5 -1 9 4 9 (Kronberg 1977) 15-3 5 . Zu diesem gesamten Kom plex jetzt die Analyse von Barbro Eberan, Luther?
Friedrich ,der Große'? W agner? Nietzsche? ...? ...? W er war an Hitler schuld? Die Debatte um
die Schuldfrage 1 9 4 5 -1 9 4 9 (2. erw. Auflage München 1985) mit ausführlichen Übersichten über
das einschlägige publizistische Material.
14
Winfried Schulze
D ie V o rträ g e ein es M artin N ie m ö lle r w urden zw ar von ca. zwei D ritte l aller G ö t t in ­
g e r S tu d e n te n b e su ch t und erreg ten au ch d en W id e rsp ru ch ein ig er reak tio n ärer S tu ­
d en te n w egen se in e r k laren A u ssag e zur S ch u ld frag e, d o ch läßt sich so lch e n A n r e g u n ­
g en k e in e g ru n d sätzlich e In frag este llu n g d er trad itio n ellen G e sch ich tsw isse n sch a ft
e n tn e h m e n . E s b ild e te sich seh r sch n e ll ein n e u e r K o n se n su s vo n W is s e n s c h a ftlic h ­
k eit und u n p o litisch e r H altu n g heraus, d er vo rzü g lich in e in e m B eitrag d es W ir t ­
sch a ftsh isto rik ers W ilh e lm
T reu e zum A u sd ru ck k am , w enn er g eg e n ü b e r je n e n
K o m m ilito n e n G ed u ld und T o lera n z em p fah l, d ie d u rch E rz ieh u n g , E ltern h a u s und
A rm e e zu N azis g e m a c h t w u rd en : „M u ß d en n je d e r M e n sch , stets und ständ ig, m it 25
und m it 6 0 Ja h re n , „ p o litisch “ sein , d .h . p o litisch a rb eiten , S te llu n g n e h m e n , P artei e r­
g re ife n ?“33
B efrag t m an die in d er G ö ttin g e r U n iv e rsitä ts-Z e itu n g v e rö ffe n tlich te n A rtik e l von
H isto rik e rn w ie Ludw ig D e h io , R ein h ard W ittra m , Sieg fried A . K a e h le r und G erh ard
R itte r auf ein e n d eu tlich erk e n n b a re n N eu ansatz in d er G e sch ich tsw isse n sch a ft hin ,
wird n e b e n d em b e h u tsa m e n E in g estä n d n is p a rtiellen F eh lv erh a lte n s kaum ein G e ­
d anke e rk e n n b a r, d er ü b er d en R a h m e n ein es „m o ralisch g ez ä h m ten H isto rism u s“
h in a u sreich e n w ürde.
B ei d e r n a c h trä g lic h e n L ek tü re d er „ G ö ttin g e r U n iv e rsitä ts-Z e itu n g “, die h ie r als
In d iz für die R e o rg a n isa tio n d er d eu tsch en U n iv ersitäten und ih res g eistig en L e b e n s
h e ra n g ez o g en w urd e, w ird au ß erd em d eu tlich , daß die W ie d e re rö ffn u n g d er U n iv e rsi­
tä ten a u ß ero rd e n tlich sch n e ll v o r sich ging, se h r bald au ch ü b erg reifen d o rg an isiert
w urde und in
e rstau n lich w eitg eh en d er d e u tsch e r A u to n o m ie
v o llzog en w erd en
k o n n te . B ere its im S e p te m b e r 1 9 4 5 trafen sich z .B . die U n iv ersitä tsrek to ren d er B r iti­
sch e n Z o n e m it d en zu stän d ig en B ea m te n d er M ilitärreg ieru n g zur ersten N o rd w est­
d e u tsch e n H o ch sch u lk o n fe re n z , um die g e m e in sa m e n P ro b le m e zu b e sp re c h e n 34. D a ­
bei w urde in e in e r A n sp ra ch e von d em V e rtre te r d er M ilitärreg ieru n g b e to n t, daß m an
von b ritisch e r S e ite d ie d e u tsch e n H o ch sch u le n k ein esw eg s v ö llig refo rm ieren w olle.
A u ß erd e m g e h e m an davon aus, daß es zw ar ein e V era n tw o rtlich k e it aller D e u ts c h e n
für die jü n g ste G e s c h ic h te , n ic h t ab er ein e K o lle k tiv sch u ld aller D e u ts c h e n g e b e 35.
D ie H a ltu n g g e g e n ü b e r d en U n iv ersitäten u n tersch ied sich e rh e b lic h von d er E in s te l­
lu n g d er B e sa tz u n g sm ä ch te g eg en ü b er den S c h u le n und d en P äd ag o g isch en A k a d e ­
m ie n . L e tz te re d u rften erst w ied er im Ja h re 1 9 4 6 ihre A rb e it a u fn e h m e n , und in den
S c h u le n m a ch te n sich die Ü b erp rü fu n g sm a ß n a h m en au ch z a h len m äß ig stark b e m e r k ­
b a r36. N u r beiläu fig soll darauf au fm erk sam g e m a c h t w erd en, daß es u n m itte lb a r n ach
1 9 4 5 p ra k tisch k e in e n G e s c h ic h ts u n te rric h t gab. In d er F ra n z ö sisc h e n Z o n e w urd e er
33 G U Z I, Nr. 3, S. 8.
34 G U Z I, Nr. 7, S. 22. Zur Geschichte der Nordwestdeutschen Rektorenkonferenz, ihrer G rün­
dung und den ersten Entschließungen vgl. R o lf Neuhaus (Hrsg.), Dokumente zur Hochschulre­
form 1 9 4 5 -1 9 5 9 (Wiesbaden 1961) 16 ff. und Jürgen Fischer, Westdeutsche Rektorenkonferenz.
G eschichte, Aufgaben, Gliederung (Bad Godesberg 21961) 5 f.
35 G U Z I, Nr. 3, S. 6 f.
36 Vgl. dazu Christoph Kleßm ann, Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte
1 9 4 5 -1 9 5 5 (Göttingen 1982) 92 ff.
Der Neubeginn der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945
15
erst 1 9 4 8 w ied er zu g elassen , a b e r nu r in den B e re ich e n bis zum 19. Ja h rh u n d e r t37. D ie
Ü b erg a n g sleh rp lä n e, die in d er R h ein p ro v in z und W e stfa le n im H e rb st und W in te r
e ra rb e itet w urd en , sah en für d ie G y m n asien n o ch k ein en G e s c h ic h ts u n te rric h t vor, le ­
d ig lich K u n s tg e s c h ic h te w ar für d ie O b erstu fe v o rg e se h e n 38. D as U n te rric h tsfa ch G e ­
s c h ich te w urde erst w ied er g reifb ar in den L eh rp län en für die S o n d erleh rg ä n g e zur E r­
langu ng d er H o ch sch u lre ife . H ier w ar freilich u n te r V e rz ic h t au f ein e z u sa m m en h ä n ­
g en d e p äd ag og isch e K o n z e p tio n led ig lich die A b s ic h t zu e rk e n n e n , d iese S c h ü le rg e ­
n era tio n in ein vages u n iv ersa lg esc h ich tlich -eu ro p ä isch es W e lt- und G e sch ich tsb ild
ein z u fü h ren , das je d o c h m it d em J a h r 1 9 3 3 en d ete. S e it 1 9 4 6 w urde d ann G e s c h ic h ts ­
u n terrich t in N o rd rh e in -W e stfa le n in lok aler D iffe re n z ie ru n g erteilt, erst in d iesem
J a h r kam es zur E ra rb e itu n g vo n L eh rp län en . D ie se E n tw ick lu n g des sch u lisch e n G e ­
sch ich tsu n te rrich ts ist vo r allem im H in b lick auf die w eitg eh en d e u n iversitäre A u to ­
n o m ie b e m e rk en sw ert.
Es fällt im ü b rig en auf, daß g eg e n ü b e r den seh r früh ein se tz e n d e n F ak u ltäten tag en
d er P h y sik er, C h e m ik e r, Ju r is te n ü b er verg leich b are A k tiv itä ten d er H is to rik e r n ich t
b e ric h te t wrurde. A u c h d er H isto rik ertag von 1 9 4 9 fand relativ spät statt, w en n m an
b e d en k t, daß die erste V ersa m m lu n g d er P h ilo so p h e n b e reits 1 9 4 7 in G a rm is ch sta tt­
g efu n d en h a tte und d er erste N ach k rieg sso zio lo g en tag so g ar sch o n im J a h r e 1 9 4 6 39. In
den A k te n des H isto rik erv erb a n d es fin d et sich je d o ch k ein H in w eis darauf, daß - wie
dam als v erm u tet woirde40 -
die späte N eu g rü n d u ng und d er H isto rik ertag erst im
Ja h re 1 9 4 9 m it d ire k te n V e rb o te n d er B esa tz u n g sm ä ch te zu erk lären sind. W ich tig e r
für die V erz ö g eru n g s c h e in t - n e b e n den a llg em ein en Z e itu m stä n d e n , die ein e ü b er­
g reifen d e O rg a n isa tio n o h n e Z w eifel ersch w erten - die T a tsa ch e g ew esen zu sein , daß
in n erh a lb d er H isto rik e rsch a ft selb st o ffe n s ich tlich w id ersp rü ch lich e A n s ic h te n h in ­
sich tlich d er N o tw en d ig k eit e in e r N eu g rü n d u ng b e stan d en , auf d ie n o ch ein g eg an gen
w erd en soll.
IV
E in n o ch ein d eu tig e res B ild als d ieser d u rch ein e Z e its c h rift v e rm itte lte B lick in die
P raxis d er u n iv ersitären R eo rg an isatio n sp h ase b ie te t d er B lick auf die In h a lte d er aka­
d e m isch e n L e h re , jed e n fa lls so w eit sie sich aus den V o rlesu n g san k ü n d ig u n g en und
3' V g l Erich Kosthorst, Von der „Umerziehung“ über den Geschichtsverzicht zur „Tendenz­
wende“. Selbstverständnis und öffentliche Einschätzung des Geschichtsunterrichts in der Nach­
kriegszeit, in: Oswald Hauser (Hrsg.), Geschichte und Geschichtsbewußtsein (Göttingen 1981)
bes. 128 ff.
38 Nach Peter Hüttenberger, Geschichtsbild und Geschichtsunterricht in der britischen Zone, in:
Oswald Hauser (Hrsg.), G eschichte und Geschichtsbewußtsein (Göttingen 1981) 120 ff.
J<> Vgl. dazu den Bericht von Heinz M aus in: Die Umschau. Internationale Revue, 2, Heft 1
(1947) 85.
40 In einem Bericht über den ersten Nachkriegshistorikertag 1949 sprach Georg Stadtmüller da­
von, daß die Militärbehörden dem V H D erst 1949 die Wiederaufnahme der Arbeit ermöglichten
(nicht gekennzeichneter Ausriß in Archiv V H D 1). Diese Bemerkung kann sich nur auf die
Schwierigkeiten beziehen, die speziell Gerhard Ritter mit der französischen Verwaltung hatte,
die den seit 1948 in Gründung befindlichen Verband als einen ungenehmigten Verein betrach­
tete. Die anderen Regierungen machten keine Schwierigkeiten.
16
Winfried Schulze
d en v e rö ffe n tlich te n D o k to ra rb e ite n e rm itte ln lassen. D ie D u rc h s ic h t des sp ä rlich en
L eh ra n g e b o ts d er U n iv ersitäten in d en Ja h r e n 1 9 4 6 bis 1 9 4 9 läß t im B e re ich d er H i­
s to risch en In stitu te je d o ch k ein en S c h lu ß darauf zu, daß d u rch ein e e n ts ch ie d e n e n eu e
T h e m e n s e tz u n g o d er d u rch ein e stärk ere E in b e z ie h u n g so zial- und w irtsch a ftsg e­
s c h ic h tlic h e r Frag en ein e tiefg reifen d e V erän d e ru n g stattg efu n d en h a b e : „A lso statt
W ie d e rg e b u rt: K o n tin u itä t“, so hat H e rm a n n H e im p e l d ie G ö ttin g e r Z u stä n d e c h a ­
ra k terisiert, und er h at d am it im w esen tlich e n d en G e sa m ttre n d erfaßt. Z u w eilen hat
m an sog ar d en E in d ru ck , als sei ü b erh au p t n ic h ts g e sc h e h e n , etw a w en n K a rl B rand i
in G ö ttin g e n im W in te rs e m e s te r 1944/ 45 „M itte la lter I “ las und sein e A rb e it im W i n ­
te rse m e ste r 1 9 4 5 / 4 6 m it „ M itte lalter I I “ fo rtse tz te 41.
D aß sich die L a n d esg esch ich te am eh e ste n als das V e h ik e l h erau sstellte, in dem
e in e V erb in d u n g von V erfassu n g s-, So zial- und W irtsc h a ftsg e s c h ic h te realisiert w erd en
k o n n te , w ird d en K e n n e r n ic h t ü b errasch en . D e r B o n n e r L a n d esh isto rik e r F ran z
S te in b a c h zeig te dies z .B . in se in e n L eh rv e ra n sta ltu n g e n 42. G ew iß fin d en sich d an eb en
au ch L eh rv e ra n staltu n g e n , die auf b e stim m te p o litis ch e und th e o re tis c h e P ro b le m la ­
g en reag ieren . In B o n n lasen H o ltz m a n n und J u s t ü b er „G ru n d frag en d er h isto risch e n
E rk e n n tn is“ und h isto rio g rap h isch e P ro b le m e , B rau b ach las 1 9 4 8 se lb stv erstän d lich
ü b er d ie R ev o lu tio n vo n 1 8 4 8 , H allm an n ü b er das „ P reu ß en tu m . D a rstellu n g und K r i­
tik “, Paul E g o n H ü b in g e r, d er sich n o ch zu B eg in n d er 5 0 e r J a h r e in ten siv u m ein e
R ev isio n d es G e sc h ic h tsb ild e s b e m ü h te 43, w and te sich d er „ G e sc h ic h te des A b e n d la n ­
d es“ zu. Im S o m m e rs e m e ste r 1 9 4 9 k ü n d ig te H an s H allm a n n - w ie b e reits erw äh n t sogar ein e L eh rv eran staltu n g „ D ie d eu tsch e G e sch ich tsw isse n sch a ft seit 1 9 4 5 “ an, und
im g le ic h e n S e m e s te r veran staltete d er M ed iävist F ritz K e rn ein K o llo q u iu m m it d em
T ite l „ W ie stu d iert m an U n iv ersa lg esch ich te?“44. In G ö ttin g e n fiel W e rn e r C o n z e m it
se in e r V o rle su n g „ D e u ts c h e S o zial- und V erfa ssu n g sg esch ic h te vom A u sg ang d es M it­
tela lte rs“ im V e rg le ich zu K a e h le rs „D ie g ro ß e P o litik von 1 8 9 0 - 1 9 1 4 “ (SS 1 9 4 7 ) auf.
E s ch a ra k te risiert die Lage d ieser Ja h re treffen d , daß K a e h le r, d er O rd inariu s für N e u ­
ere G e s c h ic h te , d iese in ten siv e B esch äftig u n g C o n z e s m it d er S o z ia lg e sch ich te n ic h t
so n d e rlich sc h ä tz te 45. In H e id elb erg hat die A u sw ertu n g des L eh ran g eb o ts seit 1 9 4 6
ein stark es Ü b erg ew ich t d er a llg em ein en
p o litis ch e n
G e s c h ic h te
und G e iste sg e ­
41 Dies berichtet Hermann Heimpel, Neubeginn 1945, in: Der Neubeginn der Georgia Augusta
zum W intersemester 1 9 4 5 -4 6 (Göttingen 1986) 1 5 -2 9 , hier 23. Das vorige Zitat ebd.
42 So z.B. im Sommersemester 1948 mit einer Übung „Probleme der deutschen Verfassungsge­
schichte, Sozialgeschichte und Wirtschaftsgeschichte“, die er in diesen Jahren regelmäßig anbot.
Die folgenden Angaben nach den Vorlesungsverzeichnissen der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.
43 Vgl. Paul Egon Hübinger, Um ein neues deutsches Geschichtsbild, in: G W U 1 (1950) 3 8 5 -4 0 1 .
44 Freundliche Mitteilung von Prof. Dr. Karl J . Narr (Münster) nach Ausweis seines Studienbu­
ches.
45 Wolfgang Zorn spricht in seinem Nachruf auf W erner Conze in V SW G 73 (1986) 1 5 3 -1 5 7 ,
hier 154 davon, daß Conze und seine Schüler wegen ihrer neuen Gegenstände und Methoden
mit Kaehler Schwierigkeiten gehabt hätten. Mein Kollege Wolfgang Köllmann, der in Göttingen
einer der ersten einschlägig arbeitenden Doktoranden Conzes war, hat mir diesen Sachverhalt
aus eigener Kenntnis heraus bestätigt. Zu Conzes Tätigkeit in Göttingen jetzt auch der in Anm.
122 angeführte Beitrag von Wolfgang Schieder.
Der Neubeginn der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945
17
s c h ic h te e rg eb en . A u c h h ie r b e stä tig te sich , daß d ie d eu tsch en U n iv ersitäten nach
1 9 4 5 „ k ein e S tu n d e N u ll, k e in e Z äsu r“ e rle b te n 46.
D e r V e rsu ch e in e r Z u sa m m en fa ssu n g trifft s ic h e r d ie w irk lich en V erh ä ltn isse, w en n
m an - von w en ig en A u sn a h m e n a b g eseh en - das L e h ra n g e b o t ü b erw ieg en d als th e ­
m a tisch und m e th o d is c h trad itio n ell b e z e ich n e t. D a b ei b e m e rk t m an je d o c h ein e rela­
tiv stark e V e rb in d u n g v o n p o litis c h e r und G e iste sg e sc h ic h te , ganz zw eifellos ein V e r ­
su ch d er H isto rik e r, d e r „ D ä m o n ie d er M a ch t“ zu b e g eg n en . In d ieser B ilanz fallen auf
d en ersten B lic k a u ch o ffe n s ic h tlic h e A u sn a h m e n auf w ie d er T ü b in g e r R u d o lf S ta d e l­
m a n n , d er sich d er E rfo rs ch u n g d er w esteu ro p äisch en und d e u tsch e n R ev o lu tio n en
zuw andte. E in zw eiter B lic k e rg ib t je d o c h die relativ ieren d e E in sic h t, daß Stad elm an n
h ie rm it Ü b e rle g u n g e n aufgriff, die ih n w ährend d es „ D ritte n R e ic h e s “ dazu bew og en
h a tte n , das J a h r 1 9 3 3 als e n ts ch e id e n d e R ev o lu tio n d er d e u tsch e n G e s c h ic h te zu b e ­
tra c h te n 47. E in e A u s n a h m e e rsch e in u n g w ar gew iß d er W ü rz b u rg er H isto rik e r U lrich
N o a ck , d e r z. B. ein P riv atissim u m ü b er „ G e sc h ic h te und W a h r h e it“ v eran staltete, über
die N a tio n a lv e rsa m m lu n g von 1 8 4 8 und die F ra n z ö sisc h e R ev o lu tio n las, R an k e und
D ro y se n verg lich , d ie R e v o lu tio n und das K a is e rre ic h u n te rsu ch te und sich m it
B u rck h a rd t b e sch ä ftig te , d essen z iv ilisatio n sk ritisch e P o sitio n ih n o h n e h in zu e in em
d er p o p u lärsten G e s c h ic h ts d e n k e r je n e r J a h r e m a c h te 48.
N a ch d iesem Ü b e r b lic k k an n es n ic h t verw u nd ern, w en n sich die D isserta tio n en
d er N a ch k rieg sja h re a u ch in d em d u rch die L eh rv e ran staltu n g e n g ez o g en en R a h m e n
b e w e g ten 49, so fern es n ic h t ü b erh au p t A rb e ite n w aren , d ie sch o n vor od er im K rieg
b e g o n n e n w ord en w aren und d ies au ch n o ch in d er B e g rifflich k e it e rk e n n e n ließen .
46 Vgl. dazu Christian Peters, Lehrangebot und Geschichtsbild. Ein Beitrag zu einer Sozialge­
schichte des Faches G eschichte an der Heidelberger Universität, in: Robert Deutsch u.a. (Hrsg.),
Eine Studie zum Alltagsleben der Historie. Zeitgeschichte des Fachs Geschichte an der Heidel­
berger Universität 1 9 4 5 -1 9 7 8 (Heidelberg 1978) 1 -3 8 und allgemein zur Wiedereröffnung in
Heidelberg am 19. Januar 1946 Frank R. Pfetsch, Neugründung der Universität nach 1945, in:
K arin Buselmeier-Dietrich, Harth-Christian Jansen (Hrsg.), Auch eine Geschichte der Universität
Heidelberg (Heidelberg, Mannheim 1985) 3 6 5 -3 8 0 , hier 365.
47 Vgl. seine erste Vorlesung im W intersemester 1945/46 über die Geschichte der Englischen
Revolution (als Buch W iesbaden 1954), die er mit der Frage nach dem Beginn des „Irrwegs“ der
deutschen Geschichte und der Forderung nach einer Annäherung von individualisierender und
generalisierender Methode eröffnete (ebd. S. 8, 15). Vgl. auch ders,, Deutschland und Westeuropa
(Schloß Laupheim 1948).
48 Vgl. dazu die Fülle der Burckhardt-Titel in der „Bibliographie“ in G W U 1 (1950) bes. 54 und
58. Noack, ein Schüler Meineckes m it weitausgreifenden politischen Zielvorstellungen, trat 1946
auch durch seinen Versuch hervor, auf dem Hohen Meißner in Wiederbelebung der Gedanken
von 1913 eine „Freie Deutsche Jugendbewegung“ zu gründen, ein Unternehmen, dem offen­
sichtlich kein großer Erfolg beschieden war. Noack hatte auch einen schriftlichen Plan vorgelegt,
eine „Reichshauptstadt Hohenmeißner“ zu errichten. Vgl. G U Z I, Nr. 18, S. 1 und dazu seine
Schrift: Deutschlands neue Gestalt in einer suchenden W elt (Frankfurt/M. 1946) 91 ff. mit kon­
kreten Vorschlägen für die Gestaltung dieser neuen Hauptstadt. Vgl. Heinrich Euler, Ulrich
Noack - Ein Leben aus freier Mitte, in: Ein Leben aus freier Mitte. Festschrift f. U. Noack z.
60. Geburtstag (Göttingen 1961) V II-X X X II.
49 Vgl. dazu die Heidelberger Beobachtungen in Robert Deutsch u.a. (Hrsg.), Eine Studie zum All­
tagsleben der Historie, 86 ff.
18
Winfried Schulze
V o r allen D in g e n die la n d e sg e sc h ich tlich e F o rsch u n g p ro fitierte von d er o ffe n s ic h tli­
ch e n A b w e n d u n g von id eo lo g iev erd äch tig en T h e m e n k o m p le x e n . D e r g en erelle R e ­
kurs d er D isz ip lin auf R a n k e und B u rck h ard t, w ie e r sich in e in e r F ü lle von L e h rv e r­
a n sta ltu n g en ü b er d iese b eid en H is to rik e r d o k u m e n tie rte , sch lu g sich auch in d er T a t ­
sach e n ied er, daß von d en etwa 4 0 D isse rta tio n e n , die zw ischen 1 9 4 5 und 1951 an d en
w estd e u tsch e n U n iv ersitä ten ü b er h is to rio g ra p h ie g e sch ich tlich e T h e m e n verfaßt w ur­
d en, sich allein fü n f m it R a n k e b e sch ä ftig te n 50.
V
E s w urde sch o n darauf h in g ew iesen , daß d ie N eu o rg an isatio n d er H isto rik e r im
V e rh ä ltn is zur a llg e m e in e n N eu b eg rü n d u n g d es u n iv ersitären B ild u n g sw esen s und d er
an d eren w isse n sch a ftlic h e n B eru fsv erbän d e und F a k u ltä ten ta g e o ffe n s ich tlich relativ
spät erfo lg te. Z u r E rk läru n g k ann m an - ob w oh l dies n ah elieg en d w äre - kau m auf
das sch o n erw äh n te V e rb o t d es G e sc h ic h tsu n te rric h ts in d en S c h u le n verw eisen od er
auf die n o ch n ic h t a b g esch lo ssen en M aß n ah m en zur p o litis ch e n Säu b eru n g d er L e h r­
körper. In d en e in z e ln e n L än d ern kam es m a n ch m a l zu sp ek tak u lären M assen en tlas­
su n g en , die in ih re r p au sch alen V o rg eh en sw eise o ft viel böses B lu t m a ch te n und g ro ­
ßes ö ffe n tlic h e s A u fse h e n erreg ten . S o w urd en im F eb ru ar 1 9 4 7 auf V eran lassu n g d er
A m e rik a n isc h e n M ilitärreg ieru n g allein in E rlan g en 7 6 E n tlassu n g en im B e re ich des
ak a d e m isch e n P erso n als au sg e sp ro ch e n 51. In G ö ttin g e n w aren es im J a h r e 1 9 4 5 zu­
n ä ch st 125 E n tla ssu n g en , die au sg esp ro ch en w urd en , vo n d en en viele je d o ch bald w ie­
d er z u rü ck g e n o m m e n w u rd en 52. In F ran k fu rt am M ain w urde d er N S -R e k to r W a lte r
P la tz h o ff vom D ie n s t su sp en d iert, o h n e w ied er ein e L e h rtä tig k e it a u fz u n e h m e n 53. In
H e id elb erg w urde sein K o lle g e W illy A n d reas w en ig e T ag e n ach d er W ie d e re rö ffn u n g
d er U n iv ersitä t von d er a m erik a n isch en B e sa tz u n g sm a ch t en tlassen , d o ch k e h rte er
bald darauf w ied er auf sein en L eh rstu h l zu rü ck , um d ann e m e ritie rt zu w erd en 54.
G le ic h w o h l ä u ß erte sich W a lte r L. D o rn , ein B e ra te r G en eral C lays, im M ai 1 9 4 6 au ­
ß e ro rd e n tlich k ritisch ü b e r die V erz ö g eru n g sta k tik sp eziell d er b ay erisch en K u ltu sv e r­
w altung. E r sp rach so g ar von ein e r „ O rd n u n g sze lle B a y ern “ und b e k lag te d ie E n t­
sch eid u n g d er A m e rik a n isch e n M ilitärverw altu ng , in M ü n ch e n ein e b lo ß e W ie d e r h e r­
ste llu n g d er U n iv ersität b e trie b e n zu h a b e n 55. Im N o v e m b e r 1 9 4 6 b esch w erte sich das
30 Ich verdanke diese Informationen über Dissertationen und Lehrveranstaltungen über Ranke
und Burckhardt der noch unpublizierten Dissertation von Horst Walter Blanke, Historiographie­
geschichte als Historik (Bochum 1986) S. 487 der masch. Fassung.
51 G U Z II, Nr. 6, S. 18.
52 G U Z I, Nr. 5, S. 15. - Vgl. dazu auch den Report Nr. 4237 des Office of Intelligence Research
vom 3. Ju n i 1947 über den Stand der Umerziehungsmaßnahmen in Deutschland, besonders der
Universitäten, in: A lfred Söllner (Hrsg.), Zur Archäologie der Demokratie in Deutschland, Bd. 2
(Frankfurt/M. 1986) 1 7 7 -2 1 6 , hier 182 ff.
53 Freundliche Mitteilung meines Frankfurter Kollegen Notker Hammerstein, der z. Z. an einer
Geschichte der Universität Frankfurt/M. arbeitet.
54 Pfetseh, Neugründung, 367.
55 Vgl. Walter Dorrt, Inspektionsreisen in der US-Zone. Notizen, Denkschriften und Erinnerun­
gen, hrsg. von Lutz Niethammer (Stuttgart 1973) 87.
Der Neubeginn der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945
19
B ayerisch e K u ltu sm in iste riu m d arü b er, daß d u rch die E n tlassu n g von 33 P rofessoren
d u rch die a m erik a n isch e M ilitärreg ieru n g n ic h t m e h r alle P rofessu ren d er M ü n ch en e r
U n iversität b e setz t w erd en k ö n n te n . D ie se P ro fesso ren w aren am 13. N o v em b er e n t­
lassen w ord en, w eil ih n e n die „ p o litisch en , lib eralen und m o ra lisch en Q u a litä te n “
fe h lten , „die zur E n tw ick lu n g d er D e m o k ra tie in D eu tsch la n d no tw en d ig sin d “56.
Z u sa m m e n fa ssen d w ird m an sagen k ö n n e n , daß die zu A n fan g d er fü n fzig er Ja h re
in p o litisch er A b s ic h t e rm itte lte n Z a h le n ü b er die V e rlu ste d er d eu tsch en H o c h s c h u ­
len d urch „ V ertre ib u n g , E m ig ra tio n und E n tn a z ifiz ieru n g “ (in d ieser Z u sa m m e n ste l­
lung!) für die G e sch ich tsw isse n sch a ft kau m zu treffen . D ie dam als v erw en d eten Z ah len
g in g en auf ein e A rtik e ls e rie d er Z e its c h rift „C h rist und W e lt“ im J a h r e 1 9 5 0 zurück
und sp ra ch en davon, daß von d en ü b er 9 0 0 vo r 1 9 4 5 en tla sse n e n D o z e n te n etw a 165
w ieder auf d eu tsch e L e h rstü h le z u rü ck k e h rte n , w ährend von den n ach 1 9 4 5 aus p o li­
tisch en G rü n d en e n tla sse n e n 4 2 8 9 D o z e n te n im J a h r e 1 9 5 0 2 7 7 3 ihre S tellu n g e n ver­
loren h a tte n 57. F ü r die G e sc h ich tsw isse n sch a ft läßt sich dieses Z a h len v erh ä ltn is kaum
a u fre ch te rh a lte n . W ie sich das F ach n ach 1 9 3 3 von n atio n a lso z ia listisch en P erso n alo ctrois relativ freih a lten k o n n te , so b lie b es n ach 1 9 4 5 au ch von tiefg reifen d en E n tn a z ifi­
zieru n g sk am p ag n en m it p erso n ellen K o n se q u e n z e n v e rsch o n t, w en n m an ein m al von
v o rü b erg eh e n d en D ie n s te n th e b u n g e n absieh t. N ach d er bislan g g rü n d lich sten U n te r­
su ch u n g w aren in D e u tsch la n d und Ö ste rre ich von 1 1 0 L eh rstu h lin h a b ern des Fach s
G e sc h ic h te
ü b e rh a u p t n u r 2 0
von
E n tn a z ifiz ieru n g sm a ß n a h m e n
b e tro ffe n 58. D ie
C h a n ce n , ein en P a rte ig e n o ss e n -K o lle g e n zu „d esin fizieren “ - wie m an dam als sagte und d am it w ieder verw en d u n g sfäh ig zu m a ch en , w aren d urch aus g u t59. A u ch auf d ie ­
sem F eld e d ürfte d esh a lb von e in e m h o h e n M aß an K o n tin u itä t zu sp rech e n sein.
In d er d eu tsch en Ö ffe n tlic h k e it w urde im m e r w ied er d ie R ü c k k e h r d er em ig rierten
W isse n sch a ftle r n ach D e u ts ch la n d g efo rd ert. D ie K u ltu sm in iste rie n h ielten es für o p ­
portu n, ihre B e m ü h u n g e n in d ieser F rage seh r präzise zu v e rö ffe n tlich e n , wie es z .B .
das B ay erisch e K u ltu sm in iste riu m im H in b lick auf sein e B e m ü h u n g e n zur R ü c k b e ru ­
fung e m ig rie rter H o c h s c h u lle h re r bzw. d eren E in lad u n g zu G astv o rlesu n g en tat. In
d er „ G ö ttin g er U n iv e rsitä ts-Z e itu n g “ w urde im F eb ru a r 1 9 4 7 ein e d etaillierte L iste
über das S c h ick sa l d er „aus p o litis ch e n G rü n d en nach 1 9 3 3 a u sg esch ied en en P ro fes­
so re n “ d er U n iv ersitä t G ö ttin g e n v e rö ffe n tlic h t60. N o ch im J a h r e 1 9 5 0 sah sich die
56 Vgl. den „Rückblick“ in der Süddeutschen Zeitung vom 17.11.86.
57 Vgl. Christ und W elt, 3. Jahrg. 1950, Nr. 6, 7, 9, 10, 11, 34. Christian von Ferber, Die Entwick­
lung des Lehrkörpers der dt. Universitäten u. Hochschulen 1864 -1 9 5 4 (Göttingen 1956) 143 ff.
ermittelte für die Geisteswissenschaften einen Emigrationsverlust von 39 % aller Lehrpersonen.
Auch diese Zahl ist nicht ganz genau, da bestimmte Kategorien von Wissenschaftlern nicht er­
faßt werden konnten. Von den 795 emigrierten Geisteswissenschaftlern kehrten danach bis 1953
85 nach Westdeutschland zurück.
38 Vgl. dazu die Angaben bei Wolfgang Weber, Priester der Klio. Historisch-sozialwissenschaftliche Studien zu Herkunft und Karriere deutscher Historiker und zur Geschichte der Geschichts­
wissenschaft (Frankfurt/M. 1984) 429 f., Anm. 343. Ich glaube nach eigenen Nachforschungen 26
Historiker ermitteln zu können.
59 Dieser Ausdruck wird in einem Brief Friedrich Baethgens in bezug auf Carl Hinrichs verwen­
det (UA Köln 197/39).
60 G U Z II, Nr. 6, S. 16.
20
Winfried Schulze
W e std e u tsc h e R e k to re n k o n fe re n z a n g esich ts „stän d ig er P ressevorw ü rfe“ g e n ö tig t, u n ­
ter ih ren M itg lied ern d ie z ah len m äß ig en B eleg e g eg en d en V e rd a ch t zu sam m eln , daß
die U n iv ersitä te n „die R ü ck b e ru fu n g n ic h t m it d em n o tw en d ig en N ach d ru ck b e trie ­
be n h ä tte n “61.
W ir w issen , daß es in d er G e sch ich tsw isse n sch a ft k e in e n R ü ck stro m gab, d er ein e
N e u o rie n tie ru n g h ä tte b ew irk en k ö n n e n . D ie w en ig en R ü c k k e h r e r d er ersten N a ch k rieg sja h re - v o n 13 4 H isto rik e re m ig ra n te n k e h rte n n u r 21 in die b eid en d eu tsch en
S ta a te n z u rü ck 62 - w aren H an s Jo a c h im S c h o e p s (n ach E rlan g en ), E rn st D . F raen k el
(Frankfurt/M .), W a lte r M o h r (Saarb rü ck en ) und H an s R o th fe ls (T ü bin gen ). G o lo M an n
k e h rte erst 1 9 5 8 in d ie B u n d esrep u b lik zu rü ck , au ch D ie tric h G erh ard kam erst 1 9 5 4
zu rü ck , b lie b ü b erd ies n o c h in d en U S A veran k ert. A n d e re E m ig ra n ten , die d er lib e ra ­
len S c h u le M e in e ck e s e n ts ta m m te n , b lie b e n - tro tz M e in e ck e s B e m ü h u n g en z. B . um
H a jo H o lb o rn 63 - in A m e rik a und k am e n - w ie z. B. H an s R o se n b e rg - n u r als G a st­
p ro fesso ren n a ch D e u ts ch la n d zu rü ck , w o sie fre ilich d eu tlich m a ch e n k o n n te n , w el­
ch e U m o rie n tie ru n g e n in d er G e sch ich tsw isse n sch a ft m ö g lic h g ew esen w ären, w enn
es zu e in e r stä rk eren R ü c k k e h r e m ig rie rte r W isse n sc h a ftle r g e k o m m e n w äre64.
E in e B ilanz d er W irk u n g d er E m ig ra n te n m u ß jed en fa lls au ch d eren T ä tig k e it als
G a stp ro fe sso ren an d en b u n d esrep u b lik a n isch en U n iv ersitäten b e rü ck sich tig e n . G e ­
rade das B eisp ie l H an s R o se n b e rg s ist g ee ig n e t, die S c h w ie rig k e ite n sow ohl d er um
R ü ck b e ru fu n g b e m ü h te n F a k u ltäten als au ch d er w en ig en p o te n tie lle n R e m ig ra n te n
zu v erd eu tlich en . E r w ar n o c h 1 9 3 2 u n te r Jo h a n n e s Z ie k u rsc h in K ö ln h a b ilitie rt w or­
d en, b e v o r e r 1 9 3 3 n ach d em E n tzu g d er ven ia leg en d i D e u tsch la n d ü b er E n g lan d in
R ic h tu n g V e re in ig te S ta a te n verließ, w o er seit 1 9 3 8 am B ro o k ly n C o lleg e leh rte, seit
1 9 4 4 als a m e rik a n isch e r Staatsb ü rg er. S c h o n im M ärz 1 9 4 6 -
„n ach d em die N azi-
H e rrsc h a ft b e se itig t ist“ - h atte P e te r R assow als D e k a n d er K ö ln e r P h ilo so p h isc h e n
F a k u ltä t R o se n b e rg w ie alle an d eren em ig rie rte n eh em a lig en M itg lied er d er F ak u ltät
au fg eford ert, „in u n seren K re is zu rü ck z u k eh ren und d en P latz in u n serer M itte e in z u ­
n e h m e n “. D ie se a llg em ein g e h a lte n e und m it k ein erlei k o n k re te m S te lle n a n g e b o t v er­
bu n d en e A u ffo rd eru n g h a tte R o se n b e rg - in n e rlich tief bew eg t ü b er d iese G e ste - in
61 UA Köln 471/44 vom 1 0 .5 .1 9 5 0 mit Hinweis auf den Beschluß der Rektorenkonferenz von
Hannover. Die Nordwestdeutsche Rektorenkonferenz hatte schon im Septem ber 1946 in G öt­
tingen die W iederherstellung der Rechte der emigrierten Hochschullehrer, ihre Rückberufung
bzw. adäquate Versorgung als „solidarische Ehrenpflicht“ aller Universitäten bezeichnet, vgl.
Neuhaus, Dokum ente zur Hochschulreform (wie Anm. 34), 16 f.
62 Diese Angaben nach dem Biographischen Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach
1933, hrsg. vom Institut für Zeitgeschichte und von der Research Foundation for Jewish Im m i­
gration (München 1980-1983).
63 Meinecke-Briefe, S. 247, wo Meinecke vom Mangel guter Kräfte spricht. In einem Brief an
Rassow vom 1 9 .2 .4 7 spricht Meinecke hinsichtlich des Nachwuchses in Neuerer Geschichte von
einem „Trümmerfeld“ (UA Köln 197/39).
64 Vgl. die unvollständige Übersicht über die emigrierten deutschen Historiker bei Georg G. Iggers, in: Bernd Faulenbach (Hrsg.), Geschichtswissenschaft in Deutschland, 9 7 -1 1 1 . Nach dem
Biographischen Handbuch der deutschsprachigen Emigration emigrierten insgesamt 134 Histo­
riker, von denen nur 21 nach Deutschland zurückkehrten. In den USA blieben 73, in Großbri­
tannien 18, in Israel 8.
Der Neubeginn der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945
21
h ö flich e r F o rm und u n te r H in w eis auf sein e jetzig e g e sich e rte P o sitio n a b g eleh n t,
oh n e sich freilich d efin itiv ü b er ein e m ö g lich e R ü c k k e h r n ach D eu tsch la n d au szu ­
sp rech e n .
A ls in K ö ln 1 9 4 7 d ie B era tu n g en ü b er die W ie d e rb e se tz u n g d es L eh rstu h ls von J o ­
h an nes Z ie k u rsch b e g a n n e n , d er im M ai 1 9 4 5 g esto rb e n war, stand d eshalb au ch von
v o rn h erein H ans R o se n b e rg als K an d id at zur D e b a tte , zum al ih n M ein eck e n e b e n se i­
nem S c h ü le r Jo h a n n A lb re c h t von R an tzau fü r die N ach fo lg e em p fah l. D ie F ak u ltät
zog w eitau sg reifen d e E rk u n d ig u n g e n ein und erh ie lt sch lie ß lich ein g u tes D u tzen d
N am en e m p fo h le n . D ie B era tu n g en d er B eru fu n g sk o m m issio n k o n z e n trie rte n sich
sch lie ß lich auf die N a m en von T h e o d o r S c h ie d e r, H an s R o se n b e rg , H an s H erzfeld
und C arl H in rich s, in d ieser R e ih e n fo lg e , w ob ei die letz tere n ex aeq u o auf P latz 3 der
L iste ran g ierten , die die F ak u ltät am 2 6 . Ju li 1 9 4 7 d em K u ra to riu m und dem M in iste ­
rium zu leitete. D ie G rü n d e für d iese R e ih u n g w urd en n a ch trä g lich d eu tlich er, als
n ä m lich d er D e k a n d er F ak u ltät n ach d em E in tre ffe n ein es a u sfü h rlich en S c h re ib e n s
von R o se n b e rg m it e in e m n e u eren L iteratu rv erzeich n is und sein en P lä n en für etw aige
L eh rv e ra n sta ltu n g e n d e r n äc h ste n fü n f J a h r e e in e n „N ach trag “ zur B eru fu n g sliste vor­
legte, d er n o ch ein m a l - je tz t fu n d iert d u rch d ie n eu en In fo rm a tio n e n - das In teresse
der F ak u ltät an e in e r B eru fu n g R o se n b e rg s u n te rstric h 65. „W ären die in zw isch en e in ­
g eg an g en en E rk u n d ig u n g e n e h e r ein g e tro ffe n , so h ätte die F ak u ltät o h n e Z w eifel
H errn K o ll. R o se n b e rg an die erste S te lle g e se tz t“, sch rieb d er D ek a n am 2 2. A u g u st
an den O b e rb ü rg e rm e iste r und K u ra to riu m sv o rsitz en d e n D r. H e rm a n n P ü nd er. „Sie
sie h t nu r d eshalb von e in e r n a c h trä g lic h en Ä n d eru n g d er R e ih e n fo lg e ab, w eil darin
ein e U n b illig k e it o d er U n fre u n d lich k e it g eg en d en an erster S te lle g e n a n n te n Prof.
S c h ie d e r g eseh e n w erd en k ö n n te , d er freu n d lich erw eise d en L eh rstu h l im n äch sten
S e m e s te r v ertretu n g sw eise ü b e rn e h m e n w ird, w en n e r bis d ahin en tn a z ifiz iert ist.“
D iese A u ffassu ng trug d er D e k a n au ch in d er K u ra to riu m ssitz u n g am 12. N o v em b er
vor, w o B ü rg e rm eister R o b e r t G ö rlin g e r (S P D ) - d er eb en falls in d er E m ig ra tio n g e ­
lebt h a tte - ein a u sd rü ck lich es In teresse an R o se n b e rg b e k u n d ete. W o h l an g esich ts
der U n s ic h e rh e it ü b e r R o sen b erg s B e re its ch a ft zur R ü c k k e h r b e ließ es das K u ra to ­
rium bei d er v o rg esch la g en en R e ih e n fo lg e , trug aber d em D ek a n auf, n o ch ein m al an
R o se n b e rg h e ra n z u tre te n , um sein e B e re its c h a ft zur R ü c k k e h r zu erk u n d en .
R o sen b erg sah sich in ein e r sch w ierig en L age, als ih m F ritz S c h a lk als D ek a n no ch
am g le ic h e n T a g e in d iesem S in n e sch rieb und d er b ritisch e K o n tro llo ffiz ie r D r. B eck -
65 Gerade im Hinblick auf das oben als relativ unverändert bezeichnete Lehrangebot der Histori­
schen Seminare sind Rosenbergs Pläne von besonderem Interesse. Er übermittelte der Kölner
Fakultät zehn thematische Schwerpunkte, die er in Vorlesungen und Seminaren behandeln
wollte („was von mir zu erwarten und nicht zu erwarten ist“): Geschichte der Diktaturen von der
Renaissance bis zur Gegenwart - W eltgeschichte seit 1914 - Allgemeine Geschichte des Frühka­
pitalismus (1 2 0 0 -1 7 5 0 ) - Allgemeine Geschichte des Hochkapitalismus und der Planwirtschaft Vergleichende Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte Europas und Nordamerikas in der Neu­
zeit - Deutsche G eschichte von der Reformation bis zur Französischen Revolution - Deutsche
Geschichte seit 1815 - Geschichte der Vereinigten Staaten von Nordamerika - Russische G e­
schichte - Geschichte der politischen Theorie und Sozialphilosophie vom Mittelalter bis zur G e­
genwart.
22
Winfried Schulze
ho ff auf d em S c h re ib e n sein e U n terstü tz u n g d er A n frag e h a n d sch riftlich b e k u n d ete.
D u rch se in e n a u sfü h rlich en B rief ü b er sein e n e u esten P u b lik a tio n e n und sein e etw ai­
g en L eh rp lä n e für K ö ln h atte er - w ie er je tz t e rk a n n te - in K ö ln zu g ro ße H o ffn u n ­
g en erw eck t. S c h o n am 15. S e p te m b e r äu ß erte er sich g e g e n ü b e r d em K ö ln e r D ek an
b e stü rzt, daß d ie ser von ih m ein e k o n k re te A n tw o rt auf das „ W a n n “ erw arte, „obw oh l
das O b d o ch n o ch v ö llig u n e n tsc h ie d e n ist“. E r stü tzte sich je tz t auf d ie W a rn u n g en
g u te r F reu n d e vor e in e r ü b ereilte n R ü c k k e h r n ach K ö ln , ste llte die Frage n ach d em
Z u sta n d d er K ö ln e r B ib lio th e k e n und b e to n te sein e V e rp flich tu n g e n am B ro o k ly n
C o lleg e. E r verw ies au ch auf die b e so n d ere R ü c k s ic h t, die e r sein er Frau in d er Frage
d er R ü c k k e h r n ach D e u tsch la n d sch u ld e, und w o llte auch n o ch „größere K la rh e it
ü b er das p sy ch isch e und p o litisch e M ilieu , in sb eso n d ere ü b er das P ro b le m des A n tis e ­
m itism u s“. D ie se A n tw o rt b e leg t ex e m p la risch die sch w ierig e Lage d er E m ig ra n ten ,
w enn sie in d ie ser relativ frü h en P h ase vor d ie n o tw en d ig erw eise k u rzfristig e W a h l g e ­
ste llt w urd en , n ach D e u tsch la n d z u rü ck z u k e h re n 66. „ T h ere are too m any u n ce rta in ties, c o m p le x itie s and im p o n d erab le s in th e p ictu re,“ sch rie b R o se n b e rg am 2 7. N o ­
v e m b e r n a ch K ö ln zu rü ck : „I ca n n o t a cce p t a p e rm a n e n t p ro fesso rsh ip at C o lo g n e
U n iv ersity “67. F o lg lic h b ra u ch te das K u ra to riu m n ic h t das V erfah ren an zu w en d en , das
m an für d en Fall ein e r p o sitiv en A n tw o rt R o se n b e rg s vo rg eseh en h a tte, n ä m lich b eim
K u ltu sm in iste riu m e rn e u t zu g u n sten e in e r B eru fu n g R o se n b e rg s zu in terv en ieren .
J e t z t k o n n te T h e o d o r S c h ie d e r, d er d en L eh rstu h l sch o n v ertrat, den R u f erh a lten und
sein e e rfo lg re ich e L e h rtä tig k e it in K ö ln b e g in n e n . Im F alle R o se n b e rg s h atte d ie b e ­
tro ffe n e F a k u ltä t alle M ö g lich k e ite n au sg esch ö p ft, u m ein en e m ig rierten K o lle g e n
n ach D e u tsch la n d z u rü ck z u h o le n 68.
N a ch d er D a rste llu n g d ieses g u t d o k u m e n tie rte n Falls, d er je d o ch k ein E in zelfall
war, ein a b sch lie ß en d es U rteil ü b er d ie In te n sitä t d er B e m ü h u n g en zur R ü ck b eru fu n g
em ig rie rte r H isto rik e r zu treffen , e rs ch e in t g le ic h w o h l sch w ierig. W e n n m an d ie in n e ­
ren W id erstä n d e , die die E m ig rie rte n g e g e n ü b e r D eu tsch la n d en tw ick e lt h a tte n , die
U n s ic h e rh e it d er V erh ä ltn isse in d iesen Ja h r e n und sc h lie ß lich au ch d ie relativ g erin g e
A n z a h l rü ck b eru fb a rer H o c h sc h u lle h re r d ieses F a ch e s in R e ch n u n g stellt, w ird m an
ve rm u tlich zu d em S c h lu ß k o m m e n m ü ssen , daß u n te r d en g e g e b e n e n U m stän d en
n ich t m e h r zu e rre ic h e n war. So wird m an M e in e ck e s B ed au ern u n te rstre ich e n m ü s­
sen , d er H a jo H o lb o rn g e g e n ü b e r auf die S c h w ie rig k e ite n d er B esetzu n g d er L e h r­
stü h le m it g e e ig n e te n K a n d id a ten verw ies69. D ie T a tsa ch e , daß V e it V a le n tin , d er als
66 Auch Golo Mann, der von der Kölner Fakultät angesprochen worden war, wünschte sich da­
mals lediglich eine Tätigkeit als Gastprofessor in Deutschland, um beiden Seiten die Möglichkeit
des Kennenlem ens zu geben (UA Köln 197/39).
61 Die Kopie seines Antwortbriefes, der in den bislang benutzten K ölner Akten nicht enthalten
ist, stellte mir Prof. Rosenberg freundlicherweise zur Verfügung, ebenso den Schriftverkehr, den
er in den nächsten Jahren vor allem mit der K ölner und der Freien Universität Berlin führte, um
dort als Gastprofessor tätig zu sein.
68 Die Berufungsangelegenheit, die für die deutsche Nachkriegsgeschichtswissenschaft ohne
Zweifel richtungsweisend geworden ist, hier zusammengefaßt auf der Grundlage der K ölner Be­
rufungsakten und des Kuratoriumsprotokolls (UA K öln 197/39 und 471/44).
69 Meinecke, Ausgew. Briefwechsel, S. 247 vom 1 9.3.1946.
D er Neubeginn der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945
23
ein zig er H isto rik e r u n m itte lb a r n ach K rieg sen d e b e reit war, nach D eu tsch la n d zu­
rü ck z u k eh ren , d irek t n ach se in e r R ü c k k e h r von ein e r ersten R eise nach F ran k fu rt
starb, b e le u ch te t n o ch e in m al die sch w ierige Lage d ieser J a h r e 70.
VI
D ie bay erisch e L a n d esh au p tstad t w ar n ach d em K rie g e zum M itte lp u n k t d er F o r­
sch u n g sin stitu tio n en d er d e u tsch e n G esch ich tsw isse n sch a ft g ew ord en . D ie 1 9 4 4 nach
P o m m ersfeld en b ei B a m b erg au sgelagerte A rb e itsste lle d er B e rlin e r Z e n tra ld ire k tio n
der M o n u m en ta fand in M ü n ch e n ein e neue H e im sta tt, die H is to risch e K o m m iss io n
hatte sich neu org an isiert, und au ch die B em ü h u n g en zur G rü n d u n g ein es „In stitu ts
zur E rfo rsch u n g des N a tio n also zialism u s“ k o n z e n trie rte n sich auf M ü n ch en . S o lag es
nah e, daß auf e in e r g e m e in sa m e n T ag u n g d er H isto risch e n K o m m iss io n bei d er B aye­
risch en A k a d e m ie d er W isse n sch a fte n und d er Z e n tra ld ire k tio n d er M o n u m e n ta G e rm aniae H isto rica am 12. O k to b e r 1 9 4 8 ein G rü n d u n g sau fru f für e in e n „V erb an d d er
H isto rik er D e u ts ch la n d s“ b e sch lo ssen w urde, w obei G erh ard R itte r, H e rm a n n A u b in ,
H e rm a n n H e im p e l und H e rb e rt G ru n d m an n den G rü n d u n g sau ssch u ß b ild e te n 71.
A us d em von H e rb e rt G ru n d m a n n g efü h rten P ro to k o ll d ieser S itz u n g lassen sich
leid er n ich t e in d eu tig d ie G rü n d e e in e r V erb an d sg rü n d u n g zu d iesem Z e itp u n k t e r­
m itteln . In je d em Fall w aren es B e ric h te ü b er ein e S itzu n g d es In tern a tio n a len H is to ­
rik er-V erb a n d es in P aris im A p ril 1 9 4 8 und ü b er ein en B esu ch des fra n zö sisch en H i­
storik ers Paul C aron in T ü b in g e n , die die v ersam m elte n H e rren zum H an d e ln b e w o ­
gen. M an erk a n n te , daß die V o rau ssetzu n g für ein e W a h rn e h m u n g d er sich a n b a h n e n ­
den in te rn a tio n a le n K o n ta k te ein e N eu g rü n d u n g des V erb a n d es w ar72. D e r H in w eis
von A u b in auf ein en e ig en stän d ig en V erb an d d er ö s te rre ich is ch e n H isto rik er, d er seit
A n fan g 1 9 4 8 v o rb e re ite t w urd e73, fü h rte sch lie ß lich zum G rü n d u n g sau fru f fü r ein en
„V erband d er H is to rik e r D e u ts ch la n d s“74. D a m it w urden B e d e n k e n zu rü ck g estellt,
70 Vgl. Walther, Emigrierte deutsche Historiker in den Vereinigten Staaten, 49.
71 Abdruck des „Aufrufs“ in HZ 169 (1949) 2 2 6 f. Zur Rolle Ritters bei der Gründung des Ver­
bandes und in den ersten Jahren vgl. jetzt neben der Einleitung von Schwabe zu Ritters Briefen
den Artikel von Peter Schumann, der dafür vor allem die auch von mir benutzten Akten des H i­
storikerverbandes herangezogen hat, in: Mentalitäten und Lebensverhältnisse. Festschrift f. Ru­
dolf Vierhaus zum 60. Geburtstag (Göttingen 1982) 3 9 9-415.
72 Über die Vorgänge im Comité International des Sciences Historiques gegenüber der W ieder­
aufnahme deutscher Historiker jetzt die umfassende Untersuchung von K arl Dietrich Erdmann,
Die Ökumene der Historiker. Geschichte der Internationalen Historikerkongresse und des Co­
mité International des Sciences Historiques (Göttingen 1987) bes. 2 7 4 ff.
75 Vgl. Bericht über die Konstituierende Versammlung des Verbandes österreichischer G e­
schichtsvereine in W ien vom 21. bis 24. September 1949 (Wien 1950) 3.
74 Das knappgehaltene Protokoll dieser Sitzung machte mir freundlicherweise Herr Georg Kalmer aus dem Archiv der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der W issen­
schaften zugänglich, wofür ich ihm sehr herzlich danke. Die Sitzung wurde von W alter Goetz,
dem Präsidenten der Historischen Kommission, einberufen und geleitet. Die Versammlung be­
schloß neben dem Gründungsaufruf einstimmig, daß Friedrich Baethgen und Rudolf Stadelmann
als deutsche Delegierte im Internationalen Verband fungieren sollten, und setzte dabei voraus,
„daß die deutschen Historiker fortan zu allen Veranstaltungen des Internationalen HistorikerVerbandes gleichberechtigt zugezogen werden“.
24
Winfried Schulze
d ie von d em K ö ln e r H is to rik e r P e te r R assow g eäu ß ert w ord en w aren. E r h a tte in e in e r
D e n k s c h rift d ie N o tw en d ig k eit ein es V erb a n d es für die d e u tsch e n H is to rik e r b e s trit­
ten . E r e m p fa h l u .a. ein e längere Z u rü ck h a ltu n g d er d e u tsch e n H isto rik e r auf in te rn a ­
tio n a le r E b e n e , da m an m it R e sse n tim e n ts in den an d eren eu ro p äisch en L än d ern zu
re c h n e n h a b e 75.
D ie V erb a n d sg rü n d u n g war - wie sch o n a n g ed eu tet - k ein esfalls u n p ro b le m a tisc h ,
d en n auf d er e in e n S e ite m a ch te n die fra n zö sisch en B esa tz u n g sb eh ö rd en , die o h n e h in
ein b e so n d e re s A u g e auf R itte r g ew o rfen h atten (was bis zu ein e r V o rz e n su r sein er
V o rlesu n g sm a n u sk rip te fü h rte)76, S c h w ierig k eiten a n g esich ts d er G rü n d u n g d ieses in
ih ren A u g en u n g e n e h m ig te n V ere in s. In d er Z e it zw isch en d em G rü n d u n g sau fru f
und d em e rste n H isto rik erta g im S e p te m b e r 1 9 4 9 z eig te sich au ch , daß G erh ard R itte r
in se in e r g e p la n te n F ü h ru n g sro lle k einesw eg s u n u m stritte n war. Z w isch e n H e im p e l,
A u b in , B a e th g e n und G ru n d m a n n ergab sich ein v ertra u lich er B riefw ech sel ü b e r die
C h a n ce n und K o n s e q u e n z e n ein e r ev en tu ellen W a h l R itte rs zum V o rsitz e n d e n des
V e rb a n d e s. H e im p e l sah „auch bei an d eren K o lle g e n zwar n ic h t O p p o sitio n , a b e r ein e
g ew isse U n lu st g e g e n ü b e r se in e r (d .h . R itters) F ü h ru n g “, vor allem aber, daß „in k a­
th o lisc h e n K re is e n viel O p p o sitio n g eg en R itte r ist“. B ae th g e n b e stätig te d iese k riti­
sch e n Ü b e rle g u n g en und sch lu g sein erseits H e rb e rt G ru n d m a n n als V o rsitz e n d e n vor,
e in e A lte rn a tiv e, die je d o c h an d essen W e ig e ru n g zu k an d id ieren sc h e ite r te 77.
U n m itte lb a r n a c h K rie g se n d e w aren sow ohl von M e in e ck e als auch von R itte r e in ­
d eu tig e und d u rch au s rep räsen tativ e F o rd eru n g en n ach e in e r „totalen U m ste llu n g u n ­
seres d e u tsch e n G e s c h ic h ts d e n k e n s “ (so R itte r)78 g e ste llt w ord en . A u c h F ritz H artu n g
g in g in e in e r R e d e im J a h r e 1 9 4 6 davon aus, daß d ie d eu tsch e G e sch ich tsw isse n sch a ft
e in e M itv era n tw o rtu n g an d er g eistig en V o rb e re itu n g des N atio n also zialism u s trage.
S ie sei v era n tw o rtlich dafür, „daß das d eu tsch e V o lk aus d em Z u sa m m e n b ru ch von
1 9 1 8 n ich ts g e le rn t“ h a b e 79. N o ch 1 9 4 8 erk lärte R itte r „die n ü c h te rn e , g rü n d lich e,
n a ch b e id en S e ite n v o ru rteilslo se R ev isio n d es h e rk ö m m lic h e n G e s c h ic h tsb ild e s zu
e in e r u n m itte lb a re n p o litisch e n P flic h t“80.
A u ch ü b e r d ie bislan g g e n a n n te n H is to rik e r hin au s w ar das T h e m a d er „ R ev isio n
d es G e s c h ic h ts b ild s “ ein b e h e rrsch e n d e s p u b liz istisch es T h e m a , d essen A u släu fer bis
w eit in d ie fü n fzig er J a h r e reich te n . D e n in d er ö ffe n tlic h e n D isk u ssio n e rh o b e n e n , re-
75 Die Denkschrift vom 5 .8 .1 9 4 9 in Archiv VH D 1.
76 Ritter-Briefe, Nr. 131, Anm. 3. Ritter sprach im Februar 1947 in einem Brief an Rassow davon,
daß er überlege, Freiburg eventuell zu verlassen, wo „dem Wirken eines nationalen deutschen
Historikers bestimmte Grenzen gezogen sind“ (UA Köln 183/39).
77 Heimpel an Baethgen am 3 0 .7 .1 9 4 9 und dessen Antwort vom 6 .8 .1 9 4 9 in Archiv V H D 1.
78 Ritter; G eschichte als Bildungsmacht, 37. Vgl. auch seine Beteiligung an den schon erwähnten
Richtlinien für einen neuen Geschichtsunterricht.
79 Das Zitat aus einer Rede Hartungs bei Werner Schochow, Ein Historiker in der Zeit. Versuch
über Fritz Hartung (1883-1967), in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 32
(1983) 2 1 8 -2 5 0 , hier 225. Vgl. auch Wenter Berthold, Marxistisches Geschichtsbild - Volksfront
und antifaschistisch-demokratische Revolution (Berlin 1970) 218 ff. über Hartungs Mitarbeit an
der „Kommission zur demokratischen Erneuemng des Geschichtsunterrichts“.
80 Gerhard Ritter, Europa und die deutsche Frage. Betrachtungen über die geschichtliche Eigen­
art des deutschen Staatsdenkens (München 1948) 8.
Der Neubeginn der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945
25
lativ pau sch alen F o rd e ru n g en n ach e in e r „ R ev isio n “ stellten sich freilich sch o n e r­
staunlich früh die H is to rik e r v ersch ie d e n ste r R ic h tu n g e n e n tg e g e n , die e h e r ihre A u f­
gabe darin erk a n n te n , vor e in e r n eu en p o litisch en V erw en d u n g d er G e sch ich tsw isse n ­
schaft zu w arn en 81. G erh ard R itte r g ew ö h n te es sich in d iesen Ja h r e n an, n u r n o c h von
¡Slotw endigkeit und G e fa h re n ein e r R ev isio n des d eu tsch en G e s c h ic h ts b ild e s “ zu
sp rech en 82, O tto V o ssle r g ab sich sch o n 1 9 4 7 ü b erzeu g t d avon, „daß d ie G e sc h ic h te ,
sofern sie G e sc h ic h te , also A u sd ru ck ein es e c h te n G la u b e n s und n ic h t P u b lizistik war,
w eit w eniger u m z u le rn en h at, als m an je tz t v ielfach sag t“83. S o w urde die p artielle B e ­
reitschaft zur R e v isio n d u rch d en je tz t h e ftig b e m ü h te n Sch u tzw all d er „ O b je k tiv itä t“,
die A bw eh r n e u e r p o litis c h e r V e re in n a h m u n g d u rch die erzw u n g en e „ D e m o k ra tie “
und den salv atorisch en H in w eis auf die „w ahre G e s c h ic h te “ e h e r b e g ren zt als g e fö r­
dert. „R evisio n des G e s c h ic h ts b ild s “ w urde so zu e in e r F o rd eru n g d er m o ralisch arg u ­
m en tieren d en P u b liz istik , p o litis c h e r P arteien und e in ig er „ u n zu fried en er“ P riv atd o­
zenten. A ls so lch e r w urd e d er M e in e ck e sch ü le r Jo h a n n A lb re c h t von R an tzau b e ­
z eich n et, d er sich in E n g la n d k ritisch ü b er R itte r g eäu ß ert und d am it d en A n g riff
G eoffrey B arraclou g h s au f R itte r v o rb ereitet h atte. S e in e R a n k e - und R itte r-k ritisc h e n
P u blik atio n en des Ja h r e s 1 9 5 0 b lieb e n je d o ch ein e A u sn a h m e im S p ek tru m d er Ä u ß e ­
rungen d er H is to rik e r d ieser Z e i t 84.
A n g esich ts so lch w id ersp rü ch lich er Ä u ß eru n g en zum P ro b le m d er „ G e sch ich tsre v i­
sion“ ist zu fragen, w ie d er n eu g eg rü n d e te H isto rik erv erb an d d er A u fg abe d er „R ev i­
sion“ g e re ch t w urde. M an h ä tte n ach allen fe ie rlich e n E rk läru n g e n d er u n m ittelb a ren
N ach kriegszeit ein klares W o r t in d ieser R ic h tu n g erw arten k ö n n e n , ein e m o ralisch e
Selb stv erp flich tu n g zur in ten siv en K o o p e ra tio n m it au slän d isch en H isto rik ern , zu
neuem A u stau sch m it d en em ig rie rte n K o lle g e n und ih ren n e u en H e im atlän d ern w enn n ich t sogar m e h r. W e r u n te r d ieser E rw artu n g sh altu n g R itte rs E rö ffn u n g sred e
des H isto rik ertages liest, w ird e n ttä u sch t, g erad e w enn m an sie an d er S e lb stk ritik d er
u n m ittelb aren N a ch k rieg sz eit m iß t85. W ie w enig R itte r und d er V erb an d in sgesam t
zur m ö g lich en m o ra lisch e n W ie d e rg u tm a ch u n g b e itru g en , läßt sich aus e in e r B e m e r­
kung des V o rsitz e n d en des fran zö sisch en H isto rik erv erb an d es F aw tier ersch ließ en , die
d ieser R itte r g e g e n ü b e r 1 9 4 9 in M o n te C arlo m a ch te . R itte r b e ric h te te A n fa n g 1 9 5 0
seinen V o rsta n d sk o lle g en , daß F aw tier ih m v o rg eh alten h ab e, daß die d eu tsch en H i-
81 Vgl. etwa Walter Hofer, Über das Problem einer Revision des deutschen Geschichtsbildes, in:
Europa-Archiv 4 (1949) 1801-1809.
82 So der Titel eines Vortrags, der 1949 in den Mitteilungen der Studiengemeinschaft der Evan­
gelischen Akademie veröffentlicht wurde, hier zitiert nach Wilhelm Schiissler, Um das G e­
schichtsbild (Gladbeck 1953) 9 -3 5 , hier 35.
83 So Vossler in einem Brief an Rassow vom Februar 1947 in UA Köln, 197/39.
Johan n Albrecht von Rantzau, Das deutsche Geschichtsdenken der Gegenwart und die Nach­
wirkungen Rankes, in: G W U 1 (1950) 5 1 4 -5 2 4 und ders., Individualitätsprinzip, Staatsverherrli­
chung und deutsche Geschichtsschreibung, in: Die Sammlung 5 (1950) 2 8 4 -2 9 9 . v. Rantzau
wurde nach einer Tätigkeit als Dozent an der Universität Hamburg 1954 auf einen Lehrstuhl an
der TU Berlin berufen.
85 Verkürzter Abdruck der Rede in H Z 170 (1950) 1-22. W ichtige Ergänzungen zur Rede bietet
Gerhard Ritter, Deutsche Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert, in: G W U 1 (1950) 8 1 -9 6
und 129-137.
26
Winfried Schulze
sto rik e r n ic h t auf d ie E rm o rd u n g M arc B lo ch s reag iert h ätten . R itte r n ah m d iesen T a ­
d el zu m A n la ß , ein e W ü rd ig u n g B lo ch s d u rch W a lte r K ie n a st in d er H isto risch e n
Z e its c h rift a n z u re g e n 86, o h n e je d o ch ü b er w eiterg e h en d e K o n se q u e n z e n n a c h z u d e n ­
k e n , die d em V erb a n d w ohl an g estan d en h ä tte n 87.
R itte r g in g sein e A u fg ab e in d er F o rm ein e r „ k ritisch en B e sin n u n g “ auf die G ru n d ­
lagen d er d e u tsch e n G e sc h ic h tss c h re ib u n g an. D e r G ru n d te n o r d ieser Ü b erp rü fu n g
d es B o d en s, auf d em m an stand , fiel e ig e n tlich n ic h t u n g ü n stig aus. R an k es V o rlieb e
fü r die A u ß e n p o litik h ab e ein en „ R e ic h tu m e c h te r und tie fe r E in s ic h te n “ ersch lo ssen ,
a b e r in d er H an d von „ E p ig o n e n “ sei ein e so lch e H isto rie n ic h t frei von G efa h ren g e ­
w esen. D ie v erste h en d e W isse n sc h a ftlic h k e it d er G e sc h ich tsw isse n sch a ft dürfe n ic h t
ih r Z ie l aus d en A u g en v erlieren , für die Ö ffe n tlic h k e it zu a rb eiten . E in e „social
s c ie n c e “ im S in n e d er am e rik a n isch e n R e e d u k a tio n sp o litik ab er sei a b z u le h n e n 88.
A u ch sah R itte r k e in e n A n laß , an d er in d iv id u alisieren d en M eth o d e zu rü tteln , d o ch
die „ ü b erliefe rte S c h e u vo r g en era lisieren d er G e s c h ic h tsb e tr a c h tu n g “ dürfe n ic h t zur
„ G e d a n k e n lo s ig k e it“ w erd en , T y p en b ild u n g so lle zu m
„ h e u ristisch en
H ilfsm itte l“
w erd en. D a m it w ar für R itte r die Frage d er m e th o d o lo g isch e n R ev isio n eig e n tlich
sch o n abg etan . D e r R e st se in e r R ed e war vor allen D in g e n d en F o rd eru n g en d ieser
T a g e g ew id m et, p ra k tisch e n F rag en also d er A rch iv b en u tz u n g , d er B ib lio th e k e n , der
N a ch w u ch sfö rd eru n g und d er R e is e m ö g lic h k e ite n , d er R ü ck fü h ru n g d er d eu tsch en
A rch iv b e stä n d e . A u ch die A u sb ild u n g d er H is to rik e r w o llte R itte r v erän d ert seh en .
M eh r sta a tsw isse n sch aftlich e und so z io lo g isch e A u sb ild u n g e rsch ien ih m w ese n tlich e r
als die tra d itio n e lle A u sb ild u n g in d en p h ilo lo g isch e n M eth o d en d er A lth isto rik e r und
M ed iävisten. S p u re n d ieser F o rd eru n g in d er u n iv ersitären R e fo rm d isk u ssio n d ieser
J a h r e o d er gar ih re R ea lisieru n g lassen sich je d o c h n ic h t feststellen .
D e r T e n o r d ieser R e d e war in sg esam t defensiv. R itte r verteid ig te d ie d eu tsch e G e ­
sch ich tsw isse n sc h a ft g eg en K ritik e r aus d em A u slan d , d .h . d ie sch o n erw äh n ten pau­
sch a le n V eru rte ilu n g e n d er d eu tsch en G e sc h ic h te . A u s d en R e a k tio n e n e in z e ln e r K r i­
tik e r g e h t au ch h erv or, daß R itte r au sd rü ck lich d en e n g lisch e n H isto rik er G eo ffrey
B arraclou g h ang riff, d er ih n in e in e m au fseh en e rreg en d en A rtik e l k ritisiert h a tte 89. Es
ist n a c h trä g lic h v o n b e so n d e re m In teresse, daß d er E in d ru ck d er R ed e R itters bei v ie­
len B e o b a c h te rn ein d u rch au s zw iesp ältig er war. E rn s t D e u e rle in sch rie b in d er „T a­
g e sp o st“, daß d em g an zen H isto rik ertag nu r d er „h alb e M u t zur W a h rh e it und zur B e ­
h a n d lu n g d er g e s c h ic h tlic h e n P ro b le m e , die n ich t n u r d en d eu tsch en H isto rik ern ,
so n d e rn d em d e u tsch e n V o lk in sein er G e sa m th e it auf d en N ägeln b re n n e n “, a n h a f­
te te 90. E r sp rach vo n „den zw iesp ältig en E rk läru n g en R itte rs “, und für d en B e o b a c h te r
86 Sie erschien in der H Z 170 (1950) 2 2 3-225.
87 Der Brief Ritters vom 2 .2 .1 9 5 0 in Archiv V H D 2.
88 Vgl. dazu Jutta-B . iMiige-Quassowski, Neuordnung oder Restauration? Das Dem okratiekon­
zept der amerikanischen Besatzungsmacht und die politische Sozialisation der Westdeutschen:
Wirtschaftsordnung - Schulstruktur - Politische Bildung (Opladen 1979) bes. 2 1 6 ff.
89 Die Erwähnung Barracloughs geht aus einem Ritter gegenüber kritischen Brief Hartungs an
Aubin vom 8 .7 .1 9 5 0 hervor. Unklar bleibt, ob dies in der „Rede“ oder in einer anderen Diskus­
sion des Historikertages geschah.
90 Tagespost vom 4. Oktober 1949.
Der Neubeginn der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945
27
von „C h rist und W e lt“ erg ab sich k ein e A n tw o rt auf d ie F rag e, o b h ier ein n eu es G e ­
sch ich tsb ild e n ts te h e n k ö n n e 91. A u ch d er k a th o lisch e H isto rik e r und S o zio lo g e A lfred
von M artin g ew ann aus d er M ü n ch e n e r R ed e d en E in d ru ck e in e r „Stellu n g n a h m e g e ­
gen die R ev isio n des d e u tsch e n G e sc h ic h tsb ild e s“ und des „ G ro ssp reu ssen tu m s“, ein e
In t e r p r e t a tio n , g eg en die sich R itte r im b rie flich e n V e rk e h r m it von M artin h e ftig v er­
w ahrte92. W ilh e lm T re u e sch lie ß lic h k ritisierte das F e h le n ein e r „g ru n d sätzlich en Ä u ­
ßerung und S te llu n g n a h m e “ zu d en U m w älzu n g en d er le tz te n Ja h r e , bezog sich dabei
aber m e h r auf d en g a n zen H isto rik erta g als auf die R e d e R itte rs 93. A lle d iese B e m e r­
k u n g en zeig en , daß die R e d e ganz o ffe n s ich tlich h ö c h st u n te rsch ie d lich verstan d en
wurde und in d er S itu a tio n d es Ja h r e s 1 9 4 9 vo n vielen Z e itg e n o sse n als ein e zu w enig
ein d eu tig e A b sag e an die T ra d itio n e n des P reu ß en tu m s in te rp re tie rt wurde.
P ositiv b o t R itte r d er ratlo sen Z u n ft ern eu t d en B egriff d er „ O b je k tiv itä t“ an, ein er
O b je k tiv itä t fre ilich , d ie für R itte r in h ö h erem M aße g eg en stä n d lich war als etw a für
M ein eck e. O b je k tiv itä t w ar fü r R itte r n ic h t etw a n u r ein e regu lative Id ee im S in n e e i­
nes stetig e n W e c h s e ls zw isch en W a h r h e it und Irrtu m , so n d ern O b je k tiv itä t b e d eu tete
für ih n , w ie K la u s S ch w a b e ü b erzeu g en d h e rau sg e arb eitet h a t94, die fortw ährend e
T e ilh a b e an d er S c h a ffu n g ein e s B estan d s ü b e rz e itlich e r W a h r h e ite n : „ Ich g lau be an
die ü b e rz eitlich e G ü ltig k e it sittlic h e r N o rm en und an die V e rp flich tu n g des G e ­
sch ich tssch re ib e rs, sie au ch in sein em U rteil ü b er g e s c h ic h tlic h e P h ä n o m e n e rü c k ­
sich tslo s zur G e ltu n g zu b r in g e n “, sch rie b er sch o n 1 9 3 6 an M e in e ck e und gab sich
dam it d iesem als A n h ä n g e r „ n a tu rre c h tlic h e n “ D e n k e n s zu e rk e n n e n 93.
So w eit dies h e u te zu se h e n ist, w urde d iese A u ffassu n g R itte rs d am als n ic h t e ig e n t­
lich zur K e n n tn is g e n o m m e n . Sie ist a b e r ein sp re ch e n d e r H in w eis auf die p ro b le m a ­
tisch e K a te g o rie d e r „ O b je k tiv itä t“, d ie in d en ersten b eid en N a ch k rieg sja h rz eh n ten in
ständ ig er fu n k tio n a le r V e rb in d u n g m it d em N am en R a n k e s ein e zen trale R o lle für die
L eg itim ieru n g d er G e sch ich tsw isse n sch a ft g esp ielt h at, o h n e daß m an sich d er W e ite ­
ru ngen dieses B egriffs k lar g ew esen is t90. E s verw u nd ert au ch , w enn in je n e n für die
A u sü b u n g von W is se n sc h a ft so sch w ierig en Ja h r e n so sch n e ll von „ O b je k tiv itä t“ g e ­
sp ro ch en w urde, die z .B . au ch von den m a teriellen V o rau ssetzu n g en von W isse n sch a ft
abh ängig ist. A rch iv e und B ib lio th e k e n w aren zerstö rt o d er n o c h ausgelagert, w ichtige
B eständ e gerad e d er n e u e ste n G e s c h ic h te d e u tsch e m Z u g riff en tzo g e n , jed erm an n
spü rte, daß d er h e ra u fz ieh en d e K o n flik t d er G ro ß m ä c h te au ch auf das w issen sch aftli­
ch e T u n z u rü ck w irk te. W ie so llte u n te r d iesen U m stä n d e n O b je k tiv itä t ü b erh au p t
m ö g lich sein ?
M an wird d esh alb fe stste lle n k ö n n e n , daß sich die K a te g o rie d er „ O b je k tiv itä t“ d en
91 Christ und W elt vom 29. Sept. 1949.
52 So Ritter in seinem Brief an v. Martin vom 2 2 .5.1950.
93 Deutsche Universitäts-Zeitung, 4. Jahrg. Nr. 19 vom 7. Okt. 1949, S. 15.
9i Ritter-Briefe, Einleitung, 158 f.
95 Ritter-Briefe, Nr. 73 als Reaktion auf Meineckes Buch „Die Entstehung des Historismus“.
96 Eberhard Kessel griff in seiner Marburger Antrittsvorlesung (gedruckt in: Universitas 2 (1947)
9 1 5 -9 2 4 ) auf die Ranke’sche Objektivität ebenso zurück wie Hans Herzfeld. Vgl. Gerhard A. Rit­
ter, Hans Herzfeld. W erk und Persönlichkeit, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und O st­
deutschlands 32 (1983) 1 3 -9 1 , hier 53.
28
Winfried Schulze
H isto rik ern je n e r J a h r e als w illk o m m e n e r F lu ch tra u m a n b o t, d er ein e R e ih e w ich tig er
F u n k tio n e n e rfü llen k o n n te . In n e rfa ch lich sch u f er die M ö g lich k eit, die E n tw ick lu n g
d er jü n g ste n d e u tsch e n G e s c h ic h te und die R o lle d er G e sc h ich tsw isse n sch a ft als A b ­
w eich u n g vom G e b o t d er O b je k tiv itä t d arzu stellen . D a m it b o t sich au ch ein e e in ­
le u ch te n d e E rk lä ru n g fü r das V e rh a lte n je n e r „A fterw issen sch a ftler“ (so R itte r) an, die
d irek t P o sitio n e n des N atio n also zialism u s v ertreten o d er sich d iesen verbal a n g en äh ert
h a tte n 97. G e g e n ü b e r d er Ö ffe n tlic h k e it ließ sich die R ü c k k e h r zur R a n k e ’sch e n O b ­
je k tiv itä t als R ü c k k e h r zu d en g e h e ilig te n G ru n d lag en d er W isse n sch a ft d arstellen ,
und so war zw eifellos v erlo ren e s T erra in w ied erzu g ew in n en , au ch w enn ein e k ritisch e
Ö ffe n tlic h k e it - h ier vo r alle m k a th o lisch e P o sitio n e n - ein d eu tig ere E rk lä ru n g e n e r­
w artete.
D ie se „ O b je k tiv itä t“ w ar d an eb en au ch ein w illk o m m e n e r S c h u tz , u m etw aige E in ­
g riffe d er B e sa tz u n g sm ä ch te in das In n e n le b e n d er G e sch ich tsw isse n sch a ft ab zu w eh ­
ren . A u f d er h ie r in te re ssie re n d e n a k a d em isch en E b e n e w ar dies freilich nu r ein e g e ­
rin g e G efa h r, d en n tro tz a n fä n g lich er B e m ü h u n g e n zur „S äu b eru n g “ und „ D e m o k ra ti­
sieru n g “ d er U n iv ersitä ten ließ en sich d iese P län e a n g e sic h ts d er d rin g en d b e n ö tig te n
H o c h sc h u lle h re r n ic h t v e rw irk lich e n 98. D ie K a te g o rie „ O b je k tiv itä t“ ließ sich aber
au ch als n ü tz lich es A rg u m e n t in d en A u sein a n d ersetz u n g en e in s e tz e n , die in je n e n
Ja h r e n um die E in ric h tu n g und A u srich tu n g des sp äteren In stitu ts für Z e itg e s c h ic h te
e n tb ra n n te n . V o n d en e rsten Ü b erle g u n g en zu e in e r s o lc h e n In stitu tio n , die b e reits im
H e rb s t
1945
g eäu ß ert w u rd en , b is zu ih rer ta ts ä ch lich e n
E in ric h tu n g im Ja h re
1 9 4 9 / 5 0 stand das In s titu t im W id e rstre it „v o lk sp äd ag og isch er“ A b s ic h te n ein erseits,
w ie sie vor allem von p o litis c h e r S e ite en tw ick e lt w urd en , und w isse n sch a ftlic h e n I n ­
te re sse n , w ie sie vor a lle m d er u n te r R itte rs F ü h ru n g ste h e n d e H isto rik erv erb an d re ­
p rä sen tierte. „N iem als im Laufe d er d eu tsch en G e s c h ic h te ist die o b je k tiv e , u n v o rein ­
g e n o m m e n e E rfo rsch u n g und D a rstellu n g z e itg e s c h ic h tlic h e r V o rg än g e so d ring end
n o tw en d ig g ew esen w ie h e u te “, sch rie b R itte r in se in e r D e n k sc h rift vom O k to b e r
1 9 4 9 " . R itte r v ertrat sein K o n z e p t ein es „w issen sch a ftlic h en “ In stitu ts zur E rfo r­
97 Dazu die Einzelnachweise in den Standarddarstellungen von Helmut Heiber, W alter Frank und
sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschland (Stuttgart 1966), M ichael H. Kater, Das
„Ahnenerbe“ der SS 1 9 35-1945. Ein Beitrag zur Kulturpolitik des Dritten Reiches (Stuttgart
1974), K a rl Ferdinand Werner, Das NS-Geschichtsbild und die deutsche Geschichtswissenschaft
(Stuttgart 1967) und Volker Losemann, Nationalsozialismus und Antike. Studien zur Entwicklung
des Fachs Alte G eschichte (Hamburg 1977) sowie Klaus Schreiner, Führertum, Rasse, Reich. W is­
senschaft von der G eschichte nach der nationalsozialistischen Machtergreifung, in: Peter Lundgren (Hrsg.), W issenschaft im Dritten Reich (Frankfurt/M. 1985) 163-252.
98 Vgl. dazu Karl-Ernst Bungenstab, Umerziehung zur Demokratie? Re-education-Politik im Bil­
dungswesen der U S-Zone 19 4 5 -4 9 (Düsseldorf 1970) bes. 123 f.
99 Die Gründungsgeschichte des Instituts ist inzwischen aus den Akten heraus rekonstruiert wor­
den. Vgl .Jo h n Gimbel, The Origins of the Institut für Zeitgeschichte: Scholarship, Politics and
American Occupation, in: American Historical Review 70 (1964/65) 71 4 -7 3 1 und Helmuth
Auerbach, Die Gründung des Instituts für Zeitgeschichte, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
18 (1970) 5 2 9 -5 5 4 . Das Zitat Ritters aus Ritter-Briefe, Nr. 160, S. 456. - Zum Begriff der Z eitge­
schichte vgl. H ans Rothfels, Aufgaben der Zeitgeschichte, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
1 (1953) 1 -1 3 . Auch das Archiv des V H D enthält eine Fülle einschlägigen Materials betr. die
Gründung des Instituts.
Der Neubeginn der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945
29
sch u n g des N atio n a lso zialism u s m it aller K o n se q u e n z in R e d e n , D e n k sc h rifte n und
B riefen . E r g e rie t dabei in z .T . h e ftig en W id e rsp ru ch vor allem zu T e ile n d er b ay eri­
sch en Staatsre g ieru n g und d es von d en L ä n d erreg ieru n g en p räsen tierten G e sc h ä fts­
führers d es In stitu ts D r. G erh ard K ro ll, ein es C S U -A b g e o rd n e te n , d essen N am e R itte r
A n laß zur V e ru n g lim p fu n g d er A n fan g sp h ase des In stitu ts als „ K ro llo p e r“ gab. Im
V erlau f d ieser A u sein a n d ersetz u n g k am es au ch zu e rh e b lic h e n A n g riffen auf die w is­
se n sch a ftlich e R e p u ta tio n R itte rs, als ein von K arl B u c h h e im erstelltes G u ta ch te n R it ­
ters verbale A n p a ssu n g an das D ritte R e ic h aufgriff und als von K ro ll lan cierte A rtik e l
in d er „ S ü d d eu tsch e n Z e itu n g “ die D isk u ssio n um die P erso n R itte rs in ein e grö ßere
Ö ffe n tlic h k e it tru g e n 100.
O rd n e t
m an
d iese
vo n
u m fa n g reich en
P ressev erö ffen tlich u n g en
b e g leiteten
K ä m p fe in u n sere F ra g estellu n g ein , erg ib t sich je d o ch ein n u r g erin g er E rtrag u n ter
d em uns in te re ssieren d en G e sic h ts p u n k t d er m e th o d o lo g isch e n D isk u ssio n . M an wird
d iese K o n tro v e rs e n e h e r als ein en h e u te nu r m e h r sch w er n a ch v o llzieh b aren R ic h ­
tu n g sk am p f im k on serv ativ en L ager v erste h en m ü ssen , so sich e in e , wie R itte r sie
n a n n te,
„ k a th o lisch e
P a rte ic liq u e “ g eg en
sein e
eig en e
p ro testa n tisch -p reu ß isch e
G ru n d au ffassu n g w a n d te 101. In d ieser A u sein an d ersetzu n g w urde au ch d eu tlich , daß
R itte r dem g erad e auf k a th o lisc h e r S e ite stark v ertreten en G e d a n k e n ein e r ab en d län d isch -ch ristlich e n E rn e u e ru n g d er G e s c h ic h te relativ fern s ta n d 102. D iese w urde vor
allem von d em sch o n erw äh n ten k ath o lisch e n H is to rik e r und S o z io lo g en A lfred von
M artin v ertre ten , aber a u ch - je d o c h in ab g esch w äch ter F o rm - vom H erau sg eb erk reis
des „ H isto risch en Ja h r b u c h s d er G ö rre sg e se llsc h a ft“, das n ach d er N eu g rü n d u ng d er
G ese llsch a ft in H e id e lb erg 1 9 4 6 seit 1 9 4 9 w ied er e rs ch e in e n k o n n t e 103.
100 Die Artikel erschienen am 24./ 25.6.1950 in der „Süddeutschen Zeitung“. Am 1 6 .12.1950
griff ein Artikel von Otto B. Roegele im „Rheinischen Merkur“ die Politik des V H D und Ritters
an, so daß Hermann Heimpel dem ihm bekannten Verfasser einen empörten Brief schrieb, in
dem er Ritter vehement verteidigte (Archiv V H D 2-3).
101 Vgl. dazu Ritter an Alfred Vagts in Ritter-Briefe, Nr. 175, ebd. auch S. 476 der Ausdruck
„Krolloper“. Ritter ließ selbst keinen Zweifel daran, wo er seine Feinde sah. Er sprach von „gross­
deutschen, anti-preussischen Kreisen“, die jetzt auf Schule und Studentenschaft einzuwirken ver­
suchten, das „Neue Abendland“ in Augsburg und „Der Föderalist“ in Konstanz hätten „giftige
Pfeile“ auf ihn abgeschossen.
102 Der protestantisch-katholische Gegensatz spielte auch in der Programmplanung des ersten
Historikertags eine gewisse Rolle, wenn im Vorstand die Notwendigkeit betont wurde, in Mün­
chen einen repräsentativen katholischen Historiker in der Mittelaltersektion zu W ort kommen
zu lassen. Archiv V H D 1.
103 Vgl. dazu das Vorwort von Johannes Spörl in Bd. 6 2 -6 9 , 1 9 4 2 -1 9 4 9 und Spörls Vortrag
(„Neuorientierung in der historischen Forschung?“) auf der Generalversammlung der Görresgesellschaft in Köln 1949, gedruckt in: Jahresbericht der Görres-Gesellschaft 1949 (Köln 1950)
55 -6 4 . Spörl konnte sich „des Eindrucks nicht erwehren, daß etwas in den bisherigen G e­
schichtsüberlegungen nicht in Ordnung gewesen sein konnte“, warnte aber auch vor einer unre­
flektierten, jetzt demokratischen Interpretation der deutschen Geschichte, für die er schon Bei­
spiele zitierte. In der Auseinandersetzung um die „Denunziation“ des von Ritter geführten VH D
beim Internationalen Historikerverband als „Clique“ distanzierte sich Spörl von dem Vorgehen
v. Martins.
30
Winfried Schulze
In d iesem Z u sa m m e n h a n g ist au ch von In te re sse , daß d er k a th o lisch e H isto rik er
W ilh e lm W ü h r 1 9 4 7 in F reisin g e in e n „A rb eitsk reis c h ristlic h e r H isto rik e r“ g eg rü n ­
d et h a tte 104, in d em - u m nu r ein ig e B eisp ie le zu n e n n e n - d er M ain zer L a n d e sh isto ­
rik e r Ludw ig P etry 1 9 4 8 ü b er R a n k e , D ro y sen , B u rck h ard t und R ie h l referierte, an
d em die M ed iäv isten T h e o d o r S c h ie ffe r und H e in rich B ü ttn e r, d er S ü d o steu ro p a h isto rik er G e o rg S ta d tm ü ller, d er W irtsc h a ftsh isto rik e r W o lfg a n g Z o rn , d er A rch iv a r und
L a n d esh isto rik e r E rn s t K le b e l, d er N e u z e ith isto rik e r H e in z G o llw itz er und d er P h i­
lo so p h K a rl H o lz a m e r m ita rb e ite te n . D e r K re is w ollte ein e „ M ö g lich k e it des rü ck h a lt­
losen G e sp rä ch s für A n g e h ö rig e b e id er K o n fe s s io n e n , die das C h riste n tu m als G e sc h ic h ts- und G e g en w a rtsm a ch t ern stz u n e h m e n g ew illt sin d “, b ie te n 105.
D e r frühe T o d W ü h rs im J u n i 1 9 5 0 im A lte r von 4 5 Ja h r e n b e e n d e te zw ar n ich t
u n m itte lb a r die A k tiv itä ten d ieses e h e r lo c k e re n K re ise s, d o ch s c h e in t d ieser n ich t
se h r w eit ü b er den B eg in n d er fü n fzig er J a h r e hinaus bestan d en zu h a b en , ob w oh l
W ü h rs Frau und ein k le in e s K o m ite e d ie w eitere K o o rd in a tio n d er in zw isch en e n t­
sta n d e n e n reg io n alen G ru p p en ü b e rn o m m e n h a tte n 106. U n k la rh e ite n ü b er ein e in ­
h a ltlic h e F ü llu n g d es B egriffs „ ch ristlich e r H is to rik e r“, die starke A n b in d u n g des
K re ise s in N o rd rh e in -W e stfa le n an die k a th o lisch e K ir c h e , vor allem a b e r d er A usfall
vo n W ü h r selb er, d er als M o to r d er g an zen B ew eg u n g g e d ie n t h atte, v eru rsach ten den
Z e rfa ll d er A k tiv itä te n seit 1951/ 52. W e n n au ch außer d er B e rich te rsta ttu n g in d er T a ­
g esp resse d er K re is o ffe n s ic h tlic h k e in e g rö ß ere w issen sch a ftlich e P u b lizität fand , m u ß
d er sp o n ta n e A n k la n g , d en die A k tiv itä t W ü h rs fand, d o ch als In d iz ein es relativ g ro ­
ß en N a ch h o lb e d a rfs an in te lle k tu e lle m A u sta u sch und V era rb eitu n g d er e ig en en E r ­
fah ru n g en , als S u c h e n ach n eu en O rie n tie ru n g e n , v erstan d en w e rd e n 107. D ie bislan g
e h e r sp ä rlich en N a ch rich te n ü b e r d iesen A rb e itsk re is, d er o ffen b a r ein Z u s a m m e n ­
sch lu ß je n e r G ru p p e von H isto rik ern war, die d er R itte rsc h e n In te rp re ta tio n d eu tsch er
G e s c h ic h te und sein em e h e r red u zierten B ed arf an R ev isio n k ritisch g e g e n ü b e rsta n ­
d en , sind auch ein S y m p to m für das bislan g n o c h g anz u n z u reich en d e rfo rsch te I n ­
n e n le b e n d er H isto rik e rz u n ft n ach 1 9 4 5 .
10,1 W ühr gehörte auch zu den Teilnehm ern der deutsch-französischen Historikertagung in
Speyer 1949, auf der er beauftragt worden war, die dort entwickelten Vorschläge zur Schulbuch­
revision zu verwirklichen. Vgl. den Bericht über die Speyerer Tagung in G W U 1 (1950) 53.
103 So die Formulierung in einem Rundschreiben nach dem Tode Wührs.
106 So wurde z.B. im November 1949 in Düsseldorf eine .Arbeitsgem einschaft Christlicher H i­
storiker in Nordrhein-Westfalen“ gegründet, die im Septem ber 1950 in Bonn eine Tagung über
„Moral und Politik in der G eschichte“ veranstaltete und noch bis 1953 tätig war. Ich verdanke
Herrn Dr. Robert Frohn (Köln) wichtige Hinweise auf die Aktivitäten der nordrhein-westfälischen Arbeitsgemeinschaft.
107 Für die Informationen über den W ühr’schen Kreis, wie er in der Korrespondenz oft genannt
wurde, bin ich Herrn Kollegen Ludwig Petry (Mainz) sehr dankbar, der mir freundlicherweise
Kopien seiner eigenen Unterlagen zur Verfügung stellte. Ausführlicher werde ich auf den Kreis
in der in Anm. 1 genannten Buchveröffentlichung eingehen.
Der Neubeginn der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945
31
VII
D e r B lick auf die G e sch ich tsw isse n sch a ft d er w estlich en Z o n e n n ach 1 9 4 5 und bis
zur N eu organ isatio n des H isto rik erv erb an d es und d er parallel erfo lg ten N eu grü n d u ng
des G e sc h ie h tsle h re rv e rb a n d e s108 hat ein e F ü lle von A b sich tserk lä ru n g en und w ich ti­
gen m o ra lisch e n Im p u lsen erg eb en . D o c h alle d iese E rk läru n g en v erb lieb en im R a h ­
m en des trad ierten m e th o d o lo g isch e n K o n se n s u s und d er „bew äh rten “ fo rsch u n g slei­
tend en B egriffe, w enn sich h ie r auch m a n ch e D ifferen z ieru n g en erk e n n e n lassen, die
in d er z eitg e n ö ssisch en D isk u ssio n n ic h t b e a c h te t w urden. Z w ar fin d en sich bei R itte r
und an d eren H in w eise auf das „großartige W e rk M ax W e b e rs “, d o ch w ird in d er
S u m m e d er A u sfü h ru n g en se h r klar, daß d am it k einesw eg s die E m p fe h lu n g v erb u n ­
den war, in Z u k u n ft m it W e b e rs c h e n K a te g o rie n zu a rb eiten . V o n d aher erk lären sich
auch die e rk e n n b a re n A v ersio n en g eg en alle F o rm e n d er A n n ä h eru n g an „ so cial“ od er
„political s c ie n c e “. S o k ö n n te n w ir u n seren B lic k ü b er d iese P eriod e an d iesem P u n k t
b e ru h ig t a b sch lie ß e n und allfällige In n o v a tio n e n sp äteren E n tw ick lu n g sp h asen zuw ei­
sen.
D o ch d ieses U rte il träfe n ic h t d en w irk lich en Stan d d er D in g e , wie er sich z u m in ­
d est für die Z e it von 1 9 4 9 bis 1 9 5 3 e rk e n n e n ließ. Ic h g reife h ier ü b er den zu n äch st
im M itte lp u n k t u n se rer Ü b erle g u n g en steh en d en Z eitra u m bew u ß t hin au s, w eil w e­
se n tlich e A n re g u n g e n zu d er n ach 1 9 5 0 ein se tz e n d e n D isk u ssio n um S o zial-, K u ltu rund S tru k tu rg e sc h ich te sch o n vo rh er g e g e b e n w orden w aren. D ie D isk u ssio n um
d iese B egriffe ist k ein esw eg s ein e F o lg e d er R e z e p tio n fran zö sisch er A n sätze, so nd ern
ist e h e r als ein e N e u fo rm u lieru n g und W e ite rfü h ru n g von F o rsch u n g san sätzen zu b e ­
z e ich n e n , die sch o n w ährend d er W e im a re r R e p u b lik und des „ D ritten R e ic h s “ e n t­
w ickelt w ord en w aren. D ie se T h e s e soll im le tz te n T e il d ieses B eitrag s b e leg t w erden.
A n sa tz p u n k t u n sere r B e o b a c h tu n g e n ist d er zw eite N a ch k rieg sh isto rik ertag in M ar­
burg von 1 9 5 1 , auf d em ein e S e k tio n m it d em ü b errasch en d en T ite l „So zio lo g ie und
H isto rie“ d u rch g e fü h rt w urde. D ie V o rg e sc h ic h te d ieser S e k tio n läßt sich n ach den
verfügbaren Q u e lle n so w eit e rsch lie ß e n , daß G erh ard R itte r selb st sch o n im J u n i 1 9 5 0
ein en u n g efäh ren P lan für d en n ä ch sten H isto rik ertag en tw ick elte, d er auch ein e S e k ­
tion für „ W irtsch a fts- und S o z ia lg e s c h ic h te “ vorsah. D ie se kam je d o c h trotz d eu tlich er
K ritik am M ü n ch e n e r H isto rik erta g von W e rn e r C o n z e zu n äch st n ich t zustande.
C o n z e h atte g e g e n ü b e r A u b in den W u n s c h n ach m e h r S o z ia lg e sch ich te au sg esp ro­
ch e n : „Sie m ü ß te w eit stärk er als b ish er das G a n z e d u rch d rin g en .“ 109 Im O k to b e r des
g leic h en Ja h r e s lud R itte r d ann d en S o z io lo g e n H an s F rey er ein , auf d em M arbu rg er
H isto rik erta g ein e n V o rtrag zu h a lte n : „E s sch w eb t uns vor, daß h ie r ein B e ric h t g eg e­
ben w erden so llte ü b er d ie R o lle , d ie die S o z io lo g ie, vor allem in W est-E u ro p a und
108 Der Verband wurde ebenfalls in München neugegründet. Sein erster Vorsitzender, der Detmolder Oberstudiendirektor Dr. Gerhard Bonwetsch, äußerte sich in der Gründungsversamm­
lung eindeutig über den „schuldhaften Irrweg, der nicht erst mit Hitler begann“. Das Protokoll
der Gründungsversammlung, auf der Karl Bosl zum zweiten Vorsitzenden gewählt wurde, in Ar­
chiv V H D 1.
109 Conze an Aubin am 1 9 .1 0 .1 9 4 9 in Archiv V H D 2.
32
Winfried Schulze
A m e rik a , in d er G e sch ich tsw isse n sch a ft sp ielt im G eg en satz zu d en T ra d itio n e n d er
R a n k e -S c h u le .“ G le ic h z e itig n ah m er K o n ta k t m it T h e o d o r S c h ie d e r auf, d er ein k riti­
sch es K o rre fe ra t zu F rey er und Sieg fried L an d sh u t h alten so llte, d em d ie P rä sen ta tio n
d er m a rx istisch en T h e o rie n o b lieg en so llte. Ih n h atte R itte r erst kurz zuv or b e i ein e r
T a g u n g in K ö n ig s te in k e n n e n g e le rn t, und er b e freite ih n aus d er V e rle g e n h e it, k ein en
M arxisten zu fin d e n 110. W ie d er K o n ta k t zw isch en R itte r und F rey er h e rg e ste llt
w urde und w ie d ie S e k tio n d efin iert w urde, läßt sich aus d em verfü gb aren Q u e lle n m a ­
terial n ic h t n ä h er ersch ließ en .
M it d em bis 1 9 3 8 in L eip zig als N a ch fo lg er vo n K arl L a m p re ch t und W a lte r G o e tz
tätig en S o z io lo g en und H isto rik er H an s F rey er, d er e b e n m it e in e r zw eibän d ig en
„ W e ltg e s c h ic h te E u ro p a s“ 111 h e rv o rg etreten war, b etrat ein b e m e rk e n sw e rte r M ann
die B ü h n e des M arbu rg er H isto rik ertag e s, d essen R o lle bei d er F o rm u lie ru n g ein e r
„ d eu tsch en S o z io lo g ie “ w ährend des N ation alsozialism u s g erad e in le tz te r Z e it in te n ­
siv d isk u tie rt w ord en is t 112. H e rv o rz u h eb en ist au ch , daß für T h e o d o r S c h ie d e r d ieser
k u rze V o rtra g in e in e m en g en Z u sa m m e n h a n g m it d er A rb e it an se in e m A rtik e l ü b er
d en „T ypus in d er G e sch ich tsw isse n sch a ft“ stand , d er im fo lg en d en J a h r p u b liz iert
w u rd e 113. D a d ieser A rtik e l sow ohl für T h e o d o r S c h ie d e r als au ch für sein e S c h ü le r
und d arü b er hin au s e in e n w ese n tlich e n T e il d er b u n d e sre p u b lik a n isch e n G e s c h ic h ts ­
w issen sch a ft zum B eg in n ein e r m e th o d o lo g isch e n N eu o rien tieru n g w urde, so ll h ier
n o ch e in m a l n ä h er auf d iese S e k tio n , m e h r a b e r n o ch auf ih ren H in terg ru n d und ihre
B eg le itu m stä n d e, ein g eg an g en w erden.
H an s F rey er d eu te te - in A u fn a h m e sein er sch o n 1 9 3 0 e n tw ick e lte n G e d a n k e n die S o z io lo g ie als „P ro d u k t des 19- Ja h rh u n d e rts , k o n k re te r g e sp ro c h e n : (als) ein P ro ­
d u k t d er b ü rg e rlich e n R e v o lu tio n e n “. L oren z von S te in , K arl M arx und W ilh e lm
H e in rich R ie h l e rk a n n te n u m 1 8 4 8 die n eu e B ed eu tu n g d er „ G e se llsch a ft“, d ie sich
v o m Sta a t ab zu lösen began n . In A n le h n u n g an D ilth e y sah F rey er ü b e r d en en g eren
E n tsteh u n g sz e itra u m d er b ü rg erlich -in d u striellen G e se llsch a ft hin au s nu n d ie M ö g ­
lic h k e it, alle h is to risch e n „ S a c h z u sa m m e n h ä n g e “ au ch sy stem atisch zu erfa ssen : „D as
g an ze M aterial, m it d em es d er H is to rik e r zu tun h at, ist sozusagen sy stem a tisch q u e r­
g e s t r e if t “ 114 M it B e isp ie le n u n terleg t, pläd ierte F rey er für ein e sy stem a tisch e A n w e n ­
dung d ieser K a te g o rie n , sow ohl von d er So z io lo g ie als au ch von d er H isto rie aus, n a­
tü rlich verw ies e r au ch auf M ax W e b e r.
110 Der Briefwechsel m it Freyer, Schieder und Landshut ebd., 3 und 4.
111 Wiesbaden 1948. Vgl. auch ders., Weltgeschichte, in: Die Sammlung 2 (1947) 143-152.
112 Zu Freyer ist jetzt vor allem heranzuziehen Elfriede Üner, Jugendbewegung und Soziologie.
W issenschaftssoziologische Skizzen zu Hans Freyers W erk und Wissenschaft bis 1933, in: R a i­
ner M. Lepsius (wie Anm. 128), 1 3 1 -1 5 9 sowie die zu erwartende größere Arbeit der Verf. über
Freyer und andere Beiträge dieses Bandes. Vgl. auch W aldem ar Gure, Das politische Denken
Hans Freyers in den Jahren der Zwischenkriegszeit (Phil. Diss. Freiburg 1967) und jetzt Jerry Z.
Muller, The O ther God that failed. Hans Freyer and the deradicalization of german conservatism
(Princeton N .J. 1988).
113 Vgl. Studium Generale 5 (1952) 2 2 8 -2 3 4 .
114 Vgl. GW U 3 (1952) 16.
Der Neubeginn der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945
33
A n d ers als F rey er g in g S c h ie d e r von e in e r lan g en T rad itio n d er G e g e n e in a n d e re n t­
w ick lu n g von G e s c h ic h te und S o z io lo g ie aus, D ro y sen und T re its c h k e w urden als B e ­
leg h e ra n g ez o g en , w eil g erad e T re itsc h k e in ein e r sp e ziellen L eh re von d er G e s e ll­
sch a ft 1 8 5 9 ein S ich a b fin d e n m it d em F e h le n ein es d e u tsch e n N atio n alstaats b e ­
fü rch tete. S c h ie d e r b eg rü ß te F rey ers h isto risch g eg rü n d ete S o z io lo g ie, w ob ei e r d essen
„ S a c h z u sa m m e n h ä n g e “ als S tru k tu re n ü b ersetzte. A n R a n k e und B u rck h ard t a n k n ü p ­
fend , sah er die N o tw en d ig k eit, n e b e n d er h isto risch en In d ivid u alität au ch d ie „In d iv i­
dualität d es M e n s c h lic h e n “ s c h le c h th in - also S tru k tu ren a n th ro p o lo g isch e r A rt - zu
e rk e n n e n , a u ch d esh alb , u m sich in d er fragw ürdigen Lage d er G eg en w art d u rch den
s y ste m a tisch en V e rg le ich b e sser in fo rm ie re n zu k ö n n en . F rey ers „S o z io lo g ie als W irk lich k e itsw isse n sch a ft“ 115 und O tto H in tz es A rb e ite n seien B eisp iele für w ich tig e, sich
e rg än zen d e Ü b e rsch n e id u n g e n b eid er D is z ip lin e n 116.
M arbu rg war ein w ich tig er V ersu ch , zu ein e r K lä ru n g und - v o r allem au ch - P ro ­
p agieru ng d er n e u en Id een zu g elan g en . S c h ie d e r und C o n z e, d er sch o n 1 9 5 2 sein en
A ufsatz ü b er die „ S tellu n g d er S o z ia lg e sch ich te in F o rsch u n g und U n te rr ic h t“ p u b li­
zierte und sich d arin d eu tlich p ositiv zur fra n z ö sisch en „A n n ales“-S c h u le ä u ß e r te 117,
erg riffen be h u tsa m die F a h n e d er n e u en R ic h tu n g , auf d er in g ro ß e n B u ch sta b e n „T y ­
pus, S tru k tu r, S o z ia lg e s c h ic h te “ zu lesen stand , und h ielten sie im e in s e tz e n d e n G e ­
g en w in d h o ch . D ie se s B ild soll das D isk u ssio n sk lim a ch a ra k te risieren , das a n g esich ts
d er seh r k ritisch e n Ä u ß eru n g en R itte rs g eg e n ü b e r d en „A n n ales“-H isto rik e rn und d er
K u ltu rg e sc h ich te en tsta n d en w ar118.
N a ch d e r D isk u ssio n des M arbu rg er H isto rik erta g e s v on 1 9 5 1 k ö n n te es so ausseh en , daß d ie d ort b e g o n n e n e S o z io lo g ie -D isk u s sio n ein e F o lg e d er E rfah ru n g en d er
d e u tsch e n H is to rik e r auf d em P ariser H isto rik ertag von 1 9 5 0 g ew esen w äre, w o sie
z w eifelso h n e m it k o n tro v ersen fran zö sisch en A u ffassu n g en k o n fro n tie rt w urd en. D ie
G e s c h ic h te p rä sen tie rte sich 1 9 5 0 in Paris n ach d em k ritisch e n U rteil K arl D ie trich
E rd m a n n s als „ D e m o g ra p h ie , M e n talitäts-, W irtsch a fts-, S o zial-, K u ltu r- und In s titu ­
tio n e n g e sc h ic h te . E s sch ie n , daß die p o litisch e und d ie E re ig n isg e sch ich te völlig an
d en R an d des h is to risch e n In te re sse s g e rü ck t seie n .“ 119 D ie E in lad u n g von Ja c q u e s
D ro z auf d en B re m e r H isto rik erta g 1 9 5 3 , u m d ort im R a h m e n ein e r S e k tio n „ M e th o ­
d olog ie und G e s c h ic h ts p h ilo s o p h ie “ in k ritis ch e r A b s ic h t ü b er „g egenw ärtige P ro ­
b le m e d er fra n z ö sisch e n F o rsch u n g e n zur N eu eren G e s c h ic h te “ zu sp re ch e n , ist gew iß
115 Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft. Grundlegung des Systems der Soziologie (Leipzig,
Berlin 1930).
116 Otto Hintze, Soziologie und Geschichte. Gesammelte Abhandlungen zur Soziologie, Politik
und Theorie der Geschichte, hrsg. und eingel. von Gerhard Oestreich (Ges. Abhandl. 2, Göttingen
1964).
117 Conze in G W U 3 (1952) 6 4 8 -6 5 7 , seine Äußerung zu Braudel ebd., 656.
118 Vgl. Gerhard Ritter, Zur Problematik gegenwärtiger Geschichtsschreibung, in: Lebendige
Vergangenheit (München 1958) 8 9 -1 1 2 .
119 So noch das Urteil Erdmanns in: GW U 30 (1979) 549. Vgl. dazu die Einschätzung Hermann
Heimpels, der in seinem kurzen Bericht über die Pariser Tagung die Dominanz der „historischen
Anthropologie“ offensichtlich weniger besorgniserregend fand und sich wunderte, daß auf dem
Kongreß keine Marxisten auftraten. Der Bericht in: GW U 1 (1950) 5 5 6 -5 5 9 .
34
Winfried Schulze
ein In diz dafür. R itte r se lb st h atte n ach d er R ü c k k e h r vo m P ariser K o n g re ß sein e k ri­
tisch e n B e m e rk u n g e n „Z u m B egriff d er K u ltu rg e s c h ic h te “ verfaßt, in d en en er sich
b e so n d e rs m it e in e m R a p p o rt von P ierre F ran castel a u sein an d ersetzte, d en er sch o n
auf d em P ariser K o n g re ß k ritisiert h a t t e 120. D ie B e m ü h u n g en d er fra n z ö sisch en K o lle ­
g en , m it B eg riffen w ie „m od e de v ie“ und „facon d ’agir“ so etw as w ie M en ta litä tsg e ­
s c h ic h te zu k o n z ip ie re n , e rsch ie n e n R itte r g än z lich u n v erstän d lich .
A u f d e m se lb e n H isto rik erta g h ie lt je d o c h au ch O tto B ru n n e r sein en V o rtrag ü b er
das „ P ro b le m e in e r eu ro p ä isch en S o z ia lg e s c h ic h te “. D e r V o rtrag B ru n n ers ersetzte
ein e für B re m e n e ig e n tlich g ep lan te eig en e S e k tio n ü b er „ S o z ia lg e s c h ic h te “, die n ich t
realisiert w urde, w eil R itte r ganz o ffe n s ic h tlic h m e h r an d em V o rtrag g eleg en war. R it ­
ter sch lu g in e in e m R u n d sch re ib e n an die M itg lied er des V o rstan d s des V erb an d s d er
H is to rik e r D e u tsch la n d s im N o v e m b e r 1 9 5 2 vor, die e ig e n tlich g ep lan te 5. S e k tio n für
S o z ia lg e s ch ich te (V o rsitz C o n z e , R e fe r e n t S te in b a ch ) abzu sag en und dafür ein en e ig e ­
n e n V o rtra g O tto B ru n n ers an zu setzen . „B ei d er B ed eu tu n g B ru n n e rs“ sei das g e r e c h t­
fertig t, und m an k ö n n e C o n z e , S te in b a ch , E rich K e y se r und v ie lle ich t W a lte r S c h le ­
sin g er ü b er d en V o rtra g d isk u tieren lassen. Ü b e r die A bsag e d er S e k tio n w ar vor allem
H e rm a n n A u b in b eso rg t, o h n e d am it freilich ein e Ä n d eru n g zu e rr e ic h e n : „ D ie S o ­
z ia lg e sch ich te hat in D e u ts ch la n d b ish e r n ie e in e n B o d e n g eh ab t, und ein e so lch e
K u n d g e b u n g , wie sie die B ild u n g e in e r e ig en en S e k tio n ist, sch ie n m ir äu ß erst e r­
w ü n sch t.“ M it C o n z e und S te in b a c h seien au ch F o rsc h e r b e n a n n t w ord en , „die auf
d iesem G e b ie t etw as E ig e n e s zu sagen h a b en “ 121.
M it O tto B ru n n e r und sein em B eitrag zur N eu fo rm u lieru n g ein es P ro g ram m s von
S o z ia lg e s ch ich te o d er „ S tru k tu rg e sc h ich te “, w ie e r sp äter -
sich C o n z e a n s c h lie ­
ß e n d 122 - fo rm u lierte, h a b en sein e b ish erig en In te rp re te n g ro ß e S c h w ierig k eiten g e ­
h ab t. D ie ü b erw ieg en d n egativen C h arak terisieru n g en als „N e o h isto rist“ treffen n ich t
d en K e rn sein es m e th o d o lo g isch e n K o n z e p ts 123. D as P ro b le m b ra u ch t h ier n u r m e h r
k n ap p an g e d eu tet zu w erd en . B ru n n ers A u sg an g sp u n k t war die K ritik d er b ish erig en ,
vorw iegen d ju ristisch b e stim m te n
E rfo rsch u n g s p ä tm itte la lte rlich -frü h n e u z e itlich e r
H e rrsch a ftsv erh ä ltn isse, für ih n ein e K o n se q u e n z d er lib eralen T re n n u n g von Staat
und G esellsch a ft. D ie se m o b so le te n V erfah ren setzte B ru n n e r sein K o n z e p t e in e r
- w ie e r 1 9 4 3 fo rm u lierte - „p o litisch e n V o lk sg e s c h ic h te “ e n tg e g e n : „ N ich t p o litisch e
120 Vgl. Actes du IX e Congres International des Sciences Historiques Paris 1950 (Paris 1951)
164 f.
121 Archiv V H D 2, Rundschreiben Ritter vom 2 0 .1 1 .1 9 5 2 und Aubin an Ritter am 2 6 .1 1.1952.
122 Conzes Beitrag zur Formulierung der modernen deutschen Sozialgeschichte ist jetzt von
Wolfgang Schieder genauer untersucht worden, der dabei auch auf die begriffliche Unterschei­
dung von Sozial- und Strukturgeschichte hinweist. Vgl. Wolfgang Schieder, Sozialgeschichte zwi­
schen Soziologie und Geschichte. Das wissenschaftliche Lebenswerk W erner Conzes, in: GG 13
(1987) 2 4 4 -2 6 6 . Vgl. auch Jürgen Kocka, W erner Conze und die Sozialgeschichte in der Bundes­
republik Deutschland, in: GW U 37 (1986) 5 9 5 -6 0 2 und zuletzt die Würdigung von Reinhard
Koselleck, W erner Conze, Tradition und Innovation, in: H Z 245 (1988) 5 2 9-543.
123 Vgl. zuletzt die kritische Würdigung Brunners durch Otto Gerhard Oexle, Sozialgeschichte Begriffsgeschichte - Wissenschaftsgeschichte. Anmerkungen zum W erk O tto Brunners, in:
VSW G 71 (1984) 3 0 5 -3 4 1 .
Der Neubeginn der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945
35
G e s c h ic h te , n ic h t R e c h ts g e s c h ic h te , W irtsc h a ftsg e s c h ic h te usf., die in ein em a n tip o li­
tisch e n , lib era len S in n e im S a m m e lb e g riff d er K u ltu rg e sc h ic h te äu ß erlich z u sa m m e n ­
g efaßt w urd en , so n d e rn p o litis ch e V o lk sg e s c h ic h te h e iß t das G e b o t d er S tu n d e. V o lk s­
g e sc h ic h te ab e r k a n n n ic h t g e sch rie b e n w erd en o h n e D arstellu n g d er in n eren V o lk s­
ord n u n g , d u rch d ie das V o lk sein e jew eilig e g e s c h ic h tlic h e F o rm u n g erfäh rt.“ 124 S e lb st
w enn es für d en h e u tig en L eser „p ein ig en d “ ist - wie O e x le fo rm u lierte - festz u stel­
len, daß B ru n n ers d ie sb ez ü g lich e Ä u ß eru n g en seit 1 9 3 3 auf dem th e o re tis ch e n B od en
d er „ V o lk sg e m e in s ch a ft“ n a tio n a lso z ia listisch er P rägu n g en tstan d en sind, fü h rt d och
k ein W e g an d ie se r T a tsa ch e vo rb ei. E rst d u rch die v o m N ation alsozialism u s und se i­
n en id eo lo g isch e n V o rläu fern p ro p ag ierte V e rs ch m e lz u n g von Staat und G e se llsch a ft
in F o rm d er „ V o lk sg e m e in sch a ft“ k o n n te B ru n n er zu d er E rk e n n tn is vo rstoß en , daß
d er W id e rsp ru ch zw isch en p o litis ch e r und S o z ia lg e sch ich te ein N a ch fo lg ep ro b lem des
lib eralen S taatsv erstän d n isses war, und n u r d esh alb sah er sich in d er Lage, es m it d em
h isto risch en Sch w u n g von 1 9 3 3 vo m T is c h zu w isch e n . Im ü b rig en b e d ien te sich
B ru n n e r d u rch au s F rey er’sch e r F o rd eru n g en n ach e in e r h isto risch g esättig ten B eg riffs­
sp rach e, d er sch o n 1 9 3 0 in sein em B u ch „ S o zio lo g ie als W irk lic h k e itsw isse n sch a ft“
so lch e F o rd e ru n g en - freilich für ein e h isto risch e So z io lo g ie - au fg estellt h atte.
D a b ei darf je d o ch n ic h t ü b erseh en w erd en , daß B ru n n er in d iesen Ja h r e n n eb en
F rey er a u ch W ilh e lm D ilth e y und T h e o d o r L itt, gew iß au ch O tto H in tz e rezip iert
h a tte 125. V o n d ah er w ar ih m d er D o p p e lch a ra k te r des G eg en sta n d es G e sc h ic h te , sein e
h isto risch e und sy ste m a tisch e A n aly sefäh ig k eit, fest v ertrau t und zu d em la n d esh isto ­
risch im m e r p räsent. D a m it b e rü h ren w ir g anz a llg em ein n o ch ein m al die B ed eu tu n g ,
die die L a n d e sg e sch ich te für die E n tw ick lu n g ein es u m fassen d en , ja „to ta le n “ Bild es
von G e s c h ic h te g e h a b t hat.
D ie T a tsa ch e , daß d er B eg in n so z ia lg e s ch ich tlich e r F o rsch u n g en in d er B u n d esre­
p u b lik D e u tsch la n d en g m it d en N am en vo n H an s F rey er, O tto B ru n n e r und W e rn e r
C o n z e v erb u n d en ist, le n k t d en B lic k auf die relativ en g e V erb in d u n g von S o zio lo g ie
und G e sc h ich tsw isse n sch a ft w ährend des D ritte n R e ic h e s 126, wie sie sich in d en N a­
m en von H an s F re y er und G u n te r Ip sen sp ieg elt, d essen S c h ü le r W e rn e r C o n z e war.
W e rn e r C o n z e g e h ö rte zu e in e r G ru p p e d eu tsch er S o z io lo g en , die u n ter d er L eitu n g
Ip sen s am In te rn a tio n a le n S o z io lo g e n k o n g re ß te iln e h m e n so llten , d er für 1 9 3 9 g e ­
p lan t war, dann a b e r n ich t m e h r sta ttfa n d 127. In so fern wird m an d en A u ftritt Freyers
124 So Brunner in der 3. Aufl. von Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfas­
sungsgeschichte Südostdeutschlands im Mittelalter (Brünn, München, Wien 1943) 188.
125 Dies wird deutlich aus seinem Beitrag über Sozialgeschichtliche Forschungsaufgaben, erörtert
am Beispiel Niederösterreichs, in: Anzeiger der Phil.-Hist. Klasse der österr. Akademie der W is­
senschaften 1948, Nr. 23, S. 3 3 5 -3 6 2 , bes. S. 347 und 351.
126 Dazu jetzt die Untersuchung von Otthein Rammstedt, Deutsche Soziologie 1933-45 (Frank­
furt/M. 1986) 59, Anm. 13, wo Rammstedt vor allem auf die Soziologisierung der Geschichtswis­
senschaft hinweist, die in den Projekten des „Ahnenerbes“ und des Reichsinstituts für G e­
schichte des nationalsozialistischen Deutschlands aufscheint.
127 Die Beiträge wurden trotzdem gedruckt in D imitrie Gusti (Hrsg.), Arbeiten des XIV . Int. So ­
ziologenkongresses (Bukarest 1940/41). Der Beitrag Conzes über die „ländliche Überbevölkerung
in Polen“ erschien in Band B/I. Diese Angaben nach Rammstedt, Deutsche Soziologie, 22.
Winfried Schulze
36
auf d en H isto rik ertag e n vo n 1 9 5 1 und 1 9 5 6 , das b eso n d ere E in tre te n W e rn e r C o n z es
für die S o z ia lg e s ch ich te bzw . für das K o n z e p t d er S tru k tu rg e sc h ich te , die b ed eu ten d e
R o lle O tto B ru n n ers bei d er F o rm u lieru n g e in e r sp e zifisch en U n tersu ch u n g sstra teg ie
d er vo rin d u striellen G e se llsc h a ft und b e g r iffsg e sch ich tlic h e r F o rsch u n g e n kau m als
e in e N eu sch ö p fu n g d er N a ch k rieg szeit, als ein e „neue d eu tsch e S o z ia lg e s c h ic h te “ b e ­
z e ic h n e n k ö n n e n . In d en bislan g vo rg elegten Ü b e rb lick e n ü b er die G e n e s e so zialg e­
s c h ic h tlic h e r F o rsch u n g e n sind zw ar im m e r w ied er die N am en von B ru n n e r und
C o n z e g e n a n n t w ord en , d ie sich u m die th e o re tis c h e K lä ru n g und F u n d ieru n g d er S o ­
zia lg esch ich te erfo lg reich b e m ü h te n , d o ch ist d abei die b e m e rk e n sw e rte K o n tin u itä t
zw isch e n den m e th o d o lo g isc h e n K o n z e p tio n e n und th e m a tis c h e n S c h w e rp u n k te n e i­
n e r S o z io lo g ie d er „ V o lk sg e m e in s ch a ft“ und d er S o z ia lg e s ch ich te d er N a ch k rieg sz eit
zu w enig b e a c h te t w o rd e n 128. G erad e im Z u sa m m e n h a n g zw isch en d er in ten siv en s o ­
z io lo g isch en „L an d v olk “-F o rs c h u n g w ährend d es „ D ritte n R e ic h e s “ und d er in te n s i­
vierten a g ra rg e sch ich tlich e n F o rsch u n g seit 1947 / 4 8 läßt sich d iese K o n tin u itä t b e le ­
g e n 129.
VIII
W ir k ö n n e n d am it zu m S c h lu ß k o m m e n und d en V e rsu ch e in e r B ew ertu n g d ieser
e rsten N a ch k rieg sjah re u n te rn e h m e n . Ih re B ed eu tu n g lie g t auf d en e rsten B lic k n u r in
je n e r m o ra lisch e n E rh e b u n g , die uns d ie Z e itsc h rifte n und B ro sch ü re n ü b er die „U m und A b - und Irrw ege“ - w ie 1 9 5 0 ein m al sp ö ttisch fo rm u liert w urde - h e u te n o c h so
b e e in d ru ck e n d w id ersp ieg eln . Sie b e g a n n en je d o ch sch o n bald „zu v erb la ssen “, und
u m so w ich tig er war, daß m in d e s te n s seit d er K o n stitu ie ru n g d er b u n d e sre p u b lik a n i­
sc h e n H isto rik e rsch a ft ein e n e u e S e h w eise von G e se llsch a ft sich in d er G e sc h ic h tsw is­
se n sch a ft a n b a h n te und d ie d am it v erb u n d en en m e th o d o lo g isc h e n K o n s e q u e n z e n b e ­
w ußt w urd en. D a b ei k o n n te ein e b e a c h tlic h lang e, a b e r v ersch ü tte te T ra d itio n ak tiv iert
w erd en. E s hat den A n s c h e in , daß die E rfah ru n g des N atio n also zialism u s n ic h t n u r die
w irk lich e „soziale R e v o lu tio n “ für d ie d eu tsch e G e se llsch a ft b e d e u te te , von d er R alf
D a h re n d o rf, D avid S c h o e n b a u m und an d ere g e sp ro ch e n h a b e n 130, so n d ern daß diese
128 Die verschiedenen Beiträge in Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Moderne deutsche Sozialge­
schichte (Köln, Berlin 21968), die sich mit der Genese dieser Sozialgeschichte befassen (die E in­
leitung Wehlers und die Beiträge von Conze und Hans Mommsen), schenken dieser Kontinuität
keine Beachtung, die in diesem Band jedoch durch die Aufnahme des Beitrags von Hans Linde
dokumentiert wird, eines Schülers von Hans Freyer, der zuletzt interessante Beobachtungen über
die Arbeit des Leipziger Instituts unter Freyers Leitung in den frühen dreißiger Jahren vorgelegt
hat. Vgl. H ans Linde, Soziologie in Leipzig 192 5 -1 9 4 5 , in: Rainer Al. Lepsius( Hrsg.), Soziologie
in Deutschland und Österreich 191 8 -1 9 4 5 (Kölner Zeitschr. f. Soziologie und Sozialpsychologie,
Sonderheft 23/1981) 1 0 2-130.
129 Vgl. etwa Gunter Ipsen, Das Landvolk. Ein soziologischer Versuch (Hamburg 1933) und ders.,
Programm einer Soziologie des deutschen Volkstums (Berlin 1933).
130 D avid Schoenbaum, Die braune Revolution. Eine Sozialgeschichte des Dritten Reiches. Mit
einem Nachwort von Hans Mommsen (München 1980, zuerst 1966); R a lf Dahrendorf, Gesell­
schaft und Demokratie in Deutschland (München 31974) 431 ff.
Der Neubeginn der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945
37
E rfah ru ng auch den D u rc h b ru c h e in e r n eu en A u ffassu n g von G e se llsch a ft bew irk te,
die sich fu n d am en tal von d er A u ffassu n g R itte rs und M ein e ck e s u n tersch ied , für die
G e se llsch a ft g le ic h b e d e u te n d m it „V erm assu n g “ war. Im w eitesten S in n e „ v ö lk isch e“
F rag estellu n g en d er „ d eu tsch en S o z io lo g ie “ h a tten e in e r n eu en Seh w eise vo n G e se ll­
sch aft den W e g au ch in das F rag en sy stem d er G e sch ich tsw isse n sch a ft b e reitet. M it
d iesem V e rg le ich , d er ab er au ch d u rch e n ts p re ch e n d e E in sic h te n ü b er die E n tw ick ­
lung d er „ d eu tsch en S o z io lo g ie “ g e stü tz t w ird 131, k o m m e n w ir w ied er auf d ie eing an gs
g este llte Frage nach d en k o m p le x e n
B ed in g u n g en für die E n tw ick lu n g von G e ­
sch ich tsw isse n sch a ft zu rü ck , für die die d eu tsch e N a ch k rieg sen tw ick lu n g ein vo rzü g li­
ch es B eisp iel d arstellt. D ie G e sch ich tsw isse n sch a ft auf d em G e b ie t d er sp äteren B u n ­
d esrep u blik D e u tsch la n d e rle b te k ein esfalls e in e n rad ikalen U m b ru ch ih rer m e th o d i­
sch en G ru n d o rie n tie ru n g e n und L e itth e m e n , ab er sie u n terlag d en W irk u n g e n ein e r
g ese llsch a ftlich en U m stru k tu rieru n g d u rch d ie H e rrsch a ft des N ation alsozialism u s
und sein en Z u sa m m e n b ru ch , die le tz tlich tiefer re ich te n , als es ein e vo rdergrün dige
„ R ev isio n “ nach 1 9 4 5 h ä tte e rre ic h e n k ö n n e n .
131 Vgl. zuletzt Carsten Klingemann, Heimatsoziologie oder Ordnungsinstrument? Fachge­
schichtliche Aspekte der Soziologie in Deutschland zwischen 1933 und 1945, in: R ainer M. Lepsiits (Hrsg.) (wie Anm. 128) 2 7 3 -3 0 7 .
Werner Berthold
Zur G eschichte der Geschichtswissenschaft der D D R .
Vorgeschichte, Konfrontationen und Kooperationen
D ie G e s c h ic h te d er G e sc h ich tsw isse n sch a ft h at sich in d er D D R seit A n fa n g d er
6 0 e r J a h r e als ein e g e sch ich tsw isse n sch a ftlich e Sp eziald iszip lin in F o rsch u n g und
L eh re sow ie au ch in s titu tio n e il h erau sgebild et. M itte/ E n d e d er 7 0 e r Ja h re g ew an n en
das P ro je k t und die K o n z e p tio n e in e r G esa m td a rstellu n g d er G e s c h ic h te d er G e ­
sch ich tsw isse n sch a ft im w eitesten S in n e u n ter d en A sp e k te n ein e r G e s c h ic h te d er G e ­
se llsch a ftsw issen sch a ften z u n eh m en d an G e sta lt und G e w ic h t1. A ls ein vorrangiges
F o rsch u n g s o b je k t n a h m und n im m t in d iesem R a h m e n die E n tw ick lu n g d er G e ­
sch ich tsw isse n sch a ft d er D D R in ih re r n atio n alen und in tern a tio n a len E in b e ttu n g
und A u sstra h lu n g e in e w ich tig e S te llu n g ein. F ü r die B e stim m u n g ih rer v ersch ied en en
E n tw ick lu n g seta p p e n w urd en u n te r R e z e p tio n , M o d ifik atio n , E rw eiteru n g und S y ste ­
m atisieru n g e in es w isse n sch a ftsth e o re tisch e n und -g e sc h ic h tlic h e n In stru m en tariu m s
von B eg riffen d ie K a te g o rie n V o rg e sc h ic h te im w eiteren und en g eren S in n e, in in te r­
n ation aler und n a tio n a ler D im e n s io n , d er u n m itte lb a re n V o rg e sch ic h te , sow ie d er
G ru n d leg u n g (1 9 4 5 bis E n d e d er 4 0 e r Ja h re ), d er K o n stitu ie ru n g (E n d e d er 40er/ A n ­
fang d er 5 0 e r bis E n d e d er 50er/ A n fan g d er 6 0 e r Ja h re ), d er K o n so lid ie ru n g (A nfang
der 6 0 e r bis A n fa n g d er 7 0 e r Ja h r e ) und d er allseitig en und vollen E n tfa ltu n g (seit A n ­
fang d er 7 0 e r Ja h r e ) g e fu n d en und an g ew an d t2.
1 Walter Schmidt, Forschungen zur Geschichte der marxistisch-leninistischen Geschichtswissen­
schaft der D D R , in: BZ G 21 (1979) 3 4 2 -3 5 7 ; H ans Schleier, DDR-Forschungen über die G e­
schichte der bürgerlichen Geschichtswissenschaft, in: ebda., 3 5 8 -3 7 1 ; Lutz-Dieter Behrendt, Zur
Erforschung der Geschichte der sowjetischen Geschichtswissenschaft durch Historiker der D D R,
in: ebda., 5 5 7 -5 6 7 ; Werner Berthold, Zum Problem einer Gesamtdarstellung der Geschichte der
Geschichtswissenschaft - Diskussionsgrundlage, in: Wissenschaftliche Mitteilungen (HistorikerGesellschaft der D D R ) 1984/1, 18 -6 6 ; Jürgen Kuczynski, Studien zu einer Geschichte der Gesell­
schaftswissenschaften, Bd. 1 -1 0 (Berlin 1975-1 9 7 8 ); Wiss. Z. Karl-Marx-Universität Leipzig,
Ges.- u. Sprachwiss. R. 29 (1980) 4; 31 (1982) 6; 33 (1984) 4. (Diese 3 Hefte sind unter den fol­
genden Titeln Problemen einer Geschichte der Gesellschaftswissenschaften in Verbindung mit
der Geschichte anderer Disziplinen gewidmet: „Geschichte der Gesellschaftswissenschaften Voraussetzungen und W ege.“ (29) - „Zur Geschichte der Philosophie und gesellschaftswissen­
schaftlichen Disziplinen.“ (31) - „575 Jahre Universität Leipzig. Zur Geschichte gesellschaftswis­
senschaftlicher Disziplinen und Institutionen. Zur Geschichte der Geschichtswissenschaft.“ (33)).
2 Werner Berthold, Zur Entwicklung der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft zu ei­
ner voll entfalteten wissenschaftlichen Spezialdisziplin, in: BZG 26 (1984) 1 3 -2 4 ; Walter
Schmidt, Zur G eschichte der DDR-Geschichtswissenschaft vom Ende des Zweiten Weltkrieges
bis zur Gegenwart. Voraussetzungen, Leitlinien, Etappen, Schwerpunkte der institutionellen und
der Forschungsentwicklung, historiographiegeschichtlicher Forschungsstand, in: BZG 27 (1985)
6 1 4 -6 3 3 .
40
W erner Berthold
A u s d iesem u m fassen d en K o n te x t soll h ie r n u r auf zw ei P u n k te ein g eg an g en w er­
d en. S ie b e z ie h e n sich 1. auf Frag en d er u n m ittelb a ren V o rg e s c h ic h te und 2. auf das
V e rh ä ltn is zur tra d itio n ellen g e sch ich tsw isse n sch a ftlich e n F a ch d iszip lin b ü rg erlich er,
p rim ä r a n tim a rx istisch e r P rägung vor allem in den E tap p e n d er G ru n d leg u n g und
K o n stitu ie ru n g bzw . d es „N eu au fbau s“ - und zwar u n ter d en G e sic h ts p u n k te n d er
K o n fro n ta tio n ein e rse its und d er K o o p e ra tio n and ererseits..
I
Ä h n lic h w ie die G esch ich tsw isse n sch a ft in d er A u fstieg s- und E m an z ip a tio n sp h a se
d er b ü rg e rlich en G e se llsc h a ft - vo r allem in d er R en a issa n ce und in d er A u fk läru n g w urde au ch die m a rx istisch e G esch ich tsw isse n sch a ft, d ie m it d er rev o lu tio n ären A r ­
b e iterb e w eg u n g en g v erb u n d en ist, n ic h t v o rn e h m lich von p ro fessio n ellen und h o c h ­
sp e z ia lisierten F a ch h isto rik e rn b e g rü n d et und en tw ick elt, so n d ern von n ic h tp ro fe ss io ­
n e lle n H isto rik ern , d ie z u g leich als p o litisch e A k teu re und T h e o re tik e r auf an d eren
W isse n sg e b ie te n und au ch als S c h rifts te lle r tätig w aren. Ih re Basis w urd en die rev o lu ­
tio n ä re n A rb e ite rp a rte ie n . D ie se b e n ö tig te n h isto risch es W isse n und ein e n e u e S ic h t
auf d ie G e s c h ic h te für die g eistig e B efreiu n g d er A rb eiterk la sse und als G ru n d lag e für
d ie A u sa rb eitu n g , W e ite re n tw ic k lu n g und au ch K o rre k tu r ih re r P o litik . D ie G e ­
s c h ic h te und ihre L eh re n w aren d afü r A u sg an g sp u n k t und w urd en zu e in e r A rt P ra­
x isk rite riu m . A n d e re rse its g in g en - w ie se it d en A n fä n g e n h is to risch e n D e n k e n s von d e r P o litik e n ts ch e id e n d e Im p u lse für das G e s c h ic h tsd e n k e n aus. D as ist e in e r d er
w e se n tlich e n G rü n d e, w esh alb zw isch en m a rx istisch e r A rb e ite rp a rte i und m a rx isti­
s c h e r G e sch ich tsw isse n sch a ft en ge B ez ie h u n g e n b e ste h e n . D ie se sin d je d o ch k e in e s­
w egs statisch . Sie v erän d ern sich v ie lm e h r m it d er E n tw ick lu n g d er A rb eiterp a rtei und
-b ew eg u n g und d er m it ih n en v erb u n d en en v o rp ro fessio n ellen und p ro fessio n ellen
G esch ich tsw isse n sch a ft im R a h m e n d er g e se llsch a ftlich e n G esa m ten tw ick lu n g .
D ie n a tio n a le und z u g leich in te rn a tio n a le V o rg e sc h ic h te d er G e sc h ic h tsw isse n ­
sch a ft d er D D R im en g e re n S in n e b e g in n t m it M arx und E n g els. Sie setzt sich vor a l­
lem m it F ran z M eh rin g fort, d er zu g leich die h is to risch -p o litisch e K o n tin u itä t vo n d er
a lten d e u tsch e n S o z ia ld em o k ra tie ü b er die d e u tsch e n L in k e n bis zur K o m m u n is ti­
sch e n P artei D e u tsch la n d s v erk ö rp ert und d essen V e rm ä c h tn is in d er G e sch ich tsw is­
se n sch a ft d e r D D R seit A n b e g in n w irksam is t3.
M it d e r G rü n d u n g K o m m u n is tis c h e r P arteien und ih rer V e re in ig u n g in d er K o m ­
m u n istisch e n In te rn a tio n a le , in d eren R a h m e n das S tu d iu m d er G e s c h ic h te g ro ß e B e ­
d eu tu n g g ew ann , sow ie m it d er H e rau sb ild u n g d er so w jetisch en G e sc h ic h tsw isse n ­
sch a ft e n tsta n d ein e B asis für ein e relativ e in h e itlic h e in te rn a tio n a le E n tw ick lu n g d er
3 Ernst Engelberg, Politik und Geschichtsschreibung. Die historische Stellung und Aufgabe der
Geschichtswissenschaft in der D D R , in: ZfG VI (1958) 4 7 6 -4 7 8 ; Thomas Iiöhle, Franz Mehring.
Sein W eg zum Marxismus (Berlin 1956); Jo s e f Schleifstein, Franz Mehring. Sein marxistisches
Schaffen (Berlin 1959); H ansjürgen Friederici, Franz Mehring als Historiker (Lehrmaterialien zur
„Geschichte der Geschichtswissenschaft“) (Potsdam 1982).
Zur Geschichte der Geschichtswissenschaft der D D R
41
m a rx istisch e n G e sch ich tsw isse n sch a ft - u n g e a ch te t ih re r u n te rsch ie d lich e n n atio n alen
R e ifesta d ie n und A u sp räg u n g en .
D ie u n m itte lb a re V o rg e s c h ic h te d er G e sc h ich tsw isse n sch a ft d er D D R w eist so m it
e in e n a tio n a le und zu g leich ein e in te rn a tio n a le K o m p o n e n te auf, d ie en g m itein a n d er
v erflo ch te n sind. Ih r e n ts c h e id e n d e r E in s c h n itt fin d et sich M itte d er d reiß ig er Ja h re .
H ie r setz te n ich t n u r für die so w je tisch e G e sch ich tsw isse n sch a ft, m it d er sich die m a r­
x istisch e G e sch ich tsw isse n sch a ft ein es L and es im E rg e b n is d er so zialistisch en K u ltu r­
rev o lu tio n erstm a lig als ein e w isse n sch a ftlic h e Sp eziald iszip lin h e rau sg e b ild et h atte,
so n d ern für die E n tw ick lu n g des in te rn a tio n a le n m a rx istisch en G e sc h ic h tsd e n k e n s
und -b ild es ein e n e u e P erio d e e in 4. G e se llsc h a ftlic h e und p o litisch e G ru n d lag e dafür
w aren e in e rseits d er S ie g d es S o zialism u s in d er U d S S R und an d ererseits d ie P o litik
d er a n tifa sch istisch en V o lk sfro n t, d ie d er V II. W e ltk o n g re ß d er K o m m u n is tis c h e n I n ­
te rn a tio n a le 1 9 3 5 u n te r B e rü ck s ic h tig u n g d er n e u en p o litisch en S itu a tio n fo rm u lierte
und v erk ü n d ete . U n te r se lb stk ritisch e r A u sw ertu n g b ish erig er S trateg ie und T a k tik
und g e s c h ic h tlic h e r E rfa h ru n g e n 5 sow ie bei B erü ck sic h tig u n g des E n tw ick lu n g ssta n ­
des, den d ie m a rx istisch e G esch ich tsw isse n sch a ft und das m a rx istisch e G e s c h ic h ts ­
d en k en und -bild e rr e ic h t h a tten , o rie n tie rte n sich die K o m m u n istisc h e n P arteien im
id eo lo g isch e n K a m p fe g eg en den F a sch ism u s, sein en e x tre m e n C h au v in ism u s und
R assism u s und für e in e a n tifa sch istisch e V o lk sfro n t auf ein e v erstärk te und in ten siv e
B e sch ä ftig u n g m it d er G e s c h ic h te d er e ig en en N atio n , die frei von je d e m n atio n alen
N ih ilism u s w ar6.
Ä h n lic h wie in d er so w je tisch e n G e sc h ich tsw isse n sch a ft w urde m it d er Ü b e rw in ­
dung von E in se itig k e ite n und M än g eln auf die N o tw en d ig k eit verw iesen , in d er n a tio ­
nalen G e s c h ic h te alles P o sitiv e und b e so n d ers die H ö h e p u n k te an tifeu d aler und n a tio ­
n aler R e v o lu tio n e n u n d B efreiu n g sk ä m p fe zu e rfo rsch en und h e rv o rzu h eb en . In d ie ­
sen w urde ein e A rt h isto risch e s M o d ell fü r die a n g estreb te an tifa sch istisch e V o lk s­
fro n t, für n a tio n a le F ro n te n , fü r d ie E in h e it d es g an zen V o lk e s im a n tifa sch istisch en
und a n tiim p e ria listisch e n K a m p fe g ese h e n . G an z in d iesem S in n e äu ß erte sich auch
A n to n io G ra m sci in se in en K e rk e rb rie fe n 7. T h e o re tis c h e G ru n d lag e dafür w ar ein tie ­
feres V e rstä n d n is d e r D ia le k tik des In te rn a tio n a le n und des N atio n alen , d er W e lt- und
d er N a tio n a lg e sch ich te . D a b ei sp ielten die A u sw ertu n g d er A rb e it L en in s „ Ü b er den
.N ationalstolz d er G ro ß ru sse n “8 und au ch die E rfah ru n g en G eo rg i D im itro ffs im L eip -
4 Ocerki istorii istoriceskoj nauki v. CCCP, V, pod redakciej Ai. V. H eckinoj (Moskva 1985); LutzDieter Behrendt, Werner Berthold, Zur Geschichte der sowjetischen Geschichtswissenschaft (1917
bis zur Gegenwart) (Lehrmaterialien zur „Geschichte der Geschichtswissenschaft“) (Potsdam
1978); Werner Berthold, Marxistisch-leninistische Geschichtswissenschaft im Kampf gegen den
Faschismus und für die antifaschistische Volksfront, in: B Z G 27 (1985) 4 7 3 -4 8 6 .
5 VII. Kongreß der Kom munistischen Internationale. Referate und Resolutionen (Berlin 1975).
6 Ebda., bes. 149 ff., 314 f.; Werner Berthold, Zur Bedeutung des Volksfrontgedankens für die Ent­
wicklung der nationalen Geschichtskonzeption und des nationalen Geschichtsbildes auf marxi­
stischer Grundlage. Der VII. W eltkongreß der Kommunistischen Internationale zur nationalen
Geschichte: Forschungsprobleme und Lösungswege, in: Studien zur marxistisch-leninistischen
Revolutionstheorie, hrsg. von Günther Großer (Leipzig 1967) 3 81-397.
7 Antonio Gramsci, Quaderni del carcere. Edizione critica deli’Istituto Gramsci. A cura di Valentino Gerratana, v. III (Torino 1975) 2004.
8 W. I. Lenin, W erke, Bd. 21 (Berlin 1960) 9 1 -9 5 .
42
W erner Berthold
zig er R e ich sta g sb ra n d p ro z eß , in d em er m it d er K o m m u n is tis c h e n In te rn a tio n a le z u ­
g le ic h sein bu lgarisch es V o lk und d essen G e s c h ic h te e in d ru ck sv o ll v erteid ig te, ein e
g ro ß e R o lle . W e n n b ei e in e r B eh an d lu n g d es T h e m a s „ M arx istisch es und n atio n ales
G e sc h ic h tsb ild
d iese E n tw ick lu n g u n b e a c h te t b leib t, ist ein D e fiz it an h isto risch e r
D im e n s io n u n a u sb leib lich . A n d ererseits m ü ssen die A u sw irk u n g en des P e rso n e n k u l­
tes um S ta lin g eb ü h re n d e B e a ch tu n g fin d en .
D ie d eu tsch en K o m m u n is te n stan d en a b e r wie alle d e u tsch e n A n tifa s ch iste n bei
d er D a rstellu n g d er G e s c h ic h te ih re r N atio n zu g leich vor d er A u fg ab e, d er Id e n tifiz ie ­
rung von d eu tsch und h itle rfa sch is tisc h zu b e g eg n en , e in erseits d er fa sch istisc h e n G e ­
sch ich tsid e o lo g ie , a n d ererseits e in e m G e sch ich tsb ild e n tg e g e n z u tre te n , das sich w eit­
g e h e n d darauf red u zierte, das fasch istisch e G e sch ich tsb ild led ig lich m it e in em u m g e ­
k e h rte n , n ä m lich n eg ativ en V o rz e ic h e n zu v e rse h e n 9. D ie se T e n d e n z g ab es au ch u n ­
ter d eu tsch e n H itlerg eg n ern sow ie bei e in z eln en M itg lied ern K o m m u n is tis c h e r P ar­
te ie n . In allen Z e n tre n d er a n tifa sch is tisch -d e m o k ra tisch e n E m ig ra tio n w urde d agegen
vo r allem von d eu tsch en K o m m u n is te n an g ek äm p ft. D as H e ra n g e h e n an d iese Frage
d u rch p o litisch und th e o re tis c h fü h ren d e d eu tsch e K o m m u n is te n faßte um 1 9 4 2 d er
k o m m u n istisch e In te lle k tu e lle Edw in H o e rn le in ein e r M o sk au er A rb eitsg ru p p e zu
F rag en d er G e s c h ic h te in d ie W o r te : „A u ch auf h isto risch e m G e b ie t m u ß also u n ser
K a m p f g efü h rt w erd en g eg en zw ei F ro n te n : g eg en alle V e rs u ch e , d en d eu tsch en
V o lk sm a ssen das B ew u ß tsein ih re r eig en en sch ö p fe ris ch e n K rä fte zu n e h m e n , wie
au ch g eg en die ch a u v in istisch -ra ssisch e V e rse u ch u n g .“ D afü r g alt „ein e ex a k te w issen ­
sch a ftlich e . . . A n aly se d es g e s c h ic h tlic h e n S to ffe s“ als u n b ed in g t erfo rd erlich .
Im R a h m e n ein e r u m fassen d en A rb e it zu k o n z e p tio n e lle n F rag en d er d eu tsch en
G e s c h ic h te und d er G e s c h ic h te d er d e u tsch e n A rb eiterb ew eg u n g w urd e au ch die G e ­
s c h ic h te d er d e u tsch en G e sch ich tsw isse n sch a ft analysiert. W ic h tig e V o ra rb e ite n dafür
h a tte n b e re its E n d e d er zw anzig er und in d er ersten H älfte d er d reiß ig er J a h r e K arl
S c h m ü c k le 10 und - in e in e m w eiteren S in n e - H an s G ü n th e r “ g eleiste t.
W a s E n d e d er se c h z ig e r J a h r e au ch K arl F erd in an d W e r n e r und an d ere n ic h tm a rx i­
stisch e H isto rik e r ü b er B e z ie h u n g e n zw isch en d er tra d itio n ellen und p ro fessio n ellen
d e u tsch e n G e sch ich tsw isse n sch a ft und d em „ N S -G e s c h ic h ts b ild “ fe s ts te llte n 12, stand
9 Siehe dazu und zum Folgenden: Wemer Berthold, Marxistisches Geschichtsbild - Volksfront
und antifaschistisch-demokratische Revolution. Zur Vorgeschichte der Geschichtswissenschaft
der D D R und zur Konzeption der Geschichte des deutschen Volkes (Berlin 1970) bes. 95 ff.
(künftig: Berthold, Geschichtsbild).
10 K a rl Schmückle, Zur Kritik des deutschen Historismus, in: Unter dem Banner des Marxismus
3 (1929) 2 8 1 -2 9 7 - siehe dazu: Klaus Kinner, Marxistische deutsche Geschichtswissenschaft
1917 bis 1933. Geschichte und Politik im Kampf der K P D (Berlin 1982) 498 ff. (künftig: Kinner,
Geschichtswissenschaft); H ans Schleier, Karl Schmiickles Auseinandersetzung mit dem bürgerli­
chen deutschen Historismus, in: Jb . für Geschichte 25 (Berlin 1982) 3 0 5 -3 4 0 .
" H ans Günther, Der Herren eigner Geist. Die Ideologie des Nationalsozialismus (M oskau-Le­
ningrad 1935); ders., Der Herren eigner Geist. Ausgewählte Schriften (Berlin und Weimar 1981).
12 K a rl Ferdinand Werner, Das NS-Geschichtsbild und die deutsche Geschichtswissenschaft
(Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1967); ders., Die deutsche Historiographie unter Hitler, in: G e­
schichtswissenschaft in Deutschland, hrsg. von Bernd Faulenbach (München 1974) 8 6 - 9 6 ; Georg
G. Iggers, Die deutschen Historiker in der Emigration, in: ebda., 97 ff.; ders., Deutsche Geschichts-
Z u r G esch ich te der G esch ich tsw issen schaft der D D R
43
damals bereits im Blick, Zugleich wurden aber A rbeiten von H istorikern wie Max
Lehm ann, Hans D elbrück und V eit V alentin ausgewertet, und auch m it Eduard M eyer
wurde gegen die faschistische G eschichtsideologie argum entiert13. Ernst Engelberg
bestim m te 1937 in der Schw eizer Em igration unter analogen A spekten die U n ter­
schiede und Gegensätze, aber auch V erflechtungen zwischen liberaler und antilibera­
ler G esch ichtsschreibun g14.
Dies alles ist seit den sechziger Jah ren als V orgeschichte der G eschichtsw issenschaft
der D D R gründlich erforscht sowie in zwei M onographien, in m ehreren D issertatio­
nen (A und B) und zahlreichen A rtikeln dargestellt w orden15. Einige Ergebnisse haben
unter den nicht- und antim arxistischen D arstellungen über die G eschichtsw issen­
schaft der D D R , die vor allem in der B R D sowie in den U SA , in Belgien und anderen
kapitalistischen Ländern erschienen sind, in dem Buch von Peter M eyers: Friedrich II.
von Preußen im G eschichtsbild der S B Z / D D R (1 9 8 3 )16 eine erkennbare Auswertung
gefunden.
In ständigen Diskussionen unter M arxisten und m it nichtkom m unistischen A ntifa­
schisten entstanden D arstellungen vor allem der deutschen G eschichte und der G e ­
schichte der deutschen A rbeiterbew egung sowie K onzeptionen für die N eugestaltung
des G eschichtsunterrichts und für eine neue deutsche Geschichtsw issenschaft, an de­
nen im N ationalkom itee „Freies D eutschland“ auch nichtm arxistische H istoriker und
Pädagogen einen w esentlichen A nteil hatten. A uf der Grundlage und im R ahm en die­
ser Tätigkeit erfolgte vor allem in der Sow jetunion, wo dafür die günstigste M öglich­
keit bestand, die Rezeption w esentlicher Ergebnisse der sow jetischen G eschichtsw is­
senschaft.
Eines der wirkungsstärksten Bücher der damaligen Z eit war in der m exikanischen
Em igration entstanden und zuerst auch dort (Ciudad de M éxico 1945) erschienen: das
Wissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart
(München 31976). - Eine Kritik an Unzulänglichkeiten der Sicht von K. E Werner, H. Heiberu.a.
übt: Hans Schleier, Die bürgerliche deutsche Geschichtsschreibung der Weimarer Republik ...
(Berlin 1975) bes. 98 ff.
13 Berthold, Geschichtsbild, 125, 58.
14 Ernst Engelberg, Liberale und antiliberale Geschichtsschreibung in Deutschland. Geschichts­
schreibung und Politik (Genf 1937 - Mskr.) - diese Studie ist der Ausgangspunkt für den Beitrag:
Einiges über faschistische Geschichtsideologie und -methodik und die Ohnm acht des Spätlibera­
lismus, in: W issenschaft aus nationaler Verantwortung. Dem Rektor der Karl-Marx-Universität
Leipzig Georg Meyer zum 70. Geburtstag (Leipzig 1963) 111-118.
15 Berthold, Geschichtsbild; Kinner, Geschichtswissenschaft; Werner Berthold/Giinter Katsch/
Klaus Kinner, Zur Geschichte der marxistisch-leninistischen deutschen Geschichtswissenschaft
(1 9 1 7 -1 9 4 5 ) (Lehrmaterialien zur „Geschichte der Geschichtswissenschaft“) (Potsdam 1978); Die
Entwicklung der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft, des marxistisch-leninisti­
schen Geschichtsdenkens und -bildes in der K P D (1917/18-1945/46) im Rahmen des Forschungs- und Lehrgebietes Geschichte der Geschichtswissenschaft - Resultate und Probleme
(Leipzig 1979).
16 Peter Meyers, Friedrich II. von Preußen im Geschichtsbild der SBZ/DDR. Ein Beitrag zur G e­
schichte der Geschichtswissenschaft und des Geschichtsunterrichts in der SBZ/D DR. Mit einer
Methodik zur Analyse von Schulgeschichtsbüchem (Braunschweig 1983).
44
W ern e r Berthold
Buch von A lexander A busch : „D er Irrweg einer N ation“ 17, das entgegen M einungen,
die im m er wieder vertreten werden, kein Produkt der sogenannten M iserekonzeption
war18. In der damaligen Sow jetischen Besatzungszone wurden viele der erwähnten A r­
beiten m it ausgewählten sow jetischen T iteln rasch veröffentlicht, und die w eiterent­
w ickelte K onzeption wurde von den neuen antifaschistisch-dem okratischen M achtor­
ganen im Zusam m enw irken m it zuständigen V ertretern der Sow jetischen M ilitärad­
m inistration schrittweise verwirklicht. W esen tlich e Seiten und Sch ritte waren dabei:
1. Diskussion von Grundfragen der deutschen G eschichte und der aus ihr gezogenen
Lehren in der gesam ten Bevölkerung. U nter dem A spekt des ständigen K am pfes zwi­
schen Fortschritt und R eaktion waren dabei die H auptthem en: D er deutsche Faschis­
mus und der Zweite W eltkrieg; die G esch ichte der deutschen A rbeiterbew egung; die
N ovem berrevolution; die Revolution von 1848 sowie das „reaktionäre Preußentum “.
2 . A useinandersetzung m it der faschistischen G eschichtsideologie und ihren Traditio­
nen. 3. Vorbereitung und Beginn des G eschichtsunterrichts und der geschichtsw issen­
schaftlichen Lehre an den U niversitäten (im H erbst 1946). 4. Bem ühungen um die
M itarbeit der nichtm arxistischen Fachhistoriker, die an den U niversitäten verblieben
waren. 5. Bestrebungen, die Berufung der wenigen m arxistischen H istoriker an die
U niversitäten zu erreichen, die - wie Alfred Meusel und Jürgen Kuczynski - schon
vor 1933 w issenschaftlich tätig waren oder - wie Ernst Engelberg und W alter Markov
- bis 1933 bzw. 1934 noch prom ovieren konnten. Das traf auch auf solche nichtm ar­
xistische A ußenseiter wie H einrich Sproem berg zu, der erst nach 1945 eine Professur
erhielt. 6 . H erausbildung eines fachw issenschaftlichen Nachwuchses auf m arxistischer
Grundlage, wobei die M itwirkung nichtm arxistischer G eschichtsprofessoren unerläß­
lich war. 7. M it den W erken von Marx, Engels, Lenin und damals auch Stalin, den h i­
storischen A rbeiten von M ehring, Kautsky, Bebel und anderen deutschen M arxisten
sowie sow jetischen, aus dem Russischen übersetzten G eschichtsw erken übten auch
A rbeiten von G eorg Lukacs über die deutsche Literatur- und Id eologiegeschich te 19 ei­
nen bedeutenden Einfluß aus. In Analogie zur Linie, die literaturgeschichtlich von
Lessing zu H eine führt, wurde das V erm ächtnis von H erder, Schlosser und Z im m er­
m ann besonders hervorgehoben. In Leipzig hinterließen zudem die öffentlichen V or­
träge, die der sow jetische Philosoph G. I. Patent in der stets überfüllten K ongreßhalle
1948 über die m arxistische W eltanschauung und G eschichtsauffassung in einem voll­
endeten D eutsch hielt, und die D iskussionen, die er im A nschluß daran m it nichtund antim arxistischen Professoren darüber führte, wobei er über um fassende philoso­
phiehistorische K enntn isse verfügen konnte, einen großen und nachhaltigen E in ­
druck. Analoges ist für die Jah re 1948 und 1949 auch in den anderen Universitätsstäd­
ten der späteren D D R zu verzeichn en20. Für einen nicht geringen Teil jen er Genera17 Alexander Abusch, Der Irrweg einer Nation. Ein Beitrag zum Verständnis deutscher G e­
schichte (Berlin 1946).
18 Berthold, Geschichtsbild, 193 ff.
19 Vor allem sind hier zu nennen: Deutsche Literatur im Zeitalter des Imperialismus (Berlin
1945); Fortschritt und Reaktion in der deutschen Literatur (Berlin 1947); Die Zerstörung der
Vernunft (Berlin 1954); Der historische Roman (Berlin 1955).
20 Vera Wrotia u.a., Zur G eschichte der marxistisch-leninistischen Philosophie in der D D R . Von
1945 bis Anfang der sechziger Jahre (Berlin 1979) 114 f.
Z u r G esch ich te der G esch ich tsw issen schaft der D D R
45
tion, die 1945 um die 20 war und für die die Ereignisse, die m it diesem Ja h r in V erbin­
dung stehen, das w esentliche G runderlebnis darstellen, übte diese für die große M ehr­
heit völlig neue S ich t auf die G esch ichte jene starke W irkung aus, die Paul Lafargue
bereits im 19- Jahrhundert em pfunden und beschrieben hatte 21 - eine W irkung, die
keineswegs auf die damalige Sow jetische Besatzungszone und - schon zuvor - auf die
Bew egu ng „Freies D eutschland“ unter deutschen K rieg sg efa n g en en in der Sow jet­
union beschränkt war; sie fand sich vielm ehr m it M odifikationen auch in Kriegsgefan-
genen-Lagern der w estlichen A lliierten sowie in den W estzonen.
D iese knappe Aufzählung kann die vielen Schw ierigkeiten und W idersprüche na­
türlich nicht wiedergeben, die m it der G eburt eines neuen Geschichtsbew ußtseins und
einer neuen deutschen G eschichtsw issenschaft verbunden waren. M angelnde Erfah­
rungen und K enntnisse, auch dogm atische und sektiererische V orstellungen sowie die
vielfältigen Problem e und W idersprüche im ,/indersw erden “22 gehörten dazu. W e ­
sentlich waren aber bei den damaligen G eschichtsstudenten und ihren Lehrern sowie
schon an den Vorstudienanstalten und A rbeiter- und Bauern-Fakultäten der E n th u ­
siasmus und der feste W ille zu lernen, um m it einer neuen G eschichtsw issenschaft
dem Aufbau einer neuen G esellschaft zu dienen, aus der nach ihrer festen Ü berzeu­
gung die K atastrophen der W eltkriege und der Faschism us nicht m ehr hervorgehen
konnten. H erm ann K ant hat in seinem Buch „Die Aula “23 davon ein Bild verm ittelt,
das zugleich die W idersprüche und die unverm eidliche K om ik einbezieht, die in E n t­
wicklungen dieser A rt stets auch zu finden sind.
II
Die Reaktion der bzw. aus der traditionellen G eschichtsw issenschaft auf diesen
Neuaufbau soll zunächst unter dem A spekt der K onfrontation knapp um rissen wer­
den. W ie für die G eschichtsw issenschaft der D D R ist auch für die in der B R D die S i­
tuation von und nach 1945 ohne die Entw icklung von 1 9 3 3 -4 5 nicht zu begreifen.
Auch nichtm arxistische H istoriker haben - wie bereits verm erkt - das Verhältnis der
traditionellen G eschichtsw issenschaft zum nazistischen Regim e und seiner Ideologie
charakterisiert. U nter dem Eindruck des Jahres 1945 klagten dann herausragende H i­
storiker wie Friedrich M einecke, Gerhard R itter und Siegfried A. K aehler überein­
stim m end, die deutsche G esch ichte sei für sie dunkel, rätselvoll und unerkennbar ge­
worden24. Es ist auch registriert worden, daß sich diese H altung m it dem Beginn des
Kalten K rieges änderte.
31 Mohr und General. Erinnerungen an Marx und Engels (Berlin 1982) 296.
22 Johannes R. Becher, Vom Anderswerden (Berlin 1949).
23 Hermann Kant, Die Aula (Berlin 1965).
24 Friedrich Aieinecke, Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen (Wiesbaden
1946); Gerhard Ritter, Geschichte als Bildungsmacht. Ein Beitrag zur historisch-politischen Neu­
besinnung (Stuttgart 1946) bes. 7, 17 f.; Siegfried A. Kaehler, Vom dunklen Rätsel deutscher G e­
schichte. Eröffnungsstunde der Vorlesung über „Das Zeitalter des Imperialismus“, gehalten am
18.9.1 9 4 5 , in: Die Sammlung 1 (1945/46) 140-153.
46
W ern er Berthold
W enn man das U rteil von K onrad K w iet wohl ganz in seinem Sin ne auf das G ebiet
der späteren B R D beschränkt, so kann man ihm uneingeschränkt darin zustim m en,
daß „der Zusam m enbruch des N S-H errschaftssystem s weder einen grundlegenden
Personalwechsel noch eine wirkliche N euorientierung der deutschen G eschichtsw is­
senschaft bewirkt hat“25. Hans M om m sen und andere nichtm arxistische H istoriker
gehen noch einen Sch ritt weiter. So stellte jen er fest, daß nach 1945 „die Führung im
Fach G esch ich te“ an eine „Gruppe von überwiegend konservativ eingestellten H o ch ­
schullehrern “ 26 überging. W en n er dabei nach Gerhard R itter und Hans Herzfeld
auch Hans Rothfels und H erbert Grundm ann nennt, so wären diese wohl von R itter
abzusetzen. V ornehm lich im H inblick auf letzteren und seine A m bition en stellte der
G öttinger H istoriker Peter Schum ann aus intim ster Q uellenkenntnis fest: „es ging
nicht um Neu-, sondern um W iederaufbau“27.
D ie Reaktion auf die E ntstehung einer neuen deutschen G eschichtsw issenschaft
war voraussehbar, und P. Schum ann hat sie aktenm äßig belegt. W ar doch schon ge­
genüber A ußenseitern in den eigenen Reihen, wie Karl Lam precht und Eckart K ehr,
eine M ethodik entw ickelt worden, die von subtilerer Einwirkung bis zur Losung von
G eorg von Below reichte: „Man m uß die A xt gebrauchen !“28 Es war also leicht vor­
stellbar, wie man gegenüber einer Entw icklung vorgehen würde, die sich in einem be­
trächtlichen Teil des Bism arckreiches vollzog. Das um so m ehr, da sich die traditio­
nelle deutsche G eschichtsw issenschaft in völliger internationaler Isolierung befand,
wie R ob ert D eutsch feststellt29. H inzugefügt sei nur noch das U rteil des österreichi­
schen H istorikers Fritz Fellner, wonach seit 1945 im Resultat einer historiographischen „translatio im perii“ „die auf das Bism arck-R eich ausgerichtete Interpretation der
R eichsgeschichte von Berlin auf Bonn übertragen worden“ und dam it der „so viele
Jah re lang erhobene /dleinvertretungsanspruch“ auch, ja gerade in historischen B elan­
gen “50 verbunden gewesen sei. Fast m it den gleichen W orten äußert sich hinsichtlich
der „A lleinvertretung“ P. Sch um an n51.
Es konnte nicht ausbleiben, daß angesichts dieser Herausforderungen der M echa­
nismus von „challenge and response“ wirksam wurde, zumal der geschichtsw issen­
schaftliche W iederaufbau einerseits und der um vieles schwierigere Neuaufbau ande25 Konrad Kwiet, Die N S-Zeit in der bundesrepublikanischen Forschung 1945-1961 (Thesen hektographiert).
26 Hans Mommsen, Haupttendenzen nach 1945 und in der Ära des Kalten Krieges, in: B. Faulenbach (Hrsg.), Geschichtswissenschaft in Deutschland. Traditionelle Positionen und gegenwärtige
Aufgaben (München 1974) 113 (im Text irrtümlich: Albert Grundmann).
27 Peter Schumann, Gerhard Ritter und die deutsche Geschichtswissenschaft nach dem Zweiten
Weltkrieg, in: Mentalitäten und Lebensverhältnisse. Beispiele aus der Sozialgeschichte der Neu­
zeit. Rudolf Vierhaus zum 60. Geburtstag, hrsg. von Mitarbeitern und Schülern (Göttingen 1982)
415 (künftig: Schumann, Ritter).
28 Georg von Below, Die neue historische Methode, in: H Z 81, Neue Folge 45 (1898) 195.
29 Robert Deutsch, „La nouvelle histoire“ - Die Geschichte eines Erfolges, in: HZ 233 (1981)
120 ff.
30 Fritz Fellner, Georg E. Schmid, Ende oder Epoche der deutschen Geschichte? Bemerkungen
zum Abschlußband des Gebhardtschen Handbuches in: Zeitgeschichte (Wien - Salzburg) 5
(1978) 161.
31 Schumann, Ritter, 413.
Z u r G esch ich te der G esch ich tsw issen schaft der D D R
47
rerseits in die internationalen und nationalen politischen Entw icklungen eingebunden
waren. Ein K ulm inationspunkt war Trier 1 9 5 8 32. In dessen Ergebnis sind aber bem er­
kenswerte E insichten - so von H . Grundm ann und H. Rothfels im G egensatz zu H.
A ubin und G. R itter - hervorzuheben33. Ä hnliches trifft auf das A uftreten von Erich
Rothacker in Stockholm 1960 zu, das ganz offensichtlich vor allem von G. R itter be­
wirkt worden war. Das brachten in Stockholm sowie zuvor und danach auch n ich t­
m arxistische H istoriker zum Ausdruck. D ie Verschärfung der A useinandersetzungen,
die auf diesem K ongreß vornehm lich zwischen H istorikern aus der B R D und der
D D R zu verzeichnen waren, erklärt sich vor allem aus einem N achwirken der Situa­
tion, die in Trier 1958 von der damaligen Leitung des H istorikerverbandes erzeugt
worden war, aus dem unveränderten A lleinvertretungsanspruch, der sich trotz besserer
T eileinsichten besonders darin äußerte, daß die A ufnahm e des N ationalkom itees der
H istoriker der D D R in das Internationale H istorikerkom itee m it allen K räften von
führenden H istorikern der B R D vereitelt wurde, sowie aus dem geplanten und erfolg­
ten A uftreten des Philosophen E rich Rothacker, das angesichts seines Bekenntnisses
zum „D ritten R eich “, zu H itler u.a. faschistischen Führern und Ideologen in seiner
„G eschichtsphilosophie “34 eine Provokation darstellte. Diese durfte nicht ohne eine
A ntwort bleib en 33. Sie wurde auch von nicht wenigen nichtm arxistischen H istorikern
positiv aufgenom m en. Zu berücksichtigen ist aber gleichfalls, daß die M ehrheit der
m arxistischen H istoriker der D D R noch kaum über die Erfahrungen verfügen konnte,
die in Situationen, wie sie in Trier und S tock holm auftraten, erforderlich waren.
Da seit 1945 zum indest bis S tockholm G. R itter unter den H istorikern in den
W estzonen und in der B R D eine entscheidende bzw. die entscheidende Rolle spielte,
sei angem erkt, daß seine schärfsten K ritik er und K ontrahenten zunächst wohl in der
französischen Regierung und M ilitärregierung sowie unter katholischen Akadem ikern
in Bayern und im „Rheinischen M erkur“, aber keineswegs in der D D R zu registrieren
waren. V ielm ehr wurde bis zu seinem A uftreten auf dem Brem er H istorikertag 1953
und auch danach die sachliche K ritik an seinen Auffassungen m it einer hohen W ürdi­
gung seiner Persönlichkeit verbunden, wobei auch nicht vergessen wurde, daß er nach
dem 20 . Ju li 1944 als politischer Freund Carl G oerdelers von der Gestapo verhaftet
und des H ochverrats verdächtigt worden war. So charakterisierte ihn Leo Stern u.a. als
„großen deutschen bürgerlichen H istoriker“36. A uch m it der Verschärfung der Ausj2 Trier - und wie weiter? Materialien, Betrachtungen und Schlußfolgerungen über die Ereignisse
auf dem Trierer Historikertag am 2 5 .9 .1 9 5 8 , hrsg. von Ernst Engelberg, Werner Bertbold und Rolf
Rudolph (Berlin 1959); Werner Bertbold, Die Geschichtswissenschaft der D D R , der Historikertag
in Trier 1958 und der internationale Historikerkongreß in Stockholm I960, in: Wissenschaftli­
che Mitteilungen (Historiker-Gesellschaft der D D R ) 1983/111, 4 8 -5 8 .
33 H. Grundmann an H. Rothfels, 1 6.3.1959. - H. Rothfels an H. Grundmann, 2 3.3.1959.
3~‘ Erich Rothacker, Geschichtsphilosophie (München und Berlin 1934) bes. 145-150.
35 Werner Bertbold, Über „Die Wirkung der Geschichtsphilosophie ...“ von Erich Rothacker.
Eine Betrachtung aus Anlaß des XI. Internationalen Historikerkongresses in Stockholm 1960, in:
ZfG V III (I9 6 0 ) 128 9 -1 3 09.
36 Leo Stern, Gegenwartsaufgaben der deutschen Geschichtsforschung (Berlin 1952) 47, siehe
auch 46 ff. - ders,, Für eine kämpferische Geschichtswissenschaft (Berlin 1954) 43 f. - zur demge­
genüber vernichtenden Kritik in der B R D siehe u.a.: Schumann, Ritter, 4 0 7 f. sowie Otto Roegele,
Gerhard Ritter und die Geschichtsrevision, in: Rheinischer Merkur, 16.12.1950.
W ern e r Berthold
48
einandersetzung nach Inhalt und Form , die in erster Linie aus der politisch-ideologi­
schen H altung Ritters und der vornehm lich von ihm repräsentierten Richtung in der
„Z unft“ sowie aus einer gründlicheren Analyse der Entw icklung und der jeweiligen
Fu nktionen seines um fangreichen historiographischen Schaffens resultierte 37 - ein
Jah rzeh n t später war sie auch in der B R D vor allem im Zusam m enhang m it der „Fi­
scher-K ontroverse“ m it einer eher noch zugespitzten D iktion und Term inologie zu
verzeichnen - 38, wurde die große Leistungskraft des G eschichtsforschers und -schreibers R itter von m arxistischen H istorikern der D D R nie in Zw eifel gesetzt. H ierin
wurde vielm ehr selbst in der A useinandersetzung m it seiner politischen K onzeption
und seiner Geschichtsauffassung von ihm auch gem äß der Auffassung Lenins gelernt,
nach der bürgerliche G elehrte auf „dem G ebiet spezieller Tatsachenforschung die
wertvollsten A rbeiten ... liefern“. Von der O rientierung, sich diese „Errungenschaften
anzueignen und ... zu verarbeiten“39, war die m arxistische G eschichtsw issenschaft der
D D R seit A nbeginn bestim m t.
Z um zweiten A spekt: der K ooperation. W esen tlich er als diese K onfrontation war
aber die K ooperation bzw. zunächst die H ilfe, die der werdenden neuen G esch ich ts­
wissenschaft in der D D R von V ertretern der akadem ischen Disziplin erwiesen wurde.
Das war m it neuen Einsichts- und A bsichtserklärungen verbunden, die aber hier rasch
in die Tat um gesetzt wurden. O bw ohl letzteres für M einecke nich t zutrifft, sind solche
Erklärungen anfänglich gerade bei ihm zu registrieren. Am 2 5 .1 1 .6 5 hat der einstige
M itarbeiter der Sow jetischen M ilitäradm inistration Sinoveseev im M oskauer R u n d ­
funk über G espräche berichtet, die er 1945 m it M einecke führte. D ieser habe dabei
den deutschen Militarismus als den Untergang der Nation verurteilt und sei bereit ge­
wesen, alles zu akzeptieren, was zur V ernichtung dieser unheilvollen K raft getan
werde. E r habe die Frage gestellt, was die K riege den D eutschen gebracht hätten, und
zwar nicht nur jen er kleinen herrschenden Gruppe, die aus den brandenburgischen,
rheinischen und bayerischen Schlössern, aus den Prachtvillen in D ahlem , C harlotten­
burg und Grunewald über das nationale Schicksal entschieden habe, sondern den M il­
lionen M icheln, H ansen und A rnolden, von denen die Paläste und Straßen, die W erke
und Schlösser gebaut, die Ä ck er gepflügt wurden und die man in die Schützengräben
schickte. Ä hnliche Aussagen finden sich in seiner Schrift „Die deutsche K atastro­
phe “40 und in seiner Rede „Ranke und Burckhardt“41.
37 Werner Berthold,
großhungem und gehorchen“. Zur Entstehung und politischen Funktion
der Geschichtsideologie des westdeutschen Imperialismus, untersucht am Beispiel von Gerhard
Ritter und Friedrich Meinecke (Berlin I960) - was den Inhalt der Kritik anbetrifft, so erfolgte al­
lerdings in einigen Punkten eine Bestätigung und Erweiterung auch durch inzwischen erfolgte
Veröffentlichungen: Schumann, Ritter; Gerhard Ritter - Ein politischer Historiker in seinen
Briefen, hrsg. von Klaus Schwabe und Rolf Reichardt unter Mitwirkung von Reinhard H äuf
(Boppard am Rhein 1984).
38 Siehe u.a.: Imanuel Geiss, Studien über Geschichte und Geschichtswissenschaft (Frankfurt
a.M . 1972) bes. 11, 95, 101, 119, 149 f., 163 ff.
35 W. I. Lenin, W erke, Bd. 14 (Berlin 1962) 347; s.u.a. Ernst Engelberg, Über das Problem des
deutschen Militarismus, in: ZfG 4 (1956) 1 1 1 3 ff.
40 Friedrich Meinecke, Die deutsche Katastrophe, a.a.O .
41 Ders., Ranke und Burckhardt (Berlin 1948).
Z u r G esch ich te der G esch ich tsw issen schaft der D D R
49
Es gab also unter dem Eindruck des Jah res 1945 kritische und indirekte, aber auch
direkte selbstkritische Auffassungen42, die jed och m it dem K alten K rieg und der R e ­
stauration zurücktraten. A uch Schw ierigkeiten und W idersprüche beim Aufbau der
neuen G esellschaft und ihrer G eschichtsw issenschaft wirkten sich aus.
A ber die E in sich ten und A bsichten des Jah res 1945 waren bei einer ganzen Reihe
von Fachhistorikem aus traditionellen R ichtungen so stark, daß sie für längere Z eit
oder für im m er in der D D R verblieben und einen unersetzlichen Beitrag für die H er­
ausbildung und Entw icklung ihrer G eschichtsw issenschaft leisteten sowie deren G e ­
schichtsbild m it prägten. U nter dem T itel „W egbereiter der D D R -G eschich tsw issenschaft“ befindet sich ein Band m it Biographien verstorbener H istoriker der D D R im
D ruck, in dem unter anderen K arl Griewank, Fritz Hartung, O tto H oetzsch, O tto
K orfes, H ellm ut Kretzschm ar, M artin Lintzel, Fritz Rörig, Friedrich Schneider, H ein­
rich Sproem berg und Eduard W in ter gewürdigt werden.
In den
Entw icklungsw egen so unterschiedlicher G elehrter wie O.
H oetzsch
( 1876 - 1946 ), H. Sproem berg (1 8 8 9 -1 9 6 6 ) und E. W in ter (1 8 9 6 -1 9 8 2 ), die bereits in
A rtikeln, in Festschriften, in kom m entierten W erkausgaben und - im Falle von O.
Hoetzsch - in einer M onographie eine W ürdigung durch m arxistische H istoriker er­
fahren haben43, werden verschiedene M om ente besonders sichtbar, die ihre enge K o ­
operation m it der werdenden m arxistischen G eschichtsw issenschaft in der D D R be­
günstigten und beförderten.
Bei dem
einst deutsch-nationalen
H istoriker O tto
H oetzsch war es das jahrzehntelange Studium der G eschichte Rußlands und der S o ­
wjetunion, der deutsch-russischen und -sow jetischen Beziehungen, die Zusam m enar­
beit m it dem führenden sow jetischen H istoriker M. N. Pokrovskij und seine gründli­
che K enntn is der sow jetischen G eschichtsw issenschaft. W as m ehr oder weniger für
nahezu alle H istoriker der alten Schulen zutraf, die zur Kooperation m it der werden­
den m arxistischen G eschichtsw issenschaft bereit waren, tritt infolgedessen bei O tto
H oetzsch besonders hervor: der starke Eindruck, den der Sieg der Sow jetunion im
Bündnis der A ntihitlerkoalition über den faschistischen Staatenblock ausübte.
Bei Sproem berg war es der frühe politische Z usam m enstoß m it seinem akadem i­
schen Lehrer D ietrich Schäfer sowie die geschichtsw issenschaftliche O rientierung auf
12 Der Grund für die Selbstkritik Meineckes wurde durch Briefveröffentlichung nach seinem
Tode noch sichtbarer: siehe u.a.: W erke (Stuttgart 1957/59) VI, 180, 192, 364 - sowie Imanuel
Geiss, Studien über Geschichte und Geschichtswissenschaft, a.a.O . 8 9 -1 0 7 (zwischen Meinecke
und Ritter wäre aber stärker zu differenzieren).
° Siehe vor allem: Gerd Voigt, Otto Hoetzsch 1876-1946. Wissenschaft und Politik im Leben ei­
nes deutschen Historikers (Berlin 1978) - Heinrich Sproemberg, Mittelalter und demokratische
Geschichtsschreibung. Ausgewählte Abhandlungen, hrsg. von Manfred Unger (Vorwort von Ger­
hard Heitz, Eckhard Müller-Mertens, Bernhard Töpfer, Ernst Wernei) (Berlin 1971); H. M., Eduard
W inter zum Gedenken, in: ZfG 30 (1982) 6 4 3 f. - neben den hier angeführten Festschriften und
Würdigungen zum 70. und 80. Geburtstag seien noch genannt: die Festschrift zum 60. Geburts­
tag: Deutsch-slawische W echselbeziehungen in sieben Jahrhunderten. Gesammelte Aufsätze
(Berlin 1956) sowie: Bernhard Bolzano, Zur 200. Wiederkehr seines Geburtstages am 5. Oktober
1981. Dem W irken Eduard W inters gewidmet (Sitzungsberichte der AdW der D D R , Jg. 1982,
Nr. 6/G) (Berlin 1982) und die aufschlußreiche Autobiographie: Mein Leben im Dienst des Völ­
kerverständnisses. Nach Tagebuchaufzeichnungen, Briefen, Dokumenten und Erinnerungen, 1,
Berlin 1981.
50
W ern er Berthold
K arl Lam precht und vor allem auf H enri Pirenne und Marc Bloch, zu denen freund­
schaftliche Beziehungen entstanden. Indem der Doktorand Sproem berg die extrem
annexionistische „Professorendenkschrift“ vom Ju li 1915 ablehnte, die D ietrich S ch ä­
fer als führender A lldeutscher inspiriert hatte und sich gegen die w ilhelm inische
K riegspolitik wandte, verlor er jede akadem ische Perspektive. Bei E. W inter, der in
den dreißiger Jah ren an der deutschen U niversität in Prag eine Professur für katholi­
sche K irch engesch ichte innehatte, war es das intensive Studium des universalen G e ­
lehrten Bernhard Bolzano, der eine scharfe aufklärerische G esellschaftskritik übte, der
Bruch m it dem katholischen K lerus unter Pius X II., die A useinandersetzung m it der
O stpolitik des Vatikans sowie sein Bestreben, den deutsch-slaw ischen Beziehungen
nachzugehen, die er in der D onaum onarchie und in der C S S R erlebt hatte. Bei
Sproem berg und W inter ist zudem das Phänom en zu verzeichnen, daß sie als N icht­
m arxisten m arxistische H istorikerschulen gründeten.
W enn Peter Schum ann feststellt, daß in der B R D „über Jah re ... der Marxismus ...
weniger ein theoretisches Problem als eine politische Provokation “ 44 war, so begannen
bürgerliche H istoriker in der späteren D D R schon nach 1945 m it einem Studium und
einer Teilrezeption des M arxismus.
D abei kam es allerdings auch zu ungew öhnlichen Synthesen. So glaubte H oetzsch,
die Geschichtsauffassung von Ranke m it der von Marx und Pokrovskij verbinden zu
können. D em entspricht es, daß m it Begriffen und D enkm od ellen Hegels, Rankes
und K jellen s „die universalgeschichtliche Bedeutung der großen russischen Revolu­
tion für die W elt und der Sieg der Sow jetunion im Zw eiten W eltkrieg und ihre heu­
tige W eltstellung “45 erfaßt und verdeutlicht werden sollten. D am it wird die E insicht
erneut bestätigt, daß sich Erkenntnisprozesse widersprüchlich vollziehen, daß vor­
nehm lich alte nicht einfach durch neue Vorstellungen ersetzt werden, sondern daß
beide trotz ihrer G egensätzlichkeit sich auch m iteinander verbinden können und daß
neue gesellschaftliche Erfahrungen zunächst m ittels überkom m ener Vorstellungen
verarbeitet werden. Dabei werden diese und die bisherige Begriffswelt aber zugleich
verwandelt und ihrer ursprünglichen funktionellen Bestim m ung entfrem det.
W idersprüche anderer A rt, die sich in der Entw icklung einer H istorikerpersönlich­
keit wie Fritz Hartung (1 8 8 3 -1 9 6 7 ) finden, können m it m ancherlei M odifikationen
auch bei einigen seiner K ollegen registriert werden, die an U niversitäten und A kade­
m ien auf dem Territorium der D D R bis zu ihrer Em eritierung und bis zum Versiegen
der A rbeitskraft oder für eine längere Z eit tätig waren. W ährend H artung 1932 im
U nterschied zu M einecke, aber in Ü bereinstim m ung m it H erm ann O ncken die B e­
werbung von Eckart K e h r für ein Forschungsstipendium der R ockefellerstiftung
scharf abgelehnt hatte46, übernahm er m it O ncken 1934 die Begutachtung der D isser-
44 Schumann, Ritter, 412 f.
43 Otto Hoetzsch, Die Eingliederung der osteuropäischen Geschichte in die Gesamtgeschichte
nach Konzeption, Forschung und Lehre, in: pädagogik. beitrage zur erziehungswissenschaft 1
(1946) 34.
46 Hans-Ulrich Wehler, Eckart Kehr, in: Deutsche Historiker, I, hrsg. v. Hans-Ulrich Wehler(Göt­
tingen 1971) 107.
Z u r G esch ich te der G esch ich tsw issen schaft der D D R
51
tation des m arxistischen D oktoranden und aktiven kom m unistischen Funktionärs
Ernst Engelberg, der 4 Tage nach erfolgter Prom otion verhaftet wurde47. 1945/46 voll­
brachte Hartung bei der V orbereitung der geschichtsw issenschaftlichen Lehrveranstal­
tungen an den U niversitäten in der späteren D D R in enger Zusam m enarbeit m it der
D eutschen Zentralverwaltung für Volksbildung, die unter der Leitung des K o m m u n i­
sten Paul W andel stand, eine bedeutende A rbeit. Ende 1948 legte er zwar das Dekanat
der Philosophischen Fakultät der H um boldt-U niversität nieder und ließ sich em eritie­
ren. Im U nterschied zu M einecke, der an die neugegründete Universität nach W estBerlin überw echselte, verblieb er jed och an der späteren Akadem ie der W issenschaf­
ten der D D R und leistete als eines ihrer führenden M itglieder in Zusam m enarbeit mit
m arxistischen H istorikern bis ins hohe A lter mit der ihm eigenen Präzision und
Pünktlichkeit die wertvollste A rbeit48. D em entspricht es durchaus, daß er in einem
Brief an G. R itter vom 1 4 .7 .1 9 5 0 nicht nur die W issenschaftspolitik, sondern das
„ganze V erhalten des W estens gegenüber“ der D D R tadelte49.
Eine Gesam tdarstellung der G esch ichte der Geschichtsw issenschaft der D D R wird
diese G elehrten m it den m arxistischen H istorikern wie Ernst Engelberg, W alter Markov, Alfred Meusel, Jürgen K uczynski, Leo Stern u.a. ohne jede Sim plifizierung dar­
stellen. D och hier liegt der H auptakzent auf einer K ooperation zwischen m arxisti­
schen und nichtm arxistischen H istorikern, die trotz m ancher unterschiedlicher und
auch gegensätzlicher Auffassungen m öglich wurde. Sie schloß den M einungsstreit
nicht aus, sondern ein, der zudem seit A nbeginn auch unter den m arxistischen H isto­
rikern geführt wurde und der gem äß der m arxistischen E rkenntnistheorie 50 zu den
Entw icklungsgesetzen der m arxistischen G eschichtsw issenschaft gehört.
47 Werner Bertbold, Ernst Engelberg, in: Namhafte Hochschullehrer der Karl-Marx-Universität
Leipzig, 7 (Leipzig 1985) 84.
18 Ders., Geschichtsbild, 21 1, 213, 2 1 7 -2 1 9 , 221, 2 2 3 -2 3 1 , 2 3 3 -2 3 5 , 241 f , 245, 251.
49 Schumann, Ritter, 412.
30 Dieter Wittich/Klaus Gößler/Kurt Wagner, Marxistisch-leninistische Erkenntnistheorie (Berlin
21980).
Adolf Dieckmann
Geschichtsinteresse der Ö ffentlichkeit im Spiegel der
Verlagsproduktionen
G eschichtsw issenschaft hat es m ehr als m anche andere W issenschaft m it dem
Selbstverständnis der jew eiligen Gegenwart zu tun. D ieses Selbstverständnis hat öf­
fentliche Bedeutung. Es ist politisch wirksam. So liegt, wenn wir die G eschichtsw is­
senschaft betrachten wollen, die Fragestellung nahe, wie das Interesse der Ö ffen tlich ­
keit an G esch ichte nach der historisch-politischen Zäsur von 1945 beschaffen war und
wie es sich bis in die 60er Jah re entw ickelt hat.
D ie Ö ffentlichkeit ist der Markt der Verlage. Als W irtschaftsunternehm en sprechen
sie m it ihren Produkten Gruppen von Käufern an. Verlage leben davon, daß eine Ö f­
fentlichkeit Interesse an ihren Produkten hat. Man sollte also in den Program m en der
Verlage H inweise auf das Interesse finden können, das in der Ö ffentlichkeit besteht.
Aus dem Charakter der Ö ffentlichkeit als Markt folgt, daß es nicht eine allgem eine
Ö ffentlichkeit schlechthin, sondern daß es verschiedene Ö ffentlichkeiten gibt. D ie Ö f­
fentlichkeit als Markt teilt sich also in M arkt-Segm ente. D iese verschiedenen A usfor­
mungen werden durch verschiedene M edien angesprochen: einerseits durch den
Rundfunk (Fernsehen gab es noch nicht), andererseits durch gedruckte M edien (die
man heute auch Print-M edien nennt). In jen er Z eit beschränkten sich Verlage auf ge­
druckte Medien. Es gab die verschiedensten Buchverlage, Zeitschriftenverlage, Z eitungsverlage. A uf die Bedeutung der Zeitungsverlage kann ich hier nur hinw eisen; ich
kann aber nicht auf sie eingehen und beschränke m ich auf Buch- und Z eitsch riften ­
verlage.
Als W irtschaftsunternehm en sind Verlage hoch spezialisiert. Sie müssen sich mit
ihren Produkten, m it ihrer K alkulation, m it ihrer W erbu ng genau an diejenige Ö ffen t­
lichkeit wenden, bei der K aufinteresse und K aufm öglichkeiten für den A bsatz der E r­
zeugnisse ausreichen.
Aus der Spezialisierung und der besonderen Eigenart der Verlage folgt, daß die all­
gem ein gestellte Frage nach der Ö ffentlichkeit vielfältig aufgefächert werden muß.
Man kann verschiedene “Ö ffen tlich k eiten “ unterscheiden:
1.
Die Öffentlichkeit des Faches. D ie Personen und Institutionen der G eschichtsw is­
senschaft sind selbst ein Markt, den Verlage ansprechen. H ier schreiben Fachleute für
Fachleute. H ier sind die A utoren zugleich die Käufer. M it ihren W erken weisen sich
die Fachleute als solche aus. Dazu gehören D issertationen, H abilitationsschriften, A b­
handlungen von A kadem ien usw. M it anderen W erk en schaffen die Fachleute sich die
H ilfsm ittel für ihre A rbeit: Editionen, Bibliographien.
A d olf D ieck m an n
54
Aus der Sich t der Verlage handelt es sich hier um m eist subventionierte W erk e in
begrenzten Auflagen für einen begrenzten Markt. M it den Subventionen zahlen In ­
stanzen, die m it der Ö ffentlichk eit in politischer W echselw irkung stehen, dafür, daß
die K om m unikation im Fach und damit die A rbeit der Fachleute erm öglicht werden.
Ich nenne nur das Verlagsreferat der D eutschen Forschungsgem einschaft. A n den
W erken , die so für den innerfachlichen M arkt subventioniert werden, kann der Sorti­
m entsbuchhandel nur geringes Interesse haben, es sei denn, eine Buchhandlung spe­
zialisiere sich ausdrücklich auf den Service für Institute und B ibliotheken. Ebenso
steh t es bei den Verlagen. V iele w issenschaftliche Institutionen geben ihre W erke ei­
nem Verlag nur in K om m ission. D er eigentliche Austausch wird dann zwischen den
Institutionen direkt und oft kostenlos abgewickelt. So haben A kadem ien, so haben
auch z. B. die M onum enta R eferenten, die V eröffentlichungen herstellen lassen.
V eröffentlichungen, für die jenseits der Ö ffentlichk eit des Faches kaum Interesse
besteht, bezeichnet man auch als „Graue Literatur“. D ie G renzen dieser „Grauen L ite­
ratur“ sind fließend; es gibt keine exakte D efinition dafür. Auf jeden Fall aber ist das
Fach nur lebensfähig, wenn durch diese „Graue Literatur“ die K om m unikation inner­
halb des Faches erm öglicht wird - wenn es Spezialisten gibt, die sich damit befassen.
Seh r verständlich ist, daß die w issenschaftlichen A utoren versuchen, eine andere,
weitere Ö ffentlichkeit anzusprechen. N iem and wünscht, daß sein W erk „Graue Litera­
tur“ wird. Deshalb gibt der w issenschaftliche A utor dem jenigen unter den konkurrie­
renden Verlagen den Zuschlag für sein W erk, bei dem er sich gut betreut fühlt, der
sein W erk in ansehnlicher Form herausbringt und der damit eine m öglichst große Ö f­
fentlichkeit anspricht. Aus dieser H altung heraus m einen die m eisten A utoren, daß
die Verlage zu hohe Preise verlangen.
2 . Eine weitere Öffentlichkeit soll angesprochen werden. W as ist dam it gem eint?
Eine erste Erweiterung der fachlichen Ö ffentlichkeit sind die Stud enten: J e brauch­
barer ein Buch für sie ist, desto eher hat es A ussicht, weitere A uflagen zu erreichen.
Bücher m it Lehrbuchcharakter, die w eithin eingeführt werden, können w irtschaftliche
Erfolge bringen.
Ein anderer Markt ist der der G esch ichtsleh rer und der Schüler. Stehen die G e ­
schichtslehrer gewisserm aßen auf der G renze zwischen der fachlichen und der w eite­
ren Ö ffentlichkeit, so haben Sch ulbücher ihre ganz speziellen, eigenen G esetze. G e ­
rade an dieser Stelle gab es nach 1945 rigorose politische Eingriffe. Darauf werde ich
später noch kom m en.
J e m ehr die Ö ffentlichk eit ausgebreitet ist, nach der der V erleger sucht, desto
schw erer ist sie zu definieren. In dieser w eiteren Ö ffentlichkeit wird es schwierig, den
Markt zu analysieren. Man sucht hier nach dem sogenannten „interessierten Laien“,
den es früher in G estalt des sogenannten „Bildungsbürgers“ gab. U m ihn zu finden,
muß man ihn auf eine W eise ansprechen, die sein Interesse erweckt. W arum interes­
sieren sich solche Laien, also M enschen, die nicht zum Fach gehören, für G esch ichte?
W as interessiert sie an der G esch ich te? Gab es nach 1945 ein besonderes Interesse?
G esch ichte hat im w eitesten Sin ne eine politische Bedeutung. Indem sie dem V er­
ständnis der eigenen Gegenw art dient, dient sie der Rechtfertigung, der Anklage, der
Entschuldigung, der Legitim ation. D iese Funktionen im Interesse der Ö ffentlichkeit
G esch ich tsin teresse im Spiegel der V erlagsproduktionen
55
an G esch ichte nach 1945 anhand der Verlagsprogram m e festzustellen, wäre die ei­
gentlich relevante Aufgabe dieses Referates.
Für G esch ichte gibt es schließlich auch ein Interesse, das ich als „antiquarisch“ be­
zeichnen m öchte. A uf den ersten Blick scheint es politisch wenig oder gar nicht be­
deutend zu sein. V ielleich t ist es dem jenigen eines Reisenden zu vergleichen. Man
liest G eschichtsbeschreibungen wie spannende R eisebeschreibungen: „Mit dem Fahr­
stuhl in die R öm erzeit“ ; „Götter, G räber und G elehrte“. Man interessiert sich für
m en schliche Schicksale: Biographien. Man m öchte sich als gebildet zeigen: So tape­
ziert man das W ohnzim m er m it der „Propyläen“-W eltgeschichte. Dies ist der Markt
für die verschiedensten A rten von Sachbüchern. D er W un sch, sich zu bilden und sich
als gebildet auszuweisen, ist ein w ichtiger A nknüpfungspunkt für die großen Versand­
buchhandlungen und in anderer W eise auch für die Buchgem einschaften. (D ieses G e­
biet liegt wiederum jenseits dieses Referats.)
Das öffentliche G eschichtsinteresse, dem man für unser Them a eine gesellschaft­
lich-politische Relevanz zusprechen kann, ist dasjenige der w eiteren Ö ffentlichkeit.
Man könnte es etwa m it folgenden Fragen ansprechen:
W elch e Veröffentlichungen reichen über die Grenzen des Faches hinaus in eine
weitere Ö ffentlichkeit?
W elch e Veröffentlichungen erreichen politisch interessierte K reise? W elch e V eröf­
fentlichungen erreichen die Sch ichten der ehem aligen Bildungsbürger? Von welchen
W erk en fühlt sich der „interessierte Laie“ angesprochen?
A n w elchen Veröffentlichungen haben die Institutionen der politischen Ö ffen tlich ­
keit bzw. des Staates besonderes Interesse?
Und hier liegt nun die zentrale Frage unseres Them as: W ie kann man diese Interes­
sen und ihre Spiegelung in den Verlagsproduktionen feststellen?
W ir sind bei der Frage nach den Quellen. W elch e Q uellen müssen aufgearbeitet
werden, und wie ist das m öglich?
1 . Verlagskataloge: W en n überhaupt, so sind sie in den Archiven von Verlagen zu
finden, aber an die kom m t man kaum heran. W elch er in der A rbeit stehende Verlags­
lektor kann sich schon die Z eit nehm en, alte Kataloge herauszusuchen? D ie üblichen
Prospekte können aus Raum - und Zeitgründen nich t archiviert werden. A nläßlich von
Jubiläen gibt es hier und da G esam tverzeichnisse, die von großem W ert sind, aber für
unser T hem a ebenfalls kaum weiterführen.
2 . W ich tig für die V erbreitung von W erk en sind die Auflagenzahlen. Sie sind aber
kaum zu bekom m en.
In Bibliographien findet sich bestenfalls die Zählung der Auflagen. Über die Anzahl
der jeweils hergestellten und verkauften Exem plare ist damit aber nichts ausgesagt. Sie
kann nur in alten H erstellungsakten festgestellt werden, die aber sind kaum zu erhal­
ten. Schließlich kom m en noch H onorar-A brechnungen in Frage, die wiederum kaum
zu erreichen sind.
3. A m ehesten kann man R ezensionen heranziehen. Sie sagen zwar nichts über den
Verkauf eines Buches, aber sie sind ein w ichtiger Indikator für das Interesse, das die
Rezensenten in der Ö ffentlichkeit verm uten. Für das Echo in der weiteren Ö ffentlich­
keit müßte man also die Feuilleton- und W issenschafts-Sparten der überregionalen
56
A d olf D ieck m an n
Z eitungen durcharbeiten; man m üßte die entsprechenden Publikum szeitschriften un­
tersuchen. A uch die Fachzeitschriften spielen eine Rolle.
Dieses Quellenm aterial, bei dem man in die M edien der w eiteren Ö ffentlichkeit
hineingreift, ist sehr um fangreich. Da es keinerlei V orarbeiten gibt, könnten daran
m ehrere Doktoranden arbeiten.
4.
In der Bibliothek des Börsenvereins des D eutschen Buchhandels konnte ich ei­
nige Bibliographien jen er Ja h re und einige Statistiken Zusammentragen, und schließ­
lich kann ich einige persönliche Erfahrungen beisteuern. Z um T eil stam m en sie zwar
aus späteren Jahren , aber sie werfen vielleicht ein L icht auf den fraglichen Zeitraum .
Zunächst ein Griff in die Statistik:
D er Börsenverein des D eutsch en Buchhandels bringt jährlich eine Ü bersicht her­
aus: „Buch und Buchhandel in Z ah len “ 1. U nter der Rubrik „G eschichte, K ulturge­
schichte, V olkskunde“ erscheinen folgende Z ahlen:
195 1 :
568 Titel
195 2 :
615 Titel
1959:
775 T itel und 117 Neuauflagen
19 6 3 :
1354 Titel und 213 Neuauflagen
V on der gesam ten Buchproduktion jen er Jah re umfaßt die Rubrik, in der die G e ­
schichtsw issenschaft vorkom m t, folgende A nteile:
195 1 :
4%
1959:
5 ,4 %
1963:
6,1 % (Schulbücher nicht m itgerechnet)
Ich habe diese Zahlen sehr verkürzt, weil sie nur in größerem Zusam m enhang, viel­
leicht im V ergleich zur Gegenw art, aussagefähig werden könnten. D es weiteren fand
ich eine Bibliographie des Börsenvereins bzw. der D eutschen Bibliothek, Frankfurt,
aus dem Jah re 1950: „D eutsche Z eitschriften 1 9 4 5 -1 9 4 9 “2. W as enthält sie zur G e ­
schichtsw issenschaft?
H ier gibt es fast nur Fachzeitschriften, aber es gibt auch solche, die eine gewisse Ö f­
fentlichkeits-W irksam keit anzustreben scheinen. D er K rieg war zu Ende, und in den
nächsten Jah ren begannen die alten Z eitschriften langsam wieder zu erscheinen:
D ie H istorische Z eitschrift ersch eint m it Band 169 wieder im Ja h r 1949.
Das H istorische Jah rbu ch der G örres-G esellschaft erscheint wieder 1949.
1 Buch und Buchhandel in Zahlen, hrsg. vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels (Frank­
furt a.M., ab 1951 jährlich).
2 Deutsche Zeitschriften 1 9 4 5 -1 9 4 9 . Im Auftrag des Börsenvereins deutscher Verleger- und
Buchhändler-Verbände ausgewählt und herausgegeben von der Deutschen Bibliothek Frankfurt
am Main (Frankfurt/M., Buchhändler-Vereinigung 1950). Interessant sind auch: Geschichte und
Zeitgeschichte. Eine Ausstellung von 500 Büchern, Zeitschriften und Karten aus der Bundesre­
publik Deutschland und W est-Berlin. XI. Internationaler Kongreß für Geschichtswissenschaft in
Stockholm 2 1 .-2 8 .August I9 6 0 , hrsg. vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels e.V.
(Frankfurt/M. I960). - Weltausstellung Brüssel 1958. Bibliothek eines geistig interessierten Deut­
schen, hrsg. vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels e.V. (Frankfurt/M. 1958), Redaktion:
Prof. Dr. Hanns W. Eppelsheimer.
G esch ich tsin teresse im Spiegel der V erlagsproduktionen
57
„D er Islam “ erscheint m it Band 27 schon wieder 1946. D ie Z eitschrift der „D eut­
schen M orgenländischen G esellschaft“ : Band 9 9 : 1949.
D ie O rientalistik ist hier besonders stark vertreten.
A n den neuen Zeitschriften, die damals begründet wurden, m eist aber nach einiger
Z eit wieder aufgegeben werden m ußten, kann man die Bem ühung um einen politisch­
kulturellen N eubeginn verm uten3:
Föderalistische H efte, H istorisch-P olitische Zeitschrift, herausgegeben von W alter
Ferber. 1 . Jahrgang 1948. K onstanz, Merk.
K ulturarbeit: M onatsschrift für K u ltu r und H eim atpflege. H erausgegeben von
Friedrich A hlers-H esterm ann, K arl Bauer, O tto Benecke. 1 . Jahrgang 1949- Stuttgart,
K ohlham m er.
Im Bereich der A ltertum skunde und der H istorischen Hilfswissenschaften waren
15 alte Z eitschriften bald wieder da. D ie T itel reichen von „G nom on“ bis „H am m aburg“ und
W estfalen. Z eitschrift für vaterländische G esch ichte und A ltertum skunde, heraus­
gegeben vom V erein für G esch ichte und A ltertum skunde W estfalen. Herausgegeben
von A nton Eitel und A lois Fuchs. M ünster, Regensberg. Band 9 7 : 1947.
Im Bereich der Landesgeschichte und der regionalen G eschichtsvereine erscheinen
die alten Zeitschriften also bald wieder, ebenso im Bereich der H eim at- und V olks­
kunde. A n diesen Z eitschriften zeigt sich ein ganz bestim m tes G eschichtsinteresse.
Man sollte es einm al inhaltlich untersuchen, besonders hinsichtlich der Frage von
K ontinuität und N eubeginn.
Eine genaue Prüfung ergibt: Dieses Zeitschriften-V erzeichnis enthält nur Z e it­
schriften, die sich auf ein eng begrenztes Fach-Interesse beziehen. D iese fachlich in ­
teressierten Gruppen haben die K atastrophe überdauert. Für die Frage nach den Inter­
essen einer w eiteren Ö ffentlichk eit gibt dieses Verzeichnis nichts her. D och für die
Seite der Verlage kann man etwas daran erk en nen: Verlage müssen w irtschaftlich den­
ken und Risiken tragen. Eine Z eitschrift wie etwa
Germ ania. A nzeiger der R öm isch -G erm anischen K om m ission des D eutschen A r­
chäologischen Instituts. Berlin, de Gruyter,
birgt kein besonderes Risiko. D er Verlag kann daran allerdings auch kaum verdie­
nen.
H eft 1/2 des 27. Jahrgangs erschien 1943. M it H eft 3/4 desselben Jahrgangs wurde
die Z eitschrift 1949 fortgesetzt.
Ich m öchte hier auf einen w ichtigen G esichtspu nkt in der Verlagsarbeit hinw eisen:
Die R öm isch-G erm anische K om m ission des D eutschen A rchäologischen Institutes
ist ein vornehm er Partner, und ihre W erk e erscheinen nur in angesehenen Verlagen.
So ist es auch hier. D ie Pflege des A nsehens ist für die Verlage eine zentrale Aufgabe.
Die Bedeutung dieses Begriffes kann kaum hoch genug veranschlagt werden. W issen-
3 Im Jahrbuch der Historischen Forschung 1984 ist unter Nr. 9240 eine Habilitationsschrift zu
diesem Thema angekündigt: Ingrid Launen, Politisch-kulturelle Zeitschriften in den Westzonen
1 9 4 5 -1 9 4 9 ( Göttingen, Historisches Seminar).
A d olf D ieck m an n
58
schaftliche Institutionen geben ihre V eröffentlichungen denjenigen Verlagen, die ihrer
M einung nach A nsehen haben und bei denen sie sich gut betreut fühlen.
U nter diesen G esichtspunkten ist die Pflege von Beziehungen eine der wichtigsten
Aufgaben von Verlagen. Sie liegt m eistens in den Händen der Lektoren oder wie im ­
m er die A ngehörigen dieses Berufsfeldes sich nennen. Z u Prom inenten, Institutsdi­
rektoren, Präsidenten u .a.m . behalten sich die Verleger m eist persönlich die Bezie­
hung vor. In der Sache aber kom m t es auf die M itarbeiterin oder den M itarbeiter an,
der die Vorgänge im einzelnen kennt. O ft fallen Entscheidungen de facto auf der
E ben e der M itarbeiter und der L ektoren; de jure werden sie dann vom Präsidenten
und vom Verleger vollzogen.
Solche Lektoren sind quasi K ollegen der A utoren, m it denen sie Zusam m enarbei­
ten. Sie m üssen die „Sprache der W issenschaft“ sprechen können. Sie müssen kauf­
m ännisch, w irtschaftlich denken und arbeiten können. Ihre w ichtigste Aufgabe ist,
zwischen diesen beiden W elten zu verm itteln.
W ir kom m en damit zu der Frage nach dem persönlichen E lem en t in unserem
Them a. Es ist wie in der G eschichtsw issenschaft: W as bedeutet die gesch ichtliche P er­
sönlichkeit, was bedeutet die gesellschaftliche Struktur - und wie verhalten sich die
beiden Bereiche zueinander? D iese Diskussion könnte man auch bei unserem Them a
wieder aufnehm en, wobei die gesellschaftliche Struktur als der Urgrund dessen b e ­
trachtet werden könnte, was sich dann als Interesse der Ö ffen tlich k eit äußert.
W en n ein Verlag B ü cher oder eine Z eitschrift plant, nim m t er Bezug auf einen
Markt, auf eine Ö ffentlichkeit, d eren Interessen, B ed ü rfn isse er kennen - o d er hervor­
rufen - muß. E r antwortet sozusagen auf eine M anifestation von gesellschaftlicher
Struktur. E r kann dies aber nur, wenn von ihm eine Initiative ausgeht, und diese
kom m t m eistens von einer oder m ehreren Personen. D er V erleger, der Lektor (was
beides auch Frauen sein können) ergreifen eine persönliche Initiative zu G eschäften,
m it denen der Verlag auf gesellschaftliche Strukturen angewiesen ist, auf ein Interesse
der Ö ffentlichkeit. Dieses zu kennen oder durch M arktforschung zu erkunden ist die
Voraussetzung des Verlagsgeschäftes. Es kann schon da sein, große Verlage, besonders
von Zeitungen, können es aber auch durch ihre Ö ffentlichkeitsarbeit hervorrufen oder
schaffen. A uf je d e n Fall: W en n die Initiative und das Interesse sich begegnen, gibt es
gute - wenn sie a n e in a n d er V o rbeig eh en , g ib t es schlechte G eschäfte.
Zu diesem Bereich will ich einige persönliche Erfahrungen und Erinnerungen bei­
steuern.
„Was, du kennst Fratzscher n ich t?“ - Ich werde diese Frage m eines verstorbenen
Freundes Leuschner 4 nie vergessen. Dr. Arnold Fratzscher war der Lektor des Verlages
V andenhoeck & Ruprecht. Für H istoriker verkörperte er diesen Verlag überhaupt. V or
und während des K rieges war er Lektor bei K oehler & A m elang, Leipzig, gewesen.
Nun hielt, schuf und förderte er die Beziehungen und die Stellung des geistesw issen­
schaftlichen Lektorates und Program m s von V andenhoeck & Ruprecht. Er ist der B e ­
gründer der K leinen V an denh oeck-R eihe, die m it Carl-Friedrich von W eizsäckers
4 Dr. Joachim Leuschner, Professor in Hannover, gest. 1978.
G esch ich tsin teresse im Spiegel der V erlagsproduktionen
59
„G eschichte der Natur“ einen erfolgreichen Start hatte. D ie V eröffentlichungen, die in
dieser Reihe in den fraglichen Jah ren erschienen sind, wären es wert, für unser Them a
untersucht zu werden.
Ich selbst war von 1957 an „Erster Lektor“ im Franz Steiner Verlag, damals W iesba­
den. (E inen zweiten Lektor hatte Steiner nicht.) Ich war ein blutiger A nfänger; m eine
Verlagserfahrungen und -ausbildung bestanden nur in fünf Jah ren Tätigkeit als L exi­
konredakteur. So war m ir noch nicht klar, was es bedeutet, daß jeder Verlag eine b e ­
stim m te, spezielle Struktur hat, so daß außerhalb davon seine C hancen im Markt ra­
pide abnehm en. Dazu ein Beispiel:
Steiner hatte sich weitgehend zu dem Verleger der deutschen Forschungsgem ein­
schaft gem acht; und als Schatzm eister der D eutschen M orgenländischen G esellschaft
druckte und vertrieb er deren Publikationen einschließlich der Zeitschrift. M it den
A bhandlungen der A kadem ie der W issenschaften und der Literatur, Mainz, führte er
der von ihm nach Übersiedlung aus der „O stzone“ gegründeten D ruckerei wertvolle
Aufträge zu. M eine Aufgabe war, Veröffentlichungen m it D ruckkostenzuschüssen in
den Verlag hineinzubringen. Ich knüpfte, hielt und betreute die Beziehungen zu Insti­
tuten und Autoren.
Ich wünschte mir, daß der Verlag nicht nur druckte, sondern auch verkaufte - daß
er zu einem Verlag im eigentlichen Sinne entw ickelt werden sollte. Bei einem Vortrag
lernte ich M atthias G eizer kennen, der als Em eritus in Frankfurt lebte. Ich regte an,
seine Caesar-Biographie, die in m ehreren Auflagen ohne wissenschaftliche A n m er­
kungen vorlag, neu bearbeitet m it w issenschaftlichen A nm erkungen für ein weiteres
Publikum herauszubringen5. Ich erträum te mir, daß ein sehr günstiger Ladenpreis sich
positiv auf den Verkauf auswirken würde. Daß der Verlag kaum fähig war, m it seiner
W erbung die für diesen Plan erforderliche weitere Ö ffentlichkeit anzusprechen - daß
außerdem ein T itel kein Program m m acht, sondern wie die berühm te Schw albe wirkt,
die noch keinen Som m er bringt - alles das konnte ich noch nicht recht erm essen.
N icht lange dauerte es, bis Dr. Fratzscher m ich fragte, wie ich denn nur diesen günsti­
gen Preis für den „Caesar“ hätte kalkulieren können. K ollegen von G eizer hatten ihn
neidvoll darauf angesprochen. Ich hatte also auch noch das Preisgefüge verdorben. Für
Steiner freilich bedeutete der V orstoß m it Geizers W erk einen Gewinn an A nsehen
und Publizität.
In Mainz kam ich m it dem K irch enhistoriker M artin Schm idt in Verbindung, der
an dem historischen Atlas der K irch engesch ichte m itwirkte. Ich versuchte, den Franz
Steiner Verlag für dieses W erk ins Spiel zu bringen, und anscheinend teilte Professor
Sch m id t seinen M itherausgebern m it, daß dieser Atlas bei Steiner erscheinen solle. J e ­
denfalls bekam ich kurz darauf einen ärgerlichen A nruf m eines Doktorvaters, Profes­
sor H eim pel, der m ir klarm achte, daß ich in einem frem den T eich gefischt hätte und
daß der von ihm in der H istorischen K om m ission m itbetreute Atlas in einem „richti­
gen“ Verlag, näm lich bei V andenhoeck & Ruprecht, erscheinen werde: „Steiner ist
doch kein richtiger V erlag!“
5 Matthias Geher, Caesar. Der Politiker und Staatsmann (Wiesbaden 1960).
60
A dolf D ieck m an n
Im m erhin erschienen in diesem Verlag - und erscheinen bis heute - die „Veröf­
fentlichungen des Instituts für Europäische G esch ichte, M ainz“. D ie beiden damaligen
D irektoren dieses Institutes, M artin G öhring und Jo sep h Lortz, gehörten zu m einen
w ichtigsten Gesprächspartnern. G öhring arbeitete an dem M anuskript einer deut­
schen G esch ichte von 1890 bis 1945, das für eine weitere Ö ffentlichk eit bestim m t
war. Für m ich stand fest, daß dieses Buch zu Steiner gehörte, wo G öhring auch die
R eihe herausgab. D er stärkste M itbew erber um das M anuskript war der G öttinger
Verlag M usterschm idt. In langen G esprächen m it Professor G öhring, an denen die m ir
gutbekannten Stipendiaten und sein A ssistent - das war E m st Schulin - teilnahm en,
gelang es mir, das M anuskript zu Steiner zu ziehen, wo es unter dem Titel „Bism arcks
E rben“ erschien6, der im K reise der Stipendiaten intensiv diskutiert worden war. Das
Buch m achte seinen W eg und erreichte im Franz Steiner Verlag zwei Auflagen.
D er Sohn des Verlegers, Dr. Claus Steiner, unterstützte m eine Bem ühungen, den
Verlag zu einem „richtigen Verlag“ zu entw ickeln. A uf seine A nregung hin versuchte
ich es auch m it Ü bersetzungen. So kam ich an das Buch „The D estruction of the E u ­
ropean Je w s“ von Raoul Hilberg. Es war m ir sofort klar, daß es sich um ein sehr w ich­
tiges W erk handelte. A ber hier reichte nun die persönliche Initiative nicht aus. Erfah­
rungen hätten hinzukom m en m üssen, ich hätte wissen m üssen, an wen ich m ich m it
diesem Plan wenden konnte. W ahrscheinlich hätten die entsprechenden öffentlichen
G eld er beschafft werden können. Solche Verbindungen aber hatte ich nicht, und die
D eutsche Forschungsgem einschaft gibt für Ü bersetzungen keine Beihilfen. D er Plan
blieb stecken, und dieses wichtige Buch ist erst 1982 im Verlag O lle & W olter, Berlin,
in deutscher Sprache erschienen. O b das G eschichtsinteresse der Ö ffentlichkeit in die­
ser R ichtung aber seitdem größer geworden ist, m öchte ich bezweifeln.
Im Jah re 1963 übertrug m ir Ernst K le tt die Leitung seiner Redaktion für G e ­
schichte, zu der dann auch Erdkunde und Politische Bildung gehörten. K lett plante
eine „Encyclopaedia M edii A evi“; m it der R eihe „Industrielle W e lt“, herausgegeben
von W erner Conze, hatte er einen guten Ansatz für ein geschichtsw issenschaftliches
Program m. Zu m einen A ufgaben gehörte die Betreuung der Z eitschrift „G eschichte
in W issenschaft und U nterrich t“.
D ie Z eitschrift des Verbandes der G esch ichtsleh rer hatte vor dem K rieg den Titel
„Vergangenheit und Gegenw art“ gehabt. A uf dem ersten H istorikerkongreß nach dem
Zw eiten W eltkrieg in M ünchen wurde am 1 5 .Septem ber 1949 der Verband der G e ­
schichtslehrer D eutschlands unter dem Vorsitz von Gerhard Bonw etsch wieder be­
gründet. Dr. Bonw etsch stand aus früheren Jah ren m it dem für G esch ichtsbücher zu­
ständigen Redaktionsleiter des Verlages Teubner, Leipzig, in Verbindung: Dr. Gerhard
Aengeneyndt. D ieser war nach dem K rieg m it anderen R ed aktionsleitem nach W e st­
deutschland gegangen. Er fand zunächst eine A rbeitsm öglichkeit bei dem damals
noch kleinen Verlag Burda in O ffenburg, w elcher dort den „Lehrm ittel-V erlag“ be­
gründete. D er G esch ichtsun terricht war dasjenige Fach, welches in allen Besatzungs­
zonen und besonders in der französischen Z on e m it großem Mißtrauen betrachtet
und erst nach einiger Z eit wieder zugelassen wurde. Diese Problem e haben mögli6 Martin Göhring, Bismarcks Erben. 1 8 9 0 -1 9 4 5 (Wiesbaden 1959).
G esch ich tsin teresse im Spiegel der V erlagsproduktionen
61
c jie rw e is e dazu beigetragen, daß Dr. A engeneyndt sich bem ühte, zu K lett nach Stutt-
rt in die am erikanische Z one zu kom m en, wo sich bereits zwei K ollegen von ihm
befanden.
Noch im Lehrm ittelverlag in O ffenburg erschien 1950 der erste Jahrgang der neuen
Zeitschrift des Verbandes der G eschichtslehrer D eutschlands: G eschichte in W issen ­
schaft und U nterricht. W ährend ihres dritten Jahrgangs ging sie an den Ernst K lett
Verlag über.
Diese wichtige Z eitschrift wurde begründet und herausgegeben von Dr. Felix Messerschmid und dem Privatdozenten K arl D ietrich Erdm ann. D urch diese Zeitschrift
wurden und werden vorwiegend die G eschichtslehrer angesprochen. Ihre regelm äßi­
gen Literaturberichte, die von A nfang an von ausgewiesenen H istorikern betreut wur­
den, geben einen ständigen guten Ü berblick über die Forschung.
Percy E. Schram m betreute den B ericht über das M ittelalter; H erm ann Heim pel
den Bericht über Renaissance und R eform ation; Erdm ann selbst schrieb über die
neueste G eschichte, H erbert Franke über Ostasien, Peter Rassow über G esch ichtsphi­
losophie, Theodor Schied er über „Politische Ideengeschichte“ ; und der spätere G ö t­
tinger O berstudiendirektor H erm ann K ö rn er bearbeitete den Bericht über Lehr- und
Lernmittel. Damals standen sich, wie man sieht, G eschichtsw issenschaft und G e ­
schichtsunterricht sehr nahe7. D am it gab es im E m st K lett Verlag sehr gute Ansätze,
für die Ö ffentlichkeit des Faches und darüber hinaus für die etwas weitere Ö ffen tlich ­
keit der G eschichtslehrer ein Verlagsprogram m aufzubauen. D ie Eigengesetzlichkeit
des Verlages, der sich in N achfolge des Verlages Teu b n er zu einem führenden Sch u l­
buchverlag entw ickelte, brachte es aber m it sich, daß m eine Tätigkeit sich auf die Pro­
duktion von Schulbüchern konzentrierte. M eine erste Aufgabe war, eine N eubearbei­
tung des bis dahin erfolgreichsten und langlebigsten geschichtlichen U nterrichtsw er­
kes herauszubringen, das es je in einem deutschen Schulbuchverlag gegeben hat:
Unter der H erausgeberschaft des Frankfurter Oberstudiendirektors Dr. Herm ann
Pinnow erschien das „G esch ichtliche U nterrichtsw erk für die M ittelklassen“. Pinnow,
der noch bis in die 70er Jah re hochbetagt in Frankfurt lebte, erzählte mir, daß er etwa
1926 mit dem Entwurf eines Schulbuches für G esch ichte zu dem Verlag Diesterweg
gegangen sei. Da er dort längere Z eit vergeblich auf A ntw ort wartete, wendete er sich
inzwischen an T eubn er in Leipzig. D ort griff Dr. A engeneyndt Pinnows Idee m it
Verve auf, und so erschien dieses U nterrichtsw erk, von dessen vier Bänden jeder von
einem oder zwei A utoren bearbeitet wurde, Ende der 20 er Jahre. Bei der M achtüber­
nahme durch die N ationalsozialisten wurden in die verschiedenen Bände, die nich t so­
fort um gearbeitet werden konnten, „Ergänzungsbogen“ eingelegt, in denen diejenigen
Interpretationen nachgeliefert wurden, die der N ationalsozialismus verlangte.
Nachdem die Besatzungsm ächte den G eschichtsunterricht nach und nach wieder
zugelassen hatten, konnte Dr. A engeneyndt von Stuttgart aus dieses W erk wieder in
7 Vgl. dazu u.a.: Erich Weniger, Neue Wege im Geschichtsunterricht. Mit Beiträgen von Her­
mann Heimpel und Hermann Körner (Frankfurt/M. 1949) 106 Seiten. - Karl Friedrich Müller,
Historische Bibliographie 1 9 45-1949, in: G W U 1 (1950) 54 ff., 1 2 4 ff. Hier sind auch die Verlage
genannt, deren Namen leider für gewöhnlich nicht aufgeführt werden.
62
A d olf D ieck m an n
Gang setzen. Es wurde zum T eil von denselben A utoren wie vor dem K rieg bearbei­
tet. Für das M ittelalter war Dr. K arl K rüger, D etm old, zuständig; die N euzeit bearbei­
tete O berstudiendirektor Dr. Fritz T extor, Ennepetal. Bis Ende der 6 0 e r Jah re wurde
dieses W erk m it größtem Erfolg in der Bundesrepublik verkauft.
A bgesehen von geringfügigen A kzentverschiebungen hatte sich an diesem W erk
zwischen 1930 und I 9 6 0 anscheinend nichts Grundsätzliches geändert. D ie G e ­
schichte wurde freilich auf die Gegenw art hin sozusagen im m er länger. Dafür mußten
andere Teile entsprechend gekürzt werden. D ie Lehrpläne gaben im w esentlichen nur
an, welche Zeiträum e in w elchen Klassenstufen zu behandeln waren. Da nur wenig
inhaltliche A kzente gesetzt wurden, war es durchaus m öglich, m it einem U nterrichts­
werk die Schulen in vielen Bundesländern anzusprechen8.
Dieses „G eschichtliche U nterrichtsw erk für die M ittelklassen“ und natürlich auch
die in Konkurrenz dazu stehenden gleichzeitigen G esch ichtsbücher verdienten sehr
wohl eine genauere U ntersuchung unter den G esichtspunkten unseres Them as. W e l­
che Äußerungen der Ö ffentlichkeit schlugen sich so in den Lehrplänen nieder, daß die
G esch ichtsbücher für die M ittelstufe der G ym nasien und auch für die Realschulen bis
in die M itte der 60er Jah re im G runde nicht geändert zu werden brauchten? Mir
scheint, daß der Erfolg des W erkes darin begründet war, daß die A utoren es verstan­
den, sozusagen eine M itte-R echts-P o sitio n weiter zu vertreten, die bereits in der W e i­
m arer Z eit bei den Gym nasiallehrern weit verbreitet gewesen ist. Es wundert m ich
nicht, daß es schwer war, m it solchen Büchern bei Schülern das Interesse an G e ­
schichte zu wecken. Das T h em a der G eschichtsdidaktik allerdings überschreitet das
gegenwärtige Referat. Interessant ist vielleicht nur, daß der Versuch, W ern er Conze als
A utor für den vierten Band heranzuziehen, am W iderstand der A utoren scheiterte.
E rst am Ende des hier zu betrachtenden Zeitraum es änderten sich die politischen
Verhältnisse und die gesellschaftlichen Strukturen, auf denen die Lehrpläne benähten.
Ich lernte das Interesse der Ö ffen tlich k eit an G esch ichte, wie es m ir in den Lehrplä­
nen entgegenkam , als ein nach den verschiedensten Seiten hin m anipuliertes kennen.
A ber auch die Frage nach der politischen Einflußnahm e auf den G eschichtsunterricht
war nicht neu. In einem Aufsatz von Erich W eniger im zweiten Jahrgang von G W U ,
1 951, über Didaktik und M ethodik des G eschichtsunterrichts wird dieser Einfluß be­
reits deutlich vorausgesetzt. Ein Problem ist daraus aber erst durch die politische Pola­
risierung der letzten zwanzig Jah re geworden.
8 Material über Schul-Geschichtsbücher ist in jeder Hinsicht am besten zu bekommen im GeorgEckert-Institut, Braunschweig - Bericht darüber im Jahrbuch der Historischen Forschung, 1984.
Auch das Institut für Bildungsmedien, Zeppelinallee 33, 6000 Frankfurt 90, stellt auf W unsch bi­
bliographische Hinweise zur Verfügung.
II. Altertum und Mittelalter
Reinhold Bichler
Neuorientierung in der Alten Geschichte?
1. Ein Rückblick vom ,Zusam m enbruch* auf den ,U m bruch“ und auf
dessen K onsequenzen für die deutsche Althistorie
Das Ja h r 1945 setzte sich im Bewußtsein vieler A ngehöriger des ehem aligen G roß­
deutschen R eich s als Ära des .Zusam m enbruchs“ fest. Da klingen N eubeginn und
W iederaufbau schon an. Und leicht gerät die Erinnerung an damals erlittene E n tb eh ­
rungen zum Garanten jenes m ythischen Bildes von der W iedergeburt einer reinen
kulturell-geistigen Identität aus A sche und Ruinen. D och wie steht es bei genauerem
H insehen um Traditionsbruch und N eubeginn des geistesw issenschaftlichen Betriebs
jener Z eit, die dem Zusam m enbruch folgte? W ie steht es speziell um das damalige
Selbstverständnis unserer D isziplin? W ar es nicht vielm ehr von Tradition und K o n ti­
nuität bestim m t?
W ollen wir diese Frage m it geschärften Sinnen ergründen, so m uß zunächst auch
des .U m bruchs“, m uß des m achtvollen Einsetzens jen er Ära gedacht werden, die 1945
zusamm enbrach. „Säuberungen“, die ihre O pfer in Em igration oder in K onzentra­
tionslager trieben, hatten den Lehrkörper der dem D eutschen R eich zugehörigen U n i­
versitäten beträchtlich verändert. Fünf von 23 O rdinarien für A lte G eschichte im
nachm aligen A ltreich, drei weitere in Ö sterreich und der T schechei, dazu eine Reihe
von D ozenten, Extraordinarien und natürlich Studenten wurden O pfer des rassisch­
politischen Sauberkeitswahns (Tabelle 1).
M it diesen M ännern verband sich in allererster Linie ein großes Stück jen er Tradi­
tion exakter historischer D okum entation, die sich in präziser Q uellenkritik, im Spezia­
listentum auf dem Felde von Epigraphik, N um ism atik und Papyrologie, in prosopographischer Analyse und im Sichten von Realien des R echts- und Verwaltungslebens
m anifestiert1. Das A ufrücken des arischen Nachwuchses brachte hier kaum den ge-
1 Über W erk und Person der betroffenen Gelehrten orientieren vor allem Karl Christ, Römische
Geschichte und deutsche Geschichtswissenschaft (München 1982) 1 6 4 ff. (im folgenden zitiert:
Christ, Geschichtswissenschaft) und Volker Losemann, Nationalsozialismus und Antike. Studien
zur Entwicklung des Faches Alte Geschichte 193 3 -1 9 4 5 (Hamburg 1977 = Historische Perspek­
tiven 7) 3 0 ff. (im folgenden zitiert: Losemann, Nationalsozialismus).
R ein ho ld B ich ler
64
Tabelle 1
Opfer der NS-,Säuberungen'
Kiel
Hamburg
Göttingen
Münster
F. Münzer 1935
Köln
J . Hasebroek 1938
Bonn
Marburg
Gießen
F. Heichelheim 1933
Frankfurt
Würzburg
Erlangen
München
Heidelberg E. Taeubler 1933
Tübingen
Freiburg
Berlin
aP A. Rosenberg / aP E. Stein / PD E. Bickermann 1933
stud. H. G. Pflaum
Greifswald
Rostock
Halle
R. L aqueu r1936
PD C. E. Bosch
Leipzig
Jena
Breslau
Königsberg
W ien
aP E. Groag
Graz
F. Schehl 1938/9
Innsbruck
Prag
V. Ehrenberg / A. Stein 1939
w ünschten E ffekt hochschulpolitischen W andels hin zu neuen - spezifisch nazisti­
schen - Inhalten. V ielm ehr galten für das fachliche Selbstverständnis der allerm eisten
Forscher, also nicht nur jener, die sich angesichts der nationalsozialistischen Aufbruchsstim m ung bewußt zurückhielten, w eiterhin das Spezialistentum und der fachli­
che Standard, wie sie die großen Forschungsschulen des 19. Jahrhunderts entfaltet hat­
ten, als vorbildlich.
G leichw ohl zogen die Säuberungsaktionen nachhaltig wirksame them atische V erän­
derungen für den althistorischen Forschungsbetrieb nach sich. Im w achsenden D i­
lem m a, gegenüber der antisem itischen Propaganda eine jüdisch-deutsche D op p el­
identität verteidigen zu m üssen, hatte sich gerade jüdischen Forschem eine Them atik
angeboten, die sie die eigene Situation kritisch reflektieren ließ: die Lage des antiken
Jud entu m s zwischen A ssim ilation an die hellenistisch-kaiserzeitliche K ultur und
Selbstfindung im Rekurs auf jüdische O rthod oxie2. Es ist ebenso auffällig wie bedau­
erlich, daß die G eschichte des antiken Jud entu m s - sie war im übrigen kein M onopol
2 Einschlägige Arbeiten schufen vor allem Elias Bickermann und Eugen Taeubler. Aber auch R i­
chard Laqueur ist hier unbedingt zu nennen. Vgl. zu ihnen Christ und Losemann loc. cit.
N eu orientierung in der A lten G esch ich te?
65
jüdischer G elehrter! - innerhalb der deutschen A lthistorie m it der N S-Ära fast völlig
aus ihr verschwand und in der Folge zur D om äne von Judaistik und der W issenschaft
vom A lten und Neuen T estam ent geriet.
Eine Zäsur brachte die besagte Säuberungswelle auch auf einem anderen Terrain:
Entwicklungsstand und gesam tgeschichtliche Relevanz der antiken W irtschaft zu er­
forschen, zählte nich t gerade zu den Vorzugsthem en der neben der Grundlagenfor­
schung so stark auf Staatswesen und G eistesleben konzentrierten geschichtsw issen­
schaftlichen Tradition. M it Fritz H eichelheim und Jo h an n es H asebroek verloren nun
just zwei P ersönlichkeiten ihren Lehrstuhl, die sich gerade auf diesem so gem iedenen
Felde m it recht konträren, in ihrer Radikalität stim ulierenden W erken einen Namen
gem acht hatten. Daß ihr Einfluß auch nach 1945 ziem lich gering blieb, sollte zu den­
ken geben.
A uch an Breite und Vielfalt ihres aktuellen politischen Spektrum s und ihrer histori­
schen K ategorien erlitt die deutsche A lthistorie durch die N S-Säuberungen schm erzli­
che E inbußen. Couragiert auch unter widrigsten U m ständen verfochtene jüdische
Selbstbehauptung wie bei Eugen Taeubler, E ngagem ent für den Sozialism us wie bei
A rthur Rosenberg (der von 1924 bis 1927 sogar als kom m unistischer A bgeordneter
im D eutschen Reichstag wirkte), glühender Pazifismus wie bei Ernst Stein, ... solche
Phänom ene zählten gewiß nicht zum Standardbild des deutschen A lthistorikers, in
das sich der überzeugte D eutschnationale Richard Laqueur und der liberale G roßbür­
ger V ictor Ehrenberg, beide genauso zur Em igration gezwungen wie die zuvor g e ­
nannten G elehrten, viel besser gefügt hatten. - D iese Verengung des weltanschauli­
chen M einungspotentials innerhalb der deutschen A lthistorie wirkte sich noch tief in
die N achkriegszeit hinein aus. Ihr haben wir uns nun endgültig zuzuwenden, wobei
sich die Frage stellt, ob der ,Z u sam m enbru ch“ für die G eschichte unserer Disziplin
überhaupt jene tiefe Zäsur darstellt, die wir vielleicht erwarten.
2. Die Auswirkung des ,Zusam m enbruchs1 und die Neuformation der
deutschen Althistorie nach 19 4 5 , vor allem in der Bundesrepublik,
dargestellt unter prosopographischem Aspekt
Zunächst soll uns der Eindruck leiten, den eine Analyse der Personalsituation auf
den althistorischen Lehrstühlen der Jah re nach 1945 verm itteln kann. E r ist aufschluß­
reich genug (vgl. Tabelle 2).
D er Raum , in dem sich deutsche A ltertum sw issenschaft breitgem acht hatte, ver­
engte sich drastisch. A llein schon durch die K riegsfolgen bedingt, wurden die traditio­
nellen Lehrstühle in Breslau und K önigsberg wie an der D eutschen Universität in
Prag obsolet. Alfred H euß und K u rt Stade waren in den erstgenannten Fällen die B e­
troffenen. In Prag hatte sich die Spur von W illy H üttl schon vor 1945 verloren3. Die
3 Losemann, Nationalsozialismus, 210, zitiert als letzte Quelle das Prager Vorlesungsverzeichnis
für das W intersem ester 1942/43, S. 43.
66
Tabelle 2:
R ein hoid B ich ler
Lehrstuhlverlust und Traditionsbruch nach 1945
K iel
Hamburg
Göttingen
Münster
Köln
Bonn
Marburg
Gießen
1 9 4 1 -1 9 4 6 Vakanz nach P. L. Strack (gefallen); Nachfolge H. Nesselhauf
Konstanz durch H. Rudolph
Konstanz durch U. Kahrstedt
Konstanz durch H. E. Stier
Konstanz durch L. W ickert
Konstanz durch F. Oertel
Entnazifizierungsprobleme 1945/49 für F. Taeger, Ordinarius 193 5 -1 9 6 0
F. Hampl 1 9 4 2 -1 9 4 5 (nur nominell); Vakanz 1 9 4 5 -1 9 6 2 ; Neubesetzung: W. Hoffmann
Frankfurt
Konstanz durch M. Geizer
Würzburg
Konstanz durch W . Ensslin
Erlangen
Konstanz durch J. Straub
München
Lehrstuhlverlust für H. Berve; Vakanz 1 9 4 6 -1 9 4 8 ; Nachfolge: A. Schenk v. Stauffenberg
Heidelberg Konstanz durch H. Schaefer
Tübingen
Vakanz 1 9 4 4 -1 9 4 6 durch Berufung v. J . Vogt nach Freiburg; Besetzung durch
J . Vogt 1 9 4 0 -1 9 4 4 und 194 6 -1 9 6 2
Freiburg
1944/46 J . Vogt; Vakanz bis 1948; Nachfolge H. Nesselhauf
Berlin
Lehrstuhlverlust für W . W eber (1932-1945)
Neubesetzung FU Berlin: F. Altheim 1950-1965
Neubesetzung Humboldt-Universität: E. Hohl 1 949-1953
Greifswald Lehrstuhlverlust für H. Volkmann (1937-1941/ 5) - Emigration 1949
Rostock
Kontinuität durch E. Hohl 1 9 1 9 -1 9 4 9 ; Vakanz durch dessen Ruf nach Berlin
Halle
Kontinuität durch F. Altheim 1 9 3 8 -1 9 5 0 ; 1950 Emigration nach W est-Berlin;
kommissarische Leitung durch W. Peek 1 951-1958
Leipzig
Vakanz nach H. Berve (1927 -1 9 4 3 ); Nachfolge W. Schubart 1 946-1952
Kontinuität durch a.P. O. Th. Schulz (1921 -1 9 5 3 ); Emigration PD Thierfelder 1958
Jen a
Lehrstuhlverlust für H. Bengtson (1942 -1 9 4 5 ); Nachfolge V. Burr 1946/47 - Em i­
gration 1947 nach Tübingen
Breslau
Lehrstuhlverlust für A. Heuß (1941-1945)
Königsberg Lehrstuhlverlust für K. Stade (1941-1945)
Posen
Lehrstuhlverlust für F. Vittinghoff (1942-1945)
Straßburg
Lehrstuhlverlust; A. Schenk v. Stauffenberg 1 9 4 2 -1 9 4 4 ; Vakanz 1944/45
Prag
Lehrstuhlverlust (2 Lehrkanzeln); W . Hüttl a.P. 1941/43
W ien
Kontinuität durch J . Keil 1 9 3 5 -1 9 5 0 ; Nachfolge F. Schachermeyr
Lehrstuhlverlust für R. Egger (1929 -1 9 4 5 ); Nachfolge A. Betz ab 1948 (bzw. 46)
Graz
Lehrstuhlverlust für F. Schachermeyr (1940 -1 9 4 5 ); Nachfolge E. Swoboda ab 1946
Lehrstuhlverlust für B. Saria (1942-1945/ 6); Lehrkanzel II kassiert
Innsbruck
Lehrstuhlverlust für F. Miltner (1933 -1 9 4 5 ); Nachfolge F. Hampl ab 1947
neuerrichtete Professur in Posen, die 1943 m it Friedrich V ittinghoff besetzt wurde,
blieb Episode. Und die nach dem Frankreichfeldzug 1941 wieder etablierte deutsche
Straßburger Lehrkanzel war schon vakant, seitdem der Ordinarius, A lexander Schenk
Graf von Stauffenberg, der Bruder des W iderstandshelden vom 20 . Ju li, seinen L ei­
densweg durch Gefängnisse und K onzentrationslager gehen m ußte4. Daß in all den
4 Paul L Strack, der zunächst den Ruf auf die Straßburger Lehrkanzel erhalten hatte, war bereits
am 4 .8 .1 9 4 1 gefallen. Vgl. den Nachruf von Fritz Taeger, in: Gnomon 18 (1942) 5 8 f. 1942 über­
nahm Schenk v. Stauffenberg diese Stelle. Zu dessen Schicksal vgl. u.a. Siegfried Lauffer, in:
Gnomon 36 (1964) 8 4 5 -8 4 7 .
N eu orientierung in der A lten G esch ich te?
67
g en an n ten U niversitätsorten die deutsche althistorische Tradition abriß, braucht nicht
betont zu werden.
K om plizierter nim m t sich die Situation auf dem G ebiete der S B Z respektive der
nachmaligen D D R aus. H ier brachen 1945 nicht alle Fäden der K ontinuität. Zwar
verloren Hans V olkm ann in Greifswald und H erm ann Bengtson in Je n a ihre Position,
die schon durch die K riegszeit in M itleidenschaft gezogen gewesen war. A uch blieb
die anschließende W ahrnehm ung des Je n a e r Lehrstuhls durch V iktor Burr ein kurzes,
nur von 1946 bis 1947 währendes N achspiel5. H ingegen bürgte in R ostock Ernst
Hohl die erste N achkriegszeit hindurch für K ontinu ität in Lehre und Forschung6. Er
folgte aber bereits 1950 dem Ruf auf die neueröffnete H um boldt-U niversität im O sten
Berlins und wirkte dort auch bis zu seiner Em eritierung i.J. 1953. Franz A ltheim
lehrte in Halle nach der N eueröffnung der Universität i.J. 1946 zunächst weiter, ver­
ließ aber die Stadt dann, um sich im W esten Berlins der Freien Universität zuzuwen­
den, wo er bis 1965 das althistorische O rdinariat bekleidete. M it W ern er Peek, der seit
1951 den gräzistischen Lehrstuhl in Halle innehatte, leitete freilich weiterhin ein R e­
präsentant der alten Ära wenigstens kom m issarisch die A bteilung für A lte G eschichte
in Halle, und zwar bis 1958. Ä hnlich stand auch in O stberlin im Bereiche der Akade­
mie die althistorische Forschung unter der Leitung von Philologen bürgerlicher* Pro­
venienz, während die althistorische U niversitätstradition in O stberlin nach Hohls
Em eritierung für längere Z eit an Bedeutung einbüßte7. In Leipzig schließlich, wo H el­
mut Berves Lehrstuhl seit 1943, seit Berves Abgang nach M ünchen, leerstand, wahrte
der altgediente außerordentliche Professor O tto T heod or Schulz bis zu seiner E m eri­
tierung i.J. 1953 die Lehrkontinuität. A uch der Papyrologe W ilh elm Schubart, der
nach der W iedereröffnung der U niversität bis zur Em eritierung 1952 das Ordinariat
für A lte G esch ichte ausfüllte, setzte jene Tradition sachlich-gediegener A rbeit fort, die
5 Bei Alhrecht Timm, Das Fach Geschichte in Forschung und Lehre in der SB Z seit 1945 (Bonn
31961) 1 3 5 -1 3 7 (tabellarische Übersicht) figuriert die Tätigkeit Burrs in Jena nicht. Vgl. hingegen
Wolfgang Weber, Priester der Klio. Historisch-sozialwissenschaftliche Studien zur Herkunft und
Karriere deutscher Historiker und zur Geschichte der Geschichtswissenschaft 180 0 -1 9 7 0
(Frankfurt/M.-Bem-New York 1984 = Europäische Hochschulschriften R 3, Bd. 216) Tabelle S.
572 (zitiert im folgenden: Weber, Priester der Klio). Zu Burrs Werdegang generell siehe den
Nachruf von Hans Herter, in: Gnomon 48 (1976) 3 1 7 -3 2 0 .
6 Eine Lehrtätigkeit auf der Professur zu Jena durch Em st Hohl figuriert bei Weber, Priester der
Klio, 557 für 1 9 4 7 -1 9 4 9 ; dementsprechend läßt W eber Hohls Rostocker Lehrtätigkeit 1947 en­
den. Vgl. auch Wolfgang Weber, Biographisches Lexikon zur Geschichtswissenschaft in Deutsch­
land, Österreich und der Schweiz. Die Lehrstuhlinhaber für Geschichte von den Anfängen des
Faches bis 1970 (Frankfurt/M .-Bem-New York 1984) 255 (zitiert im folgenden: Weber, Lexikon).
Vgl. dagegen die Tabelle bei Timm, Geschichte in der SB Z , 137, der seine Rostocker Jahre bis
1949 ansetzt. Dem entspricht die Personalnachricht im Gnomon 21 (1949) 186; vgl. auch den
Nachruf bei Alatthias Geizer, in: Gnomon 29 (1957) 3 9 8 -4 0 0 . Eine analoge Information danke
ich dem Rostocker Altphilologen W erner Krenkel.
Vgl. dazu Alexander Demandt, Alte Geschichte an der Berliner Universität 18 1 0 -1 9 6 0 , in: Ber­
lin und die Antike, hrsg. v. W. Arenhövel - C. Schreiber (Berlin 1979) 6 9 -9 7 , 93 f.
R ein ho ld Bich ler
68
auch im offiziellen G ed enken der D D R -K o lle g e n als wertvolle Tradition hum anisti­
scher bürgerlicher W issenschaft geschätzt wurde8.
D er tiefe Riß im Bilde der deutschen A lthistorie, wie überhaupt der deutschen G e i­
steswissenschaft, der den Spuren des Eisernen Vorhangs folgte, ließ sich also von den
Z eitgenossen der ersten N achkriegsjahre bei weitem noch nich t so klar w ahrnehm en,
wie es uns die Retrospektive suggeriert. V ielm ehr ließ sich eine Zeitlang durchaus
noch die H offnung nähren, es käm e nich t zur fundam entalen A bspaltung zweier deut­
scher W issenschaftsauffassungen und im weiteren zweier G rundform ationen des h i­
storischen und geschichtsw issenschaftlichen Bewußtseins. D och die w eltpolitische
Entw icklung signalisierte bald die künftigen Tendenzen zur Separation. G egen die
M itte der 50er Jah re konstatieren wir dann in der D D R die entscheidende Zäsur der
universitären Lehr- und Forschungsusancen. Sozialistisch geschulter Nachwuchs for­
m ierte nun zunehm end den G rundstock für eine Generationsablösung. M it ihr setzte
ein A bkoppelungsprozeß vom historisch-politischen Bewußtsein der jungen Bundes­
republik ein, der zugleich in einer m ehrfach erfolgten U m strukturierung des Universitäts- und Forschungsbetriebs seine V erankerung fand9. Daß seit dieser Z eit die großen
politischen K lim aschw ankungen von E iszeit und Tauwetter, von K altem K rieg, fried­
licher K oexistenz und Entspannung auch das K ooperationsverhältnis innerhalb der
deutschsprachigen Forschung in O st und W est nachdrücklich bestim m en, m ußte ja
n ich t nur die A lthistorie erfahren.
Fortan bildete das Verhältnis zur D D R ein nicht zu vernachlässigendes Stü ck Iden­
tität im Bewußtsein der bundesrepublikanischen G eschichtsw issenschaft, deren füh­
rende V ertreter sich nach wie vor aus der alten Garde rekrutierten. D ie ersten zwei
N achkriegsdezennien hindurch prägten vor 1945 habilitierte und zum eist auf L ehr­
kanzeln tätige Forscher die Lehre und den W issenschaftsbetrieb. Z u ihnen stieß das
Gros der aus dem O sten vertriebenen oder geflüchteten K ollegen, die nach nicht g e ­
rade fetten Jah ren in Schul- und Bibliotheksdienst als H onorar- und außerplanmäßige
Professoren sukzessive wieder in den O rdinarienstand, nun der Bundesrepublik, in te­
griert wurden. Von einem G enerationsw echsel kann erst ab der zweiten H älfte der
6 0 e r Jah re gesprochen werden.
8 Vgl. zu den Verhältnissen in Halle Heinz Scbulz-Falkenthal, Zur Entwicklung des Faches Alte
G eschichte an der Universität Halle, in: W Z Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 10
(1961) 9 1 5 -9 2 6 ; zu den Verhältnissen in Leipzig Gerhard Schrot, Forschung und Lehre zur Alten
G eschichte an der Universität Leipzig, in: W Z Karl-Marx-Universität Leipzig 8 (1958/9)
3 2 3 -3 3 7 . - Werner Mägdefrau, Zum Kampf um eine neue Geschichtswissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, in: W Z Friedrich-Schiller-Universität Jena 1 (1966) 6 3 -7 7 , gibt in
unserem Zusammenhang nichts her.
9 Vgl. zur weiteren Entwicklung der D D R-A lthistorie besonders Christ, Geschichtswissenschaft,
3 1 1 -3 3 0 , der hier m ehr gibt als nur einen forschungsgeschichtlichen Abriß, die Röm ische G e­
schichte in der D D R betreffend. - Eine Auflistung von Althistorikem , die aus der SB Z bzw.
D D R emigrierten, bietet Christ, Geschichte des Altertums, Wissenschaftsgeschichte und Ideolo­
giekritik, in: Christ, Röm ische Geschichte und Wissenschaftsgeschichte III: Wissenschaftsge­
schichte (Darmstadt 1983) 2 2 8 -2 4 3 , insb. 241.
N eu orientierung in der A lten G esch ich te?
69
A n dieser bereits durch die betreffenden Personen garantierten K ontinuität althi­
storischer Forschung und Lehre hatten auch die in ihren Standards ohnehin so frag­
würdigen Entnazifizierungsverfahren nichts geändert, betrafen sie doch nur sehr we­
nige G elehrte längerfristig10.
D er Berliner Ordinarius W ilh elm W eber, ein engagierter V erfechter des N ationalso­
zialismus, dessen begeisternde W ertschätzung charism atischer Führungspersönlich­
keiten in der G esch ichte ihn selbst wie nicht wenige seiner so zahlreichen H örer auf
den Kurs des Führers eingeschw oren hatte, durfte seine Professur nach 1945 nicht
m ehr ausüben. Vergeblich hoffte er bis zu seinem Tode i.J. 1948 auf neue Berufungs­
ch an cen 11. Für längere Jah re verlor auch H elm ut Berve, zuletzt in M ünchen als N ach­
folger seines Lehrers W alter O tto wirksam, seine Lehrposition. 1954 führte ihn aber
dann der Ruf nach Erlangen zu einer zweiten Blütephase seiner Lehr- und For­
schungstätigkeit. Mit W eber zählte er zu den prom inenten A lthistorikern im national­
sozialistischen Deutschland und ließ es nich t an Bekenntnisw illen feh len 12. Er kam
auch gerade m it seinem Sparta-Bild den Erwartungen des totalitären Staates ganz be­
sonders en tg eg en 13, während er dem Regim e hochschulpolitisch keineswegs fügsam
genug d ien te14. A uch der W eb er-Sch ü ler Fritz Taeger in Marburg hatte einige Jahre
10 Im Blick auf die personelle Situation nach 1945 bietet demgegenüber Österreich den A n­
schein einer besonders nachhaltigen .Entnazifizierung'. Jedenfalls verloren vier der fünf Inhaber
einschlägiger Ordinariate ihre Stelle. Und nur Fritz Schachermeyr, in seinen Schriften wohl bei
weitem der radikalste Verfechter nationalsozialistischer Rassenlehre unter den Althistorikern des
Großdeutschen Reichs, gewann nach immerhin fast sieben Jahren, die er rückschauend als Gna­
denjahre der Armut und der Isolation pries, wieder einen Lehrstuhl, u.z. durch die Nachfolge J o ­
sef Keils in W ien. Vgl. dazu Fritz Schachermeyr, Ein Leben zwischen Wissenschaft und Kunst,
hrsg. v. G. Dobesch - H. Schacbermeyr^fJien-YAin-Giaz 1984) 169 ff-, insb. 172 und 177 ff. - R u­
dolf Egger in W ien und Franz Miltner in Innsbruck mußten hingegen auf ihre Ordinariate für
immer verzichten, konnten sich aber als Ausgräber im Dienste des ÖAI in Österreich und in
Ephesos bleibende Meriten schaffen. Balduin Saria schließlich, der von 1942 weg das Grazer O r­
dinariat für Röm ische Altertumskunde und Epigraphik bekleidet hatte und 1946 in den Ruhe­
stand versetzt wurde, forschte und publizierte noch geraume Zeit, indes das Ordinariat aufgelas­
sen wurde. - W eder R. Egger, der von 1942 -1 9 4 5 den W iener Lehrstuhl für Römische G e­
schichte und Altertumskunde bekleidete, noch B. Saria finden bei Losemann, Nationalsozialis­
mus, Erwähnung, was bedauerlich bleibt. Vgl. indes Weber, Lexikon, 1 2 0 f. und 494 f.; Ingomar
Weiler, Der Werdegang des Instituts für Geschichte des Altertums und Altertumskunde an der
Karl-Franzens-Universität in Graz, in: Zeitschrift des historischen Vereins für Steiermark 58
(1967) 1 3 -2 1 ; G. Dobesch, Alte Geschichte an der Universität W ien seit 1876, in: Hundert Jahre
Institut für Alte Geschichte, Archäologie und Epigraphik der Universität Wien 1 876-1976
(Wien 1977 im Selbstverlag des Instituts) 1 4 -2 3 ; Christoph Ulf, Franz Miltner, in: 100 Jahre Alte
Geschichte in Innsbruck. Franz Hampt zum 75. Geburtstag, hrsg. v. R. Bichler (Innsbruck
1985 = Forschungen zur Innsbrucker Universitätsgeschichte 13) 4 7 -5 9 .
11 Vgl. dazu Christ, Geschichtswissenschaft, 225.
12 Vgl. besonders Volker Losemann, Programme deutscher Althistoriker in der Machtergreifungs­
phase, in: Quaderni di storia 11 (1980) 3 5 -1 0 5 , insb. 63 ff.
13 Diesen Aspekt erörtert Karl Christ, Spartaforschung und Spartabild. Eine Einleitung (1983),
in: Sparta, hrsg. v. K. Christ (Darmstadt 1986 = Wege der Forschung 622) 1-72, insb. 46 ff.
14 Das stellt Alfred H euß in seinem Nachruf auf den Lehrer für die Historische Zeitschrift her­
aus: HZ 230 (1980) 7 7 9 -7 8 7 .
R ein hold Bich ler
70
m it A nfechtungen seiner Position zu käm p fen 15. Daß gerade die - einander übrigens
nicht sehr verbundenen - Schulen W ebers und Berves zu den Eckpfeilern der K o n ti­
nuität der deutschen A lthistorie in der N achkriegs- und Aufbauära zählen, stellt einen
signifikanten A spekt unserer prosopographischen Analyse dar. Zudem %vurde Berve
das G lück einer zweiten Schulbildung in den 50er Jah ren zuteil, was diesen Effekt
noch verstärkte (Tabelle 4).
K o ntinuität dom iniert überhaupt das Bild, das die Besetzung althistorischer L ehr­
stühle in der nachm aligen Bundesrepublik bietet. M it Hans Rudolph in Ham burg, U l­
rich K ahrstedt in G öttingen, Hans E rich Stier in M ünster, Lothar W ickert in K öln,
Friedrich O ertel in Bonn, Fritz Taeger in Marburg, M atthias G eizer in Frankfurt, W il­
helm Ensslin in W ürzburg, Jo h an n es Straub in Erlangen und Hans Schaefer in H ei­
delberg tritt diese nur in einzelnen Fällen durch Phasen der .Entnazifizierung' gestörte
K o ntinuität sehr eindrucksvoll vor A ugen, betrifft sie doch im m erhin 11 von 15 Lehr­
stühlen, Berlin nicht eingerechnet (vgl. Tabelle 3).
M achen wir im Blick auf die Bruchlinien in der Lehrtradition eine G egenprobe, so
bestätigt sich der gew onnene Eindruck. Seh r kurz blieb die Vakanz des Tübinger O r­
dinariats. Jo sep h Vogt, der 1944 dem Ruf nach Freiburg gefolgt war, kehrte bereits
1946 an seine Stam m universität zurück und wirkte dort über seine Em eritierung i.J.
1962 hinaus noch lange Z eit m it großer N achhaltigkeit. In Freiburg kam - nach einer
Phase der Supplierung durch K . F. Stroheker - 1948 m it H erbert Nesselhauf ein G e ­
lehrter zum Zug, der in der N S-Ä ra als w eltanschaulich zu distanziert keine Chance
auf eine Professur h a tte 16. Hans Ulrich Instinsky, für den Analoges g ilt17, war im sel­
ben Ja h r Ordinarius in M ainz geworden. D och zurück zu Nesselhauf. Er hatte bereits
1946 den K ieler Lehrstuhl bekom m en, der seit dem Tode von Paul L. Strack i.J. 1941
verwaist war, so daß auch an D eutschlands nördlichster Universität wieder an die alth i­
storische Tradition der Vorkriegsära angeschlossen werden konnte. 1949 folgte Alfred
Heuß, der damit den Verlust von Breslau w ettm achen konnte. In M ünchen schließlich
konnte A lexander S ch en k Graf v. Stauffenberg 1948 auf Berves Lehrstuhl eine neue
Ara einleiten, während Berve erst im Ja h re 1954 m it Erlangen entschädigt wurde. So
blieb auf längere Frist gesehen nur eine tiefere Zäsur im althistorischen U niversitätsle­
ben der Bundesrepublik bestehen: In G ießen wurde die ehrwürdige geistesw issen­
schaftliche Tradition rüde gekappt. Erst 1962 konnte m it W ilh elm H offm ann ein
Berve-Schüler der alten Garde die w iedererrichtete Professur übernehm en. Sein sei­
nerzeitiger K ollege als Berveschüler, Franz H am pl, der - kriegsbedingt nur nom inell zuletzt von 1 9 4 1 -1 9 4 5 den G ießener Lehrstuhl innehatte, war bereits 1946 nach
15 Sein Lehrstuhl wurde von seinen Gegnern bereits Alfred Heuß zugedacht. Doch dieser lehnte
den Ruf in kollegialer Solidarität ab. Erst mit einer förmlichen Neuberufung Taegers im Jahre
1949 (!) wurde der Fall .bereinigt“. Dies schildert Karl Christ, Fritz Taeger 1 8 9 4 -1 9 6 0 (1977), in:
Christ, Römische Geschichte und Wissenschaftsgeschichte III: Wissenschaftsgeschichte (Darm­
stadt 1983) 128-136.
16 Vgl. Losemann, Nationalsozialismus, 82 ff.; Christ, Geschichtswissenschaft, 257 f.
17 Vgl. Losemann, Nationalsozialismus, 85; Christ, Geschichtswissenschaft, 256f.
Neuorientierung in der Alten Geschichte?
Tabelle 3
Stichjahr
71
Kontinuität in der Bundesrepublik
1945
S tich jah r
F. Altheim
Berlin (FU)
Kiel
Hamburg
Göttingen
Münster
Köln
Bonn
Marburg
Gießen
Frankfurt
Würzburg
Erlangen
München
Heidelberg
Tübingen
Freiburg
1955
H. Rudolph
U. Kahrstedt
H. E. Stier
L. W ickert
F. Oertel
F. Taeger
1939-1974
1921-1952
1935 -1 9 7 0
1939 -1 9 6 6
1929-1952
1935 -1 9 6 0
M. Geizer
W. Ensslin
J. Straub
1919-1955
1 943-1952
1 944-1948
H. Schaefer
1941-1961
H. Rudolph
A. Heuß (seit 1955)
H. E. Stier
L. W ickert
J . Straub (seit 1953)
F. Taeger
M. Geizer (H. Strasburger)
H. Bengtson (seit 1952)
H. Berve (seit 1954)
A. Schenk v. Stauffenberg (seit 48)
H. Schaefer
J . Vogt (1 9 4 0 -4 4 und seit 46)
H. Nesselhauf (seit 1948)
Status weiterer vor 1945 habilitierte r Althistoriker zum Stichjahr 1955
a) in der Bundesrepublik
V. Burr
W. Hoffmann
H. U. Instinsky
E. Kirsten
K. Stade
K.-F. Stroheker
H. Volkmann
Hon.Prof.
apl.Prof.
o.Prof.
apl.Prof.
Gastprof.
apl.Prof.
Hon.Prof.
Bonn
Hamburg
Mainz
Bonn
Münster
Tübingen
Köln
(1968 o.P.
(1962 o.P.
(ab 1948)
(1965 o.P.
(1959 o.P.
(1961 o.P.
(1955 o.P.
o.Prof.
o.Prof.
o.Prof.
o.Prof.
Innsbruck
Wien
Wien
Graz
(ab
(ab
(ab
(ab
Graz)
Gießen)
Bonn, 1970 Wien)
Münster)
Tübingen)
Köln)
b) in Österreich
F. Hampl
F. Schachermeyr
A. Betz
E. Swoboda
1947; o.Prof. Mainz 1946/47)
1952)
1948; tit.a.o. 1946)
1951; a.o. 1946)
Mainz berufen w ord en18. Sch on 1947 folgte der Ruf nach Innsbruck, der Stadt von
Hampls künftigem jahrzehntelangem W irken.
So
zeichnet sich im m er deutlicher das sehr bedeutsam e Faktum ab, daß bis tief in
die 60er Jah re die althistorische Lehre von jenen Persönlichkeiten dom iniert wurde,
die sich bereits vor 1945 habilitiert hatten und vielfach bereits damals auf Lehrstühlen
gewirkt hatten. N och schärfere K onturen gewinnt das Bild, wenn die Integration jener
Gelehrten in den Universitätsbetrieb der Bundesrepublik m it ins K alkül kom m t, die
von den Lehrstuhlverlusten im G ebiete jenseits des Eisernen Vorhangs betroffen wa18 Allgemein zu Hampl: Ingomar Weiler, Franz Hampl, in: 100 Jahre Alte Geschichte in Inns­
bruck (wie Anm. 10) 6 1 - 7 4 ; speziell zu Gießen: Hans Georg Gundel, Die Geschichtswissenschaft
an der Universität Gießen im 20. Jahrhundert, in: Ludwigs-Universität - Justus-Liebig-H ochschule 160 7 -1 9 5 7 . Festschrift zur 350-Jahrfeier (Gießen 1975) 2 2 2 -2 5 2 , insb. 242.
Tabelle 4
G en eration sab lösu n g und Sch u lb ild u n g B R D 1 9 5 0 - 1 9 7 0
1950
Aachen TH
Berlin FU
Berlin TU
Bochum
Bonn
Erlangen
Frankfurt
Freiburg
Gießen
Göttingen
Hamburg
Heidelberg
Kiel
Köln
Konstanz
Mainz
Mannheim
Marburg
München
Münster
Regensburg
Saarbrücken
Tübingen
Würzburg
1965
H. D. Mever
J. Deininger'
• K. E. Petzold (1970 Tübingen)
F. K iech le+ - G. Alföldv'
F. K iechle*
1. Straub* - H. H. Schm itt
1. Straub' - H. H. Schm itt
R. F. W erner
F. Vittinghoff
I. Bleicken+ - K. K raft+
F. G. Maier' - K . Kraft
W . Schm itthenner+ - H. Strasburger+
• H. Nesselhauf - H. Strasburger+
H.-G. Gundel"
W . Hoffm ann*
A. H euß+
• A. Heuß (ab 65)+
H. Rudolph* - P. Herrmann +
H. Rudolph+ - [. B !eicken+
F. G schnitzer+ - Ch. Habicht (ab 65)+ F. Gschnitzer - Ch. Habicht*
• A. Heuß (bis 65)+
H. Braunert
Ch. Meier+ - F. Vittinghoff
L. W ickert - H. Volkmann
• H. Nesselhauf (ab 65)
H. Nesselhauf
H. U. Instinsky
H. U. Instinsky
H. Chantraine
K. Christ* - D. K ienast+
K. Christ (ab 65)'
H. Bengtson - S. Lauffer
S. Lauffer
H. E. Stier - R. Altheim-Stiehl
H. E. Stier - K. Stade
A. Lippold'
W . Schm itthenner*
P. R. Franke+
® K. E. Petzold - K.-F. Stroheker*
H. Bengtson - K.-F. Stroheker*
D. Timpe
D. Timpe
_
F. Altheim
_
F. Oertel
J. Straub'
M. Geizer
H. Nesselhauf
_
U. Kahrstedt
H. Rudolph +
H. Schaefer+
A. H euß+
L. W ickert
_
F. Taeger*
A. Schenk v. Stauffenberg*
H. E. Stier
J- Vogt*
W . Enßlin
1970
F. Altheim
Schüler bzw. Enkelschüler von W. W eber (via Dissertation und/oder Habilitation)
+
Schüler bzw. Enkelschüler von H. Berve (via Dissertation und/oder Habilitation)
Name Habilitation und Professur nach 1945
• Name Doppelnennung
N eu orientierung in der A lten G esch ich te?
73
ren. Sie hatten unterschiedlich lange Z eiten der Ü berbrückung im Schuldienst wie
auch im Bibliotheksdienst und dann als H onorar- und Gastprofessoren oder als außer­
ordentliche Professoren zu bewältigen, fanden aber alle auf neue Lehrstühle!
Mit Herm ann Bengtson, Alfred H euß, Friedrich V ittinghoff und Hans Volkm ann
greifen wir dabei N am en, die aus dem althistorischen Betrieb der bundesrepublikani­
schen W iederaufbauzeit kaum wegzudenken sind und die eine R eihe von U niversitä­
ten durchliefen, ehe sie in G öttingen, K ö ln und M ünchen ihre endgültigen W irku ngs­
stätten erreichten. Aus dem K reis der vor 1945 habilitierten A lthistoriker fanden V ik ­
tor Burr, W ilh elm H offm ann, E m st K irsten, K urt Stade und Karl Friedrich Stroheker
wohl erst in relativ späten Phasen ihrer w issenschaftlichen Laufbahn den W eg auf O r­
dinariate in der Bundesrepublik (und Ö sterreich)19. D och ihre N am en runden das Bild
ab: Die ein bis zwei Jah rzeh n te vor 1945 H abilitierten bestim m en die althistorische
Tradition der Bundesrepublik in den ersten zwei N achkriegsdezennien und verkör­
pern bereits rein personell ein im ponierendes Ausm aß an K ontinuität (vgl. Tabelle 3).
Die schwierigen w irtschaftlichen Verhältnisse der Nachkriegszeit, das durch die
O st-E m ig ra n ten dichte A ngebot an universitären Lehrkräften und die selektive W irk ­
samkeit der H abilitationsnorm 20 verstärkten den soeben beschriebenen E ffekt noch
drastisch: D er Zuzug - habilitierter - Nachwuchskräfte blieb im ersten N achkriegsdezennium, auch w en n wir Ö sterreich und die deutschsprachige Schweiz m it in Betracht
ziehen, äußerst gering, wurde dann in der Z eit von 1955 bis I 9 6 0 um ein M ehrfaches
stärker und begann seit den 60er Jahren in ein galoppierendes T em po überzugehen21.
19 Über die auch nach 1945 noch weiter bestehenden personellen Verflechtungen zwischen
Deutschland, respektive der Bundesrepublik - für die D D R gilt ja Analoges nicht - und Öster­
reich, soweit sie Ordinarien der Alten Geschichte betreffen, orientiert ein kurzer Exkurs im A n­
hang. Auch die in dieser Studie leider recht vernachlässigten Beziehungen zur deutschsprachigen
Schweiz werden dort thematisiert.
20 Die Habilitationsnorm stellt einen wesentlichen Beitrag zu jener engen Lehrer-Schüler-Bindung dar, die das deutsche Universitätswesen bis hinein in die späten 60er Jahre prägte. Viel­
leicht wirkt die These überzogen, die Wolfgang W eber über die Auswirkungen dieser LehrerSchüler-Bindung in unserem Fachbereich aufstellte, aber sie sollte nicht ungehört verhallen: „Es
darf also als hinreichend gesichert gelten: die traditionelle deutsche Auffassung von Geschichts­
wissenschaft, die üblicherweise mit dem Begriff Historismus umschrieben wird, hat sich unter
den deutschen Historikern nicht oder zumindest nicht ausschließlich kraft ihrer überlegenen
wissenschaftlichen Qualitäten und schon gar nicht aufgrund ihrer angeblichen politischen Funk­
tion durchgesetzt, sondern vornehmlich deshalb, weil ihre Begründer es verstanden, eine treue
Gefolgschaft heranzuziehen und fortlaufend mit den wichtigsten Positionen des Faches zu be­
trauen, so daß Außenseiter von vornherein ausgeschlossen wurden oder isoliert blieben“; iVeber,
Priester der Klio, 355.
Zur Verdeutlichung nur ein paar Feststellungen! Nach meinen Unterlagen - Personalnach­
richten im Gnomon und bei IVeber, Lexikon - habilitierten sich im Bereich der Bundesrepublik
im ersten Nachkriegsjahrzehnt, d.h. von 1 9 45-1955, lediglich sechs Forscher für Alte G e­
schichte:. H. Strasburger (1 9 0 9 -1 9 8 5 ) - Heidelberg 1946; S. Lauffer (1911-1986), Dr. habil. 1945
- München 1949; F. C. D öm er (Jg. 1911) - Münster 1949; G. Walser (Jg. 1917) - Freiburg i.B.
1952; K. Kraft (1 9 2 0 -1 9 7 0 ) - München 1955; R. Altheim-Stiehl 0g. 1926) - Berlin 1955. - Für
den gleichen Zeitraum konnte ich in der D D R zwei Habilitationen eruieren: H. J. Diesner Greifswald 1953; H. Thierfelder - Leipzig 1954; Thierfelder wurde 1961 in Münster für Althistonsche Hilfswissenschaften umhabilitiert. Dazu kommen im weiteren Umfeld der Alten Ge-
R ein hold B ich ler
74
D ie drastische Lehrstuhlverm ehrung erm öglichte diesen letztgenannten Effekt, ¡n
dessen Folge sich eine tiefgreifende Generationsablösung vollzog; ob als A ntw ort auf
die H ochschulkrise der späten 60er Jah re oder als ihr Begleitphänom en, bleibe dahin­
gestellt. Jedenfalls stellt sich der Lehrkörper im Ordinarienrang, der im Stich jah r 1955
noch zu 100 % von vor 1945 habilitierten K räften der alten Garde beschickt war, be­
reits 10 Jah re später als deutlich im W andel begriffen und im Stichjah r 1970 als akade­
m isch, aber noch nich t unbedingt physisch weitgehend verjüngt dar: das soll heißen,
daß die G eneration derer, denen erst die N achkriegsjahre G elegenheit zur wissen­
schaftlichen Laufbahn geboten hatten, am Z en it ihrer Karriere stand, während die to­
tale personelle V erjüngung des althistorischen Lehrkörpers einer noch späteren Phase
angehört. D am it bahnte sich der unverm eidliche Generationsw echsel auf den althisto­
rischen Lehrstühlen genau in jener Phase der bundesrepublikanischen G esch ichte an,
in der die revolutionär anm utende 68 er Bewegung die öffentliche Diskussion des g e ­
sellschaftlich-kulturellen K lim as prägte22.
3. Z u m Geschichtsbild der Alten Garde unseres Fachs in der Z eit des
Wiederaufbaus
U nsere prosopographische U m schau gestattet zwar keine definitive Aussage über
die
Position
der althistorischen
Ordinarien
im
politisch-w eltanschaulichen
Be­
wußtseinsspektrum der jungen Bundesrepublik. D och sie stützt einen Eindruck, den
schichte noch W. Schwabacher und R. Göbl, die sich 1953 in Stockholm bzw. 1955 in W ien auf
dem Gebiete der Numismatik habilitierten.
Im nächsten Jahrzehnt, d.h. von 19 5 6 -1 9 6 5 , stieg die Anzahl der Habilitierten in der Bundes­
republik um 150% auf 15 Personen. Die Betreffenden sind: Ch. Habicht 0g. 1926) - Hamburg
1957; F. G. Maier 0g. 1926) - Tübingen 1957; H. Braunert (1922-1 9 7 6 ) - Bonn 1959; K. Christ
0g. 1923) - Marburg 1959; W. Schm itthenner (Jg. 1916) - Heidelberg 1959; A. Lippold (Jg. 1926)
- Bonn 1960; H. D. Meyer (Jg. 1929) - Köln 1960; R. F. W erner (Jg. 1924) - München I9 6 0 ; P.
R. Franke 0g. 1926) - Erlangen 1961; F. Kiechle 0g. 1931) - Erlangen 1962; Ch. Meier 0g. 1929)
- Frankfurt 1963; D. Kienast 0g. 1925) - Frankfurt 1963; H. H. Schm itt 0g. 1930) - Würzburg
1963; D. Timpe 0g. 1931) - Freiburg i.B. 1963; H. Chantraine 0g. 1929) - Mainz 1965. Dazu
käme noch M. Radnoti-Alföldi 0g. 1926), die sich 1961 in München für Numismatik habilitierte.
- Für den gleichen Zeitraum konnte ich für die D D R die Habilitation von D. Lotze - Jen a 1962
- eruieren. In Österreich, u.z. in Innsbruck, wurden 1956 K. Völkl und 1957 F. Gschnitzer habi­
litiert. Dazu käme im thematischen Umfeld noch H. Vetters in W ien, der sich dort 1965 für R ö­
mische Geschichte mit bes. Berücksichtigung der Altertumskunde habilitierte.
Verfolgt man die Verhältnisse weiter, so finden sich allein in den nächsten fünf Jahren in der
Bundesrepublik fast gleichviel neu habilitierte Althistoriker wie zuvor in einem Jahrzehnt.
12 Auch hier lohnt sich ein Seitenblick auf Österreich. Zeitlich verzögert und wesentlich abge­
schwächt erreichte der rebellische Elan aus deutschen Landen Österreichs Universitätslandschaft.
Dazu fügt sich recht stimmig der Umstand, daß zum Stichjahr 1970 unter den Althistorikem
noch auf der ganzen Linie die A lte Garde“ dominierte: A. Betz und E. Kirsten in W ien, V. Bun­
in Graz und F. Hampl in Innsbruck sind alle vor 1945 habilitiert worden, K . Volk in Salzburg,
Jahrgang 1922, im Jahre 1956. Erst Mitte der 70er Jahre begann die allmähliche Ablöse dieser
Professorengeneration, was auch im allgemeinen cum grano salis für Österreichs Universitäten
gilt. Sie fiel mit der damals erst voll einsetzenden Universitätsreform zusammen, die dem Schritt
von der Elite- zur Massenuniversität Rechnung tragen sollte.
N eu orientierung in der A lten G esch ich te?
75
die Beschäftigung m it Person und W erk der A ngesprochenen nahelegt: den Eindruck
eines ziem lich geschlossenen politischen G rundkonsenses, der diese G elehrten unge­
achtet ihrer persönlich differenzierten Auffassungen verband. G egenüber jedem dog­
matischen Sozialism us, besonders aber dem in der D D R gelehrten Materialismus in
entschlossenster O pposition stehend, waren sie nicht ungern bereit, den nach und
nach vernehm licheren Ruf nach sozioökonom ischen K ategorien als Basiselem enten
eines m odernen G eschichtsbildes a lim ine als subversive Dem agogie abzulehnen.
Vielm ehr legten sie größten W ert auf die W ahrung jen er Traditionen, denen sich die
G eschichte als G esch ichte des Geistes und der führenden Staaten darbot, gestaltet von
(mehr oder m inder) freien Individuen in planendem Handeln. Von diesen histori­
schen Grundüberzeugungen erfüllt, empfanden sie sich auch als Sachw alter herköm m lich-ehrwürdiger O rdnung des U niversitätsbetriebs und gerieten so in erbitterte,
oft freilich nur m ehr m it resignativer G este vorgetragene G egnerschaft zum W irken,
sollte heißen: zum W üten system verändem der K räfte der späten 60er Ja h r e 23.
Im kulturrevolutionären A m biente jen er inzwischen längst zum M ythos hochstili­
sierten oder däm onisierten Ära erlebten sich die Repräsentanten der alten Tradition
plötzlich als Zerrbilder einer O rdinarienherrlichkeit attackiert und mißverstanden.
Fast folgerichtig m ußte sich ihnen da im R ü ckblick die entbehrungsreiche, aber inner­
lich befriedigende Z eit des W iederaufbaus als ein G oldenes Zeitalter präsentieren.
Nicht von ungefähr nannte H erm ann Strasburger - beileibe kein verkappter Nazi,
konnte er doch wegen jüdischer Vorfahren erst nach 1945 eine akadem ische Laufbahn
beginnen24! - im Nachruf auf seinen Lehrer M atthias G eizer die Z eit vor dessen E m e­
ritierung i.J. 1955 „jenes rühm liche, unvergeßliche Jah rzeh n t des geistigen N eubegin­
nens“25. Und wenn wir schon bei Frankfurt verweilen: Als Konrad Kraft, vor 1945 O f­
fizier und dank seiner „restlosen Im m unität der W irkung der Tyrannei gegenüber“
nicht m it dem N S-R eg im e zu identifizieren, verstarb, würdigte ihn sein Lehrer A n ­
dreas Alföldy ob seines heroischen W iderstands gegen jenen „Angriff auf die m orali­
schen und kulturellen Grundlagen unseres Lebens“, getragen von „von M achtgier er­
griffenen U topisten, der Masse der K onju nktu rritter und der entfesselten U nreife“,
hinter deren „veränderter Frisur“ K raft die alte G efahr wohl erkannt habe26. Diese
Gleichsetzung von Nazi-Barbarei und der 68 er R evolte dürfte so m anchem damaligen
Betrachter in unserer Disziplin aus dem H erzen gesprochen sein27.
23 Es ist nicht uninteressant zu sehen, wie Vertreter der etablierten Tradition das Wüten jener
,Systemveränderer‘ erlebten und beurteilten: Vgl. Deutsche Universitäten 1969. Berichte und
Analysen, hrsg. v. Ernst Nolte (Marburg 1969, 21970 im Selbstverlag).
Vgl. zu Schicksal und politischer Einstellung des national-liberal zu nennenden Hauses Stras­
burger in der ,Umbruchszeit‘ Walter Schmitthenner, Biographische Vorbemerkung, in: Hermann
Strasburger, Studien zur Alten Geschichte 1 (Hildesheim-New York 1982) X V II-X X X IV , bes.
XXV ff.
25 Hermann Strasburger, Nachruf auf Matthias Geizer, in: Gnomon 47 (1975) 8 1 7 -8 2 4 , bes. 821.
26 Andreas Alföldi, Nachruf auf Konrad Kraft, in: Gnomon 43 (1971) 3 1 8 -3 2 0 , bes. 319.
Recht aufschlußreich sind in diesem Zusammenhang die besorgten Stimm en in so manchem
Nachruf, wenn es um die Hochschule der späten 60er Jahre geht. Vgl. etwa daraufhin Horst
Braunert, Nachruf auf Friedrich Oertel, in: Gnomon 48 (1976) 9 7 -1 0 0 , insb. 100; Dieter Timpe,
Nachruf auf Horst Braunert, in: Gnomon 49 (1977) 6 3 4 -6 3 7 , insb. 637.
76
R ein ho ld B ich ler
Sich selbst hatten die Repräsentanten dieser m itunter als Gruppe von M andarinen 28
apostrophierten E lite keineswegs als w eltanschaulich hom ogene, ja geschlossene
Z u nft erlebt. W aren sie doch allein schon durch die unterschiedlichen Schicksalswege
gespalten, die sie im Ü bergang vom D ritten R eich zur Aufbauära der Bundesrepublik
gegangen waren. Einige von ihnen hatten sich in der N S-Z eit als überzeugte C h rist­
konservative in die innere Em igration zurückgezogen, hatten m it Behinderungen in
ihrer Laufbahn und m it drohender K altstellung käm pfen m üssen, wozu noch jene ka­
m en, denen K rieg und Intoleranz des Regim es überhaupt die M öglichkeit zu Studium
bzw. akadem ischer Betätigung genom m en hatten. H ingegen hatten nicht wenige ihrer
K ollegen, vormals am rechten Rand bürgerlicher Liberalität stehend, die gegen das
W eim arer System gerichtete Politik des neuen Regim es durchaus begrüßt, m iterfaßt
von jen er A ufbruchsstim m ung, die den „Bau eines neuen deutschen Staates “ 29 ver­
hieß. Sie sahen sich m it der Neige des K rieges einer im m er stärker werdenden E ro ­
sion ihrer politischen Grundwerte ausgesetzt, wollten sie nich t innerlich m it dem R e ­
gim e und das hieß für sie: m it jenen Ström ungen, die sie eine Zeitlang für gut vater­
ländisch gehalten hatten, brechen. Und schließlich brachte das 45er Ja h r die endgül­
tige D esorientierung auch derjenigen, die sich ganz unverhüllt zu prononcierten V er­
fechtern des Nationalsozialismus erklärt und ihn propagandistisch gefördert hatten.
D och bei aller Divergenz ihrer w eltanschaulichen H erkunft und Form ung bieten
diese Repräsentanten der A lten Garde unseres Fachs doch dem jüngeren, aus größerer
Distanz urteilenden B etrachter ein Bild ziem licher G eschlossenheit ihres W irkens.
Das fängt schon dam it an, daß es ihnen, den eta b lie rte n Ordinarien, V orbeh alten blieb,
28 Fritz K. Ringer, Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890 -1 9 3 3 (Stutt­
gart 1983; engl. 1969), bezog sich mit diesem griffigen Ausdruck zwar auf die deutsche G elehr­
tenherrlichkeit des 19- und frühen 20. Jahrhunderts, deren peinliche Verstrickung in die natio­
nale und später dann nationalsozialistische Machtpolitik er sehr eindringlich darstellte (bes. auf­
schlußreich die Schlußbetrachtung 385 ff. mit durchaus vorsichtig abwägendem Urteil). Doch
wurde, nicht zuletzt unter dem Einfluß von Jürgen Habermas, der Ausdruck zum Symbol für die
Kräfte, die der großen 68er Bewegung entgegenzuwirken trachteten und alte Hochschulstrukturen zäh verteidigten. Vgl. dazu auch das Nachwort Dietrich Goldschmidts bei Ringer, Die G elehr­
ten, 451 ff. Habermas griff den Ausdruck „Mandarinenbewußtsein“ zur Kennzeichnung jener H i­
storikerelite wieder auf, die durch „erwiesene Ohnm acht gegen oder gar Kom plizenschaft mit
dem Naziregime“ sich und die von ihr vertretene reichsnationale Historie bloßgestellt hatte, de­
ren Renaissance seines Erachtens zu befürchten ist. Und zw'ar tat Habermas dies just in dem A r­
tikel, der zum Ausgangspunkt des aktuellen .Historiker-Streits1geriet ■
,Jürgen Habermas, Eine Art
Schadensabwicklung, in: Die Zeit 29 vom 11. Juli 1986, 40.
29 Höchst aufschlußreich für die Ideen, die damals national gesinnte Historiker der jüngeren G e­
neration erfüllten, sind die von Fritz Taeger rückblickend 1946 formulierten Gedanken in sei­
nem Lebenslauf, aus dem Karl Christ die elementare Passage zitiert; Christ, Geschichtswissen­
schaft, 225. Die Gemeinsamkeit der Anschauungen in der durchaus der sozialen und weltan­
schaulichen Herkunft nach heterogenen Schule W ilhelm Webers, von der unten noch zu spre­
chen sein wird, kommt hier sehr prägnant zum Ausdruck. Die gesamte Passage bei Christ, G e­
schichtswissenschaft, 2 1 0 -2 4 4 , die der W eber-Schule gewidmet ist, mag zwar manchem etwas zu
milde gehalten sein, bietet aber sehr reichen Aufschluß über die Denkweise der Betroffenen. Vgl.
auch das Urteil über Taeger und Ehrenberg bei Beat Näfi Von Perikies zu Hitler? Die athenische
Demokratie und die deutsche Althistorie bis 1945 (Bern - Frankfurt a.M. - New York 1986)
2 1 0 ff. und 231 ff.
N eu orientierung in der A lten G esch ich te?
77
sich zu Grundfragen der G esch ichte und ihres Berufs zu äußern, nicht jedoch den jü n ­
geren K räften, die noch an ihrer Laufbahn arbeiteten. D en O rt solch Räsonierens über
treibende Faktoren im historischen Prozeß, über seinen m öglichen Sinn und über die
letztlichen A ufgaben des H istorikers bilden ihre D arstellungen und Untersuchungen
selbst, nich t etwa eigens dafür gestaltete theoretische Abhandlungen. So m uß aus die­
sen ihren Statem ents im Fachschrifttum ein Bild der Grundkräfte der G eschichte, so
wie sie sich ihnen darboten, gew onnen werden. Das sei nun wenigstens als eine Skizze
versucht!
Begreiflicherw eise lag die H offnung darnieder, quasi-religiöse Sehnsüchte durch
H ingabe an das Telos der G esch ichte stillen zu können. D ie auf Deutschlands Größe
als letztliche Rechtfertigung des unsittlichen Regim es wenigstens eine geraume Z eit­
lang gehofft hatten, denen stellte sich die Suche nach dem Sinn des Lebens in der G e ­
schichte als A kt heroischer Selbstbehauptung dar: So rief Taeger in der neugefaßten
Einleitung zu seinem m ehrfach wiederaufgelegten »Altertum, in pathetischen W orten
D aim on, Tyche und A nanke als die düsteren M ächte an, die über dem historischen
Prozeß walten, in dem es „Tod und Teufel zum T rotz ... den Sinn des Lebens“ zu ver­
teidigen g elte30.
A uch dem christgläubigen B etrachter verm ochten sich zwar noch Fragm ente der
W eltgeschichte als M ahnm al zu ehrfürchtiger Besinnung auf die K räfte des G ebets 31
oder als Schauplatz transzendenter M achterw eisung 32 darzubieten. Entsprechende
Stim m en ließen sich da und dort bis tief in die 6 0 e r Jah re vernehm en. D och als zuver­
sichtliche Erforscherin eines göttlichen W eltplans sah sich die H istorie gewiß nicht
m ehr in A nspruch genom m en.
Da ließ sie sich schon leichter dazu benutzen, politische Orientierungshilfe zu ge­
ben. D ie traditionell antim arxistische Einstellung nich t nur der A lten G eschichte er­
hielt in der Ära des K alten K riegs neuen A uftrieb. Selbst das K okettieren m it m arxi­
stischen G edanken und Form eln war verpönt. Ja , nicht selten artikulierte sich eine de­
monstrative A bw ehrhaltung gegen die feindlichen M ächte des O stens, in der antike
und m oderne Bezüge auf recht merkwürdige W eise ineinander verflossen. Ich gebe
nur drei drastische Beispiele. D ie ersten beiden davon betreffen gleich die Z eit um
1948, in der sich das w eltpolitische K lim a dramatisch in Richtung K älte und Eiszeit
entw ickelte. U lrich K ahrstedt verlieh erneut seiner schon lange gehegten Ü berzeu­
gung Ausdruck, daß hinter all den Revolten in der griechisch-röm ischen W elt, die
sich gegen drückende soziale Verhältnisse und sie verschärfende fremde Herrschaft
30 Vgl. Fritz Taeger, Das Altertum (Stuttgart 51953) 1 ff., bes. 2 f. und 4 f. - Die Einleitungsbetrachtung zur 6. Auflage ist leicht variiert. Das oben angeführte Zitat fehlt; vgl. I (e 1958) 1-8.
31 Hans Ulrich Instinsky etwa mahnte in einer kleinen kirchengeschichtlichen Monographie
Macht und Funktion des christlichen Gebets „im säkularisierten Staat von heute“ ein; Hans Ul­
rich Instinsky, Die alte Kirche und das Heil des Staates, (München 1963) 64.
32 So bekannte sich etwa Hans Erich Stier zur Auffassung, daß das Wirken Jesu nicht mit histori­
schen Kategorien, sondern „nur vom <Transzendenten> her“ aufgefaßt werden könne; Hans Erich
Stier, Die Erfüllung der Zeiten im Lichte moderner Geschichtsforschung (1969), in: Stier, Kleine
Schriften (Meisenheim am Glan 1979) 3 6 6 -3 8 2 , insb. 381.
78
R ein hold B ich ler
gerichtet hatten, eine ,R ote Internationale der A n tik e 1 zu suchen sei33. D en Prozeß, in
dessen Verlauf das ,N om adentum des O stens“ die hellenistische Kultur, das Erbe von
A lexanders grandiosem Siegeszug in eben diesem O sten, vernichtete und unter sich
begrub, gestaltete Franz A lth eim in seiner »W eltgeschichte Asiens« zu einem Schau­
spiel, das der Gegenwart zur M ahnung dienen sollte34. A uf die A bgrenzung gegen den
O sten folgte dann die W estintegration. So schilderte etwa H ans E rich Stier in den
50er Jah ren bewegt, wie einst Hellas auf Rom s großzügige Sch utzm acht verwiesen war
und diese Situation zu spät begriff, um daran die Em pfehlung zu schließen, die H ei­
mat und das westliche Europa m ögen sich der atlantischen Schutzm acht U SA beru­
higt anvertrauen33.
Z u r A bgrenzung gegen den O sten gehörte das Credo an die persönliche Freiheit als
Chance zu besseren Lebensverhältnissen und als Triebfeder der G eschichte. Das fügte
sich durchaus in die traditionelle V orliebe für die großen A kteure auf der (alt)historischen Bühne. M ochten auch nur wenige so weit gehen wie Fritz Schacherm eyr, der
A lexander regelrecht zu seinem H eros erkor, den er lieben und - als Gewalttätigen auch fürchten durfte36, die Überzeugung, daß das H andeln der M ächtigen die G e ­
schichte bestim m t, herrschte in unserem Fach fast ungebrochen. A uch wo sich grund­
sätzliche K ritik gegen idealisierende H eldenverehrung und Beschönigung richtete,
blieb diese K ritik doch gleicherm aßen auf das verantw ortliche oder eben unverant­
w ortliche Handeln des einzelnen und auf seine niedrigen, nicht idealen Beweggründe
konzentriert. W obei noch hinzuzufügen ist, daß diese reservierte H altung gegenüber
dem H eroenbild großer Eroberer und ein gebrochenes Verhältnis zu konsequenter
M achtpolitik sich recht gut in die Stim m ungslage der 50er Jah re fügten und vor allem
bei den Forschern zu finden sind, die noch nich t zur Führungsgam itur der vergange­
nen Ära gehört hatten37.
33 Vgl. Ulrich Kahrstedt, Geschichte des griechisch-römischen Altertums (München 1948) 261 ff.,
über die gegen den .kapitalistischen W esten“ gerichtete „Erhebung des Proletariats und der Far­
bigen“. „Die rote Flut brandete gegen die Städte“, heißt es da etwa über den Aristonikos-Aufstand in Pergamon; ebd. 261.
34 Vgl. vor allem die Einleitungspartie bei Franz Altheim, Weltgeschichte Asiens im griechischen
Zeitalter II (Halle a. d. Saale 1948) 2 -9 . Altheim betont eingangs ausdrücklich die Aktualität des
dargestellten welthistorischen Geschehens.
35 Hans Erich Stier, Roms Aufstieg zur W eltm acht und die griechische W elt (Köln-O pladen
1957); vgl. insb. 148 und vgl. auch die treffende Kritik bei Christ, Geschichtswissenschaft, 291.
Stiers Schrift ist eine große Apologie für Roms expansive Politik.
36 „Nicht durch panegyrisches Beschönigen und durch Verschweigen düsterer Züge soll das er­
strebte Ziel erreicht werden, sondern dadurch, daß wir den Herrscher ganz schonungslos zeich­
nen. Denn der Gewaltige hat es nicht nötig, von uns Menschlein auf den Konventionstypus des
strahlenden Helden zurecht retuschiert zu werden“, schrieb Schachermeyr seinem Alexander ins
Geleitwort. Ans Ende schloß er dann doch noch die sinnende Feststellung: „So wollen wir aus
Alexanders Idee die allumfassende Freundschaft und Liebe bewahren, zugleich aber vom Schick­
sal erhoffen, daß es der W elt einen neuen Titanen triumphierender Gewalttat gütig erspare“;
Fritz Schachermeyr, Alexander der Große. Ingenium und Macht (Graz-Salzburg-W ien 1949) 8
und 496.
37 Sehr aufschlußreich sind etwa im Vergleich mit Schachermeyrs pathetischer Hingabe an den
großen Makedonen die kritische Reserve, die der vormalige Berve-Schüler Franz Hampl gegen­
über Alexanders vorgeblichen großen Ideen und weltbewegenden Plänen hegte, und die distan-
N eu orientierung in der A lten G esch ich te?
79
W ar auch der K u lt des Führers längst obsolet geworden, so m achten doch noch im rner M änner G eschichte. Ich verweise zur Verdeutlichung etwa auf zwei typische
Standard w erke d er 50er bzw. d er 60er Jah re, auf Fritz Taegers umfassende Analyse des
Charismas göttlich verehrter H errscher und H elm ut Berves D okum entation der grie­
chischen Tyrannis, das jeweilige Hauptwerk aus der Nachkriegsära dieser G eleh rten 38.
Beidemal treten Persönlichkeiten, politische Verhältnisse und herrschende Ideen in
den Vordergrund -
selbstredend bei traditioneller quellenkritischer A bsicherung.
D och die E ntlehnung von K ategorien der system atisierenden G esellschaftsw issen­
schaften oder gar der Rekurs auf sozioökonom ische Theorien standen, wie sehr sie
sich auch aus späterer Rückschau für solche T hem en anzubieten scheinen, noch nicht
zur Debatte.
Diese Feststellung gilt weithin für das Schrifttum unserer Epoche. Neue W ege eröffneten sich am ehesten dort, wo - wie etwa bei den B erve-Schülem Alfred Heuß
und Hans Schaefer oder im A m biente von M atthias G eizer in Frankfurt - aus V er­
trautheit m it rechts- und staatsw issenschaftlichen Fragen die politische G eschichte
mit Term ini traktiert wurde, die ein Hauch von Soziologie und Politikwissenschaft
zierte. D och dauerte es geraum e Z eit, bis sich kleinere Gruppen von A lthistorikem
der Schülergeneration ab M itte der 6 Oer Jah re dazu entschlossen, das neuentdeckte
Arsenal strukturgeschichtlicher Begrifflichkeit in ihre D ienste zu n ehm en39.
Volk und V olkstum genossen hingegen nach wie vor in zahlreichen Darstellungen
hohe Bedeutung als die neben dem Begriff des Staates wichtigsten über dem Indivi­
duum rangierenden historischen G rößen. W as wäre beispielsweise H elm ut Berves
»Griechische Geschichte«, die in den 50er Jah ren eine vielbeachtete Neuauflage erfuhr,
ohne die glänzend stilisierten Partien, die dorisches und ionisches ,W esen 1 in K ontrast
zierte Art, in der sein Kollege Alfred Heuß die ideologische Indienstnahme Alexanders, die
schon bei den Alten anfing, darstellte; Franz Hampl, Alexanders des Grossen Hypomnemata
und letzte Pläne (1953), in; Alexander the Great: The Main Problems (Cambridge 1966)
3 0 7 -3 2 1 ; ders., Alexander der Große und die Beurteilung geschichtlicher Persönlichkeiten in der
modernen Historiographie, in: La Nouvelle Clio 6 (1954) 9 1 -1 3 6 ; Alfred Fleuß, Alexander der
Große und die politische Ideologie des Altertums (1954), in: Ideologie und Herrschaft in der A n­
tike, hrsg. v. H. Kloft (Darmstadt 1979) 123-188. - Auch die Diskussion um Caesars Größe
wurde nun nachdrücklich durch rigiden Zweifel an jener Art historischer Größe bereichert, die
sich dem Tode Ungezählter dankt. Vor allem Hermann Strasburgers muß hier gedacht werden,
der sich mit seiner Skepsis gegenüber dem traditionellen Bild des großen Feldherrn und Staats­
mannes einen beachtlichen Namen machte: .Ausdrücklich wird der Anspruch erhoben, daß al­
les, was ein Mann an Leid anrichtet, deutlich zu benennen und zu verurteilen ist“; m it diesen
Worten brachte Christian Meier Strasburgers Position auf den entscheidenden Punkt; vgl. Chri­
stian Meiet; Gedächtnisrede auf Hermann Strasburger, in: Chiron 16 (1986) 1 71-197, bes. 180.
38 Fritz Taeger, Charisma. Studien zur Geschichte des antiken Herrscherkults, 2 Bde. (Stuttgart
1957, 1960) - Helmut Berve, Die Tyrannis bei den Griechen, 2 Bde. (München 1967).
39 Doch sollte, um keine falschen Vorstellungen zu schaffen, hinzugefügt werden, daß auch für
das Gros dieser strukturgeschichtlichen Ansätzen verpflichteten Forscher jene „gesunde Reserve
gegen Ansätze, die für ferne Zeiten Fragestellungen und Kategorien verschiedener Gebiete, etwa
von Soziologie, Politik, Philosophie, Recht und Anthropologie, zur Synthese bringen wollen“,
gilt, welche Christian Meier bei einer Würdigung von Joch en Bleicken konstatierte; vgl. Christian
Meier, Im Schatten Mommsens. Joch en Bleicken wird sechzig, in: FAZ vom 3 .9 .1 9 8 6 , 25.
R ein ho ld B ich le r
80
zueinander setzen und ganz Hellas, das „unverlierbar ... in sich den W illen zur G estalt
(trug) und verm ittelte“, wiederum in Gegensatz zu den „stum m en, aber beharrlichen
M ächten des untertänigen O rients“ stellen40? Es ist klar, daß eine solche Vorliebe für
die K ategorie des V olkstum s leicht in der D oktrin von volksprägender Erbm asse und
von guten und bösen N ationalcharakteren m ünden kann. D och im allgem einen setzte
der nach wie vor so beliebte Rekurs auf A rt und W esen der V ö lker in viel stärkerem
Maß das alte Erbe der rom antisch-organischen Geschichtsauffassung fort als seine ras­
sistisch-nationalistische D epravierung41. Freilich läßt sich die Erinnerung an das Pandäm onium rassistischer Lehren bei Lektüre m ancher W erke der 50er und 60er Jah re
kaum unterdrücken, wie unter U m ständen selbst der Blick in ein nü chtern-antiqua­
risch angelegtes Standardwerk zu lehren vermag. Stehen da doch etwa in einem m aß­
geblichen >Handbuch< „die eigenartigen Sitten des jüdischen V olkes ... zu der aufge­
schlossenen A rt des G riechentu m s in schneidendem G egensatz“ oder gilt die blutige
V esper von Ephesos als „Pogrom , wie es nur im H irne eines asiatischen Barbaren er­
dacht werden kon nte“42!
M it W ohl und W ehe der V ölker und ihrer K u ltu r verbanden sich auch vertraute
Bilder organischen W achsens, Blühens, A ltem s und Vergehens zu Elem enten einer
G eschichtsphilosophie, aus der ein gebrochenes Erbe H egels wie H um boldts d urch­
schim m ert, versetzt m it Spengler’schem Pathos; einer G eschichtsphilosophie, die sich
an Toynbees K ulturm orphologie neu belebte. D ie vor allem m it den Namen von A l­
fred H euß und Jo sep h V ogt verbundenen V orstöße zu größerer universalhistorischer
Zusam m enschau und zu w eltgeschichtlicher Standortbestim m ung der A ntike m ußten
ihr geschichtsphilosophisches Substrat aus eben diesem Vorstellungsgefüge bezie­
hen43. In der Rückschau erweist sich dieses Substrat freilich als allzu brüchig für die
im ponierende Last an Fachwissen und gediegener D arstellungskunst, die es schließ­
lich hätte tragen müssen.
40 Vgl. Helmut Berve, Die Spätzeit des Griechentums (Freiburg i.B. I9 6 0 = Griechische G e­
schichte III) 14 und 98 = Griechische Geschichte II (Freiburg i.B. 21952) 179 und 270.
41 Eine sehr aufschlußreiche Studie über die notorische Tendenz, Art und W esen der Völker als
konstituierende Elem ente althistorischer Betrachtung anzusehen, bietet Ingomar Weiler, Von
,W esen', ,Geist', und .Eigenart' der Völker der Alten W elt. Eine Anthologie altertumswissen­
schaftlicher Typisierungskunst, in: Kritische und vergleichende Studien zur Alten Geschichte
und Universalgeschichte (Innsbruck 1974) 243—291 42 Hermann Bengtson, Griechische Geschichte. Von den Anfängen bis in die Röm ische Kaiser­
zeit (München 1950 = Handbuch der Altertumswissenschaft) 465 und 480 = s1977, 493 und
508.
43 Vgl. vor allem Alfred Heuß, Einleitung, in: Propyläen Weltgeschichte I (Berlin-FrankfurtW ien 1961) 1 3 -3 2 ; II (1962) 1 3 -3 8 ; dazu die Rezension von Franz Hampl, in: G nomon 36
(1964) 5 2 9 -5 3 6 ; Joseph Vogt, Geschichte des Altertums und Universalgeschichte, in: Orbis, Aus­
gewählte Schriften zur Geschichte des Altertums (Freiburg i.B. I960) 3 6 2 -3 7 9 ; dazu Karl Christ,
Joseph Vogt und die G eschichte des Altertums. Eine Würdigung, in: Saeculum 21 (1970)
1 0 6 -1 5 0 , bes. 135 ff.
N eu orientierung in der A lten G esch ich te?
81
4. Die deutsche Althistorie in der Ä ra der W irtschaftswunderjahre:
Neue Sachlichkeit und theoretische Abstinenz
M it dem soeben angesprochenen M ißverhältnis zwischen der Gravität des Fachwis­
sens und den brüchigen K onstruktionen zu seiner philosophisch-w eltgeschichtlichen
Fundierung kom m en wir zu einem Punkt in unserer historischen Rückschau, an dem
sich uns der Blick auf einen beherrschenden Charakterzug der A lthistorie am Z enit
des W iederaufbaus erschließt. D em ohnehin nur zögem d-tastenden Bem ühen um
neue, taugliche geschichtsphilosophische Perspektiven, um die sich auch nur wenige
unserer Disziplin verdient gem acht hatten, standen breite K reise der M itforscher, b e­
sonders die nachrückende G eneration, skeptisch gegenüber. Aus nich t wenigen um
historische Platzzuweisung bem ühten grundsätzlichen Statem ents im Œ uvre der
Protagonisten unserer Disziplin sprach zu deutlich eine pathetisch verhüllte Gestrigkeit. Das verstärkte die Reserve gegenüber dem Gestus der großen Schau. V ielm ehr
schien der Rekurs artikulierter W issenschaftlichkeit auf ein sicher-sachliches Terrain
das G eb ot der Stunde zu sein.
W enn von grundlegender N euorientierung der w estdeutschen A lthistorie der 50er
und frühen 60er Jah re die Rede sein kann, dann in bezug auf den Elan, m it dem sich
nun im Rückzug aufs Faktische neue A ufgaben und Projekte erschlossen. Epigraphik
und N um ism atik, begrenzter auch die Papyrologie, stiegen rapide im Kurs. A ntiquari­
sche E xaktheit galt als Selbstwert, penible D okum entation als vorrangiges Ziel. Es ist
fast angebracht, von einer Epoch e der N euen Sachlichkeit zu sprechen, an der nun
auch nicht wenige V ertreter der A lten Garde unseres Fachs lebhaften A nteil nahm en,
wenn nicht im m er selbst darin federführend, dann doch diese sachlich-neutralistische
Forschungswelle stim ulierend.
Ich darf etwa ein Forschungsfeld herausgreifen, das besonders starke Beackerung er­
fuhr, das der Prinzipatszeit und Spätantike, und der fruchtbaren A rbeiten gedenken,
die im U m kreis von Jo sep h Vogt, von Joh an n es Straub, von Friedrich V ittinghoff ge­
diehen, um nur einige der renom m ierten N amen zu nennen. Man müßte an die zahl­
reichen
num ism atisch-realienkundlichen Studien erinnern, die Konrad
K raft in
Frankfurt anregte, an die Berve-Schule der N achkriegszeit mit ihrer so bezeichnend
sachlich-spezialisierten Zuwendung zur heiklen Sparta-Them atik, an die freilich erst
nach M itte der 6 0 e r Jah re stärker hervortretende Schule Bengtsons m it ihren zahlrei­
chen Beiträgen zur politischen G esch ichte der hellenistischen und frühkaiserzeitli­
chen W elt und an etliches m ehr. Es müßte von neuen Institutionen der Forschung die
Rede sein, von neuen Publikationsorganen, neuen, sehr langfristig angelegten Projek­
ten. K u rz: es war wieder eine Z eit des Blühens und G edeihens44.
44 Statt mich um viele Einzelnachweise zu bemühen, kann ich dankenswerterweise auf die sehr
kompetenten Darlegungen bei Karl Christ, Geschichtswissenschaft, verweisen. Vgl. besonders
264 ff. zu neuen Kom missions- und Gemeinschaftsprojekten der Alten Geschichte und 294 ff.
zur überaus dichten und fruchtbaren Forschungstätigkeit betreffend die Prinzipatszeit und die
Spätantike. Es darf hinzugefügt werden, daß sich gerade auf diesem Terrain auch die strukturge­
schichtlichen Forschungsansätze stärker durchsetzen konnten, nicht zuletzt deswegen, weil sich
hier bereits seit dem 19. Jahrhundert einschlägige Traditionen ausgebildet hatten. - Was die oben
82
R ein hold B ich ler
D urch Spezialisierung, gediegene Sachbezogenheit und Zurückhaltung in weltan­
schaulichem Deklarationsdrang 45 gewann die westdeutsche A lthistorie in vielen Spar­
ten die erwünschte internationale G eltung wieder, doch sie zahlte für ihr neues Selbst­
gefühl einen nicht unerheblichen Preis: D en n Spezialisierung führt, so sehr sie auch
dem allgem ein fortschreitenden A rbeitsteilungsprozeß entspricht, doch leicht zu V er­
armung, zur Ausgrenzung des N icht-B eherrsch ten . Und, was noch gravierender ist: sie
fördert den trügerischen V erzicht auf philosophisch-theoretische Selbstbetrachtung
und K ritik!
W issenschaftlichkeit ohne explizite philosophische Perspektiven, ohne m eth od olo­
gische Reflexion, ohne w issenschaftsgeschichtliche Selbstbesinnung und ohne E m p ­
findsam keit für die Frage ihrer gesellschaftlichen Relevanz bleibt auf D auer ein prekä­
res U nternehm en. Das gilt gerade für eine Z eit, die auf dem Rü cken ungeahnter öko­
nom ischer Prosperität, bei höchster sozialer M obilität und angesichts eines grenzenlos
wirkenden H orizonts an beruflichen M öglichkeiten nun Fortschritt, soziale Program ­
matik, Bruch aller Tabus des Bestehenden und neue R ech te der Ju g end auf ihre Fah­
nen schrieb. W ie aber sollte sachlich-traditionelle G eistesw issenschaft nun angesichts
dieser neuen A ufbruchstim m ung in den späten 60er Jah ren bestehen?
D ie Diskrepanz zwischen entw ickeltem Spezialistentum und theoretischer A b sti­
nenz hatte unserem Fach nicht eben gut getan. Ich beginne m it den quasi-m ateriellen
Folgen des H ochgefühls der W irtschaftswunderära, in dem sich fachlicher Standard
und Spezialisierung fast wie Synonym e darboten. D er K anon althistorischer Lehre
und Forschung wurde enger: W eite B ereiche der M anifestation historisch-kulturellen
Lebens - Religion, R echt, K un st - wurden zunehm end an N achbarfächer delegiert.
Neue Spezialdisziplinen wie M ykenologie oder Etruskologie bildeten sich, gediehen
aber stärker im außerdeutschen Raum. D er A lte O rient, Ä gypten und Israel einge­
schlossen, war schon längst vom Gros der praktizierenden A lthistoriker als ihrer
K om petenz nicht unterworfen abgeschoben worden. D iejenigen Forscher, die sich
V erdienste erwarben, indem sie aus interdisziplinärem Interesse und universalhistori­
schem Elan solche G renzen ignorierten - in Ö sterreich und der Schweiz war dies auf­
fallenderweise häufiger der Fall 46 - , diese Forscher m ußten m it dem V erdacht des D i­
lettantism us rechnen.
angesprochenen zeittypischen Tendenzen in der Sparta-Forschung nach 1945 und deren wich­
tigste Vertreter betrifft, so ist jetzt vor allem auf die Studie von Karl Christ, Spartaforschung und
Spartabild. Eine Einleitung (1983), in: Sparta (Darmstadt 1986 = Wege der Forschung 622) 1-72,
hinzuweisen; bes. 5 9 ff. - Zu den großen Impulsen für die Numismatik der 50er und 60er Jahre
vgl. Christ, Geschichtswissenschaft, 2 7 0 f.
45 Den allgemeinen Hintergrund dieser Epoche neutralistischer Sachlichkeit umriß Wolfgang
Mommsen folgendermaßen: „Von heute her gesehen, erweisen sich die politischen und geistigen
Verhältnisse der 50er und 60er Jahre als bedingt durch eine besondere weltanschauliche K onstel­
lation, deren hervorstechendstes Merkmal ein Prozeß zunehmender Entpolitisierung und Entideologisierung war, bei absoluter Vorherrschaft rein technologischer und materieller Ideale“;
WolfgangJ . Mommsen, Die Geschichtswissenschaft in der modernen Industriegesellschaft, in: B.
Faulenbach (Hrsg.), Geschichtswissenschaft in Deutschland (München 1974) 1 4 7-168, bes. 155.
46 Ich darf dabei auf so unterschiedliche Charaktere hinweisen wie Fritz Schachermeyr und Franz
Hampl in Österreich oder Franz Georg Maier in Zürich, wobei letzterer freilich einer jüngeren
N eu orientierung in der A lten G esch ich te?
83
Große historische Perspektiven hatten sichtlich an Bedeutung verloren, je m ehr die
Prosperität der W irtschaftsw underjahre ihre Faszination ausübte. V ereinzelte A ppelle
zu universalgeschichtlicher Zusam m enschau, A useinandersetzungen m it T oyn b ee47,
Klage über den Verlust eines verbindlichen G eschichtsbilds48, solche für die 50er
Jahre nicht unw esentlichen Erscheinungen wurden zusehends seltener. A uch wissen­
schaftsgeschichtliche Besinnung und Selbstdarstellung - inzwischen ja zu hoher B e­
liebtheit und zu großem Standard gediehen 49 - richteten sich damals nur vereinzelt
auf die großen A hnenfiguren des vorigen Jahrhu n d erts 50 und wurden noch kaum kon ­
tinuierlich und system atisch betrieben. Das Bedürfnis, durch die kritische Beschäfti­
gung m it der V ergangenheit des eigenen Fachs größere Sicherh eit über die Bewertung
des aktuellen Tuns und Lassens zu gewinnen, war noch ziem lich unterentw ickelt!
W as gar die Frage nach Sinn und Zw eck der A lten G esch ichte anlangt, so schien sie
sich wohl von selbst aus der Fortsetzung der bewährten und im ponierenden Fachtra­
dition zu beantw orten, ja vielm ehr: sie stellte sich dem althistorischen Bew ußtsein gar
nicht. Und fast unglaublich m utet schließlich aus heutiger Sicht die vormalige A bsti­
nenz in w issenschaftstheoretischen Fragen an. G riffen im Zuge des legendären M e­
thodenstreits der G ründerzeit noch A lthistoriker von höchstem Rang - Eduard Meyer
etwa, K arl Julius B eloch, R obert v. P öh lm ann 31 ... - zur Feder, um prinzipielle Posi­
tionen zu m arkieren, um ganz davon zu schweigen, daß Jo h an n Gustav D roysen, Ja co b
Burckhardt, Max W eb er auch M änner der A lten G esch ichte waren, so zeigte sich die
nach 1945 tätige A lthistorikergeneration diesem Erbe kaum verbunden. ,H istorik“ als
Basis unserer w issenschaftlichen R eflexion, der Status der G esch ichte gegenüber den
generalisierenden Sozialw issenschaften, aber auch die grundsätzlichen M öglichkeiten
für die Integration der A lten G esch ichte in einem w eltgeschichtlichen K o n n ex, alle
diese T h em en wurden erst seit M itte der 60er Jah re innerhalb unserer Disziplin aktua­
lisiert und auch dann nur in kleinen Gruppen etwas intensiver diskutiert.
Generation zuzurechnen ist. Interessen für universalhistorische Fragen, methodische Grundfra­
gen und archäologisch-altorientalische wie frühgriechische Forschung stellen das verbindende
Elem ent unter den Genannten her.
S1 Vgl. vor allem Joseph Vogt, Die antike Kultur in Toynbees Geschichtslehre (1951), in: Vogt, O r­
bis (Freiburg-Basel-W ien 1960) 3 4 0 -3 6 1 ; Franz Hampl, Grundsätzliches zum W erke A. J.
Toynbees, in: H Z 173 (1952) 4 4 9 -4 6 6 .
43 Alfred Fleuß, Verlust der Geschichte (Göttingen 1959) traktierte ein wieder aktuelles Thema:
Nur der Wiedergewinn eines einheitlichen Selbstbewußtseins könne ein einheitliches Erinne­
rungsbild schaffen. Eine .objektivierende“ Historie sei dazu nicht in der Lage: vgl. insb. 61 ff.
49 Ich hebe nur die einschlägigen Arbeiten von Karl Christ hervor, ohne die Studien wie die hier
vorgelegte vor viel schwierigeren Voraussetzungen stünden.
50 Vgl. vor allem Alfred Heuß, Theodor Mommsen und das 19- Jahrhundert (Kiel 1956); Lothar
Wickert, Theodor Mommsen, 3 Bde. (Frankfurt a. M. 1959, 1964, 1969); Karl Christ, Jacob Burck­
hardt und die Röm ische Geschichte, in: Saeculum 14 (1963) 8 2 -1 2 2 = Christ, Röm ische G e­
schichte und Wissenschaftsgeschichte 111 (1983) 74 -1 1 4 .
51 Vgl. etwa Eduard Meyer, Geschichte des Altertums I, 1: Einleitung. Elemente der Anthropolo­
gie (Stuttgart 6 1953; entspricht J 1907) 1 8 4 -2 5 2 : Die Geschichte und die Geschichtswissenschaft;
Karl Julius Beloch, Die Persönlichkeit in der Geschichte, in: Beloch, Griechische Geschichte I, 1
(Straßburg 21912) 1 -1 6 ; Robert v. Pöhlmann, Zur Methodik der Geschichte des Altertums, in:
Pöhlmann, Aus Altertum und Gegenwart (München 21911) 52-7 6 .
84
R ein ho ld B ich ler
Lange hatte das V erdikt über den H istorischen Materialismus die A useinanderset­
zung m it sozioökonom ischer Theorie und Begrifflichkeit diskreditiert, lange war der
in den 50er Jah ren noch öfters artikulierte K am pf gegen den Positivism us als den
Todfeind der m etaphysischen K on tem p latio n 52 dem Blick auf die strukturgeschichtli­
che Forschung, sei es des anglo-französischen Raums, sei es auch der in D eutschland
entw ickelten Tradition, im W ege gestanden.
W ährend etwa die erste explizite A useinandersetzung m it m arxistischer A lthistorie
- eine Studie Friedrich V ittinghoffs von I 9 6 0 53 - noch durch ihre strikte R eserviert­
heit bestim m t war, erschien 1966 erstmals die Übersetzung einer sow jetischen A rbeit
in der bedeutenden, bis dahin betont antiquarisch-geistesgeschichtlich orientierten,
von Jo se p h V ogt initiierten R eihe der M ainzer Forschungen zur antiken Sklaverei54.
D ie Z eich en der Entspannung galten nun auch unserem Fach. 1965 schrieb Alfred
H euß über Max W ebers Bedeutung für die A lte G esch ich te 55 - auch dies ein kleines
Z eich en der N euorientierung in unserer Disziplin am Vorabend der nicht nur das
H ochschulleben verändernden 68 er Revolte. N icht von ungefähr gehört in diese Z eit
auch ein erster der inzw ischen bereits so vertrauten Essays über Sinn und Z iel der A l­
ten G esch ichte, ein 1966 gehaltener Vortrag Christian M eiers56, der auch hier die
N euen Z eiten vorwegnahm.
Ferner entstanden nun wieder m ethodologische Studien aus der Feder von A lth i­
storikern. Ich darf dabei auch m eines Lehrers Franz H am pl ged enken: 1967 referierte
er, aus der Schule Berves stam m end und bis heute alles andere als ein M odernist lin­
ker Provenienz, in A lpbach über »Information und K om m unikation aus der Sich t des
Historikers«57. D ie A lte G esch ichte sah sich den A nforderungen einer neuen Z eit ge­
genüber und reagierte; vorwiegend in v ehem enter A bw ehr des Rufs nach System ver-
52 Die strikten Vorbehalte gegen den Positivismus hatten durchaus ihre Tradition: „Tausende
von seinen Studenten wußten ihm Dank, daß er mit seiner starken Schauenskraft und Deutungs­
gewalt die Gefahren des Positivismus zu überwinden unternahm“, rühmte Josef Vogt an seinem
Lehrer W ilhelm W eber; vgl. seinen Nachruf, in: Gnomon 21 (1949) 1 7 6 -1 7 9 , bes. 178. - Für die
doppelte Frontstellung gegen Positivismus und Marxismus vgl. etwa Fritz Taeger, Altertum, SI, 2.
53 Friedrich Vittinghoff Die Theorie des historischen Materialismus über den antiken ,Sklaven­
halterstaat“, in: Saeculum 11 (I960) 8 9 -1 3 1 .
54 Jakob A. iMncman, Die Sklaverei im mykenischen und homerischen Griechenland (Wiesba­
den 1966). - Eine engagierte Verteidigung des wissenschaftlichen Verdiensts der von Vogt ini­
tiierten Forschungsreihe gegen Angriffe in ideologiekritischer Absicht trägt Karl Christ vor: G e­
schichte des Altertums, Wissenschaftsgeschichte und Ideologiekritik, in: Christ, Röm ische G e­
schichte und Wissenschaftsgeschichte III (Darmstadt 1983) 2 2 8 -2 4 3 , bes. 237 ff.
55 Alfred Heuß, Max W ebers Bedeutung für die Geschichte des griechisch-römischen Altertums,
in: H Z 201 (1965) 5 2 9 -5 5 6 .
56 Christian Meier, Was soll uns heute noch die Alte Geschichte (Vortrag 1966), in: Aieier, Entste­
hung des Begriffs ,Demokratie“. Vier Prolegomena zu einer historischen Theorie (Frankfurt a. M.
1970) 151 -1 8 1.
57 Franz Hampl, Information und Kommunikation in der Sicht eines Historikers (1967), in:
Hampl, Geschichte als kritische Wissenschaft I, hrsg. v.J. Weiler (Darmstadt 1975) 3 3 -7 2 . - Des
weiteren ist etwa das methodologische Interesse F. G. Maiers hier anzuführen; vgl. für den gegen­
ständlichen Zeitraum Franz Georg Maier, Der Gesetzesbegriff in den historischen W issenschaf­
ten, in: Studium Generale 19 (1966) 6 5 7 -6 6 7 .
N eu orientierung in der A lten G esch ich te?
85
änderung und Traditionskritik, teils aber auch in m ethodologischer Besinnung und
Ü berprüfung der eigenen Standards und Prinzipien und - vereinzelt w enigstens - im
deklarierten Bem ühen um neue Kategorien und Perspektiven. D och "was aus dieser
partiellen N euorientierung der A lten G eschichte zu Ende der 6 0 e r Ja h re wurde und
was sich davon bis in die gegenwärtigen W endezeiten bewahrte, das gehört in ein an­
deres K apitel58.
Exkurs zu den personellen Querverbindungen zwischen Deutschland
bzw. der Bundesrepublik, Ö sterreich und der Schweiz im Rahm en des
Berichtzeitraum s
1) Deutsch-Österreichischer Austausch
D er O berösterreicher Fritz Schacherm eyr, Jahrgang 1895, prom ovierte und habili­
tierte sich auch in Innsbruck, wo m it Carl-Friedrich L ehm ann-H aupt seit 1918 ein ge­
bürtiger H am burger als Ordinarius tätig war. 1931 eröffnete sich Schacherm eyr m it
dem Ruf nach Je n a eine K arriere, die ihn weiter nach H eidelberg (1 9 3 6 -1 9 4 0 ) und
dann zurück in die ,O stm ark“ trug, näm lich nach Graz, wo der außerordentliche P ro­
fessor Franz Sch eh l als ,H albjude“ seinen Posten nach dem A nschluß verloren hatte.
Nach dem .Z usam m enbruch“ suspendiert, konnte Schacherm eyr erst 1952 wieder
Rang und W ürde eines Ordinarius erlangen, durch Nachfolge Jo se f K eils auf dem
Lehrstuhl für G riechische G esch ichte und A ltertum skunde in W ien. Jo se f K eil wirkte
bereits vor seiner W ien er Tätigkeit als Ordinarius, und zwar in Greifswald von
1 9 2 7 -1 9 3 5 . Schacherm eyrs N achfolger wiederum wurde dann im Jah re 1970 ein
D eutscher: E m st K irsten, Jahrgang 1911, ein gebürtiger Sachse, war einst Dissertant
Berves in Leipzig. Zu seinen H abilitationsbetreuern zählte auch Schacherm eyr in H ei­
delberg anno 1940. K irsten war vor seinem Ruf nach W ien als Ordinarius ad personam für H istorische Geographie in Bonn tätig gewesen. A uch sein N achfolger Peter
Siewert, der 1982 dem Ruf nach W ien folgte, ist D eutscher; geboren im Saarland 1940
und bei B erve-Schüler Peter R obert Franke in Saarbrücken habilitiert.
A uch auf dem Grazer Lehrstuhl waren D eutsche tätig, so schon seinerzeit Friedrich
O ertel von 1 9 2 2 -1 9 2 9 und W ilh elm Ensslin von 1 9 3 0 -1 9 3 6 . In der Ära der Zweiten
Republik ist dann V iktor Burr zu nennen, ein gebürtiger Schwabe, Jahrgang 1906, der
von 1 9 6 8 -1 9 7 4 als N achfolger von Erich Swoboda waltete. D ie Jah re zuvor hatte der
in Südtirol geborene A ltösterreicher Franz H am pl, Jahrgang 1910, die nach Swobodas
Tod im Jah re 1964 verwaiste Lehrkanzel suppliert. H ampl, der seit 1947 für über drei
Jahrzehnte auf der Innsbrucker Lehrkanzel wirkte, ist ein Schüler aus Berves Leipziger
Z eit und hatte bereits 1941 und 1946 Rufe nach G ießen und Mainz erhalten, von de­
nen er jedoch - kriegsbedingt - nur den letzteren realisieren konnte. Bei H am pl habi­
litierte sich der 1929 geborene Innsbrucker Fritz G schnitzer, der durch seine Beru­
fung nach H eidelberg im Jah re 1962 die Nachfolge des tragisch verunglückten BerveSchülers Hans Schaefer antreten konnte.
58 Vgl. dazu die Bemerkungen oben S. 75 u. 81
R ein ho ld B ich ler
86
2) Deutsch-Schweizer Austausch
Lange Jahrzeh nte der K ontinu ität prägten das W irken des 1898 geborenen H ansea­
ten Ernst M eyer in Z ü rich von 1927 bis 1967. Sein N achfolger Franz G eorg Maier,
1926 in Stuttgart geboren, repräsentiert als V og t-Schü ler gleichfalls ein Stück deut­
scher Forschungstradition in der Schweiz. M aier war bereits zuvor, von 1963 bis 1966
in Frankfurt und von 1966 bis 1972 in Konstanz, als Lehrstuhlinhaber tätig.
In Bern d okum entiert der 1917 geborene Z ü rch er Gerold W alser, der sich bei H er­
bert N esselhauf in Freiburg i.B . habilitiert hatte, allein schon als M itherausgeber der
>Historia< die enge Forschungsgem einschaft m it der Bundesrepublik. W alser wirkte
von 1952 weg in Bern, die ersten Jah re als Extraordinarius, seit 1955 als Ordinarius. D ort hatte zuvor - von 1948 bis 1952 - ein ungarischer Em igrant des Jahrgangs 1895,
Andreas A lföldi, G elegenheit, die deutsche Forschungstradition fortzusetzen. Alföldi
wirkte anschließend von 1952 bis 1956 in Basel, ehe er dem Ruf in die U SA , und zwar
nach P rinceton, Folge leistete.
Ein G elehrtenleben lang wirkte der im K anton Basel 1886 geborene Schw eizer
M atthias G eizer als Ordinarius in D eutschland, zunächst in Greifswald und Straßburg,
dann von 1919 bis 1955 in Frankfurt a.M . D ort in Frankfurt hatte sich 1962 der aus
Pom m ern gebürtige Sch üler Schaefers, Christian M eier, Jahrgang 1929, habilitiert.
Zweim al, 1966 bis 1968 und 1973 bis 1976, folgte er dann einem Ruf nach Basel, der
ersten seiner zahlreichen W irkungsstätten als Ordinarius. Und auch m it seinem N ach­
folger Jü rgen v. U n gem -Stem b erg, Jahrgang 1940, der ihm 1978 folgte, wurde ein
Bundesdeutscher berufen.
Klaus Schreiner
W issenschaft von der Geschichte des Mittelalters
nach 1945
K o n tin u itä te n u n d D isk o n tin u itä te n d e r M itte lalterfo rsch u n g
im g e te ilte n D e u tsch la n d *
A usnahm esituationen gebieten N achdenken über Bedingungen und U rsachen des
W andeis. W ille zum N eubeginn w eckt das Bedürfnis, den neuen Form en politischer
W illensbildung einen legitim ierenden Rückhalt in der eigenen G esch ichte zu geben.
Zu fragen, wie H istoriker auf das K atastrophenjahr 1945, den dem okratischen Neu­
beginn und w irtschaftlich-sozialen W iederaufbau in den beiden Jahrzeh nten danach
reagierten, beruht auf der A nnahm e, daß politische Zäsuren auch die Rekonstruktion
und D eutung gesch ichtlicher Tatsachen und Vorgänge betreffen. Z eichn en sich in
dieser Phase politisch-sozialer Neugestaltung w issenschaftsintem e A nsätze und E n t­
wicklungen ab, die auf eine veränderte w issenschaftliche Behandlung der sogenannten
m ittleren Z eit schließen lassen? Ist es überhaupt legitim , den Gang der historischen
W issenschaft m it dem W andel ihrer politischen und gesellschaftlichen U m welt in
Verbindung zu bringen?
D ie w issenschaftliche Beschäftigung m it der eigenen V ergangenheit folgt fachwis­
senschaftlichen R egeln ; sie dient zugleich dem Verlangen nach O rientierung in einer
W elt, deren Lebensbedingungen durch fortwirkende V ergangenheit geprägt sind. M e­
thodische A utonom ie und zeitgebundenes Interesse begründen ein kom plexes Bezie­
hungsgefüge, innerhalb dessen W issenschaft von der G eschichte stattfindet. Ä ndern
sich politische Z iele, W erte und Strukturen, ändern sich gem einhin auch E rkenn tnis­
interessen und W ertm aßstäbe der H istoriker. Selbst die Gründung geschichtsw issen­
schaftlicher Institutionen oder die W ahl historischer Forschungsgegenstände kann
durch politische Interessen beeinflußt und durch politische Zeitström ungen gelenkt
sein.
Im Frühjahr 1819 gründete der R eichsfreiherr Karl vom Stein die „Gesellschaft für
ältere deutsche G eschichtsku nd e“, um m it ihrer H ilfe eine „Gesamtausgabe der Q uei-
Überarbeitete und erweiterte Fassung meines in München gehaltenen Vortrages. Vollständig­
keit wurde nicht erstrebt. Es sollten Akzente gesetzt und allgemeinere Tendenzen kenntlich ge­
macht werden. - Für kritische Lektüre des Manuskriptes schulde ich wieder einmal meinem Bie­
lefelder Kollegen Heinrich Rüthing herzlichen Dank. Für Mithilfe beim Lesen der Korrekturfah­
nen habe ich Frau Beate Hentschel und Herrn Andreas K olle zu danken.
88
K iau s S ch rein er
lenschriftsteller deutscher G esch ichten des M ittelalters“ herauszubringen. E r tat dies
in der A bsicht, „den G esch m ack an deutscher G esch ichte zu beleben, ihr gründliches
Studium zu erleichtern und hierdurch zur Erhaltung der Liebe zum gem einsam en V a­
terland und des G edächtnisses unserer großen Vorfahren beizutragen“. D ie E rfor­
schung m ittelalterlicher Ü berlieferungen sollte Erinnerungen an die einstige E inheit
des R eich es w ecken, um das, was war, zu einer verpflichtenden und gestaltenden Kraft
der Gegenwart zu m achen. N och im m er tragen die Q uelleneditionen der „M onum enta G erm aniae H istórica“ den Leitspruch von deren Gründer. Das 1819 gewählte
und bis heute beibehaltene M otto lautet: „Sanctus am or patriae dat anim um “ - „H ei­
lige Vaterlandsliebe gibt M ut“. Im Jah re 1819, als in Karlsbad Beschlüsse gegen „na­
tionale D em agogen“ gefaßt wurden, war das „kein staatlich erw ünschter Patriotism us,
sondern ein m utiges B ekenntnis zu dem , was trotz politischer Zergliederung allen
D eutschen gem einsam war und bleiben sollte“ 1.
Im ersten Band des „D eutschen A rchivs“, der nach 1945 erschien, veröffentlichte
der damalige Präsident W alther H oltzm ann einen N achruf auf Paul Fridolin K ehr,
den vor 1945 letzten gew ählten Präsidenten der Zentraldirektion der M onum enta, ei­
nen M ann, der, wie H oltzm ann schreibt, die „Verkörperung alter und bester Tradition
d eutscher W issenschaft“ darstellte. In diesem N achruf wird beiläufig folgende Episode
erwähnt: „Als K aiser W ilh elm II. 1905 [richtig 1904] U nteritalien bereiste, wurde
K e h r als Fachm ann zur Begleitung befohlen .“2
D ie Begegnung erwies sich, was H oltzm ann nicht wissen konnte, weil er keinen
Zugang zu den A kten hatte, als G eburtsstunde eines w issenschaftlichen Projekts. A n
Bord der in Bari angelegten „H ohenzollem “ traf K e h r den K aiser am 23. April 1904
zum Tee, am Tag danach zur A bend- und Frühstückstafel. „Beide Male“, berichtet
K eh r, habe ihn Seine M ajestät „längerer U nterhaltungen über die H ohenstaufen und
die süditalienischen M onum ente Friedrichs II. gewürdigt . . . A ls seine M ajestät dann
von den U rkunden Friedrichs II. sprach, die E r in den sizilianischen Archiven gesehen
[habe], sprach ich von den archivalischen Aufgaben unseres Instituts [des K öniglich
Preußischen H istorischen Instituts in Rom ], der Sam m lung der D ocum ente der staufi­
schen K aiser in Italien und der A kten ihrer italienischen Verwaltung. D er K aiser
zeigte für diese D inge das allerlebhafteste Interesse und entließ m ich schließlich m it
dem Befehl, m eine G edanken über die Aufgaben der deutschen Forschung in Italien,
sowohl nach der kunsthistorischen wie nach der historischen Seite, in einer kurzen
D enkschrift zusam m enzufassen und an A llerhöchster Stelle vorzulegen .“3
K e h r tat dies. In einer D enkschrift an den „A llerdurchlauchtigsten, großm ächtig­
sten K aiser und K ö n ig “ vom 3. Ju li 1904 führte er aus: D ie Zahl der kaiserlichen D i­
plom e und Reskripte in den A rchiven und Bibliotheken Italiens sei Legion. „Sie alle
in einer kritischen Ausgabe zu sam m eln, ist nich t nur eine nationale Ehre und Sache,
1 Herbert Grundmann, Monumenta Germaniae Histórica 1 8 1 5 -1 9 6 9 (München 1969) 1.
2 Walther Holtzmann, Paul Fridolin Kehr, in: DA 8 (1950/51) 26, 38.
3 Deutsches Zentralarchiv Merseburg, Hist. Abt. II, 2. 2.1, Nr. 19893; 19894: „Königliches G e­
heimes Civil-Cabinet, Akten betr. Maßregeln zur Hebung der vaterländischen Geschichtsschrei­
bung und des Historischen Instituts in Rom “.
W issen schaft von der G esch ich te des M ittelalters nach 1945
89
die wir dem A ndenken des staufischen Hauses schulden, sondern zugleich der einzige
W eg, zu einer genaueren und sicheren K en n tn is der Regierung und Verwaltung
Friedrichs II., seiner Vorgänger und N achfolger zu gelangen.“ D ie Sam m lung und
Edition der Stauferurkunden Italiens sei zwar „von A nfang an als ein Teil der M onum enta Germ aniae histórica von G. H. Pertz geplant“ worden, „aber das langsame V o r­
anschreiten dieses U nternehm ens läßt auch heute noch nicht entfernt den Zeitp unkt
voraussehen, an dem es einm al an der Z eit Friedrichs II. angelangt sein werde“. D em
fügte K ehr, die Langsam keit deutscher Editionspraxis zutiefst bedauernd, erklärend
hinzu: „So konnte es geschehen, daß dieser der deutschen W issenschaft zukom m en­
den Aufgabe sich unterdessen die französische W issenschaft bem ächtigt hat.“ Um so
dringlicher erweise sich die Edition der Urkunden Friedrichs II. als „nationale A u f­
gabe“. K eh r drängte: „Es ist die höchste Z eit, daß die deutsche W issenschaft sich end­
lich ihrer Pflicht erinnere“ und nicht tatenlos zuschaue, wie die Franzosen, von denen
sie sich „völlig in den H intergrund“ habe drängen lassen, noch weitere G ebiete der
staufischen G esch ichte in Beschlag nehm e.
D er alldeutsche G eh eim e Rat und Professor D ietrich Schäfer, der um ein G u tach­
ten gebeten wurde, lehnte ab. „D ieser Staufer“, m einte er im B lick auf Friedrich II.,
„sei m ehr sicilischer als deutscher K ön ig gew esen“. Das Herz von D ietrich Schäfer
schlug für Friedrich Barbarossa, den er als „Inbegriff deutscher K aiserherrlichkeit“
rühm te, als „Idealbild des deutschen M annes“4, als „glänzenden V ertreter seines V o l­
kes“, als den „letzten großen V ertreter des deutschen M achtgedankens“5. M it dem
staufischen M onarchen in Sizilien verbanden ihn keine patriotischen Gefühle. W il­
helm II. ignorierte das V otu m des deutschnationalen Schäfer und stim m te dem U n­
ternehm en als einer M aßnahm e zur „H ebung der vaterländischen G esch ich te“ unein­
geschränkt zu. Seine Begeisterung für die großen Schw abenkaiser war größer als die
Abneigung, die Schäfer dem staufischen Friedrich aus Sizilien entgegenbrachte.
W echselbeziehungen zwischen Politik und W issenschaft sind evident. D ie Frage zu
beantworten, ob das E ditionsprojekt die im perialistisch geprägte Reichsideologie W il­
helm s II. stützte oder einen Beitrag zur besseren Erkenntnis der historischen W ahr­
heit darstellte, wirft w issenschaftsgeschichtliche und w issenschaftstheoretische G rund­
satzproblem e auf. Verallgem einerungsfähige Schlüsse lassen sich aus dem Fallbeispiel
älteren Datum s nich t ziehen. W ie historische W issenschaft unter dem Einfluß zeitge­
bundener Interessen ihren Gegenwartsauftrag w ahrnim m t und zugleich ihre E igenlo­
gik behauptet, aufweicht oder preisgibt, ist von Fall zu Fall zu prüfen6.
4 Dietrich Schäfer, Deutsche Geschichte, Bd. 1: Mittelalter (Jena 1910) 271.
5 Ebd., 298 f.
6 Klaus Schreiner, Führertum, Rasse, Reich. Wissenschaft von der Geschichte nach der national­
sozialistischen Machtergreifung, in: Wissenschaft im Dritten Reich, hrsg. von Peter Lundgreen
(Frankfurt a. M. 1985) 163 -252.
90
K lau s Sch rein er
1. G eschichtsw issenschaftlicher Neubeginn als W iederherstellung von
K ontinuität: M ethodische Strenge und unparteiliche Objektivität als
G aranten historischer W ahrheit
A uf Zusam m enbruch und N eubeginn reagierten H istoriker m it Bekenntnissen zu
w issenschaftlicher Solidität und m ethodischer Strenge. W iederherstellung des Vergan­
genen im G eiste u n bestechlicher O bjektivität sollte fürderhin davor bewahren, W is­
senschaft von der G esch ich te politischen G egenw artsinteressen auszuliefem . Aus g e ­
schichtlichen Erfahrungen lernen, war für Mediävisten der N achkriegszeit gleichbe­
deutend m it der V erpflichtung, ethische und w issenschaftsintem e W iderstände zu be­
nennen, die geschichtsw issenschaftliche A rbeit vor inhum aner Ideologisierung b e­
wahrt. Sie dachten über inhaltliche W ert- und Grundsatzfragen nach, nicht über neue
Problem stellungen, neue m ethodische Zugriffe, neue G egenstandsbereiche. W issen­
schaftliche Selbstbesinnung wurzelte im Gegenwarts- und G eschichtsverständnis einer
Generation, die sich R echensch aft zu geben suchte, w elche W ert- und W issenschafts­
traditionen im D ritten R eich Schaden genom m en hatten, m ißbraucht und pervertiert
worden waren. N icht neue Entwürfe waren gefragt, sondern bewährte Traditionen, an
die angeknüpft werden konnte. M ittelalterforschung, die tat, was eigentlich und schon
im m er ihre Aufgabe war, verpflichtete zur Edition urkundlicher und erzählender
Q uellen, zur gesicherten Feststellung von Tatsachen und V orgängen, zur R ekonstru k­
tion von W elt- und G eschichtsbild ern, zu spezialisierter Einzelforschung, nicht zu li­
terarisch anspruchsvollen Gesam tdarstellungen in politisch-pädagogischer A bsicht.
W issenschaftlicher N eubeginn im Jah re 1945 war deshalb „nicht der A ugenblick einer
verändernden R eform “7, nicht die Stunde m ethodischer Innovation; es kam darauf an,
jenen verm eintlich oder tatsächlich unzerstörten w issenschaftlichen G eist von neuem
zu beleben, der ehedem den R uhm deutscher W issenschaft begründet und den Z u ­
m utungen inhum anen M achtdenkens widerstanden hatte.
A nfängen bedeutete anknüpfen - auch auf dem Feld der Institutionen. Zur ge­
schichtlich verankerten Idee der deutschen U niversität zählte die „akadem ische Tradi­
tion der Selbstergänzung“8, der Gedanke korporativer A utonom ie, deren die Universi­
tät bedurfte, wenn sie ihre „hohe, erste Aufgabe“ darin erkannte, „in Lehre und For­
schung die Ergebnisse der W issenschaft rein zu erhalten, w eiterzugeben und durch ei­
gene A rbeit zu verm ehren“9. Eine neue, der Idee freiheitlicher Selbstbestim m ung ver­
pflichtete Universitätsverfassung sollte institutioneile Rahm enbedingungen schaffen,
die dem „allein der W ahrheit verbundenen G eist der freien Forschung und L ehre“ un­
gestörtes G edeihen gew ährleisteten10. D er G öttinger Theologe O tto W eber brachte in
einer Senatssitzung am 28. A pril 1945 zum A usdruck, was die Verantw ortlichen in
Universität und G esellschaft damals em pfanden und anstrebten: „D ie U niversität muß
7 Hermann Heimpel, Neubeginn 1945, in: Neue Sammlung 26 (1986) 164.
8 So der Göttinger Jurist Rudolf Smend. Vgl. Wiebke Fesefeldt, Der Wiederbeginn des kommuna­
len Lebens in Göttingen. Die Stadt in den Jahren 1945 bis 1948 (Göttingen 1962) 142.
9 Ebd., 156.
10 Ebd., 155.
W issen sch aft von der G esch ich te des M ittelalters nach 1945
91
und will zu ihrer Neugestaltung den W eg wieder aufnehm en, den sie seit 1933 auf
weiten G ebieten verlassen hat. Sie wird dann auch imstande sein, ihre traditionelle
A ufgeschlossenheit gegenüber den Problem en der W elt wieder zu gewinnen. Sie wird
alle ihre w issenschaftlichen K räfte in den D ienst des G eistes und der Zusam m enarbeit
stellen. Ihrer Tradition entsprechend wird sie eine Stätte nüchterner w issenschaftli­
cher A rbeit sein und ihre Studenten in diesem Sinne erziehen .“ 11
Neuanfang m einte Besinnung auf W erte und Einstellungen, die in der Vergangen­
heit die großen Leistungen deutscher G elehrtenschulen erm öglicht und begründet
hatten. D er H eidelberger Mediävist Fritz E m st schrieb rückblickend auf „D ie W ied er­
eröffnung der U niversität H eidelberg 1945/46“ : „An der U niversität versuchten wir,
auf die bleibenden Grundlagen des Geistes hinzuweisen, auf das, was der Universität
ihren Sinn und ihre Funktion gab .“ 12 Als erster Prorektor der Universität H eidelberg
hatte Fritz Ernst für ein neues „Ethos der W ahrhaftigkeit im G eistigen“ plädiert13, für
tolerante, unbefangene „Bem ühungen um den G eist und um die W ahrheit“ 14.
D ie Erneuerung der U niversität wurde als T eil einer anstehenden geistig-sittlichen
G esam terneuerung des deutschen V olkes begriffen. Fritz Ernst argum entierte im
Sinne Karl Jasp ers’, der sich nach K riegsende wiederholt öffentlich zu W ort meldete,
um darzutun, wie der „Neue G eist der U niversität“ beschaffen sein sollte. D ie pro­
gram m atischen Entwürfe von Jaspers beruhten auf Gedanken und Grundsätzen, wel­
che dieser bereits in seiner 1923 erschienen Schrift über „Die Idee der U niversität“ g e ­
äußert h atte 15. In seinen A ngaben „Zum Fragebogen der Besatzungsbehörde“ schrieb
11 Ebd., 157. - Nicht zu vergessen ist auch dies: Das Nachdenken über Aufgaben der W issen­
schaft vollzog sich unter Bedingungen, die durch Sorge ums nackte Überleben, durch Hunger,
Raum- und W ohnungsnot geprägt waren. Friedrich Hermann Rein, von 1946 bis 1948 Rektor
der Universität Göttingen, berichtete davon als mithandelnder und mitbetroffener Zeitgenosse:
„Die Sorgen des Alltags erschweren den Universitätsbetrieb und die Forschungstätigkeit sehr.
Das erste R echt aller geistigen Arbeiter, das Recht auf Alleinsein, bleibt durch die beängstigende
Raumnot in vielen Fällen unerfüllt. Der Mangel an Glühlampen und Heizmaterial und die häufi­
gen Stromabschaltungen machen die Arbeit oft zur Qual.“ (Die Georgia-Augusta nach dem
Kriege, in: Universitas 3 (1948) 230.) Hermann Ballnow schrieb 1950, auf die Anfänge des G öt­
tinger Universitätsbetriebs zurückblickend: „Die gesamte Vorlesungs- und Übungstätigkeit spie­
gelte sich daher zunächst in den zum Bersten überfüllten Hörsälen einiger Institute und K lini­
ken ab, die zum Teil nur dürftig geheizt und beleuchtet werden konnten“ (Bericht der Universi­
tät Göttingen, in: Studium Generale 3 (1950) 157). „Um den wirtschaftlichen Lebenskampf der
Studenten in jeder W eise zu erleichtern, wurde schon im Som m er 1945 das Akademische Hilfs­
werk als Stiftung öffentlichen Rechtes begründet“ (ebd., 161). Hermann Heimpel berichtet vom
guten Geist der Frau Ehrengard Schramm, „die Bollnow und mich im Spätsommer 1946 mit
harter Fürsorglichkeit zum Ährenlesen und Kartoffelnachroden auf Äcker bei Hedemünden“
schleppte (Heimpel, Neubeginn (wie Anm. 7) 166).
12 Fritz Ernst, Die W iedereröffnung der Universität Heidelberg, in: ders., Gesammelte Schriften,
hrsg. von Günther G. Wolf, 398.
13 Ders., Vom Studieren, ebd., 36914 Ebd., 372.
15 Vgl. dazu Joachitn-Felix Leonhard, Neubeginn und Weggang Karl Jaspers in Heidelberg von
1 9 4 5 -1 9 4 8 , in: Karl Jaspers in seiner Heidelberger Zeit, hrsg. von Joachim-Felix Leonhard (Hei­
delberger Bibliotheksschriften 8, Heidelberg 1983) 142.
92
K laus Sch rein er
Jaspers im Ju li 1 9 4 5 : „D er Sinn der H ochschule ist die Sorge für W ahrheit in allein,
was m ethodisch wissbar ist.“ D ie studierende Ju g end solle „durch T eilnahm e an der
W issenschaft zur unbedingten W ahrhaftigkeit erzogen und dadurch in ihrer H um ani­
tät, ihrem Sinn für R ech t und G erechtigkeit gestärkt werden“. A uch auf dem Feld des
Politischen, das „an der H ochschule besonders in der G esch ichte und Jurisprudenz, in
den Staatswissenschaften und der Sociologie G egenstand der Forschung“ sei, solle
„die Jugend den Raum h öchster K larheit und W ahrheit finden“. Jaspers bem erkte je ­
doch einschränkend: „A ber die H ochschule soll nirgends selber politisch werden,
nicht selber Entscheidungen fällen, nicht politische Erklärungen, A nerkennungen,
Postúlate abgeben.“ Politisch wirken solle die Universität als „ein gleichsam staats­
freier, übernationaler Raum . . . in dem allein um W ahrheit, iM enschlichkeit, Erzie­
hung und Bildung geistig gerungen wird“. Nur indirekt sei durch politische Bildung
am politischen Aufbau m itzuw irken. D en n : „W o aus der geistigen Erfassung Propa­
ganda wird, da ist die W issenschaft verlassen. D ie unheilvolle, ebenso unwahre wie fre­
che These des N ationalsocialism us, das gesamte w issenschaftliche Leben sei politisch
auszurichten, ist zu bekäm pfen.“ D er U niversität obliege die V erm ittlung elem entarer
K enntnisse und G esch icklich keiten ; insbesondere kom m e es an „auf ein wahres G e ­
schichtsbild (das in D eutschland neu geschaffen werden muß), auf die Begründung des
Ethos, auf Bibel und antike W elt, auf eine A nschauung des gegenwärtigen W eltzu ­
standes, damit der D eutsch e versteht, warum und wie er sich in die entstehende W e lt­
ordnung einfügen m uß, die den Erdball um fassen soll“ 16. Als Jaspers dies sagte und
schrieb, dachte er an die gegenwärtige und künftige Neugestaltung einer Universität,
„die sich nicht ohne eigenes Zutun den R uf der radikalsten U niversität im N ationalso­
zialismus erworben hatte“ 17.
W as im R ü ck blick auf die G esch ichte des eigenen Fachs verwundert, ist nich t zu­
letzt dies: D eutschlands H istoriker brauchten viel, sehr viel Z eit, ehe sie begannen,
sich m it ihrer eigenen V ergangenheit auseinanderzusetzen und die sachliche U nange­
m essenheit jen er G esch ichtsbild er bloßzulegen, die zwischen M achtergreifung und
Kapitulation angefertigt und propagiert worden waren, um den faschistischen U n­
rechtsstaat als historisch notwendiges und deshalb gesch ichtlich legitim es G ebilde an­
nehm bar zu m achen. Erst im Jah re 1967 veröffentlichte ein U nbetroffener, der damals
in H eidelberg lehrende M ediävist K arl Ferdinand W erner, einen knappen scharfsinni­
gen Traktat über „Das N S-G eschich tsbild und die G eschichtsw issenschaft“. Die
Grundlinien, die W ern er über die V erführbarkeit und Verw eigerung deutscher H isto­
riker herausarbeitete, sind kaum zu widerlegen. W en n zu A nfang der fünfziger Jahre
von der N otw endigkeit eines neuen M ittelalterbildes gesprochen wurde, geschah das
auf Grund zw ischenzeitlich erzielter Erkenntnisfortschritte und allgem einer Relevanz­
gründe, nicht deshalb, um Vorstellungen vom M ittelalter, m it denen das D ritte R eich
seinen historischen Legitim ationsbedarf gedeckt hatte, als zeitbedingte ideologische
K onstrukte zu dem askieren. „Das M ittelalter“, versicherte T h eo d or Mayer im Jahre
1952, „ist die Z eit, in der die Fundam ente für die rechtlichen und sozialen V erhält­
16 Ebd., 140 f.
17 Ebd., 125.
W issen schaft von der G esch ich te des M ittelalters nach 1945
93
nisse in Deutschland, für die politischen Zustände der Gegenw art in Europa gelegt
worden sind, in der auch die religiösen und geistigen Problem e in einer W eise durch­
gedacht und entschieden worden sind, die auch für die Gegenwart im m er wieder
gilt .“ 18 V on politischem M ißbrauch der m ittelalterlichen G esch ichte während des
D ritten R eiches war m it keiner Silbe die Rede. Das Verlangen nach einer neuen W is­
senschaft war groß. D ie Pflicht, sich und anderen über politische A npassungsleistun­
gen während des D ritten R eichs R echensch aft zu geben, wurde lange verdrängt.
Zusam m enbruch und W iederaufbau wurden gem einhin als w issenschaftsethische
H erausforderungen erfahren, nicht als A nstoß, sich über theoretische Grundlagen und
m ethodische Zugriffe der eigenen A rbeit G edanken zu m achen oder nach neuen G e ­
genstandsbereichen A usschau zu halten. „Alles ist neu zu sagen“, beteuerte Fritz Ernst
in einer Rede vor Studenten im Ja h r 1946. „K eine Lehre kann einfach wiederholen,
keine Theologie, keine Philosophie, kein H um anism us, sie waren alle, so wie sie wa­
ren, nicht stark genug gegen die Flu t .“ 19 N euheit begriff Ernst als hum ane, tatkräftige
Lebenspraxis, als „Forderung, den D ingen auf den Grund zu geh en“, als „schöpferi­
sche U nruhe“, die es verbiete, „beim Halbwissen, beim U nklaren stehen zu bleiben“,
als „Haltung des forschend Lernens“, als „echte geistige A rbeit“, die, „weil sie unab­
hängig m acht und frei“, Lohn und Ehre in sich selbst trägt20. Ein neues E thos sollte
auch eine neue W issenschaft hervorbringen. „Die Idee der U niversität“, schrieb der
Freiburger Mediävist Gerd Tellenbach in einem 1946 in der „Sam m lung“ veröffent­
lichten Aufsatz „Zur Selbstorientierung der deutschen U niversität“, „scheint uns
höchst lebendige A ntriebe bieten zu können“, wenn Professoren und Studenten kom ­
promißlos „zu dieser Idee steh en .“ 21
D er Glaube an die K raft unparteilicher W issenschaft war ungebrochen. E in O b je k ­
tivitätsideal, das sich dem m ethodisch W ißbaren verpflichtet wußte, erfüllte die Funk­
18 Theodor Mayer, Der Wandel unseres Bildes vom Mittelalter. Stand und Aufgaben der mittelal­
terlichen Geschichtsforschung, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 94 (1958) 2.
19 Ernst, Vom Studieren (wie Anm. 13), X X X . - Ähnlich Fritz Rörig, Stand und Aufgaben der
Hansischen Geschichtsforschung, in: Hansische Geschichtsblätter 69 (1950) 1: „Am Ende einer
Weltkatastrophe ohnegleichen, an der unser Volk handelnd und leidend mehr als ein anderes be­
teiligt war, ist Selbstbesinnung auch im Bereich der Wirksamkeit unseres Vereins [Hansischer
Geschichtsverein] geboten. W ir würden uns einem gefährlichen Irrtum hingeben, wenn wir glau­
ben wollten, in unserer wissenschaftlichen Arbeit einfach dort wieder anknüpfen zu können, wo
das Begonnene stockte.“ Rörig vermerkt ebd. Anm. 1. ausdrücklich, diesen Satz im Frühjahr
1947 niedergeschrieben zu haben. - Rörigs nachdenklich gestimmte Sätze beinhalten m. E. auch
selbstkritische Distanz zu eigenen Arbeiten. Noch in den späten dreißiger und beginnenden vier­
ziger Jahren hatte er nicht gezögert, am Beispiel der Hanse das W esen wahren Führertums, die
„Bindung der W irtschaft ans Blut“ und die überlegene „deutsche Führung in der Ostkolonisa­
tion“ kenntlich zu machen (vgl. Klaus Schreiner, Die Stadt des Mittelalters als Faktor bürgerlicher
Identitätsbildung. Zur Gegenwärtigkeit des mittelalterlichen Stadtbürgertums im historischen
Bewußtsein des 18., 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, in: Stadt im Wandel. Kunst und K ul­
tur des Bürgertums in Norddeutschland 11 5 0 -1 6 5 0 , Katalog zur Landesausstellung Niedersach­
sen Bd. 4 (Braunschweig 1985) 533).
20 Ernst, Vom Studieren (wie Anm. 13), 370.
21 Von neuem abgedruckt, in: Der sibyllinische Preis. Schriften und Reden zur Hochschulpolitik
1 9 4 6 -1 9 6 3 , hrsg. von Reinhard Mielitz (Freiburg i. Br. 1963) 18 f.
94
Klaus Sch rein er
tion eines rettenden Fluchtpunktes, in dem alle Erwägungen über zeitgem äße histori­
sche W issenschaft ku lm inierten22.
22 Dabei ließ sich nicht ausschließen, daß die Pflicht, über politische Verstrickungen Rechen­
schaft zu geben, durch Bekenntnisse zu wissenschaftlicher Objektivität ersetzt wurde. Der wis­
senschaftliche Werdegang Hermann Aubins ist für diesen Sachverhalt ein beweiskräftiges Bei­
spiel. In einer Ansprache mit dem Them a „Otto der Große und die Erneuerung des abendländi­
schen Kaisertums im Jahre 962“, die Aubin am 2. Februar 1962 vor der Ranke-Gesellschaft in
Mainz hielt, wollte er „das Phänomen der Erneuerung des abendländischen Kaisertums durch
Otto den Großen und ihre geschichtliche Bedeutung zur Gänze aus ihrer Zeit zu verstehen su­
chen“. Geschichtswissenschaft, die ihre Pflicht, „einen objektiven Standpunkt zu gewinnen“,
nicht ernst nehme und „wissenschaftliche Erkenntnisse mit den Interessen der eigenen Zeit“
vermenge, gerate auf Irrwege. (Hermann Aubin, Otto der Große und die Erneuerung des abend­
ländischen Kaisertums im Jahre 962 (Historisch-politische Hefte der Ranke-Gesellschaft 9, G öt­
tingen 1962) 2 f.). Bis in den Anfang der vierziger Jahre hat Aubin nicht gezögert, die gewalttätige
Reichsbildung des Führers als Sinn und Erfüllung deutscher G eschichte zu deuten. In einer 1938
veröffentlichten Sammlung von Aufsätzen und Vorträgen schrieb Aubin im Blick auf die „Heimholung“ Österreichs und des Sudetenlandes, die Zerschlagung der Tschechoslowakei und die
Unterwerfung Polens: „Was wir indes selbst noch vor einem Jahr nur in unseren Gedanken als
Einheit aufzurichten und in unserem Inneren zu empfinden vermochten, das größere Deutsch­
land, sehen wir heute dankbaren Herzens unter Adolf Hitlers Führung als staatliche Wirklichkeit
vor uns“ (Von Raum und Grenzen des deutschen Volkes. Studien zur Volksgeschichte (Breslau
1938) S. III). Mit nationaler Euphorie, welche die Leiden der Besiegten verdrängte, und ganz im
Sinne nationalsozialistischer Tagespolitik schloß auch Aubins „Geschichtlicher Aufriss des Ost­
raums“ (1940). Es heißt da: „Das Selbstbestimmungsrecht der Völker hat sich diesmal zugunsten
der Deutschen des geschlossenen Volksbodens siegreich durchgesetzt, weil wieder ein einiges
deutsches Volk unter einheitlicher Führung dem Osten entgegengetreten ist. Es hat damit einen
großen Teil des einstmals schon von ihm besessenen Ostraumes wieder mit seinem Staat zu ver­
einigen vermocht und es hat noch darüber hinaus seine schützende und ordnende Hand über ei­
nen weiteren Teil des Ostraumes ausgestreckt. W ir sehen darin das Zeichen dafür, daß es bereit
ist, eine Verantwortung für die Gestaltung dieses Ostraums zu übernehmen, in den seine Vorvä­
ter so unendlich viel an Blut, Geist und Arbeit gesenkt haben, und der als die offene Seite seines
eigenen Lebensraums nicht ohne die Teilnahme der Deutschen geordnet werden kann.“ (Ge­
schichtlicher Aufriss des Ostraums (Berlin 1940) 44.) Bei einem am 30. Juli 1940 gehaltenen Vor­
trag über „Die volkspolitische Bedeutung in Gewerbe und Industrie in Ostdeutschland“, der
1941 gedruckt wurde, brachte Aubin die Ostpolitik Karls des Großen mit Hitlers kriegerischer
Raumbeschaffung im Osten in einen Zusammenhang. „Wie einst Karl d .G r “, schrieb Aubin,
„unseren seit Jahrhunderten nach Süden und W esten schauenden Ahnen das Antlitz herumge­
kehrt und die Ziele gewiesen hat, die seiner auch im Osten harrten, so hat zum zweiten Male
Adolf Hitler den Deutschen die Sicherung dieser Front zu einer unabdingbaren Pflicht ge­
macht.“ Aubins Nutzanwendung für den einzelnen Volksgenossen lautete: Der Rückblick auf die
Geschichte des ursprünglich deutschen Ostens könne niemanden, der sich für das deutsche
„Schicksal mitverantwortlich fühlt, im Zweifel lassen, daß es eine Lebensfrage unseres Volkes ist,
seine Ostlandschaften genügend mit Menschen zu füllen und diese Menschen durch einen ge­
rechten Ausgleich der Daseinsbedingungen daselbst seßhaft zu erhalten“. D enn: „Täuschen wir
uns nicht, das Schicksal des deutschen Volkes wird davon abhängen, ob es seine O stfro n t zu
verteidigen weiß, nicht nur mit den Waffen, sondern vor allem auch in dem lautlosen Ringen der
Volkstümer, das mit den W orten Geburtenzahl, Landflucht und Unterwanderung oder Schollen­
verbundenheit überschrieben ist“ (Die volkspolitische Bedeutung von Gewerbe und Industrie in
Ostdeutschland (Breslau 1941) 43 f.). - In den „Erinnerungen an Hermann Aubin (1885-1969).
Beiträge zum Persönlichkeitsbild des Hochschullehrers und ersten Präsidenten d e s j. G. Herder­
Forschungsrates anläßlich seines 100. Geburtstages am 23. Dezem ber 1985“, hrsg. vom Johann-
W issen sch aft von der G esch ich te des M ittelalters nach 1945
95
„W ille zur O bjektivität“, schrieb H erbert Grundm ann, als er rückblickende „B e­
trachtungen über eine deutsch-englische H istorikertagung“ in O xford im Ja h re 1950
anstellte, sei die „vornehm ste, dringlichste Aufgabe der G eschichtsw issenschaft“23.
Politische und politisierende H istoriker, „die eher wußten, was sie wollten, als daß sie
w ollten“, waren ihm suspekt24. Nur solche W issenschaft, die „ganz einfach die W ahr­
heit über die G esch ichte erforschen will“, könne ins Leben eingreifen. W issenschaft
von der G esch ichte verm ittle nicht nur Fertigkeiten und K enntn isse, sie erziehe auch
dazu, „gelten zu lassen, was als wirklich bezeugt ist, auch wenn man es anders wünscht
und nicht gern wahrhaben m ö chte“. W issenschaft von der G esch ichte, die ihren eige­
nen Prinzipien treu bleibe, verpflichte zu Toleranz gegenüber frem den, unbequem en
Tatsachen und Einstellungen, erziehe „zu einer geistigen H altung und m enschlichen
G esinnung, die zwar keiner einzelnen Partei Vorbehalten ist, nur m it allem D ogm atis­
mus, Radikalismus und Fanatism us sich nicht verträgt, aber die Voraussetzung ist für
das anständige, m enschliche Z usam m enleben A ller - das Z iel jed er guten Politik“25.
N eubeginn bedeutete unter den Bedingungen der N achkriegszeit R ü ck kehr zu in­
tellektueller Rechtschaffenheit, nicht A ufbruch zu neuen m ethodischen und theoreti-
Gottfried-Herder-Forschungsrat e.V., Marburg/Lahn 1987, bleiben Konzessionen, die Hermann
Aubin an den Zeitgeist der nationalsozialistischen Ära machte, ausgespart. K einer der sich erin­
nernden Redner hat den Versuch unternommen, an Hand von Aubins Veröffentlichungen im
Dritten Reich Rechenschaft zu geben, in welcher Weise der Gefeierte zeitübliche Ideologien zur
Grundlage und zum Maßstab seiner historischen Deutungen und Urteile machte. Heinrich Ap­
pelt beschreibt in seinen „Persönlichen Erinnerungen an Hermann Aubin“ dessen politische E in­
stellung nach dem ersten W eltkrieg und in der Zeit des Nationalsozialismus folgendermaßen:
„Aubin war ein deutschnational gesinnter Liberaler, der die Friedensverträge von Versailles und
Saint-Germain als eine Schm ach empfand. Auf der anderen Seite lag ihm jede Art von Antise­
mitismus in der Theorie und in der Praxis gänzlich fern. V o l l k o m m e n f r e m d wa r i h m v o n
A n f a n g an u n d b l i e b i h m s t e t s di e M e n t a l i t ä t d e s N a t i o n a l s o z i a l i s m u s . (Sper­
rung vom Verf.) Er machte aus seiner Abneigung gegen die Partei und ihre Gliederungen kein
Hehl und grüßte auch im Dritten Reich grundsätzlich mit ,Grüß Gott*. Er verachtete vor allem
die kleinen Funktionäre, über deren unbeholfene Mittelmäßigkeit und Unbildung er köstliche
Anekdoten zu erzählen verstand, die ihn selber am meisten erheiterten. Aber er hielt es für seine
vaterländische Pflicht, im Zweiten W eltkrieg auszuharren, und so tief er Hitler verabscheute, äu­
ßerte er sich doch zurückhaltend über die Berechtigung des Attentats vom 20. Juli. Die Idee des
Volkstums war ihm als Sudetendeutschen gewissermaßen in die Wiege gelegt. Er wünschte das
Selbstbestimmungrecht für alle Deutschen, verwarf aber rückhaltlos die brutale Expansionspoli­
tik, die es anderen Nationen zu rauben trachtete. Man machte ihm im Dritten Reich keine
Schwierigkeiten, aber eine Berufung an eine andere Universität, die angesichts der Bedeutung des
hervorragenden Gelehrten ungemein nahegelegen wäre, blieb ihm ebenso versagt wie der Zu­
gang zu akademischen W ürden und Ämtern.“ (S. 35 f.) - Das alles darf, soweit es den Privatbe­
reich Aubins berührt, Glaubwürdigkeit beanspruchen. Aubins veröffentlichte historisch-politi­
sche Urteile sahen nachweislich anders aus. Der Widerspruch zwischen öffentlicher und privater
Existenz im Leben des Hermann Aubin ist offenkundig.
23 Herbert Grundmann, Geschichte, Politik und Erziehung. Betrachtung über eine deutsch-engli­
sche Historikertagung, in: G eschichte in Wissenschaft und Unterricht 1 (1950) 115.
24 Ebd., 114.
25 Ebd., 1 1 5 f. - Vgl. dazu M ax Weber, Wissenschaft als Beruf (Berlin 61975) 26: „Wenn jemand
ein brauchbarer Lehrer ist, dann ist es seine erste Aufgabe, seine Schüler unbequeme Tatsachen
anerkennen zu lehren.“
96
K lau s Sch rein er
sehen Ufern. W er sich von Berufs wegen m it der W iederherstellung des Vergangenen
beschäftigte, sollte sich „der im m er gleichen Grundlagen“ seiner W issenschaft bewußt
bleiben: „des Strebens nach m ethodischer Sauberkeit und reiner E rkenn tnis“26. W is­
senschaftliche Sachtreue und intellektuelle R echtschaffenh eit hieß das G eb ot der
Stunde. Das Ideal der reinen O bjektivität sollte das Z eitalter der Ideologien beenden.
W er damals für unparteiliche W issenschaft eintrat, rechnete nich t m it der M öglich­
keit, daß sich auch Leitbilder wie O bjektivität und Ü berparteilichkeit zur R echtferti­
gung und D urchsetzung politischer Interessen m ißbrauchen lassen. Bekenntnisse zur
O bjektivität schützen, wie die G esch ichte der deutschen G eschichtsw issenschaft zeigt,
nicht gegen politische W illfährigkeit.
D er politische und w issenschaftliche Erfahrungshorizont des Jah res 1945 schließt es
allerdings aus, die m it N achdruck im m er wieder erhobene Forderung nach O bjektivi­
tät kurzerhand unter Ideologieverdacht zu stellen. B eachtet man die zeitgeschichtli­
chen Um stände derartiger O bjektivitätsforderungen, kom m t das Verlangen nach O b ­
jektivität, nach m eth od ischer Sauberkeit und reiner, apolitischer E rkenntnis dem B e­
kenntnis zu einer W issenschaftstradition gleich, die in den zwölf Ja h ren zuvor als R e­
likt eines liberalen, volksfeindlichen O bjektivism us gebrandm arkt worden war.
Politische Z eitstim m ungen spiegeln sich in dem „Entwurf einer D eutschen G e­
schichte“, den H erm ann H eim pel 1953 in einer G öttinger Rektoratsrede vortrug und
anschließend in gekürzter Fassung in der „Sam m lung“ veröffentlichte. H eim pel hielt
es für eine „vaterländische A ufgabe“, eine „D eutsche G esch ich te“ zu schreiben, „zu­
gleich tiefgreifend und leicht fasslich, aus der Erschütterung neu gedacht und doch
plastisch, ein Buch, das dem D eutschen, der sich in die G esch ichte verflochten weiß,
ein unklares Bild klärt und som it dem deutschen V olk ein richtiges und ruhiges ge­
schichtliches Bew ußtsein bilden hilft, W allungen und Reaktionen in E insichten und
A ktionen, Vorurteile in U rteile verwandelt“. Ein „richtiges und ruhiges gesch ichtli­
ches Bew ußtsein“ betrachtete H eim pel als notwendigen Bestandteil „eines richtigen
und ruhigen, von Ressentim ents freien nationalen Selbstbew ußtseins“27. H eim pel
m ahnte an, was für H istoriker der D D R selbstverständliche P flich t war. In der G e­
schichtsw issenschaft der D D R wurde näm lich zu A nfang der fünfziger Jah re die
selbstkritische Beschäftigung m it dem „Irrweg der N ation“ abgelöst durch eine be­
wußte Zuwendung zu Them en , die „echten Patriotism us“ hervorrufen sollten. H eim pels Feststellung, daß sich die G eschichtsw issenschaft im w estlichen Teil D eutsch­
lands „gleichzeitig durch w eltgeschichtliche Extensität und durch landesgeschichtli­
che Intensität“ auszeichne, Fragen nationaler A rt hingegen ausspare, wertete Leo
Stern als „das klare Eingeständnis der Krise der bürgerlichen G eschichtsschreibung
der Gegenwart“. Bürgerliche G eschichtsschreiber, beteuerte Stern, seien „einfach
nicht m ehr im stande“, „die großen Fragen der N ation zu stellen und zu lösen“. Mit
26 Rörig, Stand und Aufgaben (wie Anm. 19), 13.
27 Hermann Heimpel, Entwurf einer Deutschen Geschichte. Eine Rektoratsrede [vom 9. Mai
1953], in: ders,, Der Mensch in seiner Gegenwart (Göttingen 1954) 165.
W issen sch aft von der G esch ich te des M ittelalters nach 1945
97
beachtlicher „M eisterschaft im H andw erklichen“ verbinde sich bei ihnen „offenkun­
dige U nfähigkeit, in den K ategorien der Nation zu denken“28.
In der H istorikerzunft des w estlichen Deutschlands fand sich niem and, der H eim pels Entwurf aufgriff und verwirklichte. Erinnerungen an die politische Instrum entali­
sierung der G esch ichte in der Z eit der H itler-D iktatur schreckten ab und m achten
skeptisch gegen eine G eschichtsschreibung im Interesse nationaler Selbstvergewisse­
rung. Verfassungsrechtlich garantierte W issenschaftsfreiheit dispensierte von der
Pflicht, für die Selbstfindung der Nation tätig zu werden. „Beides, die historische
Ü berlegenheit der w estlichen M ächte und Ideen sowie das deutsche Trauma, trugen“,
wie W erner Conze bem erkte, „ihren T eil dazu bei, daß - in scharfem Gegensatz zum
anderen Teil D eutschlands - die G eschichtsw issenschaft der G efahr des nationalen
Identitätsverlustes wenig entgegenzusetzen versuchte .“29
Skepsis gegen die Rekonstruktion identitätsstiftender G eschichtsauffassungen darf
nicht darüber hinw egtäuschen, daß die geschichtsw issenschaftliche Lehr- und For­
schungstätigkeit, die in H örsälen und Sem inaren stattfand, als sich die Tore von
Deutschlands U niversitäten von neuem öffneten, durch ein hohes Maß an K ontinuität
bestim m t war. D ie „personelle K ontinu ität“ blieb weitestgehend gewahrt. K ein em der
politisch belasteten und deshalb zeitweilig entlassenen M ediävisten blieb auf Dauer
die R ü ckkehr auf seinen Lehrstuhl verwehrt. Lehre und Forschung konnten dort fort­
gesetzt werden, „wo sie 1944, oder im uneingeschränkt freien Sinne, 1933 abgebro­
chen worden waren“. In der T at: „Vieles ging altgewohnt weiter, als ob nichts E in ­
schneidendes geschehen gewesen wäre .“30
„Der Doyen der G öttinger H istoriker, Karl Brandi, hatte im W intersem ester
1944/45 ,M ittelalter I‘ gelesen“; für das W intersem ester 1945/46, das in G öttingen am
17. Septem ber begann, „kündigte er ,M ittelalter II‘ an: G eschichte der deutschen K ai­
serzeit“, um, wie Siegfried K aehler nicht ohne Ironie bem erkte, „das farbenprächtige
Bild deutscher K aiserzeit vor einer großen und em pfänglichen Z u hörerschaft“ von
28 Leo Stern, Z u r geistigen Situ ation der b ürgerlichen G esch ich tsw issen schaft der G egenw art, in:
Z fG 1 (19 5 3 ) 8 4 5 (bei dem A ufsatz hand elt es sich um eine bei der Inaugurationsfeier am 28. N o­
vem ber 1953 in der A ula der M artin-L uther-U n iversität H alle-W itten b erg gehaltene R ektorats­
rede). - Vgl. dazu auch Engelbergs Forderung, daß es Sach e der G esch ich tsw issen schaft sei, „ech­
ten deutschen Patriotism us“ zu entw ickeln (s.U .S. 104, A nm . 50).
29 Uyerner Conze, D ie deutsch e G esch ich tsw issen schaft seit 19 4 5 . Bedingungen und Ergebnisse,
in: H Z 225 (1 9 7 7 ) 14. - V gl. z .B . Rörig, Stand und A ufgaben (wie A n m . 19), 12: „Gegenw artsbezogenheit hansischer G esch ich te b esteh t für uns n ich t darin, daß wir sie für eine p olitische G e ­
genw artsforderung als g esch ich tlich e L egitim ation verwerten w ollen, sondern daß wir aus ihrem
m en sch lich-p olitisch en V erhalten zun ächst ein m al in unserer A u fgesch lossen heit lern en .“
M Conze, G esch ich tsw issen schaft (wie A n m . 29), 11 f. - Vgl. auch K a rl Jo rd a n , A sp ekte der M it­
telalterforschung in D eutsch lan d in den letzten fünfzig Ja h re n , in : A usgew ählte A ufsätze zur G e ­
schich te des M ittelalters (K ieler H isto risch e Studien 29, Stuttgart 1980) 3 3 9 : „In jü ng ster Z eit
hat man der deutschen G esch ich tsw issen schaft nach 1945 w iederholt den V orw urf gem ach t, sie
sei rein restaurativ gew esen und habe nach dem En de des D ritten R eich es dort w ieder angefan­
gen, wo sie 1933 aufgehört habe. Erst die m oderne Soziologie habe ihr die erford erlichen neuen
D enkanstöße gegeben. D ieser m . E . auch son st n ich t gerech tfertigte V orw urf trifft für die deut­
sche M ediävistik schon deshalb n ich t zu, weil für sie, wie ich zu zeigen versuchte, das Ja h r 1933
keine Z äsur bildete, sondern ihre A rb eit in der Folgezeit kon tin uierlich w eiterging.“
K lau s Sch rein er
98
neuem entstehen zu lassen31. Zw ischen M ittelalter I und M ittelalter II lag die „größte
W ende der europäischen G esch ich te“32.
D ie Z eit, die zu erforschen Sache der Mediävisten war, lag vor dem Absturz in die
Barbarei. Sie m ußten nich t R echensch aft geben, weshalb eine junge, ungefestigte D e ­
mokratie dem A nsturm totalitärer K räfte nicht standgehalten hatte. Das deutsche M it­
telalter war „bei der Suche nach den Ursachen der K atastrophe kaum gefragt“33. Nur
m it H ilfe abstruser K onstruktionen ließ sich die m ittlere Z e it in die unm ittelbare V o r­
geschichte des faschistischen Gewalt- und U nrechtsstaates einbeziehen. K orrum piert
waren einige historische Phänom ene, die parteihörige Mediävisten zu Versatzstücken
der nationalsozialistischen Ideologie gem acht hatten. D er m ittelalterliche R eichsge­
danke, der in den Jah ren zuvor für die Legitim ation großdeutscher Raum politik her­
halten m ußte, war angesichts der Niederlage und T eilu ng Deutschlands obsolet ge­
worden. H einrich Fichtenau veröffentlichte 1949 ein Buch über „Das karolingische
Im perium . Soziale und geistige Problem atik eines G roßreiches“, in dem er - zeitge­
nössische Erfahrungen nicht aussparend - unverhohlene Skepsis gegen alle Form en
großräum iger H errschaftsbildung zum Ausdruck brachte34. H einz Löwe brachte
„Grenzen des K aisergedankens“ zu Bew ußtsein35. Das Zeugnis der Q uellen entlarvte
31 Heimpel, N eu beginn
(wie A n m . 7), 165 und A n m . 22.
32 Ebd., 165. - D ie von Brandi praktizierte K o n tin u ität war n ich t unsym ptom atisch, aber kein es­
falls die R egel. D er Freiburger M ediävist G erd T ellen bach h ielt am Spätnach m ittag des 9. März
1945 seine „letzte V o rlesu ng, über den heiligen Franciscus in K u n st und L egen de“, n achdem er
„noch den Son n eng esan g vorgetragen h atte“. W eil „Luftalarm gegeben wurde“, b erich tet T ellen ­
bach, „sprach ich im K e lle r der W o h n u n g unseres A lth istorikers Jo se p h V o g t“ ( G erd Tellenbach,
Aus erin n erter Z eitg esch ich te (Freiburg i.B r. 1981) 98). Bereits 1945 verfaßte er „eine Schrift,
trotz der ungünstigen A lltagsbedin gun gen, trotz der vielen Ä nderungen des A u fen th altsortes, oft
auf den K n ien sch reib en d , ,D ie deutsch e N ot als Schuld und S c h ic k s a l'“ (ebd., 1 1 3 f.). Im W in ­
tersem ester 1946/47 und im S o m m ersem ester 1 9 4 7 h ielt er „eine je einstündige zusam m en h än ­
gende V orlesung über das ge sch ich tlich e Bew ußtsein von der G o eth ezeit bis zur G egenw art“
(119).
33 Horst F u h rm a n n , D as Interesse am M ittelalter in h eutiger Z eit. Beobach tu ngen und V erm u ­
tungen, in : Einladung ins M ittelalter (M ü nch en 1987) 265.
34 Friedrich H eer su ch te in sein em „cum ira et Studio“ gesch rieb en en Bu ch über den „Aufgang
Europas. E in e Studie zu den Z u sam m en hän gen zw ischen p olitisch er R eligiosität, Fröm m ig k eits­
stil und dem W erd en Europas im 12. Ja h rh u n d e rt“ (W ien , Z ü rich 1949) in dem „R aum - und
Kraftfeld des A lten R eich e s“ den „A nsatzpunkt der tragischen K o n fu sio n der d eutsch en G e ­
sch ich te“ ausfindig und k en n tlich zu m achen. Sein e T h ese lau tete: „D er Totalstaatsversuch H it­
lers läßt sich nur von reich isch en Bezügen h er verstehen - aus der Perversion, gewiß, aber auch
aus der ech ten N achfolge des alten Sacrum Im perium . D ie G laubenskräfte, die ihm zuflossen,
fließen aus sicherlich getrü b ten , aber alten Q u ellen “ (ebd., 659). - Z u H eers D eutung des M ittel­
alters vgl. A nton M ayer-P fannholz, Friedrich H eer und die K rise des M ittelalters, in : H ochland
25 (1952/ 53) 4 5 5 bis 4 6 4 ; F ierm an n Heimpel, E n trom antisierun g der G esch ich te, in : D eutsch e
U niversitätszeitung Jg . 8, H. 5 (1 9 5 3 ) 18.
35 H ein z Löwe, V on den G ren zen des K aisergedankens in der K arolin gerzeit, in: D A 14 (1958)
3 4 5 - 3 7 4 ; ders.: K aisertu m und A bendland in o tto n isch er und frühsalischer Z eit, in : H Z 96
(1 9 6 3 ) 5 2 9 -5 6 2 . V gl. dazu auch K lau s Schreiner, Friedrich Barbarossa - H err der W elt, Z euge der
W ah rh eit, die V erkörperun g n ation aler M acht und H errlichkeit, in : D ie Z e it der Staufer. G e ­
schich te - K u n st - K u ltu r, hrsg. von R einer H ausherr, Christian Väterlein, Bd. 5 (Stuttgart 1979)
5 5 9 f.
W issen schaft von der G esch ich te des M ittelalters nach 1945
den
a n g e b lic h e n
99
W eltherrschaftsanspruch des m ittelalterlichen K aisertum s als poli­
tisch aufgeladene Ideologie. „Aus der O stkolonisation“, einem beliebten Gegenstand
ationalsozialistischer G eschichtsideologie, „wurde die Flüchtlingsfrage, deren Bewälti ung die M enschen m ehr beschäftigte, als das Räsonieren über eine angeblich unver­
lierbare historische Leistung“36.
Nicht zuletzt war es das liberal-dem okratische Gedankengut der w estlichen W elt,
das die W iederherstellung einer freien, von expliziten politischen Vorgaben entlastetcn Praxis geschichtsw issenschaftlicher Forschung förderte. Das Freiheitsideal westli­
cher Prägung, an dem sich der staatliche und gesellschaftliche W iederaufbau nach
1945 o rie n tierte , gebot Freiheit des Lehrens und Forschens. Politische Auflagen waren
mit dem Ideal w estlicher D em okratie n ich t zu vereinbaren. D em okratische R ahm en­
bedingungen erm öglichten die keinesfalls selbstverständliche Tatsache, daß ein Tradi­
tionsbruch in der G eschichtsw issenschaft nicht stattfand. O bjektivität, das K en n - und
E h ren zeich en freier W issenschaft, stiftete Zusam m enhang m it den besten deutschen
W issenschaftstraditionen, die, hält man sich an das w issenschaftliche Selbstverständnis
der Zeitgenossen, nur zwischen 1933 und 1945 eine zeitweilige Trübung erfahren hat­
ten. Es gab in der w estlichen Republik weder 1945 noch in den Jah ren danach politi­
sche, parteiliche oder parlam entarische Beschlüsse über „Die Verbesserung der For­
schung und Lehre in der G eschichtsw issenschaft“, kein staatliches Organ, das Vorga­
ben und Vorschriften m achte, keinen Verband, der Forschungspläne dekretierte. Der
einzelne war auf sich selber, seine Erfahrungen, sein Gewissen und sein Verantw or­
tungsgefühl zurückgeworfen. D ie vom Parlam entarischen Rat geschaffene Verfassung
der Bundesrepublik garantierte die „Freiheit der W issenschaft, der Forschung und
Lehre“; sie verpflichtete zur „Treue zur Verfassung“, um einen Freiheitsgebrauch, der
die Existenzbedingungen der D em okratie und damit die Freiheit aller aufs Spiel setzt,
zu verhindern.
Der kontinuierliche Fortgang der M ittelalterforschung ist allenthalben m it Händen
zu greifen. A lte, bewährte Forschungsinstitute wurden wiederaufgebaut; neue, welche
bestehende Forschungsm öglichkeiten ausweiteten, kam en hinzu. Als Innovationsschub wirkten sie nicht. N ach einem Asyl von fünf Jah ren im fränkischen Pom m ersfelden nahmen die ursprünglich in Berlin beheim ateten „M onum enta Germ aniae H i-
36 Fuhrm ann, Interesse am M ittelalter (wie A n m . 33). - Das schloß n ich t aus, daß schon bald
nach 1945 eine intensive Beschäftigung m it der G esch ich te der ehem aligen d eutsch en O stge­
biete einsetzte; siehe dazu das Literaturverzeichnis in dem jüngst ersch ien en en Bu ch von Charles
Fligounet über „D ie deutsche O stsiedlu ng im M ittelalter“ (Berlin 1986). V erf. sprich t ebd., S. 18
von einer in der Bundesrepublik nach 1 9 4 5 gepflegten „O stforschung“, die „w eiterhin sehr rüh­
rig ist“. Zu erinnern b leibt an die seit A nfang der fünfziger Ja h re ersch ein en d en „Q u ellen und
Darstellungen zur schlesisch en G e s ch ich te “, die von der „H istorischen K o m m issio n für S ch le­
sien“ herausgegeben w erden, sowie an das Ja h rb u ch der schlesisch en F ried rich -W ilh elm s-U n iv ersität, das im Auftrag der „Stiftu ng K u lturw erk S ch lesien “ seit 1955 ersch ein t. N icht zu vergessen
sind auch eine R eih e respektabler U rk u n d ened itio n en: das Sch lesisch e U rkun denbuch , das Preu­
ßische Urkundenbuch, das P o m m ersch e U rk un d enbuch , die U rkunden und R egesten zur G e ­
schichte des T em plerordens im Bereich der B istü m er C am in und Brandenburg und der K irch en provinz Gnesen.
100
K laus Sch rein er
storica“ im Septem ber 1949 in M ünchen ihre A rbeit wieder auf. Sie taten das als ge­
sam tdeutsches U nternehm en, dem eine A ufteilung der W issenschaft nach Maßgabe
der Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Gesellschaftssystem en und politischen Blökken noch fremd war. Zu A nfang der 50er Jah re entstand der „K onstanzer Arbeitskreis
für m ittelalterliche G e sch ich te “, dessen „Vorträge und Forschungen“ zu einem w ichti­
gen und gew ichtigen Organ der deutschen Verfassungsgeschichte wurden. Nach
Überwindung m annigfacher Schw ierigkeiten wurde 1953 das D eutsche H istorische
Institut in Rom von neuem eröffnet. Das 1955 gegründete M ax-Planck-Institut für
G esch ichte widm ete sich der Erforschung der m ittelalterlichen K önigspfalzen, um
K larheit darüber zu erlangen, was diese Z entren königlicher H errschaft und W irt­
schaft eigentlich waren. Aus der H interlassenschaft seines Vorläufers, des H istorischen
Instituts bei der K aiser-W ilh elm -G esellschaft in Berlin, hatte das M ax-Planck-Institut
die Germ ania Sacra übernom m en, ein für die m ittelalterliche K irchengeschichte
grundlegendes Forschungsvorhaben.
D ie alten Z eitschriften erschienen wieder, ohne daß sich deren H erausgeber über
neue K onzepte G edanken m achten. Grundsätzliche Stellungnahm en brachten die
„H ansischen G esch ichtsblätter“ und das „ A r c h i v für K ultu rgeschichte“. Fritz Rörig
plädierte als V orsitzender des H ansischen G eschichtsvereins für eine neue G esch ich ts­
wissenschaft im G eist der W ahrhaftigkeit und O bjektivität, für die behutsam e Pflege
eines „in sich selbst objektiv wertvollen A bschnitts der deutsch-europäischen G e ­
schichte . . . aus einer sich wandelnden und erneuernden G eisteshaltung“ heraus, um
den „inneren G eh alt der hansischen G esch ichte fruchtbar m achen“ zu können „für
die allm ähliche Überw indung unserer großen deutschen N ot“37. D ie Herausgeber des
.Archivs für K u lturgeschichte“, W alter G oetz, H erbert G rundm ann und Fritz W agner,
gaben R echensch aft darüber, weshalb sie den Begriff „K ulturgeschichte“ dem Begriff
„G eistesgeschichte“ vorziehen. D er Begriff „K ulturgeschichte“, argum entierten sie, sei
„noch im m er besser geeignet, das Ganze des gesch ichtlichen Lebens zu um greifen“,
indes der Begriff „G eistesgeschichte“ in seiner vieldeutigen U nbestim m theit oft m iß­
braucht wurde und „fast schon zum Schlagwort“ deform iert sei. D er Begriff „G eistes­
gesch ichte“, führten sie aus, könne näm lich zu der einseitigen Auffassung verführen,
„als ließe sich die G esch ich te des Geistes getrennt von der Betrachtung der politi­
schen, sozialen, w irtschaftlichen K räfte und Bewegungen verstehen; er wäre damit nur
die K ehrseite, nicht die Überwindung einer .m aterialistischen“ G eschichtsauffas­
sung“38. Das war ein zaghafter V ersuch, Lam prechts Begriff der K ulturgeschichte,
37 Rörig, Stand und A ufgaben (wie A n m . 19), 13.
38 A rchiv für K u ltu rg esch ich te 3 3 (1 9 5 1 ), V orw ort 1 f. - W as G oetz unter .K u ltu rg esch ich te“ ver­
stand und wie er sie b etreib en w ollte, blieb n ich t folgenlos. H a n s B aron w idm ete sein 1955 er­
schienen es Buch „T he Crisis o f th e Early Italian R en aissance“ (1 9 5 5 ) sein em Lehrer W alth er
G oetz, der ihn leh rte, „daß die H istorie das Studium sowohl der P olitik als auch der K u ltu r um ­
fassen so llte“. Baron gin g von zwei G run dan nah m en aus. „E rstens: die R enaissance war ein e n t­
scheiden der W en d ep u n k t in der G esch ich te des D en k en s; die W an dlun gen im B ereich der
K u nst lassen sich in ein en Z usam m en han g m it neuen Ideen und n euen Idealen bringen. Z w ei­
tens: die U rsache für kulturelle W andlungsp rozesse m uß m an in der G esellsch aft als gan zer su­
c h e n “. (zit. nach Peter Burke, D ie R en aissance in Italien. Sozialgesch ich te ein er K u ltu r zwischen
T radition und Erfindung (Berlin 1 9 8 4 ) 24.)
W issen sch aft von der G esch ich te des M itteialters nach 1945
101
dem zufolge W echselw irkungen zwischen ideellen und m ateriellen Faktoren histori­
sche Prozesse konstituieren, für den N eubeginn fruchtbar zu m achen.
D ie „H ansischen G esch ichtsblätter“ und das ,A rch iv für K u lturgeschichte“ blieben
A usnahm en. V erzicht auf Erwägungen grundsätzlicher A rt kennzeichnet gem einhin
das W iedererscheinen m ediävistischer Z eitschriften. Das „D eutsche A rchiv“ stellte
1944 m it Band 7 sein E rscheinen ein ; als Band 8 erschien 1950 der erste Nachkriegsband. W äre dem Band 8 nich t ein Vorw ort über die m ühselige Neuorganisation der
„M onum enta“ vorausgeschickt und stünde in diesem nicht, daß „von einer W ieder­
wahl des früheren Präsidenten des ehem aligen R eichsinstituts, Prof. T heod or Mayer,
m it R ü cksicht auf seine politische Belastung abgesehen werden“ m ußte39, an der the­
m atischen Gestaltung der beiden Bände und an der Auswahl der A utoren könnte man
n icht ablesen, daß sich in der Zw ischenzeit die politische U m w elt von Grund auf ge­
ändert hatte.
K ontinuität dokum entiert sich in zahlreichen M onographien, die während des D rit­
ten Reiches veröffentlicht worden waren und nach 1945 unverändert nachgedruckt
wurden. Ein ganzes Bündel von A rbeiten m üßte da genannt werden; „Die E ntstehung
des D eutschen R eich es“ von Gerd T ellen bach 40, der „Staat des hohen M ittelalters“
von H einrich M itteis, die „Fürstenspiegel“ von W ilhelm Berges, die „Entstehung der
Landesherrschaft“ von W alter Schlesinger, „Land und H errschaft“ von O tto Brunner,
wenn auch nicht ganz unverändert, aber im m erhin. In unverändert altem W ortlaut
wurden von neuem gedruckt Carl Erdm anns „Entstehung des Kreuzzugsgedankens“
sowie die „G esam m elten A ufsätze“ von H ans-W alter Klew itz. D ie Entwürfe des
ideenreichen H ans-W alter Klew itz, der nicht m ehr aus dem K rieg zurückkehrte, sind
von anderen nach 1945 aufgegriffen und verwirklicht worden.
Das m ehrbändige W erk von Percy E m st Schram m über „H errschaftszeichen und
Staatssym bolik“, das seit A nfang der 50er Jah re erschien, verkörperte nicht ein neues
Paradigma geschichtsw issenschaftlicher Forschung, sondern setzte fort und brachte
zum A bschluß, was Schram m in seinem bereits 1928 veröffentlichten W erk „Die
deutschen K aiser und K önige in Bildern ihrer Z eit“ begonnen hatte. A uch die von
Gerd Tellenbach zu A nfang der 50er Jah re in Gang gebrachte „Erforschung m ittelal­
39 Friedrich Baethgen, B erich t für die Ja h re 1 9 4 3 -1 9 4 8 , in: D A 8 (1950/ 51) 6. - Ebd., 3, findet
sich auch ein H inw eis auf das „sogenannte Führerprinzip, das der O rganisation des 1935 begrün­
deten R eichsin stitu ts zugrunde gelegt war“, und das „nach der Auffassung des weitaus überw ie­
genden Teils der m aßgebenden Fach geleh rten auf dem w issenschaftlich-organisatorischen G ebiet
n ich t weniger versagt“ hatte „als auf dem p o litisch en “.
40 Z u r Entsteh u n gsg eschich te des Bu ches vgl. Tellenbach, E rinn erte Z eitg esch ich te (wie Anm .
32), 1 1 6 : „Das Bu ch von 1 9 4 0 hatte ich 1 9 4 3 für eine dritte Auflage leich t überarbeitet. W ährend
der D rucklegun g war der Satz dreim al von Bränden zerstört worden. N ach dem U ntergang des
dritten R eich es besch loß ich in b egreiflich er A b sich t, es oh ne die geringste Ä nderung zu veröf­
fentlich en . D o ch fügte ich ein N achw ort m it dem D atum O stern 1946 hinzu. D arin ist die Rede
von der gew altsam en Losreißung, ja V ern ich tu n g des deutschen O sten s, der in jah rh un d ertelan ­
ger, überw iegend friedlicher K u ltu rleistu ng dem alten R eich zugew achsen sei. W ied er wird g e­
sagt, die D eutsch en seien o h n m äch tig in der H and ihrer Überwinder. Es kom m e alles darauf an,
ob sie den W illen hätten, ein V o lk zu bleib en , wie sie es zu Beginn ihrer G esch ich te geworden
seien.“
102
K lau s Sch rein er
terlicher Personen“, ein U nternehm en, dessen A nstöße bei der Rekonstruktion adliger
Verwandtschaftsverbände, klösterlicher G em einschaften und sozialer Gruppen bis zur
Gegenwart nachwirken, ging auf Vorarbeiten und Ü berlegungen der 40er Jah re zu­
rück41.
W as system unabhängige Beharrungskraft im Um gang m it der G esch ichte des M it­
telalters sein kann, beweisen die A rbeiten von H erbert G rundm ann, der in der W e i­
m arer Republik prom oviert wurde, 1935 seine H abilitationsschrift aus dem Jah re 1933
veröffentlichte und nach 1945 produktiv erforschte, was ihn schon im m er interes­
sierte: Jo ach im von Fiore, Bildung und Sprache, religiöse Bew egungen und Formen
religiöser Vergem einschaftung. V on den „Religiösen Bew egungen“ aus dem Jahre
1935 erschien I 9 6 0 ein „unveränderter N achdruck“, von den „Studien über Joachim
von Fiore“ von 1926 ein solcher 1966. M it dem Bekenntnis zur K o ntinuität der eige­
nen A rbeit verband sich bewußte A bkehr von einem G eschichtsbegriff, der das einfa­
che „,Tatsachengerüst‘ der Staatengeschichte“ zum vornehm sten Z iel historischer A r­
beit m achte.
Als H erbert G rundm ann im Jah re 1951 über „Neue Aufgaben der M onum enta
Germ aniae H istórica“ R echensch aft gab, rechtfertigte er die „A ufnahm e von D ich tu n ­
gen und Briefen, Streitschriften und politischen Traktaten des M ittelalters in die M o­
num enta“ m it dem A rgum ent, daß „sie uns als besonders wertvolle Zeugnisse für das
geistige Leben, das politische W ollen und D enken des M ittelalters selbst“ gelten 42. Als
historisch bedeutsam erschienen derartige T exte nicht zuletzt deshalb, weil deren V er­
fasser nach dem „Sinn der G esch ichte und des m en schlichen D aseins“ fragten. In der
G em einsam keit des Fragens erblickte Grundm ann eine Brücke zwischen Gegenwart
und Vergangenheit, eine V erbindung, die seiner Auffassung nach auch die neuen, gei­
stesgeschichtlichen M onum enta-Pläne rechtfertigte. E ditions- und erinnerungswürdig
waren diese Schriften seiner A nsicht nach nicht wegen ihres gesellschaftsgeschichtli­
chen Nutzwertes, sondern als literarische D enkm ale für ein „waches G esch ichtsb e­
wußtsein überhaupt“43. A uf der „Sorge um den rechten T e x t“, der auch „die Sorge um
das rechte Verständnis der kritisch aufgearbeiteten Ü berlieferung“ einschließt44, beru­
hen bis heute Leistung, Legitim ation und Ausstrahlung der M onum enta.
2. N eubeginn in der G eschichtsw issenschaft der D eutschen D em okra­
tischen R epublik: Von der bürgerlichen zur m arxistischen Mediävistik
W andel von Grund auf prägte den Aufbau der Mediävistik in der D eutsch en D e ­
m okratischen Republik. M it der Veränderung staatlicher Rahm enbedingungen, die
eine neue G eschichtsw issenschaft, ein neues G eschichtsbild und eine Neuorganisation
41 G erd Tellenbach, Z u r Bedeu tu ng der P erson en forsch un g für die E rken n tn is des früheren M it­
telalters (Freiburger U niversitätsreden 2 5 , Freiburg i. Br. 1957) 9 ff.
42 Herbert G rund m ann , N eue A u fgaben der M on um en ta G erm aniae H istórica, in: G esch ich te in
W issen schaft und U n terrich t 2 (1 9 5 1 ) 544.
43 Ebd., 547.
44 Horst Fu hrm ann , D ie Sorge um den rech ten T ex t, in : D A 25 (1 9 6 9 ) 15.
W issen schaft von der G esch ich te des M ittelalters nach 1945
103
der w issenschaftlichen Lehr- und Forschungsbedingungen erforderlich m achten, war
zugleich ein W ech sel der G enerationen verbunden. „W ährend sich die in der D eu t­
schen D em okratischen R epublik damals tätigen bürgerlichen M ediävisten“, schrieb
Leo Stern rückblickend auf die beginnenden 50er Jahre, „von der M itarbeit an einem
.Lehrbuch der deutschen G esch ich te' ausschlossen, hatte sich unter m einer Leitung
ein K reis von jungen m arxistischen Mediävisten erst herauszubilden begonnen.“ D em
fügte Stern hinzu: „D ie noch junge m arxistische Mediävistik der D eutsch en D em o­
kratischen Republik“ übernahm Aufgaben, denen sich bürgerlich denkende Mediävi­
sten verweigerten45. Als H einrich Sproem berg im Jah re 1956 in seiner Festrede aus
Anlaß des 50jährigen Jubiläum s des traditionsreichen Instituts für Landesgeschichte
und Siedlungskunde an der Universität Leipzig die Leistungen des Instituts und seiner
M itarbeiter würdigte, hieß es von m anchem , dessen Name im T ext der Rede gesperrt
gedruckt war, in einer kleingedruckten A nm erkung: „Lehrt heute an der Freien U ni­
versität in Berlin“ oder „Lehrt heute in Freiburg“46.
W as Mediävisten in der D D R tun sollten, war vordefiniert durch den „Gegenstand
der m arxistischen G eschichtsw issenschaft“, der folgende Bereiche und Problem felder
um faßt: „die sozialökonom ischen Entwicklungsgesetze, die Entstehung und E ntw ick­
lung der Klassen, die feindlichen oder nichtfeindlichen Beziehungen der K lassen un­
tereinander und zum jew eiligen Staat sowie die im realen gesellschaftlichen Prozeß
entstehenden und auf ihn rückw irkenden Ideologien“47.
D ie „junge m arxistische M ediävistik“, die sich im Zuge verstärkter parteipolitischer
G leichschaltung seit A nfang der 50er Jah re herauszubilden begann, folgte im Sinne
der staatstragenden Partei den geschichtstheoretischen Vorgaben des M arxism us-Le­
ninismus. M it dem B ekenntnis zu Marx und Engels verband sich die Überzeugung,
daß es allein „auf dem Boden des M aterialism us“ m öglich sei, „den gesetzm äßigen Z u ­
sam m enhang in der gesellschaftlichen Struktur und Entw icklung“ aufzuzeigen48.
Schw erpunkte ihrer A rbeit bildeten sozialökonom ische Problem e und ideologische
Fragen bei der Herausbildung und Festigung der Feudalordnung und des Feudalstaa­
tes. Indem sich Mediävisten der D D R dieser Fragen annahm en, erfüllten sie einen
Auftrag der Partei und einen D ienst an der sozialistischen Nation.
45 So im V orw ort zur ersten A uflage von „D eutschland in der Feudalep oche von der W en d e des
5./6. Jah rh u n d erts bis zur M itte des 11. Ja h rh u n d erts“, hrsg. von Leo Stern, H ans-Joachim B a rt­
m u ß (Berlin 31 973) 9.
46 H einrich Sproemberg, Z u m 50. Ja h re sta g der G ründung der A bteilu ng Lan d esgesch ich te, in:
W issen schaftlich e Z eitsch rift der K arl-M arx-U niversität Leipzig 6 (1956/ 57) 201 und A nm . 1
und 3.
47 Ernst Engelberg, P olitik und G esch ich tssch reibu n g. D ie h istorisch e Stellu n g und A ufgabe der
G eschichtsw issenschaft in der D D R , in: Z fG 8 (1 9 6 9 ) 4 7 5 f.
48 E b d .; 4 7 4 . - Vgl. ebd., 4 7 5 : N ur „wir M arxisten“, versicherte E rn st E n gelberg in ein em V ortrag
bei der G ründungskonferenz der „D eu tsch en H isto riker-G esellsch aft“ am 18./19. März 1958 in
Leipzig, sind in der Lage, „W issen schaft im Sin n e des W issens von den gesetzm äßigen Z u sam ­
m en hän gen “ zu betreib en , indes die bürgerliche G esch ich tsliteratur, un besch ad et ihres form alen
Glanzes und ihrer handw erklichen G ed iegenh eit, „im H in b lick auf den h istorisch en und gesell­
schaftlichen G esam tzusam m en han g der dargestellten h istorischen Fakten “ als unw issenschaftlich
zu gelten habe.
104
K lau s Sch rein er
A uf seiner siebten Tagung im O ktober 1951, auf der das Z entralkom itee der SE D
über „Die w ichtigsten ideologischen Aufgaben der Partei“ Entschlüsse faßte, beschloß
es auch „einen w esentlichen Ausbau der institutionellen Grundlagen für die Erfor­
schung der deutschen G esch ichte und der Propagierung des nationalen G esch ichtsbil­
des der deutschen A rbeiterklasse“49. D ie „Partei der A rbeiterklasse“ verlange, wie
Ernst Engelberg in Erwägungen „über Partei und G eschichtsw issenschaft“, die er W al­
ter U lbricht zum 70. G eburtstag widm ete, ausführte, „von uns H istorikern der D D R “,
„eine w issenschaftliche Darstellung der G eschichte D eutschlands und der deutschen
A rbeiterbew egung auszuarbeiten“, um gegenüber „der volksfeindlichen Politik des
deutschen Im perialism us“ gewappnet zu sein, „gegenüber seinen antinationalen kos­
m opolitischen Lehren [gem eint war der ideologische W echselbalg der Europa- und
A tlantikidee] . . . die nationale W ürde des deutschen V olkes zu wahren“ und für den
K am pf um D eutschlands E in heit einen „echten deutschen Patriotism us“ zu entwikkeln50.
W ie die M itarbeit der Mediävisten an einer „N euform ung des deform ierten deut­
schen G eschichtsbildes“ konkret aussehen sollte, erläuterte Leo Stern in einem V or­
trag auf dem ersten K ong reß der A rchivare der D D R in W eim ar am 28. Mai 1952. Die
„Gegenwartsaufgaben der deutschen G eschichtsforschung“ beschrieb er m etaphorisch
als Form der Schuttbeseitigung, an der sich auch die M ittelalterforschung beteiligen
sollte. U m „den reaktionären ideologischen Schutt w egzuräum en“, sei es Sache der
M ediävisten, „die bis ins H och m ittelalter zurückreichenden Freiheits- und K am pftra­
ditionen des deutschen V olkes klar herauszustellen, die in den bäuerlich-plebejischen
Bauernerhebungen des 15. und 16. Jahrhunderts, nam entlich im großen deutschen
Bauernkrieg von 1525, ihren H öhepunkt fanden“. Mediävisten waren auch dann ge­
fragt, wenn es galt, „das große deutsche K ulturerbe in K u n st und W issenschaft, die
schöpferische K raft und das G enie des deutschen V olkes, die Ideen des Fortschritts,
der D em okratie, der Freiheit, des H um anism us, der Gegenw art nahezubringen und
m it den fortschrittlichen Zielsetzungen der D eutschen D em okratischen R epublik in
K unst, K ultur und W issenschaft organisch zu verbinden“31.
Offiziellen, für alle H istoriker verbindlichen Charakter nahm en Sterns Imperative
in einem Beschluß des Zentralkom itees der S E D an, das sich im Som m er m it der
„Verbesserung der Forschung und Lehre in der G eschichtsw issenschaft der D eu t­
schen D em okratischen R epu blik“ befaßte. Ü ber Funktionen und Z iele einer friedlie­
benden, antiim perialistischen und antim ilitaristischen G eschichtsw issenschaft hieß es
in dieser Grundsatzerklärung: „Die fortschrittliche deutsche G eschichtsw issenschaft
ist eine scharfe ideologische W affe bei der Erfüllung der vom IV. Parteitag der Soziali­
stischen Einheitspartei D eutschlands gestellten Aufgaben bei der Erziehung der A r­
49 Ernst Engelberg, Über Partei und Geschichtswissenschaft. Zum 70. Geburtstag von W alter U l­
bricht, in: ZfG 11 (1 9 6 3 ) 6 5 7 .
50 Ebd.
51 Leo Stern, G egenw artsaufgaben der deutschen G esch ich tsforsch u n g, in : A rchiv und G e ­
schich tsforschu ng. Hrsg. von der H auptabteilung A rchivw esen im M inisteriu m des In n ern der
R egierung der D D R (B erlin 1 953) 5 0 f.
W issen sch aft von der G esch ich te des M ittelalters nach 1945
105
beiterklasse und aller W erktätigen im Geiste des Patriotism us und des proletarischen
Internationalism us, im K am pf gegen die verderbliche Ideologie der im perialistischen
und m ilitaristischen K räfte in W estdeutschland .“52 Erforscht, gelehrt und dargestellt
werden sollte „vor allem das W irken und die K äm pfe der Massen des deutschen V o l­
kes von den A nfängen der deutschen G eschichte bis zur Gegenw art“, um auf diese
W eise „unser Volk m it Stolz auf seine großen geschichtlichen Leistungen zu erfüllen
und es zur Lösung seiner patriotischen Aufgaben zu rüsten“53. Eine W issenschaft, die
vornehm lich an der aktiven Rolle der Volksm assen interessiert war, brach m it dem
Grundsatz von der gleichrangigen D ignität des historischen Gegenstandes. Sie wählte
und fällte aus. K irch e begegnet in einer so verstandenen und praktizierten Mediävistik
nur noch als ideologisches Rückgrat des Feudalismus. K anonistik und kirchliche V erfassungs- und Institutionengeschichte blieben aus Forschungsplänen ausgespart; U r­
kundenforschung und H andschriftenkunde blieben auf der Strecke. Das spannende
G eschäft der U berlieferungsgeschichte fand nicht m ehr statt. Q uelleneditionen wur­
den zu einem politischen W ertproblem . D ie Editionswürdigkeit eines Textes be­
stim m te sich nach dem Prinzip m arxistischer Parteilichkeit.
Eine M ediävistik, w elche die „Rolle der Volksm assen der gesch ichtlichen Entw ick­
lung“ untersuchen sollte, war gehalten, insbesondere „die Freiheitskäm pfe der G erm a­
nen gegen die röm ischen Sklavenhalter“ sowie „die K lassenkäm pfe der deutschen
Bauern in der Periode der Herausbildung und Festigung des Feudalism us“ zu erfor­
schen54. A n die Stelle selbstquälerischer Reflexionen über die U rsachen der deutschen
Katastrophe sollte die Erforschung nationaler Traditionen treten, die selbstbewußt
und staatstreu m achen. In einer bilanzierenden Abwägung über Erfolge und Mängel
der G eschichtsw issenschaft der D D R wurde diese N euorientierung als bedeutsam er
Fortschritt herausgestellt. „In der G eschichtsw issenschaft der D eutschen D em okrati­
schen R epublik“, hieß es, „wurde in den letzten Jah ren die Darstellung der deutschen
G esch ichte als einer einzigen M isere, die den antinationalen, kosm opolitischen Ver­
sklavungsplänen der angloam erikanischen und deutschen Im perialisten Vorschub lei­
stete, weitgehend überwunden. D ie H istoriker wandten sich der Erforschung der gro­
ßen nationalen Traditionen unseres V olkes zu - besonders in der Z eit der Reform a­
tion und des Bauernkrieges, der Z eit des nationalen Befreiungskam pfes des deutschen
Volkes gegen die napoleonische Frem dherrschaft und der Revolution 1 8 4 8 / 4 9 “55 Als
M angelerscheinung wurde folgendes Phänom en verbucht: „Es wurde kein beharrli­
cher K am pf geführt, um die feindlichen Einflüsse, die die reaktionären K räfte in der
westdeutschen G eschichtsschreibung auf die parteilosen H istoriker in der D D R aus­
zuüben versuchen, zu zerschlagen und die überwiegende M ehrzahl der parteilosen H i­
storiker im K am pf um die Sicherung des Friedens und die dem okratische W iederver­
einigung Deutschlands zu unseren festen V erbündeten zu m achen .“56
52 D ie V erbesserung der Forsch u n g und Lehre in der G esch ich tsw issen schaft der D eu tsch en D e ­
m okratischen R epu blik, in : Z fG 3 (1 9 5 5 ) 507.
53 Ebd., 514.
54 Ebd., 514.
35 Ebd., 508.
56 Ebd., 513.
106
K lau s Sch rein er
G efordert wurde eine zentral gelenkte „K oordinierung und Planung der geschichts­
w issenschaftlichen A rbeit, besonders der Forschungstätigkeit“57. D ie Sektion G e­
schichte der D eutschen A kadem ie der W issenschaften sollte in Zusam m enarbeit mit
allen G eschichtsw issenschaftlern und Archivaren „einen langfristigen Forschungsplan
der G eschichtsw issenschaft der D eutschen D em okratischen R epublik“ ausarbeiten
um genau festzulegen, w elche „wissenschaftlichen W erk e, M onographien, A ktenpu­
blikationen usw.“ von H istorikern in der D D R ausgearbeitet werden sollen; desglei­
chen sollten „Em pfehlungen für die Them en der D issertations- und H abilitationsar­
beiten gegeben“ w erden58. „K am pf gegen die reaktionäre bürgerliche G esch ichts­
schreibung in W estd eutschland “ galt als unabdingbare Voraussetzung „für die natio­
nale Einigung D eutschlands auf dem okratischer Grundlage“39.
H istoriker, die sich m it alter, m ittlerer und neuer G esch ichte befaßten, erfüllten
beim Aufbau des sozialistischen Gem einw esens eine Funktion. D er gesellschaftliche
Nutzwert w issenschaftlich betriebener G esch ichte m ußte n ich t wortreich herbeigere­
det werden. W issenschaft von der G eschichte, die zu der von Staat und Partei gefor­
derten politischen Selbstbehauptung und ideologischen A bgrenzung beitrug, brauchte
ihre gesellschaftliche Relevanz nicht zu beweisen. Sie verstand sich von selbst.
D ie „G eschichte der neuesten und allem euesten Z e it“ zu erforschen, befand E m st
E ngelberg, gebiete „politische N otw endigkeit“, die jed och „nicht dazu verleiten“
sollte, „daß wir die G esch ichte des A ltertum s und des M ittelalters zu ignorieren begin­
nen“. D ie Erforschung vorm oderner G eschichtsepochen legitim iere sich gleicherm a­
ßen aus historischen und aktuellen Gründen. A uch die „Begründer des wissenschaftli­
chen Sozialism us“ hätten sich für die antike und m ittelalterliche W e lt interessiert.
D em , was Marx im ersten Band seines Kapitals über „Ware und G eld “ schreibe, liege
„ein sehr konkretes Studium der antiken Produktions- und Austauschweise zu­
grunde“. Das dreibändige G esam tw erk enthalte „ganze Partien über den europäischen
Feudalism us“ ; „Engels hätte den A nti-D ühring nicht ohne K enntn isse der A ntike
und des M ittelalters schreiben können“. Ernst Engelberg um schrieb die Aufgaben ei­
ner zeitgemäßen Erforschung des A ltertum s und des M ittelalters so: „Die Vertiefung
und lebendige V erbreitung des historischen M aterialismus, aber auch unseres revolu­
tionären H um anism us, der von dem Fortschritt in der m en schlichen G esch ichte be­
seelt ist; die Verstärkung unserer atheistischen Propaganda - sie erfordern weiterhin
die m arxistische Erforschung und Darstellung der G esch ichte des A ltertum s und des
M ittelalters.“ Um eine solche Aufgabe richtig und massenwirksam erfüllen zu können,
m üßten sich A lthistoriker und Mediävisten jedoch K larheit darüber verschaffen, „daß
ihr Forschen und G estalten nur dann lebendig und selbst wieder geschichtsm ächtig
ist, wenn sie - auch wieder getreu dem Vorbild von Marx und Engels - die Z eitg e­
schichte beherrschen“60.
57 Ebd.
38 Ebd., 5 1 3 ; 521.
59 Ebd., 526.
60 Engelberg, P olitik und G esch ich tssch reibu n g (wie A nm . 47), 4 9 5 .
W issen sch aft von der G esch ich te des M ittelalters nach 1945
107
A uf einer Tagung in W ernigerode (Harz) konstituierte sich im Janu ar I 9 6 0 die
„Sektion M ediävistik der D eutsch en H istoriker-G esellschaft“, „um die Mediävisten or­
ganisatorisch zusam m enzufassen und auf dieser Grundlage alle K räfte auf bestim m te
Schw erpunkte der m ittelalterlichen G esch ichte zu lenken und diese in kollektiver A r­
beit zu lösen“61. D ie G ründungskonferenz befaßte sich m it zwei T h em en : zum einen
m it „Problem en städtischer Volksbew egungen im 14. Jahrhun d ert“, zum anderen mit
„Problem en der frühbürgerlichen Revolution in Deutschland in der ersten Hälfte des
16. Jahrhunderts“. „In beiden T hem en kreisen“, hieß es in einem Tagungsbericht,
„stand die Rolle der V olksm assen, darunter besonders der plebejischen S ch ichten, im
M ittelpunkt des Interesses, wobei im w esentlichen die m arxistische G eschichtsauffas­
sung vertreten und durchgesetzt wurde .“62 Als Aufgabe für die Z ukunft wurde form u­
liert: „Vor allem sind das Studium und die Anwendung des historischen Materialis­
mus zu verstärken, die m arxistische Forschung der sozialistischen Staaten besser aus­
zuwerten und Form en zu finden, in denen die kollektive A rbeit vor sich gehen
kan n .“63
P ersönliche W issenschaftsinteressen zu verfolgen, blieb - zum indest der offiziellen
T heorie nach - H istorikern der D D R verwehrt. „Alles, was der H istoriker schreibt
und sagt“, konstatierte E m st Engelberg, „ist letztlich deshalb geschrieben oder gesagt,
damit es unsere Staatsbürger in dieser oder jen er Form erreicht und ihnen bei der L ö­
sung ihrer gegenwärtigen Aufgaben h ilft .“64 Eine „patriotische Erziehung der W erktä­
tigen“ versprach man sich insbesondere von der Regionalgeschichte, w elche „die H ei­
m atgeschichte, Stadtgeschichte, die G esch ichte administrativer G ebietseinheiten (B e­
zirke, Kreise) und der örtlichen Arbeiterbew egung sowie die Betriebsgeschichte“ um ­
faßte65. Bereits in den Beschlüssen des Zentralkom itees der S E D vom Jah re 1955 hieß
es: „Um die Liebe zur H eim at zu stärken und die W erktätigen an die Fragen der G e ­
schichte heranzuführen, m uß der Erforschung und Popularisierung der gesch ichtli­
chen Entw icklung in den einzelnen Städten und K reisen der Republik große A uf­
m erksam keit geschenkt w erden .“66 Z u r m ethodischen und inhaltlichen W eiteren t­
wicklung dieses A ufgaben- und Forschungsbereichs gab der V III. Parteitag der S E D
vom Jah re 1971 „starke Im pulse“67. Das „sozialistische H eim atgefühl“ sollte durch die
Popularisierung von Forschungsergebnissen m it erzieherischem W ert sowie durch
„kooperative Erforschung der Regionalgeschichte durch Laien und Fachkräfte“ geför­
dert und gesteigert werden. Regionalgeschichte sollte jedoch nich t allein „Liebe zur
61 A d o lf Laube, G rün dun gskonferenz der Sektion M ediävestik der D eu tsch en H istoriker-G esell­
schaft, in: Z fG 8 (I 9 6 0 ) 9 6 4 f.
62 Ebd., 9 7 4 .
63 Ebd.
64 Ernst Engelberg, D ie A ufgaben der H isto riker der D D R von 1 964 bis 19 7 0 , in : Z fG 12 (1964)
3 91.
65 V erbesserung der Forsch u n g und Lehre (wie A n m . 52), 5 2 5 ; Peter Sonnet, H eim at und Sozialis­
mus. Z u r R egio n algesch ich tssch reib u ng in der D D R , in: H Z 235 (19 8 2 ) 122.
66 V erbesserung der Forsch u n g und Lehre (wie A n m . 52), 525.
67 Sonnet, H eim at und Sozialism us (wie A n m . 65), 122.
108
K lau s Sch rein er
sozialistischen H eim at“ w ecken und zur „Erziehung der W erktätigen im Geiste des
sozialistischen Patriotism us und proletarischen Internationalism us“ beitragen, sondern
auch - wie die allgem eine G eschichtsw issenschaft - „die A useinandersetzung m it der
bürgerlichen H istoriographie“ pflegen68.
Sich m it Erträgen w estdeutscher M ittelalterforschung auseinanderzusetzen, war
nicht Sache kritischer K om m u nikation in einer gem einsam en, grenzüberschreitenden
„scientific com m unity“, sondern Bestandteil m arxistischer W issenschaftsprogram m atik. Als Maßstab der K ritik diente die „ökonom ische G esellschaftsform ation antagoni­
stischen Charakters“. D ie „ökonom ische G esellschaftsform ation“, der w ichtigste Maß­
stab bei der Beurteilung der A rbeiten von .bürgerlichen“ M ediävisten, gab Auskunft
über Triebkräfte gesch ich tlich er Bew egungen, gliederte die Z e it in genau abgegrenzte
E pochen und verm ittelte den dialektischen Zusam m enhang zwischen Struktur und
Entwicklung.
K ritik, soweit sie die G esch ich te des M ittelalters betraf, konkretisierte sich in R e ­
zensionen der im w estlichen Teil Deutschlands erschienenen m ediävistischen Litera­
tur, in kritischen Beiträgen zu kontroversen Sachthem en sowie in kritischen Stellung­
nahm en zum Gesamtoeuvre w estdeutscher M ediävisten. D en „grundsätzlichen K o n ­
zeptionen und speziellen A nschauungen des M ünchener H istorikers K arl Bosi“ wur­
den nich t weniger als zwei eigene Aufsätze gew idm et69. Bosl, der strukturorientierte
Sozialgeschichte treibe, weil er um die „U nzulänglichkeit des traditionellen bürgerli­
chen deutschen H istorism us“ wisse, wird als „Ideologe der konservativen Sam m lungs­
bewegung in W estd eutschland “ eingestuft, der „geschichtsbew ußtseinsbildend im
Sinne der herrschenden Klasse der B R D “ wirke70. Bosl könne „als einer derjenigen
Vertreter der Rechtskräfte in der B R D gelten, die in der M ethode am variabelsten, in
der Zielsetzung am konsequentesten sind“71. M it „seiner These ,Freiheit und sozialer
A ufstieg durch D ienst für die H errschaft “ 1 wolle Bosl „das traditionelle bürgerliche
G eschichtsbild bei allen zum T eil beträchtlichen M odifikationen nich t etwa überwin­
den und seine Schranken durchbrechen“; er suche es vielm ehr „durch A nleihen vor
allem bei der Sozialgeschichte zu v erbessern1“72. In einer Rezension der 1964 erschie­
nenen „Frühform en der G esellschaft im m ittelalterlichen E uropa“ Karl Bosls wurde
wohlwollend verm erkt, daß sich zwar der Verfasser für die soziale Lage m ittelalterli­
cher U nterschichten interessiere, in ihnen aber nur das zum eist „schweigende und
willenlose Substrat und W erkzeug einer m onopolistisch aktiven und gesch ichtsbild en­
den herrschenden E litesch ich t 11 sehe73. Bosls „Ruf nach neuer Elitebildung“, der „den
68 Ebd., 122 f.; 1 2 6 ; 128.
69 M a rtin Erbstösser und Klaus-Peter M atschke, V on Bayern nach Europa. G esch ich tsb ild u n g und
politischer Stand ort des H istorikers Karl Bosl, in : Ja h rb u ch für G esch ich te 9 (1 9 7 3 ) 7 6 7 - 5 1 3 ;
Siegfried Epperlein, Das eu ropäische M ittelalter in der S ic h t K arl Bosls, in : Ja h rb u ch für W irt­
schaftsgeschichte IV (1 9 7 5 ) 1 6 1 -1 7 1 .
70 Erbstösser-Matscbke, V on Bayern nach Europa (wie A n m . 69), 4 6 9 ; 5 1 2 ; 499.
71 Ebd., 513.
72 Epperlein, Europäisches M ittelalter in der S ich t K arl Bosls (wie A n m . 69), 170.
73 W altraut Bleiber, in : Z fG 15 (1 9 6 7 ) 141 (Z itat aus Bosls F rü h fo rm en ; 197).
W issen schaft von der G esch ich te des M ittelalters nach 1945
109
heutigen politisch-ideologischen Bedürfnissen des m odernen Kapitalism us“ entspre­
che, zeige jedoch, „daß im G esch ichtsbild Bosls kein Raum ist für die entscheidende
Rolle, die der arbeitende M ensch, der Produzent der m ateriellen Güter, der Bauer und
Handwerker des M ittelalters im gesch ichtlichen Prozeß spielten“74.
K ritisch beleuchtet und in ihrer ideologischen Befangenheit entlarvt wurde die im
w estlichen Teil D eutschlands gepflegte m ediävistische Stadtgeschichtsforschung am
Beispiel der „K ontinuitätstheorie“ und der „Strukturforschung“75. D en A utoren, die
in Band 4 der vom K onstanzer A rbeitskreis 1958 herausgegebenen „Vorträge und
Forschungen“ ihre „Studien zu den A nfängen des europäischen Städtew esens“ vorleg­
ten, wurde vorgehalten, daß sie „den revolutionären Charakter des W erdens der feuda­
len Stadt und der m ittelalterlichen K om m unebildu ng“ übersehen und überhaupt die
„Rolle der Volksm assen“ negieren76. In der Stadtgeschichte bundesrepublikanischer
Prägung m ünde die „K ontinuitätstheorie“ zwangsläufig „in eine äußerst reaktionäre
ideologische Ström ung“ ein77. D ie angeblich w irklichkeitsblinden bürgerlichen A uto­
ren werden folgenderm aßen b eleh rt: „D er Verfall der antiken Stadt war eine notw en­
dige Voraussetzung für die Bildung der Stadt des Feudalismus. D ie feudale Stadt ent­
stand erst im Ergebnis der Entw icklung neuer Produktivkräfte, die vom Lande aus­
geht. Ihre volle Entfaltung findet die m ittelalterliche Stadt in allen westeuropäischen
Ländern in der K om m une, deren Lebenskraft in starkem Maße von der ökonom i­
schen Bedeutung der betreffenden Stadt b estim m t wird. . . . D ie H erausbildung des
Feudalismus und die Errichtung der K om m u nen ist daher stets das Ergebnis eines
harten Klassenkam pfes. In diesen revolutionären Auseinandersetzungen verhelfen die
Volksm assen den fortschrittlichen Produktivkräften zum Sieg .“78
D er mediävistischen Stadtgeschichtsforschung in der Bundesrepublik wurden ekla­
tante Theoriedefizite angelastet. Bürgerliche Stadthistoriker, die „Strukturgeschichte
als G egenkonzeption zur m arxistischen G eschichtsw issenschaft“ betreiben79, würden
die Produktionsverhältnisse „als die entscheidenden Strukturelem ente“ negieren80
und „die K ategorie .Struktur1 von der ihr übergeordneten ökonom ischen G esell­
schaftsform ation“ isolieren81. Mit H ilfe w ertfreier Begriffe wie „sozialer W andel“ und
„soziale M obilität“ würde man die innerhalb des m ittelalterlichen Stadtbürgertum s be­
stehenden „sozial-ökonom ischen und politischen Gegensätze als U rsachen innerstäd­
tischer A useinandersetzungen“ herunterspielen82. Das abschließende Fazit lautete: „In
74 Ebd., 141.
75 E rik a Engelm an n, Z u r ,K o n tin u itä tsth eo rie‘ in der w estdeutschen stad tg esch ich tlich en F o r­
schung. Betrach tu ngen aus A n laß der V eröffen tlich u n g der .Studien zu den A n fän gen des eu ro­
päischen Städtew esens“, in: Z fG 3 (1 9 6 1 ) 6 2 8 - 6 4 4 ; Brigitte Berthold, Z u r R olle der Stru k tu rfor­
schung in der m ediävistischen Stad tg eschich tssch reib u n g der B R D , in: Z fG 25 (1977) 1 5 6 -1 7 2 .
76 Engelm an n, ,K o n tin u itä tsth eo rie‘ (wie A n m . 75), 6 3 3 .
77 Ebd., 6 4 3 .
78 Ebd., 6 4 3 f.
79 Berthold, Strukturforschung (wie A n m . 75), 157.
80 Ebd., 160.
81 Ebd., 159.
82 In grid H agem a nn, D ie m ittelalterlich e deutsche O stexpansion und die A d enau ersch e A u ßen ­
politik, in : Z fG 6 (1 9 5 8 ) 8 0 0 .
K laus Sch rein er
110
der gegenwärtigen
sozialgeschichtlich
orientierten
Stadtgeschichtsschreibung der
B R D ist die Tendenz offensichtlich, Strukturforschungen über die m ittelalterliche
Stadt und ihr Bürgertum zur Rechtfertigung des im perialistischen Staats und seiner
K lassengesellschaft zu nutzen .“83
K ritik erschöpfte sich v ielfach in platter id eo lo g isch e r Entlarvung. W alter S c h le s in ­
ger wurde unterstellt, daß er m it seinem 1957 in der „H istorischen Z eitsch rift“ veröf­
fentlichten Aufsatz über „D ie geschichtliche Stellung der m ittelalterlichen deutschen
O stbew egung“ den Versuch unternehm e, „die historische Begründung für die heutige
L inie der A denauerschen A ußenpolitik zu liefern“84. Indem Schlesinger auf den
grundsätzlich „friedlichen Charakter“ der Ostbew egung abhebe, verfälsche er G e­
schichte, verfechte er Interessen der in der B R D „offen auftretenden Revanchisten “85
und m ache „sich zum Sprecher des revanchelüsternen w estdeutschen M onopolkapi­
tals“86. W as Schlesinger absichtlich nicht sehen wolle, sei der „K lassencharakter der
Christianisierung“, „die Zusam m enhänge zwischen Mission und A usbreitung des Feu­
dalismus, die G leichartigkeit der sozial-ökonom ischen W urzeln von O stexpansion
und Kreuzzug sowie die V erbindung zwischen feudaler Expansion und ideologischer
Drapierung ihres Zieles durch R ezeption der K reuzzugsidee“87. D ie Sprache des K al­
ten Krieges ist unüberhörbar.
A n den von E rich M aschke angeregten Forschungen zur sozialen Gliederung der
m ittelalterlichen Stadt wurde bem ängelt, daß sie innerstädtische K äm pfe und K o n ­
flikte durch den Begriff „sozialen W and el“ entschärfen. D ieser Begriffsgebrauch habe
zur Folge, daß die „zahlreichen Ergebnisse subtiler Einzelforschungen . . . ihres W ertes
beraubt und einer G eschichtsauffassung nutzbar gem acht“ werden, „nach der nur
quantitative Veränderungen, Evolutionen den gesch ichtlichen Lauf - und zwar bis
heute - bestim m en und von der revolutionäre Veränderungen und K lassenkam pf und
damit entscheidende K ategorien des historischen Materialismus abgelehnt w erden“88.
Rezensionen, die im G eist der reinen Lehre verfaßt wurden, hielten sich an ein vor­
gegebenes Muster. D er folgende V ergleich mag zeigen, daß von Marx inspirierte W is­
senschaft nicht a priori gehalten ist, K ritik durch geschichtstheoretische Gem einplätze
zu ersetzen.
D er sow jetische Mediävist Aaron J . G urjew itsch schrieb unlängst über A rno Borsts
„Lebensform en im M ittelalter“, daß „dieses Buch heute genauso w ichtig und zeitge­
mäß ist, wie bei seinem E rscheinen“. Seinen Rang und seine A ktualität verdanke das
Buch nicht zuletzt der Tatsache, daß es „sowohl die konstanten W esenszüge der m it­
telalterlichen Zivilisation wie auch die ihr eigene D ynam ik“ aufzeige. M it einem de83 Ebd., 170.
84 Ebd., 169.
85 M a n fre d Unger, Bernhard von Clairvaux und der Slaw enkreuzzug 1147. B em erku ng en zu ei­
nem Aufsatz von W . Sch lesin g er, in : Z fG 7 (1 9 5 9 ) 85.
86 Ebd., 81 5 .
87 Ebd., 80 5 .
88 Jo h a n n es Schildhauer, D ie p leb ejisch en S ch ich ten der m ittelalterlich en deu tsch en Stadt in der
H istoriographie der D D R und der B R D , in : W issen schaftlich e Z eitsc h rift der E m st-M o ritz A rn d t-U n iversität Greifsw ald 26, G esellsch afts- und sp rachw issenschaftliche R eih e Nr. 2 (1977)
123.
W issen sch aft von der G esch ich te des M ittelalters nach 1945
111
tailliert ausgearbeiteten Fragenkatalog führe der Verfasser einen D ialog m it M enschen
der Vergangenheit, um deren kulturelle und soziale V erhaltensform en, ihre B e­
wußtseinsinhalte und Glaubensvorstellungen, ihr „Erleben der Z e it“ in Erfahrung zu
bringen. A uf diese W eise sei es dem Verfasser gelungen, ein fesselndes Buch zu
schreiben, das im m er noch „nicht veraltet“ sei, weil es im Spiegel des M ittelalters
Grundfragen m enschlichen Z usam m enlebens zur Sprache bringe89. Ernst W erner, der
das Buch in der „Zeitschrift für G esch ichte“ rezensierte, hielt dessen Verfasser vor, daß
er den Feudalism us enthistorisiere. Borst klam m ere „den Entw icklungsgedanken w eit­
gehend aus“, elim iniere „Klassen und K lassenkam pf“ und entleere so „das M ittelalter
seiner D ynam ik und D ialektik, die er durch statische M om entaufnahm en“ ersetze.
„Strukturen sucht er nicht in einer historisch determ inierten K lassengesellschaft, son­
dern in klassenindifferenten Lebenskreisen, die allgemein m enschliche V erhaltensw ei­
sen reproduzieren und so zeitlose Exem pla liefern.“ Das vom R ezensenten gesetzte
Klassenziel wurde von Borst nich t erreicht, weil er es versäumt hatte, die „G eschichte
als kom plizierteste Bew egungsform der M aterie“ darzustellen und so die „W issen­
schaftlichkeit der D isziplin H istoriographie in Frage“ stellte90.
W as westdeutsche M ediävisten von den Forschungen ihrer ostdeutschen K ollegen
hielten, fand in R ezensionen ihren Niederschlag, nicht in m ethodologischen G rund­
satzdebatten, nicht in D iskursen über O bjektivität und gesellschaftlich bedingten
Standortbindungen in der G eschichtsw issenschaft. Bei der Beurteilung der in der
D eutschen D em okratischen Republik erschienenen m ediävistischen Literatur wurde
gem einhin unterschieden „zwischen dem unvermeidbaren ideologischen Beiw erk“,
das den A rbeiten m arxistischer Mediävisten zwangsläufig anhafte, und quellenm äßig
begründeten Tatsachen, die „insbesondere auf dem G ebiet der Verfassungs- und S o ­
zialgeschichte . . . unsere K enntn is des M ittelalters w esentlich gefördert haben“91. K ri­
terium der K ritik war die vollständige Erfassung der Q uellen und deren unbefangene,
undogm atische A uslegung m it dem Ziel eines vollen V erstehens der Tatsachen.
Percy Ernst Schram m hat in seinen für die Zeitschrift „G eschichte in W issenschaft
und U nterricht“ verfaßten Literaturberichten die in der D eutschen D em okratischen
Republik erschienene Literatur zur G esch ichte des M ittelalters regelm äßig vorgestellt.
Einen 1953 erschienenen Band über „Archivarbeit und G eschichtsforschu ng“ wertete
er als Beleg und Gewähr dafür, „daß die alte A rchivtradition, auf die wir ja stolz sein
dürften, drüben nicht abgerissen ist“. Mit Respekt erwähnte er, daß in „den O starchi­
ven . . . seit der Katastrophe von den Sachkundigen eine Riesenarbeit geleistet wor-
89 A aron J . Gurjewitsch, Stim m en der V ergangenheit. A rn o Borsts h istorisch e A n th rop ologie des
M ittelalters, in : Frankfurter A llgem ein e Z eitu n g v. 8. Ju li 19 8 7 , Nr. 154, S. 2 9 f.
90 Ernst Werner, in : Z fG 21 (1 9 7 3 ) 1 0 0 2 f. - D er Iron ie en tb eh rt n ich t folgende Bem erku ng:
„Von m arxistischer S eite liegt neuerdings eine U ntersuchung über die K ategorien der m ittelal­
terlich en K u ltu r vor, die von der feudalen K lassenstru ktu r ausgehend, In h alt und F o rm des B e ­
griffssystem s analysiert und es auf die gesellsch aftlich en T räger zurückfü hrt: A . J a . Gursevic, K ategorii srednovekovoj kultury (M oskva 1 9 7 2 ) E in leitu ng 5 - 2 5 .“
91 K a rl Jo rd a n , A spekte der M ittelalterforsch un g in D eutschland in den letzten fünfzig Jah ren ,
in: ders., A usgew ählte A ufsätze zur G esch ich te des M ittelalters (K ieler H istorisch e Studien 29,
Stuttgart 1 980) 343.
112
K lau s Sch rein er
d e n “ sei. Es sei je d o c h n ic h t zu verwundern, daß eine g le ic h sa m offiziöse P u blik atio n
auch Aufsätze bringe, die „sich m ehr oder m inder stark der in der O stzone üblichen
Sprechw eise anpassen oder ganz durch deren Denkw eise bestim m t sind“. W as er da­
m it m einte, erläuterte er an dem g ed ru ck ten Vortrag Leo Sterns, des damaligen Pro­
rektors von Halle, über „Gegenwartsaufgaben der deutschen G eschichtsforschung“.
Schram m bem erkte kritisch: „Seine [Sterns] D eutung der deutschen G esch ichte ist
natürlich ganz einseitig, sie beruht jedoch auf Sachkenntnis, wenn auch nur auf Se­
kundärliteratur beruhender.“ D er Verfasser bewege sich auf einer Diskussionsebene
auf der man ihm begegnen und auf der man m it ihm sprechen könne. D em fügte
Schram m einschränkend hinzu: ,A llerd ings ist die A ussicht, daß wir ihn bekehren,
wohl nicht größer als die, daß er uns überzeugt .“92 Schram m wollte sagen: Ü ber nach­
prüfbare Tatsachen läßt sich streiten; die Hoffnung, politische Überzeugungen, soziale
Einstellungen und theoretische Prämissen revidieren oder gar widerlegen zu können,
ist müßig. Ü ber das 1959 erschienene Buch von Jo h an n es Schildhauer, das „Soziale,
politische und religiöse A useinandersetzungen in den H ansestädten Stralsund, R o ­
stock und W ism ar im ersten D rittel des 16. Jahrhunderts“ behandelte, schrieb er: Das
Buch zeige „wieder einm al, wie nützlich es ist, wenn man bis in die G esch ich te der
einzelnen Fam ilien hinabsteigt; denn nur so lassen sich soziale V erschiebungen, das
A bsinken und das A ufsteigen neuer G esch lechter erfassen“. A uf die „Naivität“, mit
der Schildhauer „seine Ergebnisse gegenüber einer bürgerlich-befangenen G esch ichts­
auffassung anpreist“, wollte Schram m nicht eigens eingehen. „D enn das sind sozusa­
gen nur G ipsom am ente, die auf einen solide errichteten Baukörper aufgeklebt sind .“93
Zu den zu A nfang der 60er Jah re erschienenen Büchern von M artin Erbstößer und
E m st W erner über „Ideologische Problem e des m ittelalterlichen Plebejertum s. Die
freigeistige Häresie und ihre sozialen W urzeln“ (1960), von Siegfried Epperlein über
„Bauernbedrückung und Bauemwiderstand im hohen M ittelalter“ (1960) sowie zu
dem Sam m elband über „Städtische Volksbewegungen im 14. Jah rh u n d ert“ (I9 6 0 ) be­
m erkte Schram m zusam m enfassend: „Bei allen drei Publikationen beschleicht einen
das Gefühl der Stickluft. W ieviel fleißige A rbeit ist darauf verwendet, um Thesen zu
erhärten, die von vornherein feststehen! W ieviel G edankenarbeit ist darauf verwendet,
wieviel ,bürgerliche“ Literatur ist gewälzt worden, um .Beweise“ zu finden! W ie anders
würde sich dieses Bem ühen, eine neue Geschichtsauffassung zu erhärten, ausnehm en,
wenn nicht im m er von vornherein feststünde, was zu beweisen ist! Da werden W in d ­
m ühlen konstruiert, die angeblich von den .bürgerlichen“ H istorikern erbaut worden
sind, und sie werden dann bekäm pft m it einer Bravour, die der des D o n Q uichote
nich t nachsteht. A ber die ,Front“, die da prätensioniert wird, ist ja nur eine S ch ein ­
front. W ir .Bürgerlichen“ behaupten näm lich gar nicht, daß der geistige ,O berbau“ vom
w irtschaftlichen .U nterbau“ unabhängig ist. W ir lassen uns nur nicht m ittels noch so
vieler Belege aufbinden, daß das im m er und in allen Fällen der Fall gewesen ist, son ­
dern halten die M öglichkeit offen, daß hier der religiöse Im puls, daß dort ein neuer
Gedanke eine so beschw ingende K raft besaßen, daß die sozialen Verhältnisse trotz des
92 Percy Ernst Schram m , Literatu rb erich t M ittelalter, in : G W U 4 (1 9 5 4 ) 574.
93 Ders., L iteraturberich t M ittelalter, in : G W U 12 (1 9 6 1 ) 1 3 0 f.
W issen sch aft von der G esch ich te des M ittelalters nach 1945
113
ihnen innew ohnenden Schw ergew ichts in Bewegung gerieten.“ Schram m bekundete
Bereitschaft und O ffenheit, die in der D eutschen D em okratischen Republik geleistete
m ediävistische A rbeit als produktive H erausforderung zu betrachten. D eshalb, schrieb
er, nehm en wir „die B ücher aus der O stzone zur K enntnis, obwohl sie - soweit sie
Rechtgläubig“ sind - alle von vornherein stigm atisiert sind als voreingenom m en, d. h.
als langweilig. D enn wir wollen nich t einschlafen, wollen uns sichern gegen die G e ­
fahr, die G esch ichte zu verharm losen, w om öglich zu rom antisieren. D eshalb ist es uns
recht, wenn alles in Frage gestellt wird, was wir für fest begründet erachten; wir wollen
es daraufhin neu überprüfen und - falls erforderlich - m odifizieren, unsere E rkenn t­
nisse noch besser begründen .“94
D en Versuch von H ans-Joachim Bartmuss, „D ie G ebu rt des ersten deutschen Staa­
tes“ auf einen Klassenantagonism us zwischen w eltlichen und geistlichen Feudalherren
zurückzuführen, bezeichnete Schram m als „K litterung zugunsten eines von außen
dem G eschichtsablauf übergestülpten M odells“93. Ein neues A rgum ent habe der A u­
tor nicht vorzubringen. V o m M arxismus würden „ständig Im pulse“ ausgehen, „die un­
serer G eschichtsschreibung gut bekom m en“. W as jed och das Buch von Bartmuss unlesbar und unergiebig m ache, sei der „pflichtgetreu befolgte D enkstil, der keinem
Lüftchen ausgesetzt wird und jed er Diskussion ausweicht“96. In einer A nm erkung
heißt es: „Die Bibliographie setzt einen sorgfältig geführten Zettelkasten voraus: ein
O rts- und Personenregister fehlt. Das Papier ist schlecht, der Einband folgt alter Sch a­
blone, der Schutzum schlag ist hinterwäldlerisch, der Preis also viel zu hoch ange­
setzt .“97 Zu der von E m st W ern er 1956 erschienenen A rbeit über die „Pauperes Chri­
sti“ bem erkte Sch ram m : „N atürlich fehlen Berufungen auf Marx und Engels nicht: sie
werden angeführt wie Bibelstellen in einem historisch-theologischen Traktat des
17. Jahrhunderts.“ Als „Positivum “ hob Schram m hervor: D er Verfasser verzichte auf
grobianistische verletzende K ritik, w elche gem einhin m arxistisch „rechtgläubige“ Pu­
blikationen für uns unleidlich m ache. A nsonsten wurde das Buch m it dem höchsten
Prädikat ausgezeichnet, das Percy E m st Schram m zu vergeben hatte: „Es ist nicht
langweilig .“98
94 Ebd., 13 (1 9 6 2 ) 6 6 9 .
95 Ebd., 20 (1 9 6 9 ) 6 3 0 .
96 Ebd., 63 1 .
97 Ebd., 6 3 0 , A n m . 20.
98 Ebd., 10 (1 9 5 9 ) 2 4 5 . - E rh eb lich w eniger Sym pathie hatte Sch ram m E rn st W erners Leipziger
D issertation über die „G esellsch aftlich en G rundlagen der K losterreform , Berlin 1 9 5 3 “ en tg egen ­
gebracht. E r m ein te: „Bei dem R ah m en, in den W ern er seine T hese eingefügt hat, beschränke
ich m ich auf die W iedergabe. D en Sch lü ssel für seine A uffassung gib t das bereits auf Seite 4 zi­
tierte om inöse W o rt von K arl M arx, R eligion sei das .O pium des V olkes'. W en n m an dieses zur
M axim e erhebt, um die G esch ich te zu verstehen, k o m m t man - das ist das L ehrreich e an der b e­
sproch en en A rb eit - zwangsläufig zu den oben w iedergegebenen V erzem m g en , ko m m t m an
dazu, selbst w enn m an die ganze Literatur zu R ate zieht, die auch wir benutzen. Es hat also gar
kein en Sin n, gegen W ern ers D eu tu n g der R eform zu polem isieren, das Bild der K atharer zu­
rechtzu rü cken, die Fu nk tio n des O sten s auf ihr richtiges M aß zurückzuschrauben usw. D ie A u s­
einandersetzung m üßte vielm eh r dam it b egin n en , zu klären, ob R eligion O piu m ist oder wirklich
.R elig ion “. H ier sei dazu nur gesagt, daß der V erf. über sie sprich t wie der Blinde von der Farbe,
der T aube von der M usik; und was die clun iazensisch e R eform betrifft, so gilt, daß die Feststei-
114
K laus Sch rein er
Das Buch von Eckhardt M üller-M ertens über „Das Z eitalter der O ttonen, Berlin
1 9 5 5 “, beurteilte Schram m so: D ie Tatsache, daß der Verfasser in den Anfangskapiteln
nich t die einschlägigen verfassungsgeschichtlichen A rbeiten von M itteis und Sch lesin ­
ger benutzt, sondern Marx, Engels und Lenin zitiert, „wäre noch kein Grund, das
Buch schlecht zu m achen; vielm ehr könnte es zur Präzisierung unserer Auffassung
nützlich sein, daß einm al der bisher m aßgebenden Darstellung, R obert H oltzm anns
G esch ichte der Sächsischen K aiserzeit (1941), eine neue auf Grund der dialektischm aterialistischen G eschichtsauffassung gegenübergestellt würde, die deutlich m achte,
was diese den uns vertrauten Z eugnissen abzugewinnen vermag. Nur müßte sie Ni­
veau haben und der Verfasser etwas vom Forschen verstehen. Davon kann jedoch in
diesem Fall gar nicht die Rede sein. Es handelt sich vielm ehr um eine K om pilation
aus der gängigen Literatur, die weder V ertrautheit m it den entscheidenden Problem en
noch eigene G edanken erkennen läßt. . . . D er T ext m uß aufgeweckte Leser abstoßen,
da er ohne Sinn für gesch ichtliche A useinandersetzungen geschrieben ist und daher in
lange überholter W eise die T atsachen aufeinander folgen läßt. Von Z eit zu Z eit wird
man dann durch Vokabeln aus dem Parteivokabular aufgeschreckt - man fühlt sich an
einen K o ch erinnert, der nachträglich über einen bereits abgestandenen Braten eine
scharfe Sauce gießt, um sie m undgerecht zu m achen .“99
Zu den A rbeiten von Theodora Büttner, Ernst W ern er und Martin Erbstößer über
„Circum cellionen und A dam iten“ sowie über „D ie freigeistige Häresie und ihre sozia­
len W urzeln“, zwei Bücher, die sich als Beiträge „zur Erforschung der objektiven G e ­
setze der Feudalgesellschaft“ verstehen, schrieb H erbert Grundm ann in einer Bespre­
chung des D eutschen A rchivs (196.1): „W eder das Beginentuin noch gar die K etzerei
des ,freien Geistes* ist so sim pel aus .sozialökonom ischen U rsachen 1 zu erklären. A ber
Engels hat einm al zwischen .bürgerlich gem äßigter und plebejisch-revolutionärer'
K etzerei unterschieden; also m uß m an es ihm wohl nachtun und darf es nicht besser
wissen. Selbst aus diesen Büchern ist aber m anches zu lernen, um es besser zu wis­
sen .“ 100 U ngeteiltes Lob zollte G rundm ann der A rbeit von Bernhard Töpfer über „Das
kom m ende R eich des Friedens. Zur Entw icklung chiliastischer Zukunftshoffnungen
im H ochm ittelalter“. D ie m arxistische Fragestellung habe ihn „nirgends zu doktrinär
vorgefaßten A ntw orten verleitet, sondern sehr kritisch und genau alle Zeugnisse (bis
ins 14. Jahrhundert) über Zukunftserw artungen und -Verheißungen darauf prüfen las­
sen, ,in welchen K reisen und gesellschaftlichen Sch ich ten derartige Gedankengänge
wurzelten und w elchen sozialen G ehalt sie hatten“ 1. D er Verfasser lese „keineswegs
Sozialrevolutionäre M otive in seine T exte hinein, wo sie sich nich t w irklich finden“ 101.
D ie Auffassung des Jo a ch im von Fiore über den dritten Status der G esch ichte sei
„noch kaum je so sorgfältig erwogen worden wie hier - gerade weil der Verfasser nicht
bei ihm fand, was sein T hem a ihn suchen ließ“. W as das Buch auszeichne, anregend
lungen des Paters K assius H allinger sich n ich t überspringen lassen, so weit die R eform auch an
ein e b estim m te soziale U m w elt gebu n d en gew esen sein m ag“ (ebd. 5 (1 9 5 4 ) 7 53 f.).
99 Ebd., 6 (1 9 5 5 ) 7 6 6 .
100 Herbert G ru n d m a n n , in : D A 17 (1 9 6 1 ) 3 2 0 f.
101 D ers, in : H Z 2 0 3 (1 9 6 6 ) 391 f.
W issen sch aft von der G esch ich te des M ittelalters nach 1945
115
und lesbar m ache, sei die „m ethodische Beharrlichkeit der Fragestellung“, „ein gedul­
diges, deutlich fragendes, nichts präjudizierendes Verhör aller Zeugen, auch wenn sie
nicht das aussagen, was der vom eigenen Standort R ückblickende gesucht oder ge­
wünscht hätte“ 102.
Zu A nfang der siebziger Jah re gingen westdeutsche Mediävisten dazu über, von ih­
ren ostdeutschen K ollegen das einzufordern, was diese eigentlich und schon im m er
gewollt hatten, näm lich G esch ichte des M ittelalters m it dem theoretischen Instru­
m entarium des M arxismus neu zu schreiben und zu deuten. N icht „die Sachirrtüm er
sind das eigentlich E nttäuschende an dem B u ch“, schrieb Peter Classen über Ernst
W erners 1973 erschienenes Buch „Zw ischen Canossa und W o rm s“. „Man hätte sich
eine m arxistische Interpretation des Zeitalters gew ünscht - aber es fehlt dazu an den
w esentlichen sozialgeschichtlichen Fragen. Von der A delskirche und der Stellung des
Adels zur Reform hört m an fast n ich ts; nichts vom Latein als Standessprache des K le ­
rus, die w irtschaftliche Basis der aufsteigenden Städte bleibt unklar . . . Eine m arxisti­
sche Deutung des Investiturstreites, die die .bürgerliche W issenschaft“ zur A useinan­
dersetzung herausfordem könnte, steh t noch aus .“ 103
Synthesen, die unter gesam tgesellschaftlichem A spekt eine Epoche erfassen und
zur Darstellung bringen, waren und sind nicht die Stärken m arxistischer Mediävistik.
Das soll nicht bedeuten, daß ihr respektable, in W est und O st gleicherm aßen aner­
kannte Erfolge versagt blieben - im G eg en teil10“1: „Sie hat sie jed och in Bereichen er­
zielt, in denen sie sich in die großen Forschungstrends einreihte, nicht auf der Grund­
lage theoretisch-abstrakter Erwägungen und V ersuche .“ 105
102 Ebd., 3 9 3 f. - In ein er A n zeige des Bu ches im „D eu tsch en A rch iv“ hatte G rundm ann ein Ja h r
zuvor g esch rieb en : D a der V erfasser die bisherige Forsch un g „genau kenn t, durch neue kluge B e ­
obachtungen ergänzt und m anchm al b erich tigt, ist von ihm viel zu lernen, auch wenn man sich
seine m arxistischen Präm issen n ich t zu eigen m acht, von denen er sein sachkundiges, kritisches
U rteil nie doktrinär präjudizieren läßt“ (21 (1 9 6 5 ) 636). - D en überlieferten Q u ellenbestand un­
befangen, d .h . nach den R egeln h isto risch -p h ilo lo gisch er H erm eneutik, zum Sp rech en zu b rin ­
gen, b etrachtete G run dm ann als Inbegriff h istorisch er A rbeit. Q u ellenexegese, die an politisch
vorgegebene th eo retisch e Präm issen gebu n d en ist und diese n ich t selber kritisieren kann, er­
schien ihm suspekt. In ein em B e rich t über „D en 23. D eu tsch en H istorikertag in U lm “ 1956 b e­
m erk te H erbert G rundm ann kritisch : „D azu aber sollten H istorikertage n ich t wieder (wie 1937)
m ißbraucht w erden, um vorher form ierte und instru ierte Sch lach treih en ins Feld zu führen. Z um
m indesten m üßte jed er zu hören und zu verstehen bereit sein - wir auch! - , was der andere sagt
und m ein t, ehe er ihm en tg eg n et; sonst sind D iskussion en sinnlos und entarten zu Su ggestions­
versuchen ... Aus unbefangen kritischer Prüfung aller Ü berlieferung begründete A ntw orten auf
unsere Fragen zu suchen statt bloßer Bestätigung für vorgefaßte, als ausgem acht gelten de .T h eo ­
rien“, das b leibt für uns die A ufgabe der G esch ich tsw issen schaft und auch der Sin n von H istori­
kertagen“ (H Z 183 (1 9 5 7 ) 7 4 2 f.).
103 Peter Classen, in : H Z 2 2 0 (1 9 7 5 ) 691 f.
1<M Man braucht nur an die älteren und neueren A rb eiten von Ep perlein, Erbstösser, Schild hauer
und W ern er erin n ern , vor allem aber an die M onographien von Eckhard M üller-M ertens und
Bernhard T ö p fer über P roblem e m ittelalterlicher Verfassungs- und Sozialgeschichte. Ü bersichten
über P ublikationen und Forschungsvorhaben der M ediävistik in der D D R geben folgende B e ­
rich te: H istorisch e Forsch un gen in der D D R . A nalysen und B erich te (Z fG , Sonderh. 8, Berlin
I9 6 0 ); H istorisch e Forsch un gen in der D D R 1 9 6 0 -1 9 7 0 (Berlin 1970).
105 Frantisek Graus, V erfassun gsgeschich te des M ittelalters, in : H Z 243 (1 9 8 6 ) 575.
116
K lau s Sch rein er
3. Alte und neue W ege der Verfassungs- u n d Sozialgeschichte in der
M ediävistik der Bundesrepublik
Bauform en politisch-sozialer Lebensordnungen nachzuzeichnen, nach materiellen
Grundlagen m en schlichen Lebens zu fragen oder sich über W echselw irkungen zwi­
schen Politik und W irtschaft G edanken zu m achen, ist von Mediävisten nie als V er­
stoß gegen die Z unftehre em pfunden worden; W irtschaft und G esellschaft gehören zu
ihrem Begriff von G esch ichte. Es gibt das vierbändige „D eutsche W irtschaftsleben im
M ittelalter“ von K arl L am precht und die „W irtschaftsgeschichte“ seines Nachfolgers
K ö tzsch k e; es gibt die zweibändige A rbeit von A lfons D opsch über die „wirtschaftli­
chen und sozialen Grundlagen der europäischen K ulturentw icklung aus der Z eit von
Caesar bis auf K arl d. G r.“; es gibt die „D eutsche V erfassungsgeschichte“ von Georg
W aitz, die, an ihren W irkungen gem essen, den Rang eines Klassikers besitzt. D ie älte­
ren Jahrgänge landeskundlicher Zeitschriften sind heute noch eine Fundgrube für die
W irtschafts- und Sozialgeschichte des späten M ittelalters. V ieles wäre zu nennen nich t zuletzt die großen A ktenpublikationen, w elche die H andlungstätigkeit hansi­
scher und oberdeutscher Kaufleute dokum entieren. N euere Darstellungen über m it­
telalterliches A lltagsleben zehren im m er noch von den Q uellen, die K ulturhistoriker
des 19. Jahrhunderts über die Sachkultur der m ittelalterlichen W elt gesichtet und zu­
sam m engetragen haben.
Mediävisten, die traditionelle Forschungsthem en ihrer Z u nft aufgriffen und w eiter­
führten, vertieften sich nich t allein in Reichsidee und Rom gedanke; sie besaßen einen
geschärften Blick für reale Grundlagen und Interessen kaiserlicher Italienpolitik. Sie
wußten, daß den deutschen H errschern in Italien nich t nur der Glanz der K aiserkrone
w inkte; in Italien kon nten K aiser und K önige ökonom isch nutzbare H errschafts­
rechte beanspruchen, deren Erträge für ihre H errschaftsbehauptung in D eutschland
unabdingbar waren. In jen em Sozial-, W irtschafts- und H errschaftsgebilde, das man
gem einhin „Grundherrschaft“ zu nenn en pflegt106, verschränken sich w irtschaftliche,
politische und soziale Strukturelem ente zu einem durch soziale U ngleichheit gepräg­
ten Handlungssystem . D ie vom Staat losgelöste W irtschafts- und Erwerbsgesellschaft
ist eine m oderne Erscheinung. In den kleinen und großen O rdnungen, die im M ittel­
alter m enschliches Z usam m enleben regelten, in Fam ilie und Haus, in Nachbarschaft
und D orf, in Stadt und Territorium überlagerten und durchdrangen sich politische,
ökonom ische und soziale G egebenheiten. Standeszugehörigkeit, A bstam m ung und
Fam ilie bestim m ten den R ech ts- und Sozialstatus des einzelnen, entschieden über
dessen Lebenschancen, öffneten oder versperrten den Zugang zur Ausübung von
H errschaft über andere. Ö kon om ische Beziehungen waren eingebunden in eine als le­
gitim anerkannte H errschaftsordnung. G efährdet war deren Bestand dann, wenn sie
ihre Schutzfunktionen nicht m eh r erfüllte, wenn bei der Bem essung der Abgaben und
Leistungen der Grad des sittlich und ökonom isch Zum utbaren überschritten wurde
106 K lau s Schreiner, ,G ru n d herrsch aft‘. En tsteh un gs- und Bedeutungsw andel eines geschichtsw issen schaftiichen O rdn un gs- und Erklärungsbegriffs, in: D ie G run d h errsch aft im späten M ittelal­
ter, Bd. 1, hrsg. von H a n s Patze (V orträge und Forschungen 27, Sigm aringen 1 983) 1 1 -7 4 .
W issen sch aft von der G esch ich te des M ittelalters nach 1945
117
oder die jeweils herrschaftslegitim ierenden W ertvorstellungen ihre Geltungskraft ein ­
büßten.
Die politisch-soziale Verfaßtheit des G egenstandsbereiches selbst hatte dazu ge­
führt, daß, wie G eorg Iggers m einte, in der Praxis geschichtsw issenschaftlicher Fo r­
schung „Mediävisten über ein klareres W issen um die w irtschaftlichen Faktoren und
sozialen Strukturen“ verfügten „als die m odernen politischen H istoriker“, deren Blick
auf den zentralisierten, bürokratischen Staat fixiert b lie b 107. D er „sozialgeschichtliche
A spekt“, befand Gerhard O estreich in seinen Erwägungen über die Lage der deut­
schen G eschichtsw issenschaft an der W ende vom 19- zum 20 . Jahrhundert, trat „über­
haupt zunächst stärker in der A lten und M ittelalterlichen G eschichte hervor“ 108. „Die
Fortschritte der Sozialgeschichte in D eutschland“, bem erkte er im Blick auf die von
Karl Lam precht ausgegangenen Forschungsanstöße, „vollzogen sich ruhig und still auf
dem G ebiete der Landesgeschichte .“ 109
Nach m ateriellen Lebensum ständen, W irtschafts- und Sozialform en zu fragen, hatte
in der deutschen Mediävistik Tradition. Für Mediävisten bestand deshalb kein Anlaß,
über die D ich otom ie zwischen Ereignis- und Strukturgeschichte aufgeregte D ebatten
zu führen. D ie verstärkte Zuw endung zu Fragen der Verfassungs-, Sozial- und W irt­
schaftsgeschichte seit A nfang der 50er Jah re provozierte keine Grundsatzdiskussion
über den der G eschichtsw issenschaft angem essenen G egenstand; sie vollzog sich laut­
los und selbstverständlich - ein Vorgang, dem gleicherm aßen positive und negative
Züge anhafteten. E r hatte langfristig zur Folge, daß sich M ediävisten von den G rund­
satzdebatten der sechziger und siebziger Jah re nahezu geschlossen fem hielten.
D ie Hanse, betonte Fritz Rörig bereits 1946, sei nur „aus der G anzheit ihrer Le­
bensvorgänge“ zu verstehen, zu denen neben der Rechtsordnung auch „der w irtschaft­
liche Sekto r“ g eh öre110. A ls die Z entraldirektion der M onum enta auf ihrer Jah resta­
gung im O ktober 1948 die ihr oktroyierte Bezeichnung „Reichsinstitut für ältere deut­
sche G eschichtskund e“ durch den Namen „D eutsches Institut für Erforschung des
M ittelalters“ ersetzte, sollte der neue N ame auch zum A usdruck bringen, „daß künftig
die Publikationen, vor allem auf geistesgeschichtlichem wie auf sozial- und wirt­
schaftsgeschichtlichem G ebiet, in noch stärkerem Maße als bisher über die Grenzen
des engeren deutschen Q uellenbereichs hinausgreifen werden“ 111. Sache der Mediävi­
sten sei es, schrieb K arl Siegfried Bader 1950, „die sozial bedeutsam en konkreten B e­
tätigungen, Zustände und Veränderungen in der M enschenw elt in ihrem ursächlichen
Zusam m enhang“ zu erforsch en 112. „Unsere W e lt ist eine W elt der konsequenten so107 Georg G. Iggers, D eu tsch e G esch ich tsw issen schaft. E in e K ritik der traditionellen G esch ich ts­
auffassung von H erder bis zur G egenw art (M ü nch en 1971) 308.
108 G erhard Oestreich, D ie Fach historie und die A nfänge der sozialgesch ich tlichen Forsch un g in
D eutschland, in : H Z 2 0 8 (1 9 6 9 ) 343.
109 Ebd., 363.
110 Rörig, Stand und A ufgaben (wie A n m . 19), 8.
111 Friedrich Baethgen, B e ric h t für die Ja h re 1 9 4 3 -4 8 , in : D A 8 (1950/ 51) 7 f.
112 K a r l Siegfried Bader, Grundfragen der kirch lich en L andesgeschichte, in: Freiburger D iözesanA rchiv 6 9 (1 9 5 0 ) 38. V o n neuem abged ru ckt in: K a r l Siegfried B ader, A usgew ählte Sch riften zur
R ech ts- und Lan desgesch ich te Bd. 3 : Sch riften zur L andesgeschichte, hrsg. von H elm u t M a u rer
(Sigm aringen 1 983) 28.
118
Klaus S ch rein er
zialen Revolution“, sagte H erm ann H eim pel in einem M itte der fünfziger Jah re wie­
derholt gehaltenen Vortrag über „Gegenwartsaufgaben der G eschichtsw issenschaft“
Und er fuhr fort: „So ist gefordert der E ntschluß zur Sozialgeschichte .“ 113 Das Verlan­
gen nach m ehr Sozialgeschichte wurzelte in unterschiedlichen M otiven: Es suchte
zeitgenössischen Erfahrungen R echnu ng zu tragen - dem W issen um die M acht un­
gew ollter und unkontrollierbarer U m stände, der E in sich t, daß aus der Verflechtung
persönlicher und kollektiver H andlungen Prozesse entstehen können, deren Folgen
von keinem M enschen geplant oder gewollt w urden114; es bedeutete eine N eubele­
bung älterer Forschungstraditionen; es reagierte auf H erausforderungen, die vom G e­
schichtsbegriff und den w issenschaftlichen Publikationen m arxistischer Mediävisten
ausgingen.
W as Sozialgeschichte im Grunde sei, was sie aufdecken könne und darstellen solle,
erläuterte O tto Brunner in einem auf der 22 sten V ersam m lung deutscher H istoriker
in Brem en im Septem ber 1953 gehaltenen Vortrag über „Das Problem einer europä­
ischen Sozialgeschichte“ 115. „Ich verstehe unter Sozialgeschichte“, sagte Brunner pro­
gram m atisch, „nicht ein bestim m tes Sondergebiet, das Gegenstand eines ,Faches“ sein
kann, sondern eine Betrachtungsw eise, einen A spekt, der M enschen und m enschliche
Gruppen in ihrem Z u sam m enleben, in ihrer Vergesellschaftung sieh t .“ 116 Eine solche
Form historischer Betrachtung, „bei der der innere Bau, die Struktur der m en schli­
chen Verbände im Vordergrund steh t“, wollte er abgegrenzt wissen von einer politi­
schen Betrachtung der D inge, die „das politische H andeln, die Selbstbehauptung zum
G egenstand hat“. D ie Eigenständigkeit beider V orgehens- und Betrachtungsweisen
bedeutete nach A nsicht Brunners zugleich gegenseitige A bhängigkeit: „K eine der bei­
den Betrachtungsw eisen kann ohne die andere auskom m en. So wenig man das H an­
deln der Verbände ohne K en n tn is ihres inneren Baues zu verstehen vermag, so wenig
können die relativ dauerhaften Strukturen unabhängig vom politischen G eschehen
begriffen w erden .“ 117 K o m m e es darauf an, „m enschliche G ruppen in ihrem V erge­
sellschaftetsein ins A uge“ zu fassen, „dann m üssen zur D arstellung ihrer inneren
Struktur alle in Betracht kom m enden Faktoren, auch die geistesgesch ichtlichen“ her­
angezogen w erden118; „G eistesgeschichte“ könne nicht für sich selbst betrieben wer­
den, sondern sei „in die beiden anderen Sehw eisen einzubauen“ 119.
113 H erm a n n H eimpel, G egenw artsaufgaben der G esch ich tsw issen schaft, in : K ap itulation vor der
G esch ich te? (G öttin gen 1 960) 63.
114 Vgl. Norbert Elias, Ü b er den Prozeß der Zivilisation. So ziogen etisch e und psychogenetische
U n tersuch un gen , Bd. 2 (Frankfu rt a.M . 1 9 7 6 ) 31 4 , der von der „E ig en g esetzlich keit der gesell­
sch aftlich en V erflech tu n gsersch ein u n gen “ spricht, von „W andlungen und G estaltu ng en “, die aus
der „fundam entalen V erflech tu n g der ein zeln en m en sch lich en Pläne und H andlungen“ h ervor­
geh en , aber „kein ein zeln er M ensch gep lant oder gesch affen hat“.
115 Otto B ru nner, D as P roblem ein er europäischen Sozialgesch ich te, in : N eue W eg e der V erfassungs- und Sozialgesch ich te (G öttin gen 21 968) 8 0 -1 0 2 .
116 Ebd., 80.
117 Ebd., 82.
116 Ebd., 101.
119 Ebd., 82.
W issen sch aft von der G esch ich te des M ittelalters nach 1945
119
So verstandene Sozialgeschichte könne „die in ihr auftretenden sachlichen Pro­
blem e stets nur in enger Zusam m enarbeit m it den Sozialwissenschaften, insbesondere
der Soziologie bewältigen“. Z um G ebrauch soziologischer Begriffe bem erkte Brunner
jedoch einschränkend: D ie Sozialgeschichte müsse „ihre Begrifflichkeit am U rm aterial, an den Q uellen selbst erarbeiten“. D er G renzen eines solchen Postulats war sich
Brunner durchaus bewußt. W ie „in jed er historischen A rbeit, die nicht bloße Material­
sam m lung sein will“, zeit- und situationsgebundene G esichtspunkte stecken, sei auch
sach- und quellengem äße Begriffsbildung „ohne Bezug auf die Gegenwart, eine von
den Sozialwissenschaften in unserem Bereich wissenschaftlich erfaßte Gegenwart,
nicht durchführbar“ 120.
Brunner plädierte für eine durch Q uellen- und Gegenwartsbezug geprägte Begriffs­
sprache, die Gewähr gibt, daß H istoriker den Gegenstand historischer Erkenntnis
nicht den V orurteilen ihrer eigenen Z e it unterwerfen, sondern in seinem A nderssein
erkennbar m achen. E r setzte sich für eine Zusam m enarbeit zwischen G esch ichts- und
Sozialwissenschaften ein, um ein K o n zep t von Strukturgeschichte realisierbar zu m a­
chen, welches die herköm m lich e Verfassungsgeschichte ablösen sollte. E r suchte ein­
sichtig zu m achen, daß politisches H andeln unverständlich bleibt, wenn die sozialen
Strukturen und geistigen H altungen politisch handelnder Verbände außer Betracht
bleiben. G eistesgeschichte schien ihm nur als Sozialgeschichte von Ideen, H altungen
und Einstellungen legitim zu sein. D ie Bedeutung dieser Grundsätze für eine neue
K onzeption der G eschichtsw issenschaft zu A nfang der 50er Jah re sind nicht zu unter­
schätzen. W ie ist Brunners Plädoyer für eine sozialgeschichtliche N euorientierung der
G eschichtsw issenschaft, das dann in sein K onzep t einer Strukturgeschichte Eingang
fand, von damals lehrenden und forschenden Mediävisten aufgegriffen und verwirk­
licht worden?
Auf traditionelle V orbehalte stieß die Forderung nach einer Verknüpfung von G ei­
stes- und Sozialgeschichte. Das Bem ühen, geistig-religiöse A ntriebe von gesellschaftli­
chen Voraussetzungen freizuhalten, ließ die soziale Bedingtheit und gesellschaftliche
Bedeutung religiöser G em einschaftsbildung nur unzureichend zu G esicht kom m en.
H erbert Grundm ann ließ allein deren religiöse A ntriebe und Zielsetzungen gelten ein U rteil, das zweifelsohne vor dem w issenschaftstheoretischen K urzschluß bewahrte,
wonach Fröm m igkeit, Religion und W issen nur als Ausdruck von Interessenlagen be­
stim m ter Gruppen, Sch ich ten oder K lassen zu verstehen seien. D er W ille zum Primat
des G eistigen schuf einen unversöhnlichen Gegensatz zwischen m aterialistischer und
idealistischer Geschichtsauffassung. N otw endig war das n ic h t121. Max W eber, von dem
120 Ebd., 102. - V gl. auch ders., Land und H errschaft. G rundfragen der territorialen V erfassungs­
g esch ich te Ö sterreich s im M itteialter (D arm stadt 51 965) 1 6 3 : „N ichts aber wäre falscher als zu
glauben, daß historische A rb eit die m odernen Begriffe en tb ehren kön n te. Nur m üssen sie selbst
in ihrer g e sch ich tlich en B ed in gth eit erkan nt w erden.“
121 Z u den rü hm lichen A u snah m en von der R egel zählen die im Ja h re 1965 unter dem T itel
„V olk, H errsch er und H eiliger im R eich d er M erow inger“ ersch ien en en Studien von Frantisek
G raus zur m erow ingischen H agiographie, die sowohl in ihren literarischen E ig en tü m lich keiten
als auch in ihrer sozialen Fu n k tio n u n tersu ch t wird. D ie U n tersu ch u n g kon zen triert sich „auf die
Ein stellu ng der H agiographien zum V olk und zu den H errsch ern “ (11). D aß es m öglich ist, H ei-
120
K lau s S ch rein er
man hätte lernen können, wie sich in historischen Prozessen Ideen und Interessen ge­
genseitig durchdringen, zählte noch nicht zu den G ew ährsm ännern, bei denen sich
M ediävisten Rat und H ilfe holten. Max W eb er hätte dafür bürgen können, daß Reli­
gion, ungeachtet ihrer sozialen Funktion und gesellschaftlichen Verfaßtheit, einen
sinnstiftenden Bedeutungsüberschuß enthält, der sich sozial-ökonom ischer V errech­
nung entzieht.
D ie U rsache nach dem Ursprung der m ittelalterlichen U niversität suchte und fand
Grundm ann „im spontanen W issen- und Erkennenw ollen um der W ahrheit willen
auch auf die G efahr hin, daß sie unbeliebt ist und zu K onflikten führt“ 122. D en Sozial­
bezug dieser These hat dann später Peter Classen in einem Aufsatz über „D ie hohen
Schulen und die G esellschaft im 12 .Jah rh u n d ert“ nachgeliefert123. Indem G rund­
m ann auf der Eigenständigkeit und geschichtsbildenden K raft geistiger A ntriebe beharrte, wollte er „in seiner alten U niversität Leipzig“, wo er 1956 den Vortrag hielt,
„wie danach im W esten D eutschlands davor warnen, daß staatliche Eingriffe und utili­
taristische Erwägungen die U niversität ihrem Auftrag wieder einm al entfrem den
könnten“ 124. Im M edium der G esch ichte verdeutlichte G rundm ann unverzichtbare
Voraussetzungen und Prinzipien geistiger A rbeit: D ie U nbefangenheit wissenschaftli­
chen Fragens, die Freiheit des U rteils und nicht zuletzt ein freiheitlich verfaßtes G e­
meinw esen, das es den H istorikern selbst überläßt, was sie denken und sagen wollen.
In den ersten N achkriegsjahren tat sich H erbert Grundm ann ausnehm end schwer,
geistige und religiöse Sozialgebilde - die Universität, religiöse Bewegungen und häreti-
ligenleben nach den R egeln exak ter P hilologie zu un tersu ch en , sozialgesch ich tlich zu deuten
und in g esch ich tlich en Z u sam m en hän gen zu verorten, war dam als neu. D as Bu ch ersch loß nicht
nur E in sich ten in ein e E p o ch e, „in der sich zuerst das europäische M ittelalter zu kristallisieren
began n “ (10); es b ed eutete auch einen Z ugew inn an n euen Fragestellungen und M ethoden.
122 Herbert G ru n d m a n n , V o m U rsprung der U niversität im M ittelalter (D arm stadt 21964) 59.
123 Peter Classen, D ie h ohen Sch u len und die G esellsch aft im 12. Jah rh u n d e rt, in : A rchiv für K u l­
tu rgeschichte 4 8 (1 9 6 6 ) 1 5 5 -1 8 0 .
,2i A rn o Borst, H erb ert G ru n d m ann (1 9 0 2 -1 9 7 0 ), in : Herbert G ru n d m a n n , A usgew ählte A u f­
sätze, T eil 1: R eligiöse Bew egungen (S ch riften der M on um en ta G erm aniae H istorica 25, 1, S tu tt­
gart 1 976) 12. - W iderspru ch von ö stlich er Seite blieb n ich t aus. G run d m ann s Leipziger V ortrag
„V om Ursprung der U niversitäten im M ittelalter“ wurde 1957 in den „B erich ten über die V e r­
handlungen der Säch sisch en A kad em ie der W issen schaften zu Leipzig“ (phil.-hist. K lasse Bd.
103, 2) gedruckt. A ls die A bh and lun g in der „Z eitsch rift für G esch ich tsw issen sch aft“ angezeigt
wurde, b em än gelte der R ezen sen t, daß G rundm ann „eine Einw irkung der feudalen K lassen u n ­
terschiede auf die U niversität“ leugne sowie auf „Z eugnisse der K reise der feudalen G esellschaft,
die m ateriell und ideologisch T räger der Bildungsstätten w aren“, n ich t ein geh e. N ich t zuletzt
deshalb hatte G rundm ann die freih eitlich en A n trieb e des m ittelalterlich en U niversitätsw esens
ins Z en tru m sein er h isto risch en Erw ägungen gerückt, um aus T atb estän d en der V ergangen heit
M aßstäbe für die G egenw art zu m ach en . D em R ezen sen ten war das n ich t entgangen. „Z u augen­
sch ein lich “, schrieb er, um die angeblich ideologische Befan gen h eit G rundm anns zu entlarven,
„schim m ern h in ter der m ediävistischen V erbräm ung die A pologie des dürftigen M antels der
Freih eit an den ,aben d län d ischen' U niversitäten im im perialistischen W esteuropa und der S e i­
tenh ieb auf die H o ch sch u len in den sozialistischen Staaten h in d urch .“ A u f diese W eise belege
G run dm ann nur, was m an eh sch o n gewußt und n ie bezw eifelt h abe: „D ie p olitische D ie n stlei­
stung der bun d esrep ublik anisch en H istoriographie im Sin n e der ihren Staat b eherrschend en
B ou rgeoisie!“ (Siegfried Hoyer, in : Z fG 6 (1 9 5 8 ) 1 1 7 5 -1 1 7 7 ).
W issen sch aft von der G esch ich te des M ittelalters nach 1945
121
sehe G em einschaften - in ihren gesellschaftlichen Bedingungs- und W irkungszusam m enhängen w ahrzunehm en und zu deuten. W ie er die m ittelalterliche Universität
ausschließlich auf geistige A ntriebe zurückführte und ihr soziales Bedingungsgeflecht
aussparte, so lehnte er es vehem ent ab, die Bildung häretischer Gruppen und G egen­
kirchen auf soziale Spannungen oder w irtschaftliche Interessenlagen zurückzuführen.
D enn och: Grundm ann war ein zu sensibler, kritisch prüfender und bedachtsam abwä­
gender Mediävist, als daß er nicht noch hätte dazulem en können. In seinem Essay
Ü ber die W e lt des M ittelalters“, den er 1965 für den Schlußband der Propyläen­
W eitgeschichte schrieb und der gleichsam eine Sum m e seines gelehrten Lebensw er­
kes darstellt, sprach er sowohl im B lick auf die religiösen Bewegungen als auch auf die
städtischen U niversitäten des M ittelalters vom „Ineinandergreifen geistig-religiöser
und sozialer W andlungen“ 125.
W as Brunners K o n zep t einer Strukturgeschichte anbetrifft, so bestand unter Verfassungshistorikem Einvernehm en darüber, schon im m er - w enngleich m it H ilfe ande­
rer begrifflicher W erkzeuge - die nu nm ehr geforderte strukturgeschichtliche V orge­
hens- und Betrachtungsw eise gepflegt zu haben. Gleichw ohl stießen Begriff und K o n ­
zept der neuen Strukturgeschichte auf V orbehalte. Das W o rt „Verfassungsgeschichte“,
m einte W alter Schlesinger, sei „ein gutes und traditionsreiches W ort, das uns nicht
verlorengehen sollte“ ; er könne nich t finden, „daß es besser sei“, „Verfassungsge­
schichte“ durch das heute beliebte W o rt „Strukturgeschichte“ zu ersetzen126. D em
wurde zu R ech t entgegengehalten, daß der Begriff „Strukturgeschichte“ als eine allge­
meine, „übergreifende K ategorie“ zu historischer Analyse und historischer H ypothe­
senbildung anleite, „das W o rt ,V erfassungsgeschichte1“ hingegen, nicht weniger als
„das W o rt ,Sozialgeschichte1, m it einer S ch ich t historisch gewordener Bedeutungen
belastet“ sei. O tto Brunner, von dem dieser Einwand stam m t, verwies „auf die neuere
Entgegenstellung von ,Verfassung* und .Verwaltung 1 oder auf den engeren Verfas­
sungsbegriff im Sinne von K onstitu tion, wie er seit dem 19. Jahrhun d ert gebraucht
wird“ 127. D er Begriff Verfassung, in seinem Entstehungskontext betrachtet, beinhaltet
das Vorhandensein einer geschriebenen Verfassungsurkunde, die einen zwischen Volk
und M onarch vereinbarten Vertrag verbrieft, gewaltenteilige Ausübung politischer
Herrschaft regelt, persönliche G rund- und Freiheitsrechte garantiert sowie die Sicherheits- und Erw erbsinteressen der bürgerlichen W irtschaftsgesellschaft rechtlich ab­
sichert.
Dessenungeachtet rechnete Schlesinger das traditionsreiche W ort „Verfassungsge­
schichte 11 nicht zu jenen anachronistischen Begriffen, die unsachgem äße Fragestellun­
gen provozieren oder verhindern, daß Zustände und Institutionen der Vergangenheit
125 H erbert G ru n d m a n n , Über die W elt des Mittelalters, in: Propyläen-Weltgeschichte. Summa
histórica (Berlin-Frankfurt-W ien 1 9 6 5 ) 43 6 .
126 W alter Schlesinger, T h e o d o r M ayer und der K o n stan zer A rbeitskreis. T h eo d o r M ayer zum
80. G eburtstag (K o nstanz 1 9 6 3 ) 26.
127 Otto B runner, Z u m Begriff des Bürgertum s, in : U ntersuch un gen zur gesellsch aftlich en Stru k­
tur der m ittelalterlichen Städte in Europa. R eichenau -V orträge 1 9 6 3 -1 9 6 4 (V orträge und F o r­
schungen 11, K o n sta n z -S tu ttg a rt 1 966) 15 f.
122
K lau s Sch rein er
in ihrer zeittypischen Eigenart zur Sprache kom m en. Um den Begriff „Verfassung“ auf
die rechtlich-politische A ndersartigkeit der m ittelalterlichen W elt anwendbar zu ma­
chen, hat ihn Schlesinger im Laufe seiner A rbeit erheblich erweitert. In der Verfas­
sungsgeschichte, so kann man in seiner 1941 erschienenen „Entstehung der Landes­
herrschaft“ nachlesen, handelt es sich „um die Frage nach dem G esam tzusam m en­
hang der politischen O rdnung des V olkes im historischen A blauf“, um „das N eben­
einander, Ü bereinander und G egeneinander von H errschaftskreisen verschiedenen
Um fangs und verschiedener Bedeutung“ 128. D em fügte er, der A usweitung des Politi­
schen im zeitgenössischen K o n te x t R echnu ng tragend, erläuternd hinzu: „D er Begriff
des Politischen kann dabei gar nich t weit genug gefaßt werden, wie uns die Gegenwari
lehrt, in der B ereiche, die endgültig dem ,Privatrecht‘ unterworfen schienen, ihren ur­
sprünglich politischen Charakter enthü llen .“ 129 D ie „Verfassungsgeschichte“, wieder­
holte Schlesinger in einem 1953 erschienenen Aufsatz über „Verfassungsgeschichte
und Landesgeschichte“, hat es m it „politischen O rdnungen“ zu tu n 130, die - wie Haus,
Sitte, Stam m , G efolgschaft, Bund, Stadt, Territorien und R eich - gleicherm aßen herr­
schaftlich und genossenschaftlich gestaltet sind, „weithin am Boden haften “ 131 und
sich zugleich als Verbände von Personen konstituieren. Im M ittelpunkt des Interesses
standen „geschichtlich gewordene O rdnungen politischer A rt“, deren M annigfaltigkeit
Schlesinger nicht zuletzt in der „natürlich und geschichtlich bedingten D ifferenziert­
heit des deutschen V olksbodens“ begründet sah. D iese O rdnungen „in ihrem W esen
und in ihren W andlungen zu erkennen und zu beschreiben, betrachtete Schlesinger
als Aufgabe verfassungsgeschichtlicher Forschung132.
Ein „ungewöhnlich w eit gefaßter Begriff der V erfassungsgeschichte“, der, genau b e ­
sehen, ein ausnehm end weit gefaßter Begriff des Politischen war, wollte und sollte Fra­
gen der W irtschafts- und Sozialgeschichte in den herköm m lichen A ufgaben- und Fo r­
schungskanon der Verfassungsgeschichte einbeziehen. D er „verfassungsgeschichtliche
G esichtspu nkt“, sagte W alter Schlesinger 1963 in einem Vortrag aus A nlaß des
80. Geburtstages von T heod or Mayer, schließe „den wirtschafts- und sozialgeschichtli­
chen G esichtspu nkt“ m it ein. „D ie Verfassung, in der eine wie im m er geartete Gruppe
von M enschen ist, spiegelt das ganze geschichtliche Leben, zumal in den W and lun­
gen, denen solche Verfassung ausgesetzt ist und die in jed em Falle um fassender A us­
druck des gesch ichtlichen Prozesses selbst sind. Geistige und religiöse Bewegungen
wirken nich t m inder auf sie ein als Ä nderungen in der Produktionsw eise und in der
sozialen Sch ichtu ng oder die Haupt- und Staatsaktionen der politischen G eschichte.
128 W alter Schlesinger, D ie En tsteh u n g der Landesherrschaft. U n tersuch un gen vorwiegend nach
m itteld eu tschen Q u ellen (N achdru ck der ersten Aufl., D resden 1 9 4 1 , Säch sisch e Forschungen
zur G esch ich te I, D arm stad t 1 9 7 3 ) 124.
129 Ebd., 124, A n m . 4 5 9 .
130 W alter Schlesinger, V erfassun gsgeschich te und Lan d esgesch ich tc, in : Beiträge zur deutschen
V erfassun gsgeschich te des M ittelalters, Bd. 2 : Städte und T erritorien (G öttin g en 1963) 24. Vgl.
auch ebd., 9 : „D eutsch e V erfassun gsgeschich te ist die G esch ich te der p o litischen O rdnungen des
deu tsch en V olkes.“
131 Ebd., 19.
132 Ebd., 24 f.
W issen sch aft von der G esch ich te des M ittelalters nach 1945
123
Gegenstand verfassungsgeschichtlicher Betrachtung sind nicht etwa nur die Institutio­
nen, sondern zugleich die M enschen, die sie geschaffen haben. Es ist deshalb töricht,
einen Gegensatz etwa zur sogenannten G eistesgeschichte zu konstruieren, denn ohne
sie kann die Verfassungsgeschichte ebenso wenig wie ohne die R echtsgeschich te b e ­
stehen.“ Schlesingers Verfassungsbegriff suchte, statische Verfaßtheit und dynam ische
Veränderung m iteinander zu verknüpfen. D ie gedanklichen Voraussetzungen und
m ethodischen K onsequenzen einer solchen V erbindung wurden von Schlesinger
nicht näher erläutert. Sein Verfassungsbegriff zielte „nicht m inder auf das kleine L e­
ben im engen K reise als auf die um fassenden O rdnungen, welche die G roßen stiften,
von denen allein die Blätter der G esch ichte zu berichten scheinen“. Verfassungsge­
schichte „zielt also auf das Ganze, auf die Verfassungsw irklichkeit“ 133. Das Bem ühen
um Erkenntnis politisch geprägter gesch ichtlicher Totalität ist evident. D ie Eigendy­
nam ik und verfassungsbildende K raft sozialökonom ischer Vorgänge und Interessen
blieb aus dieser Sich t der Dinge ausgespart. Das Soziale bildete einen A nnex des Poli­
tisch-Staatlichen.
W alter Schlesinger, ein eigenwilliger, ideenreicher und scharfsinniger Verfassungs­
historiker134, dem „unbedingtes Streben nach w issenschaftlicher O bjektivität“ eig­
n e te 135, hielt an der einm al von ihm gewählten Begrifflichkeit fest, desgleichen an
dem Vorverständnis über Entstehung, Bedeutung und Zusam m enhang gesch ichtsbe­
stim m ender O rdnungen und Verbände, das dieser Begrifflichkeit inhärent war. „Theo­
rie der G esch ichte um der Theorie willen hat er nicht geschätzt, und noch w eniger hat
er durch die A daption des soziologischen und politologischen Vokabulars ein theore­
tisches A bstraktionsniveau vorgetäuscht, das er gar nich t angestrebt hat .“ 136 Deshalb
kann Schlesinger auch nicht der Vorwurf gem acht werden, er habe aus dem W ort
„Struktur“, einem zur „Mode und K rank heit “ 137 gewordenen „Allerweltsbegriff“ 138,
eine Erkennungsm arke für geschichtsw issenschaftliche M odernität gem acht.
D er „K onstanzer A rbeitskreis für m ittelalterliche G esch ich te“ beschäftigte sich auf
seiner H erbst- und Frühjahrstagung der Jah re 1963 und 1964 m it der „gesellschaftli­
chen Struktur der m ittelalterlichen Städte in Europa“. D er 1966 erschienene Sam m el­
band, der diese Vorträge der w issenschaftlichen Ö ffentlichkeit zur K en n tn is brachte,
ist ein M usterbeispiel für U nsicherheiten in der Handhabung des neuen Struktur-B egriffs. „Verfassungsgeschichtliche Betrachtungsw eise“ und „gesellschaftliche Fragestel­
133 Schlesinger, T h eo d o r M ayer (wie A n m . 126), 2 6 f.
134 Graus, V erfassungsgeschichte (wie A n m . 105), 568 f.
135 H a n s K, Schulze, W a lter Sch lesin g er 2 8 .4 .1 9 0 8 bis 1 0 .6 .1 9 8 4 , in : Z eitsch rift für O stfo r­
schung 33 (1 9 8 4 ) 243.
136 Ebd., 2 3 9 f.
137 Friedrich FL Tenbruck, G esch ich te und G esellsch aft (B erlin 1986) 200. T en b ru ck beton t je ­
doch g leich zeitig : „W as fü r U n stim m ig keiten , M ißbrauche und G efahren sich auch m it dem B e ­
griff [Struktur] verbinden, er b ez eich n e t ein en Z u sam m en han g von grundlegenden E in sichten in
die m en sch lich e und gesellsch aftlich e W irk lich k eit. D as neuerru ngene Niveau des W irk lich k eits­
verständnisses, das m it d iesem Begriff in die Soziologie und in das m en sch lich e Bew ußtsein g e­
treten ist, läßt sich n ich t w ieder vergessen“ (ebd., 201).
138 Graus, V erfassungsgeschichte (wie A n m . 105), 575.
124
K lau s S ch rein er
lung“ wurden gegeneinander abgegrenzt. D ie „verfassungsgeschichtlich bestim m te
Fragestellung“ sollte innerhalb der europäischen Städte insbesondere die „verfassungs­
tragenden S ch ich ten “ und „die verfassungsgeschichtlich prim är relevanten B evölke­
rungsgruppen“ herausstellen139. D er Begriff Sozialstruktur diente als Synonym für so­
ziale Sch ichtu ng; diese wiederum wurde weitestgehend gleichgesetzt m it der in
Steuerlisten feststellbaren ungleichen V erteilung von G ütern. Daß sich G esellschaften
nach verschiedenartigen sozialen K riterien und Schichtungsschem ata gliedern lassen,
kam nicht in den B lick ; unerörtert blieben die dem Strukturbegriff zugeordneten A n ­
nahm en über Beziehungen, A bhängigkeiten und W echselw irkungen zwischen gesell­
schaftlichen, w irtschaftlichen und politischen Faktoren, deren G leichgew icht oder
K onfliktträch tigkeit soziale System e festigen oder verändern. Z u r A nw endung kam
ein pragm atisch-positivistisch verkürzter Strukturbegriff, m it dessen H ilfe einzelne
Strukturelem ente in ihrer statischen Verfaßtheit, nicht aber in ihrer geschichtlichen
Bew egtheit und gesam tgesellschaftlichen V erflechtung rekonstruiert wurden. D ie b e i­
den Bände, die der K onstanzer A rbeitskreis über die „Anfänge des europäischen Städ­
tewesens“ und zur „G esellschaftlichen Struktur der m ittelalterlichen Städte in E u ­
ropa“ herausbrachte, enthalten eine Fülle sachdienlicher D aten zur sozialen G lied e­
rung der Bevölkerung, zur Siedlungs- und R echtsgeschich te m ittelalterlicher Städte.
Z u sagen, daß in den beiden Büchern paradigmatisch städtische Sozialstrukturen im
Zusam m enhang ihrer E lem en te untersucht und dargestellt werden, könnte zur B il­
dung von U rteilen A nlaß geben, die den sozialstrukturellen Erkenntnisw ert der beiden
Publikationen überschätzen. W as den forschungspraktischen Gebrauch des Begriffes
„Struktur“ erheblich erschw erte, war nicht zuletzt dessen form aler W erkzeugcharak­
te r140, Inhaltliche U nbestim m theit m achte ihn anfällig für jargonhafte Verwendung.
Im Z entru m dessen, was der K onstanzer A rbeitskreis unternahm und eigentlich
wollte, um ein neues Bild vom M ittelalter und seiner Verfassungsw irklichkeit zu erar­
beiten, standen nicht W echselbeziehu ngen zwischen Verfassungsordnung und G esell­
schaft; gefragt wurde nach der T atsächlichkeit rech tlich-politischer V erfaßtheiten und
deren Trägern, insbesondere nach der Bodengebundenheit von R ech t und Verfassung
- ein Erkenntnisinteresse, das die historisch gew achsene Landschaft zu einem ergiebi­
gen A rbeitsfeld verfassungsgeschichtlicher Forschung m achte. Ein Verfassungsbegriff,
der das Frage- und E rkenntnisinteresse nicht allein auf norm ative Regeln, Satzungen
und Institutionen m en schlicher V ergem einschaftung lenkte, sondern dazu anleitete,
konkrete Verfassungsw irklichkeit in ihrer gesch ichtlich und natürlich bedingten V ie l­
falt zu rekonstruieren, bestim m te die Forschungsthem atik des K onstanzer A rbeits­
kreises. „D ie Form en m ittelalterlicher D aseinsordnung im engen K reise des täglichen
Lebens und in den weiten B ereichen europäischer V erflechtung wurden zum G eg en ­
stand der U ntersuchung gem acht, D orf und Stadt, Stam m und Territorialstaat, Adel
und Freiheit, Lehenw esen und K önigtu m , K aisertum und Papsttum .“ 141 In diesen Bel3!> So Theodor M ayer in der Ein leitu ng zu dem Band „U n tersuch un gen zur gesellsch aftlich en
Struktur der m ittelalterlich en Städte in Eu ropa“ (wie A n m . 127), 7.
140 V gl. dazu J ü rg e n Kocka, Sozialgesch ich te. Begriff - E n tw icklun g - P ro blem e (G öttin gen 1977)
79141 Schlesinger, T h eo d o r M ayer (wie A n m . 126), 26.
W issen sch aft von der G e sch ich te des M ittelalters nach 1945
125
reichen liegen denn auch unbestreitbare Erkenntnisfortschritte, die der Konstanzer
A rb eitsk re is e rz ielte.
fvlit v e rsch ie d e n e n Them enkreisen verbanden sich E insichten und Überzeugungen,
die den Charakter herrschender Lehren annahm en. K önigtu m wurde „als Kristallisationskem des werdenden Staates und als Repräsentant des staatlichen Lebens eines
V olkes“ behand elt142; Freiheit wurde als „Faktor des deutschen Staatsaufbaus “ 143 gese­
hen, insbesondere in ihrer Funktion für „die standesrechtliche Schichtu ng und den
sozialen A ufbau“ der den Staat bildenden B evölkerung144. D ie Freiheitsvorstellung,
¿ je dem Begriff „K önigsfreiheit“ zugrunde lag, m einte Freiheit nicht als V erm ögen
persönlicher Selbstbestim m ung, sondern als Zugeständnis des Staates, als M ittel der
Staatsbildung, das auf seiten der Freiheitsem pfänger die Bereitschaft voraussetzte, das
eigene W ollen den Erfordernissen des politischen System s unterzuordnen. „K önigs­
freiheit“, die als verliehene Freiheit in enger „Verbindung m it dem Staat“ blieb, war
deshalb gleichbedeutend m it „der freien U ntertänigkeit unter die staatliche H o ­
heit“ 145. In seinem Verständnis dessen, was Freiheit im frühen M ittelalter war und be­
deutete, bewies T heod or M ayer ein hohes Maß an K onstanz. Bereits in einem 1943
veröffentlichten Aufsatz hatte er gesch rieben : „K önigsdienst, K riegsdienst und R o ­
dung standen ursprünglich in engster V erbindung, sie sind eine Q uelle für die Freiheit
»eworden. Das war aber eine Freiheit, die im Staat und durch ihn erreicht wurde und
Ö
nicht in ihn m itgebracht worden ist .“ 146 In einer zusam m enfassenden Bestandsauf­
nahm e aus dem Ja h re 1959 heißt es m it geringfügigen A bw eichungen und Ergänzun­
gen: „W enn irgendw elche G otteshausleute unter die Reichsvogtei kam en, wurden sie
reichsunm ittelbar, betrachteten nur noch den K önig als ihren Herrn und galten des­
halb als ,frei‘. Das war die ,Freiheit“ des Staatsuntertanen, die vom Staat herkam , nicht
aber die Freiheit, wie sie aus Tacitus und aus den V olksrechten herausgelesen wurde;
diese Freiheit bestand auch, sie wurde aber nicht vom Staate gewährt, sondern in ihn
m it eingebracht. Bei der vom Staat gewährten Freiheit ist im m er zu fragen: Frei wo­
von? Bei der eingebrachten Freiheit gilt die Frage: „Frei, d. h. berechtigt wozu?, wobei
an staatspolitische R ech te der A ltfreien zu denken ist .“ 147 K am es darauf an, „Funda­
m ente für ein neues Gesam tbild vom frühm ittelalterlichen Staat“ zu legen 148, lag es
nahe, an Freiheit nur in staatlichen Zusam m enhängen zu denken.
142 Theodor M ayer, V orw ort zu: D as K ö n ig tu m . Sein e geistigen und rech tlichen Grundlagen,
hrsg. von Theodor M ayer (V orträge und Forsch u n gen 3) 7.
143 Ders., D ie K ö n igsfreien und der Staat des frühen M ittelalters, in : Das P roblem der Freiheit in
der D eu tsch en und Sch w eizerisch en G esch ich te, hrsg. vom K o n stan zer A rbeitskreis für m ittelal­
terlich e G esch ich te (V orträge und Forsch u n gen 2, Sigm aringen 1955) 56.
144 Ders., V orw ort, ebd., 7.
145 Ebd., 16.
146 Ders., K ö n igtu m und G em e in freih e it im frühen M ittelalter, in : D A 6 (1 9 4 3 ) 359. V gl. auch
ders., D ie Sch w eizer E id gen ossen schaft und das deutsche R eich im M ittelalter, in : D A 7 (1944)
274 f. T h eo d o r M ayer b ez eich n et auch in diesem Z u sam m en han g die .„ F re ih e it“ der K ön igsleu te
und R odungssiedler“ als einen „staatspolitischen Faktor“; „ F reih eit“ b en en n t er als „ein M ittel
der staatlichen P olitik“, weswegen Freih eit „dam it ein e positive Bedeutung für die Staatsbildung“
erhielt.
147 Ders., Ein R ü ck b lick , in : M ittelalterlich e Studien (Lindau und K on stanz 1959) 4 7 3 .
148 Ders., K ön igsfreie (wie A n m . 143), 17.
126
Klaus S ch rein er
Auf Verfassungs- und Staatsbildung ausgerichtete Forschungsinteressen führten zur
Bildung der beiden Begriffe „aristokratischer Personenverbandsstaat“ und „institutio­
neller Flächenstaat“ 149, die Tend enzen und Stufen von Staatlichkeit zum Ausdruck
bringen sollten. Theod or Mayer, der die beiden Begriffe in die Mediävistik einführte
hat seine Begriffsschöpfungen nich t so präzisiert, daß sie im Sinne Max W ebers als
Idealtypen gelten k ö n n e n 150.
„K önigsfreiheit“, „G erm anische T reue“ und „G eblütsheiligkeit“ entw ickelten sich
zu verfassungsgeschichtlichen Leitbegriffen von kanonischer G eltung. Traditionsüber­
hänge und zeitgebundene Interessen, welche in diese eingingen, waren nicht G egen­
stand der R eflexion. D aß germ anische Treue, die als form alisierte gegenseitige R ech ts­
bindung definiert wurde, auch etwas m it unreflektierter A nnahm e einer germ anischen
K ontinuität zu tun hat, zeigte Frantisek Graus in zwei Aufsätzen aus den Jah ren 1959
und 1966 über „H errschaft und T reue“ 151. In einem Referat auf dem U lm er H istori­
kertag des Jah res 1956 über „Freiheit als religiöses, politisches und persönliches Postu­
lat “ 152 wandte sich G rundm ann gegen die zunehm ende K anonisierung einer flächen­
deckenden W ortverbindung, die m ittelalterliche Freiheit vornehm lich als „ein M ittel
der staatlichen Politik“ sah. G rundm ann klagte ein, was der von liberalen Ideen ge­
prägten R echts- und V erfassungsgeschichte des 1 9 .Jahrhunderts n och durchaus ge149 Ders., D ie A usbildung der G rundlagen des m odernen Staates im hohen M ittelalter, in : H Z
1 59 (1 9 3 9 ) 4 5 7 - 4 8 7 ; K ön igsfreie (wie A n m . 143), 1 4 f. - W ie die beiden von T h eo d o r M ayer en t­
w ickelten Staatstypen in den D ie n st der zeitgen össischen Tagespolitik gestellt werden kon n ten ,
bew ies deren Erfinder in ein em auf dem Intern ation alen H istorikerkon greß 1938 gehaltenen
V ortrag, der ein Ja h r später in der .H istorisch en Z eitsch rift“ veröffen tlich t wurde. Es h eißt da:
„D er institu tioneile Flächenstaat b ed eu tete in der te ch n isch en Staatsentw icklung einen gew alti­
gen Fo rtsch ritt, aber er erlag der G efah r der E n tw icklun g als Selbstzw eck im fü rstlich en H err­
schafts- und M achtstaat und dam it der T ren n u n g der E in h eit von V o lk und Staat. N ur wenige
Fürsten besaßen die rich tige E rk en n tn is ihrer A ufgaben und Fu nktion en im R ah m en des G e ­
sam tvolkes. N och rund sieben Ja h rh u n d e rte hat es gedauert, bis in unseren T agen je n e höhere
Synthese zw ischen dem V olksstaat als dem P ersonenverbandsstaat und dem in stitu tion ellen Flä­
chenstaat h erbeigefü hrt worden ist, durch die das V o lk wieder un m ittelbarer, verantw ortlicher
T räger des Staates, S u b jek t des Staates und n ich t m eh r O b jek t der H errsch aft gew orden ist, bis
die alten germ anisch en G rundlagen des Staates, die lange von der T ech n ik der Staatsverw altung
überw uchert worden waren, w ieder zu eigenem L eben durchdrangen und die H errschaft im
Staate an sie überging“ (H Z 159 (1 9 3 9 ) 487).
150 M ayer selbst sprach von „G rundtypen der staatlich en V erfassung“, m it der sich jed och „nicht
alle Staatsform en erfassen und k e n n z eich n en “ lassen. D em fügte M ayer begründend h in zu : Bei
den beiden aus der h o ch m ittelalterlich en V erfassungsgeschichte „handelt es sich um Idealtypen,
die nie ganz rein V o rk o m m e n , sondern sich gegen seitig durchdringen“ ; ders., Ein R ü ck b lick (wie
A n m . 147), 4 7 1 .
151 Frantisek Graus, Ü b er die sogenan n te germ anisch e T reu e, in : H istorica I (1959) 7 1 - 1 2 1 ;
H errsch aft und T reu e. Betrach tu ngen zur Lehre von der germ anisch en K o n tin u ität I, 12 (1966)
5 - 4 4 . - V gl. dazu W alter Schlesinger, R an dbem erkun gen zu drei A ufsätzen ü b er Sitte, G efo lg ­
schaft und T reu e, in: A lteuropa und die m oderne G esellsch aft. Festsch rift für O tto Brun ner (G ö t­
tingen 1 963) 1 1 - 5 9 ; von neuem abgedruckt in : Beiträge zur deutschen V erfassungsgeschichte
des M ittelalters, 1 (wie A n m . 130), 2 8 6 - 3 3 4 ; W alter Kienast, G erm anisch e T reu e und ,K ö n ig s­
h eil“, in : H Z 2 2 7 (1 9 7 8 ) 3 2 0 ff.
152 H erbert G ru n d m a n n , Freih eit als religiöses, p olitisches und persönlich es Postulat im M ittelal­
ter, in : H Z 183 (1 95 7 ) 2 3 -5 3 .
W issen sch aft von der G esch ich te des M ittelalters nach 1945
127
läufig war, die T atsache näm lich, daß Freiheit bereits im M ittelalter war, „was sie heute
ist: nicht nur geschützte A bhängigkeit von den öffentlichen O rdnungen, sondern we­
nigstens daneben Forderung nach Erm öglichung selbständigen, vielgestaltigen, offe­
nen Lebens“ 153.
K ritiker, die an der Existenz eines freien Bauerntum s festhielten und es ablehnten,
alle in frühm ittelalterlichen Q uellen auftauchenden liberi und ingenui als Rodungs­
und K önigsfreie zu b e zeich n en 154, argum entierten in der Tradition der liberalen
Rechtsschule des 1 9 . Jahrhunderts. D ie V erfechter der K önigsfreiheit, die auf den g e ­
nerellen königlich-staatlichen U rsprung frühm ittelalterlicher Freiheit abhoben, dach­
ten in Kategorien, die an die konservative Staatslehre der deutschen Rom antik erin­
nern. Freiheit war für Adam M üller, wie er in seinen „Elem enten der Staatskunst“
(1808/09) schrieb, kein vorstaatliches G rundrecht des einzelnen, sondern „eine E igen­
schaft“, die dem einzelnen „von den vielfältigen Bestandteilen des Staates“ zukam ’ 55.
D am it soll nicht behauptet sein, daß es im frühen M ittelalter keine Freien gab, die
dem K önig zins- und heerfahrtspflichtig waren. Z u r Diskussion steht hier nur die
Frage, ob und inwieweit obrigkeitsstaatliche G rundorientierungen den Blick auf histo­
rische Tatsachen und deren urkundliche Ü berlieferung verengten - „die Existenz ei­
nes freien Bauerntum s im frühen M ittelalter“ 156, dem ursprünglich freies Eigen und
ein freier, königsunabhängiger R echtsstand eigneten.
Begriff und Sache der K önigsfreiheit sind in der Zw ischenzeit durch differenzier­
tere E insichten und Auffassungen abgelöst worden. D ie Behauptung, wonach alle „li­
beri und ingenui der fränkischen Z e it“ nur auf K önigsland angesiedelte „K önigsfreie“
waren und es deshalb folgerichtig auch keine freibäuerliche Bevölkerung gegeben hat,
die im frühen M ittelalter - sei es m it Gewalt, sei es aus eigenem Entschluß - in die
Grundherrschaften von K önigtum , K irch e und Adel eingegliedert werden konnte,
„dürfte in ihren w esentlichen Punkten inzwischen widerlegt sein“ 157. Das revidierte
153 Borst, G rundm ann (wie A n m . 124), 12.
154 Eckh ard M üller-M ertens, K arl der G roße, Ludwig der F ro m m e und die Freien (Forschungen
zur m ittelalterlichen G esch ich te 10, Berlin 1 9 6 3 ); H a n s K . Schulze, R odu ngsfreiheit und K ö n ig s­
freiheit. Z u G en esis und K ritik neuerer verfassungsgeschichtlicher T h eorien , in: H Z 2 1 9 (1974)
5 2 9 - 5 5 0 \Jo h a n n es Schmitt, U n tersuch un gen zu den Liberi H om ines der K arolin gerzeit (Europäi­
sche H ochsch u lsch riften III, 8 3 , Frankfurt a. M., Bern 19 7 7 ); H a n s K. Schulze, R eichsaristokratie,
Stam m esadel und Fränkisch e Freiheit. N euere Forsch un gen zur früh m ittelalterlich en Sozialge­
sch ich te 2 2 7 (1 9 7 8 ) 3 6 2 - 3 6 9 ; K laus A rnold, F reih eit im M ittelalter, in: H Jb 104 (1 9 8 4 ) 10f.
155 Z itiert nach G ünter Birtsch, A sp ekte des Freiheitsbegriffs in der deutschen R om antik , in : R o ­
m antik in D eutsch lan d, hrsg. von R ichard B rin k m a n n (Stuttgart 1978) 54. - A ls K a r l Bosl im
Ja h re 1973 „R eflexio n en über die A ktualität der G esch ich tsw issen schaft“ (in: Z eitsch rift für
bayerische L andesgeschichte 36 (1 9 7 3 ) 3 - 1 5 ) zu Papier brach te, ko m m en tierte er den Vortrag
H erbert G rundm anns, den dieser 17 Ja h re zuvor in U lm gehalten hatte, so: D er „konservative
G eistesh istorik er alten Stils H erb ert G run dm ann h ielt ein e Brandrede gegen die, die es sich ein ­
fallen ließen, den In h alt der .F reih eit“ als P rodu kt des jew eiligen G esellschaftsprozesses und K u ltum iveaus zu analysieren; für ihn war Freih eit ein durch die Jah rtau sen d e gleich b leib end es, ab ­
straktes m en sch lich es G run dan liegen “ (ebd., 10). - K u rz ist bisw eilen auch das G ed ächtnis von
H istorikern. O b sie auch im m er gelesen h aben, w orüber sie schreiben ?
156 H a n s K. Schulze, G rundstrukturen der V erfassung im M ittelalter, Bd. 2 (Stuttgart 1986) 72.
157 Ders., G rundstrukturen der V erfassung im M ittelalter, Bd. 1 (Stuttgart 1985) 111.
128
K lau s Sch rein er
Bild der frühm ittelalterlichen Sozialverfassung setzt eine relativ breite S ch ich t von
freien Leuten voraus, „die zwar e i n e m Rechtsstand angehörten, deren w irtschaftlich­
sozialer Status aber sehr unterschiedlich war“ 158. Freie, die einen einheitlichen R ech ts­
stand bildeten, jedoch unterschiedlichen w irtschaftlich-sozialen Sch ich ten angehörten,
begegnen in den Q uellen „als Grundherren, als freie Bauern, als Vasallen, als H in ter­
sassen der königlichen, kirchlichen und w eltlichen Grundherrschaften und sogar als
A ngehörige der Landlosen und in entwurzelten U nterschichten“ 139.
U nreflektierter Traditionsüberhang spiegelt sich im Gebrauch des Begriffes „G e­
blütsheiligkeit“. G egen das V erführerische dieses Begriffs, der wie ein Zauberschlüssel
alle Tore zur Erkenntnis m ythisch-sakraler Legitim ation adliger und königlicher H err­
schaft aufzuschließen scheint, ist kaum noch anzukom m en. A lles, was m it „divinus
anim us“, m it „virtus heroica“, „felicitas“ oder „fortuna et m ores“ zu tun hat, wird kur­
zerhand als lateinisches Ä quivalent für das germ anische G eblütsheil in A nspruch ge­
nom m en. Eine „salus“ oder „sanctitas sanguinis“ hat es m eines W issens in der religiö­
sen und sozialen Vorstellungsw elt m ittelalterlicher C hronisten und Theologen nicht
gegeben; wohl aber gab es seit A nfang der 30er Jah re unseres Jahrhunderts Erwägun­
gen über die enge Verknüpfung von Führungskraft und G eblüt. A bkehr vom R an ke­
schen O bjektivitätsideal und H inw endung zu den rassischen Grundlagen der G e ­
schichte kennzeichnen jen en politisch-ideologischen Zusam m enhang, in dem der B e­
griff „G eblütsheiligkeit“ als historische Deutungs- und Erklärungskategorie zum er­
sten Mal auftaucht160. Z u r suspekten H erkunft kom m t m angelnde Erklärungskraft.
158 Ebd., 113.
159 Ebd., 136.
160 Schreiner, Fü hrertum , Rasse, R eich (wie A n m . 6), 181. - D as ,H eil‘ des zur Fü hrung und zum
g esch ich tlich en H andeln Berufenen war ein Bestandteil des von den W ortfü h rern des N ational­
sozialism us entw orfenen G esch ich tsb ild es; es zählte zu den G rundw erten des völkisch-nord ischen R assetum s. Fü hrerheil und V o lksh eil bed ingten sich w echselseitig. „D ie Berufung, die
M acht, das H eil und G lü ck des Fü hrers ist die Berufung, die M acht, das H eil und G lü ck seines
V o lkes“ (Ernst Krieck, W eltan sch au lich e E n tsch eid u n g (W ien u. Leipzig 1939) 23). D er „Held,
der zu sein em H eil und G lü ck vom B lu te der A h nen und der E n kel berufen war“, bildete die
„Aufgipfelung germ anisch en M en sch en tu m s“ (ciers., V o lk unter dem Sch icksal. R ed e zur R e ic h s­
gründungsfeier, gehalten in der Aula der N euen U niversität H eid elberg (H eidelberg 1 939) 9).
W ah re G em ein sch aft im Sin n e der nationalsozialistischen Ideologie lebt „aus dem H eil der b e­
gnadeten G lied er, die zu ihren Fü hrern , H eilträgem , Sch icksalträgem berufen worden sind“
(ders., H eil und K raft. E in Bu ch germ an isch er W eltw eish eit (Leipzig 1943) 49). „G efolgsh err kann
je nur ein M ann h öheren H eils, h öherer G nade, h öheren Friedens, h öheren R ates, h öherer W eis­
h eit und K raft sein “ (ebd., 13). D ie „H eilkraft der K ö n ig e “ galt als Bew eis dafür, daß sich „germ a­
n isch e A rt und germ anisch es W irk e n “ gegen die Last ch ristlich er „Frem düberlagerung“ du rch­
setzte (ders., V o lkscharakter und Sendungsbew ußtsein. P olitisch e E th ik des R eich s (Leipzig 1943)
12). A ktualisiert wurde das altgerm anische K ö n igsh eil im H eil des revolutionär denkenden und
h andelnden Führers. „D er Fü hrer trägt in seinem ,K ö n ig sglü ck‘ die Substanz des G anzen, daraus
ihm und sein er G em ein sch a ft das Sch icksal, die W irkk raft - selbst als H eilkraft
der Segen oder
das V erhän gn is kom m t. D as G lü ck und G ed eih en der G em ein sch aft hängt am H eil des Führers.
D afür ist er auch m it der V erantw ortung für G ed eih en und G lü ck der G em ein sch aft b eh aftet“
(ebd., 30). D er F ü hrer galt als der „heldische M en sch “ sch lech th in , der „aus dem H eil sein er B e­
rufung“ G esch ich te bew egt und gestaltet (ebd., 36). A us „dem rassischen Leben sun tergru nd“ er­
folgte „die W ied ergeburt des Charakters m it dem H eil- und K raftglauben h eldischen M en schen-
W issen sch aft von der G esch ich te des M ittelalters nach 1945
129
D er gängige Erklärungsbegriff „G eblütsheil“ vereinfacht vielschichtige Ström ungen
und Traditionen; er setzt eine Vorstellung von K ontinuität voraus, derzufolge eine
H errschafts- und Legitim itätsauffassung über Jahrhun derte hinweg geradlinig, g leich ­
sam teleologisch wirkte, ohne sich selbst qualitativ zu verändern. Mediävisten, die K ö ­
nigen und Adligen gleichbleibend wirkende H eils- und H eiligkeitskräfte zuschreiben,
rechnen nicht m it der M öglichkeit, daß „charism atische H errschaft“ nur „in statu nascendi in idealtypischer R einheit bestand“. iNimmt jedoch charism atische Herrschaft
den „Charakter einer D auerbeziehung“ an, m uß sich ihr Charakter w esentlich ändern:
„sie wird traditionalisiert oder rationalisiert (legalisiert) oder: beides in verschiedenen
H insichten“ 161.
K arl Bosl veröffentlichte 1964 unter dem T itel „Frühform en der G esellschaft im
m ittelalterlichen Europa“ gesam m elte Aufsätze. D ie Aufsatzsam m lung trug den U n­
tertitel „Ausgewählte Beiträge zu einer Strukturanalyse der m ittelalterlichen W e lt“.
D en gesuchten gem einsam en N enner für die them atische Vielfalt der als Buch veröf­
fentlichten Aufsätze suchte und fand der Verfasser in „Ansatzpunkten deutscher G e ­
sellschaftsgeschichte bis heute“ 162; aufgeworfen wurden von ihm „Problem e der G e ­
genwart aus der T iefe des historischen Raum s“ 163. Bosl verstand sich als vergleichen­
der historischer Strukturanalytiker, der sich zum Ziel gesetzt hatte, die herköm m liche
Verfassungsgeschichte einzubinden in eine allgem eine „G esellschaftsgeschichte“, in
„den G esam tbereich des gesellschaftlichen Seins m enschlicher E xistenz“, in „eine to­
tale und universale G esch ichte unter gesellschaftlich-anthropologischem A sp ek t“ 164.
D eshalb konnte er n ich t ohne kritischen U nterton feststellen, daß der K onstanzer A r­
beitskreis nur m it einem Tagungsthem a und entsprechend auch nur m it einem Band
seiner fortlaufend erscheinenden „Vorträge und Forschungen“, der „glücklicherweise
der Stadt“ galt, in „den Raum gesellschaftlicher Strukturanalyse“ vorgedrungen sei.
tum s“ (ebd., 37). H eil, das „aus rassischer A rt“ b estim m t ist, „erfüllt sich als G nade und Segen in
B eruf und Send un g“ (ebd., 47). A n teil am H eil haben alle „zur Fü hrun gssch ich t in der V olksge­
m ein sch aft berufen en .Berufe*, die als Träger und W irk e r h öheren H eils eine Send ung an der
V olksgem ein sch aft und durch diese an V ö lkern und M en sch h eit zu üben haben“ : „politische
Führer, K ü nd er, E rzieh er, A rzte, Rechtsw ahrer, sind allem al Träger und W alter desselben H eils“
(ebd., 150). - A rn o ld Angenendt, K aiserh errsch aft und K önigstaufe. K aiser, K ön ige und Päpste
als geistlich e P atrone in der abendländischen M issionsgesch ich te (A rbeiten zur Früh m ittelalterforschung 15, B e rlin -N ew Y o rk 1 984) 6 2 , sprich t sachlich angem essener von „Erbsegen “. W ic h ­
tig und w eiterführend ist auch sein H inw eis auf die alttestam en tlich e W urzel dieses G edankens.
„Für die V orstellung des Erbsegens und der sakralen H errschaftsbegründung fand das F rü h m it­
telalter eine autoritative Bestätigung im A lten T esta m en t ... D ie ganze P atriarch en gesch ich te ist
geprägt von so lchen V orstellu n gen , und en tsp rech end e Stellen , die den N achk om m en oder dem
,Sam en* eines G esch lech tes den Segen verheißen, wurden im Früh m ittelalter gerne aufgegriffen“
(ebd.). - Ebd., 2 4 , A n m . 2 auch kritische Stim m en zum Begriff „G eblü tsh eiligkeit“.
161 M a x Weber, W irtsch a ft und G esellschaft. G rundriß der verstehenden Soziologie, 5. A ufl., b e­
sorgt von Jo h a n n es W inkelm ann (T übingen 1 972) 143.
I<>2 K a r l Bosl, Früh form en der G esellsch aft im m ittelalterlichen Europa. A usgew ählte Beiträge zu
ein er Strukturanalyse der m ittelalterlichen W elt (M ü nch en 1 9 6 4 ) 16.
163 Ebd.
Bosl, R eflexio n en über die A ktualität der G esch ich tsw issen schaft (wie A n m . 155), 9.
130
Gegenstand
Klaus Sch rein er
der von
Bosl konzipierten
G esellschaftsgeschichte
war „das ganze
M ensch-Sein, total und universal“ 165. „Zu sehen, wie H errschaft und Staat in den
Strom des geschichtlichen, des gesellschaftlichen Lebens eingebettet sind, wie sie sich
gegenseitig form en und beeinflussen, das stellt sich heute als Aufgabe einer m odernen
Verfassungs- und G esellschaftsgeschichte“ dar .166 Deshalb befaßte sich Bosl nicht nur
m it der Organisation von R eich s-, K önigs- und H erzogsgut, m it Vasallität und Lehns­
wesen, m it Ständetum und Territorialstaat, sondern vornehm lich m it Bedingungen
Form en und Erscheinungsw eisen sozialer M obilität, m it „M acht und A rb eit“ als ge­
sellschaftsform enden K räften, m it P roblem en gesellschaftlicher D ifferenzierung im
Frühen M ittelalter, m it „Zusam m enhängen zwischen Religion, K ult, H errschaft und
G esellschaft“, m it schichtspezifischen W ertvorstellungen und Verhaltensw eisen, den
„kollektiven M entalitäten“, wie er sie in A nlehnung an den Sprach- und Begriffsge­
brauch französischer K ollegen nannte.
Von Bosls A rbeiten und Vorträgen sind in den 60er und 70er Jah ren A nstöße aus­
gegangen, die weithin wirkten - über Fächer- und Ländergrenzen hinweg, über O zea­
ne und K ontinente. W as Eindruck m achte und Publikum schuf, war die engagierte
Zuwendung zu sozialgeschichtlichen Fragen des M ittelalters, die allenthalben interes­
sierten, aber von niem andem sonst so färben- und perspektivenreich, so eingängig und
gegenwartsnah geschildert wurden wie von K arl Bosl, dem M ünchener Mediävisten.
Die A nstrengung des Begriffs war Bosls Stärke nicht, auch nicht die zeitraubende Su­
che und philologisch exakte Erschließung von Prim ärquellen. In Bosls A rbeiten zur
Sozialgeschichte des M ittelalters steckt enorm e A rbeitsenergie; seine vielen, fast zu
vielen Bücher und Aufsätze bekunden elem entares Verlangen nach M itteilung und
w issenschaftlicher K om m u nikation; sie sind nich t langsam gereifte Früchte bohrender
Q uellenexegesen, keine hinreißenden Exem pel sprachlicher Darstellungskraft, keine
Texte, in denen das Feuer kritischer Selbstprüfung die Schlacken ausgesondert hat,
damit das kostbare M etall um so klarer zum V orschein kom m t. Bosls Sch riften folgen
Inspirationen des Tages, sie zeigen Perspektiven auf und m achen Deutungsangebote,
die zum W eiterdenken, zur Überprüfung und zum W iderspruch anregen.
Reden und Schreiben bereiteten Bosl keine Qual. W as er in H örsälen, auf Tagungen
und bei Festversam m lungen vortrug, bewies Leidenschaft und entbehrte nich t des
rhetorischen Glanzes. Er schrieb gern, viel und - weil die Last vielfältiger Pflichten
Z eit knapp werden ließ - hastig und sprunghaft167. Er las, rezipierte und verarbeitete
165 Ebd., 13.
166 K a r l Bosl, Staat, G esellsch aft, W irtsch aft im d eutsch en M ittelalter, in : Gebhardt, H andbuch
der D eu tsch en G esch ich te, 9. A ufl., hrsg. von H erbert G rund m ann , Bd. 1 (Stuttgart 1 970) 6 9 9 .
167 R ezen sen ten von Bosls Bü chern haben die Folgen dieser A rb eits- und Sch reibw eise im m er
w ieder m oniert. H ierfür zwei Beispiele (an Stelle zah lreicher anderer): Stefan W einfurter, B em er­
kungen und C orrigenda zu K arl Bosls ,R egu larkan on iker und Seelsorge', in : A rch iv für K u ltu rg e­
sch ich te 6 2 - 6 3 (1980/ 81) 3 8 1 - 3 9 5 , b em erk t n och in ein er zehnseitigen Liste von „U ngenauig­
keiten und Irrtüm ern “ ( 3 8 5 - 3 9 5 ) ab schließ en d : „D am it m öch te ich die Liste der dringendsten
K orrek turhin w eise been d en. A u f die Fülle w eiterer D ru ckfeh ler, N am en sverschreibun gen und
F eh ler in den Fu ßnoten lo h n t es sich n ich t im ein zeln en einzugehen“ (.395). - H agen Keller, B e­
sprechu ng von „Karl Bosl, G esellsch aftsgesch ich te Italiens im M ittelalter, Stuttgart 1 9 8 2 “, in : H i-
W issen schaft von der G esch ich te des M ittelalters nach 1945
1 31
eine U nm enge von Sekundärliteratur. Geduld, die Fragen und A ntw orten reifen läßt,
zählte nich t zu seinen Tugenden. B eim Studium seiner Schriften überkom m t einen
vielfach der Eindruck, schnell im provisierte Skizzen, Entwürfe und erste Fassungen zu
lesen, die noch der sachlichen und stilistischen Bearbeitung bedurft hätten. In seinen
Spätwerken ging verloren, was die frühen Schriften gegen vorschnelles A ltern schützt:
das hartnäckige Befragen der Quellen.
D essenungeachtet kom m t Karl Bosl das unbestreitbare Verdienst zu, sich m it gro­
ßer U nbefangenheit den Fragestellungen, Begriffen und Theorien der Soziologie
(selbst der Psychoanalyse) geöffnet zu haben. Das versteht sich nicht von selbst. D ie in
den Jah ren 1950/51 in den „Schriften der M onum enta Germ aniae H istorica“ veröf­
fentlichten Studien über „D ie R eichsm inisterialität der Salier und Staufer“, die „Ein
Beitrag zur G esch ichte des hochm ittelalterlichen deutschen Volkes, Staates und R ei­
ches“ darstellen sollten, stehen noch ganz im Bann der herköm m lichen Verfassungs­
geschichte. Bosl wollte in dem zweibändigen ,opus m agnum “ zeigen, in w elcher W eise
„das E m porkom m en einer neuen w irkenden K raft aus den Tiefen der Volkssubstanz“
zur „Sozialentw icklung des K o n tin en ts“ 168, zur „gesamtabendländischen Sozialge­
schichte“ beitrug169.
Im Zentrum der A rbeit steh t nicht die soziale Form ierung einer gesellschaftlichen
Führungsschicht; den A utor interessieren die Reichsm inisterialen vornehm lich als
„W erkzeuge“ eines „auf flächenhafter Grundlage aufgebauten K önigsstaates“ 170, als
„die starken Bannerträger des staufisch-deutschen Staats- und Reichsgedankens“ 171;
erläutert wird die Rolle der M inisterialität bei der königlichen Politik intensiver
Raumerfassung. Eine neue K onzeption von Sozialgeschichte ist in Bosls frühen A rb ei­
ten nicht auszum achen. D er A kzent liegt auf der U ntersuchung rechtlicher und politi­
scher Rahm enbedingungen, in denen sich Aufstieg und politische Fu nktion einer
staatlichen A m tsträgerschicht w iderspiegeln172.
storisch -p olitisch es B u ch 31 (1 9 8 3 ) 2 1 6 : „W er den knappen Ü b erb lick sucht, wird in B.s D arstel­
lung ü b erschü ttet m it E in zelh eiten und Beispielen (U rkundenparaphrasen in ein em G em isch aus
deutschen, latein ischen und italien isch en Begriffen), die n ich t erläutert und n ich t in ein en A rgu­
m en tation szusam m en h ang ein geordn et sind. D er .Fachm an n' kann sich m it H ilfe des Bu ches
keine präzise Info rm atio n verschaffen. D ie Q u ellen - und Literaturgrundlage der w ortreich-pau­
schalen D arstellung b leib t undurchsichtig. Z w ar ist alles irgendwo zitiert; aber in ein zeln en A b ­
schn itten werden z .B . A rbeiten fast paraphrasiert, die in diesem Z u sam m en han g n ich t aufgeführt
sind. V o r allem chro no lo gisch e, aber auch sachliche Bezüge b leiben unklar; O rts- und V erfasser­
nam en sind z .T . en tstellt, Jah reszah len häufig versch rieben .“
168 K a r l Bosl, D ie R eichsm in isterialität der Salier und Staufer. Ein Beitrag zur G esch ich te des
hoch m ittelalterlich en deutschen V olkes, Staates und R eiches, Bd. 1 -2 (Sch riften der M onum enta
Germ aniae H istorica 10, Stuttgart 1950/51) h ier: Bd. 1, Vorwort.
169 Ebd., Bd. 2, 63 2 .
170 Ebd., Bd. 2, 62 1 .
171 Ebd., Bd. 2, 6 3 2 .
172 Bosl versteht seine breit angelegte A rb eit über die salisch-staufische R eichsm in isterialität als
V ersuch, „m it H ilfe der b esitzgesch ich tlich-g en ealo gischen M ethode die Fu nk tio n der K ön igsm inisterialität im G efüge des deutschen K önigsstaates und die D yn am ik ihrer inneren E n tw ick ­
lung als A usfluß ihres staatspolitischen Einsatzes und der allgem einen p olitischen Entw icklung
überhaupt herauszuarbeiten“, um auf diese W eise „das W erd en und die W andlungen deutscher
132
K lau s Sch rein er
In den ausgehenden 60er und beginnenden 70er Jah ren versuchte sich Bosl in ge
seilschaftsgeschichtlichen Ü berblicksdarstellungen, die sowohl der relativen E ig en ständigkeit als auch der gegenseitigen V erflechtung von G esellschaft, W irtschaft und
Staat R echnung tragen sollten. Bosl betonte m it N achdruck „die kollektive G ebu n­
denheit, die gesellschaftliche und w irtschaftliche Bedingtheit aller historischen W irk­
lichkeit und ihrer W andlungen“ 173. U m die „jeweils w irklichen Zusam m enhänge zwi­
schen Gesellschaft, W irtschaft und Staat“ kenntlich zu m a ch e n 174, hat Bosl in seinen
Schriften eine U nsum m e em pirischer D aten und Sachverhalte zusamm engetragen
D ie V erkettung der verschiedenen W irklich keitsbereiche zu einem theoretisch ein­
leuchtenden und em pirisch abgesicherten G esam tzusam m enhang blieb m ehr A n­
spruch als eingelöstes Program m. In Bosls strukturanalytischen und gesellschaftsge­
schichtlichen Darstellungen steckt viel additive K om pilation und assoziative V er­
knüpfung, m anche vorschnelle Verallgem einerung, die das Zeugnis der Q uellen nicht
auf ihrer Seite hat, viel sprachliche Redundanz, die nicht neugierig, sondern müde
macht.
Neue Begriffe und Theorien für eine genaue Erfassung und D urchdringung des
V ergangenen und dessen Fortw irken bis zur Gegenwart wurden von Bosl nachhaltig
gefordert, kaum jed och in ihrer praktischen Verw endbarkeit für die Forschung er­
probt. In den W alter Schlesinger dedizierten „Reflexionen über die A ktualität der G e­
schichtsw issenschaft“ (1973) bezeichn et es Bosl als „unabweisbare und gebieterische
Forderung unserer Z eit, die Ergebnisse des hegelianischen Idealismus und seiner
G eistlehre zu harm onisieren m it den Erkenntnissen, die M arx zur historischen T h e o ­
rie beigesteuert hatte“. M it dieser Aufgabe verband er die H offnung, daß sich „die G e­
sellschaft als oberstes Ordnungsprinzip gegen das m onopolistische hegelianische
Staatsdenken durchsetzen wird“, um „eine universalistisch verstandene Verfassungsge­
sch ich te“ abzulösen „zugunsten einer totalen und universalen G esch ichte unter gesell­
schaftlich-anthropologischem A spekt“ 175. Im „Zeitalter der A ußenlenkung der M en­
schen“ gegen „den totalen Einbruch eines neuen M enschen-, W elt- und G esch ich ts­
verständnisses, eines neuen D enkens und Erfahrens der U m - und A ußenw elt“ helfe
„keine R anke-R enaissance“ ; notw endig sei „eine M ax-W eber-R ezeption“, w elche „der
historischen Aussage eine neue Funktion in unserer G esellschaft gibt und das Publi­
kum wieder zuführt, das trotz allem sich zurückbesinnt und dankbar horcht, wenn
ihm nicht Lehren der G esch ichte, sondern die W eisheit vorgetragen wird, die aus dem
Studium des gesch ichtlichen M enschseins jed em zuwächst“ 176.
K ö n igsh errsch aft und Staatspolitik durch zw eieinhalb Ja h rh u n d erte salisch-staufischer Staatsfüh­
rung und -planung von ein er besonderen Seite unseres volklich -staatlich en L eb en s h er“ b eleu ch ­
ten zu k ö n n en (Bd. 1, S. 16).
173 Bosl, Staat, G esellsch aft, W irtsch aft (wie A n m . 166), 6 9 4 f.
,7i Ebd., 6 9 5 .
175 Bosl, R eflexio n en über die A ktualität der G esch ich tsw issen schaft (wie A n m . 155), 9.
176 K a r l Bosl, D ie G rundlagen der m od ernen G esellsch aft im M ittelalter. E in e deutsche G esell­
schaftsg eschichte des M ittelalters, Bd. 1 (M onographien zur G esch ich te des M ittelalters 4, 1,
Stuttgart 1 972) 3. (D as Z ita t ist korrekt w iedergegeben.)
W issen sch aft von der G esch ich te des M ittelalters nach 1945
133
Eine M ax-W eber Rezeption, die diesen Namen verdient, fand in der deutschen M e­
diävistik bis zur Gegenw art nich t statt. D ie Tatsache, daß sich in der M ittelalterfor­
schung - nicht zuletzt unter dem Einfluß von Max W eb er - der Begriff „H errschaft“
einbürgerte, dem m eines Erachtens zu U nrecht angelastet wird, daß er einseitig auf die
Erfassung gesellschaftlicher H arm onie angelegt sei, Konfliktverhältnisse, M acht und
Gewalt jedoch ausblende, besagt da nicht viel. Bislang gibt es keinen ernsthaften V er­
such, aus W ebers H errschafts- und Legitim itätstypen begriffliche W erkzeuge bei der
Analyse geistlicher und w eltlicher Herrschaftsverhältnisse im M ittelalter zu m achen.
Die in W ebers „Typen der Stadt“ steckenden Theorieansätze und Erklärungsentwürfe
sind keinesfalls ausgeschöpft177. Dasselbe gilt von seinen Schriften und Reflexionen
zur Religionssoziologie, die m annigfache begriffliche und theoretische A nknüpfungs­
punkte
bieten,
um
W irkungszusam m enhänge
zwischen
sozialer
Zugehörigkeit,
Glaube und Fröm m igkeit zu untersuchen.
G elegentliche Zitationen sind noch kein Beweis für produktive A neignung und
Umsetzung. W as die Erkenntnis der m ittelalterlichen W e lt fördert, sind V ersuche, die
in der sozialw issenschaftlichen Begriffssprache enthaltenen theoretischen Vorgaben
für die Erklärung sozialer Tatbestände und gesellschaftlicher W irkungszusam m en­
hänge fruchtbar zu m achen. Im K reis der deutschen Mediävisten kann Bosl „tatsäch­
lich für sich in A nspruch nehm en, Max W eber so häufig wie kaum ein anderer zu zi­
tieren. A ber leider geh t in Bosls Form der Rezeption von der außerordentlichen be­
grifflichen K larheit W ebers viel verloren, was besonders bei der Verwendung von ,Ide­
altypus“ und ,Realtypus 1 auffällt .“ 178 Bosls Beitrag zur „M ax-W eber-G edächtnisschrift
der Universität M ünchen“ (1 9 6 6 )179 befaßt sich m it dem Verhältnis zwischen Soziolo­
gie und G esch ichte, nicht m it dem, was gesellschaftsgeschichtlich interessierte M ediä­
visten aus den Schriften M ax W ebers lernen können. Bosl war der Auffassung, „daß
W ebers ,Idealtypen“ als Sym bole und Z eichen konkreter Intelligenzen em pirisch, daß
sie geeignet und fähig sind, die ganze V ergangenheit zu vergegenwärtigen und zwar
durch die persönliche Rationalisierung und Rationalität des Forschers“ 180. Bosl selbst
m acht jed och keine erkennbaren A nstrengungen, seine Gesellschaftstypen, wie zum
Beispiel „archaische“, „feudale“ oder „postfeudale G esellschaft“, oder jene, die m ittlere
Z eit gliedernden E pochen, wie die „archaische Phase“ (3 0 0 -1 0 7 0 ), die „aufgeklärte
A ufbruchsphase“ (1 0 7 0 -1 3 0 0 ) und „kritische Reform phase“ (1 3 0 0 -1 5 0 0 ), m it Hilfe
einer begrifflich-system atischen Typologie schärfer zu erfassen und m iteinander ver­
gleichbar zu m achen. Sich von Max W eb er inspirieren und in Pflicht nehm en lassen,
hätte gleichfalls bedeutet, syn- und diachrone W echselw irkungen zwischen H err-
177 Vgl. K la u s Schreiner, D ie m ittelalterliche Stadt in W ebers A nalyse und D eutun g des okzidentalen Rationalism us. Typus, Legitim ation, K u lturbedeutu ng, in : Max W eb er, der H istoriker, hrsg.
von J ü rg e n Koeka (K ritisch e Studien 7 3 , G ö tting en 1 9 8 6 ) 1 1 9 -1 5 0 .
178 F ra n z Irsigler, Besprech un g von „Karl Bosl, D ie G rundlagen der m odernen G esellsch aft im
M ittelalter. E in e deutsch e G esellsch aftsgesch ich te des M ittelalters“, in : Z fH F 5 (1 9 7 8 ) 215.
179 K a r l Bosl, D er soziologische A sp ekt in der G esch ich te, in: M ax-W eb er-G ed äch tn issch rift der
U niversität M ün chen (M ü nch en 1 966) 4 1 -5 6 .
180 G rundlagen (wie A n m . 176), Bd. 1, 7.
134
K lau s Sch rein er
schaft, W irtschaft und K ultur zum gegenstandsstrukturierenden K onzep t m ittelalter­
licher G esellschaftsgeschichte zu m achen. Ich kann nicht finden, daß in Bosls „Grund­
lagen der m odernen G esellschaft im M ittelalter“ das dialektische W echselverhältnis
zwischen diesen drei Potenzen, ein für W ebers G esch ichts- und G esellschaftsverständ­
nis grundlegender Sachverhalt, die Richtung des Fragens, die analytische D urchdrin­
gung und sprachliche G estaltung des Gegenstandes bestim m t.
T hem atisch und m ethodisch weiterführende Im pulse verdankt die m ittelalterliche
Sozialgeschichte dem H eidelberger Mediävisten Erich M aschke. M aschke verstand
sich weder als ,A vantgardist deutscher und europäischer G esellschaftsgeschichte“ 18^
noch hatte er den Ehrgeiz, M enschsein in seiner gesellschaftlichen Totalität zu ergrün­
den. In der W ahl seiner Forschungsgegenstände spiegeln sich persönliche Schicksale.
Im Jah re 1953 war Erich M aschke aus russischer K riegsgefangenschaft zurückgekehrt.
D ie weitere Beschäftigung m it dem D eutschen O rden erinnerte an seine Lehr- und
Forschungstätigkeit in K önigsberg und Jen a.
H inter seinen A rbeiten
über das
„Schicksal der deutschen Kriegsgefangenen des Zw eiten W eltkrieges“ verbarg sich
Solidarität m it langjährigen Leidensgenossen; der Aufbau einer neuen Lebens- und
Forschungsexistenz in Speyer und H eidelberg ließ A rbeiten zur Verfassungs-, W irt­
schafts- und Sozialgeschichte Speyers im besonderen und der m ittelalterlichen Stadt
im allgem einen entstehen. M aschke fühlte sich nicht einer Schultradition verpflichtet,
die nahelegte und gebot, eine m it sozial- und w irtschaftsgeschichtlichen D aten ange­
reicherte Verfassungsgeschichte w eiterzuführen. U nbelastet durch schul- und for­
schungsinterne Vorgaben und Traditionen widm ete er sich einem neuen A rbeitsfeld:
der Sozialgeschichte der m ittelalterlichen Stadt. M aschkes quellennahe und theorie­
orientierte U ntersuchungen förderten grundlegende E in sich ten in die Sozialverfas­
sung der m ittelalterlichen Stadt zutage.
In seinem 1959 erschienenen großen Aufsatz über „Verfassung und soziale K räfte
in der deutschen Stadt des späten M ittelalters “ 182 brachte M aschke Verfassungsbil­
dung und Sozialentw icklung in einen em pirisch nachprüfbaren Zusam m enhang. Die
Ü berschrift der breit angelegten Studie, die auf die W echselw irkung zwischen Verfas­
sung und sozialen K räften abhob, verstand M aschke nicht als schöne, m odernistische
E tik ette; er m einte, was er sagte und löste es auch ein. Sozialentw icklung war für ihn
nich t gleichbedeutend m it harm onisch verlaufender Evolution; indem er den Erscheinungs- und Verlaufsform en spätm ittelalterlicher Bürgerkäm pfe nachging und deren
verfassungsrechtliche K onsequenzen bedachte, m achte er den sozialen K o n flik t zu ei­
ner Schubkraft politisch-sozialen W andels. Verfassung verstand er als Ausdruck einer
gesellschaftlichen O rdnung, die im W iderstreit konkurrierender K räfte Erschü tterun­
gen ausgesetzt ist, in Z eiten der K rise von neuem gefunden, vereinbart und beeidigt
werden muß.
181 W ie das K arl Bosl von sich sagte, vgl. „R eflexion en über die A ktualität der G esch ich tsw issen ­
schaft“ (wie A n m . 155), 5.
182 E rich Maschke, V erfassung und soziale K räfte in der deutschen Stadt des späten M ittelalters,
vo rnehm lich in O berdeu tsch land , in : V ierteljah rssch rift für Sozial- und W irtsch aftsg esch ich te 46
(1 9 5 9 ) 2 8 9 - 3 4 9 ; 4 3 3 - 4 7 6 .
W issen schaft von der G esch ich te des M ittelalters nach 1945
135
D ie von M aschke angeregten und selbst verfaßten Aufsätze über städtische U nterund M ittelschichten öffneten neue E inblicke in die soziale Lebenswelt m ittelalterli­
cher Stadtbürger. D ie bewußte Ü berschreitung der von Verfassungshistorikern gezo­
genen G renzlinie sozialgeschichtlicher Betrachtung begründete er so: Für eine g e ­
schichtliche Betrachtungsw eise, die sich vornehm lich für die „Träger der Verfassung“
und deren G estalter interessiert, „sind die gesellschaftlichen S ch ichten, die niemals
oder nur selten aufgrund bestim m ter Situationen handelnd in den Ablauf der G e ­
schichte eingriffen, ohne Bedeutung“. G eschichtsw issenschaft, lautete M aschkes m e­
thodischer Grundsatz, sei erst dann „in vollem Sinne H um anw issenschaft“, wenn sie
„auch die unteren Gruppen der m enschlichen G esellschaft in ihrem Sein und ihrem
Leiden einbezieht“. H inzu kom m e ein sozialstruktureller Gesichtspunkt. G elte es,
„G eschichte als die G esch ichte von Strukturen zu erfassen“, würde die „Bevölkerungs­
struktur der m ittelalterlichen Stadt“ nur unzureichend und unvollständig in den Blick
kom m en, „wollte man sich etwa auf Patriziat und Zünfte beschränken“ 183. Dies vor al­
lem deshalb, weil die städtischen U nterschichten sowohl in quantitativer als auch in
qualitativer H insicht von solcher Bedeutung waren, „daß die ganze W irklich keit der
Stadt und ihrer Einw ohnerschaft ohne die genaue K enntn is der unteren Gruppen und
S ch ichten nicht erfaßt werden kann. Nur unter ihrer E inbeziehung kann die Struktur
der städtischen G esellschaft vollständig analysiert w erden .“ 184 M aschkes Studien über
„Soziale Gruppen in der deutschen Stadt des späten M ittelalters “ 185 wurden geschrie­
ben auf dem H intergrund einer verstärkten Diskussion über Schw ierigkeiten und
Grenzen sozialer Schichtbildung. Aus dem U ngenügen an abstrahierender Stratifikation bedingte sich sein zunehm endes Interesse an konkreten Form en sozialer V erge­
m einschaftung186, die sich an Hand der Q uellen als real existierende K om m u nika­
tionsgruppen w iederherstellen lassen187. Sein letztes, vor seinem Tod erschienenes
W erk handelte von der „Fam ilie in der deutschen Stadt des M ittelalters“.
183 Ders., D ie U n tersch ich ten der m ittelalterlichen Städte D eutschlands, in: G esellsch aftlich e U n ­
terschich ten in den südw estdeutschen Städten, hrsg. von E rich Maschke, J ü rg e n Sydow (V eröffent­
lichungen der K o m m issio n für g esch ich tlich e Landeskunde in Bad en -W ü rttem b erg B, 4 1 , S tu tt­
gart 1 967 ) 3.
184 Ders,, Z u r Einführung, ebd., V II.
185 Ders., Soziale G ruppen in der deutsch en Stadt des späten M ittelalters, in: Ü ber Bürger, Stadt
und städtische Literatur im Sp ätm ittelalter, hrsg. von J o s e f Fleckenstein und K a r l S tackm ann (A b­
handlungen der A kad em ie der W issen schaften in G ö ttin g en , phil.-hist. K lasse 3, Folge Nr. 121,
G ötting en 1 980) 1 2 7 -1 4 5 .
186 D ie letzte A rb eit, die M aschke publizierte, befaßte sich m it der Fam ilie. Vgl. ders., D ie Fam ilie
in der deutschen Stadt des M ittelalters (Sitzungsberichte der H eid elberger A kad em ie der W is­
senschaften, phil.-hist. K lasse 19 8 0 , 4, H eidelberg 1980).
187 M it K lim aw ech sel und Interessenverlagerung in der Z u n ft der M ediävisten hatte es zu tun,
daß das brillant g esch rieb en e und von G eleh rsam k eit überbordende opus m agnum eines ihrer
Fach kollegen , das im Ja h re 1 9 6 2 zum A bschlu ß kam und bis dahin n ich t w eniger als sechs stattli­
che Bände erreich t hatte, kaum zur K e n n tn is gen o m m en wurde und schließlich dem V ergessen
anheim fiel. V on sein em A u to r war es - wie er sch reib t - als „engagiertes B u ch “ verfaßt worden
und sollte eine „Brücke zw ischen M en sch en “ bilden. D ie R ed e ist von A rn o Borst, der die langen
Sch atten des T urm baus von Babel untersuchte, die W irku n gs- und R ezep tion sg esch ich te einer
biblischen Erzählung über E n tsteh un g, V ielfalt und Fu nktion der Sprach en und V ö lk er (D er
136
K lau s Sch rein er
4. A bschließende Erw ägungen: W issenschaftlicher Begriffs- und
politischer System wandel
W as K ontinuität und D iskontinuität geschichtsw issenschaftlicher Forschung im
W andel politischer System e bedeutet, sei abschließend am Beispiel O tto Brunners und
seines Buches „Land und H errschaft“ verdeutlicht, das seit seinem Erscheinen im Jah r
1939 bis zur Gegenw art als bahnbrechende Leistung gerühm t wird. W oran liegt es,
daß Brunners A rbeit über Grundfragen der m ittelalterlichen Verfassungsgeschichte
zwischen 1939 und 1965 nicht weniger als fünf Auflagen erlebte und - wie selbst
heute noch m it Bew underung gesagt wird - einen revolutionären W andel in der Sicht
und Beurteilung der m ittelalterlichen W elt bew irkte? W ieso konnte Brunner im V o r­
wort der letzten Auflage guten Gewissens schreiben: „In seinem G rundcharakter ist
das Buch unverändert geblieb en .“ 188 Falls dem so ist, m uß auch W issenschaft von der
G esch ichte fähig sein, E in sich ten zu erarbeiten und Aussagen zu m achen, die politi­
schen Systemwandel überdauern189.
Brunners Buch legt die These zugrunde, daß die um 1800 ausgebildeten historisch­
politischen Begriffe eine T rennung von Staat und G esellschaft voraussetzen und des-
T urm bau von Babel. G esch ich te der M einungen über U rsprung und V ielfalt der Sprach en und
V ölker, Bd. 1; 2 ,1 ; 2 ,2 ; 3,1 ; 3 ,2 ; 4 (Stuttgart 1 9 5 7 -1 9 6 3 )). ln dieser Su m m e des W issens, die über
ein en b ib lisch en V organg und dessen w eitreichende W irku n gen aufklärt, gin g es n ich t um G o tt­
u n m ittelbarkeit des M ittelalters; gefragt wurde nach dessen Platz in der universalen M en sch h eits­
g esch ich te, nach der G egenw ärtigkeit eines für das Selbstverständnis des M ittelalters grun d leg en ­
den Ereignisses im Bew ußtsein der N achfahren. „Fü r den Leser freilich“, schrieb der A utor,
„bleibt das Bu ch ein e Z u m u tu n g“ - eine Z um u tu n g vor allem deshalb, weil er, kön n te er die
„G ed anken und G e s ch ick e “ der vor ihm leben den und sprechen d en M en schen w irklich um fas­
sen, „die W ah rh eit über den M en sch en “ erfahren würde (3,1, S. VI). - D e r A u tor schrieb dazu
rü ck b lick en d : „ A u s der eu phorisch en Stim m u n g der fünfziger Ja h re erw uchs die H ab ilitation s­
schrift (,D er T urm bau von Babel, G esch ich te der M einungen über U rsprung und V ielfalt der
Sp rach en und V ö lk er“, 1 9 5 7 -6 3 ). D en A n stoß zu dem sechsbänd igen M onstru m gaben E in lad u n ­
gen ins A usland, etwa nach Spanien, wo m an uns freundlich em pfing und m ißverstand; nur in
der M uttersprache sch ien en sich G eist und G esch ich te eines M en schen, gar eines V o lk es zu äu­
ßern. A n stelle des Turm baus zum H im m el wollte ich eine B rücke zw ischen M en schen bauen;
die ganze W eltg esch ich te sollte Z eugnis geben von den w echselnden V oru rteilen, die den E in ­
klang in der V ielfalt der Sprach en und V ö lk er ü b ertön ten. Im G rund hieß V erständigung n icht,
daß die M en schen frem de W ö rter nachsagten, sondern daß sie zu ihren W o rten standen.“ Z u den
beruflichen K o n seq u en z en des „opus m agnum “ b em erk t der V erfasser: „W ährend die Freunde
ein er nach dem anderen w egeberufen w urden, blieb ich als Privatdozent fü nf Ja h re lang in m e i­
nem T urm bau sitzen “ (A rno Borst: Barbaren, K e tz er und A rtisten (M ü nch en 1988) 610).
188 Otto B ru nner, Land und H errschaft. G rundfragen der territorialen V erfassungsgeschichte
Ö sterreich s im M ittelalter (D arm stadt 51 9 6 5 ) V II.
189 Z u r D iskussion über w issensch aftsgesch ich tliche V oraussetzungen und zeitgebundene E in ­
flüsse in Brunners A rb eiten zur m ittelalterlich en V erfassungs- und Sozialgesch ich te vgl. Otto Ger­
h a rd Oexle, S o z ia lg e s ch ich te -B e g riffsg e s ch ich te -W isse n sc h a ftsg e sc h ic h te . A n m erku n gen zum
W erk O tto Brunners, in : V ierteljah rssch rift für Sozial- und W irtsch aftsgesch ich te 71 (19 8 4 )
3 0 5 - 3 4 1 ; Robert Jütte, Z w ischen Ständestaat und A ustrofaschism us. D er Beitrag O tto Brunners
zur G esch ich tssch reibu n g, in : Ja h rb u ch des Instituts für D eu tsch e G esch ich te 13 (1984)
2 3 7 - 2 6 2 ; K laus Schreiner, Fü hrertum , Rasse, R eich (wie A n m . 6), 2 0 8 -2 1 1 .
W issen sch aft von der G esch ich te des M ittelalters nach 1945
137
halb nicht geeignet sind, die A ndersartigkeit der m ittelalterlichen Sozial- und Verfas­
sungsordnung angem essen zu erfassen.
Mit H ilfe einer quellengem äßen Begriffssprache wollte Brunner die gegenstandsver­
fälschende Begrifflichkeit liberaler R echts- und Verfassungshistoriker des 19- Jah rh u n ­
derts vermeiden.
Brunner war sich bewußt, daß das Problem angem essener historischer Begriffsbil­
dung nicht durch naturwüchsigen Begriffshistorism us gelöst werden konnte. H istori­
sche Erkenntnis erschöpfte sich für ihn nicht in der Pflicht, Q uellenw örter nachzu­
buchstabieren, um in naiver Q uellengläubigkeit eine größtm ögliche Nähe zum g e ­
schichtlichen Gegenstand zu erreichen. D er H istoriker, „der das Gesam tgefüge der
Verfassung zu erkennen sucht, um daraus den Ablauf des politischen Handelns zu
verstehen“, kann „die begriffliche A rbeit des Ju riste n “ nicht e n tb eh ren 190.
Die verm eintliche oder tatsächliche Q uellennähe der von Brunner benutzten B e­
griffssprache hatte unstreitig auch dam it zu tun, daß Brunner in der Verfassungslehre
seiner Z eit Begriffe vorfand, die, wie er glaubte, seinem Bem ühen um Sach- und Q u el­
lennähe entgegenkam en. Verfassung, die von Carl S ch m itt als „konkreter G esam tzu­
stand politischer E in heit und sozialer O rdnung“ definiert wurde191, schien dem M it­
telalter in erheblich höherem Maße gerecht zu werden, als die G eschiedenheit von
Staat und G esellschaft, von „res publica“ und „societas civilis“, die den liberalen V er­
fassungsstaat und die bürgerliche G esellschaft des 19. Jahrhunderts charakterisierte.
Pate stand bei Brunners Begriffsbildung „der gegenüber keinem Sachgebiet desinteres­
sierte, potentiell jedes G ebiet ergreifende totale Staat der Identität von Staat und G e ­
sellschaft“, der „alle für das liberale 19. Jahrhun d ert typischen U nterscheidungen und
Entpolitisierungen“ au fh ebt192. Das aus Sch m itts Verfassungslehre „entnom m ene M o­
dell für die Erfassung älterer Zustände “ 193 schien Brunner vorzüglich geeignet zu sein,
den juristisch verengten Verfassungsbegriff, der die politischen O rdnungen des m ittel­
alterlichen V olkes in ein w irklichkeitsfrem des K orsett gezwängt hatte, zu überwinden.
Brunner bestätigte auch Sch m itts These, w onach term inologische Fragen „zu h o ch ­
politischen A ngelegenh eiten“ werden k ö n n e n 194. Brunners Polem ik gegen liberale B e ­
grifflichkeit verband sich m it V orbehalten gegen Grundprinzipien freiheitlichen V er­
fassungslebens.
Dies festzustellen, genügt jedoch nicht, um im einzelnen genau auszum achen, wie
sich Brunners K onzessionen an den politischen Z eitgeist auf seine historische A rbeit
190 B ru nner, Land und H errsch aft (wie A n m . 120), 125.
191 So B ru n n er in sein em 1 9 3 9 ersch ien en en Aufsatz „M oderner V erfassungsbegriff und m ittelal­
terlich e V erfassu n gsg eschich te“, in : M itteilungen des Ö sterreich isch en Instituts für G esch ich ts­
forschung, Erg.Bd. 14 (1 9 3 9 ) 5 1 3 - 5 2 8 , h ier: X X X . V gl. auch die überarbeitete Fassung des A u f­
satzes in : H errsch aft und Staat im M ittelalter, hrsg. von H ellm ut K ä m p f (W ege der Forsch un g 2,
D arm stad t 1 9 5 6 ) 6 ; vgl. auch ders.: Land und H errschaft (wie A n m . 120), 111.
192 C arl Schmitt, D er Begriff des P olitisch en (Berlin 1932); zitiert wird h ier nach folgender A u s­
gabe: D er Begriff des P olitisch en (T ext von 1932 m it ein em V orw ort und drei Corollarien, Berlin
1979) 24.
193 B ru nner, V erfassungsbegriff (wie A n m . 191 (überarbeitete) Fassung von 1956), 19.
194 Schmitt, Begriff des P olitisch en (wie A nm . 192), 31.
138
K laus S ch rein er
tatsächlich auswirkten. Das G em ein te m öchte ich an drei Beispielen kenntlich ma­
ch e n : am Stellenw ert, den Brunner der Fehde in der m ittelalterlichen R echts- und
Verfassungsordnung zumaß, sowie an den Begriffen „H errschaft“ und „historische T o ­
talität“.
In der Neuauflage des „Begriffs des P olitischen“ aus dem Jah re 1963 versicherte
Carl Sch m itt, daß O tto B runner „in seinem bahnbrechenden W erk .Land und H err­
schaft 1 (1. Aufl. 1939) eine w ichtige historische Verifizierung m eines K riterium s des
Politischen erbracht hat“ 195. Das W esen des Politischen definierte Carl Sch m itt als
„die reale M öglichkeit, im gegebenen Fall kraft eigener Entscheidung den Feind zu
bestim m en und ihn zu bekäm pfen“ 196. Eine solche D efinition m acht verständlich
weshalb das Buch „Land und H errschaft“ m it der Fehde beginnt.
Brunner definierte Fehde als legitim e „Rechtsform aller m ittelalterlichen Politik so­
weit sie im Innern wie nach außen zu W affengew alt greift“ 197. Fehde bildete nach A n ­
sicht Brunners „ein zentrales Bauprinzip alles älteren politischen Lebens“ 198. Fehde sei
„als w esentliches E lem en t jed er m ittelalterlichen Verfassung zu betrachten“ 199. Erst
„von der Fehde her“ könne „der innere Zusam m enhang von Politik und Staat, von
M acht und R ech t im M ittelalter begriffen werden“200. In der politischen Theorie des
M ittelalters ist eine solche Auffassung nicht unterzubringen. M ittelalterliche Sozial­
theoretiker erkannten das W esen des Politischen nicht in der B estim m ung von
Freund-Feind-V erhältnissen, nicht im konfliktträchtigen G egeneinander von Indivi­
duen, Gruppen und Ständen, sondern im Ringen um einträchtigen, freundschaftli­
chen K onsens (concordia), von dem die Dauerhaftigkeit aller Gruppen und G esell­
schaften abhing201. Spätm ittelalterliche Staatstheoretiker betrachten die Fehde nicht
„als ein vom Staat zugelassenes R echtsinstitu t“202; sie verurteilten sie als illegitim e
„privata rixa“, die den öffentlichen Frieden, für den der K önig verantwortlich war,
störte203.
195 Ebd., 14 (V orw ort von 1963).
196 Ebd., 4 5 . V gl. auch ebd., 2 6 : „D ie spezifisch -politisch e U nterscheid ung, auf w elche sich die
p o litischen H andlungen und M otive zurückführen lassen, ist die U n terscheid un g von Freund
und F e in d “ S. 5 0 : D as W esen der p olitischen Ex isten z eines V olk es liege in der Fäh igkeit b e­
gründet, „die U n terscheid un g von Freund und Fein d “ selber zu bestim m en .
197 B ru nner, V erfassungsbegriff (wie A n m . 191), 17.
198 Ders., Land und H errschaft (wie A n m . 120), 27.
199 Ebd., 106.
200 Ebd., 108.
201 K laus Schreiner, R ech tgläu b igk eit als ,Band der G esellsch aft1 und ,G rundlage des Staates1. Z ur
eid lich en V erp flich tu ng von Staats- und K irch en d ien ern auf die ,form ula C on cord iae1 und das
jK o n k o rd ie n b u ch 1, in : B ek en n tn is und E in h eit der K irch e. Studien zum K o n k o rd ien b u ch , hrsg.
von A lartin Brecht und R ein h a rd Schw arz (Stuttgart 1 9 8 0 ) 3 5 2 -3 5 5 .
202 B ru nner, Land und H errsch aft (wie A n m . 120), 110.
203 Z u r K ritik am Stellen w ert der Fehd e in B runners m ittelalterlich er V erfassungskonzeption vgl.
bereits K a rl Siegfried Bader, H errschaft und Staat im d eutsch en M ittelalter, in : H istorisch es Ja h r ­
buch 6 2 - 6 9 ( 1 9 4 2 - 4 9 ) 6 2 8 : „M an kann w ohl die Fehd e zum A usgangspunkt einer tatsächlichen
B etrach tu ng m ittelalterlich er V e r fa s s u n g s z u s tä n d e m ach en ; sie zur M utter der V erfassung zu
m ach en , heißt aber doch lucus a non lucendo zu erklären !“ Vgl. auch ders., D as W ertp rob lem in
der R ech tsg esch ich te. Z u m Stand ort ein er h istorisch en D iszip lin in den m odernen G eistesw is-
W issen sch aft von der G esch ich te des M ittelalters nach 1945
139
Um auf den zweiten Punkt zu kom m en : Es mag zutreffen, daß dem H errschaftsbe­
griff Brunners eine stillschweigende U nterschätzung von M acht und Zwang als Mittel
gesellschaftlicher Integration zugrunde liegt; es mag sein, daß in Brunners H err­
schafts- und Treuebegriff interessegeleitete A nnahm en über konsensstiftende W erte
und Ziele sozialen H andelns eingingen, was zur Folge hatte, daß Gegensätze und
Konflikte zwischen Gruppen als Faktoren sozialen W andels vorschnell ausgeblendet
wurden. Es mag sein, daß sich O tto Brunner durch den „ewigen Zusam m enhang von
Schutz und G ehorsam “, in dem Carl S ch m itt das W esen von H errschaft erblickte204,
bei der Auswahl seiner Q uellen und deren Interpretation hat inspirieren lassen. Das
festzustellen, entbind et nicht von der Pflicht, im einzelnen nachzuprüfen, ob und in ­
wieweit durch die Verw endung derartiger Begriffe das Verständnis vergangener Ereig­
nisse, Tatsachen, Strukturen und Prozesse gefördert, erschwert oder verhindert wurde.
U nter w issenschaftsgeschichtlichem A spekt ist daran zu erinnern, daß die Verw en­
dung des Begriffs H errschaft eine bis ins 19. Jahrhundert zurückreichende Tradition
hatte. O tto von G ierke, der den Gang der deutschen Verfassungsentwicklung aus dem
Mit- und G egeneinander von H errschaft und G enossenschaft verständlich zu m achen
suchte, hat in seinem vierbändigen G enossenschaftsrecht einen Fundus an Einsichten
und Begriffsbildungen hinterlassen, der bis zur Gegenwart von Mediävisten ausge­
schöpft wird. D er Begriff H errschaft war zudem im K o n text der m ittleren und ausge­
henden dreißiger Jah re unseres Jahrhunderts, in dem Brunner sein Buch schrieb, ein
politisch unbelasteter Begriff205. E r zählte nicht zur H errschaftssprache des D ritten
Reiches, w elches „Führer“ und „Führung“ zu K ernbegriffen seiner Ideologie und
Staatsordnung gem acht hatte. Führung verlangte blinde Hingabe. H errschaft bedurfte
der Z ustim m ung und Loyalität der Beh errsch ten ; das sozialstrukturelle K orrelat von
Herrschaft bildete die G enossenschaft der zur M itentscheidung Berechtigten. Führung
gebot Treue und G efolgschaft; Führung vertrug sich nicht m it G enossenschaft und
Gegenseitigkeit, die W iderspruch und W iderstand einschlossen.
Einschränkend zu bem erken ist dies: Brunner selbst hat von dieser M öglichkeit
apolitischer Begriffsverwendung nur halbherzigen Gebrauch gem acht. D en Begriff
Herrschaft benutzte er als analytische K ategorie bei der U ntersuchung verfassungsge-
senschaften, in: den., A usgew ählte Sch riften zur R ech ts- und Landesgeschichte, Bd. 1: Sch riften
zur R ech tsg esch ich te, hrsg. von Clausdieter Schott (Sigm aringen 1984) 67 (E rstd n ick in Festsch rift
für Jo h a n n e s Spörl, 1 9 6 5 , S. 6 5 4 ): O tto Brun ner „wird von uns [R ech tsh istorik em ] aber n icht e r­
warten dürfen, daß wir, um unseren ju ngen Ju riste n die A nfänge der R echtsord nu ng klarzum a­
chen, nun alles G egenw ärtige auf den K o p f stellen, um - nach den W orten der G en esis: ,Und die
Erde war wüst und leer und es war finster auf der T ie fe‘ - die G esch ich te von R ec h t und Staat
m it der Sch ild eru ng der Fehd eform en zu begin n en “. Z u r K ritik an Brunners V erständnis von
Fehde vgl. außerdem Jo a ch im Gernhuber, D ie Landfriedensbew egung in D eutschland bis zum
M ainzer R eichslan dfrieden von 1235 (B o n n er rechtsw issenschaftliche A bhand lungen 44, Bonn
1952) 2 8 f. und A n m . 9 ; H a n s Patze, G run d h errsch aft und Fehd e, in : D ie G rundherrschaft im
späten M ittelalter, Bd. 1 (Sigm aringen 1 9 8 3 ) 2 7 9 f204 Schmitt, Begriff des P olitisch en (wie A n m . 192), 53.
205 Dietrich HUger, A rtikel .H errsch aft1, in : H istorisches L exikon zur politisch-sozialen Sprache,
hrsg. von Otto B ru nner, W erner Conze und R einhart Koselleck, Bd. 3 (Stuttgart 1982) 9 8 ; Schreiner,
Fü hrertum , Rasse, R eich (wie A n m . 6), 177.
140
Klaus S ch rein er
schichtlich relevanter Q uellen ; in der Gesam tdeutung der von ihm untersuchten Pro
blem e wird H errschaft ersetzt durch „Führung“, der nicht G enossenschaft entspricht
sondern V olksgem einschaft. E r wollte auf diese W eise zum A usdruck bringen, daß
„die politischen Grundbegriffe des D ritten R eich es, Führung und Volksgem einschaft
... letztlich nur aus germ anischen Grundlagen zu verstehen“ seien 206. Brunners Buch
das grundlegende E in sich ten in die politisch-soziale V erfaßtheit spätm ittelalterlicher
Verbände enthält, konnte bis 1945 auch als Beitrag zur gesch ichtlichen Grundlegung
des damaligen Führerstaates gelesen werden. D er W iderspruch zwischen quellenge­
mäßer Feststellung und zeitgebundener D eutu ng gesch ichtlicher Tatsachen wirft Fra­
gen auf. K om prom ittieren politisch-opportunistische A ktualisierungen m ittelalterli­
ch er H errschafts- und Sozialordnungen auch die Begriffe selbst, m it deren H ilfe so­
zial-strukturelle Tatbestände der m ittelalterlichen W elt erfaßt, beschrieben und erklärt
wurden? Eine A ntw ort soll im dritten Gedankengang gesucht und gegeben werden.
Brunner polem isierte gegen jedwedes Trennungsdenken, gegen die Auflösung der
G eschichtsw issenschaft in zusam m enhanglose Teilgebiete, gegen die begriffliche Iso­
lierung dessen, was historisch-konkret zusam m engehört. Sein Interesse galt der „E in­
heit und G anzheit der Lebensordnung des deutschen V olkes“, der historischen „Tota­
lität“. D eshalb hielt er es für unverzichtbar, „die konkreten G ebilde dieser vergange­
nen W elt in ihren verschiedenen Fu nktionen als Ganzes zu erfassen“ ; die .A u sein an ­
derlegung“ von R ech t, Staat und W irtschaft „in autonom e K ultursphären“ sei näm lich
das „Ergebnis eines gesch ichtlichen Prozesses, der, wenn er seine Voraussetzungen
auch im M ittelalter hat, doch erst in den neueren Jahrhunderten durchgedrungen
ist“207.
Z um Verständnis von Brunners Erkenntnisinteresse ist zum einen an fachinterne
W issenschaftstraditionen zu erinnern, zum anderen an zeitgenössische Theorien und
Begriffe. Totalität entsprach den Zielen landesgeschichtlicher Forschung, g esch ich t­
lich vorgegebene, begrenzte und überschaubare Fallbeispiele ganzheitlich zu untersu­
chen, kon kret: zwischen Siedlung, Verfassung, R echt, Bevölkerung, m aterieller Pro­
duktion und Sprache Zusam m enhänge w echselseitiger Bedingtheit und Beeinflussung
auszum achen. O b und inwieweit das im m er gelungen ist, steht auf einem anderen
Blatt. G anzheitliche Betrachtung blieb im Bereich der Landeskunde m ethodisches
Postulat, w enngleich es in der Praxis der Forschung viel historischen Detailhandel
gab.
206 Otto B ru nner, Land und H errschaft. Grundfragen der territorialen V erfassungsgeschichte Sü d­
deutschlands im M ittelalter (Brünn 31 943) 526. G egen die V ersuchung, für R ech ts- und V erfas­
sungstatsachen des M ittelalters nach strukturellen E n tsp rech u n gen in der G egenw art zu suchen,
waren auch andere R ech ts- und V erfassungshistoriker n ich t gefeit. H einrich M itteis schrieb in der
Ein leitu ng zu seinem im H erb st 1 9 3 3 ersch ien en en Bu ch „L eh n rech t und Staatsgewalt. U n tersu ­
chu ngen zur m ittelalterlich en V erfassun gsgeschich te“ (W eim ar): „W o das R e c h t hineingerissen
wird in den W irb el p o litisch er E n tsch eid u n gen , da re ich t auch im M ittelalter die Idee von dem
stillen W irken geheim n isvoller K räfte n ich t aus; da tritt an Stelle des an onym en V olksgeistes die
g r o ß e p o l i t i s c h e F ü h r e r p e r s ö n l i c h k e i t , die sich aus dem R ec h t das Instru m ent der
M achtbehauptung, die W affe ihres G estaltungsw illens sch m ied et“ (13).
207 B runner, Land und H errsch aft (wie A n m . 188), 117.
W issen sch aft von der G esch ich te des M ittelalters nach 1945
141
N icht zu übersehen ist auch dies: Brunners Versuche, die enge V erw obenheit von
Politischem und Sozialem in einer noch wenig ausdifferenzierten G esellschaft auf den
Begriff zu bringen, haben Tradition. Ju risten des ausgehenden 18. Jahrhunderts spra­
chen von der alten „societas civilis cum im perio“, die der absolutistische Staat in eine
>>societas civilis sine im perio“ um geform t habe. Karl Marx setzte den H errschaftsstän­
den Alteuropas die Sozialstände des liberalen Verfassungsstaates entgegen208; an der
Umwandlung öffentlich-politischer Religiosität in private Religion erläuterte er die
Verselbständigung von Staat und G esellschaft im beginnenden 1 9 .Jahrhun dert; er
sprach vom „politischen C harakter“ der „m ittelalterlichen Feudalgesellschaft“209, um
U nterschiede zwischen m ittelalterlicher und m oderner G esellschaft kenntlich zu m a­
chen. Im m er ging es däm m , U ngeschiedenes begrifflich zu erfassen, Undifferenziertes
in seiner gegenseitigen V erw obenheit zusam m enzudenken. O tto von G ierke sprach
vom unentzw eiten R echt, das die altständische G esellschaft nicht in getrennte Berei­
che öffentlicher und privater Ordnung aufspaltete, sondern als Gefüge von H err­
schaftskreisen und genossenschaftlich verfaßten K orporationen konstituierte. Erst im
frühm odernen „O brigkeitsstaat“, der „die Sum m e aller öffentlichen G ew alt“ bean­
spruchte und „das H errenrecht in einen einzigen Begriff“ zusam m enfaßte, entstand
nach A nsicht G ierkes „der U nterschied des öffentlichen und privaten R ech ts“210.
W esen tlich für den G esch ichts- und Gesellschaftsbegriff Karl Lam prechts war die
enge Verflechtung von R ech ts-, W irtschafts- und Sozialordnung. D ie „Teilentw icklun­
gen“ der m ateriellen K ultur, schrieb er im Schlußkapitel seines „D eutschen W irt­
schaftslebens im M ittelalter“ (1885), unterliegen „in W irtschaft, R e ch t und Verfassung
... einer gegenseitigen beständigen und kaum übersehbaren Einwirkung, in welche zu­
dem der in ewiger U m bildung begriffene Charakter der sozialen Sch ichtu ng unabläs­
sig eingreift“211.
Als Brunner „Land und H errschaft“ schrieb, war Totalität ein am bivalenter Begriff.
Im politischen K o n te x t der dreißiger Jah re stand er für politisch-soziale G anzheits­
konzepte und bündelte als solcher Forderungen, w elche die in liberalen Grundauffas­
sungen wurzelnde T rennung zwischen Staat und G esellschaft zu überwinden und auf­
zuheben trachteten. Totalität als politischer H andlungsbegriff war m it einer antilibera­
len H ypothek belastet. In w issenschaftsgeschichtlicher H insicht konnte Polem ik g e ­
gen Trennungsdenken als W iederaufnahm e einer Tradition des ausgehenden 1 9 .Jah r-
208 K a rl M a rx , K ritik der H eg elschen Staatsphilosophie, in : D ie Früh schriften , hrsg. von Sieg­
fr ie d L andshut (Stuttgart 1 964) 96.
209 Ders., Z u r Ju d en frage, in : Früh schriften (wie A n m . 2 08), 1 9 6 : „W elches war der Charakter der
alten G esellsch aft? E in W o rt charakterisiert sie. D ie Feudalität. D ie alte bürgerliche G esellschaft
hatte u n m ittelbar ein en p o litischen Charakter, d .h . die E le m e n te des bürgerlichen Lebens, wie
z.B . der Besitz oder die Fam ilie oder die A rt und W eise der A rbeit, waren in der Form der
G run d h errlich keit, des Stand es und der K o rporation zu E lem en ten des Staatslebens erhoben .“
210 Otto von Gierke, Das deutsch e G en o ssensch aftsrecht, Bd. 1 (Graz 1 9 5 4 , p h otom ech . N ach­
druck der Ausgabe von 1 868) 6 4 2 .
211 Z itiert nach Luise Schorn-Schütte, K arl Lam precht. K u ltu rgesch ich tssch reib u ng zwischen W is­
senschaft und P olitik (S ch riften reih e der H istorisch en K o m m issio n bei der Bayerischen A kade­
m ie der W issen schaften 2 2 , G ö ttin g en 1 984) 116.
142
K lau s S ch rein er
hunderts begriffen werden, einer Z eit, in w elcher innerhalb der Geschichtsw issen
schaft ein Teil der jüngeren G eneration an die Totalität der historischen Erscheinun
gen erinnerte, um eine ausschließlich politisch ausgerichtete G eschichtsschreibung
durch eine Darstellung der sozialen Bew egungen und gesellschaftlichen Verhältnisse
abzurunden, und deshalb, wie Gerhard O estreich darlegte, „auf die Überwindung der
Trennung von Staat und G esellschaft“ drängte, welche „die H istorie zu einer E in­
engung auf den Staat geführt hatte“212.
Das D ilem m a bleibt. D er Begriff Totalität, der in den dreißiger Jahren auf politi­
scher E bene einen G egenbegriff zum liberalen R echts- und Verfassungsstaat darstellte
konnte und sollte auf dem Feld historischer W issenschaft als O rdnungs- und Erklä­
rungsbegriff sachgem äße Erkenntnisse erm öglichen - und er tat es auch. Brunners
Buch beweist es. Z u fragen bleibt jedoch, ob der politische Sündenfall die begriffliche
U nschuld nicht ein für allemal zunichte gem acht hat?
Es kom m t darauf an, politisch belastete Begriffe zu verm eiden und durch solche mit
einem hohen form alen W erkzeugcharakter zu ersetzen. Brunner tat das selbst, indem
er „V olksgeschichte“, die er ursprünglich als „G ebot der Stunde“ bezeichnet hatte,
durch „Strukturgeschichte“ ersetzte213.
D ie Tatsache, daß Brunner „V olksgeschichte“ durch „Strukturgeschichte“ ersetzte,
könnte von neuem A nlaß sein, sich über die Beliebigkeit und M anipulierbarkeit histo­
rischer Begriffe G edanken zu m achen. Um Brunner gerecht zu werden, ist allerdings
hinzuzufügen, daß er bereits in der ersten Auflage seines Buches vom Jahre 1939 von
einer „Struktur der politischen G ebilde“ gesprochen hatte. D er Strukturbegriff war
ihm nicht fremd. Seine Polem ik gegen sachlich unangem essenes Trennungsdenken ist
allein noch kein ausreichender Grund, das Bem ühen um ganzheitliche Erfassung
a priori politisch zu diskreditieren. G eschichte, die als G esch ichte sozialer D ifferenzie­
rung begriffen und betrieben wird, kann schlechterdings nich t darauf verzichten, aus­
differenzierte und weniger ausdifferenzierte G esellschaftsform ationen durch begriff­
lich benennbare U nterscheidungsm erkm ale voneinander abzuheben.
M it H ilfe des Strukturbegriffs wollte Brunner eine A ufsplitterung der G esch ichte in
unverbundene Teilbereich e und Teildisziplinen verhindern. Seine diesbezügliche Ma­
xim e für die Praxis geschichtsw issenschaftlicher Forschung lautete: „N icht politische
G esch ichte als bloße M achtgeschichte, nicht R echtsgeschich te, W irtschaftsgeschichte
usf., die als K ulturgeschichte äußerlich zusam m engefaßt werden, sondern auf das V er­
ständnis des politischen Handelns ausgerichtete ,Strukturgeschichte 1 muß erstrebt
werden .“214 Eine auf die Rekonstruktion von Strukturen bedachte M ittelalterfor­
schung schien zu gewährleisten, daß durch die E insicht in die Bauprinzipien der poli­
tischen Verbände des M ittelalters „zugleich die m ittelalterliche Politik verstanden
werden kann“215.
212 Oestreich, Fach historie (wie A n m . 108), 342.
213 V gl. Schreiner, Fü hrertum , Rasse, R eich (wie A n m . 6), 2 0 9 und 2 4 9 , A n m . 172.
214 B ru nner, Land und H errsch aft (wie A n m . 188), 164.
2,5 Ebd., 163.
W issen sch aft von der G esch ich te des M ittelalters nach 1945
143
D er von W ern er Conze 1957 geprägte Begriff „Strukturgeschichte“ schien Brunner
deshalb „der brauchbarste“ zu sein, „da er am wenigsten M ißverständnissen ausgesetzt
¡st“. M ißverständnisse seien jedoch „bei Term ini wie G esch ichte der Volksordnung,
S o z ia lg esch ich te , G esch ichte der Verfassung“, die auch von ihm bislang verwendet
worden seien, „unverm eidlich“216. G egen die ursprünglich am m odernen G esell­
schaftsbegriff entw ickelte „Sozialgeschichte“ sprach die Tatsache, daß sie „m it m oder­
nen Bedeutungsschichten belastet“ ist, im W iderspruch zur politisch-sozialen Verfaßtheit m ittelalterlicher Lebensordnungen das „ ,Soziale* vom .Politischen““ trennt und
vor allem eine vom Staat abgehobene W irtschaftsgesellschaft voraussetzt, die „ein Pro­
dukt der neueren europäischen Sozialgeschichte“ darstellt217. Verfassungsgeschichte
erinnere an den Verfassungsbegriff des 19. Jahrhunderts, an die .K on stitution“, die
„ausschließlich die Rechtsstellung des H errschers und die Einschränkung dieser
Rechtsstellung durch die Stände“ festschreibe218.
In der rechts- und verfassungsgeschichtlichen Literatur des 19. und beginnenden
20 . Jahrhunderts m angelt es in der Tat nicht an Belegen, die diesen Vorbehalt bestäti­
gen. Georg W aitz (1 8 1 3 -1 8 8 6 ), Verfasser einer achtbändigen „D eutschen Verfassungs­
geschichte“ und liberaler A bgeordneter in der Paulskirche, erblickte, wie er in seinen
1862 erschienenen „Grundzügen der Politik“ schrieb, das „W esen verfassungsmäßiger
Ordnung“ darin, daß „das V olk gewisse einzelne R ech te durch seine Vertretung neben
dem K önig geltend zu m achen, auch gegen denselben zu schützen habe“219. Anders
und allgem einer gesagt: „Zusam m enw irken des K önigs und des Volks, das ist das W e ­
sen verfassungsmäßiger O rdnung .“220
Das sich wandelnde K räfte- und Spannungsverhältnis zwischen der „M acht des
H errschers“ und der „Theilnahm e des V olkes“ bei der Entscheidung öffentlicher A n ­
gelegenheiten bildete für W aitz auch ein leitendes Erkenntnisinteresse und Struktu­
rierungsprinzip bei der Darstellung der „Grundlagen staatlicher Ordnung“ in der m it­
telalterlichen W e lt221. „Bei der W ürdigung staatlicher V erhältnisse“, schrieb W aitz
program m atisch, „wird im m er eine der wichtigsten Fragen sein, wie sich die herr­
schenden Gewalten zu den Beherrschten verhalten ... und wie um gekehrt das Volk
die alten Freiheitsrechte, soweit es sie bewahrt, ausübte und sich bei dem öffentlichen
Leben überhaupt betheiligte .“222 Problem e sozialer U ngleichheit waren für W aitz nur
insow eit von Interesse, als „das Volk in allen seinen Bestandtheilen und seiner m an­
nigfachen G liederung“ für „die Verfassung des Staates und das politische Leben in B e­
tracht kom m t“223.
2U’ Ebd., 164 A n m . 1.
217
218
219
220
Ders.,
Ders,,
Georg
Ebd.,
P roblem ein er eu ropäischen Sozialgesch ich te (wie A n m . 115), 8 2 f.
Land und H errsch aft (wie A nm . 188), 128.
W aitz, G rundzüge der P olitik n ebst einzelnen A usführungen (K iel 1862) 140.
141.
221 Ders., D eu tsch e V erfassun gsgeschich te. D ie V erfassung des deutschen V olkes in ältester Z eit,
Bd. 1 (Graz * 1955, p h o to m ech an . N achdruck der 3. Aufl., Berlin 1880) 3 6 9 f.
222 Ders., D eu tsch e V erfassun gsgeschich te. D ie V erfassung des Fränkisch en R eichs, Bd. 2, 2 (Graz
"*1953, ph otom ech an. N achdruck der 3. Aufl. Berlin 1 882) 24 6 .
223 Ebd., Bd. 2, 1, S. 381 f.
144
K laus Sch rein er
D en bis in die dritte Auflage von 1943 beibehaltenen und danach elim inierten Be
griff „V olksgeschichte“ deutete Brunner im nachhinein als Variante jener „history 0 f
people“, die englische A utoren als „G eschichte eines V olks unter W eglassung der P 0
litik“ betrieben224. D em fügte Brunner hinzu: „Von V olksgeschichte, G eschichte de
V olksordnung hat man auch bei uns gesprochen und damit wohl auf dasselbe gezielt
was hier unter Sozialgeschichte verstanden wird, die G esch ichte des inneren Gefüges'
m en schlicher G rupp en .“223
In der rückblickenden Interpretation Brunners bleiben Zeitbezüge des „Volks“-Begriffs auf der Strecke. ,V olk‘ und .Bevölkerung' (im Sinne von people) waren bis 1945
keine austauschbaren Begriffe226. V olk als Synonym für organische G anzheit und poli­
tische E in h eit erinnert, im zeitgeschichtlichen K o n text der späten dreißiger und be­
ginnenden vierziger Jah re betrachtet, an die „substantielle G leichartigkeit des ganzen
V olkes“227, die Carl S ch m itt als Grundlage jen er „totalen O rdnung“ benannte, welche
die T rennung von Staat und G esellschaft gegenstandslos m ach t228. E m st R. Huber
sprach von der „Totalität des politischen V olkes“, die „keine private staatsfreie Sphäre
m ehr bestehen“ läßt229.
G leichw ohl: O b O tto Brunner ein Ju n g-, A lt- oder Neokonservativer war, ob N eohi­
storist oder A bendländer, ob N eokarolinger oder Im perialist - all dies ist er schon ge­
nannt worden - , darüber läßt sich lange streiten. Ideologiekritik verweist auf politische
Präm issen historischer A rbeit. W ohlklingende Etikettierungen sind aber keine Lösung
w issenschaftstheoretischer Grundsatzfragen. Dies in Erinnerung zu bringen, hat nichts
m it Schönfärberei zu tun, die darauf angelegt ist, Brunners Zugeständnisse an den bis
1945 herrschenden Z eitg eist zu verkleinern, einzuebnen und geräuschlos aus der W elt
zu schaffen. A uf der Suche nach A ntw orten, wie historische Erkenntnis m öglich sei,
was ihre A ngem essenheit und ihre W ahrheit ausm ache, reicht es m. E. nicht aus, die
von Brunner als unzulässig erklärte T rennung von Staat und G esellschaft oder seine
D arlegungen, wonach w irtschaftliche Produktionsverhältnisse eine unm ittelbar politi­
sche Form besitzen, letztlich als „konform istische A bziehbilder“ einer nach Ständen
gestuften V olksgem einschaft zu interpretieren. Ideologiekritik entbind et nicht von der
224 B ru nner, P roblem ein er eu ropäischen So zialgesch ich te (wie A n m . 115), 8 0 : Brunner verwies
auf E. Lipson, T h e G row th of English Society. A S h o rt E co n o m ic H istory (L ond on 1949) und
G. M . Trevelyn, English So ciety (London 1946).
225 B ru nner, P roblem ein er europäischen Sozialgesch ich te (wie A n m . 115), 80.
226 Erw ähnung verdient in diesem Z u sam m en han g ein Satz von Bertolt Brecht m s einem 1935
verfaßten T raktat über „ F ü n f Schw ierigkeiten beim S ch reib en der W ah rh eit“ : „W er in unserer
Z e it statt V o lk Bevölkerung und statt Boden Landbesitz sagt, un terstützt schon viele Lügen
nicht. E r n im m t den W ö rtern ihre faule M ystik“ (den., Ü b er P olitik und K u n st (Frankfurt a. M.
31977) 43).
221 C arl Sehmitt, Legalität und L egitim ität (M ü n ch en -L e ip zig 1 932) 31. - Vgl. dazu Ilse Staff,
Z u m Begriff der P olitisch en T h e o lo g ie bei Carl S ch m itt, in: C h ristentu m und m odernes R ech t,
hrsg. von G erhard D ilch er und Ilse
(Frankfurt a. M. 1 984) 185.
228 C arl Schmitt, D er H ü ter der V erfassung (Beiträge zum ö ffen tlich en R ec h t der G egenw art 1,
T übingen 1 931) 7 7 -7 9 .
229 E rnst R u d o lf H uber, V erfassun gsrecht des G roßd eu tsch en R eich e s (H am burg 21939) 3 6 1 . Vgl. auch Schreiner, Fü hrertum , Rasse, R eich (wie A n m . 6), 181.
W issen sch aft von der G esch ich te des M ittelalters nach 1945
145
Pflicht, den Differenzierungsgrad traditionaler G esellschaften auf den Begriff zu brin­
gen.
Einerseits kann man zu R ech t fragen, ob es unter den Bedingungen einer inhum a­
nen D iktatur ausreicht, m ethodisch sauber Tatsachen, Zustände und Vorgänge zu re­
konstruieren, seine historischen U rteile hingegen an der herrschenden Ideologie aus­
zurichten. Eine A ntw ort sollte nicht schw erfallen: M ethodische Strenge allein tut es
nicht. A ndererseits reicht der H inweis auf den G ebrauch zeitgenössischer Begriffe al­
lein noch nicht aus, über die R ichtigkeit oder U nrichtigkeit historischer Tatsachen
und Zusam m enhänge zu entscheiden, wenngleich vielfach angenom m en wird, daß
sich w issenschaftsm ethodischer Traditionalism us und politische Anpassungsbereit­
schaft gegenseitig bedingen und stützen230. D er M angel an plausiblen Problem lösun-
230 V erallgem einern läßt sich diese T h ese n icht. Es gib t G eg en b eisp iele - auch im D ritten R eich.
W alter Schlesinger, ein ausnehm end m eth odenstrenger H istoriker, der in der G esch ich te n ich t
den W eltgeist suchte, sondern auf die urkundlich verbürgte S ich erh eit des Faktischen bedacht
war, ist bereits als Stu d ent im Ja h r 1 9 2 9 der N S D A P b eigetreten . N ach dem T od e R udolf
K ötzschk es geriet Sch lesing er, der eine Laufbahn als H o ch sch u lleh rer anstrebte, „rasch in K o n ­
flikt m it dem N achfolger sein es Lehrers, dem Ö sterreich er A d olf H elbrok, der das traditionsrei­
che, noch u n ter M itw irkung von Karl L am p recht begründete Sem in ar für Landesgeschichte und
Siedlungskunde in den D ien st der nationalsozialistischen W eltansch auun g stellen w ollte“. S ch le­
singer lehnte es ab, unter nationalsozialistischen und rassenkundlichen V orzeich en „die von H el­
brok eingeschlagene R ich tu n g ein er ,V olksforsch un g‘ “ m itzum ach en. W issen sch aftlich e R e c h t­
schaffenheit galt ihm m eh r als b erufliche Karriere. Seit 1 9 4 0 war er Soldat. „K ritisch e Ä ußerun­
gen über die deutsch e K riegsführung und ihre Z iele in ein em von der Z en su r abgefangenen
Feld postbrief b rach ten ihm ein Kriegsgerichtsverfahren ein. In einer Strafkom panie erlitt er eine
schw ere V erw undung. N ach der Entlassung aus der W eh rm a c h t kon n te er im W intersem ester
1 9 4 4 / 4 5 die L ehrtätigkeit an der im Bo m b en krieg zerstörten U niversität Leipzig aufnehm en. Er
b em üh te sich um den W ied eraufbau des zerstörten Institu ts, bis er im N ovem ber 1945 wegen
seiner ... Parteizu gehörigkeit entlassen wurde“ (Schulze, W a lter Sch lesing er (wie A nm . 135), 228).
Z u m Lebensgang und w issenschaftlichen Lebensw erk Sch lesingers vgl. neuerdings auch H an s
Patze, Erinn erun gen an W a lter Sch lesing er, in: A usgew ählte Aufsätze von W alter Schlesinger
1 9 6 5 -1 9 7 9 (Vorträge u. Forsch un gen 34, Sigm aringen 1 987) I X - X X V I I I . - D er T ü b ing er M ediä­
vist H einrich D ann en b au er war gleichfalls vor der M achtergreifung der Partei beigetreten. Die
Pflege n ationaler G esin n u n g hatte im evangelischen Pfarrhaus O berfrankens, aus dem er kam ,
Tradition. E in e W ied erau fnah m e seiner L ehrtätigkeit nach der Eröffnung der Universität T ü b in ­
gen im H erbst 1945 blieb ihm zunächst verwehrt. U n ter D eutsch lan ds M ediävisten war H einrich
D ann en bauer der einzige, der m it bem erkensw erter Z ivilcourage öffentlich den w issenschaftli­
chen und w issenschaftsorganisatorischen Z um utungen der Partei w idersprochen hatte (vgl.
Schreiner, Fü hrertum , Rasse, R eich (wie A n m . 6), 1 8 6 -1 9 0 ). - G eg en die K oin zid en z von o b je k ti­
vistischem W issenschaftsideal im Sin ne des H istorism us und p olitischer A npassung spricht auch
die Biographie H erb ert G run dm ann s (1 9 0 2 -1 9 7 0 ). U n ter d enen, die im März 1933 das „Be­
kenn tn is der Professoren an den deutsch en U niversitäten und H och sch u len zu A d olf H itler und
dem nationalsozialistischen Staat“ U nterzeichneten, befin d et sich auch der N am e „D r. H erbert
G run dm ann “. „W ed er er n o ch seine L eh rer waren Parteigenossen, und obw ohl er sich politisch
n ich t engagierte, w irkte sein geleh rter Stand punkt auch politisch. E r wagte es, die ideologisch­
ausschw eifende E ck h art-In terp retatio n des m ächtigen E rich Seeberg anhand des E ckh arttextes
zu kritisieren und erh ielt die m assive Erw iderung: ,Sind eigentlich derartige Erzeugnisse einer
nun einm al w irklich der Substanz nach reaktionären W issen schaft, die sich m it dem V orbringen
von Ladenhütern erschöpft, n o ch im m er E m pfeh lu ngen für Berufungen oder Beförderungen
(N S-M onatsh efte Jg . 8, H. 8 7 , 19 3 7 , S. 3 9 5 ...)“ (Borst, G rundm ann (wie A n m . 124), 7).
146
K laus S ch rein er
gen läßt abschließend nur die M öglichkeit offen, an geschichtstheoretische Selbstver­
ständ lich keiten zu erinnern. D ie W iederherstellung einer geschichtlichen Tatsache
die als w issenschaftlich gesichert gelten kann, ist ein kom plexer Vorgang, an dem ver­
schiedene Faktoren beteiligt sind: persönliche V orlieben, Erfahrungen und Interessen
zeit- und standortgebundene Vorverständnisse, bewährte M ethoden und sachlich an­
gem essene Erklärungsbegriffe, die Zugehörigkeit zu einer K om m unikationsgem ein­
schaft, deren M itglieder von Berufs wegen kritische Diskurse pflegen, gedankliuic
Freiräum e politischer System e und nicht zuletzt ideologieresistente Wriderständigkeiten des historischen G egenstandes selbst.
Eine M etatheorie über den Parteien, die m it sibyllinischer W eish eit den Streit der
Interpreten schlich tet, ist noch nicht gefunden und wird sich nach Lage der Dinge
auch nicht finden lassen. M achbar und m öglich erscheinen quellengestützte und m e­
thodisch überprüfbare A nnäherungsversuche an den historischen Gegenstand. M it ei­
nem solchen U nterfangen verbindet sich zugleich die A ufgabe, innerhalb des herm e­
neutischen Zirkels das m ethod isch-theoretische Handwerkszeug so zu verbessern, daß
begründeter gesagt werden kann, was innerhalb tolerabler Spielräum e richtig, halb­
wahr oder falsch ist.
Herwig Wolfram
G eschichte Österreichs vor seiner Entstehung
D ie A u s e in a n d e rs e tz u n g zw isch e n R e g io n a lg e sc h ic h te u n d d e n
b a y e ris c h -ö s te rre ic h is c h e n L a n d e sg e sc h ic h te n
In der Aussendung vom 3. April 1986 stand zu lesen, ich werde über die „W ege der
Landesgeschichte, insbesondere der bayerischen“ referieren. Selbstverständlich habe
ich m ich gegen diese Vorgabe heftig zur W ehr gesetzt: Einm al bin ich nicht lebens­
müde, als Ö sterreicher darüber in der bayerischen M etropole, noch dazu „in Zeiten
wie diesen“, zu reden. Z um ändern bin ich kein Landeshistoriker und habe auch nicht
die A bsicht, einer zu werden. W er aber dies werden m öchte, m uß sich im bayerisch­
österreichischen Raum sofort entscheiden, welche von vielen Landesgeschichten er
wählt. Es gibt zwar eine K om m ission für bayerische Landesgeschichte der M ünchener
Akademie der W issenschaften, und eine um fangreiche Zeitschrift für bayerische Lan­
desgeschichte erscheint seit 1928 in beneidensw erter U m fänglichkeit, Regelm äßigkeit
und Pünktlichkeit. B ekannt ist das vierbändige, tatsächlich sechsbändige „Handbuch
der bayerischen G esch ich te“, das derzeit im deutschsprachigen Raum wohl nur in der
m onum entalen G esch ichte Thüringens ein G egenstück besitzt. W ährend aber Thürin­
gen ein Land war und in unserer Vorstellung im m er noch eines ist, versteht sich das
deutsche Bundesland Bayern als Staat. Und so setzt die bayerische Landesgeschichte
in W irklichkeit die Tradition der ,A llgem ein en Staatengeschichte“ fort, die um die
Jahrhundertw ende Karl Lam precht in drei A bteilungen herausgegeben hat. Das für
Österreich w ichtigste W erk dieses U nternehm ens war Max Vancsa, G eschichte N ie­
der- und O berösterreichs (G otha 1905), das in der III. A bteilung: D eutsche Landesge­
schichten, herausgegeben von A rm in Tille, erschien. D ie von W alter Schlesinger und
Hans Patze entw orfene und verfaßte „G eschichte Thüringens“ will hingegen Landes­
geschichtsschreibung sein, war doch Patze fünfzehn Jah re H erausgeber der Blätter für
deutsche L and esgeschichte1. H ingegen deckt die G esch ichte Bayerns die der einstigen
wie der derzeitigen bayerischen Länder - sprich: Regierungsbezirke - zu, wogegen
sich diese allerdings seit Jah rzeh n ten kräftig zur W eh r setzen. Dies beweisen etwa das
seit 1935 erscheinende .Jah rb u ch für fränkische Landesforschung“ (Universität Erlan-
1 H a n s Patze, N achw ort des H erausgebers, in: Blätter für deutsch e Landesgeschichte 121 (1985)
7 9 7 f. Aus sein er S ic h t ist es verständlich, daß Patze dem „heute in M ode gek om m en en Begriff
,R eg io n a lg esch ich te '“ n ich t viel abgew innen kann.
148
H erwig W olfram
gen) sowie die jüngeren, m arkig-m ilitant klingenden „O stbairischen Grenzm arken“
seit 1957. Kräftig rührt sich auch Schw aben, und zwar sowohl m it H ilfe der Augsbur
ger U niversität wie einzelner A rchive, wie etwa die A ktivitäten des Stadtarchivs von
M em m ingen zeigen.
Die w issenschaftsorganisatorische Situation östlich von Inn und Salzburg unter­
scheidet sich in einem Punkt grundlegend von der Bayerns: Eine K om m ission für
österreichische Landesgeschichte samt entsprechenden Publikationsorganen würde
theoretisch m ißverständlich wirken, ist aber - zum indest derzeit - tatsächlich undenk­
bar. D ie einzelnen Bundesländer haben an A rchiven und Universitäten - die Archive
sind nich t bloß des A lphabets wegen zuerst gen an n t 2 - erfolgreiche und traditionsrei­
che Forschungsstellen zur Landesgeschichte. Es gibt um fangreiche Darstellungen der
einzelnen Kronländer, aber auch bereits eine erfreulich große Zahl m oderner Landes­
geschichten. M anche von ihnen sind einbändige Ü berblicksdarstellungen3, manche
m ehrbändig, gleichsam als G egenstück zur bayerischen Landesgeschichte entw orfen4.
W ie für dieses W erk wurden m ehrere Verfasser gew onnen, um jeweils ihre Fachge­
biete zu behandeln; doch stam m t die eindrucksvolle fünfbändige „G eschichte Vorarl­
bergs“ von einem einzigen A utor5. Den größten Erfolg verzeichneten bisher die Salz­
burger und die T iroler G esch ichte, obwohl von der Salzburger nur der m ittelalterliche
T eil vorliegt. D ie Organisation der „G eschichte des Landes T irol“ läßt m it gutem
Grund verm uten, daß sie am schnellsten ihr gestecktes Z iel erreichen wird, näm lich
gleich dem bayerischen H andbuch die D arstellung von den A nfängen bis 1970. Aber
eine gesam tösterreichische G eschichte, die an U m fang und W issenschaftlichkeit der
bayerischen vergleichbar wäre, gibt es derzeit n ich t; sie wird auch nirgends ernstlich
geplant. Außerdem m üßte man sich heute fragen, ob die „bayerische Lösung“ auf
österreichische V erhältnisse übertragbar ist und, wenn ja, ob sie m oderne Ansprüche
noch erfüllt.
A m 4. Februar 1959 wurde von der Ö sterreichischen A kadem ie der W issenschaften
die K om m ission für die G esch ichte Ö sterreichs eingesetzt0. A lphons Lhotsky, der Be­
gründer der K om m ission, wurde 1967 ihr erster A utor. In diesem Jahr, wenige M o­
nate vor seinem allzu frühen Tod, veröffentlichte er den ersten T eil eines geplanten
zweiten Bandes einer „G eschichte Ö sterreichs“ und behandelte darin die rund sieben
Jah rzeh n te zwischen 1281 und 1 3 5 8 7. D ieser Teilband bildet zugleich die erste und
auf lange Z e it hin einzige V eröffentlichung der genannten K om m ission, deren Auf­
gabe es ist, „die unvollendete G esch ichte Ö sterreichs, die A lfons H uber 1895/96 in
2 Alphons Lhotsky, Ö sterreich isch e H istoriographie (W ien 1962) 2 1 9 f.
3 K a r l Gutkas, G esch ich te des Landes N ied erösterreich (St. P ölten 61983).
4 G esch ich te Salzburgs. Stadt und Land, hrsg. I ie in z Dopseh und H a n s Spatzenegger, Bd. 1, 1., 2.
und 3. (Salzburg 1981/84). Bd. 1,1 erschien 1 9 8 3 in 2. A uflage. G esch ich te des Landes Tirol,
Bd. 1 -3 (B ozen , W ien , 1 9 8 5 -1 9 8 7 ). D er 4. Band ersch ein t d em nächst.
5 Benedikt Bilgeri, G esch ich te V orarlbergs, Bd. 1 -5 (W ien 1971/87).
6 Sieh e etwa A lm anach der Ö sterreich isch en A kad em ie der W issen schaften 135 (19 8 5 ) 200.
7 A lphons Lhotsky, G e sch ich te Ö sterreich s seit der M itte des 13. Jah rh u n d erts. 1 2 8 1 -1 3 5 8 (V eröf­
fen tlich u n gen der K o m m issio n für G esch ich te Ö sterreich s der Ö sterreich isch en A kad em ie der
W issen sch aften 1, W ien 1967).
G esch ich te Ö sterreich s vor sein er E n tsteh un g
149
fünf Bänden bis zum W estfälischen Frieden herausbrachte und die Oswald Redlich in
zwei Bänden 1921/38 bis Maria Theresia 1740 fortsetzte, m öglichst bis in die G egen­
wart herauf zu führen. D abei sollten auch die ersten fünf Bände Hubers redigiert wer­
den. D er von Lhotsky herausgebrachte Teilband war als M uster und Beispiel ge­
dacht .“8 Lhotskys W erk um faßte 403 Seiten, so daß H erm ann W iesflecker m it R echt
bem erkte: „W enn man für das Gesam tw erk diese A rt M ikroskopie beibehält, die den
zweiten H uber-Band auf drei ebenso große Teilbände vergrößert, so würden aus den
sieben vorhandenen H uber-R ed lich-B änd en zwangsläufig achtzehn bis zwanzig neue
Bände nötig werden; dam it wäre aber erst das Ja h r 1740 erreicht .“9
Niemand wird sich der Eigenart und vor allem U nnachahm lichkeit der Persönlich­
keit Lhotskys verschließen. Sein W erk war von jeh er nicht bloß von tiefster W issen­
schaftlichkeit, sondern auch derartig „subjektiv“ geprägt - gerne gebrauchte er den
Ausspruch: „Subjektiv kann nur ein Su bjekt sein“ - , daß der von ihm geplante „Mu­
sterband“ alles andere denn als solcher gelten konnte. So bem erkte schon Hans W ag­
ner m it R ech t in seiner R ezension : „Nach dem Tode Lhotskys ist ohnehin niemand
m ehr imstande, das W erk in seinem Sinn fortzusetzen, da es ganz auf seine so einzig­
artige und eigenwillige Forscherpersönlichkeit abgestim m t ist. W ir müssen uns also
m it dem B ruchstück abfinden und froh sein, wenigstens dieses zu besitzen .“ 10 Z u ­
gleich reagierte der R ezensent m it dieser Bem erkung auch auf die - wohl als Polem ik
überschätzte - Feststellung W iesfleckers: „Was allen österreichischen Gesamtstaatsgeschichten bisher fehlte, fehlt auch diesem W erk: E in e stärkere Berücksichtigung der
G eschichte der einzelnen Länder. Das Herzogtum Ö sterreich im engeren Sinn tritt
gewiß stark genug hervor; bei der H auptstadt W ien geh t es m itunter bis zur Straßenund Häusergenauigkeit. D ie übrigen österreichischen Länder, auch jene, die während
der behandelten Z eiten zur H errschaft Ö sterreichs gehörten, sind nur als O bjekte der
Dynastie und kaum als selbständige politische Lebewesen behandelt.“ Ebenso erfaßte
W iesflecker, daß Lhotskys W erk „weit m ehr als H uber dynastisch aufgebaut war, was
heute vielleicht nich t m ehr ganz zu überzeugen vermag“ 11. D ieser W iderspruch wirkt
um so auffälliger, als Lhotskys G esam tkonzept „ganz auf den gegenwärtigen Staat ein­
gestellt (war). W ar es Hubers Darstellungsstil gewesen, die österreichisch-ungarische
M onarchie zu erklären und alle geschichtliche Entw icklung, einer geopolitischen Prä­
destination folgend, darauf auszurichten, so wollte Lhotsky sein W erk auf die junge
Republik abstim m en; vor allem insoweit, als er sein W erk auf den Territorienkom plex
beschränkte, ,der sich im Laufe des M ittelalters durch spontane Konvergenz der Land­
schaften in w eitgehender Identität m it der politischen Gestaltungskraft dreier Dyna­
stien (Habsburg, W ittelsbach, Luxem burg) zu einer lebenskräftigen E inheit entwikkelte, die über zahllose K risen hinweg ihre D aseinsberechtigung bewiesen hat1, eben
8 H erm ann Wiesflecker, in: Z eitsch rift des H istorischen V ereines für Steierm ark 6 0 (19 6 9 ) 315.
Z u Pittioni siehe unten A n m . 14.
9 Ebend ort 3 1 7 .
10 H a n s Wagner, in : M itteilun gen des Ö sterreich isch en Staatsarchivs 22 (1 9 6 9 ) 399.
11 Wiesflecker, in : Z eitsch rift des H isto risch en V ereines für Steierm ark 6 0 (1 9 6 9 ) 316.
150
H erw ig W olfram
auf die Republik Ö sterreich der Gegenwart, die nichts anderes als das nur wenig m o­
difizierte Haus Ö sterreich der Z eiten K aiser Friedrichs III. darstellt.“ 12
D ie Problem atik einer österreichischen G esch ichte, die das Spätwerk Lhotskys auf­
brechen ließ, war selbstverständlich schon A lfons H uber vertraut. E r verstand „Ö ster­
reich als einen kü nstlichen Bau“, dessen G estaltung innig m it der G esch ichte der D y­
nastie verbunden war. H uber stellt die Ü berlegung an, ob man eine G esch ichte Ö ster­
reichs n ich t erst im Ja h re 1526 beginnen lassen soll, da durch die Vereinigung B ö h ­
m ens und Ungarns m it den deutsch-österreichischen Ländern die österreichische
M onarchie entstand. E r verwarf jed och diesen G edanken und stellte fest, daß „der G e ­
schichtsschreiber sein W erk nicht erst m it diesem Ja h r beginnen dürfe. W er die E n t­
w icklung Ö sterreichs seit 1526 verstehen will, der m uß tiefer eindringen, m uß zu er­
gründen suchen, wie die Einzelstaaten, w elche damals zu einer losen E in heit verbun­
den wurden, entstanden und fortgebildet worden sind. D aher beginnt die G esch ichte
Ö sterreichs im zehnten Jahrhundert, wo sowohl in Ungarn und Böhm en geordnete
einheitlich e R eich e entstanden sind, als auch die bayerische O stm ark oder Ö sterreich
gegründet worden ist, an welche sich nach und nach im Laufe m ehrerer Jahrhunderte
die übrigen südostdeutschen Länder angeschlossen haben.“ Darüber hinaus hielt es
H uber für notwendig, „der G eschichte Ö sterreichs wenigstens in großen Zügen eine
V orgeschichte vorauszuschicken, die von den ältesten Z eiten bis ins zehnte Ja h rh u n ­
dert reich t“ 13. D ie fünf Bände Hubers um fassen fast 3 0 0 0 Seiten. D er erste Band, der
6 1 8 S eiten zählt, behandelt auf 129 Seiten diese „V orgeschichte“.
Bis heute konnte die K om m ission für die G esch ichte Ö sterreichs weder Hubers
noch Lhotskys Erbe aufarbeiten. Es besteht - nach der letzten Planungsrevision von
1980 - die A bsicht, eine elfbändige G esch ichte Ö sterreichs von den A nfängen bis zur
Gegenw art herauszubringen. W ährend der danach erschienene erste Band, der die U r­
gesch ichte behandelt, einen einzigen A utor b esitzt14, soll der dem Zeitraum von 910
bis 1246 gewidm ete vierte Band von nicht w eniger als 17 A utoren verfaßt werden. Bis
heute kon nte diese Buchbinder-Synthese nicht erscheinen, obwohl zahlreiche Beiträge
bereits seit m ehreren Jah ren fertig sind. D ie K onsequenz aus dieser Misere m üßte eine
radikale Neuplanung sein; denn daß wir heute eine m oderne „G eschichte Ö sterreichs“
dringender denn je brauchen, steht außer Zweifel.
Das K olloquiu m fand zum T hem a „D eutsche G eschichtsw issenschaft nach dem
2. W eltkrieg (1 9 4 5 -1 9 6 5 )“ statt. D er vorliegende Beitrag fällt diesbezüglich sowohl
sachlich wie zeitlich aus dem Rahm en. Das Ja h r 1945 bedeutete freilich insofern eine
Zäsur, als es nun wieder eine Ö sterreichische G esch ichte gab, für die es m oderner
D arstellungen bedurfte oder, genauer, bedurft h ätte15. H ingegen wurde die landesge-
u Ebendort 3 1 6 sowie Lhotsky, G eschichte Ö sterreichs, 5 f.
13 A lfons Huber, G eschichte Österreichs, Bd. 1 (G otha 1885) V if.
14 R ichard Pittioni, G eschichte Ö sterreichs, Bd. 1, 1 und 2 (Veröffentlichungen der K om m ission
für die G eschichte Ö sterreichs der Ö sterreichischen Akadem ie der W issenschaften, W ien 1980).
15 Sym ptom atisch dafür steht Hugo Hansch, Die G eschichte Ö sterreichs, Bd. 1 (Innsbruck 1937)
sowie Bd. 1 (Graz ^1 9 4 7 ) und Bd. 2 (Graz 1 9 5 0 ) sowie Bd. 2 (Graz 21953). D er erste Band erlebte
1 9 5 9 noch eine 4. Auflage, der zweite Band 1962 eine 3. Auflage.
G esch ich te Ö sterreich s vor sein er En tsteh u n g
151
schichtliche Forschung ohne U nterbrechung fortgesetzt. M it A usnahm e Vorarlbergs
utld des Burgenlandes hatten die österreichischen Bundesländer als Reichsgaue des
Großdeutschen R eich es fortbestanden, wenn auch die nationalsozialistischen M acht­
haber überall - abgesehen von Salzburg - größere oder kleinere Grenzkorrekturen
vorgenommen hatten. D ie restaurativen Ström ungen nach 1945 kam en der Landesge­
schichte entgegen, wobei die bereits vor dem K rieg entw ickelten m ethodischen und
them atischen A nsätze aktuell blieben, und zwar nicht zuletzt deswegen, weil sie von
denselben Personen vertreten wurden. A ller O rten war man der M einung, daß „unsere
W issenschaft die G esch ichte des V olkes pflegt“ 16, welches das Land ist. Diese Auffas­
sung stützte sich besonders auf O tto Brunners „Land und H errschaft“, auf ein Buch,
das in erster Auflage bereits 1939 erschienen war. D er A utor wendet sich darin gegen
die herköm m liche etatistische Betrachtungsweise des Landes, wie sie die josefinische
Tradition in Ö sterreich und die von M ontgelas in Bayern vertritt und vertrat. Brunner
betont das Personalprinzip, er spricht vom populus, von den politisch handlungsbe­
rechtigten M enschen, die viel eher das Land, die patria, m achen als von ihm gem acht
werden. In seinem System löste der Begriff „H errschaft“ den des Staates ab. Es mag
uns Heutigen nur scheinbar paradox erscheinen, daß Brunner seine Vorstellungen m it
der nationalistischen Führerideologie verbinden k o n n te 17.
Nach 1945 besann man sich jed och nicht nur auf das Land, sondern auch auf die
Familie, die in vielen Fällen soeben das physische Ü berleben erm öglicht hatte. K ein
W under, daß es zu einer Spätblüte der besitzgeschichtlich-genealogischen Methode
unter den Landeshistorikem kam. D ie darauf eingeschw orenen Schulen diesseits wie
jenseits des Inns sind stark hilfsw issenschaftlich orientiert; sie stützen sich auf urkund­
liche Q uellen, angefangen von den agilolfingerzeitlichen und karolingerzeitlichen Cartae und Traditionsbüchern bis herauf zu den Privaturkunden des Spätm ittelalters. V ie­
len dieser A rbeiten werden grundlegende K enntnisse über die Internationalität oder,
besser, Interregionalität der Führungsschichten des Frankenreichs und m ittelalterli­
chen Im perium s verdankt. A uch bilden die landesgeschichtlichen Forschungen die
Voraussetzung für Besitz- und Siedlungsgeschichte, Institutionen- und Verfassungsge­
schichte. Allerdings stellen derartige Veröffentlichungen m itunter eine m ühsame Lek­
türe dar. So etwa: Ein R upert erscheint mit einem Ratpert 838 in C hiem ing und mit
ihm ein Trudpert 8 2 9 in Pfaffing. Beide Male wird an das K loster Chiem see ge­
schenkt. Also sind die drei Brüder und stehen Chiem see nahe. Und so erscheint in je ­
der Z eile irgendjem and m it irgendjem andem „vergesellschaftet“, wie der Fachaus­
druck heißt, bis ein ganzes G eisterheer von Verwandten erscheint. Nun darf man sich
doch fragen, was Verw andtschaft im historischen Sinne bedeutet. Verwandte verhalten
sich zueinander wie andere M enschen auch; die A useinandersetzung der beiden V et­
tern ersten Grades, Karls des G roßen und Tassilos III., wurde bis zum bitteren Ende
ausgetragen; zwischen dem Frankenkönig und seinem jüngeren Bruder Karlm ann II.
16 Franz Schnabel, Z u m Geleit, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 8 8 (1951) 3.
17 Siehe die ausführliche Behandlung O tto Brunners durch Klaus Schreiner in diesem Band.
Frantisek Graus, Verfassungsgeschichte des Mittelalters, in: H Z 2 43 (1 9 8 6 ) bes. 5 4 3 f., 547 m it
Anm . 50, sowie 5 6 7 f.
152
Herwig W olfram
kam es nur deswegen nich t zum offenen K o n flik t, weil letzterer rechtzeitig starb.
N icht erst heute geschehen die m eisten Blutverbrechen innerhalb der Fam ilie. Die
m it A lliteration, N am ensrhythm us und Namensvariation arbeitende Forschungsrich­
tung - Idealtypus: H eribrand, H ildebrand, Hadubrand: Großvater, Vater, Sohn - gerät
auch leich t in Gefahr, in Beziehungswahn zu verfallen und H elena in jedem W eibe zu
sehen. In m anchen D arstellungen entstehen K arrieren von beträchtlicher Intensität
und W iderstandskraft, die selbst durch eine kleine H inrichtung des Betreffenden
nicht unterbrochen, geschweige denn beend et w erden18. A uch müssen aus m anchen
genealogischen Forschungen interessante K onsequenzen gezogen werden, etwa von
der A rt, daß der Großvater Theoderichs des G roßen schon m it zehn Jah ren gestorben
is t19. W enn nicht der Eindruck trügt, so ist die personengeschichtliche Forschung der­
zeit entweder in einer radikalen U m gestaltung - siehe Karl Schm id und sein K reis in
Freiburg - oder im Rückgang begriffen.
Fällt das Ja h r 1945 als Zäsur, so bildet eher schon das Ja h r 1965 eine solche, wenn man
bedenkt, daß jeweils der erste Band des bayerischen H andbuchs wie der G eschichte T h ü ­
ringens 1967 beziehungsweise 1968 erschienen. D ie Salzburger G eschichte hat man
1969 begonnen, wenn auch der M ittelalter-Band - tatsächlich ein dreibändiges W erk erst 1981/83 herauskam. D ie erste Auflage von Erich Z öllners „G eschichte Ö sterreichs“
von 1961 verkörpert als einbändiges Lehrbuch ein Genus der G eschichtsdarstellung, das
hier außer Betracht bleiben muß, fällt aber auch in diese Zeit.
Im Jah re 1977 veröffentlichte M ichel R ou che seine Thèse d’état „L’A quitaine des
W isigoths aux Arabes. 4 1 8 - 7 8 1 . Naissance d’une région“. Dieses Buch behandelt die
G esch ichte eines G ebiets von ungefähr 177 0 0 0 km 2 in der Z eit von 418 bis 7 81. „Die
E in heit dieser Länder (de ces pays) ist weder durch eine G leichförm igkeit der Bevölke­
rung noch durch natürliche G egebenheiten, sondern durch die G esch ichte bedingt.“20
R ouche findet eine auffallende „originalité de la civilisation rom aine d’A quitaine“ und
spricht von einem „phénom ène aquitain“21. Selbstverständlich erhielt M ichel Rouche
schlechte K ritik von den „Franken“ aller Länder und Sprachen. Sicher hat M ichel
R ouche des G uten zuviel getan und den fränkischen Einfluß bei der E ntstehung der
m ittelalterlichen nationes et patriae unterschätzt. A b er 1985 konnte R ou che in Rouen
den Fortbestand einer anderen Patria darstellen, näm lich Neustriens, bis diese E in heit
durch die Feudalisierung des Landes aufgelöst wurde22.
18 Siehe etwa J . R. M artindale, The Prosopography of the Later R om an Em pire, Bd. 2 (C am ­
bridge 1 9 8 0 ) 8 8 6 s .v . Pitzias, dessen Karriere hier bis 5 2 3 /2 6 dauert, obwohl er 5 1 4 auf Befehl
T heoderichs des Großen hingerichtet wurde: Vgl. Herwig Wolfram, G eschichte der G oten (M ün­
chen 21 9 8 0 ) bes. 3 6 4 f. m it A nm . 15.
19 Es würde zu weit führen, im einzelnen die V ersuche anzuführen, m it der A m aler-G enealogie
auf einen grünen Zw eig zu kom m en. Setzt man aber, wie es öfters geschieht, den Vinitharius der
Jordanes-Ü berlieferung m it dem Videricus der A m m ianus Marcellinus-Tradition gleich, dann
folgt daraus der im T e x t gebotene Schluß.
20 M ichel Rouche, L’Aquitaine des W isigoths aux Arabes. 4 1 8 - 7 8 1 Naissance d’une région (Paris
1977) 12.
21 Eb end ort 46 1 .
22 M ichel Rouche, Atlas historique. La Neustrie (éditée par Patrique Perin et Laure-Charlotte Fef-
fer, R ouen 1 985) 4 3 1 ff.
G esch ich te Ö sterreich s vor seiner En tsteh u n g
153
W ie dem auch sei, die Erforschung und Darstellung einer Region birgt die enorm e
M öglichkeit, die etatistisch-retrospektive Betrachtungsweise zu überwinden und so die
G e sc h ic h te eines Raum s vor seiner m odern-staatlichen Erfassung zu schreiben. Für ei­
nen H istoriker, der den Übergang von der Spätantike ins Frühm ittelalter untersucht
u n d dabei auf die Bedeutung der Patriae stößt, besitzt der regionale Ansatz den W ert
und die Bedeutung, die Reinhard W enskus 1961 m it seinem Buch „Stam m esbildung
und Verfassung“ fü r die G esch ichte der frü h m itte la lte rlic h e n G entes hatte. Freilich
gibt es keine lineare Kausalität. Etwa das Fürsterzbistum Salzburg, das politische T e r­
rito riu m und das heutige Bundesland folgen nicht zwangsläufig aus der G eschichte
des Stadtbezirks von Iuvavum und seines keltischen Vorläufers, ja nicht einmal aus
dem Salzburggau der Z eit Ruperts bis Virgil. Es hätte im m er auch ganz anders kom ­
men können. A ber entscheidend blieb das Ja , das in einem bestim m ten Raum zu den
überkom m enen Patriae gesprochen wurde. Ihre G esch ichte kann nur von überregio­
nalen Ansätzen her erforscht werden. Eine bloß landesgeschichtliche oder staatenge­
schichtliche Betrachtungsw eise wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt. Erst das
Zusam m enwirken von regionalen wie überregionalen Fragestellungen erlaubt es, m it
den Nachbarn über die gem einsam en Ursprünge ins Gespräch zu kom m en. Und dann
kann man sich etwa m it den K ollegen in Laibach-Ljubljana darüber verständigen, daß
die slawischen Karantanen noch keine Slowenen waren und daß ihr O berhaupt nicht
ein fränkischer H erzog -heritogo, sondern ein slawischer Fürst -knez war23. D ann müßte
es aber auch kein Problem sein, in einem Berliner „M useum der deutschen G e­
schichte“ den gesam ten deutschsprachigen Raum wie seine Nachbarräum e entspre­
chend darzustellen, ohne ein „besonderes Verhältnis“ zu den Ö sterreichern herzustel­
len, die D eutschschw eizer aber auszulassen. Eine Vorgangsweise, die um so weniger
berechtigt ist, als die Schw eizer Souveränität völkerrechtlich auch erst 1648 anerkannt
wurde.
W enn man aber die G esch ichte der heutigen europäischen Staaten und Nationen
auf wenige G enerationen beschränkt, dann überläßt man die „V or-G eschichte“ den
Ideologen der harm losen wie sicher auch der weniger harm losen Art. V ielm ehr soll
die H istorie dazu beitragen, daß wir in Europa - unbeschadet der staatlichen Zugehö­
rigkeit - im U m gang m it der Vergangenheit falsche K ategorien verm eiden und die
G eschichte unverkürzt annehm en. Und dazu gehört etwa auch, daß man in Ö sterreich
die G eschichte derjenigen politischen Einheit, die jeweils in der V ergangenheit Ö ster­
reich hieß, nicht zum N achteil der G eschichte der anderen Bundesländer dom inieren
läßt. Dazu besteht um so weniger Anlaß, als die Vorläufer m ancher Bundesländer im
Frühm ittelalter längst schon größere Bedeutung und eine stärkere eigenständige poli­
tische Tradition besaßen als das - erst im Laufe des H ochm ittelalters auf drei Fünftel
N iederösterreichs angewachsene - Ostarrichi. Mutatis mutandis gilt das gleiche für das
Verhältnis von A ltbayem gegenüber den schw äbischen und fränkischen Regierungs­
bezirken.
Daß sich wertvolle Traditionen und deren Träger trotz aller Zerstörungen und n o t­
wendigen Veränderungen halten konnten, weil es M enschen gab, die dies so wollten
23 Herwig Wolfram, Conversio Bagoariorum et Carantanorum (W ien 1979) 75 ff., 81 ff. und 9 7 ff.
154
H erw ig W o lfram
und in verfaßten O rdnungen verankerten, verm ittelt A uskunft über das W o h er und
W ohin und dam it H offnung für die Zukunft. D ie kulturgeschichtlichen A usstellun­
gen der letzten Jah re dürften ihren großen Zuspruch gerade diesem Verlangen der B e­
sucher verdanken. Seien dies nun die Staufer, die W ittelsbacher, die Preußen, die
H absburger und Babenberger, die K uenringer, Erzherzog Jo h an n , Rupert oder Virgil
oder das Land Steierm ark gewesen, die M enschen suchten das W erden ihrer H eim at,
ihres Landes, die W urzeln ihrer Identität; sie suchten: roots, ja vielleicht sogar die A n t­
wort auf die Frage W althers von der Vogelw eide: wie man zer weite sollte leben24. Und
gerade dabei hat der H istoriker die Chance, sein Publikum vor Verfälschungen zu war­
nen. So wird auf der Suche nach den „W urzeln“, wie etwa die gegenwärtige B egeiste­
rung für die keltische H erkunft nich t nur auf den britischen Inseln und in der Bre­
tagne lehrt, die Besonderheit der antiken und frühm ittelalterlichen Stam m esbildun­
gen übersehen und kurzschlüssig durch m oderne und m odernste Bezüge anachroni­
stisch entwertet. A llerdings, der M ensch hat G esch ichte und kann sich daher seine
Vorfahren auswählen, w enn er will, sie sogar selber m achen. Und das gilt heute aller­
orten, besonders auch in Bayern und in Ö sterreich, für die K elten. „Von deren N ach­
kom m en in der Bretagne, W ales und Irland droht eben weder A nschluß noch K rieg;
die K elten th ese paßt dem nach besonders gut zur österreichischen N eutralität“, wie
dies E rich Z ö lln er 1976 form ulierte25.
Das Program m einer R egionalgeschichte will die herköm m liche Landesgeschichte
nicht bekäm pfen oder gar herabsetzen. D er regionalgeschichtliche Ansatz versteht
sich vielm ehr als Synthese und V erm ittlung neuartiger Betrachtungsw eisen und Fra­
gestellungen, die unter den verschiedensten G esichtspunkten an die G eschichte einer
Region herangetragen werden. Selbstverständlich müssen Regionalgeschichten auch
spätere E pochen als die der V or-G eschich te und E ntstehung behandeln. In Europa
kann sich die Regionalgeschichte grundsätzlich in zwei B ereichen entw ickeln: a) für
einen T eil eines heutigen Staates; b) m ehrere Staaten um fassend oder zum indest über
die heutigen Staatsgrenzen hinausgreifend. D abei m uß jeder revisionistische U nterton
verm ieden werden. D ie G leichberechtigung der verschiedenen Identitäten und ihrer
V ergangenheit ist aufs genaueste zu wahren. K ann doch die Regionalgeschichte Z eit
und Raum entsprechend den historischen G egeben heiten aufarbeiten und m uß keine
politischen System e, Länder und Staaten der Gegenw art rechtfertigen. In den her­
k öm m lichen Landesgeschichten besteht im m er noch die Gefahr, daß die K ategorien
der Z e it und dam it des W erdens und V ergehens verküm m ern. W enn man auch heute
nichts dagegen hat, einm al geworden zu sein, der G edanke, einm al vergehen zu m üs­
sen, stößt weder in der breiten Ö ffentlichkeit noch bei den Politikern auf viel V er­
ständnis. W ie es eine teleoskopische Betrachtungsweise in den Origines gentium gibt,
2i W alther von der Vogelweide L. 8, 10.
25 Erich Zöllner, Zusam m enfassung, in: V orträge und Forschungen 25 (Sigmaringen 1979) 257.
Im Spätherbst 1 9 8 6 gab es große Aufregung in Irland über die G en-U ntersuchungen von Profes­
sor W oo d m an , der als A rchäologe behauptete, der irische „gene-pool“ sei vorkeltisch geprägt.
Die M itteilung darüber und die entsprechenden Presse-Berichte verdankt der A u tor H errn Dr.
Harald Krähwinkler, derzeit Dublin.
G esch ich te Ö sterreich s vor sein er En tsteh u n g
155
so verkürzt der m oderne Landeshistoriker, der nicht selten von der Gegenwart aus­
geht, m itunter die chronologische D im ension. D ie G esch ichte ereignet sich aber in
Raum und Z eit, und eine zeitlich begrenzte Regionalgeschichte kann die Synchronie
schon vom Ansatz her nicht zugunsten einer an sich w ichtigen D iachronie verküm ­
mern lassen. U m dieses Program m zu erfüllen, bedarf es jedoch zweierlei: Erstens
müssen kreative A utoren den M ut haben, eine bestim m te E poche eines gegebenen
Raums von verschiedenen A spekten her zu gestalten. Eine enzyklopädische A ufsplit­
terung nach Sachgebieten m it anschließender Buchbinder-Synthese wird das gesteckte
Ziel nicht erreichen, daß ein historischer A utor m it einem historisch interessierten L e­
ser ein m otiviertes und m otivierendes Gespräch führt. N icht unm öglich, daß man um pro dom o zu sprechen - sich heute nur des Gründungsauftrags des Instituts für
österreichische G eschichtsforschu ng besinnen m üßte, ohne ein Jo ta an W issenschaft­
lichkeit aufzugeben26. Zw eitens aber bedarf es des m utigen Verlegers, der die entspre­
chenden A utoren sucht, findet und m it ihnen arbeitet, aber auch ihre Bücher gew inn­
orientiert veröffentlicht und nicht hoch subventioniert verheim licht.
Man fragt den H istoriker gerne nach den Lehren der G esch ichte und ist nicht im ­
mer m it dessen A ntw ort zufrieden. M anche stört seine „knochenerw eichende O b jek ti­
vität“, m anche sein anscheinend oder scheinbar m angelndes m oralisches Engagem ent.
Nun ist sich aber der H istoriker bewußt, daß er aus der m enschlichen Verpflichtung
des W ertens und Bew ertens nicht entlassen ist und zugleich Teil der G eschichte
bleibt, nicht aus ihr heraustreten kann, um sich ein überm enschliches Richtertum
über die Vergangenheit anzum aßen. Bei der Lektüre von H elm ut Andics „Das öster­
reichische Jah rh u n d ert“ kann man den U nterschied zwischen dem historischen A n ­
satz und dem des Journalisten feststellen. D em letzteren geht es um die N achricht
und ihre m oralisierende Verw ertbarkeit. D er H istoriker bem üht sich hingegen um das
Verständnis eines m öglichst um fassenden geschichtlichen Ganzen. Er wird darum
nicht das G ute schlecht und das S ch lechte gut m achen; er wird Verbrechen V erbre­
chen nennen, auch wenn dessen D im ensionen - wie im Falle des H olocaust - seine
Vorstellungsgabe und sein Fassungsvermögen übersteigen. Er wird, um bei Andics zu
bleiben, die vertane Chance des österreichischen 19. Jahrhunderts beklagen dürfen,
aber auch die darin angelegten Neuansätze und die V ielfalt der gleichzeitigen Erschei­
nungsform en nicht übersehen. D ie A ntw ort des H istorikers kann daher keine R e ch t­
fertigung des B estehenden, sondern bloß die Analyse des Gew ordenen sein. Das W ort
des Babenbergers O tto von Freising: nemo autem a nobis sententias aut moralitates ex-
pectet, übersetzte A lphons Lhotsky einmal in unübertrefflicher W eise m it dem Satz:
„Erwarten Sie von m ir weder staatsrechtliche A phorism en noch patriotische S itten ­
sprüche.“27 A ber auf die Frage, woher wir Europäer kom m en, kann eine Regionalge­
schichte diejenige A ntw ort geben, die für eine ferne Z eit innerhalb eines uns nahen
Raums die richtige scheint.
26 Alphons Lhotsky, G eschichte des Instituts für österreichische G eschichtsforschung. 1 8 5 4 -1 9 5 4 .
(Mitteilungen des Instituts für österreichische G eschichtsforschung 17, Erg.Bd., 1954) 4 ff., 11 ff.
und 25 ff.
21 Alpbons Lhotsky, D er österreichische Staatsgedanke, in : Aufsätze und Vorträge, Bd. 1 (W ien
1970) 3 6 6 , nach Otto von Freising, Historia de duabus civitatibus II prologus.
III. Die zeitgeschichtliche Forschung
Horst Möller
Die W eim arer Republik in der zeitgeschichtlichen
Perspektive der Bundesrepublik Deutschland
während der fünfziger und frühen sechziger Jahre:
Dem okratische Tradition und NS-Ursachenforschung*
I
Bonn ist nicht Weimar - auf diese prägnante Form el brachte der Schw eizer Publi­
zist Fritz René A llem ann 1956 das politische Selbstverständnis der frühen Bundesre­
publik. Bonn sollte von Beginn an nicht W eim ar werden, könnte man hinzufügen:
Diesem T hem a w idm ete sich Friedrich Karl From m e in seiner I 9 6 0 veröffentlichten
Studie Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, die die verfassungspo­
litischen K onsequenzen analysierte, die der Parlam entarische Rat 1948/1949 aus dem
Scheitern der W eim arer D em okratie und der Begründung der N S-D iktatu r gezogen
hatte.
Schon einm al hatten deutsche Verfassungsväter versucht, ein Staatsgrundgesetz auf­
grund verfassungsrechtlicher V orbilder optimal zu gestalten. D och argum entierte man
in der W eim arer N ationalversam m lung m it den K on stitu tionen anderer Staaten und
den aus ihnen m ehr oder weniger zutreffend abgeleiteten M odellen eines „echten“
oder „unechten Parlam entarism us“ : D iesen Fiktionen des 1918 publizierten Buches
von Robert Redslob folgten die Ideengeber der W eim arer Verfassung, allen voran
Hugo Preuß und Max W eber. Im B onner M useum K o en ig aber zog man 1948/1949
Folgerungen aus der eigenen G esch ich te: der noch allen Beteiligten lebhaft gegenwär­
tigen Erfahrung m it D em okratie und Diktatur.
Hier ist keine system atische Literaturübersicht beabsichtigt, sondern eine Skizze der F o r­
schungsschwerpunkte unter Berücksichtigung des W echselverhältnisses wissenschaftlicher und
politischer Fragestellungen. Die im T ext m it Titel und Erscheinungsjahr genannten W erke wer­
den in den Anm . nicht m ehr eigens aufgeführt. Stark erweiterte und bis in die 1980er Jahre fort­
geführte Fassung in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beiträge zur W ochenzeitung Das Parlam ent
31. Mai 1987.
158
H orst M öller
Das Grundgesetz, für die Bundesrepublik D eutschland stellt also zweifelsfrei den
Versuch dar, aus der G esch ichte zu lernen, und der V ersuch gelang. Dieser Lernpro­
zeß ging vom K o n n ex zwischen der W eim arer D em okratie und der N S-D iktatu r aus
und m ußte von ihm ausgehen, da das Scheitern der D em okratie untrennbar m it A uf­
stieg und Sieg des Nationalsozialismus verbunden war. D ie G eschichte der W eim arer
Republik wurde ebenso wie die der N S-D iktatu r in einen größeren historischen und
system atischen Rahm en eingeordnet; so verschiedene Deutungsversuche wie Fried­
rich M eineckes Deutsche Katastrophe und A lexander A buschs Irrweg einer Nation von
1946 dem onstrierten ebenso wie Gerhard Ritters Europa und die deutsche Frage von
1948 das B em ühen um tiefere historische Fundierung der Interpretation - J a h r e bevor
eine w issenschaftliche W eim ar-Forschung überhaupt in Gang kom m en konnte.
D ie frühen A useinandersetzungen m it der N S-D iktatu r resultierten zunächst und
prim är aus m oralischer K ritik und weniger aus w issenschaftlichem Interesse. In der
unm ittelbar nach 1945 beginnenden Diskussion über die K ontinuität der deutschen
G esch ichte und die historischen W urzeln der N S-D iktatu r ging es im m er auch um
Rettung oder schm erzhafte K orrektur der jew eiligen G eschichtsbilder der Interpre­
ten; m oralische Em pörung und ihre Instrum entalisierung für politische Pädagogik
führten schnell zur Frage nach den näheren und w eiteren U rsachen für die 1933 kul­
m inierende Entw icklung. D urch die Gründung der Bundesrepublik stim uliert, ver­
dichtete sich das Lehrstück totalitärer H errschaft zur Trias: Scheitern der W eim arer
D em okratie, N S-D iktatu r, Neuaufbau der D em okratie in W estdeutschland.
D ie A usdehnung der sow jetischen H errschaft über ganz O stm itteleuropa, die im
Frühjahr 1948 erfolgende Etablierung einer M arionettenregierung in der T sch ech o slo ­
wakei - die viele zeitgenössische B eobachter an H itlers ungefähr zehn Jahre zurücklie­
genden analogen Coup erinnerte - , die 1946 herbeigeführte Zwangsvereinigung von
S P D und K P D in der Sow jetischen Besatzungszone, schließlich die Berlin-Blockade
von 1948/ 1949 bekräftigten diese antidiktatorische Prämisse und erweiterten sie zum
antitotalitären G rundkonsens der dem okratischen politischen und gesellschaftlichen
K räfte, in dem sich beispielsweise die V orsitzenden beider großen Parteien, Konrad
A denauer und K u rt Schum acher, einig waren: Das dom inierende politische Selbstver­
ständnis der Bundesrepublik basierte bis weit in die sechziger Jah re hinein auf der
doppelten Frontstellung zur nationalsozialistischen D iktatur der jüngsten V ergangen­
heit und der unm ittelbar gegenwärtigen kom m unistisch-sow jetischen D iktatur im an­
deren T eil D eutschlands, die deutsche Frage wurde auf diese W eise zu einer Funktion
gegensätzlicher H errschaftssystem e.
D ieser A ntikom m unism us beschränkte sich keineswegs auf die C D U /CSU , son­
dern herrschte ebenso in S P D und FD P.
D ie Frage nach den Gründen für das Scheitern der W eim arer D em okratie im pli­
zierte im m er die Frage nach der V erallgem einerungsfähigkeit des W eim arer Beispiels
und der Nutzanwendung für die Stabilisierung der bundesrepublikanischen D em okra­
tie.
D ie W eim a rer R epu blik
15 9
II
D er unverkennbare Paradigm enw echsel, der sich in der Erforschung der W eim arer
Republik im Lauf der sechziger Jah re ergab, änderte nichts an der konstitutiven Frage­
stellung: Zwar trat die bis dahin dom inante Analyse der A uflösung 1 9 3 0 -1 9 3 3 zeit­
weise zugunsten der eingehenderen U ntersuchung der revolutionären Übergangs­
phase von der M onarchie zur D em okratie 1918/1919 zurück, doch besaß auch sie seit
M itte der 1960er Jah re einen unverkennbaren A ktualitätsbezug auf die innenpoliti­
sche K onstellation der Bundesrepublik und entsprang w issenschaftlich dem gleichen
Motiv: W ar die A uflösung der D em okratie durch Strukturdefekte des W eim arer Staa­
tes wenn schon nich t verursacht, doch zum indest außerordentlich begünstigt worden,
dann m ußten diese K onstruktionsm ängel bereits in dieser Entstehung 1918/1919 b e ­
gründet liegen und analysiert werden. A uch der Beginn der Republik stand zwangs­
läufig unter der Perspektive ihres Scheitem s.
Die K onzentration der Forschung auf die Anfangs- bzw. die Schlußjahre implizierte
die gleiche K onsequenz. D ie m ittleren Jah re der W eim arer Republik blieben ebenso
ein Stiefkind der Forschung wie die doch zweifelsfrei vorhandenen Leistungen des
W eim arer Staates und die politischen und gesellschaftlichen Fortschritte, die er im
Vergleich zur abgelösten M onarchie w ilhelm inischer Prägung erzielte. Das W issen der
N achlebenden um den schnellen U ntergang dieses unter den denkbar ungünstigsten
Um ständen un ternom m enen Versuchs zur Gründung der ersten dem okratischen R e ­
publik in D eutschland prägte und prägt bis heute die Bewertung. Das Experim ent
scheiterte: Von diesem Ergebnis kann keine geschichtsw issenschaftliche D eutung absehen - und das m acht notwendig ihre Problem atik aus. A uch die Beurteilung der
Politik Friedrich E berts und der M ehrheitssozialdem okratie von 1918/ 1919 oder der
D eflationspolitik R eichskanzler H einrich Brünings seit 1930 - um nur diese beiden
Beispiele zu nennen - geh t m eist stärker von der Erfahrung der Jah re 1933 bis 1945
aus als vom zeitgenössischen K on text. D ie funktionale G eschichtsbetrachtung dom i­
niert hier eindeutig gegenüber der historistischen, um V erstehen bem ühten.
Ein instruktives Beispiel für die K onzentrierung des Forschungsinteresses auf die
Anfangs- und Schlußphase der W eim arer Republik bietet die Parteigeschichte, die vor
allem dank der 1951 in Bonn gegründeten ,K om m ission für G esch ichte des Parla­
mentarismus und der politischen Parteien“ zu einem der zentralen Forschungsfelder
der W eim ar-H istoriographie wurde. D ie dort in den fünfziger und sechziger Jahren
veröffentlichten parteigeschichtlichen U ntersuchungen, allen voran Rudolf Morseys
grundlegendes W erk Die deutsche Zentrumspartei 191 7 -19 2 3 (1966), behandeln in der
Regel die ersten Jah re der Kontinuität und Umformung des deutschen Parteiensystems,
wie Gerhard A. R itter diese Phase genannt h a t1. Und auch die U ntersuchungen von
W erner Liebe über die D N V P (1956), W olfgang H artenstein über die D V P (1962),
Lothar A lbertin über D D P und D V P (1972) bis hin zu Susanne Millers zweibändiger
1 In: Eberhard K olb (Hrsg.), V om K aiserreich zur W eim arer Republik (Köln 1972) 2 4 4 -2 7 5 .
160
H orst M öller
G esch ichte der S P D 1 9 1 4 -1 9 2 0 (1974/ 1978) konzentrieren sich auf die ersten Jah re
oder die unm ittelbare V orgeschichte der Revolution.
D er bis heute unentbehrliche Sam m elband, den E rich M atthias und Rudolf Morsey
I 9 6 0 unter dem T itel Das Ende der Parteien 1933 herausgaben, bezog für die einzel­
nen Parteien die Endphase der W eim arer R epublik in unterschiedlichem Maße ein
und setzte gewisserm aßen den K ontrapunkt - Gründungs- und A uflösungsgeschichte
der Parteien sind bis heute im allgem einen ungleich besser erforscht als die m ittleren
Jah re, w enngleich in Einzelbereichen jüngst A bhilfe geschaffen wurde2.
D och blieben und bleiben die Forschungslücken insgesam t trotz zahlreicher w ich ti­
ger A rbeiten, in denen beispielsweise die K P D sowie einige kleinere Parteien für den
gesam ten Zeitraum dargestellt worden sind, noch groß3. D er A ufstieg des N ationalso­
zialismus wurde von jeh er nicht ausschließlich unter parteigeschichtlichen Leitfragen
untersucht, sondern konzentrierte sich seit K onrad H eidens schon 1932 publizierter
Geschichte des Nationalsozialismus im m er auch auf die Ideologiegeschichte im w eite­
ren Sinn, in die das antidem okratische Um feld m it einbezogen wurde, zum Beispiel
durch so unterschiedliche D arstellungen wie O tto -E rn st Schüddekopfs Linke Leute
von rechts (I960), K urt Sontheim ers Antidemokratisches Denken in der Weimarer Repu­
blik (1962), oder A rm in M öhlers zuerst 1950 publiziertes und 1972 bibliographisch
umfassend erweitertes Buch Die konservative Revolution in Deutschland 1918-1932.
Eine erste G esam tdarstellung legte bereits 1957 in den U SA K lem ens von K lem perer
vor, 1962 erschien sie auch in deutscher Ü bersetzung: Konservative Bewegungen zwi­
schen Kaiserreich und Nationalsozialismus. S e it M itte der 1960er Jahre erlahm te das
Interesse an dieser politischen Gruppierung etwas und auch gegenwärtig scheint es
beispielsweise in Frankreich größer zu sein als in der Bundesrepublik4.
E inen H öhe- und W endepunkt der ersten Phase ideologiegeschichtlicher E rfor­
schung der Z eit nach 1918 bildet zweifellos E rnst N oltes großes W erk D er Faschismus
in seiner Epoche (1963), das stärker als alle anderen bis dahin veröffentlichten W erke
einer typologisch-kom paratistischen M ethode folgte, zugleich aber den Faschism usbe­
griff historisierte, indem es die faschistischen Bew egungen als A ntw ort auf die b o l­
schew istische Revolution von 1917 begriff.
2 Heinrich August Winkler, Von der Revolution zur Stabilisierung. A rbeiter und A rbeiterbew e­
gung in der W eim arer Republik 1 9 1 8 bis 1 9 2 4 (B erlin -B on n 1984); den., D er Schein der N o rm a­
lität. A rbeiter und Arbeiterbewegung in der W eim arer Republik 1924 bis 1930 (B on n -B erlin
1985). - Herbert Hömig, Das Preußische Z en tru m in der W eim arer Republik (Mainz 1979); R u­
d o lf Aiorsey (Bearb.), Protokolle der Reichstagsfraktion und des Fraktionsvorstandes der D eu t­
schen Zentrum spartei 1 9 2 6 -1 9 3 3 (Mainz 1969); dersJKarsten Ruppert (Bearb.), D ie Protokolle
der Reichstagsfraktion . .. der D eutschen Zentrum spartei 1 9 2 0 -1 9 2 5 (Mainz 1981).
3 Ossip K. Flechtheim, Die K P D in der W eim arer Republik (Frankfurt/M . 1969); H ermann Weber,
Die W andlungen des deutschen K om m unism us. Die Stalinisierung der K P D in der W eim arer
Republik (Frankfurt/M . 21969). W eitere Lit. zu den Parteien: Horst Möller, W eim ar. Die unvoll­
endete D em okratie (M ünchen 21 987) 2 4 8 -2 5 0 .
4 Stellvertretend: Louis Dupeux, Nationalbolschewism us in D eutschland 1 9 1 9 -1 9 3 3 (M ünchen
1 9 8 5 , zuerst frz. 1 9 7 6 ); Gilbert Merlio, Oswald Spengler. T ém oin de son tem ps, 2 Bde. (Stuttgart
1982).
D ie W eim arer R epu blik
161
Eine m odernen A nsprüchen genügende G esch ichte des gesam ten Parteiensystems
un d der W eim arer Parteien steht wohl noch für längere Z eit aus5.
III
Die Parteigeschichte war im übrigen der Bereich der W eim ar-Forschung, in der ein
bis heute lesenswerter Vorläufer existiert: Sigm und Neum anns 1932 veröffentlichte
schmale, aber em pirisch und konzeptionell sehr gehaltvolle Studie Die politischen Par­
teien in Deutschland, .die Karl D ietrich Bracher 1965 neu herausgab. Neum ann, der
sein erseits den auf frühere E pochen konzentrierten W erken von Robert M ichels und
Ludwig Bergsträsser folgte und dem die zeitgenössische wahlsoziologische Pionierstu­
die von Johann es Schauff über das Zentrum vorausging6, entwarf eine Typologie der
Parteien, die er in späteren W erken während der Em igration w eiterentw ickelte und
die besonders in seiner U nterscheidung von „Repräsentationsparteien“ und „absoluti­
stischen Integrationsparteien“, fruchtbar wurde: M it dem letztgenannten Begriff inter­
pretierte er die radikalen Neugründungen K P D und N SD A P und lieferte einen
Schlüssel zum Verständnis für das Versagen des W eim arer Parteiensystem s: D ie tradi­
tionellen Integrationsparteien klassenspezifischer Provenienz - wie die S P D - und
konfessioneller Provenienz - wie die Zentrum spartei - konnten m it einer dynam i­
schen Integrationspartei, einer „Bewegung“ - wie der N SD A P - in V erm ittlung und
Integration antagonistischer ökonom ischer, gesellschaftlicher und ideeller Interessen
ebensowenig konkurrieren wie die liberalen H onoratioren- oder Repräsentationspar­
teien, ganz zu schw eigen von den zahlreichen kleinen Interessenparteien.
Die Dom inanz der Parteigeschichte war nich t zufällig, hatte man doch bald die von
Gustav Radbruch bereits 1930 konstatierte „Parteienprüderie“ als einen der W eim arer
Strukturfehler erkannt7. Sie führte 1919 zu einer Verfassung, die die Existenz der Par­
teien zwar voraussetzte, sie aber nur einm al und bekanntlich negativ abgrenzend er­
wähnte. So wie die Verfassungsväter 1949 im A rtikel 21 des Grundgesetzes der M it­
wirkung der Parteien an der politischen W illensbildung ausdrücklich verfassungs­
rechtlichen Rang gaben, so entw ickelte sich seit den fünfziger Jah ren eine fundierte
historische und politikw issenschaftliche Partei- und Verbändeforschung, die ihrerseits
von der gegenw artsbezogenen Erkenntnis profitierte, daß sich die in einer D em okratie
wesensnotwendige politische und gesellschaftliche Pluralität der Interessen und Kräfte
5 Gesam tgeschichten des deutschen Parteiwesens, in denen auch die W eim arer Republik (meist
knapp) behandelt wird: Ludwig Bergsträsser, G eschichte der Politischen Parteien in Deutschland,
völlig überarb. u, hrsg. von Wilhelm Mommsen (M ü n ch en -W ien “ 1965); Walter Tormin, G e ­
schichte der deutschen Parteien seit 1 8 4 8 (Stuttgart usw. 31 9 6 8 ); Heino K aack, Geschichte und
Stmktur des deutschen Parteiensystem s (Opladen 19 7 1 ); Wolfgang Treue, Die deutschen Par­
teien vom 19. Jahrhun dert bis zur Gegenwart (Frankfurt/M . usw. 1975).
’ Johannes Schauff, Das W ahlverhalten der deutschen K atholiken im Kaiserreich und in der
W eimarer Republik, hrsg. u. eingel. von R u dolf Morsey (Mainz 1975).
Gustav Radbruch, in: Gerhard Anschütz/Richard Thoma, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 1 (Tübingen 1 930) 29 3 .
162
H orst M öller
organisatorisch konkretisiert, ohne daß dies die politische Entscheidungskom petenz
von Parlam ent und Regierung paralysieren m üsse oder dürfe.
N eum anns strukturelle Typologie und O rtung der extrem istischen Parteien korre­
spondierte durchaus dem antitotalitären Selbstverständnis der Bundesrepublik, stim u­
lierte aber zugleich die Frage nach den G ründen für das Versagen der dem okratischen
W eim arer Parteien. D am it w eitete sich nicht nur die historische Parteiforschung auf
die Z eit vor 1918 aus - erinnert sei beispielsweise an Thom as Nipperdeys 1961 er­
schienene Organisation der deutschen Parteien vor 1 9 1 8 - , sondern stellte auch die U r­
sachenforschung vor eine neue Aufgabe. N icht zufällig befaßte sich denn auch die er­
ste, 1952 von der erwähnten B onner K om m ission veröffentlichte M onographie der
späteren SPD -Bundestagsabgeordneten Helga T im m m it dem für Jah rzeh n te w ichti­
gen Them a Die deutsche Sozialpolitik und der Bruch der großen Koalition im M ärz
1930.
D ie m angelnde Integrationskraft der dem okratischen W eim arer Parteien wurde da­
m it ebenso exem plarisch konkretisiert wie einige Jah re später die Frage, inwiefern das
1919 entgegen den M ahnungen Friedrich N aum anns eingeführte Verhältnisw ahlsy­
stem eine Z ersplitterung des Parteiwesens bewirkt und seit 1930 die W ahlerfolge der
N SD A P begünstigt oder sogar erm öglicht habe. A uch in bezug auf diese Frage exi­
stierte eine schon während der W eim arer R epublik begründete Tradition der K ritik,
deren Protagonist vor allem der spätere Zentrum sabgeordnete Jo h an n es Schauff gew e­
sen ist: Er hatte bereits 1929 ein Sam m elw erk m it dem T itel Neues Wahlrecht. Beiträge
zur Wahlreform herausgegeben, zu deren Verfassern u. a. er selbst, K arin Schauff und
der Sozialdem okrat Carlo M ierendorff zählten. D ie in diesem W erk enthaltene Propa­
gierung des M ehrheitsw ahlrechts nahm Ferdinand A. H erm ens nach einer noch 1933
in D eutschland herausgebrachten Vorstudie im am erikanischen E xil wieder auf, als er
1941 sein dann auch 1951 in deutscher Sprache erschienenes W erk Demokratie oder
A narchie? Untersuchung über die Verhältniswahl veröffentlichte. A ls während der G ro ­
ßen K oalition erneut über die Einführung des M ehrheitsw ahlrechts bei Bundestags­
wahlen diskutiert wurde, erschien 1968 eine weitere deutsche Auflage. D ie etwas
überspitzte T h ese lautete: In Deutschland sei n ich t die D em okratie gescheitert, son­
dern ihre durch die Verhältniswahl geschw ächte Variante. A uch in dieser Frage hatte
sich 1948/ 1949 der Parlam entarische R at von den W eim arer Erfahrungen leiten las­
sen und ein gem ischtes W ahlsystem eingeführt, das im W ahlgesetz durch die sog.
Fünfprozentklausel ergänzt wurde.
In w elchem A usm aß auch Kräfte außerhalb des Parteiensystem s, insbesondere
Reichspräsident H indenburg und seine politischen Berater, seit 1929 destabilisierend
auf dieses letzte parlam entarische K abinett der W eim arer Republik gewirkt haben,
bildete eine w eitere zentrale Frage der W eim ar-Forschung, die in Brachere Auflösung
der Weimarer Republik beantw ortet wurde und die ihrerseits bereits 1949 zu verfas­
sungspolitischen K onsequenzen geführt hatte, indem die Volkswahl des Staatsober­
haupts beseitigt und seine K om petenzen erheblich verm indert wurden. In der In ter­
pretation des Reichspräsidenten von H indenburg stehen sich, von Detailfragen bzw.
seinen A nfangsjahren einm al abgesehen, noch heute zwei Auffassungen gegenüber:
D ie eine besagt, ohne H indenburg wäre die W eim arer D em okratie schon früher zu-
D ie W eim arer R epu blik
163
sainm erigebrochen8, die andere hält bereits die W ahl Hindenburgs 1925 für eine
sch w ere Niederlage der W eim arer D em okratie und beurteilt sein Amtsverständnis,
seine A m tsführung und seine Persönlichkeit äußerst kritisch9.
Jvlit der letzten im strengen Sinne parlam entarischen Regierung ließ die früheste
Gesamtdarstellung, A rthur Rosenbergs in zwei Bänden 1928 und 1935 publizierte
Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik, den W eim arer Staat 1930 enden,
pür die Auflösungsphase lieferte diese seit 1955 im m er wieder neu aufgelegte, scharf­
sinnige Interpretation denn auch lediglich m ittelfristig-strukturelle Gründe, aber keine
konkrete Analyse m ehr. Ihre stim ulierende W irkung auf die Revolutionsforschung ist
u n ten noch kurz zu behandeln.
Außer den erwähnten W erken existieren kaum weitere U ntersuchungen aus der
Zeit vor 1945, die der W eim ar-Forschung den W eg wiesen. Zeitgenössische Analysen
von solchem Rang wie die Studie Sigm und N eumanns besitzen ohnehin Seltenh eits­
wert, und während der N S-D iktatu r war keine unvoreingenom m ene Erforschung der
W eimarer D em okratie m öglich.
Auch die H istoriker unter den Em igranten bearbeiteten zunächst andere Them en.
Zwar erschienen nach dem K rieg noch einige zeitgenössische Studien von großem
Gewicht, doch im allgem einen erst seit Beginn der sechziger Ja h re : D ie erste für die
politische Sozialgeschichte der M entalitäten grundlegende U ntersuchung dieser Art,
die 1933 nicht m ehr erscheinen konnte, veröffentlichte 1963 das Institut für Z eitg e­
schichte: Rudolf H eberles Landbevölkerung und Nationalsozialismus analysiert die
politische W illensbildung in Schlesw ig-H olstein 1 9 1 8 -1 9 3 2 , die in der 1962 publi­
zierten K ieler H abilitationsschrift von Gerhard Stoltenberg ebenfalls behandelt wor­
den war. Erst sehr viel später folgten dann 1977 Hans Speiers Die Angestellten vor dem
Nationalsozialismus und 1980 Erich From m s sozialpsychologische Studie Arbeiter
und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches, die im K o n te x t der U ntersuchungen
über den „autoritären C harakter“ des Frankfurter und später New Y orker Instituts für
Sozialforschung entstanden waren.
Diese Studien waren nicht nur m it einem für die H istoriker ungew ohnten Instru­
mentarium erarbeitet, sie blieben auch lange Z eit unbekannt. A nders als die spätere
N S-Forschung besaß die W eim ar-Forschung keine großen konzeptionellen Vorläufer
innerhalb der zeitgenössischen Politikwissenschaft, wie sie zwei wegweisende, im am e­
rikanischen Exil verfaßte Strukturanalysen darstellen: Franz Neum anns zuerst 1942
publizierte Studie, Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944
(dt. 1977) sowie E m st Fraenkels 1941 ebenfalls in den U SA veröffentlichtes Buch Der
Doppelstaat. Recht und Justiz im Dritten Reich (dt. 1974).
Ein beide zeitgeschichtlichen T hem en kom p lexe verbindendes und der politischen
Entwicklung des O st-W est-G egensatzes nach 1945 korrespondierendes Erklärungs­
modell bildete indes die Totalitarism us-Theorie, in deren w eiteren R ahm en auch A r­
nold Brechts, 1944 im am erikanischen Exil zuerst publizierte knappe, aber gehaltvolle
8 So zuletzt Hagen Schulze, W eim ar. Deutschland 1 9 1 7 -1 9 3 3 (Berlin 1982).
9 So zuletzt Horst Möller, W eim ar.
164
H orst M öller
Analyse der Auflösungsphase der W eim arer Republik gehört. Sie gewann durch die
V erbindung m ittelfristiger struktureller Belastungsfaktoren der D em okratie, m odellhafter Interpretationskategorien wie „Totalitarism us“ und „Faschism us“ sowie ereig­
nisgeschichtlicher N achzeichnung der letzten Jah re der W eim arer Republik fortwir­
kende w issenschaftliche Bedeutung. Bereits 1948 erschien in W ien eine deutschspra­
chige A usgabe10.
B rech t ging wie die anderen Politikw issenschaftler, die m it dem Totalitarism us-M o­
dell arbeiteten, von der klaren G egensätzlichkeit von D em okratie und D iktatur aus,
die durch keine Begriffsspielerei wegzudiskutieren ist, und für die sich A nsätze bereits
in Friedrich M eineckes 1930 publiziertem Aufsatz Nationalsozialismus und Bürger­
tum fin d en 11. M einecke bezeichnete damals K om m unism u s und Nationalsozialismus
als die beiden „M ühlsteine“, die „an Staat und G esellschaft reiben“ und die „von einer
letzten, tiefsten, gemeinsamen soziologischen Ursache getrieben“ seien. M eineckes zeit­
genössische Erfahrung der zerstörerischen W irkung von N SD A P und K P D gegen­
über der W eim arer D em okratie präfigurierte den antitotalitären G rundkonsens der
D em okraten in den ersten Jahrzeh nten der Bundesrepublik. So gewann das vor allem
von Carl J . Friedrich und Zbigniew Brzezinski Ende der D reißiger Jah re in den U SA
definierte - und beispielsweise in H annah A rendts weit ins 19. Jahrhun dert zurück­
greifendem , zuerst englisch 1955 und dann deutsch 1958 veröffentlichtem W erk Ele­
mente und Ursprünge totaler Herrschaft konkretisierte - politikw issenschaftliche T ota­
litarism uskonzept große Überzeugungskraft für die historische Erfassung der deut­
schen und europäischen G esch ichte seit 1917.
IV
A uf der Basis dieser Fragestellungen erarbeitete Karl D ietrich Bracher die erste fun­
dam entale Strukturanalyse der W eim arer R epublik, die bis heute nichts von ihrer B e­
deutung eingebüßt hat. Brachers im m er wieder nachgedrucktes Buch Die Auflösung
der Weimarer Republik ist heute ein international anerkanntes Standardwerk. Das war
nich t im m er so. Bei seinem Erscheinen löste es heftige K ritik aus - K ritik, die sowohl
aus m ethodischen als auch politischen M otiven resultierte.
D ie politische A useinandersetzung entzündete sich an Brachers kritischer Interpre­
tation des Reichskanzlers Brüning, aber auch an seiner Darstellung des Preußen­
schlags vom 20. Ju li 1932, in der das A usbleiben massiven W iderstandes der dem okra­
tischen K räfte - vor allem auch von Seiten der S P D , der Preußenregierung und der
G ew erkschaften - kritisch analysiert wurde. H ierdurch fühlten sich besonders m ehr
oder weniger beteiligte Zeitgenossen wie der ehem alige preußische Innenm inister
Carl Severing sowie der frühere M inisterialdirektor A rnold Brecht provoziert.
D ie m ethodischen Einwände richteten sich gegen politikw issenschaftliche Frage­
stellungen Brachers, der eine funktionale Analyse des M achtverfalls der D em okratie
10 Arnold Brecht, Vorspiel zum Schweigen. Das Ende der deutschen Republik (W ien 1948).
11 In: Friedrich Meinecke, W erke, Bd. 2. Hrsg. v. Georg Kotouiski (D arm stadt 1958) 4 4 4 .
D ie W eim arer R epu blik
165
lieferte, nicht aber eine am traditionellen H istorism us orientierte intentionale Inter­
pretation: D ieser M ethodenw echsel indizierte die grundsätzliche Richtung der histori­
schen und politikw issenschaftlichen W eim ar-Forschung und die enge Bindung der er­
kenntnisleitenden Interessen an Gründung und Entw icklung der D em okratie in
W estdeutschland, die beispielsweise auch in E m st Fraenkels wegweisenden verglei­
chenden Studien über die historischen Vorbelastungen des deutschen Parlam entaris­
mus seit Ende der 1950e r Jah re zum Ausdruck kam en und dann seit Ende der 1960er
Jahre in Fraenkels K ritik am „Rätem ythos“ m it gegensätzlicher politischer Stoßrich­
tung kom plem entiert w urden12.
Für anfänglich herbe K ritik wurde Bracher nach einigen Jah ren entschädigt: So
konnte er die 1970 erfolgte postum e Publikation der Brüning-M em oiren, die ihm
noch nicht zugänglich waren, als Bestätigung seiner A nalysen em pfinden - auch wenn
ihre durchgängige A uthentizität m it guten G ründen bezweifelt worden ist13. So
konnte Bracher vor allem Genugtuung em pfinden, daß einer seiner schärfsten K riti­
ker, W erner Conze, schon bald sein U rteil revidierte, zum indest aber stark m odifi­
zierte. 1957 behauptete Conze in einer Rezension in der Historischen Zeitschrift trotz
A nerkennung seines erheblichen historischen Ertrags sei Brachers W erk „in seinen
Grundlagen m ethodisch fragwürdig“. Zwei Jah re später bedauerte Conze in einer er­
neuten Besprechung der im w esentlichen unveränderten Neuauflage von Brachers
W erk in der H Z , in der früheren Rezension seien ihm einige ungerechte überspitzte
Form ulierungen unterlaufen: „Die Besprechung der ersten Auflage war das Ergebnis
einer H erausforderung durch die Grundlagenproblem e.“ D ie Bedeutung des bisher
einzigen um fassenden W erks über die W eim arer Republik, das w issenschaftlichen
Rang besitze, sei durch die N otw endigkeit einer Neuauflage anerkannt w orden14.
In der T at traf Brachers M ethode den Nerv zeitgeschichtlicher Forschung: Da er
aber nicht nur Postulate aufstellte, wie Z eitgeschich te zu schreiben sei, sondern im m er
wieder seine m ethodischen M axim en realisierte, erlangten seine W erke die angem es­
sene W irkung. Sch on I 9 6 0 veröffentlichte K arl D ietrich Bracher zusamm en m it G er­
hard Schulz und W olfgang Sauer ein weiteres grundlegendes W erk, Die Nationalso­
zialistische Machtergreifung. 1969 folgte die erste um fassende Gesam tdarstellung des
Nationalsozialismus, D ie deutsche Diktatur, 1976 schließlich eine groß angelegte Syn­
these, Die Krise Europas 1917-1975, die stärker als einige andere A rbeiten vom T otali­
tarism us-M odell ausging und deren W ille zu politischer Erziehung unverkennbar ist.
D er Gegensatz von D em okratie und D iktatur bildet den Schlüssel der Interpretation,
die M ahnung vor der totalitären V ersuchung angesichts der seit Ende der 1960er Jahre
12 Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen D em okratien (Stuttgart 51973).
13 K arl Dietrich Bracher, Brünings unpolitische Politik und die Auflösung der W eim arer Repu­
blik, in: Vierteljahrshefte für Z eitgeschich te 19 (1 9 7 1 ) 1 1 3 - 1 2 3 ; Werner Conze, Brüning als
Reichskanzler. Eine Zw ischenbilanz, in: H istorische Zeitschrift 2 14 (1 9 7 2 ) 3 1 0 - 3 3 4 ; R udolf
Morsey, Z u r Entstehung, A uthentizität und Kritik von Brünings ,M em oiren 1 9 1 8 - 1 9 3 4 “ (Opla­
den 1975).
14 Diese Rezensionen finden sich in der H istorischen Z eitschrift 183 (1 9 5 7 ) 3 7 8 - 3 8 2 ; sowie 187
(1959) 4 0 7 f.
unverkennbaren Renaissance m arxistischer Bew egungen ist unübersehbar. Allerdings
ist das zeitgeschichtliche W erk Karl D ietrich Brachers m it dem W o rt ,TotalitarismusM odell‘ nur sehr unvollkom m en charakterisiert, hatte er doch bereits in seinem 19 5 6
in den Vierteljahrsheften f ü r Zeitgeschichte veröffentlichten Aufsatz Stufen totalitärer
Gleichschaltung auf das H errschaftsprinzip divide et impera, die Existenz konkurrieren­
der M achtgruppen und dam it einer polyzentrischen H errschaftsstruktur innerhalb der
Führerdiktatur hingewiesen - m ehr als zehn Jah re, bevor die K ennzeich nu ng der NSD iktatur als „polykratisch“ zu einer breiten Interpretationsrichtung ausgebaut wurde.
Die K ontroverse über die Auflösung der W eim arer Republik war m it W erner Conzes Selbstrevision noch keineswegs abgeschlossen, begründete er doch in verschiede­
nen Aufsätzen seine Auffassung, das Präsidialkabinett Brüning sei keineswegs, wie
Bracher m eine, die erste Stufe zur A uflösung der W eim arer Republik gewesen, son­
dern der letzte Versuch, den dem okratischen R echtsstaat zu re tte n 15. Brünings Instru­
m entalisierung der Staats- und Verfassungskrise für die Lösung außenpolitischer Pro­
blem e, insbesondere der Reparationsfrage, ist dabei ebensow enig um stritten, wie die
innenpolitische Zielsetzung, das dem okratisch-parlam entarische Regierungssystem
von W eim ar - bei Bewahrung seiner R echtsstaatlichkeit - durch die faktisch bereits
eingetretene verfassungsrechtliche Stärkung des R eichspräsidenten in R ichtung auf ei­
nen Q uasi-K onstitutionalism us oder gar eine konstitutionelle M onarchie zurückzubil­
den.
Bei dieser Frage geh t es tatsächlich nicht um die zweifelsfreie Integrität Brünings,
der von seinen N achfolgern persönlich und politisch scharf zu unterscheiden ist. Auch
geh t es nich t um die unbelegbare Behauptung, Brüning habe die K rise bewußt herbei­
geführt. Er hat sie für seine Zielsetzung auszunutzen versucht, aber erfunden hat er sie
nicht. D ie perm anente K risenhaftigkeit der W eim arer Republik und die von Anfang
an bestehende Schw äche der G roßen K oalition, die ja viele M onate brauchte, bevor sie
sich überhaupt als K oalition verstand und zu einer alle Partner einbeziehenden for­
m ellen A bsprache gelangte, die w irtschaftspolitische K rise, die Entw icklung der A r­
beitslosigkeit, die m angelnde gesellschaftliche und parlam entarische Integrationskraft
und Bündnisfähigkeit der Parteien - dies alles waren keine K onsequenzen, sondern
Voraussetzungen Brüningscher P o litik 16.
D ie sachlich entscheidenden beiden Fragen dieser K ontroverse lauten also: Hatte
sich das parteienstaatliche System von W eim ar zur Lösung der massiven ökonom i­
schen, gesellschaftlichen und politischen Problem e als so unfähig erwiesen, daß eine
im strengen Sinn system konform e Lösungsm öglichkeit nicht m eh r bestand und des-
15 Vgl. u.a. Werner Conze, Die politischen En tscheidungen in Deutschland 1 9 1 9 -1 9 3 3 , in:
ders./H. Raupach (Hrsg.), Die Staats- und W irtschaftskrise des Deutschen Reichs 1 9 2 9 /3 3 (S tutt­
gart 1 967) 1 7 6 -2 5 2 .
16 Vgl. u.a. A nm . 8, 9 ; R u dolf Morsey, in: Deutschlands W eg in die Diktatur. Hrsg. von Martin
Broszat, Ulrich Diibber, Walther Hofer, Horst Möller, Heinrich Oberreuter, Jürgen Schmädeke, W olf­
gang Treue (Berlin 1 9 8 3 ) 126 ff. passim; Horst Möller, Das Ende der W eim arer Dem okratie und
die nationalsozialistische Revolution von 1 9 3 3 , in: M artin Broszat/Horst Möller (Hrsg.), Das
D ritte Reich. Herrschaftsstruktur und G eschichte (M ünchen 21986) 9 - 3 7 .
D ie W eim arer R epu blik
167
wegen die Suche nach Alternativen notwendig war? V on der Beantwortung dieser
Frage hängt in der T at die grundsätzliche Einschätzung der Regierung Brüning ab,
wenngleich sich die Bew ertung einzelner schw erwiegender Fehler, wie der ReichstagsaUf[ösung vom 18. Ju li 1930, dadurch nicht ändert. A n dieser verhängnisvollen E n t­
scheidung war allerdings nicht allein Brünings Fehlbeurteilung des Wahlausgangs
schuld, sondern auch die übrigen dem okratischen Parteien bzw. das gesamte K abinett,
in dem sich keine S tim m e gegen die vorzeitige Neuwahl erhob.
Zu dieser ersten Grundfrage tritt eine zweite: Hat Brünings Politik objektiv die
A u flö su n g der W eim arer Verfassungsordnung durch sein Präsidialkabinett und die
Politik der N otverordnungen begünstigt? D ie A ntw ort kann auch dann bejahend ausfallen, wenn man Brünings Intentionen und seine Lagebeurteilung vom Frühjahr 1930
teilt. Denn die W irkung des von ihm kurz vor dem Scheitern der Großen Koalition
au sg e a rb e ite te n K om prom ißvorschlags zur Rettung des K abinetts H erm ann Müller
beurteilte er selbst als kurzfristig: Für den H erbst 1930 rechnete er so oder so m it dem
Ende der Großen K oalition. Lautet die A ntw ort, zwar sei im Frühjahr 1930 rechne­
risch eine parlam entarische Regierung m öglich gewesen, aber nicht m ehr politisch,
dann bekom m t Brünings Regierung insgesam t den Charakter eines Rettungsversuchs
in nahezu aussichtsloser Lage, der aber eben deswegen unternom m en werden mußte.
Argumentiert man von den Strukturm ängeln des politischen System s her, dann lautet
die konsequente Schlußfolgerung: D er unausgewogene K om prom iß der Verfassung
zwischen einem parlam entarischen und einem präsidentiellen Regierungssystem bot
in Form der präsidialen M inderheitsregierung m it Notverordnungen - die unter ande­
ren K onstellationen und Personen bereits 1922/1923 praktiziert wurde - einen A us­
weg. Ein solcher, längere Z e it praktizierter Ausweg aber verließ den Boden des auf die
Integrationsfähigkeit der Parteien angewiesenen konsequenten Parlamentarism us. Die
bloße M öglichkeit nicht-parlam entarischer Lösungen aber bot den Parteien die Flucht
aus der Verantwortung geradezu an, wie sich dann wieder bei der Auflösung des
Reichstags im Ju li 1930 zeigte: D ie verhängnisvollen Nebenwege, die die Verfassung
offen ließ, wurden je länger je m ehr zwangsläufig zu A bw egen17.
Die Differenz der intentional-situationsbezogenen und der funktional-strukturellen
Deutung bildet den m ethodologischen K ern dieser Kontroverse. Sie nahm einen alten
Disput über die U nterschiede naturw issenschaftlicher und geistesw issenschaftlicher
Methode, wie sie beispielsweise H einrich R ick ert beschrieben hatte, wieder auf, und
verwies zugleich auf künftige K ontroversen der späten sechziger und frühen siebziger
Jahre, bei denen es um die Frage ging, ob und in w elchem Maß typologisierend-generalisierende sozialwissenschaftliche M ethoden m it der individualisierend-historisierenden Methode der G eschichtsw issenschaft vereinbar seie n 18.
17 Vgl. Möller, W eim ar, 163, 202.
Vgl. statt vieler m it w eiterer Lit. Theodor Schieder, G eschichte als W issenschaft (M ünchen-W ien
1968) 195 ff.; Karl-Georg Faber, Theorie der Geschichtsw issenschaft (M ünchen 1971 u. ö.); HansUlrich li^ehler (Hrsg.), G eschichte und Soziologie (K öln 1 9 7 2 ); W infried Schulze, Soziologie und
Geschichtswissenschaft (M ünchen 19 7 4 ); Jürgen Kocka, Sozialgeschichte. Beispiel - Entwicklung
~ Probleme (G öttingen 1977).
168
H orst M öller
Sch on Conze wandte gegen Bracher ein: „Ist die W eim arer Republik wirklich ein
typ isch es M odell“ für die A uflösung einer D em okratie? Sofern sich der Verfasser
nicht w iederholt selbst verbessert, wird m it einem weitgehend unhistorischen Begriff
der D em okratie gearbeitet“ 19. Und W aldem ar Besson sekundierte 1959 in sein em
W erk, Württemberg und die deutsche Staatskrise 1928-1933■ Eine Studie zur Auflösung
der Weimarer Republik, das übrigens erstmals einen Perspektivenw echsel von der
reichspolitischen zur föderativen Problem stellung brachte: „Gegen die Subsum ierung
der Ära Brüning unter ein ,typisches M odell“ einer Entw icklung von der parlamentari­
schen D em okratie zum totalen Staat wird der H istoriker ihre Individualität zu beto­
nen haben. Sie setzte in den Traditionen des deutschen O brigkeitsstaates einen spezi­
fischen gesch ichtlichen Boden voraus. D em politischen und institutionellen Ergebnis
dieses Rückgriffs vermag deshalb eine Typisierung nur ungenügend gerecht zu wer­
den.“20 Und Besson unterzog im folgenden seinerseits die politische Prämisse Brü­
nings, der in den Traditionen deutschen politischen D enkens stehend Staatsräson
über Parteiräson gestellt habe, einer kritischen Betrachtung, w enngleich er die Politik
der „Sach lich keit“ aus w ürttem bergischer Perspektive als positiv beurteilt.
D iese K ritik zielte also nich t im vordergründigen Sinn auf eine politisch motivierte
Rettung Brünings, sondern auf eine Grundfrage der zeitgeschichtlichen M ethode.
K arl D ietrich Bracher selbst war sich der N euartigkeit seines Ansatzes selbstver­
ständlich bewußt. Im Vorw ort betonte er 1955, es gehe nich t allein um die Rankesche
Frage, wie es eigentlich gewesen sei, wie es dazu kom m en konnte, die eine solche U n­
tersuchung im Bereich der historischen Forschung legitim iere: „Darüber hinaus um ­
schließt jene Epoch e, die der Z eitgeschich te angehört und zugleich so überaus spürbar
in unser politisches Dasein hineinw irkt, ein echtes Problem der politischen Wissen­
schaft, die in der W eim arer Republik ein in bestim m ten G renzen ,typisches“ Modell
für die Problem e der Erringung und Erhaltung, des Abbaus und Verlusts politischer
M acht erfaßt“21. Und auch in späteren Auflagen bekannte Bracher, die K ritik habe ihn
nicht davon abbringen können, an der V erbindung historischer, soziologischer und
politikw issenschaftlicher Fragestellungen festzuhalten und sie für einen fruchtbaren
Zugang zu halten.
A uch Hans Herzfeld, der Brachers W erk eine Einleitung voranstellte, bekannte sich
ausdrücklich zu diesem m ethodischen W eg. H erzfeld sah wohl das zeitweilige Unver­
ständnis, wenn er 1955 betonte, der 1933 herbeigeführte A bbruch in der Entw icklung
von Sozial- und Politikw issenschaft in D eutschland erschwere die R ezeption ihrer sy­
stem atischen M ethoden. E in e derartige Schlußfolgerung dränge sich dem Betrachter
dieser Disziplinen in Frankreich, England und den U SA m it „sehr em pfindlicher
Schärfe“ auf. Um so notwendiger sei eine, die verschiedenen D isziplinen zusam m en­
fassende, system atische Fragestellung der W issenschaft von der Politik, stelle doch die
,A uflösu ng der W eim arer D em okratie, der Sieg des autoritären und totalen Staates
19 Werner Conze, in: H Z 183 (1 9 5 7 ) 3 8 0 . Allerdings konzedierte auch C onze damals, Brachers
W erk sei das erste, das wissenschaftlich -weiterführe und Neuland betrete.
20 Besson, W ürttem b erg, 3 5 9 f.
21 K a rl Dietrich Bracher, Auflösung (51 9 7 1 ) X V III (Vorw ort 1955).
169
D ie W eim arer R epu blik
über die Idee der politischen Freiheit im H erzen Europas, die vielleicht erschütternd­
ste und als W arnung lehrreichste Erfahrung in der politischen G esch ichte dar, die der
■wissenschaftlichen Beobachtung heute zugänglich ist, solange das G leiche für die östli­
che W elt noch nicht oder zum indesten nich t in gleichem Maße der Fall ist“22.
Inzwischen haben sich die prinzipiellen Bedenken gegen eine strukturanalytische
M ethode in der G eschichtsw issenschaft weitestgehend zerstreut, Brachers Pioniertat
innerhalb der Zeitgeschichtsschreibu ng ist auch von denjenigen anerkannt, die seiner
Beurteilung Brünings nicht folgen.
V
Standen während der beiden ersten Jahrzeh nte nach 1945 die Auflösung der W e i­
marer Republik und ihre Ursachen im Vordergrund der Analyse und wurden in den
letzten Jah ren einige der schon früher erörterten Problem e wieder aufgenom m en, so
richtete sich seit den frühen 1960er Jah ren die A ufm erksam keit zunehm end auf die
Strukturproblem e ihrer Gründung. W enngleich auch sie nie aus dem Blickfeld ver­
schwunden war, so erlangte die Erforschung der revolutionären Übergangsphase doch
von den frühen 1960er Jah ren bis weit in die M itte der 1970er Jah re die größte A uf­
merksam keit. A uch dieses Forschungsinteresse war deutlich von den politischen P ro­
blem en und A useinandersetzungen der eigenen Z eit stim uliert, zum indest erzielte es
im K o n text der Parlam entarism us-K ritik der Neuen Linken und ihrer direktdem okra­
tischen Theorien erhebliche Breitenwirkung.
Die politische Erfahrung, aus der heraus die B onner Verfassungsväter die plebiszitäre K om p o n en te der W eim arer Verfassungsordnung ablehnten, da sie lediglich agita­
torisch-destruktive Bedeutung für das politische System von W eim ar gew onnen hatte,
fehlte der neuen G eneration offensichtlich. Eine eindringendere Betrachtung zeigte
überdies, wie sehr die neom arxistische Parlam entarism us-K ritik Ende der 1960er
Jahre derjenigen ähnelte, die in den 1920er Jah ren auf wirksam-verhängnisvolle W eise
Carl S ch m itt am parlam entarischen Regierungssystem geübt h atte23. Beide kritischen
Parlam entarism us-Theorien konvergierten im übrigen darin, daß sie die Realität des
Parlamentarism us m it K ategorien attackierten, die aus der idealisierenden liberalen
Theorie des 19. Jahrhunderts entw ickelt waren, zum Beispiel m it dem M odell einer
,diskutanten Ö ffen tlich k eit“, und einem historisch nie existenten M odell rationaler
Entscheidungsbildung24. D ie
A lternative
zum
nur
begrenzt
funktionstüchtigen
22 H ans Herzfeld, Einleitung, ebd., X V f.
23 Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlam entarism us (Berlin 21926, N D
*1969).
24 A d o lf AI. Birke, Die Souveränität des viktorianischen Parlam ents und die m oderne Parlam en­
tarismuskritik, in: D er Staat, Beiheft 1 (Berlin 1 975) 5 9 - 7 3 ; Horst Möller, Parlam entarism us-D is­
kussion in der W eim arer Republik, in: M anfred Funke, H ans-A dolf Jacobsen, Hans-Helmuth
Knütter, Hans-Peter Schwarz (Hrsg.), Dem okratie und Diktatur. Geist und Gestalt politischer
Herrschaft in D eutschland und Europa. Festschrift Karl D ietrich Bracher (Düsseldorf 1987)
1 4 0 -1 5 7 .
170
¡Horst M öller
Reichsparlam entarism us der W eim arer Republik suchte die Interpretation nun in „rä­
tedem okratischen“ M odellen und nicht m ehr in der Analyse der Strukturdefekte des
Parlam entarism us m it der K onstruktion einer krisenfesteren Form des Parlam entaris­
mus, wie sie m it der Verfassungsordnung des Grundgesetzes entw ickelt wurde.
Bei aller inhaltlichen G egensätzlichkeit beider Problem stellungen konvergierten sie
letztlich doch in einer formal ähnlichen Frage: W ie hätten die Ü berlebenschancen der
W eim arer Republik erhöht und damit der A ufstieg des Nationalsozialismus wirksamer
verhindert werden kön nen? Daraus leitete die Räteforschung die Frage ab: Gab es
W ege zu einer breiteren gesellschaftlichen Fundierung des aus der Revolution hervor­
gegangenen Staates? K onsequ ent mußte eine solche Betrachtung sich stärker auf die
Begründung als auf die Auflösung der Republik richten, weil damals die V oren tschei­
dung für die politische Struktur des neuen Staates gefallen war.
M ethodisch bildete eine w irkungsgeschichtlich-funktionale
Interpretation
wie­
derum den A ngelpunkt. N och stärker als bei der Analyse der A uflösung stellte sich
die m ethodische Frage, in w elchem Maße der nachlebende H istoriker m it A lternativ­
m odellen zur Erfassung der tatsächlichen historischen Entw icklung arbeiten kann.
D ie A ufbruchstim m ung von 1969 „M ehr D em okratie wagen!“ wurde gewissermaßen
ins Ja h r 1919 zurückprojiziert, und so m anche der 50-Jahresbetrachtungen zur Revo­
lution 1918/ 1919 legt davon beredt Zeugnis ab.
Allerdings besaß auch diese Forschungsrichtung m ethodische und em pirische V or­
läufer seit M itte der 1950er Jah re und politische bereits in der zeitgenössischen D is­
kussion. D ie gegensätzliche Deutung der Revolution von 1918/ 1919 wurde gewisser­
maßen handbuchartig kanonisiert durch die neben Brachers Auflösung der 'Weimarer
Republik lange Z eit wohl einflußreichste Sich t der ersten deutschen D em okratie, Karl
D ietrich Erdm anns H andbuchdarstellung von 1959 (eine w esentlich erweiterte und
aktualisierte Neuauflage erschien 1973). D iese nachhaltige W irkung für die G esam tbe­
urteilung der W eim arer D em okratie resultierte zum einen aus der souveränen Verar­
beitung einer großen Materialfülle, zum anderen aber auch aus der A bgew ogenheit,
m it der Erdm ann verschiedene K ontroversen darstellte. N icht zuletzt aber dürfte die
Ü bereinstim m ung m it der im politischen Selbstverständnis der 1950er und frühen
1960er Jah re kulm inierenden klaren U nterscheidung von D em okratie und totalitären
D iktaturen eine Rolle gespielt haben. Sie kam bereits in der Ü berschrift des 1. K ap i­
tels zum A usdruck: „Rätestaat oder parlamentarische D em okratie?“ Erdm ann wür­
digte die Leistung des sozialdem okratischen Vorsitzenden der Regierung der V o lksbe­
auftragten und späteren Reichspräsidenten Friedrich E bert und die w esentlich von
ihm m itgestaltete m ehrheitssozialdem okratische Politik in der revolutionären Ü ber­
gangsphase: Zu seinen Verdiensten gehörte - wie Erdm ann betonte - die E in h eit des
R eiches und D eutschland vor dem Bolschew ism us gerettet zu haben. O hne für Feh l­
entw icklungen und politische Fehler der m ehrheitssozialdem okratischen Führung
blind zu sein, sah Erdm ann doch keine prinzipielle A lternative zu ihrer Politik.
Ü ber diese Frage kam es bereits 1955 zu einer wegweisenden und die Fronten klä­
renden Kontroverse, als Erdm ann in den Vierteljahrsheften f ü r Zeitgeschichte seine
K onzeption entw ickelte und Erich M atthias ihm 1956 in der Z eitschrift Die neue Ge­
sellschaft ebenfalls in einem kritischen Literaturbericht entgegentrat25.
D ie W eim arer R epu blik
171
Erdmann hatte nicht nur eine Ü bersicht über die vorliegende Literatur von frühen
E r s t e ll u n g e n der Zeitgenossen, wie die Ferdinand Friedensburgs (1946) und Fried­
rich Stam pfers (1947) bis hin zu den M em oiren gegeben, sondern auch die wissen­
schaftliche Literatur einer kritischen Prüfung unterzogen. Dabei lenkte Erdm ann den
glick auf die These vom „D ritten W eg“ zwischen Parlam entarism us und Bolschew is­
mus, die bereits in der frühesten Gesam tdarstellung der W eim arer Republik, d erjeni­
gen A rthur Rosenbergs, entw ickelt wurde und in der 1954 veröffentlichten Studie von
W alter T orm in erstmals w issenschaftlich untersucht worden war: Zwischen Rätedik­
tatur und sozialer Demokratie. Die Geschichte der Deutschen Revolution 1918/19- B e­
reits die Beiträge von Torm in, Erdm ann und Matthias um rissen eben jenes Fo r­
schungsproblem , dessen kontroverse Diskussion erst in der zweiten Hälfte der sechzi­
ger Jahre voll entbrannte.
Erdmann beurteilte den 2. Band von Rosenbergs auf die Jah re 1918 bis 1923 ko n ­
zentrierter Darstellung von 1935 als Beginn der w issenschaftlichen Erforschung der
W eim arer R epu blik20. Und in der T at hatte Rosenberg außer reflektierter Problem ori­
entierung die differenzierte N achzeichnung m achtpolitischer V erschiebungen sowie
die Auswertung eines damals unveröffentlichten Quellenbestandes zu bieten - der S it­
zungsprotokolle der Regierung der Volksbeauftragten. Erdm ann setzte sich mit R o ­
senbergs K em th ese auseinander, derzufolge die W eim arer Republik zum Untergang
verurteilt gewesen sei, weil die Revolution steckengeblieben und das Ziel einer sozia­
len Revolution verfehlt habe. In W irtschaft, Verwaltung, Justiz und Militär seien die
alten M achtpositionen der M onarchie unangetastet geblieben und w irtschaftliche
Schlüsselindustrien nicht verstaatlicht worden. M it H ilfe der A rbeiter- und Soldaten­
räte sei eine soziale Revolution m öglich gew esen; eine K om bination zwischen Räten
und Parlam ent hätte bei größerem revolutionärem Engagem ent der m ehrheitssozial­
dem okratischen Führung die Chance zur stabileren Verankerung der D em okratie in
Deutschland geboten.
D em gegenüber betonte Erdm ann die „entscheidende Tatsache, daß das aus dem
Z usam m enbruch am 9. N ovem ber hervorgegangene Regim e in seiner Geburtsstunde
von links her, nicht von rechts, m it Gewalt in seiner Existenz bedroht wurde“27.
Schon 1955 hatte er die Situation pointiert beschrieben. Damals bestand „die W ahl
zwischen einem konkreten Entw eder-O der: die soziale Revolution im Bund mit den
auf eine proletarische D iktatur hindrängenden K räften oder die parlamentarische R e ­
publik im Bund m it konservativen Elem enten wie dem alten Offizierskorps. D ie W e i­
marer Republik ist das Ergebnis eines sozialistisch-konservativen Zweckbündnisses.
Rosenbergs These, daß sie deshalb zugrunde ging, weil sie nich t unterbaut wurde
durch eine soziale Revolution, ist falsch, weil im G egenteil der Fehlschlag der sozialen
25 K a rl Dietrich Erdmann, Die G eschichte der W eim arer Republik als Problem der W issen­
schaft, in: V fZ 3 (1 9 5 5 ) 1 - 1 9 ; Erich Matthias, Z ur G eschichte der W eim arer Republik. Ein Lite­
raturbericht, in: Die Neue Gesellschaft 3 (1 9 5 6 ) 3 1 2 -3 2 0 .
26 Rosenbergs im m er wieder aufgelegte G eschichte der W eim arer Republik endet zwar erst m it
dem Ja h r 19 3 0 , doch widmet er den Jahren 1 9 2 4 bis 1 9 3 0 nur knapp 6 0 Seiten,
27 In: Gebhardt, H andbuch der deutschen G eschichte, Bd. 4 (Stuttgart 91973) 161.
172
H orst M öller
Revolution überhaupt die V orbedingung dafür war, daß sie als das bestim m te histori­
sche Phänom en ... ins Leben trat.“28 V on dieser Position aus lehnte Erdm ann die
These ab, der U ntergang der Republik sei zwangsläufig gewesen.
In seiner A ntw ort ging E rich M atthias davon aus, daß „trotz aller tiefgreifenden U n­
terschiede zwischen der Situation des gespaltenen D eutschlands von heute und der
des W eim arer Staates die K ontinu ität der G rundproblem e unserer staatlichen Exi­
stenz verblüffend“ sei. M atthias nahm Erdm anns W arnung vor einer fatalistischen G e­
schichtsbetrachtung ebenso auf wie dessen M ahnung, sich den Blick für die „O ffen­
heit der Situation in E ntscheidungsstunden“ nicht trüben zu lassen. A ber tatsächlich
sei es Rosenberg, der diese Forderung beherzige, nicht Erdm ann, der diesen gründlich
m ißverstehe. Erdm ann reduziere eine ungeheuer kom plizierte Situation auf eine viel
zu einfache A lternative29.
D er G edanke, um den es Rosenberg gegangen sei, „daß die breite M itte der gem ä­
ßigt sozialistisch-dem okratischen deutschen A rbeiterschaft zugleich zum Kristallisa­
tionskern und zum sozialen Träger eines nationalen dem okratischen Integrationspro­
zesses hätte werden können, läßt sich nich t ohne weiteres als utopische Phantasie bei­
seite schieb en“. D ie Frage nach den realen C hancen eines „dritten W eges“ lasse sich
gerade nach der Studie von T orm in keineswegs von vornherein negativ beantworten.
W enngleich heutige V erfechter dieser gegenüber Erdm ann revisionistischen Interpre­
tation im allgem einen den Begriff „dritter W eg“ für ungeeignet halten, so geht es doch
noch im m er um die politische A lternative zur Politik E b erts30.
D ie Beurteilungsgrundlage hat sich seit der ersten Diskussion von 1 9 5 4 -1 9 5 6 und
der K ontroverse auf dem Berliner H istorikertag 1 9 6 4 31 erheblich verbessert. So publi­
zierte die K om m ission für G esch ichte des Parlam entarism us und der Politischen Par­
teien den A nregungen von M atthias folgend - und zum T eil von ihm bearbeitet - eine
ganze R eihe grundlegender Editionen, die sowohl die Quellenbasis erw eiterten, als
auch eine andere einflußreiche These, die von T heod or Eschenburg, W eim ar sei eine
im provisierte D em okratie gew esen32, zum T eil m odifizierten: So bearbeiteten Mat-
28 K arl Dietrich Erdmann, in: V fZ 3 (1955) 7, 16.
29 Erich Matthias, in: Die Neue Gesellschaft 3 (1956) 312.
30 Vgl. zur Position der A n hänger einer von R osenberg ausgehenden Interpretation u .a .: Rein­
hard Riirup, Problem e der Revolution in D eutschland 1918/19 (W iesbaden 1968); den,, D em o­
kratische Revolution und „dritter W eg“, in: G eschichte und Gesellschaft 9 (1983) 2 7 8 -3 0 1 ; Eber­
hard Kolb, Die W eim arer Republik (M ünchen - W ien 1984) 153 ff. - Aus unterschiedlichen, in
wesentlichen Punkten aber gegenteiligen Perspektiven u.a.: W olfgangJ. Mommsen, Die deutsche
Revolution 1 9 1 8 -1 920, in: G eschichte und Gesellschaft 4 (1978) 3 6 2 -3 9 1 ; Heinrich August Win­
kler, Die Sozialdemokratie und die Revolution 1918/19 (B erlin -B onn 1979); EckehardJesse/Hennig Köhler, Die deutsche Revolution 1918/19 im W andel der historischen Forschung, in: Aus
Politik und Z eitgeschich te B 45 /7 8 v. 11. Nov. 1978, 3 -2 3 ; Möller, W eim ar, 35 ff.
31 Bericht über die 26. V ersam m lung deutscher H istoriker in Berlin (Beiheft G W U ), Stuttgart
1965.
32 Theodor Eschenburg, Die Republik von W eim ar. Beiträge zur G eschichte einer im provisierten
D em okratie (Uberarb. Neuausg. M ünchen 1984). D er Begriff - den Eschenburg zuerst 1951 auf­
nahm - wurde schon von H u go Preuß im O ktober 1918 auf die Parlam entarisierung durch die
O ktober-R eform en verwendet. Die Forschung hat seit der erwähnten Edition über den Interfrak-
D ie W eim a rer R epu blik
173
thias und M orsey die 1959 veröffentlichte Edition Der interfraktionelle Ausschuß
1917 / 18 , 1962 Die Regierung des Prinzen M a x von Baden, und nach weiteren w ichti­
gen Editionen erschienen 1969 in der Bearbeitung von Erich Matthias, Susanne M iller
und H einrich P otth off die A kten der Regierung der Volksbeauftragten 1918/19, nach­
dem bereits 1968 Eberhard K o lb und Reinhard R ü nip gem einsam m it dem Interna­
tionalen Institut für Sozialgeschichte in Am sterdam und der erwähnten B onner K o m ­
m ission Der Zentralrat der Deutschen Sozialistischen Republik publiziert hatten.
Auf der Basis neu erschlossener Q uellenbestände veröffentlichte Eberhard K o lb
schließlich 1962 die erste gründliche em pirische U ntersuchung, die zum Vorbild spä­
terer Analysen dieser A rt wurde: Arbeiterräte in der deutschen Innenpolitik 1918-1919.
Ihr folgten bereits nach einem Jah r, ebenfalls in der B onner K om m ission, Peter von
O ertzens Betriebsräte in der Novemberrevolution. In der zweiten Hälfte der sechziger
Jah re setzte dann - stim uliert durch die genannten politischen Motive - eine intensive
Diskussion ein. Erschien Friedrich E bert bis zur M itte der sechziger Jah re als ein
Reichspräsident, auf den sich postum alle dem okratischen K räfte der Bundesrepublik
hätten einigen können, so wurde er im Zuge der K ritik an der G roßen K oalition seit
1966 von der politischen Linken zunehm end aus dem Sozialism us ausgebürgert und
nahezu zum C D U -M itglied - ebenso postum natürlich.
Es unterliegt heute keinem Zweifel m ehr, daß die Rätebew egung von 1918/19 kei­
neswegs politisch hom ogen und die sozialdem okratischen Räte gegenüber den radi­
kalsozialistischen oder gar den spartakistisch-bolschew istischen Gruppen in der M ehr­
heit gewesen sind; die Radikalisierung der R ätem ehrheit setzte tatsächlich erst um die
Jahresw ende 1918/19 ein. In der Einzelanalyse sind also zahlreiche und wichtige neue
Forschungsergebnisse auf der Basis der seit M itte der fünfziger Jah re gegebenen A n ­
stöße erzielt worden. D och hat das, anders als dies m anchen R äteforschem scheinen
mag, keineswegs zwangsläufig die prinzipielle Beurteilung der Entscheidungsalternati­
ven von 1918/19 oder ihre langfristige W irkung verändert. In dieser Frage bleiben
trotz vieler M odifikationen im einzelnen die Positionen weiterhin kontrovers, auch
wenn die A useinandersetzungen abgeflaut sind.
Trotz der insgesam t also zweifellos veränderten Beurteilung der Räte bleibt der D is­
sens beispielsweise in folgenden Fragen bestehen: Ein politisches Rätesystem ist m it
der parlam entarischen D em okratie unvereinbar; ob m it ihr ein w irtschaftliches R äte­
system vereinbar ist, bleibt um stritten. Ebenso bestreitbar ist, ob die Sozialisierung der
W irtschaft auch nur eine einzige der schw eren H ypotheken der W eim arer Republik
beseitigt und nicht vielm ehr neue geschaffen hätte. H ier handelt es sich um ein politi­
sches Credo, nich t eine geschichtsw issenschaftlich fundierbare Aussage zu den W e i­
chenstellungen von 1918/1919. Schließlich muß die Frage beantw ortet werden, m it
tionellen Ausschuß 1 9 1 7 /1 8 im m er stärker gezeigt, daß in den letzten Kriegsjahren wichtige
V orentscheidungen in R ichtung auf die Parlam entarisierung fielen, zu denen vor allem auch die
Neugruppierung des Parteiensystem s m it der Präfiguration der späteren W eim arer Koalition
zählte. Die Politik der M ehrheitssozialdem okratie im W in ter 1 9 1 8 /1 9 m uß auch unter diesem
A spekt gesehen werden, w odurch dann der Begriff Improvisation relativiert wird.
174
H orst M öller
w elchen Gruppierungen und w elchen der m eist ja nur diffusen - untereinander über
dies konkurrierenden - Rätem odellen ein K om prom iß erreichbar und m achtpolitisch
durchsetzbar gewesen wäre, welches dieser M odelle schließlich auch nur auf der Lin­
ken m ehrheitsfähig gewesen ist. D ie Frage des Bündnispartners ist ganz entscheidend
und tatsächlich funktionierte bereits die Zusam m enarbeit m it der U S P D n ich t: Das
lag keineswegs allein an der SP D -Füh run g, sondern m indestens im gleichen Maße an
der H eterogenität der U S P D , in der die Priorität einer souveränen Nationalversam m­
lung nich t akzeptiert wurde. V ielm ehr sprach man dort offen von einer D iktatur auf
Z e it: Zunächst sollten die sozialistischen Zielsetzungen erreicht und dann erst die Na­
tionalversam m lung einberufen
werden, weil
man
deren
abw eichende
M ehrheit
fürchtete. Ein dem okratisches Verfahren wäre dies jedenfalls nicht gewesen. H ier zeigt
sich im übrigen der Pferdefuß einer Interpretation, die den D em okratiebegriff nicht
formal verstehen, sondern m it bestim m ten gesellschaftspolitischen und ideologischen
Inhalten füllen will. Tatsächlich schließt ein erheblicher T eil solcher inhaltlich-politi­
scher W ertungen die politischen - oder gesellschaftlichen! - G egner aus der D em o­
kratie aus, weil sie andere oder gegenteilige Inhalte vertreten. D er Grundsatz: „Was
D em okratie ist, bestim m e ich“, gefährdete tatsächlich 1918/19 - wie grundsätzlich die D em okratie: D ie Politik der U S P D dem onstrierte das zweifelsfrei - das Prinzip
der Volkssouveränität, das sich nur in einer freien W ahl konkretisieren kann, sollte
zeitweise suspendiert werden, weil man sich der M ehrheit nicht sicher war. Gerade
weil zur D em okratie die U nterschied lich keit und G egensätzlichkeit der M einungen
ebenso wie verfassungsrechtlich geregelte Konfliktaustragung und Entscheidungsbil­
dung w esensnotwendig gehören, kann sie nur formal definiert werden, nur so sichert
sie die Pluralität der politischen Richtungen. Daran ändert die schon 1919 zu hörende
und von Hugo Preuß zu R ech t zurückgewiesene Polem ik gegen „bloß form ale D em o ­
kratie“ n ichts: D em okratie beinhaltet nicht eine bestim m te politische Richtung, son­
dern sichert die M öglichkeit aller politischen Richtungen, die sich an die Spielregeln
halten. Friedrich Ebert und die M ehrheitssozialdem okratie hat dies 1918/ 1919 v e istanden, große Teile der U S P D und der radikalen Räte nicht - trotz der schönen Ma­
xim e von Rosa Luxem burg, Freiheit sei im m er die Freiheit des Andersdenkenden.
Schließlich ist in bezug auf dritte, vierte und fünfte W ege 1918/1919 zu bedenken:
D ie m öglichen A lternativen sind vom H istoriker nur als H ypothesen zu form ulieren sie haben den Vorzug, sich in der Realität nicht m ehr bewähren zu können. Ihre m ög­
lichen M ängel sind also weniger offensichtlich als beim tatsächlich eingeschlagenen
K urs: Und über einige gravierende Fehler der m ehrheitssozialdem okratischen Füh­
rung ist schnell E inigkeit zu erzielen, da wir, anders als die A kteure, die Folgen - das
Scheitern der dem okratischen Republik und die N S-D iktatu r - kennen.
VI
A lles in allem bleiben also viele Fragen offen. Entscheidend sind aber auch hier die
Anregungen, die von den Forschungen der fünfziger und sechziger Jah re ausgegangen
sind und die ihren W ert behalten, selbst wenn in der Außenpolitik, der W irtschafts-
D ie W eim arer R epu blik
175
und Sozialgeschichte, insbesondere der Inflationsforschung, der historischen W ahlfor­
schung, der Analyse des Parlamentarism us und der Parteien, der Regional- und Lokal­
geschichte neue W ege beschritten werden. D ie erwähnte K onzentration auf die A uf­
lösung und dann die Begründung der W eim arer Republik fand sogar im Erschei­
nungsjahr einschlägiger Sam m elbände w ichtiger Aufsätze A usdruck: Zuerst veröffent­
lichten W erner Conze und Hans Raupach das Samm elwerk, Die Staats- und Wirt­
schaftskrise des Deutschen Reiches 1929-1933 (1967), dem schon 1968 der Sam m elband
von Gotthard Jasper, Von Weimar zu Hitler, an die Seite trat. Es folgte der von E b er­
hard K olb herausgegebene Band Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik (1972).
Neben w eiteren U ntersuchungen zur Auflösungsphase wie T hilo Vogelsangs Reichs­
wehr, Staat und NSDAP (1962) traten schon früh D arstellungen zu einzelnen zentra­
len Problem en, ohne doch einen Forschungsschw erpunkt m it Beteiligung zahlreicher
Forscher zu bilden. So legte Gerhard Schulz 1963 eine der ersten großen U ntersu­
chungen zum Preußen-Problem und den Reichsreform bestrebungen vor, die die Jahre
1919 bis 1930 behandelte und damit wie M ichael Stürm ers U ntersuchung Koalition
und Opposition in der Weimarer Republik 192 4 -1 9 2 8 (1967) zu den damals noch w eni­
gen em pirischen Studien über die m ittleren Jah re zählte. Bei unterschiedlicher T h e ­
matik behandeln beide Bücher Problem zonen der Verfassungsstruktur bzw. -praxis. In
bezug auf die Preußen-Them atik, aber auch die Entw icklung des Parlamentarism us,
haben einige A utoren in den letzten Jah ren eine andere Fragestellung und Perspektive
gewählt, die, von der föderativen Struktur des W eim arer Staates ausgehend, einen
konstruktiven Beitrag der Länder zur G esch ichte des Parlamentarismus in den Blick
nim m t und gewissermaßen kom plem entär zur Analyse der Strukturdefekte des
Reichsparlam entarism us durch K arl D ietrich Bracher nach realisierten Alternativen
auf Länderebene fragt. N eben den allerdings bisher nur zeitlich oder sachlich begrenz­
ten U ntersuchungen vor allem zur Parteigeschichte kleinerer Länder steht nun auf­
grund seiner politischen Bedeutung und Größe das sich auf zwei D rittel des R eich ster­
ritoriums erstreckende und drei Fünftel der Reichsbevölkerung beherbergende Preu­
ßen im M ittelpunkt. Dazu liegt inzwischen eine Gesamtanalyse des preußischen Parla­
mentarismus von 1918/19 bis 1932/33 vor, die Preußen nicht m ehr in erster Linie als
Belastungsfaktor des W eim arer Staates ansieht, sondern aufgrund verfassungsge­
schichtlicher, sozialgeschichtlicher und politischer Befunde wegen seiner bis 1932
funktionierenden konsequenten Form der parlam entarischen D em okratie Preußen
eher stabilisierende W irkung attestiert. D ie vergleichende Reich-Preußen-Perspektive
könnte m ithin für eine G esam tbeurteilung der W eim arer Republik fruchtbar wer­
den33.
Zu denjenigen Sektoren, in denen ebenfalls ein erheblicher W andel in Fragestel­
lung, Ergebnissen und Bew ertungen eingetreten ist, zählt zweifelsfrei die A ußenpolitik
des W eim arer Staates, auch hier war zeitweise das erkenntnisleitende Interesse der
33 Horst Müller, Parlam entarism us in Preußen 1 9 1 9 -1 9 3 2 (Düsseldorf 1985). (D ort auch weitere
Literatur). Mit biographischer T hem atik: Hagen Schulze, O tto Braun oder Preußens dem okrati­
sche Sendung (Frankfurt/M . 1 977) - eine der wenigen herausragenden Biographien zur Gesch.
der W eim arer Republik.
176
H orst M öller
Z eit nach 1945, bzw. 1949 unverkennbar. A nfänglich stand die Erforschung der W ei­
m arer A ußenpolitik noch im Banne der W eim arer Tradition, die im Versailler Frie­
densvertrag eine der gravierendsten Belastungen der jungen deutschen Dem okratie
sah und derzufolge die D eutschlandpolitik der A lliierten für ihr Scheitern mitverant­
wortlich m acht. Im H inblick auf die Ausgangsfrage korrespondierte also die außenpo­
litische m it der innenpolitischen T hem atik. A llerdings zeichnete sich angesichts der
ungleich schwereren K onsequenzen, die der Zw eite W eltkrieg für das D eutsche Reich
brachte, bereits ein W andel der Perspektive ab. So wies Gerhard R itter bereits 1948
auf die außenpolitischen C hancen während der 1920er Ja h re hin. D ie Ungeduld ge­
genüber dem Versailler Vertrag sei verhängnisvoll gewesen, habe sie doch die Augen
davor verschlossen, „daß die W eim arer Republik ohnedies, trotz aller Schwankungen
und N öte, langsame, aber stetige Fortschritte m achte auf dem W ege zu einer W ieder­
aufnahm e Deutschlands in die europäische Staatengem einschaft und zu einer Befrei­
ung von dem D ruck der Reparationszahlungen, ja sogar zur Lockerung der Rüstungs­
beschränkungen. Sehr viele, vielleicht die m eisten D eutschen verkannten die überaus
günstigen C hancen eines politischen und w irtschaftlichen W iederaufstiegs, die unsere
europäische M ittellage gegen Ende der zwanziger Jah re einer geduldigen, stetigen und
wahrhaft friedfertigen deutschen Politik bot.“34
Tatsächlich wird heute der Versailler Vertrag, vor allem aufgrund der U ntersuchun­
gen französischer und am erikanischer H istoriker - w eniger als „D iktat“ denn als
K om prom ißfrieden der A lliierten beurteilt, der einerseits für Frankreich nur einen
Teil der Ziele erfüllte, andererseits D eutschland nur kurzfristig in den Rang einer
zweitrangigen M acht herabdrückte: M ittel- und langfristig ließ der Vertrag jed och die
deutsche G roßm achtstellung unangetastet. D eutschlands w irtschaftliche Dom inanz
auf dem K o n tin en t beeinträchtigte er zwar zeitweise, beseitigte sie aber n ich t dauer­
haft. Infolge dieser Ergebnisse stehen die Erfolge der außenpolitischen Revisionspoli­
tik stärker im Vordergrund der Betrachtung.
D iese Erfolge verdankte die R epublik weitgehend der A ußenpolitik Gustav Stresem anns. D ie durch ihn erreichte Verm inderung des Mißtrauens der w estlichen N ach­
barstaaten und der U SA spielte noch Jah re später eine R olle, als die w eltw irtschaftli­
chen Rahm enbedingungen, die katastrophale ökonom ische Situation des R eich es und
die sie für eine Revision instrum entalisierende Politik Brünings die endgültige Strei­
chung der alliierten Reparationsforderungen auf der K onferenz von Lausanne im
Juni/Juli 1932 erlaubte - auch wenn dieser Erfolg dann von der Regierung Papen für
sich beansprucht wurde.
Stresem anns Persönlichkeit und politische Zielsetzung gab und gibt bis heute R ät­
sel auf35: Trotz zahlreicher Einzeluntersuchungen und biographischer Studien steht
eine umfassende und befriedigende Biographie noch im m er aus, wie es überhaupt an
54 Gerhard Ritter, Europa und die deutsche Frage (M ünchen 1 9 4 8 ) 1 9 6 /1 9 7 .
35 Aus der um fangreichen Stresem ann-Literatur: Henry Ashby Turner, Stresem ann - Republika­
ner aus Vernunft (B erlin -Frank fu rt/M . 1 9 6 8 ); Felix Hirsch, Stresem ann. Ein Lebensbild (G öttin­
gen 1 9 7 8 ); M ichael-O laf Maxeion, Stresem ann und Frankreich 1 9 1 4 -1 9 2 9 (Düsseldorf 1972);
Woljgang M ichalka/M arshall M, Lu (Hrsg.), Gustav Stresem ann (D arm stadt 1982).
D ie W eim a rer R epu blik
177
wirklich großen Biographien der führenden Politiker der W eim arer Z eit bis heute
mangelt. Da Stresem ann während des Ersten W eltkrieges lange Z eit zu den A n n ex io ­
nisten zählte und die von ihm geführte D V P den Boden der dem okratischen Republik
nach 1919 nur zögernd betrat, galt er den einen nach wie vor als verkappter nationali­
stischer M onarchist, den anderen aber seit M itte der 1920er Jah re als Europäer. Das
eine dürfte so falsch sein wie das andere. Tatsächlich war Stresem ann nicht allein ein
Realpolitiker, der sich auf den Boden der Tatsachen stellte, vielm ehr zählte er zu den
nicht sehr zahlreichen bedeutenden deutschen Parlamentariern, der sich spätestens
seit 1917 m it V ehem enz für eine Stärkung des Reichstags und schließlich ein parla­
mentarisches System einsetzte und seit 1923 zunehm end zu einem A ktivposten des
W eim arer Staates entw ickelte, auf den man nich t verzichten konnte. Seine P ersönlich­
keit und Politik dokum entieren aber auch, in w elchem Maße während der W eim arer
Republik Innen- und A ußenpolitik in einem engen W echselverhältnis standen. K aum
ein zentrales reichspolitisches Problem blieb ohne außenpolitischen Bedingungszu­
sammenhang und um gekehrt. Fast jeder der zahlreichen Regierungsrücktritte resul­
tierte auch oder völlig aus außenpolitischen Gründen. D er m ethodische Streit über ein
Primat der Innen- oder A ußenpolitik erweist sich in diesem K o n te x t als theoretisch.
Stresem anns außenpolitische M axim en blieben indes am nationalen Interesse orien­
tiert, und das galt auch für die übrigen führenden Politiker dieser Jah re, Aristide
Briand eingeschlossen. Und wie alle anderen deutschen Spitzenpolitiker wollte er we­
sentliche Bestim m ungen des Versailler Vertrages zugunsten Deutschlands revidieren
- allerdings auf der Basis der Verständigung m it Frankreich, des Gewaltverzichts und
deutsch-am erikanischer sowie deutsch-französischer W irtschaftsabkom m en, schließ­
lich auch m it H ilfe der E lem en te einer europäischen Friedensordnung. D iese Ziele
gingen angesichts der damaligen innenpolitischen Problem e und der Struktur der in ­
ternationalen Beziehungen nach 1919 sehr weit, hatten aber doch wenig m it den euro­
päischen Einigungsbem ühungen zu tun, die in den 1950er Jah ren die anachronisti­
sche Bewertung Stresem anns als eines .Europäers“ stim ulierten.
N icht allein die Bew ertung Stresem anns ist realistischer - und das heißt dem zeitge­
nössischen K o n text näher - geworden, auch die der zentralen außenpolitischen P ro­
bleme wie das Verhältnis der W eim arer Republik zu Sow jetrußland36, vor allem aber
die Bewertung der die Zeitgenossen erhitzenden Reparationsfrage37.
Allerdings ändert dieser wichtige Befund nichts an der Tatsache, daß u. a. aufgrund
der zeitgenössischen Ü berschätzung das Reparationsproblem psychologisch von größ-
36 Theodor Scbieder, Die Problem e des Rapallo-Vertrages. Eine Studie über die deutsch-russischen
Beziehungen 1 9 2 2 - 1 9 2 6 (K ö ln -O p lad en 19 5 6 ); K a rl Dietrich Erdmann, Deutschland, Rapallo
und der W esten, in: V fZ 11 (1 9 6 3 ) 1 0 5 - 1 6 5 ; Hermann Graml, Die Rapallo-Politik im Urteil der
westdeutschen Forschung, in: V fZ 18 (1 9 7 0 ) 3 6 6 - 3 9 1 ; Klaus Hildebrand, Das D eutsche Reich
und die Sowjetunion im internationalen System , 1 9 1 8 -1 9 3 2 (W iesbaden 1977); Jo s e f Becker/
Klaus H ildebrand (Hrsg.), Die Internationalen Beziehungen in der Weltwirtschaftskrise
1 9 2 9 -1 9 3 3 (M ünchen 1980).
37 Peter Krüger, D eutschland und die R eparationen (Stuttgart 1973); ders,, Das Reparationspro­
blem der W eim arer Republik in fragwürdiger Sicht. Kritische Überlegungen zur neuesten F o r­
schung, in: V fZ 29 (1 9 8 1 ) 2 1 - 4 7 ; (dort weitere Lit.).
178
H orst M öller
ter innenpolitischer Bedeutung gewesen ist: Es existiert kein zweites zentrales Ziel
über das sich fast alle politischen und gesellschaftlichen K räfte der W eim arer Repu '
blik so einig waren, wie das der Forderung nach Revision des Versailler Vertrags - uncj
zu ihm gehörten auch die Reparationsforderungen. M ichael Salewski sprach zutref­
fend von einem „Revisionssyndrom “. Trotz des heutigen K enntnisstandes und des historiographischen Perspektivenwandels des letzten Jahrzeh nts m uß der H istoriker die
zeitgenössische Befangenheit ernstnehm en und auch sehen, daß in einem Bündel von
Belastungsfaktoren jedes zusätzliche Problem , mag es auch für sich genom m en be­
grenzt sein, große Bedeutung gewinnt.
D ie W eim arer A ußenpolitik hat zwar m it Ludwig Z im m erm anns Buch Deutsche
Außenpolitik in der Ä ra der Weimarer Republik (1958) schon früh eine Gesam tdarstel­
lung erfahren, doch blieb diese noch stark in der nationalen Perspektive der Zwischenkriegszeit befangen; ihre forschungsgeschichtliche Bedeutung erhellt indes auch
daraus, daß es nahezu dreißig Jah re dauerte, bis eine neue Gesam tdarstellung erschien,
die in erheblichem Ausm aß neues A ktenm aterial und die um fangreiche Einzelfor­
schung verarbeiten konnte, Peter Krügers Buch Die Außenpolitik der Republik von
Weimar (1985)38.
Zu den um fangreicheren Forschungsschw erpunkten, die sowohl außen- wie innen­
politische D im ensionen besaßen, zählt neben den schon seit den fünfziger und sechzi­
ger Jah ren kontinuierlich betriebenen U ntersuchungen zur R eichsw ehr39, die sich auf
m ilitärgeschichtliche T h em en im engeren Sinn, das Verhältnis von Reichsw ehr und
Politik, aber auch auf m ilitärische und politische Kam pfverbände konzentrierte40, im ­
m er stärker die Erforschung der W irtschaftsgeschichte und der Sozialpolitik.
Zwar hatte es auch auf diesem Feld neben D etailstudien früh Zusam m enfassungen
gegeben - beispielsweise Gustav Stolpers schon 1950 publizierten Ü berblick, der 1964
in neuer Bearbeitung durch K arl Häuser und K n u t Borchardt unter dem T itel Deut­
sche Wirtschaftsgeschichte seit iSZO w ieder aufgelegt wurde. W ie bei Stolper handelte es
sich bei den Verfassern anderer größerer Gesam tdarstellungen einzelner Sektoren oft­
mals noch um beteiligte Z eitgenossen und nicht H istoriker im engeren Sinn. Dies gilt
etwa für W illibald A pelt und seine zuerst 1964 publizierter Geschichte der Weimarer
Verfassung, die bis zu E rnst Rudolf Hubers m onum entaler Verfassungsgeschichte, de-
38 Vgl. zur Forschungsentw icklung zuletzt die Übersicht bei Peter Krüger, Versailles. Deutsche
Außenpolitik zwischen Revisionism us und Friedenssicherung (M ünchen 1 986) 2 1 0 ff. Den um ­
fangreichen Akteneditionen ko m m t auch für diese Them atik große Bedeutung zu. Das gilt insbes. für die beiden um fangreichsten, die Akten der Reichskanzlei 1968 ff. sowie die Akten zur
deutschen auswärtigen Politik 1 9 6 6 ff. (Vgl. Möller, W eim ar, 2 3 7 ff.).
39 Zusam m enfassende D arstellung bei Rainer W ohlfeil/Edgar G r a f von Matuschka, Reichswehr
und Republik 1 9 1 8 -1 9 3 3 ( = D eutsche M ilitärgeschichte), hrsg. vom M ilitärgeschichtlichen Fo r­
schungsam t, Bd. 111,2 (H errsching 21 9 8 3 ); H ans Aleier-Welker, Seeckt (Frankfurt/M . 1967); M i­
chael Salewski, Entwaffnung und M ilitärkontrolle in Deutschland 1 9 1 9 -1 9 2 7 (M ünchen 1966);
M ichael Geyer, Aufrüstung oder Sicherheit. Die Reichswehr in der Krise der M achtpolitik
1 9 2 4 -1 9 3 6 (W iesbaden 1980).
40 Stellvertretend K arl Rohe, Das Reichsbanner Schw arz-R ot-G old (Düsseldorf 1 9 6 6 ); Volker R.
Berghahn, D er Stahlhelm . Bund der Frontsoldaten 1 9 1 8 -1 9 3 5 (Düsseldorf 1966).
D ie W eim a rer R epublik
179
ren W eim ar betreffende Bände 1978 bis 1984 erschienen, die einzige umfassende D ar­
stellung blieb. Und auch Ludwig Prellers Sozialpolitik in der Weimarer Republik
(1949) war das W erk eines Z eitgenossen. So verdienstvoll und unverzichtbar diese
Werke für Jahrzeh nte blieben, so sehr wandelten sich seit den siebziger Jah ren das
Forschungsinteresse und die M ethoden. Dies dokum entieren etwa neuere interdiszi­
plinäre U ntersuchungen von W irtschaft, G esellschaft und Politik im allgem einen so­
wie die Inflationsforschung im besonderen.
VII
Erste knappe Ü bersichtsdarstellungen von Hans Herzfeld, der die W eim arer R ep u ­
blik im
übrigen schon
in seinem
weit ausholenden W erk
Die moderne Welt
das zuerst 1951 erschien und danach im m er wieder überarbeitet wurde,
behandelt hatte, und W ern er Conze (zuerst 1953) waren ebenso wie H elm ut Heibers
erstmals 1966 erschienene, nach A uflagenhöhe wohl erfolgreichste W eim ar-D arstellung für einen breiteren Leserkreis bestim m t. D ie um fangreicheren H andbuchdarstel­
lungen von A lbert Schwarz 1958 und Karl D ietrich Erdm ann 1959 boten dann bereits
eine Synthese der bis dahin erarbeiteten Einzelforschung, nachdem der nach England
emigrierte Ju rist und H istoriker Erich Eyck, seine eingehende zweibändige Geschichte
der Weimarer Republik 1954/1956 in der Schweiz publiziert hatte.
Eyck schrieb sein W erk, wie oft betont worden ist, vom Standpunkt liberaler K ritik
an der W eim arer Republik aus, es bildet in vielen Passagen den Bericht eines klugen
zeitgenössischen Beobachters. D och paßte Eycks Buch m it seiner K ritik am m angeln­
den Kam pfesw illen der W eim arer D em okraten gegen den Extrem ism us von Rechts
und Links durchaus in den vorhin erwähnten antitotalitären K onsens. Eycks flüssige
Darstellung, die die innen- und außenpolitische G eschichte der Republik unter B e­
rücksichtigung der w irtschaftlichen Problem e in klassischer W eise erzählt, ist noch
immer lesenswert, in bezug auf die allgem eine politische G eschichte ist sie bis heute
am ausführlichsten und blieb bis zu H agen Schulzes W erk von 1982 die einzige um ­
fassendere deutsche G esam tdarstellung neben den H andbüchern.
Insgesamt legte also die seit M itte der fünfziger Jah re einsetzende historische und
politikwissenschaftliche W eim ar-Forschu ng eine eindrucksvolle Bilanz vor, die zu­
gleich ein differenziertes Bild dieser Z eit wie eine G esam tbeurteilung bietet41. T ro tz­
dem bedürfen zahlreiche T h em en weiterer U ntersuchungen. D ie bei den großen For­
schungsschwerpunkten und problem orientierten Analysen naturgemäß stärker als bei
den tausenden von Detailstudien zutage tretende Stim ulierung geschichtsw issen­
schaftlichen Interesses durch die politische Entw icklung der Bundesrepublik ist für
41 Jüngste Abrisse z.T . m it Forschungsberichten von Eberhard Kolb, Die W eim arer Republik; so­
wie Möller, W eim ar (aufgrund der Reihenkonzeption liegt der Schwerpunkt auf der Entwicklung
des politischen Systems bis 1930), schon früher Karlheinz Dederke, Reich und Republik
1 9 1 7 -1 9 3 3 (Stuttgart 1 9 6 9 u .ö.); H einz Härten, Zwischenkriegszeit und Zw eiter W eltkrieg
(Stuttgart 19 8 1 , Studienbuch G eschichte. Hrsg. von Reinhard E lze und K onrad Repgen, Heft 10).
180
H orst M öller
die Erforschung der W e im a r e r Republik im m er dann außerordentlich fruchtbar ge­
worden, wenn sie zu neuen Problem stellungen angeregt, diese dann aber in wissen­
schaftlichen Verfahrensw eisen am historischen Gegenstand selbst objektiviert hat. G e­
schichtsw issenschaft kann und m uß sich durch die Gegenw art und ihre politischen
Problem e an reg en lassen, darf aber n ic h t dabei stehen bleiben, wenn sie W issen sch a ft
sein will: Politisches Interesse darf den Ausgangspunkt, nicht aber M ethode und Ziel
einer w issenschaftlichen Erforschung der Z eitgeschich te prägen.
Konrad Kiviet
Die N S-Z eit in der westdeutschen Forschung
1 9 4 5 -1 9 6 1
Mehr als vier Jah rzeh n te nach dem Ende der N S-H errschaft gehört der N ationalso­
zialismus zu einem der am intensivsten bearbeiteten U ntersuchungsgegenstände der
Zeitgeschichtswissenschaft, und zu einem A llgem einplatz ist inzwischen die R ed e­
wendung geworden, daß die ständig steigende Flut der Literatur selbst für den Spezia­
listen kaum noch überschaubar ist. Ebenso unbestritten ist, daß die Erforschung des
Nationalsozialismus stets m it der A useinandersetzung über die „Bewältigung der V er­
gangenheit“ verknüpft war. Diese Verbindung scheint sich jetzt erst allm ählich aufzu­
lösen. Eine ganze R eihe von Literatur- und Forschungsberichten haben die historiographische Entw icklung nachg ezeichnet1, die sich m einer M einung nach in 3 Phasen
periodisieren läßt. D ie erste Phase reich t von 1945 bis 1961, die zweite bis 1983, die
dritte erstreckt sich auf die unm ittelbare Gegenwart. M ein Beitrag beschränkt sich auf
die Anfangsphase. D ie U rteile über die Leistung der sich etablierenden w estdeutschen
Zeitgeschichtsforschung gehen weit auseinander. A uf der einen Seite steht die K ritik
an den ideologisierenden und m oralisierenden Betrachtungsw eisen; an den H itleris­
mus- und Totalitarism usvorstellungen; an der Glorifizierung des bürgerlich-konservativen W iderstandes und der D iskrim inierung des kom m unistischen A ntifaschism us
sowie an der „Verdrängung“ der Judenverfolgung und anderer Them en . A uf der ande­
ren Seite stehen Verständnis und - in zunehm endem Maße - Lob. Ernst Schulin zieht
den Vergleich m it der Situation nach dem Ersten W eltkrieg heran und kom m t zu
dem Urteil, daß die westdeutsche Z eitgeschichtsforschung anders als 1918 die unm it­
telbare Vergangenheit „nicht nationalbewußt verteidigt oder beschw iegen, sondern
1 Um nur einige wichtige zu nen nen : HansM ommsen, Nationalsozialismus, in: Sowjetsystem und
demokratische Gesellschaft. Eine vergleichende Enzyklopädie, Bd 4 (Freiburg 1971) Spalte
6 9 5 -7 1 3 ; D eutsche G eschichte seit dem Ersten W eltkrieg. Bd. 3, hrsg. v. Institut für Z eitge­
schichte (Stuttgart 19 7 3 ); K arl Dietrich Bracher, Zeitgeschichtliche Kontroversen - U m Faschis­
mus, Totalitarismus, Dem okratie (M ünchen 1 976); IVolfgang Wippermann, „D eutsche K atastro­
phe1' oder „Diktatur des Finanzkapitals“ ? Z u r Interpretationsgeschichte des Dritten Reiches, in:
Die deutsche Literatur im D ritten Reich. T hem en, Traditionen, W irkungen, hrsg. v. Horst D enk­
ler/Karl Prümm (Stuttgart 1976) 9 - 4 3 ; Andreas Hillgruber, Tendenzen, Ergebnisse und Perspek­
tiven der gegenwärtigen H itler-Forschung, in: H Z 2 2 6 (1 9 7 8 ) 6 0 0 - 6 2 1 ; Klaus Hildebrand, Das
Dritte Reich (M ü nchen /W ien 1 979) 1 1 7 - 1 9 4 ; K a rl Dietrich Bracher/M anfred Funke/Ha ns-Adolf
Jacobsen, Nationalsozialistische D iktatur 1 9 3 3 -1 9 4 5 . Eine Bilanz (Düsseldorf 1983) vor allem
6 8 7 -7 9 8 ; Christoph Cobet (Hrsg.), Einführung in Fragen an die Geschichtsw issenschaft in
Deutschland nach H itler 1 9 4 5 -1 9 5 0 (Frankfurt/M . 1986).
182
K on rad K w iet
schnell, kritisch und ziem lich schonungslos erforscht h a t ... Im V ergleich zu den 20e
Jah ren und z.T. auch im Vergleich zur ausländischen Zeitgeschichtsforschung [stellt
sie] ein R uhm esblatt der deutschen G eschichtsw issenschaft“ dar2. In einem anderen
K o n te x t beurteilt H erm ann Lübbe die Leistung der w estdeutschen Nachkriegshisto
rie. Für ihn besitzt die gelingende „Rekonstruktion deutscher Staatlichkeit“ oberste
Priorität3. Grundvoraussetzung dafür war, daß nach 1945 auf der norm ativen Ebene
die politische und m oralische Niederlage der nationalsozialistischen H errschaft aner­
kannt wurde, als es darum ging, die Bevölkerung in den neuen dem okratischen Staat
zu integrieren. Dazu bedurfte es einer gewissen „Zurückhaltung in der öffentlichen
Them atisierung individueller oder auch institutioneller N azi-V ergangenheiten“4; ver­
ständlich wird, warum in der Etablierungs- und Konsolidierungsphase der Bundesre­
publik „historische oder theoretische Bem ühungen exem platorischer und analytischer
Bewältigung des N ationalsozialism us“ nur eine geringe Rolle spielten5. Lübbes zen­
trale These lautet: „D iese gewisse Stille war das sozialpsychologisch und politisch nö­
tige M edium der Verw andlung unserer N achkriegsbevölkerung in die Bürgerschaft der
Bundesrepublik D eutschland.“6 D a dies erreicht wurde, gibt es keinen A nlaß mehr
die Frage nach der „Bewältigung der V ergangenheit“ zu stellen. Thom as Nipperdey
hält sie ohnehin für ein historisch-sinnloses Unterfangen. So wie Lübbe vertritt er die
Auffassung, daß die alte „Verdrängungsthese“ von Beginn an „falsch“ war und nun­
m ehr der Zeitp unkt gekom m en ist, ein K onzep t zu zertrüm m ern, das von Alexander
und Margarete M itscherlich in den 6 0 e r Jah ren vorgelegt wurde. G em ein t ist die viel­
zitierte „Trauerarbeit“, die nicht zuletzt auch darauf abzielte, die Fähigkeit zu entwikkeln, die gesellschaftlichen Bedingungen und Verhaltensw eisen aufzuarbeiten und zu
verändern, die die Realität von Auschwitz erm öglicht haben. G esellschaftskritik und
Veränderung von Sozialverhalten werden von Nipperdey so verstanden7: „D ie Kritik
an der U nfähigkeit zu trauern hat ja bekanntlich nicht m ehr Fähigkeit zu trauern er­
zeugt, was eigentlich das Reale gewesen wäre, sondern was sie erzeugt hat, ist die Fä­
higkeit zur A nklage.“
D en deutschen H istorikern m ußte es 1945 schwerfallen, sich und anderen zu erklä­
ren, wie es denn eigentlich gewesen war und wie es denn eigentlich weitergehen sollte.
In der Regel erlebten und em pfanden sie - wie die übergroße M ehrheit der Bevölke­
rung - den alliierten Sieg über den Nationalsozialismus nich t als Befreiung, sondern
als Niederlage, als K atastrophe. D ie Zerschlagung des nationalsozialistischen H err­
schaftssystem s besiegelte den U ntergang des D eutschen R eiches, dem man so lange
2 Ernst Schulin, D eutsche G eschichtsw issenschaft nach dem Ersten und nach dem Zw eiten W elt­
krieg - Ein Vergleich (MS M anuskript - Referat, Berlin O ktober 1985) 8 f.
3 Hermann Lübbe, D er Nationalsozialismus im politischen Bewußtsein der Gegenwart. [A b­
schlußvortrag auf der Intern. K onferenz zur N S-M achtübem ahm e in Berlin 1983], in: D eu tsch­
lands W eg in die Diktatur, hrsg. v. M artin Broszat u.a., (Berlin 1983) 338.
4 Ebenda, 3 3 5 .
5 Ebenda, 3 3 3 .
6 Ebenda, 334.
7 Ebenda, 3 7 0 (Podiumsdiskussion).
D ie N S -Z e it in der w estd eutschen Forsch un g 1 9 4 5 -1 9 6 1
183
gedient hatte8. D ie katastrophalen K riegsfolgen, der Verlust der staatlichen Souveräni­
tät die Existenz „frem der“ Besatzungsm ächte und die K onfrontation m it den m o n ­
strösen V erbrechen des N azi-Regim es lösten eine Identitätskrise und das Gefühl der
historisch-politischen D esorientierung aus9. D ie alliierten Siegerm ächte fällten ein
Verdikt über die diskreditierte H istorie: der Lehrbetrieb an Universitäten und H öhe­
ren Schulen wurde zunächst untersagt, dann behindert. Enge G renzen waren der pri­
vaten Forschungstätigkeit gesetzt: V erbote, Säuberungen und Zerstörungen verschlos­
sen den Zugang zu A rchiven und Bibliotheken. H inzu kam die Z eichnung wissen­
schaftlicher A rbeit durch persönliche N öte und Schicksale aller Art. In der Ö ffen tlich ­
keit stieß die H istorie auf D esinteresse und Verachtung. Das zeigte sich auch darin,
daß es vorwiegend Literaten, Journalisten und Verleger waren, die die D ebatten über
die „Bewältigung der V ergangenheit“ führten.
Ratlosigkeit und Bestürzung spiegelten sich in den zeitgenössischen Äußerungen
der H istoriker wider. Ein Prozeß der Selbstbesinnung setzte ein. E r sollte nicht nur die
Voraussetzung für eine weitere, sinnvolle Forschung schaffen, sondern auch dazu bei­
tragen, jene historisch-politischen Traditionen und W ertvorstellungen zu erneuern,
„die die Basis für die m oralische und psychische Regeneration“ der N ation bilden
kon nten10. Eine wirkliche N euorientierung unterblieb jedoch. Rasch erfolgte eine R e ­
stauration, die sich in den Etablierungs- und K onsolidierungsprozeß der Bundesrepu­
blik Deutschland einfügte.
Auf der personellen Ebfene behielten die alten konservativen Repräsentanten das
Heft in der Hand. D er greise, fast 85jährige Friedrich M einecke übernahm die Rolle
des Nestors. D er 65jährige Gerhard R itter m eldete bald seinen Führungsanspruch an.
Beiden eilte der Ruf voraus, in O pposition zum Nationalsozialismus gestanden zu ha­
ben. Ihren Platz in der H istorikerzunft nahm en die G eschichtsforscher wieder ein, die
im D ritten R eich aus „rassischen“ G ründen ihre Stellungen verloren hatten: Ludwig
Dehio und Hans H erzfeld gehörten dazu. Z u ihnen stieß Hans Rothfels, der 1950 aus
dem am erikanischen E xil zurückkehrte und zur Legitim ationsfigur der westdeutschen
Zeitgeschichtsforschung wurde11. Fast alle anderen em igrierten H istoriker lehnten die
Rückkehr in das N achkriegs-D eutschland ab; viele waren erst Jah re später bereit, E in ­
ladungen zur Ü bernahm e von Gastprofessuren anzunehm en. Schnell in Vergessenheit
gerieten die M itglieder der N SD A P , die den ersten rigiden Entnazifizierungen zum
Opfer fielen. Nur die Eifrigsten verschwanden: M it ihnen verlor die deutsche G e ­
schichtsw issenschaft ihre „völkische“ T rad ition12. D en weniger Lautstarken wurde
8 Vgl. hierzu: Im anuel Geiss, Die westdeutsche Geschichtsschreibung seit 19 4 5 , in: Jahrbuch des
Instituts für D eutsche G eschichte 3 (1 9 7 4 ) 4 2 2 ff.
9 H ans Mommsen, H aupttendenzen nach 1 9 4 5 und in der Ära des Kalten Krieges, in: G e­
schichtswissenschaft in Deutschland, hrsg. von Bernd Faulenbach (M ünchen 1974) 112.
10 Ebenda, 113.
11 Vgl. dazu H ans Mommsen, G eschichtsschreibung und H um anität - Z u m Gedenken an Hans
Rothfels, in: Aspekte deu tscher Außenpolitik im 20. Jahrhun dert, hrsg. von Wolfgang Benz und
Hermann Gram l (Stuttgart 1 976) 9 - 2 7 .
12 Georg G. Iggers, D eutsche Geschichtsw issenschaft (M ünchen 1971) 327.
184
K on rad K w iet
bald wieder die M öglichkeit gegeben, an einigen w estdeutschen U niversitäten und vor
allem an den T ech n isch en H ochschulen die w issenschaftliche K arriere fortzusetzen
Das G ros der gem äßigten, parteilosen H istorikerzunft m ußte sich nur wenige W o ch en
oder M onate gedulden, ehe es wieder an die „gesäuberten“ U niversitäten gerufen
wurde.
A uf der m ethodologischen E bene hielten die H istoriker an den tradierten Dogm en
des H istorism us fest. In seiner program m atischen Sch rift über „D ie deutsche Kata­
strophe“, die 1946 nich t ohne Schw ierigkeiten die englische Z ensur passierte, hob
Friedrich M einecke die N otw endigkeit hervor, das historische D enken und herköm m ­
liche G eschichtsbild einer „gründlichen Revision“ zu unterziehen. D er Revisionsvor­
schlag beschränkte sich darauf, die „W erte“ und „U nw erte“ der deutschen G eschichte
zu scheiden. A n den H istoriker appellierte er: „Liebe und Strenge zugleich für unsere
V ergangenheit zu bew eisen und voranzugehen in der Aufgabe, ihre wahren W erte zu
erhalten, ihre U nwerte zu erkennen und, wenn es zum H andeln kom m t, vor ihnen zu
warnen.“ 13 A nders als früher wurde dam it nach den Erfahrungen der N S-Z eit der A k­
zent stärker auf die m oralische und politische Verantw ortung des H istorikers gelegt,
E m st Schulin hat für diese(n) Verschiebung/W andel nach 1945 den Begriff des „poli­
tisch-m oralisch gezähm ten H istorism us“ eingeführt14. Gerhard R itter bestim m te dann
1949 Standort und Perspektive der G eschichtsw issenschaft, als er m it einem G rund­
satzreferat den ersten H istorikertag der N achkriegszeit erö ffn ete13. E r entwarf ein um ­
fassendes Reform program m und erm ahnte die H istoriker, ihrer „ersten und eigentli­
chen Aufgabe“ nicht untreu zu werden - und das „V erstehen“ durch das „K ritisieren“
zu ersetzen. „Ich glaube n ich t“, so erklärte er, „daß die H istorie irgendw elchen Anlaß
hat, diese ihre H altung grundsätzlich zu verändern.“ Z u gleich wies R itter auf die V er­
pflichtung hin, sich m it der „jüngsten V ergangenheit“ auseinanderzusetzen. Dabei be­
tonte er die Schw ierigkeit, unter der auf uns eintrom m elnden ausländischen Propa­
ganda sich auf die Erforschung der „reinen W ahrheit“ zu konzentrieren, „Deutschland
aber als das Land, von dem die zentrale Erschütterung unseres Erdteils ausging, hat
das unm ittelbarste und dringendste Interesse daran, durch Aufklärung der echten
W ahrheit sich vom A lb seiner Vergangenheit zu befreien“. D am it war, wie Schulin an­
gem erkt hat, „die allzu trostreiche und illusorische V orstellung von der m öglichst
schnellen Bewältigung der jüngsten V ergangenheit ausgesprochen worden, die die
Zeitgeschichtsforschung lange beherrschen sollte“ 16.
D ie H auptlast der w issenschaftlichen A ufarbeitung der N S -Z e it wurde nicht von
der U niversitätshistorie, sondern von einer außeruniversitären Forschungsinstitution
getragen - dem M ünchner Institut für Z eitgeschichte. D ie lange und bewegte G rü n­
dungsgeschichte zeigt, welche H indernisse überwunden werden m ußten, um m it der
13 Friedrich Meinecke, Die deutsche Katastrophe (W iesbaden 1946) 159.
14 Ernst Schulin, Rückblicke auf die Entwicklung der Geschichtsw issenschaft, in: D ie Funktion
der G eschichte in unserer Z eit, hrsg. von EberhardJ ä c k e ! und Ernst W eym ar (Stuttgart 1975) 15.
15 H Z 170 (1 9 5 0 ) 1 -2 2 .
16 Ernst Schulin, D eutsche G eschichtsw issenschaft nach dem Ernsten und nach dem Zweiten
W eltkrieg (Manuskript) 3.
D ie N S -Z e it in der w estd eutschen Forsch un g 1 9 4 5 -1 9 6 1
185
A rb eit beginnen zu k ö n n e n 17. S eit Ende 1945 im Gespräch und zunächst als ein „Amt
für politische D oku m entation“ konzipiert, scheiterten bis 1950 alle Anläufe an adm i­
nistrativen K om petenzstreitigkeiten, politischen und 'wissenschaftlichen R ichtungs­
kämpfen und vor allem an ungelösten Finanzproblem en. N och 1949 suchte die H isto­
rikerschaft das M ünchner U nternehm en als unwissenschaftlich zu diskreditieren und
zu Fall zu bringen: Sie strebte die „schleunige Errichtung eines gut ausgestatteten
deutschen Instituts zur zentralen Organisierung zeitgeschichtlicher Forschungen“
an18. D ie Gründe dafür gab Gerhard R itter auf dem H istorikertag von 1 9 4 9 19: „Aber
wie sorgsam, wie w ohlüberlegt m uß ein solches Institut organisiert werden, damit es
nicht zur politischen Verleum dungszentrale wird! O hne die leitende Hand eines er­
fahrenen Fachhistorikers, der W esen tlich es vom N ebensächlichen zu scheiden, alle
Kraft auf die zentralen Problem e zu lenken versteht und den ein K ollegium ausge­
suchter Fachleute unterstützt, geh t es nicht. W as bisher von deutschen Länderregie­
ru n g en zur Gründung eines solchen Forschungsinstituts unternom m en wurde (leider
ohne M itwirkung irgendeines Fachhistorikers) blieb finanziell ungesichert. So bedarf
es hier eines völligen Neuanfangs, und hinter diesem Verlangen steht die ganze deut­
sche H istorikerschaft.“
W eitere Angriffe folgten; sie blieben ohne Erfolg. D ie K onstituierung des Instituts
für Zeitgeschichte m arkierte den „N euanfang“. D ie finanziellen M ittel, die zur m ate­
riellen und personellen A usstattung zur Verfügung gestellt wurden, bewegten sich
vorerst noch in engen G renzen. 1953 - dem Erscheinungsjahr der „V ierteljahrshefte“
- wies der Stellenplan 5 w issenschaftliche M itarbeiter aus. Erst ab 1955/ 1956 stabili­
sierte sich die bis dahin „latent krisenhafte bis katastrophale H aushaltslage“ des Insti­
tuts20, das sich unter der Leitung H elm ut K rausnicks und dann Martin Broszats zum
führenden Forschungs- und Publikationszentrum der westdeutschen wie ausländi­
schen Zeitgeschichtsw issenschaft entw ickeln sollte21. Ein zweiter V ersuch, die Aufar­
beitung der N S-Z eit einer außeruniversitären Forschungsinstitution anzuvertrauen,
wurde in H am burg unternom m en. Das U nternehm en schlug zunächst fehl. Erst I9 6 0
(re)etablierte sich die kleine, aber effiziente „Forschungsstelle für die G esch ichte des
Nationalsozialismus“, die sich m it dem N am en und W irken ihres langjährigen Leiters
W erner Jo ch m an n verbindet22.
17 Hellmuth Auerbach, Die Gründung des Instituts für Zeitgeschichte, in: V JH Z G 18 (19 7 0 )
5 2 9 -5 5 4 .
18 So in der Entschließung des Historikertages von 1 9 4 9 ; in: H Z 169 (1949) 670.
19 H Z 1 7 0 (1 9 5 0 ) 19.
20 Wolfgang Benz, Quellen zur Zeitgeschichte, in: D eutsche Geschichte seit dem Ersten W e lt­
krieg, Bd. 3, hrsg. v. Institut für Z eitgeschich te (Stuttgart 1 973) 30.
21 Vgl. dazu: 25 Jah re Institut für Z eitgeschich te (M ünchen 1975).
An dieser Stelle m öchte ich m ich bei H errn Professor H elm ut K rausnick bedanken, der mit ei­
ner scharfen und ausführlichen Kritik auf mein Thesenpapier reagiert und dann nach dem Sym ­
posium im Institut für Zeitgeschichte lange G espräche m it m ir geführt hat, die zur Klärung eini­
ger Streitpunkte beitrugen.
22 Vgl. Ursula Büttner, W ern er Joch m an n s W irken als Leiter der Forschungsstelle für die G e­
schichte des Nationalsozialismus, in: Das Unrechtsregim e. Bd. I, hrsg. von Ursula Büttner unter
Mitw. v. W. Jo h e u. A. Voß. (H am burg 1 986) X V -X X I X .
186
K on rad K w iet
D ie Verspätung in der w issenschaftlichen Erforschung der N S-Z eit wurde von vie
len H istorikern nicht nur m it dem H inweis auf den fehlenden Zeitabstand, sondern
auch m it dem Hinweis auf die fehlenden Q uellen zu erklären versucht. D ie archivalischen R estriktion en23, bedingt durch die enorm en A ktenverluste, die zum einen wäh­
rend des K rieges durch A uslagerungen, Luftangriffe und Selbstzerstörungen und zum
anderen nach 1945 durch die K onfiskationen der alliierten Siegerm ächte eingetreten
waren, erwiesen sich in der T at als ein großes Handikap. Sch on früh verlangten west­
deutsche H istoriker und A rchivare die schnelle Rückgabe des „verschleppten“ A rchiv­
gutes, m it der sie natürlich ein Stü ck staatlicher Souveränität zurückgew innen wollten
Gerhard R itter verband die Forderung auf dem H istorikertag von 1949 m it dem H in­
weis, daß die H istorikerschaft - im Besitz der A kten - schon 1945 in der Lage gewe­
sen wäre, die A rbeit aufzunehm en. Schrittw eise wurden die „Beuteakten“ wieder frei­
gegeben - zum indest von den w estlichen Bündnispartnern; A nfang der 6 0 e r Jahre
konnte man in w estdeutschen A rchiven m it der Sichtung und Auswertung um fassen­
der A ktenbestände beginnen. D ie Resultate schlugen sich in der einsetzenden Flut
von em pirisch abgesicherten Studien und D oku m entationen nieder.
In den ersten N achkriegsjahren stand nur ein sehr begrenzter Q uellenbestand zur
Verfügung. Da gab es das publizierte nationalsozialistische Schrifttu m - vor allem die
Schriften, Reden und T agebücher von N S-Funktionären sowie die G esetze und V er­
ordnungen der N S-Behörden. W eitere Zeugnisse fanden sich in den D oku m enten des
N ürnberger K riegsverbrecherprozesses, in ausländischen Publikationen sowie in den
Erlebnisberichten und der florierenden M em oirenliteratur. Aus diesen Materialien
wurden schnell einige Zeugnisse in den Rang von „historischen Schlüsseldokum en­
ten“ erhoben, an denen sich die Beschreibungs- und Interpretationsm uster orientier­
ten. U nter den Q uellensam m lungen ragte die D okum entation des Schw eizer H istori­
kers W alther H ofer heraus24. Sie erschien im August 1957 in einer Auflage von
5 0 0 0 0 ; im August 1961 erreichte sie eine A uflagenhöhe von über 3 0 0 0 0 0 ; 1975 wa­
ren es doppelt so viel. D ie erste, knappe Ü berblicksdarstellung zur G esch ichte des
D ritten R eiches legten H erm ann Mau und H elm ut K rausnick 1953 vor. A uch sie fand
eine starke R esonanz: die 5. Auflage von 1961 erreichte eine H öhe von 3 0 0 0 0 25. Das
Interesse an zusam m enfassenden Darstellungen nahm zu: Ende der 50er Ja h re lagen
die Publikationen von H ans B uchheim , H elga Grebing, M artin Broszat und Herm ann
G laser26 vor - sowie die Beiträge von Hans Herzfeld, W alther H ofer und K arl D iet­
rich Erdm ann, die in historischen H andbüchern erschienen27.
23 Vgl. dazu: J o s e f Henke, Das Schicksal deutscher zeitgeschichtlicher Quellen in K riegs- und
Nachkriegszeit, in: V JH Z G 3 0 (1 9 8 2 ) 5 5 7 -6 2 0 .
24 D er Nationalsozialismus. D okum ente 1 9 3 3 -1 9 4 5 , hrsg. von Walther H ofer (Frankfurt/M .
1957).
25 Sie erschien zuerst als Bestandteil in dem von Peter Rassow herausgegebenen Handbuch
„D eutsche G eschichte im Überblick“ (Stuttgart 1 953), dann als selbständige Schrift: D eutsche
G eschichte der jüngsten V ergangenheit. 1 9 3 3 -1 9 4 5 (Tübingen 21956).
26 H ans Buchheim, Das D ritte Reich (M ünchen 1 9 5 8 ); Helga Grebing, D er Nationalsozialismus
(M ünchen 19 5 9 ); M artin Broszat, D er Nationalsozialismus (Stuttgart 1960); H ermann Glaser,
Das D ritte Reich (Freiburg 1961).
27 H ans Herzfeld, Die M oderne W elt 1 7 8 9 -1 9 4 5 , Bd. 2 (Braunschweig 31960); Walther Hofer,
D ie N S -Z e it in der w estd eutschen Forsch un g 1 9 4 5 -1 9 6 1
187
Zu einzelnen Them en bereichen:
A m Anfang stand der V ersuch nach einer Einordnung des D ritten R eich es in die
G eschichte. Diese Standortbestim m ung, die sich auch ohne A ktenstudien durchfüh­
ren ließ, übernahm zwei Aufgaben. Z u m einen ging es darum, nach dem Sch o ck über
die K atastrophe von 1945 das historische Selbstverständnis wiederzugewinnen. Das
setzte die kritische Überprüfung der nationalen Traditionen voraus. Z um anderen kam
es darauf an, die A nklagen und U rteile zu widerlegen, die über die deutsche G e ­
schichte gefällt worden waren. Im W esten wie O sten 28 waren Thesen propagiert wor­
den
die den Nationalsozialismus als zwangsläufiges Resultat der deutschen G e ­
schichte hinstellten und als Beleg eine lange K ontinuitätslinie oder eine Ahnengalerie
nationalsozialistischer „Vorläufer“ konstruierten, die von den m ittelalterlichen K aisern
und Martin Luther bis zu Bism arck und K aiser W ilh elm II. reichte. G egen diese A b ­
leitungsversuche setzte man sich zur W ehr.
Ein allgem einer K onsensus bestand darin, die D iskontinuität herauszustellen und
den Nationalsozialismus als Bruch der deutschen G eschichte, als Bruch m it ihren T ra­
ditionen aufzufassen. Das bedeutete, daß die W urzeln des Nationalsozialismus weniger
in der deutschen als vielm ehr in der europäischen G esch ichte zu suchen waren. G er­
hard R itter vertrat die T h ese: „Im K ern seines W esens ist der N ationalsozialismus gar
kein originaldeutsches Gewächs, sondern die deutsche Form einer europäischen E r­
scheinung: des Einparteien- und Führerstaates. D ieser aber läßt sich nicht aus älteren
Traditionen erklären, sondern nur aus einer spezifisch m odernen K risis, aus der Krisis
der liberalen G esellschaft und Staatsform .“29
Diese K rise begann für R itter m it der Französischen Revolution und ihrem dem o­
kratischen Jakobinism us und führte zum allgem einen „Kulturverfall“. N icht alle H i­
storiker stim m ten dem zu. Ludwig D ehio, der erste N achkriegsherausgeber der H isto­
rischen Zeitschrift, wies auf K ontinuitäten und Zusam m enhänge des preußischen und
deutschen M achtstaates hin und sah das nationalsozialistische H errschaftssystem als
letzte Übersteigerung des m odernen H egem onialstaates an30. Diese Auffassung stieß
auf entschiedenen W iderspruch.
Die D iktatur Hitlers bis zum Beginn des Zw eiten W eltkrieges, in: Brandt-Meyer Just, Handbuch
der deutschen G eschichte, Bd. 4.2 (K onstanz 1965). Als Sonderdruck auch : K onstanz
1 9 5 9 /1 9 6 1 . K arl Dietrich Erdmann, Die Z eit der W eltkriege, in: Gebhardt, Handbuch der deut­
schen G eschichte, Bd. 4, hrsg. von Herbert Grundmann (Stuttgart 81959), Teil C = Deutschland
unter der H errschaft des Nationalsozialismus, Teil D = D er zweite Weltkrieg.
28 Vgl. dazu Wippermann, „D eutsche K atastrop he“ oder „Diktatur des Finanzkapitals“ ?, 13.
29 Gerhard Ritter, Europa und die deutsche Frage (M ünchen 1948). Eine überarbeitete Fassung
erschien unter dem T itel: Das deutsche Problem (M ünchen 1962), in der das Z itat auf S. 23 wie­
der aufgenom m en wurde. R itter nahm diese G rundthese auch in seine Goerdelerbiographie und
tradierte sie über alle Neuauflagen. Z itiert nach Gerhard Ritter, Carl G oerdeler und die deutsche
W iderstandsbewegung (M ünchen 1 964) 94.
Ludwig Dehio, G leichgew icht oder H egem onie. Betrachtungen über ein G rundproblem der
m odernen Staatengeschichte (Krefeld 1 9 4 8 ); den., D eutschland und die W eltpolitik im 20. Ja h r­
hundert (M ünchen 1 9 5 5 ); den., D er Zusam m enhang der preußisch-deutschen Geschichte
1 6 4 0 -1 9 4 5 , in: A lain Clement u.a.. Gibt es ein deutsches G eschichtsbild? (W ürzburg 1961)
6 5 -9 1 .
188
K o n rad K w iet
A nfang der 60er Jah re brach die Diskussion um das K ontinuitätsproblem wieder
auf. Sie führte zu einer erbitterten und langen Kontroverse, in der die herrschende
Lehrm einung aufgelöst wurde. Das Verdienst, den historiographischen W andel einge­
leitet zu haben, fällt Fritz Fischer zu.
Sch on vor dem A usbruch der Fischer-Kontroverse zeichnete sich in der Z eitg e­
schichtsforschung der T rend ab, das D ritte R eich nicht m ehr aus der deutschen G e ­
schichte auszugrenzen. D am it begann man auch eine Lehre zu revidieren, die aus der
Bruch-Theorie abgeleitet worden war und die sich im W issenschaftsbetrieb wie in der
Ö ffentlichkeit festgesetzt hatte, näm lich die Auffassung, daß der Nationalsozialismus
ein „Zufall“ oder „Betriebsunfall“ der deutschen G esch ichte gewesen war. Martin
Broszat schrieb I 9 6 0 31: „D ie jahrelange A nfälligkeit der deutschen bürgerlichen und
geistigen Elite für den N ationalism us, der Grad ihrer geistigen B estech lichkeit ist ein
Indiz dafür, daß H itler n ich t einfach als fataler ,Zufall“ der deutschen G esch ichte be­
griffen werden kann, sondern daß hierbei bestim m te, zum T eil w eit zurückreichende
geistesgeschichtliche Prädispositionen m itw irkten.“
A m 20.Ju li 1961 nahm H elm ut K rausnick auf dem Evangelischen K irch entag in
Berlin zum T hem a „U nser W eg in die K atastrophe von 1 9 4 5 “ Stellung und b eto n te32:
„Ein w eiterer Hauptgrund für die Überprüfung des geistigen und politischen W eges
ins D ritte R eich aber liegt in der unabweisbaren Erkenntnis, daß es sich dabei nicht
um einen bloßen Betriebsunfall der deutschen G esch ichte handelt.“
Um Traditions- und Identitätsfragen ging es auch bei der Beschäftigung m it dem
W iderstand, der schnell in das Z entrum der Z eitgeschichtsforschung rückte. Das In ­
teresse konzentrierte sich auf die bürgerlich-konservative O pposition, die von hohen
O ffizieren, Beam ten und K irch en m än n em getragen worden war. D ie W ürdigung die­
ses W iderstandes entsprang einem politisch-nationalen wie pädagogischen Legitim a­
tionsbedürfnis. Mit dem Bild eines „anderen D eutschlands“ suchte man nich t nur die
alliierten V erdikte zurückzuweisen und den deutschen N am en wieder aufzuwerten,
sondern vor allem auch eine Traditionslinie freizulegen, die dem dem okratischen
N eubeginn in der Bundesrepublik historische Legitim ität und m oralische Integrität
verleihen sollte. N icht anders - nur m it um gekehrten V orzeichen - nahm die D D R
die G esch ichte des W iderstandes als Vorläufer in A nspruch33; hier bem ühte man sich
um die K onstruktion einer ungebrochenen Tradition des kom m unistischen A ntifa­
schism us, die von allen W idersprüchen und A bw eichungen gesäubert wurde. Das Pro­
blem in W estdeutschland lag darin, daß in den „N euordnungs-K onzeptionen“ der
bürgerlich-konservativen O pposition Zielvorstellungen verkündet worden waren, die
vom dem okratischen Parlam entarism us abwichen. Es wurde „gelöst“, indem man die
sittlich-m oralischen A ntriebskräfte herausstellte. Das drückte sich in den Form eln
31 Broszat, D er Nationalsozialismus. W eltanschauung, Program m und W irklichkeit (H annover
1 960) (Schriftenreihe der niedersächs. Landeszentrale f. polit. Bildung. Z eitgeschichte H eft 8).
32 D er V ortrag ist abgedruckt in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur W ochen sch rift
„Das Parlam ent“ Nr. 19 vom 9. Mai 1 9 6 2 , Z itat S. 2 29.
33 Vgl. dazu Mommsen, H aupttendenzen nach 1 9 4 5 , 119.
D ie N S -Z e it in der w estd eutschen Forsch un g 1 9 4 5 -1 9 6 1
189
vom »Aufstand des Gewissens“, „V ollm acht des Gewissens“ oder „Geist der Freiheit“
Richtungsweisend für die W iderstandsforschung waren zwei W erk e: Hans R othfels’
Deutsche Opposition gegen H itler“ und Gerhard Ritters „Carl G oerdeler und die
deutsche W iderstandsbewegung“.
Rothfels’ Studie erschien 1949 erstmals in deutscher Sprache35. Sie ging auf einen
Vortrag zurück, der 1947 zum G edächtnis des 20.Ju li in Chicago gehalten und der ein
Jahr später in erw eiterter Form veröffentlicht worden war m it dem Ziel, im angelsäch­
sischen Lager „Vorurteile aufzulösen, eine undogm atische Erörterung in Gang zu
bringen, fern von aller ,M ythologisierung‘, und so der historischen G erechtigkeit
Raum zu schaffen“36. A n diesem Ausgangspunkt hielt Rothfels in den deutschen A us­
gaben fest - ebenso an seiner A bsicht, keine G esch ichte des W iderstands schreiben,
sondern den W iderstand „in bestim m te Sach- und W ertzusam m enhänge einordnen“
zu w ollen37. K ein en Zw eifel ließ er daran, daß er sich bei dieser Aufgabe nicht an dem
für ihn ohnehin fragwürdigen Ideal der W ertfreiheit der Geschichtsw issenschaft, son ­
dern an unverzichtbaren sittlich-m oralischen Prinzipien orientieren würde. Rothfels
interpretierte den W iderstand im D ritten R eich als eine „Offenbarung des M enschli­
chen inm itten aller U nm en schlichk eiten“38, als den .A ufstand des Gewissens“, der
„m enschliche
Freiheit, Verantw ortung und W ürde“ wiederherzustellen suchte39.
Diese Grundwerte sah der konservative H istoriker in den staatlichen und gesellschaft­
lichen O rdnungsprinzipien des Bism arckreiches verankert. Sein Rekonstruktionsver­
such diente dazu, die W iderstandskäm pfer, insbesondere die M itglieder des Kreisauer
Kreises, denen er sich besonders verbunden fühlte, als Repräsentanten der alten preu­
ßischen H um anität vorzusteilen. V o n hier aus kon nte er den Bogen in die westdeut­
sche N achkriegszeit spannen und an eine Tradition anknüpfen, von der er sich die S i­
cherung und A usbreitung von H um anität wie die W iederentdeckung und R ehabilitie­
rung der preußischen Staatsidee erhoffte. H erm ann Gram l bem erkt dazu40: „W ahrlich
ein faszinierender V organg: Ju s t in dem historischen A ugenblick, da der deutsche
Osten und Preußen selbst aus der politischen Realität verschwanden, m achte sich ein
Historiker daran, Potsdam in W estdeutschland neu zu g rü n d e n ... H ans Rothfels
Annedore Leber (Hrsg.), Das Gewissen entscheidet (Berlin 419 60); dies,, Das Gewissen steht auf
(Berlin 1954); Europäische Publikationen (Hrsg.), Die V ollm acht des Gewissens, 2 Bde. (Berlin
1956); Eberhard Zeller, Geist der Freiheit. D er zwanzigste Ju li (M ünchen 1952).
35//i ins Rothfels, Die deutsche O pposition gegen H itler (Krefeld 1949).
36 Zitiert nach Hans Rothfels, Die deutsche O pposition gegen Hitler, eingeleitet v. Hermann
Graml (Frankfurt/M . 1 986) (Vorw ort zur erweiterten Ausgabe von 1969) 16.
37 Ebenda, 15.
38 Hans Rothfels, Sinn und Aufgabe der Z eitgeschich te, in: ders., Zeitgeschichtliche B etrachtun­
gen. Vorträge und Aufsätze (G öttingen 1 9 5 9 ) 15 f. Vgl. dazu im einzelnen den grundlegenden
Aufsatz von Hans Mommsen, G eschichtsschreibung und H u m anität - Z u m G edenken an Hans
Rothfels, in: Aspekte deutscher Außenpolitik im 20. Jahrhun dert, hrsg. von Wolfgang Benz und
Hermann Gram l (Stuttgart 1 9 7 6 ) 22 f.
Rothfels, Die deutsche O pposition gegen Hitler, 20.
Einleitende Bem erkungen zur Herausgabe von 19 8 6 , 10 f.
190
K o n rad K w iet
selbst war sich sehr wohl bewußt, daß seine Neugründung m it zahlreichen und einigen
schier überm ächtigen Rivalen konkurrieren m ußte. Es war ihm klar, daß Bonn weder
W eim ar noch Potsdam sein kann, daß auch Frankfurt, Ham burg oder M ünchen der
Verpflanzung altpreußischer Traditionen keinen günstigen Boden boten. M eist hat er
diese Begrenzung seiner Erfolgsaussichten m it G elassenheit hingenom m en. Sein letz­
tes und eigentliches Z iel war ja auch nicht die Verpflanzung von P otsd am ... D ie R e ­
präsentanten der deutschen O pposition als H üter und W iederhersteller der H um ani­
tät zu verstehen und dieses Verständnis den Lesern so zwingend zu m achen, daß sie
sich aufgerufen fühlen, dem Beispiel zu folgen, schien ihm in einer W elt, in der auch
nach dem Ende der N S-H errschaft U nm enschlichkeiten aller A rt die N ationen zu
überwältigen drohen, die w ichtigste Aufgabe eines H istorikers des W iderstands zu
sein.“
So wie Rothfels deutete auch R itter in seiner G oerdeler-Biographie, die Ende 1954
abgeschlossen wurde, den W iderstand als einen .A u fstand des Gewissens“. U nter­
schiedlich fiel jed och die A kzentuierung der W erte aus. Als Repräsentant der natio­
nal-liberalen Tradition hob R itter die nationalen W erte hervor und plädierte für ein
neues, „gesundes nationales Selbstbew ußtsein“. Er erklärte41: „W enn wir heute auf
den Trüm m ern des H itlerreiches uns bem ühen, eine neue politische V olksgem ein­
schaft aufzubauen, so kom m t alles darauf an, daß sie nicht wieder eine G em einschaft
des brutalen nationalen Egoism us, des hem m ungslosen, nackten M achtinteresses wird,
sondern daß sie den C harakter einer sittlichen G em einschaft gewinnt, die sich im In ­
nern aufbaut auf der A chtung vor der W ürde und den Freiheitsrechten der m en schli­
chen Persönlichkeit und die im V erkehr m it frem den N ationen auch das Lebensrecht
der anderen zu respektieren weiß. Von dieser E insicht wird auch die historische B e­
trachtung der deutschen W iderstandsbew egung heute auszugehen haben.“
N och etwas anderes hob R itter nachdrücklich hervor, näm lich die M achtlosigkeit
der deutschen O pposition, deren „tragisches“ Scheitern gleichsam vorprogram m iert
war. D ie Gründe lagen für R itter in den geringen Erfolgsaussichten, von innen das
N S-R eg im e zum Einsturz zu bringen - selbst ein Tyrannenm ord am 20.Ju li 1944 wäre
keine „wirksame Patentlösung“ gewesen - und in der U nm öglichkeit, gegen die „ Re­
volutionäre“ H itlerbew egung“ eine „ .revolutionäre“ Volksbew egung“ in G ang zu set­
zen42. R itter zog den Schluß, daß die „historische M ission“ der nationalen O pposition
n ich t darin gelegen habe, eine „Revolution“ zu m achen, sondern eine „bürgerliche
O rdnung an die Stelle von m örderischer W illkü r und ewig gärendem Chaos zu setzen
... D ie Träger des W iderstandes durften also nicht Ehrgeizige sein, denen es primär
auf die Erringung der M acht ankam, sondern Patrioten, in denen das sittliche Gew is­
sen alle anderen Stim m en übertönte: gewissenhafte, rechtlich gesinnte Idealisten, die
bewußt ihr Leben für Freiheit und Ordnung aufs Spiel setzten.“43 Diese Bew ertungs­
maßstäbe galten nicht für alle W iderstandskäm pfer. Als „Landesverräter“ wurden die
M itglieder der „Roten K ap elle“ eingestuft: Sie hatten „m it deutschem W iderstand ...
41 Gerhard Ritter, Carl G ocrdeler und die deutsche W iderstandsbew egung (M ünchen 1964) 15.
42 Ebenda, 14.
43 Ebenda, 13.
D ie N S -Z e it in der w estdeutschen Forsch u n g 1 9 4 5 -1 9 6 1
191
nichts zu tun“. R itter war überzeugt, daß ihr Prozeß vor dem R eichskriegsgericht ein ­
wandfrei durchgeführt wurde und „nicht anders als m it einer M assenhinrichtung e n ­
den“ kon nte44. K ein en Platz im nationalen W iderstand konnte es auch für die ande­
ren kom m unistischen W iderstandsgruppen geben. R itter verwies auf die „innere V er­
wandtschaft“ der beiden totalitären nationalsozialistischen und bolschew istischen Sy­
stem e45, als er die scharfe Trennungslinie zwischen der bürgerlich-nationalen O pposi­
tion und dem kom m unistischen A ntifaschism us zog.
D ie V ergleiche zwischen Nationalsozialism us und K om m unism us im Sinne der T o ­
talitarismustheorie wurden von w estdeutschen H istorikern schon in der unm ittelbaren
Nachkriegszeit gezogen46. Sie ließen sich nahtlos in die H itlerism us-Vorstellungen in ­
tegrieren: Beide K o nzep te prägten das Bild, das vom N S-H errschaftssystem entworfen
wurde. Das N S-R egim e erschien als ein m onolithischer B lock: hierarchisch struktu­
riert, rational durchorganisiert und einzig und allein durch die O m nipotenz des „Füh­
rers“ zusam m engehalten. Politik und V erbrechen des D ritten R eiches resultierten aus
dem m achiavellistischen M achtstreben und der D äm onie H itlers. Terror und Indok­
trination erzwangen die U nterw erfung der Bevölkerung. D ie starke H ervorhebung der
m onolithisch-totalitären Züge des N S-R eg im es47 versperrte den Blick auf die politi­
schen und gesellschaftlichen M echanism en, die zur D urchsetzung des Nationalsozia­
lismus geführt hatten. Sie erleichterte es, den Nationalsozialismus m it dem K o m m u ­
nismus gleichzusetzen. D ie Identifizierung diente dazu, den sich in der Phase des K a l­
ten K rieges ausbreitenden A ntikom m unism us „wissenschaftlich“ abzusichern. Dieses
Bedürfnis nahm ab, als sich das O st-W est-V erhältnis entspannte. D ie Studien Karl
D ietrich Brachere und das Sam m elw erk m it W olfgang Sauer und Gerhard Schulz zur
nationalsozialistischen M achtergreifung signalisierten die M odifizierung der Totalita­
rism ustheorie48. Sie führten zugleich politologische, strukturgeschichtliche Betrach­
tungsweisen ein und leiteten damit einen Forschungstrend ein, der von Martin Broszat
und anderen w eiter vorangetrieben wurde. D ie neuen, em pirisch abgesicherten U nter­
suchungen zertrüm m erten die m onolithische Interpretation. Sie zeichneten das Bild
eines H errschaftsgefüges nach, das von m ehreren „M achtsäulen“ getragen wurde, die,
ineinander verzahnt, sich nicht selten bekäm pften und blockierten. Als Bestandteile
dieser dynam ischen und kom plizierten „Polykratie“49 erschienen H itler, N S-Führungsspitze, SS und M assenpartei sowie Staatsbürokratie, W irtschaft, M ilitär, K irchen
und W issenschaft. H erausgestellt wurde das „Bündnis“ zwischen Nationalsozialismus
44 Ebenda, 108.
43 Ebenda, 111.
46 Vgl. Wippermann, „D eutsche K atastrophe“ oder „D iktatur des Finanzkapitals“ ?, 14 f. und 23 ff.
47 Vgl. Alommsen, H aupttendenzen nach 1 9 4 5 , 119 f.
48 K a rl Dietrich Bracher, Stufen totalitärer Gleichstellung. Die Befestigung der nationalsozialisti­
schen H errschaft 1 9 3 3 /1 9 3 4 , in: V JH Z G 4 (1 9 5 6 ) 3 0 - 4 2 ; K a rl Dietrich Bracher, Wolfgang Sauer,
Gerhard Schuh, Die nationalsozialistische M achtergreifung. Studien zur Errichtung des totalitä­
ren H errschaftssystem s in Deutschland 1 9 3 3 /3 4 (K öln 1960).
45 Vgl. dazu M artin Broszat, D er Staat Hitlers (M ünchen 1 9 6 9 ); Peter Hüttenberger, Nationalso­
zialistische Polykratie, in: G eschichte und Gesellschaft 2 (1 9 7 6 ) 4 1 7 - 4 4 2 ; sowie Hildebrand, Das
Dritte Reich, 162 f.
192
K o n rad K w iet
und alten sozial-konservativen Eliten, das dem System Funktionsfähigkeit, E ffizjCr/
und D ynam ik sicherte.
Bei aller D om inanz, die dem H itlerism us eingeräum t wurde, überrascht das Fehle-i
einer großen H itler-Biographie. Für den „Ersatz“ sorgte die klassische Studie Alan
B ullocks50, I 9 6 0 legte H elm ut H eiber die erste kleinere, w issenschaftliche Biographie
vor51. A uf die N otw endigkeit und Bedeutung einer H itler-Biographie wies ein Jahr
später W aldem ar Besson hin, als er sie zur w ichtigsten ,A ufgabe einer G esch ichte des
N ationalsozialism us“ deklarierte32. D ie Erfüllung dieses Auftrages ließ noch etwas auf
sich warten. In den folgenden Jah ren erschienen zwar eine ganze R eihe biographischer
A rbeiten, die vor dem H intergrund der sog. „H itlerw elle“ die Nachfrage deckten, aber
erst m it dem W erk von Jo a ch im Fest verfügte die westdeutsche Zeitgeschichtsfor­
schung über eine um fassende H itler-Biographie53.
W e n ig w urde über die N S D A P g esch rieb en . D ie erste, kleine Ü berblicksdarstellung
von W . Schäfer lag 1 9 5 6 v o r54. I 9 6 0 ersch ien en die Beiträge von W e rn e r Jo ch m a n n
und M artin B roszat, die sich m it d er „K am p fzeit“ d er P artei b efaßten55. D ie Literatur
ü ber die SS hielt sich eb enso in en gen G ren zen . K . O . P aetel und v o r allem H . B u ch ­
h eim w and ten sich diesem T h e m e n k o m p le x zu 56. D ie erste, k nappe Ü berblicksdar­
stellu ng von E. N eusü ß-H un kel kam 1 9 5 6 h erau s57. W en ig w urde au ch über andere
T h e m e n n ationalsozialistisch er In n enp olitik g efo rsch t. V erlauf und H in terg rü n d e des
„R ö h m p u tsch s“ w urden au fg ed eck t58. E n d e d er 5 0 e r Ja h re lenkten M artin Broszat
und H u b ert S ch o rn den Blick auf die Rolle d er Ju s tiz 59; A . K lö n n e sch rieb eine G e­
sch ich te d er H itlerju g en d 60; für die Publizistik lag die frühe U n tersu ch u n g von W alter
H agem an n aus d em Ja h re 1 9 4 8 v o r61.
50 A lan Bullock, Hitler. Eine Studie über Tyrannei (Englische Erstausgabe London 19 5 2 , König­
stein 31977).
51 Helmut Heiber, A d olf H itler. E in e Biographie (B erlin I960).
52 IV aldem ar Besson, Neuere Literatur zur G eschichte des Nationalsozialismus, in: V JH Z G 9
(1 9 6 1 ) 3 2 9 .
53 Joachim Fest, Hitler. Eine Biographie (Berlin/Frankfurt/M . 1973).
54 Wolfgang Schäfer, N S D A P . Entw icklung und Struktur der Staatspartei des D ritten Reiches
(H annover 1956).
55 Werner Jochm ann, Im K am pf um die M acht. Hitlers Rede vor dem H am burger Nationalklub
von 1 9 1 9 (F ran k fu rt/1960); M artin Broszat, Die Anfänge der Berliner N S D A P 1 9 2 6 -1 9 2 7 , in:
V JH Z G 8 (1 9 6 0 ) 8 5 - 1 1 8 .
36 K a rl Otto Paetel, Die SS. Ein Beitrag zur Soziologie des Nationalsozialismus, in: V JH Z G 2
(1 9 5 4 ) 1 - 3 2 ; Hans Buchheim, Die SS in der Verfassung des Dritten R eiches, in: V JH Z G 3 (1955)
1 2 7 -1 5 7 . Ferner erschienen u .a.: Hans-Joachim Neufeldt u.a., Z u r G eschichte der O rdnungspo­
lizei 1 9 3 6 -1 9 4 5 (K oblenz 1 9 5 7 ); Hans-Günther Seraphim, SS-Verfügungstruppe und W eh r­
m ach t, in: W ehrwiss. R undschau 5 (1 9 5 5 ) 5 6 9 -5 8 5 .
57 Erm enhild Neusüß-Hunkel, Die SS (H annover 1956).
58 Hermann Mau, Die zweite Revolution - D er 30. Juni 1 9 3 4 ; in: V JH Z G 1 (19 5 3 ) 1 1 9 -1 3 7 ;
Helmut Krausnick, D er 30. Ju n i 1 9 3 4 , in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur W o ch e n ­
zeitschrift „Das Parlam ent“ v. 3 0 .6 .1 9 5 4 . B 25, 4 Bl.
59 M artin Broszat, Z u r Perversion der Strafjustiz im D ritten Reich, in: V JH Z G 6 (1958)
3 9 0 - 4 4 3 ; Hubert Schorn, D er R ich ter im Dritten Reich (Frankfurt/M . 1959).
60 Arno Klönne, Hitlerjugend (Frankfurt/M . 1955).
61 Walter Hagemann, Publizistik im Dritten Reich (H am burg 1948).
D ie N S -Z e it in der w estd eutschen Forsch un g 1 9 4 5 -1 9 6 1
193
W enig Neigung bestand, das Verhältnis zwischen W irtschaft und N ationalsozialis­
mus aufzuhellen. Das änderte sich erst, als diese Frage in das Z entrum der Faschisirm stheorie-Debatte rückte. Bis dahin stützte m an sich auf Rechtfertigungsschriften
n a tio n also zialistisc h er K ronzeugen - wie H jalm ar S ch ach t - , zog U ntersuchungen zu
Rate, die im Ausland entstanden waren, oder griff auf ein paar westdeutsche Beiträge
zurück, die sich vorwiegend auf die Rolle H itlers konzentrierten62.
Schon früh wandte man sich der D iplom atie- und Kriegsgeschichte zu, G ebieten,
die von jeher zu den bevorzugten T h em en der G eschichtsw issenschaft gehörten - und
sich m it den traditionellen M ethoden bearbeiten ließen. Vornehm stes Z iel der histori­
schen Aufklärungsarbeit war, den W eg in die K atastrophe aufzuhellen und sicherzu­
stellen, daß es an der K riegsschuld D eutschlands nichts zu rütteln und keinen Anlaß
gab, eine neue D olchstoßlegende in die W e lt zu setzen. D am it wurde eine G rundposi­
tion bezogen, die sich deutlich von der nach 1918 unterschied. D er H itlerism us legte
sich über die Beschreibungs- und Interpretationsm uster. D ie Fixierung auf H itler die Herausstellung seines m achiavellistischen M achtstrebens und die K ritik an seinen
politischen und m ilitärischen Fehlentscheidungen - erlaubten es, Rolle und V erant­
wortlichkeit der politischen und m ilitärischen Leitinstanzen des N S-R egim es auszu­
grenzen oder herunterzuspielen.
Auf Nürnberger Prozeßakten beruhte die Aufklärungsschrift, die der D iplom at
Heinz Holldack - ein Schüler von E rich Mareks und Friedrich M einecke - unter dem
Titel „Was w irklich geschah“ 1949 herausgab63. D rei Jah re später kam en „Hitlers
Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941/42“ heraus64. 19 50 begann die Edition
der .A k ten zur deutschen auswärtigen P olitik“, an der Hans Rothfels führend beteiligt
war65. Mit der diplom atischen V orgeschichte des Zw eiten W eltkriegs befaßten sich
vor allem S. A. K aehler und Rudolf Stadelm ann66. Angeregt durch Percy Ernst
Schram m m achten sich Hans A dolf Jaco b sen , Andreas H illgruber und andere an die
Beschreibung und D okum entation der außenpolitischen und m ilitärischen Ereig­
nisse67.
62 Beispielhaft hierfür: Wilhelm Treue, Hitlers Denkschrift zum Vierjahresplan 1936, in: V JH Z G
3 (1955) 1 8 4 - 2 1 0 ; Paul Kluke, H itler und das Volkswagenprojekt, in: V JH Z G 8 (1960) 3 4 1 - 3 8 3 ;
Gerhard Meinck, H itler und die deutsche Aufrüstung 1 9 3 3 -1 9 3 7 (W iesbaden 1957).
63 München.
b< Hrsg. v. Gerhard Ritter (Bonn 1951).
65 Serie D 1 9 3 7 -1 9 4 1 .
66 Siegfried August Kaehler, Z u r diplom atischen V orgeschichte des Kriegsausbruchs vom
1 .IX. 1939, in: Nachr. d. Akad. d. W iss. in G öttingen, Phil. Hist. Klasse 1949, Nr. 1; ders., Zwei
deutsche Bündnisangebote an England 1 8 8 9 und 19 3 9 , ebenda 1 9 4 9 ; R u dolf Stadelmann,
Deutschland und England am Vorabend des Zweiten W eltkriegs, in: Festschrift für Gerhard R it­
ter (Tübingen 1950).
67 Andreas Hillgruber, Hitler, K önig Carol und Marschall A n ton escu (W iesbaden 1954); HansA dolf Jacobsen, D okum ente zur V orgeschichte des W estfeldzuges 1 9 3 9 -1 9 4 0 (G öttingen 1956);
ders., D er Fall Gelb (W iesbaden 19 5 7 ); ders., 1 9 3 9 -1 9 4 5 D er Z w eite W eltkrieg in C hronik und
Dokum enten (D arm stadt 1959); Walther Hofer, Die Entfesselung des Zweiten W eltkrieges. Eine
Studie über die internationalen Beziehungen im Som m er 1 9 3 9 (Stuttgart 1954).
19 4
K o n rad K w iet
Vorstöße zur A ufarbeitung der nationalsozialistischen Besatzungspolitik wurden un
ternom m en. In Tübingen bem ühte sich ein „Institut für Besatzungsfragen“ um die
Sam m lung und Edierung von M aterialien. Siegfried A. K aehler skizzierte „Ge­
schichtsbild und Europapolitik des N ationalsozialism us“68; Paul K luke behandelte die
„N ationalsozialistische Europapolitik“69, H ans-D ietrich Look untersuchte die „Groß­
germ anische Politik im D ritten R e ich “ und lenkte den Blick auf die G eschehnisse in
Norwegen und in den N iederlanden70. D okum entationen in den „Vierteljahrsheften“
legten Zeugnis über die nationalsozialistische Gew altherrschaft in den besetzten O st­
gebieten ab. 1961 erschien M artin Broszats richtungsw eisende Studie zur nationalisti­
schen P olenpolitik71.
G leichw ohl blieben noch historische Legenden am Leben, die hohe O ffiziere, Di­
plom aten und andere in ihren „M em oiren“ oder vor den alliierten Gerichtstribunalen
verbreitet hatten. G elegentlich tauchten in historischen K reisen Thesen auf, die im
D ritten R eich verkündet und von N eonazis w eiter tradiert worden waren. So rechtfer­
tigte W alther H ubatsch nicht nur die E rnennung H itlers zum Reichskanzler, sondern
auch die m ilitärische Besetzung D änem arks und N orwegens72. H ellm uth Rössler
schob den Engländern und Polen die H auptschuld am A usbruch des Zw eiten W elt­
krieges zu73. Für Furore sorgten für kurze Z e it A pologien ausländischer Autoren.
Scharf wurden die G eschichtsfälschungen des A m erikaners David H oggan zurückge­
wiesen. A uf K ritik und A blehnung stießen die Thesen des renom m ierten englischen
H istorikers A. J . P. Taylor, der die K ontinu ität in der „Revisionspolitik“ Stresem anns
und H itlers entdeckte und darüber hinaus die Schuld am A usbruch des Zweiten
W eltkrieges allen am G esch ehen beteiligten Staaten in die Schuhe schob74. Eine
zweite - und für den Gang der w estdeutschen Zeitgeschichtsforschung entscheidende
D ebatte - entzündete sich an der T hese Hugh R. Trevor-Ropers, der 1960 auf die
K ontinuität und K onsistenz von „H itlers K riegszielen“ hinwies und m it besonderem
N achdruck das Fernziel der hegem onialen Lebensraum -Politik im O sten heraus­
stellte75. D er Ansatz wurde aufgenom m en; er schlug sich schnell in den Darstellungen
und D iskussionen über das „Program m “ und den „Stufenplan“ nationalsozialistischer
A ußen- und Expansionspolitik nieder.
K ein en A nlaß sah man, sich m it der W issenschaft - und speziell m it der R olle der
G eschichtsw issenschaft im D ritten R eich - auseinanderzusetzen. U n m ittelbar nach
K riegsende war die B ereitschaft zur kritischen Selbstüberprüfung noch vorhanden ge­
68 In: Die Sam m lung, 9. Jg. 7 /8 H eft 1954.
69 In: V JH Z G 3 (1 9 5 5 ) 2 4 0 -2 7 9 .
70 In: V JH Z G 8 (1 9 6 0 ) 3 7 - 6 3 .
71 M artin Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik 1 9 3 9 -1 9 4 5 (Stuttgart 1961).
72 Walther Hubatsch, „W eserübung“. Die deutsche Besetzung von Dänem ark und Norwegen
(G öttingen 1960). Vgl. dazu auch Iggers, D eutsche Geschichtsw issenschaft, 4 4 7 ff.
73 Hellmuth Rössler, D eutsche G eschichte (Gütersloh 1961).
74 Vgl. dazu Gotthard Jasper, Ü ber die Ursachen des Zw eiten W eltkriegs; Z u den Büchern von
A lan Jo h n Percivale Taylor u n i D avid L. Hoggan, in: V JH Z G 10 (1962) 3 1 1 - 3 4 0 .
75 Hugh R edw ald Trevor-Roper, Hitlers Kriegsziele, in: V JH Z G 8 (19 6 0 ) 1 2 1 -1 3 3 .
D ie N S -Z e it in der w estdeutschen Forsch u n g 1 9 4 5 -1 9 6 1
195
wesen. Auf dem H istorikertag von 1949 verlangte Gerhard Ritter, sich nicht m ehr mit
überflüssigen „Versuchen nachträglicher Selbstanklage oder Selbstrechtfertigung“ auf­
z u h a lte n 76. Er hatte schon Ende 1945 die Leitlinie abgesteckt, als er der Professoren­
schaft attestierte, daß sie sich - von unrühm lichen A usnahm en abgesehen - dem E in ­
fluß der Nationalsozialisten w eitgehend entzogen und sich in ihrer A rbeit an den
M aß stäb en der w issenschaftlichen O b je k tiv itä t orientiert hätte77. Hans Rothfels und
Theodor Schieder bestätigten diese A uffassung78. Erst das m onum entale W erk H el­
mut Heibers über „W alter Frank und sein R eichsinstitu t für G eschichte des neuen
D e u ts c h la n d s “, 1958 begonnen und 1966 veröffentlicht, sowie K arl Ferdinand W e r­
ners Studie „Das N S-G eschichtsbild und die deutsche G eschichtsw issenschaft“79 mar­
kierten die W ende zu einer kritischen Aufarbeitung. Für Manfred Funke waren die
Antworten nach 1945 deshalb so unbefriedigend und zaghaft, „weil sich bei der W ahr­
heitssuche dem W issenschaftler eine tiefe Scham entgegenstellte: N äm lich die Er­
kenntnis, daß man sich in A llianzen m it H itler von diesem zum indest zeitweilig das
überkom m ene K ultur-, Lebens- und W issenschaftsverständnis gewährleisten ließ.
Und dies im doch sich rasch aufzwingenden W issen, daß das N S-System antibür­
gerlich, antiwissenschaftlich, bildungsfeindlich und in seinem Rassismus zutiefst inhu­
man war.“80
Es konnte dann wohl auch nich t von den N achkriegshistorikem erwartet werden,
daß sie sich an die schnelle Erforschung eines Them en bereiches heranwagten, der zu
den Grundzielen und zentralen V erbrechenskom plexen des N S-System s gehörte,
nämlich der Verfolgung und V ernichtung der Jud en. Dafür gab es Gründe81. Für den
kleinen Kreis derer, die sich im D ritten R eich als N S-A pologeten oder A utoren ju ­
denfeindlicher Traktate ausgezeichnet hatten, verbot sich nach Auschwitz jede ö ffent­
liche Stellungnahm e von selbst. D er großen M ehrheit, die den Rassenfanatism us abge­
lehnt hatte, m ußte es schwerfallen, ein T hem a aufzugreifen, das sich jeder historischen
Erfahrung entzog. H inzu kam : D ie deutschen H istoriker waren von jeher weder in der
76 Vgl. Anm . 19.
77 Gerhard Ritter, D er deutsche Professor im Dritten Reich, in: Die Gegenwart 1, No. 1, 24 (D e­
zember 1945) 2 3 - 2 6 ; ders., D eutsche G eschichtsw issenschaft im 20. Jahrhundert, in: G W U 1
(1950) 8 1 -8 6 , 1 2 9 - 1 3 7 ; ders., Die Fälschung des deutschen Geschichtsbildes im H itlerreich, in:
Deutsche Rundschau 7 0 (1947).
78 Rothfels, Die deutsche O pposition, 5 0 ; ders., D eutsche Geschichtsw issenschaft in den 30er J a h ­
ren, in: D eutsches Geistesleben und Nationalsozialismus, hrsg. von Andreas Flitner (Tübingen
1965) 9 0 - 1 0 7 ; Theodor Schieder, Die deutsche Geschichtsw issenschaft im Spiegel der H istori­
schen Zeitschrift, in: H Z 189 (1 9 5 9 ) 1 -1 0 4 . Vgl. dazu Ieeers, Deutsche Geschichtswissenschaft,
318 ff.
79 Stuttgart 1967.
M anfred Funke, Universität und Z eitgeist im D ritten Reich, in: Aus Politik und Z eitge­
schichte. Beilage zur W ochen sch rift, „Das Parlam ent“ B 1 2 /8 6 , 2 2 .3 .1 9 8 6 , 14.
Vgl. dazu im einzelnen K onrad Kwiet, Z u r
gung im Dritten Reich, in: M GM 27 (1 9 8 0 )
Tendencies in G erm an H istoriography on
(1 9 2 4 -1 9 8 4 ), in: Y ear Book of the Leo Baeck
historiographischen Behandlung der Judenverfol­
1 4 4 - 1 9 2 , sowie 0. D. Kulka, Major Trends and
National Socialism and the .Jewish Q uestion“
Institute X X X (1 9 8 5 ) 2 1 5 -2 4 2 .
196
K on rad K w iet
Lage noch willens gewesen, B ereiche der Judenverfolgung, des A ntisem itism us und
der deutsch-jüdischen G esch ichte in den K an on der erforschungsw ürdigen G eg en­
stände zu erheben. Und schließlich: D ie A useinandersetzung m it der ,Ju d en frag e“ im ­
plizierte die Frage nach den eigenen Einstellungen und Verhaltensw eisen. D ie m ei­
sten H istoriker hatten - so wie große Teile der nationalkonservativen Führungseliten
- die Existenz einer ,Ju d en frage“ in D eutschland nicht bestritten und die Auffassung
vertreten, daß sie einer „Lösung“ bedürfe82. Spontane und offene Proteste waren aus­
geblieben, als Fachkollegen aus „rassischen“ und/oder politischen G ründen aus G e ­
sellschaft und W issenschaft vertrieben wurden83. Nur in der privaten Sphäre hatten
sich vereinzelt Äußerungen des U nm uts und der Em pörung niedergeschlagen. Still­
schweigend waren dann soziale Ausgrenzung und - ab H erbst 1941 - A btransport der
Ju d en hingenom m en worden. Nach 1945 zeigten sich die H istoriker betroffen und
über den Ju d enm ord entsetzt. G leichw ohl läßt sich die These aufstellen, daß es ihnen
angesichts der vielbeklagten „deutschen K atastrophe“ ratsamer erschien, die Erfor­
schung der „jüdischen K atastrophe“ den unm ittelbar Betroffenen, den Ju d e n selbst, zu
überlassen.
H in ter dem Schutzschild einer offensichtlich nur als m ittelbar em pfundenen B e­
troffenheit glaubten sie der Verantw ortung enthoben zu sein, selbst R echensch aft über
eine G esellschaft zu geben, die die ,Ju d enfrag e“ gestellt - und in A uschw itz gelöst
hatte. M it wenigen Sätzen ging Friedrich M einecke 1946 in seiner Schrift über die
„D eutsche K atastrophe“ auf die ,Jud enfrage“ ein. D ie Betrachtungen erschöpften sich
in der Verw erfung des nationalsozialistischen A ntisem itism us und in der K lage, daß
„in den G askam m ern der K onzentrationslager ... der letzte H auch christlich-abendländischer G esittung und M enschlichkeit“8,1 erstarb sowie in R ü ck b licken, die noch
im m er von altvertrauten Ressentim ents gegenüber den Ju d en durchzogen waren83.
A uskunft über die Verfolgung gaben die alliierten K riegsverbrecherprozesse und
die Flut der Zeitzeugenberichte. Nach der Befreiung aus dem K Z Buchenw ald schrieb
Eugen K ogon seinen Bericht „D er SS-Staat“ nieder, in dem er den V ersuch unter­
nahm , die Erfahrung der Lagerhaft m it einer w issenschaftlichen A nalyse über „das Sy­
stem der K onzentrationslager“ zu verbinden. D ie Publikation - 1946 erschienen - er­
reichte hohe Auflagenziffern und gilt noch heute als ein unübertroffenes Standard­
werk. 1949 legten A lexander M itscherlich und Friedrich M ielke die D okum entation
„W issenschaft ohne M enschlichkeit“ vor, die ebenso eine starke Resonanz fand und
I 9 6 0 unter dem T itel „Medizin ohne M enschlichkeit“ neu herausgegeben wurde.
Erste Im pulse zur w issenschaftlichen A ufarbeitung der nationalsozialistischen J u ­
denverfolgung gingen vom Institut für Z eitgeschichte aus. A uch hier dom inierten zu­
nächst dokum entarische Nachweise. Hans Rothfels edierte 1953 - in der ersten N um ­
82 Vgl. Reinhard Riirup, Das Ende der Em anzipation, in: Die Ju d en im Nationalsozialistischen
D eutschland, hrsg. von Arnold Paucker (Tübingen 1 9 8 6) 100.
83 Iggers, Die deutschen Historiker in der Em igration, in: Geschichtsw issenschaft in Deutschland,
9 7 -1 1 1 .
84 Meinecke, Die deutsche K atastrophe, 125.
85 Ebenda, 29, 53.
D ie N S -Z e it in der w estdeutschen Forsch un g 1 9 4 5 -1 9 6 1
197
mer der „V ierteljahrshefte“ - den A ugenzeugenbericht des SS-O ffiziers K urt G erstein
über die M assenvergasungen86; 1959 folgte seine D okum entation „Zur U m siedlung
der Jud en im G eneralgouvernem ent“87. H elm ut H eiber edierte A kten über den G au­
leiter K ube und die SS-Einsatzgruppen im besetzten Rußland88. 1959 erschienen die
von Martin Broszat herausgegebenen autobiographischen A ufzeichnungen des A u sch­
w itz-Kom m andanten Rudolf H öss89. Zwei Jah re später folgten die A ufzeichnungen
des Dr. Lösener, des .Ju d en referen ten “ des R eichsinnenm inisterium s90. Aus der Feder
Hermann Gram ls stam m te die kleine Studie, die L icht auf das Jud enpogrom vom N o­
vember 1938 warf91. Spät kam die erste, knappe Ü berblickdarstellung eines westdeut­
schen H istorikers zur G esch ichte der Judenverfolgung im D ritten R eich heraus: W o lf­
gang Scheffler legte sie 1960 vor92.
Zu diesen w estdeutschen Publikationen gesellten sich die Beiträge jüdischer A u to ­
ren: nur eine Handvoll wurde in der Bundesrepublik verfaßt. Hans Lamm prom ovierte
1 9 5 1 in Erlangen m it einer A rbeit „Ü ber die innere und äußere Entw icklung des deut­
schen Jud entu m s im D ritten R eich “ zum D oktor der Philosophie; Leon Poliakov und
Jo sef W ulf brachten 1955 ihre Q uellensam m lung „Das D ritte R eich und die Ju d e n “
heraus93; im gleichen Ja h r erschien H. G. Adlers W erk über Theresienstadt. D er D okumentenband folgte 1 9 5 8 9<s. D okum entations- und Forschungszentren wurden im
Ausland aufgebaut. D ie Erfahrungen der Leidenszeit bestim m ten die Rückschau, im
M ittelpunkt standen D okum entation und Beschreibung des Verfolgungs- und V e r­
nichtungsprozesses. Sie schlugen sich in einer Flut von Erlebnisberichten und E in zel­
darstellungen sowie in einigen Ü berblicksw erken nieder: Gerald Reitlingers „Final S o ­
lution“ lag 1956 in deutscher Übersetzung vor95. Im Ausland - und fast ausschließlich
von Em igranten - wurden die A rbeiten geschrieben, die sich m it der G esch ichte des
A ntisem itism us in D eutschland befaßten96. Das H auptaugenm erk richtete sich zu­
nächst nur auf den Zeitraum vor 193 3 : kein Em igrant nahm in den N achkriegsjahren
das Them a der Ju d envernichtun g auf.
A ntisem itism us und Judenverfolgung rückten A nfang der 60er Jahre in das B lick­
feld der w estdeutschen Ö ffentlichkeit. Das geschah vor dem Hintergrund der Ju d e n ­
86 Augenzeugenberichte zu den M assenvergasungen, in: V JH Z G 1 (19 5 3 ) 1 7 7 -1 9 4 .
87 Zur „Um siedlung“ der Juden im G G , in: V JH Z G 7 (1 9 5 9 ) 3 3 3 -3 3 6 .
88 Aus den Akten des Gauleiters K ube, in: V JH Z G 4 (1 9 5 6 ) 1 8 4 -2 1 0 .
89 R. Höss, K om m andan t in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen. Eingel. und kom ­
mentiert von M artin Broszat (Stuttgart 1959).
9(1 Walter Strauß, Das R eichsm inisterium des Inneren und die Judengesetzgebung. A u fzeichnun­
gen von 'Dr. Bernhard Lösener, in: V JH Z G 9 (1 9 6 1 ) 2 6 2 -3 1 3 .
91 Hermann Graml, D er 9. N ovem ber 1 9 3 8 (Bonn 1958).
92 Wolfgang Scheffler, Judenverfolgung im Dritten Reich. 1 9 3 3 bis 1945 (Berlin 1960).
93 Berlin 1955.
94 Theresienstadt 1 9 4 1 -1 9 4 5 . Das Antlitz einer Zwangsgem einschaft (Tübingen 1 9 5 5 ); Die ver­
heimlichte W ahrheit. Theresienstädter D okum ente (Tübingen 1958).
95 Gerald Reitlinger, Die Endlösung. Hitlers Versuch der A usrottung der Juden
1 9 3 9 -1 9 4 5 (Frankfurt 19 5 6 , 4. Auflage 19 6 1 . Englische Erstausgabe London 1953).
Vgl. dazu Kulka, G erm an Historiography, 223 f.
Europas
198
K o n rad K w iet
mordprozesse, antisem itischer A usschreitungen und des Jeru salem er Eichm ann-T ribunals. Eine A ufklärungskam pagne setzte ein, die aber nicht nur positive W irkungen
hatte, sondern allzuschnell auch eine gewisse Im m unisierung der Bevölkerung er­
zeugte. A usstellungen und K irchentagsdiskussionen wurden organisiert, M ahn- und
G ed enkbücher veröffentlicht. Man begann, Sch ulbücher und G eschichtsunterricht zu
revidieren und an einigen U niversitäten Vorkehrungen zu treffen, die bis dahin fast
völlig ausgeklam m erten Them en bereiche in das Lehr- und Forschungsprogram m mit
aufzunehm en. G leichzeitig vollzog sich an den U niversitäten eine personelle W achab­
lösung, eine jüngere H istorikergeneration etablierte sich und leitete die Em anzipation
von den traditionellen Them en und M ethoden der G eschichtsschreibung ein. Seit A n­
fang der 60er Jah re stieg die Zahl w estdeutscher H istoriker, die sich m it der national­
sozialistischen Judenverfolgung befaßten. Trotz aller Bem ühungen blieben em pirische
Detailaufhellung und Theoriebildung fragm entarisch und unbefriedigend. Dies galt
nicht nur für die A ufdeckung des konkret-historischen Entscheidungsprozesses oder
die A bsicherung einer überzeugenden Interpretation der Judenvernichtung, sondern
vor allem auch für die Fragen nach der Verantw ortung der G esellschaft und den Ver­
haltensweisen der Ju d en. Erst in jüngster Z eit wandte man sich diesen zentralen Fra­
gestellungen zu.
In der Ö ffentlichkeit hat die historische A ufklärungsarbeit der Z eitg eschich tsfor­
schung wenig A nerkennung und Resonanz gefunden. Sie verm ochte weder das allge­
m eine D efizit an historischem W issen über das D ritte Reich und die Judenverfolgung
abzubauen, noch den vielfältigen apologetischen Spekulationen und historischen Le­
genden, geschweige denn den antisem itischen Bew ußtseinshaltungen und Vorfällen
einen Riegel vorzuschieben. Es bedurfte offensichtlich erst der Ausstrahlung der am e­
rikanischen Fernsehserie „H olocaust“, um im Janu ar 1979 die V erfolgung und V er­
nichtung der Ju d en zum „Them a der N ation“ zu erheben und em otionale R eaktionen
freizusetzen, m it denen man schon den großen D urchbruch zu beweisen suchte. Nach
„H olocaust“ folgte „Shoah“. Zw eifel sind angebracht, ob diese M edienereignisse lang­
fristige Bew ußtseinsveränderungen ausgelöst haben. D ie etablierte G eschichtsw issen­
schaft geriet unversehens in das Schußfeld der K ritik, „jahrelang an den Interessen
und Bedürfnissen der Ö ffentlichkeit vorbeigelebt zu haben“97. D er Vorwurf übersah,
daß die westdeutsche G esellschaft selbst über Jah re hinweg Interessen und Bedürf­
nisse entw ickelt und artikuliert hat, die die A ufnahm e solcher Forschungsergebnisse
ausschlossen. G espannt darf man auf den Ausgang des „H istorikerstreits“ sein, der g e ­
genwärtig in der Bundesrepublik ausgetragen wird und der zeigt, wie schw er den H i­
storikern noch im m er der „U m gang“ m it der nationalsozialistischen Vergangenheit
und speziell m it dem deutschen Ju d enm ord fällt.
97 So Heinz Höhne, Schwarzer Freitag für die Historiker, in: D er Spiegel, Nr. 5, 33. Jg., 2 9 .1 .1 9 7 9 ,
22. Vgl. dazu M artin Broszat, „H olocaust“ und die Geschichtsw issenschaft, in: V JH Z G 27 (19 7 9 )
2 8 5 -2 9 8 .
Gerhard Lozek
Oie deutsche G eschichte 1917/18 bis 1945 in der For­
schung der D D R (1945 bis Ende der sechziger Jahre)
Der G esch ichtsabschn itt von 1917/18 bis 1945 fand in der Geschichtsw issenschaft
der D D R von A nfang an besondere A ufm erksam keit aufgrund seiner höchst aktuel­
len, unm ittelbar in das Gegenw artsgeschehen hineinw irkenden historischen Erfahrun­
gen vor allem zweier von Deutschland ausgegangener W eltkriege. Die spezifischen
Probleme der Forschung, Lehre und Publikation zu dieser historischen Periode sind
jedoch - wie zu anderen partiellen Entw icklungen auch - nur im Zusam m enhang m it
der G esam tentw icklung der D D R -G eschich tsw issensch aft und ihrer unm ittelbaren
Vorgeschichte zu verstehen. Das war bekanntlich ein A ufbruch zu neuen U fern, ein
Aufbruch, dessen geistige Voraussetzungen allerdings schon vor 1945 vor allem im an­
tifaschistischen W irken der K P D und anderer dem okratischer K räfte geschaffen wor­
den w aren1.
Die G eschichtsw issenschaft der D D R durchlief bis Ende der 60er Jahre drei E n t­
wicklungsphasen: von 1945 bis zu Beginn der 50er Jah re die Phase ihrer G rund le­
gung; in den 50er Jah ren die Phase ihrer eigentlichen K onstituierung; in den 60er
Jahren die Phase ihrer K onsolidierung, in der sich ihre norm alen „Reproduktionsm e­
chanism en“ entfalten und schließlich dauerhaft wirksam werden konnten2. Dies gilt
im w esentlichen auch für den hier interessierenden geschichtsw issenschaftlichen T e il­
bereich. Daraus resultiert aber auch, daß das im G eneralthem a des K olloquium s als
Zäsur gesetzte Ja h r 1965 für die Forschungen zur deutschen G eschichte von 1917/18
bis 1945 in der H istoriographiegeschichte der D D R keinen Entw icklungseinschnitt
darstellt; dieser E in schnitt liegt Ende der 60er Jahre.
Die historiographiegeschichtliche Forschung der D D R hat die genannten Etappen
bislang noch unterschiedlich aufgearbeitet. Für die erste Etappe beschränken sich die
bisherigen U ntersuchungen auf den N eubeginn 1945/46 sowie auf einige Studien zur
’ Vgl. Werner Bertbold, M arxistisches Geschichtsbild - Volksfront und antifaschistisch-dem okra­
tische Revolution (Berlin 1 970) 2 7 - 1 5 5 ; im folgenden zitiert: Berthold, Marxistisches G eschichts­
bild.
2 Vgl. Werner Berthold, Z u r Entwicklung der m arxistisch-leninistischen Geschichtswissenchaft zu
einer voll entfalteten wissenschaftlichen Spezialdisziplin, in: Beiträge zur Geschichte der Arbei­
terbewegung (im folgenden: BzG) 26 (1 9 8 4 ) 1 3 - 2 4 ; Walter Schmidt, Z u r Geschichte der D D R Geschichtswissenschaft vom Ende des zweiten W eltkrieges bis zur Gegenwart, in: BzG 27 (1985)
6 1 4 -6 3 3 .
200
G erhard Lozek
U niversitätsgeschichte3. A m gründlichsten erforscht sind die 50er Ja h re 4. N och im
A nfangsstadium stehen die Studien zu den 60er Jahren . Eine allgem eine Orientie
rungsgrundlage bieten die anläßlich der W elthistorikerkongresse in S tockholm (I9 6 0 )
M oskau (1970) und Bukarest (1980) veröffentlichten Sonderbände der „Zeitschrift für
G eschichtsw issenschaft“, die them atisch gegliederte Ü bersichten zu den historischen
Forschungen in der D D R im jeweils vorangegangenen Jah rzeh n t enthalten.
Im Zeitraum von 1945 bis A nfang der 50er Jahre, der Grundlegungsphase der mar­
xistischen G eschichtsw issenschaft, gab es noch keine system atischen Forschungen zur
deutschen G esch ichte nach 1918. Nach der Entfernung aller aktiven Träger der faschi­
stischen Ideologie aus dem Schul- und H ochschulw esen sowie anderen wissenschaftli­
chen Einrichtungen lag das Schw ergew icht auf der Erarbeitung und Einführung neuer
Lehrprogram m e3, die sich konsequent m it den W urzeln und dem W esen des deut­
schen Faschism us auseinandersetzten, die Schw ächen der W eim arer Republik ver­
deutlichten und sich auf das V erm ächtnis des antifaschistischen W iderstandes hin ori­
entierten.
D ies geschah im engen Zusam m enw irken von M arxisten und N ichtm arxisten. Im
akadem ischen W issenschaftsbetrieb dom inierten in jen en Jah ren die nichtm arxisti­
schen H istoriker. D ie m eisten von ihnen vertraten einen von bürgerlich-hum anisti­
schen Überzeugungen geprägten antifaschistischen Standpunkt. Einige waren in der
Folgezeit nicht bereit, den neuen gesellschaftlichen W eg m itzugehen, sie verließen zu­
m eist die sow jetische Besatzungszone. V iele aber blieben und nahm en tatkräftig an
der Neugestaltung des Bildungswesens und des W issenschaftsbetriebes teil; sie leiste­
ten Bedeutendes beim Aufbau geschichtsw issenschaftlicher Institute, A rchive und Bi-
3 Vgl. Berthold, M arxistisches Geschichtsbild, 1 5 6 - 2 0 5 ; Werner M ägdefrau, Z u m K am pf um eine
neue G eschichtsw issenschaft an der Friedrich-Schiller-U niversität Jen a, in: W Z der FS U Jen a 15
(1 9 6 6 ) 6 3 - 7 7 ; Günter Katsch, Z u r Entw icklung der Geschichtsw issenschaft an der K arl-M arxUniversität Leipzig, in: W Z der K M U Leipzig 31 (1 9 8 2 ) 5 4 4 - 5 5 8 ; Christian Christ-Thilo, Die
Etablierung der W irtschaftsgeschichte als eine m arxistisch-leninistische Gesellschaftswissen­
schaft an der W irtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Berliner Universität durch Jürgen
Kuczynski (1 9 4 6 - 1 9 5 6 ), in: Beiträge zur G eschichte der H um boldt-U niversität zu Berlin 10
(1 9 8 4 ) 9 - 5 6 .
4 Die Entw icklung der D D R -G eschichtsw issenschaft im angegebenen Z eitraum ist Gegenstand
von fünf Dissertadons- und zwei H abilitationsschriften: Helmut H einz über die Phase von Mitte
1 9 5 0 bis M itte 1952 (Berlin 1977), im folgenden zitiert: Heinz, DD R-Geschichtsw issenschaft
1 9 5 0 /5 2 ; Horst H aun über die Phase von M itte 1952 bis Anfang 1 9 5 4 (Berlin 1 9 7 8 ); Uwe Fischer
zur Rolle des Autorenkollektivs für das Lehrbuch der G eschichte des deutschen Volkes. 1952 bis
Mitte 1 9 5 5 (Berlin 1981), im folgenden zitiert: Fischer, A utorenkollektiv 1 9 5 2 /5 5 ; Horst H elas zur
Rolle dieses Autorenkollektivs von Mitte 1 9 5 5 bis M itte 1 958 (Berlin 1985), im folgenden zitiert:
Helas, Autorenkollektiv 1 9 5 5 /5 8 ; Carola Seiler zur Herausbildung der G eschichte der A rbeiter­
bewegung als eigenständige Teildisziplin in der zweiten Hälfte der 50er Jah re (Berlin 1986), im
folgenden zitiert: Seiler, G eschichte der Arbeiterbew egung; Horst H aun zur Entstehung und
G ründung der D eutschen H istoriker-Gesellschaft (Berlin 1984); Helmut Heinz zu den Lehrbrie­
fen „G eschichte“ des ersten Fernstudium s für G eschichtslehrer von 1952 bis 1 9 5 4 (Berlin 1985).
Eine Studie zur Genesis der zeitgeschichtlichen Forschun g verm ittelt Heinz Heitzer, „Z eitge­
sch ichte“ 1 9 4 5 bis 1 9 5 8 , in: ZfG 35 (1 9 8 7 ) 9 9 - 1 1 5 .
5 Vgl. Berthold, M arxistisches G eschichtsbild, 2 0 6 -2 5 8 .
D ie deutsche G esch ich te 1917/18 bis 1 9 4 5 in der Forsch u n g der D D R
201
bliotheken, wirkten bei der H eranbildung des w issenschaftlichen Nachwuchses m it
und waren auch zur w issenschaftlichen K ooperation m it den anfangs wenigen m arxi­
stischen Fachkollegen bereit. Stellvertretend seien hier genannt: O tto H oetzsch
(1 8 7 6 -1 9 4 6 )
und
Fritz
Rörig
(1 8 8 2 -1 9 5 3 )
in
Berlin,
H einrich
Sproem berg
(188 9 - 1 9 6 6 ) zuerst in R ostock und später in Leipzig, Eduard W inter (1 8 9 6 -1 9 8 2 ) in
Halle, K arl Griewank (1 9 0 0 -1 9 5 3 ) zunächst in Berlin, dann wie Friedrich Schneider
( 18 8 7 - 1 9 6 2 ) und Hugo Preller (1 8 8 7 -1 9 6 8 ) in Jena.
Für die späteren Forschungen zur deutschen G esch ichte zwischen 1917/18 und
1945 hatten die zum Teil schon in der Em igration entstandenen Publikationen von
namhaften Zeitzeugen hohen W ert, so von A lbert N orden6, W ilh elm P ieck7 und O tto
Buchwitz8. Eine breite W irkung erzielte die unm ittelbar nach dem Kriegsende veröf­
fentlichte S ch rift W alter U lbrichts „D ie Legende vom ,deutschen Sozialism us' “9, die
das W esen des Faschism us enthüllte.
Das herausragende W erk zur deutschen G esch ichte seit dem lö.Jah rh u n d ert, das in
zwei K apiteln auf die Z e it nach 1918 einging, war in jenen Jah ren zweifellos A lexan­
der A buschs „D er Irrweg einer Nation. Ein Beitrag zum Verständnis deutscher G e ­
schichte“ 10. Dieses Buch übte eine außerordentlich positive Rolle bei der H erausbil­
dung eines antifaschistisch-dem okratischen Bewußtseins aus. Seine W irkung erklärte
sich nicht schlechthin aus der besonders akzentuierten K ennzeichnu ng der reaktionä­
ren Kräfte in der deutschen G esch ichte, sondern zugleich aus der engagierten D arstel­
lung ihrer G egenkräfte, auch des antifaschistischen W iderstandes, den A busch in sei­
ner ganzen Breite faßte als „eine m oralische K am pfgem einschaft von den K o m m u n i­
sten und Sozialdem okraten bis zu katholischen Pfarrern und konservativen D em okra­
ten“ 11.
In dem Bestreben, die U rsachen für negative Seiten der deutschen G esch ichte b e ­
wußt zu m achen, was in der gegebenen Situation besonders notwendig war, kam es
m itunter zu einer Ü berhöhung dieser Entw icklungen. Zugleich wandte sich A busch
aber unm ißverständlich gegen eine fatalistische Sicht der Vergangenheit m it der pro­
gram m atischen Feststellung: „Mögen einst alle W ege nach Rom geführt haben, nicht
alle deutschen W ege m ußten unverm eidlich zu H itler führen.“ 12
Langfristig wirkende Forschungsim pulse für die G esch ichte der W eim arer R epu­
blik gingen von dem geschichtsträchtigen Ja h r 1948 aus, dem 100.Jahrestag der Revo­
lution von 1848/49 sowie dem 30.Jahrestag der deutschen N ovem berrevolution von
1918. Stim ulierenden Einfluß auf die konzeptionellen D ebatten zu beiden Ereignissen
hatten them atische Stellungnahm en des Parteivorstandes der Sozialistischen Einheits-
6 Albert Norden, Lehren deu tscher G eschichte. Z u r politischen Rolle des Finanzkapitals und der
Junker (Berlin 1947).
7 Wilhelm Pieck, Z u r G eschichte der K om m unistischen Partei Deutschlands (Berlin 1949).
8 Otto Buchwitz, 50 Jah re Funktionär der deutschen Arbeiterbewegung (Berlin 1949).
9 (Berlin 1945).
10 (M exiko 1 9 4 5 , Berlin 1946).
11 Alexander Abusch, D er Irrweg einer Nation (Berlin 21 947) 263.
12 Ebenda, 2 0 4 .
202
G erhard Lozek
partei D eutsch lan ds’ 3. Daraus entstand die erste nach 1945 veröffentlichte marxisti
sehe Darstellung über die N ovem berrevolution1'1.
E inen w eiteren Schw erpunkt der hier interessierenden Periode bildete die E ntste
hungs- und W irkungsgeschichte der W eim arer Verfassung. U ngeachtet ihrer Mängel
vor allem des verhängnisvollen A rtikels 48, wurde betont, daß diese Verfassung we­
sen tliche A nsätze für die Schaffung eines dem okratischen Staatswesens enthalten
h a b e 15. Eine herausragende Forschungsleistung in der unm ittelbaren Nachkriegsphase
waren die sozial- und w irtschaftsgeschichtlichen A rbeiten Jürgen K u czyn sk is16.
D er D urchbruch zur N eugestaltung der G eschichtsw issenschaft erfolgte in den 50er
Jahren, der eigentlichen K onstituierungsphase als m arxistische W issenschaftsdisziplin
Diese Entw icklung verlief widerspruchsvoll und konfliktreich, dom inierend war je ­
doch stets ein G eist des schöpferischen Suchens und Vorwärtsdrängens. Eine Reihe
von G rundproblem en der deutschen G esch ichte, die neue A ntw orten erheischten
wurden im produktiven M einungsstreit und oft auch in echter G em einschaftsarbeit
geklärt. Ein hervorstechendes M erkm al des Jahrzeh nts waren theoretisch-m ethod olo­
gische und konzeptionelle D ebatten, die letztlich von der allgem einen Zielsetzung ge­
prägt waren, in absehbarer Z eit m arxistische Gesam tdarstellungen zur deutschen G e­
schichte sowie zur G esch ichte der deutschen A rbeiterbew egung auszuarbeiten.
Diese Zielvorgabe war nach eingehenden Beratungen m it H istorikern vom Z entral­
kom itee der S E D im O ktob er 1951 beschlossen w ord en17. Mit Festlegungen zum be­
schleunigten Aufbau des Museums für D eutsche G esch ichte und der E inrichtu ng von
Instituten zur G esch ichte des deutschen V olkes an den Universitäten Berlin, Leipzig
und Halle sowie eines Instituts für deutsche G esch ichte an der D eutsch en Akademie
der W issenschaften in Berlin wurden zugleich die institutionellen, m ateriellen und
personellen Voraussetzungen für die Lösung der gestellten Aufgaben geschaffen.
D er erwähnte Beschluß regte zugleich an, ein m ehrbändiges „Lehrbuch der G e­
schichte des deutschen V olkes“ auszuarbeiten18. Im Ju n i 1952 fand eine erste zentrale
H istorikerkonferenz der D D R m it über 200 T eilneh m ern statt, auf der seine Gestal­
tung beraten w urde19. Bald darauf konstituierte sich ein A utorenkollektiv von zehn
nam haften H istorikern, das sich auf die anlaufenden Forschungen und Zuarbeiten vie­
ler geschichtsw issenschaftlicher Institutionen stützen konnte. D ie Periode von 1918
13 D okum ente der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Bd. II (Berlin 1952) 1 0 0 - 1 1 6 ; im
folgenden zitiert: D okum ente.
14 Otto Groteivohl, Dreißig Jahre später. Die N ovem berrevolution und die Lehren der Geschichte
der deutschen Arbeiterbewegung (Berlin 1948).
15 Vgl. K a rl Polak, Die W eim arer Verfassung, ihre Errungenschaften und Mängel (Berlin 1948).
16 Jürgen Kuczynski, Die Bewegung der deutschen W irtschaft von 1 8 0 0 -1 9 4 6 (Berlin 1946); clers.,
Die G eschichte der Lage der Arbeiter in Deutschland, Bd. 1: 1 8 0 0 -1 9 3 2 (Berlin 1947); ders,, Stu­
dien zur G eschichte des deutschen Imperialismus, Bd. I und II (Berlin 19 4 8 , 1950).
17 D okum ente, Bd. III (Berlin 1 952) 5 8 1 -5 8 3 .
18 Die publizierte Fassung lautete: Lehrbuch der deutschen G eschichte (Beiträge) 1 -1 2 (Berlin
1 9 5 9 -1 9 6 9 ).
19 Vgl. Helmut Heinz, Die erste zentrale Tagung der Historiker der D D R 1 9 5 2 , in: ZfG 2 6 (1978)
3 8 7 -3 9 9 .
D ie deutsche G esch ich te 1917/18 bis 1945 in der Forsch un g der D D R
bis
194520 hatten
zunächst A lbert
Sch rein er (1 8 9 2 -1 9 7 9 )
und
E rich
203
Patem a
^ 1897-1982) übernom m en.
Es ging um eine neue A rt, G esch ichte zu schreiben, näm lich auf der Grundlage des
historischen M aterialismus. V on den vielfältigen inhaltlichen Problem en, die zu klären
waren, soll hier nur auf die zu Beginn der 50er Jah re geführte A useinandersetzung um
die sogenannten M isere-Auffassungen zur deutschen G esch ichte verwiesen w erden21.
Im Grunde genom m en handelte es sich bei diesen Auffassungen um eine Variante des
deutschen Sonderw eges“. D ie Führung der K P D hatte bereits in der zweiten Hälfte
der 3 0 er Jah re dieses Problem gründlich behandelt und so beantwortet, daß die deut­
sche G eschichte trotz ihrer negativen Seiten, die - wie zuletzt 1933 - durch die H and­
lungen reaktionärer K räfte geprägt waren, keinesfalls eine M isere-Entw icklung dar­
stelle, sondern - wie die G esch ichte anderer V ölker auch - ihre positiven Seiten und
progressiven Traditionen enthalte22. A nton A ckerm ann, führender Funktionär der
K P D , erklärte in diesem Zusam m enhang 1937 zur G esch ichte der W eim arer R ep u ­
blik: „Die Ursache der M ängel und Fehler der W eim arer Republik ist nicht in ... einer
speziellen .deutschen Eigenart“ zu suchen.“23
Eine wichtige Ausgangsposition für eine m arxistische G esam tsicht der deutschen
G eschichte wurde m it der Eröffnung des Museums für deutsche G eschichte im S o m ­
mer 1952 und seiner ersten A usstellung erreicht, die auch eine A bteilung 1 9 1 8 -1 9 4 5
enthielt. D em M useum war ein W issenschaftlicher Rat beigeordnet, in den zahlreiche
nichtm arxistische H istoriker berufen worden waren. Gerhard R itter nahm das zum
Anlaß, um sich anm aßend einzum ischen und brieflich die D D R -M itglied er des V er­
bandes der H istoriker Deutschlands aufzufordem , die Zusam m enarbeit m it M arxisten
aufzukündigen24. Leider befolgte dies ein T eil jen er H istoriker.
M itte der 50er Jah re wurde in der seit 1953 erscheinenden „Zeitschrift für G e ­
schichtsw issenschaft“ eine öffentliche D iskussion der Lehrbuchdisposition zur P e­
riode von 1917/18 bis 1945 begonnen, die die ganze zweite Hälfte der 50er Jah re an­
hielt. Dazu wurden G u tachten m it kontroversen M einungen veröffentlicht25. Inhaltli­
che Schw erpunkte der Diskussion, die in der Folgezeit m aßgeblich die geschichtsw is­
senschaftlichen Forschungen initiierten und beeinflußten, waren:
20 Albert Schreiner, Disposition des H ochschullehrbuches der G eschichte des deutschen Volkes
(1 9 1 8 -1 9 4 5 ), in: ZfG 2 (1 9 5 4 ) 7 0 1 -7 5 8 .
’ ’ Vgl. Heinz Kamnitzer, K eine „G eschichte der deutschen M isere“, in: Forum 1 (1 9 5 2 ); D oku­
m ente, Bd. III, 5 7 0 - 5 8 8 ; Lothar Berthold. Z ur G eschichte der nationalen Konzeption der deut­
schen Arbeiterklasse, in: ZfG 11 (1 9 6 3 ) 5 -2 8 .
22 Vgl. Berthold, M arxistisches Geschichtsbild, 3 2 -6 4 .
23 Zitiert nach Berthold, M arxistisches Geschichtsbild, 59.
2< Rundschreiben von Gerhard Ritter an die A usschußm itglieder des V D H vom 1 .4 .1 9 5 2 und
Protokoll der A usschußsitzung des V D H vom 2 4 .9 .1 9 5 2 , in: Nachlaß Karl Griewank (Universi­
tätsbibliothek der Friedrich-Schiller-Universität Jen a) K arton 4.
25 Vgl. G utachten von W. J , Brjunin, Walter Schmidt und anderen in: ZfG 3 (1955) 2 4 3 - 2 7 5 ; die
Stellungnahme dazu von Albert Schreiner, Z u einigen Fragen der neuesten deutschen Geschichte,
in: Ebenda, 3 7 4 - 4 3 0 .
204
G erhard Lozek
Erstens - Periodisierungsfragen. Ein H auptproblem betraf die Epochenzäsur. Z u ­
nehm end wurde nach dem Zusam m enhang zwischen der O ktoberrevolution 1 9 17 jn
Rußland und der N ovem berrevolution 1918 in Deutschland gefragt. O bgleich der
epochale E in schnitt 1917 für die allgem eine G esch ichte unum stritten war, galt für die
deutsche G esch ichte noch geraum e Z eit der E in schnitt N ovem ber 1 9 1 8 26. Erst 1958
einigten sich die A utoren des Lehrbuches, die Zäsur 1917 als den Beginn einer neuen
E poche in der deutschen G esch ichte anzusehen27.
K lärende D ebatten gab es weiterhin vornehm lich über den Beginn und das Ende
der N ovem berrevolution, über den Beginn und die Etappen des Faschisierungsprozes­
ses am Ende der W eim arer R epublik sowie über die Tiefe der E in schnitte 1933, 1939
und 1945. D ie Errichtung der faschistischen D iktatur 1933 wurde als eine tiefgrei­
fende qualitative Veränderung des G esch ehens gewertet, ohne dabei deren E p o ch en ­
zusam m enhang zu übersehen. A b 1958 setzte sich schließlich in der G eschichtsw is­
senschaft der D D R die folgende Periodisierung des Zeitraum es von 1917 bis 1945 in
sieben Teilabschnitten durch: O kto ber 1917 bis O ktober 191 8 ; O kto ber 1918 bis J a ­
nuar 1919 (dieser E in schnitt verschob sich später auf Mai 1919); Janu ar 1919 bis Ende
1 92 3 ; A nfang 1924 bis M itte 192 9 ; M itte 1929 bis Janu ar 1933; Janu ar 1933 bis A u ­
gust 1939; Septem ber 1939 bis Mai 1 9 4 5 28.
Zweitens - Problem e der N ovem berrevolution sowie die Rolle der Räte in der Revo­
lution. Das K ernproblem betraf die historische Einordnung der N ovem berrevolution,
was die Frage nach dem Charakter der Revolution aufwarf. Es galt zu klären, ob die
N ovem berrevolution als eine bürgerliche, bürgerlich-dem okratische oder als eine n ie­
dergeschlagene proletarische Revolution zu charakterisieren war. D iese Fragestellung
war nicht neu, sie wurde bereits in den 20 er und 30er Jahren in der K P D und auch in
der K om m unistischen Internationale diskutiert und 1938/39 in dem Sinne beantw or­
tet, die N ovem berrevolution als eine bürgerlich-dem okratische Revolution zu bewer­
te n 29. D iese Einschätzung korrespondierte m it der von der B erner K onferenz der
K P D nach dem Sturz H itlers angestrebten „neuen dem okratischen R epu blik“, die den
negativen Erfahrungen der W eim arer R epublik entgegengesetzt sein und die bür­
gerlich-dem okratische Revolution unter antifaschistischen V orzeichen zu Ende führen
sollte30. M it dem Versuch, die N ovem berrevolution als eine gescheiterte proletarische
Revolution zu charakterisieren, gingen einige D D R -H isto rik er hinter den E rken n tn is­
stand von 1939 zurück31.
26 Vgl. Ebenda; Walter Schmidt, Wilhelm Webling, Bem erkungen zur Disposition für das H och schullehrbuch der G eschichte des deutschen Volkes (1 9 1 8 - 1 9 4 5 ), in: ZfG 3 (1955) 2 5 6 -2 6 5 .
27 Vgl. Ilelas, Autorenkollektiv 1 9 5 5 /5 8 , 1 2 1 -1 4 1 . Z u n äch st vehem ent abgelehnt, fand diese Pe­
riodisierung ein Vierteljahrhundert später auch in der Bundesrepublik Verbreitung; zum Beispiel
Hagen Schulze, W eim ar. D eutschland 1 9 1 7 -1 9 3 3 (D ie Deutschen und ihre Nation 4, Berlin/
W est 1982).
28 Vgl. Helas, A utorenkollektiv 1 9 5 5 /5 8 , 1 2 0 -1 2 3 .
29 Vgl. Berthold, M arxistisches Geschichtsbild, 8 6 - 9 3 .
30 Vgl. Revolutionäre deutsche Parteiprogram m e (Berlin 1965) 1 6 2 -1 9 0 .
31 Vgl. Robert Leibbrand, Z u r Diskussion über den Charakter der N ovem berrevolution, in: E in ­
heit 12 (1 9 5 7 ) 1 0 2 - 1 0 8 ; Roland Bauer, Die Einschätzung des Charakters der deutschen N ovem -
D ie deutsche G esch ich te 1917/18 bis 1945 in der Forsch un g der D D R
205
Hach längerem M einungsstreit und gestützt auf vorliegende Forschungsergebnisse
setzte sich jedoch im Vorfeld des 40.Jah restages der Revolution die Auffassung durch,
•wonach die N ovem berrevolution eine bürgerlich-dem okratische Revolution war, die
in gewissem U m fang m it proletarischen M itteln und M ethoden durchgeführt wurde32.
0 ieser W ertung lagen Ü berlegungen über die W echselbeziehung der objektiven und
subjektiven Faktoren in der Revolution und die daraus resultierende E rkenntnis zu­
grunde, daß zwar die objektiven Voraussetzungen für eine sozialistische Revolution
gegeben waren, der entscheidende subjektive Faktor jedoch für eine sozialistische R e ­
volution - die Existenz einer politisch reifen und massenwirksamen revolutionären
marxistischen Partei - zu jener Z eit in D eutschland nicht vorhanden war.
H insichtlich der Rolle der Räte bestand das Problem darin zu klären, ob und in
welchem Maße die Räte im Interesse der Revolution oder der K onterrevolution wirk­
sam geworden sind33. Forschungsorientierend wirkten die Forderungen nach konkret­
historischer U ntersuchung der Funktion und Tätigkeit der Räte vor und während der
N ovem berrevolution in den einzelnen O rten und G ebieten Deutschlands sowie eine
dem entsprechende, differenzierte W ertung der Räte. D ie erste, auf neuen Forschun­
gen beruhende M onographie von Hans Beyer „Von der Novem berrevolution zur Rä­
terepublik in M ünchen “34 und weitere E inzeluntersuchungen 35 erwiesen die Tragfä­
higkeit dieses K onzepts.
Drittens - Das Verhältnis von deutscher G esch ichte und G esch ichte der deutschen
Arbeiterbewegung. Nach Grundsatzdiskussionen in der ersten Hälfte der 50er Jah re
über den Stellenw ert der G eschichte der Arbeiterbew egung in der allgem einen und
deutschen G esch ichte kam es in der D D R -G eschich tsw issensch aft in der zweiten
Hälfte des Jahrzeh nts zu einer verstärkten H inwendung zur G eschichte der A rb eiter­
bewegung, als deren Ergebnis sich dieser in der nichtm arxistischen G esch ichtsschrei­
bung bis dahin w eitgehend ignorierte oder arg vernachlässigte Bereich als eigenstän­
dige Teildisziplin herausbildete36. Lag das Schw ergew icht der Forschungen zunächst
bei T hem en des 1 9 . Jahrhun d erts37, so wurden nun auch zunehm end die Perioden des
berrevolution von 1 9 1 8 bis 1919, in: ZfG 6 (1 9 5 8 ) 1 3 4 - 1 4 2 ; Albert Schreiner, Auswirkungen der
Großen Sozialistischen O ktoberrevolution auf D eutschland vor und während der N ovem berrevo­
lution, in: Ebenda, 2 9 - 3 7 .
32 Vgl. Walter Ulbricht, Ü ber den Charakter der N ovem berrevolution, in: ZfG 6 (19 5 8 ) 7 1 7 - 7 2 9 ;
Walter Nimtz, Über den C harakter der N ovem berrevolution von 1 9 1 8 /1 9 1 9 in Deutschland, in:
Ebenda, 6 8 7 -7 1 5 .
33 Vgl. K arl Fugger, Z u r Lehrbuch-D isposition (1 9 1 8 - 1 9 4 5 ), in: ZfG 3 (19 5 5 ) 2 7 1 - 2 7 5 ; Beiträge
von Walter Kleen, /Marion Einhorn und Wolfgang Schumann in: ZfG 4 (19 5 6 ) 3 2 6 - 3 3 1 , 7 3 8 - 7 5 0 ,
9 6 4 - 9 8 9 ; sowie von S. K. Eggert, R udolf Lindau und Werner Raase in: Die Oktoberrevolution
und Deutschland (Berlin 1 9 5 8 ) 1 2 3 -1 3 8 , 2 1 0 - 2 1 4 .
3< (Berlin 1957).
35 Vgl. Lothar Berthold, Helmut N eef M ilitarismus und O pportunism us gegen die N ovem berre­
volution (Berlin 19 5 8 ); Hellmut Kolbe, Sturm tage (L eipzig-Jena 1958); Z u m 40. Jahrestag der
deutschen N ovem berrevolution, Sonderheft der Z fG 6 (1 958), im folgenden zitiert: N ovem berre­
volution.
36 Vgl. Seiler, G eschichte der Arbeiterbewegung.
37 Vgl. Walter Schmidt, Carola Seiler, Die revolutionäre deutsche Sozialdemokratie in der G e ­
schichtswissenschaft der D D R , in: BzG 26 (1 9 8 4 ) 7 5 0 -7 6 0 .
206
G erhard Lozek
20 .Jahrhunderts einbezogen, wobei für die Z e it nach 1918 die G esch ichte der K P D
im M ittelpunkt der A ufm erksam keit stand. Dabei konnten frühere Tend enzen einer
eingeengten Sich t auf das innerparteiliche G eschehen überwunden w erden; die E n t­
wicklung der K P D wurde im gesam tgesellschaftlichen Rahm en zu erfassen versucht
und die gem einsam en Traditionen m it den nichtrevolutionären Teilen der A rbeiterbe­
wegung wurden deutlicher m arkiert38.
Z um Verhältnis von deutscher G esch ichte und G esch ichte der deutschen A rbeiter­
bewegung hatte Alfred M eusel schon auf der erwähnten H istorikertagung 1952 be­
tont, daß die Arbeiterbew egung einen integralen Bestandteil der deutschen G e ­
schichte bilde und vieles ohne diese gar nicht erklärt werden könne. Z u gleich warnte
er vor der Tendenz, „das Pendel gar zu weit nach der anderen Seite ausschlagen zu las­
sen und die deutsche G esch ichte gewisserm aßen als eine Beilage zur G esch ich te der
d eutschen A rbeiterbew egung zu behandeln. Das ist selbstverständlich auch verfehlt.
E in e G esch ichte Deutschlands ohne die G esch ichte der Arbeiterbew egung ist ebenso
wenig bzw. ebenso viel wert wie eine G esch ichte der deutschen A rbeiterbew egung
ohne die G esch ichte D eutschlands .“39
Zw ei G egebenheiten begünstigten, das Verhältnis von deutscher G esch ich te und
G esch ichte der deutschen Arbeiterbew egung gründlicher zu erfassen: Z um einen die
im Laufe der 50er Jah re entw ickelte und in den 60er Jah ren weiterwirkende „nationale
G rundkonzeption der A rbeiterklasse“. Sie enthielt die Leitlinien der D D R -P o litik zur
nationalen Problem atik, die auf die Schaffung eines einheitlichen dem okratischen
D eutschland zielten40. D en G rundtenor dieser K onzeption bildete jed och nich t das
„G esam tdeutsche“ schlechthin, sondern der soziale Inhalt der nationalen Frage, was
bedeutete, daß ein einheitlich er deutscher N ationalstaat nur auf antifaschistisch-dem o­
kratischer Grundlage unter dem m aßgeblichen politischen Einfluß der werktätigen
K lassen und Sch ichten denkbar war. In der historiographischen U m setzung folgte
daraus, daß die G eschichte der A rbeiterbew egung nicht schlechthin als ein T e ilb e ­
reich, sondern als K ernstück der deutschen G esch ichte des 19. und 2 0 .Jahrhunderts
zu behandeln war. Das stellte neue theoretisch-m ethodologische und praktische A n ­
forderungen an alle B ereiche der G eschichtsw issenschaft41.
38 Vgl. Die M ärzkämpfe 1921 (Berlin 1 9 5 6 ); Wilhelm Ersil, Die revolutionäre Massenbewegung
der deutschen Arbeiterklasse gegen die Regierung C uno (Phil. Diss., Berlin 1956); Lothar Berthold, Das Program m der K P D zur nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes vom
August 1 9 3 0 (Berlin 1956); Wolfgang Jonas, Das Leben der M ansfeld-Arbeiter 1 9 2 4 - 1 9 4 5 (Berlin
1 9 5 7 ); R aim und Wagner, Die Arbeiterbew egung in Sachsen im Jah re 1923 (Phil. Diss., Berlin
1 9 5 8 ); Heinz Karl, Die deutsche Arbeiterklasse im K am pf um die Enteignung der Fürsten
(1 9 2 5 /2 6 ) (Berlin 1957).
39 A lfred Meusel, Die wissenschaftliche Auffassung der deutschen G eschichte, in: Nachlaß M eu­
sel, Bd. 1 /1 , 1 (zitiert bei Heinz. D D R -G eschichtsw issenschaft 1 9 5 0 /5 2 , 256).
40 Vgl. Leo Stern, Z u r Nationalen Grundkonzeption der deutschen Arbeiterklasse im K am pf um
die Lösung der Lebensfrage der deutschen Nation (Berlin 1961); Die geschichtliche Aufgabe der
D D R und die Zukunft D eutschlands, in: Z fG 10 (1 9 6 2 ) 7 5 8 -7 8 6 .
41 Vgl. R olf Rudolph, Die nationale Verantw ortung der Historiker in der D D R , in: Z fG 10 (19 6 2 )
2 5 3 - 2 8 5 ; Lothar Berthold, Z u r G eschichte der nationalen K onzeption der deutschen A rbeiter-
D ie deutsche G esch ich te 1917/18 bis 1 9 4 5 in der Forschung der D D R
207
Zum anderen wurde die Bewältigung dieser Anforderungen w esentlich forciert
durch das V orhaben einer Gesam tdarstellung zur G esch ichte der deutschen A rbeiter­
b ew eg u n g . Dazu wurde im Septem ber 1958 eine vom Z entralkom itee der S E D beru­
fene A rbeitsgruppe gebildet, der führende Repräsentanten der revolutionären A rb ei­
te rb e w e g u n g und H istoriker angehörten42. G estützt auf die bis dahin erzielten F o r­
schungsergebnisse43, legte sie 1963 im Ergebnis ihrer m ehrjährigen Tätigkeit einen
Grundriß zur G esch ichte der deutschen A rbeiterbew egung“ vor44. A ls förderlich er­
wies sich das Erscheinen der 1959 gegründeten fachspezifischen Z eitschrift „Beiträge
zur G eschichte der deutschen A rbeiterbew egung“ (ab 1969 „Beiträge zur G eschichte
der A rbeiterbew egung“).
Der „Grundriß“ bildete den konzeptionellen Leitfaden für die unm ittelbar nach sei­
nem Erscheinen in A ngriff genom m ene und 1966 veröffentlichte achtbändige „G e­
s c h ic h te der deutschen Arbeiterbew egung“, m it der erstmals eine wissenschaftliche
Gesamtdarstellung dieser Bewegung von ihren A nfängen bis in die Gegenw art vorge­
legt wurde. V on der großen Bedeutung, die dem Zeitraum von 1917 bis 1945 beige­
messen wurde, zeugte die Tatsache, daß dieser Periode allein drei Bände gew idm et wa­
ren45. M it diesem W erk wurde die beim E ntstehen des m ehrbändigen „Lehrbuch der
G eschichte des deutschen V olkes“ begründete Tradition w issenschaftlicher G em ein ­
schaftsarbeit in der D D R -H istoriographie in einer noch intensiveren und auch pro­
duktiveren W eise fortgesetzt46.
Viertens- Z um Stellenw ert der deutschen G esch ichte von 1933 bis 1945. Ein klares
Bild vom Faschism us, insbesondere über seine sozialen W urzeln und sein W esen zu
verm itteln, aber zugleich auch seine G egenkräfte deutlich hervortreten zu lassen, hatte
für die politische Identität der D D R und für die Bewältigung der von ihr in A ngriff
genom m enen revolutionären U m gestaltungen konstitutive Bedeutung. D ie Grundlage
für eine leistungsfähige m arxistische Faschism usforschung wurde in der D D R im
Laufe der 50er Jah re gelegt, und zwar von H istorikern, die selbst aktiv gegen den Fa­
schismus gekäm pft hatten: W alter Bartel, E m st Engelberg, Jü rgen Kuczynski, Rudolf
Lindau, Alfred Meusel, Erich Paterna, A lbert Sch rein er und Leo Stern. D ie breiteste
Ausstrahlung erlangte dabei Bartels M onographie „Deutschland in der Z e it der faschi­
stischen D iktatur 1 9 3 3 - 1 9 4 5 “47 als erste G esam tdarstellung in der D D R zu diesem
Them a. Sie war als Lehrbrief für das Fernstudium der G eschichtslehrer entstanden.
H ierin zeigte sich die stim ulierende W irkung von Lehr- und A usbildungsbedürfnissen
für die Forschung.
klasse, in: Ebenda, 1 0 0 5 - 1 0 1 6 ; Ernst Engelberg, Problem e des nationalen Geschichtsbildes der
deutschen Arbeiterklasse, in: Ebenda, Sonderheft (1 9 6 2 ) 7 - 4 9 .
42 Vgl. D okum ente, Bd. VII (Berlin 1 961) 3 5 3 ; N ovem berrevolution, 54.
4} Vgl. H istorische Forschungen in der D D R , in: Sonderheft der ZfG 8 (19 6 0 ) 2 0 1 - 4 5 7 , Sonder­
band der ZfG 18 (1 9 7 0 ) 3 8 0 -6 5 0 .
(Berlin 1963).
1(5 Bd. 3 von 1 9 1 7 bis 1 9 2 3 ; Bd. 4 von 1 9 2 4 bis Jan u ar 1 9 3 3 ; Bd. 5 von Januar 1933 bis Mai 1945.
ib An der Ausarbeitung der Bände 3 - 5 waren als A utoren beteiligt: Lothar Berthold, Ernst Diehl,
G ünter H ortzschansky, Bruno Löwel, W alter N im tz, W olfgang Schum ann, W alter W im m er.
,<7 (Berlin 1956).
208
G erhard Lozek
Eine neue Qualität erlangten die Forschungen über den Zeitraum von 1917/18 bis
1945 in der D D R im Übergang zu den 60erJahren. Z u den bereits ausgewiesenen Hi­
storikern kam en nunm ehr Nachwuchskräfte hinzu, darunter K arl D rechsler, Klaus
D robisch, D ietrich E ichholtz, Gerhard Förster, K urt Gossweiler, Gerhard Hass, G ün­
ter H ortzschansky, H einz K üh nrich , Klaus M am m ach, K urt Petzold, W olfgang Schu­
m ann, W alter W im m er und andere. A ls besonders forschungsstim ulierend erwiesen
sich die internationalen K onferenzen zu den T h em en „D er deutsche Imperialismus
und der zweite W eltkrieg“ (19 59)‘is sowie „D ie Barbarei - extrem ster A usdruck der
M onopolherrschaft in D eutschland“ (1961)49.
V on Beginn an verfolgte die Forschung zwei G rundlinien: Z um einen die ökonom i­
sche und politische Rolle der M onopolbourgeoisie am Vorabend und während der fa­
schistischen D iktatur, insbesondere bei der Vorbereitung, Auslösung und Führung des
K rieges sowie zum anderen der antifaschistische W iderstand, vor allem das W irken
der K P D .
Als übergreifend tragfähiges U ntersuchungskonzept hinsichtlich der Rolle der M o­
nopolbourgeoisie in der G esam tperiode von 1917 bis 1945 erwies sich die T heorie des
staatsm onopolistischen Kapitalism us, die zu Beginn der 60er Jah re in interdisziplinä­
rer Zusam m enarbeit verschiedener gesellschaftsw issenschaftlicher Fächer w eiterent­
w ickelt worden war50. Verbunden m it der von G eorgi D im itroff herkom m enden klas­
sischen W esensbestim m ung des Faschism us an der M acht, konnte m it H ilfe dieser
Th eorie vor allem die gesellschaftliche Spezifik des Faschism us wie auch sein histori­
scher Platz im G eschichtsprozeß des 20 .Jahrhunderts genauer bestim m t werden.
Das H auptaugenm erk galt der Beziehung von Ö konom ie und Politik, von M onopo­
len und Staat im Faschism us. G leichw ohl wurde dabei der relativen Eigenständigkeit
des faschistischen Staates und seiner M achtorgane wie auch der faschistischen Par­
teien und Bew egungen noch nich t genügend R echnu ng getragen. Als hem m ender
Faktor erwies sich weiterhin das Fehlen von vergleichenden Forschungen zur Faschis­
m usproblem atik in anderen Ländern. (Trotz w esentlicher Fortschritte auf diesem G e­
biet kon nte dieser Mangel bis heute noch nicht gänzlich behoben werden.) Repräsen­
tativ für den damaligen Erkenntnisstand war der Protokollband „M onopole und Staat
in D eutschland 1 9 1 7 -1 9 4 5 “51, der die bis dahin erzielten Forschungsergebnisse zu­
sam m enfaßte.
V on den Einzelforschungen aus der ersten H älfte der 60er Jah re sind weiterhin
T h em en hervorzuheben wie die R öhm -A ffäre52, die Rolle und Entw icklung der fa-
48 D er deutsche Imperialismus und der zweite W eltkrieg, Bde. 1 -5 (Berlin 1 9 6 0 -1 9 6 2 ), im fol­
genden zitiert: Imperialismus.
49 Beitrag von Jü rgen Kuczynski und K onferenzbericht in: ZfG 9 (1 9 6 1 ) 1 4 9 4 -1 5 0 9 , 1 6 3 2 -1 6 3 8 .
30 Vgl. Jürgen Kuczynski, Studien zur G eschichte des staatsm onopolistischen Kapitalism us in
D eutschland 1 9 1 8 bis 1945 (Studien zur G eschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalis­
m us 16, Berlin 1 9 6 3 ); Imperialismus heute (Berlin 1 9 6 5 ) 1 1 -7 2 .
31 Protokoll der 2. Tagung der Fachgruppe G eschichte der neuesten Z eit 1 9 1 7 -1 9 4 5 (Berlin
1966).
32 K urt Gossweiler, Die Rolle des M onopolkapitals bei der Herbeiführung der Röhm -A ffäre (30.
Ju n i 1 9 3 4 ) (Phil. Diss., Berlin 1 9 6 3 ); Nachdruck der Diss.: (Köln 1983).
D ie deutsche G esch ich te 1917/18 bis 1 9 4 5 in der Forschung der D D R
s c h is tis c h e n
209
K onzentrationslager 1933 bis 1 9 4 5 33, Problem e der Kriegswirtschaft im
faschistischen D eutschland 54 sowie der W eg der deutschen Sozialdem okratie von
J 933 bis 194 6 55. Es erschien auch die erste von D D R -H isto rikern verfaßte Ü berblicks­
darstellung zur G esch ichte des Zw eiten W eltk riegs56.
Die Erforschung des antifaschistischen W iderstandes entfaltete sich als Pendant der
Faschism usforschung zeitlich und personell ähnlich wie diese (bis M itte der 50er Jahre
vorwiegend A rbeiten von T eilneh m ern des W iderstandes, ab M itte der 50er Jah re
W irksamwerden
der neuausgebildeten
H istorikergeneration). Aus naheliegenden
Gründen konzentrierten sich die U ntersuchungen bis in die 60er Jah re hinein auf den
antifaschistischen K am pf der K P D 57. Das bedeutete jedoch zu keinem Zeitpunkt, daß
die W iderstandsproblem atik darauf reduziert worden wäre. Es ging stets um zwei Fra­
genkom plexe: U m die dom inierende K raft im W iderstand zum einen, aber zugleich
um die Breite dieses K am pfes, um die Frage nach den G leichgesinnten, zum anderen;
die A ufm erksam keit galt letztlich - und das im aktuellen D D R -In teresse - der Bünd­
nisproblematik.
Eine andere Seite der A ngelegenheit betrifft die konkrethistorische U m setzung die­
ser grundlegenden Erkenntnisse in den einzelnen Entw icklungsabschnitten der D D R Geschichtsw issenschaft. Aus heutiger Sich t sind hierbei in den 50er und 60er Jah ren
einige U nvollkom m enheiten festzustellen. Dazu zählen vor allem die unzureichende
Berücksichtigung des W iderstandes außerhalb der A rbeiterbew egung und insbeson­
dere die undifferenzierte, vorwiegend negative Bew ertung der Kräfte des 20.Ju li 1944.
Allerdings gab es hierzu in den konzeptionellen D ebatten schon in den 50er Jah ren
mahnende Stim m en, die auf positive Tendenzen innerhalb dieser K räfte hinwiesen
53 Heinz Kübnrich, D er K Z -S taat (Berlin 1960).
54 Horst Hemberger, Einige Fragen der Kriegswirtschaft des faschistischen deutschen Imperialis­
mus (Phil. Diss., Berlin I 9 6 0 ); Wolfgang Hahn, Lothar Kruss, Elektrokonzerne - R üstungskon­
zerne (Berlin 1 9 6 1 ); Wolfgang Schumann, Das K riegsprogram m des Zeiss-K onzerns, in: ZfG 11
(1963) 7 0 4 - 7 2 4 ; Dietrich Eichholtz, Problem e einer W irtschaftsgeschichte des Faschism us in
Deutschland, in: Jahrbuch für W irtschaftsgeschichte (Berlin 1963).
55 Heinz Niemann, Otto Findeisen, Dieter Lange, S P D und Hitlerfaschismus. D er W eg der d eu t­
schen Sozialdemokratie vom 2 3 . Januar .1933 bis zum 21. April 1946 (Phil. Diss., Berlin 1965);
Neue Problem e der G eschichte der deutschen A rbeiterbew egung in Forschung und Lehre (B er­
lin 1965).
30 Gerhard Förster, H einz Helmert, Helmut Schnitter, D er zweite W eltkrieg (Leipzig 1962).
57 Charakteristische Beispiele sind: Otto Winzer, Zw ölf Jah re Kam pf gegen Faschism us und
Krieg (Berlin 1 9 5 5 ); Walter Bartel, Problem e des antifaschistischen W iderstandskam pfes in
Deutschland, in: Z fG 6 (1 9 5 8 ) 9 9 9 - 1 0 1 6 ; Wilhelm Webling, Das K on zept der K om m unistischen
Partei Deutschlands gegen die faschistische D iktatur des deutschen Imperialismus in den Jahren
von 1 9 3 3 -1 9 3 5 (Phil. Diss., Berlin 19 6 0 ); Helene Roggenbuck, D er W iderstandskam pf der illega­
len K P D während des zweiten W eltkrieges in den wichtigsten Zügen und an den Schwerpunk­
ten der inneren Fron t (Phil. Diss., Berlin 19 6 1 ); M anfred Weißbecker, Die K om m unistische Par­
tei Deutschlands im K am pf gegen die faschistische D iktatur in Thüringen 1 9 3 3 -1 9 3 5 (Phil.
Diss., Jen a 1 9 6 2 ); Hans-Jürgen Friderici, Die Entwicklung der Strategie und Taktik der K P D und
der antifaschistische W iderstandskam pf in Oberschlesien (1 9 3 3 - 1 9 3 9 ) (Phil. Habil., Leipzig
1965); K arl H einz Biernat, Das Ringen der K P D um die antifaschistische Einheitsfront der A r­
beiterklasse und die antifaschistische Volksfront 1 9 3 3 bis 1 9 4 5 , in: G eschichtsunterricht und
Staatsbürgerkunde 8 (1 9 6 6 ) 3 3 5 -3 4 5 .
210
G erhard Lozek
und eine differenziertere Betrachtungsw eise forderten58. W enn diese kritischen Ein
wände erst in der zweiten H älfte der 6 0 e r Jah re zu den angestrebten K orrekturen
führten59, dann hat das sehr unterschiedliche G ründe; vor allem lag das am unzurei­
chend en Forschungsstand, aber auch an einigen Begleiterscheinungen der konfrontati­
ven Auseinandersetzung m it restaurativen Auffassungen in der Bundesrepublik. Dort
versuchten die tonangebenden H istoriker einerseits den W iderstand der A rbeiterbe­
wegung, insbesondere den der K om m unisten , abzuwerten oder gar als antinational
hinzustellen und andererseits die konservativen K räfte des 20 .Ju li 1944 - auch un­
differenziert - zu verklären und zur einzigen em stzunehm enden W iderstandskraft ge­
gen den Faschism us zu erh eben 60. D ie kritische A useinandersetzung m it diesen T e n ­
denzen und darüber hinaus generell m it den D arstellungen der bürgerlichen H istorio­
graphie zur deutschen G esch ichte, insbesondere über den Zeitraum von 1917/18 bis
1945 spielte eine bedeutende Rolle im Selbstverständigungsprozeß der m arxistischen
G eschichtsw issenschaft in der D D R 61.
In der zweiten Hälfte der 6 0 e r Jah re erreichte die G eschichtsw issenschaft der D D R
ihre K ulm ination im Entw icklungsprozeß nach 1945. Davon zeugten für jederm ann
sichtbar der A bschluß der beiden Gesam tdarstellungen. N achdem jene zur „G e­
schichte der deutschen A rbeiterbew egung in acht Bänden“ bereits 1966 veröffentlicht
werden konnte, erschienen bis 1969 die restlichen drei Bände des „Lehrbuch der
deutschen G esch ichte (Beiträge)“ zur Periode von 1917/18 bis 1 9 4 5 62. D am it konnten
die H istoriker der D D R zum ersten Mal eine alle gesch ichtlichen Perioden umfas­
sende Darstellung der deutschen G esch ichte auf der Grundlage des historischen M ate­
rialismus vorlegen. W ar dieses W erk hauptsächlich für Lehrende und Studierende an
U niversitäten und H ochschulen gedacht, so wandte sich die von Jo ach im Streisand
58 Fischer, A utorenkollektiv 1 9 5 2 /5 5 , 1 4 8 ; Plans Dress, Fortschrittliche und reaktionäre T end en­
zen in den Reform plänen des Kreisauer K reises, in: Imperialismus, Bd. 4.
39 K url Finker, Stauffenberg und der 20. Juli 1 9 4 4 (Berlin 1967).
60 Richtungsw eisend dafür w aren: Gerhard Ritter, Carl G oerdeler und die deutsche W iderstands­
bewegung (Stuttgart 1954); H ans Rothfels, Die deutsche Opposition gegen H itler (K refeld 1949).
Einen Einblick in die bundesdeutsche historiographische W iderstandsliteratur bis Mitte der 60er
Jah re verm itteln: Thilo Vogelsang, Die W iderstandsbew egung und ihre Problem atik in der zeitge­
schichtlichen Darstellung, in: Das Parlam ent, Beilage 2 8 /6 5 vom 14.Juli 1 9 6 5 ; Friedrich Zipfel,
Die Bedeutung der W iderstandsforschung für die allgemeine zeitgeschichtliche Forschung, in:
Ebenda.
61 Vgl. Problem e der G eschichte des zweiten W eltkrieges, Bd. II (Berlin 1 9 5 8 ); Werner Berthold,
„ ... großhungem und geh orch en.“ Z u r Entstehung und politischen Funktion der G eschich ts­
ideologie des westdeutschen Imperialismus untersucht am Beispiel von Gerhard R itter und
Friedrich M einecke (Berlin 1 9 6 0 ); Gerhard Lozek, Florst Syrbe, Geschichtsschreibung con tra G e­
schichte (Berlin 1964).
62 Wolfgang Rüge, Deutschland von 1 9 1 7 bis 1 9 3 3 (Berlin 1967); Erich Paterna, Werner Fischer,
Kurt Gossiveiler, Gertraud Markus, Kurt Pätzold, D eutschland von 1933 bis 1 9 3 9 (Berlin 1969);
Wolfgang Bleyer, K arl Drechsler, Gerhard Förster, Gerhart Hass, Deutschland von 1 9 3 9 bis 1945
(Berlin 1969). Die Hauptergebnisse dieser Bände waren in den Bd. 3 einer repräsentativen „D eu t­
schen G eschichte in drei Bänden“ eingegangen (Berlin 1968).
D ie deutsche G esch ich te 1917/18 bis 1945 in der Forschung der D D R
21 1
verfaßte „D eutsche G esch ichte in einem Band“63, an einen breiteren Leserkreis. D er
Band berücksichtigte bereits über das Lehrbuch hinausgehende Erkenntnisse.
Parallel zu den Gesam tdarstellungen erschienen zahlreiche M onographien zur deut­
schen G esch ichte von 1917/18 bis 1945, die w esentliche Bausteine für das m arxisti­
sche G eschichtsverständnis darstellten64. Langfristige W irkungen in diese Richtung
gingen nicht zuletzt von H andbüchern und N achschlagewerken aus, die zum eist die
ganze deutsche G esch ichte um faßten, aber auch vielfältige Erkenntnisse zu dem hier
interessierenden G esch ichtsabschn itt verm ittelten65.
D ie m arxistische G eschichtsw issenschaft der D D R hatte bis Ende der 60er Jah re
ein breites und solides Forschungsfundam ent geschaffen, von dem aus neue Aufgaben
in A ngriff genom m en werden konnten. U nm ittelbar an die erzielten Ergebnisse und
gew onnenen Erfahrungen kritisch anknüpfend, kam es in der Folgezeit vor allem zu
einem w eiteren Klärungsprozeß hinsichtlich der W echselbeziehung von Nationalund W eltg esch ich te66, was zu einer beachtlichen Ausweitung der Forschungsfelder
und -them en führte.
63 (Berlin 1968). Eine bearbeitete Fassung des Buches erschien in der Bundesrepublik unter dem
Titel: D eutsche G eschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart (Köln 1972).
64 Vgl._/;V/gfH Kuczynski, Darstellung der Lage der A rbeiter in Deutschland von 1933 bis 1945
(Die G eschichte der Lage der A rbeiter unter dem Kapitalism us 6, Berlin 1964); ders., Darstellung
der Lage der A rbeiter in Deutschland von 1 9 1 7 /1 8 bis 1 9 3 2 /3 3 (Ebenda 5, Berlin 1 9 6 6 ); Siegfried
Vietzke, H einz Wohlgemuth, Deutschland und die deutsche Arbeiterbewegung in der Z eit der
W eim arer Republik (Berlin 1 9 6 6 ); Wolfgang Rüge, W eim ar - Republik auf Z eit (Berlin 1969);
Dietrich Eichholtz, G eschichte der deutschen Kriegswirtschaft 1 9 3 9 -1 9 4 5 , Bd. I: 1 9 3 9 -1 9 4 1
(Berlin 1969).
65 Vgl. Kleine Enzyklopädie. D eutsche G eschichte von den Anfängen bis 1945 (Leipzig 1965);
Deutsche G eschichte in Daten (Berlin 1 9 6 7 ); Die bürgerlichen Parteien in Deutschland (Leipzig
1968); Biographisches Lexikon zur G eschichte der deutschen Arbeiterbewegung (Berlin 1969);
Biographisches Lexikon zur deutschen G eschichte (Berlin 19 7 1 ); Sachwörterbuch zur deutschen
G eschichte, 2 Bde. (Berlin 19 6 9 , 1970).
66 W esentliche Impulse gingen vom V. H istorikerkongreß der D D R aus, der im D ezem ber 1972
in Dresden stattfand und dem T hem a „Die G eschichte des deutschen Volkes im welthistori­
schen Prozeß“ gew idm et war. Referate und Berichte des Kongresses sind veröffentlicht in: ZfG
20 (19 7 2 ) 1 2 2 8 -1 2 8 4 und 21 (1 9 7 3 ) 4 4 1 - 4 5 4 .
IV. Das Problem der deutschen National­
geschichte
Fritz Fellner
Nationales und europäisch-atlantisches Geschichtsbild
in der Bundesrepublik und im W esten in den Jahren
nach Ende des Zweiten W eltkrieges
„Mir rückt die Erinnerung an den eigenen W eg seit 1945 im m er m ehr Fragezei­
chen in den Blick. W ie war es m öglich, daß ein Studierender, den ein intensives In ter­
esse zu unzähligen Gesprächen antrieb, in H underte von Vorträgen führte und zu ei­
nem breit angelegten Studium stim ulierte, so viel von der V ergangenheit und so w e­
nig für die Z u kunft gelernt hatte?“ Es liegt wohl in der G leichaltrigkeit begründet, daß
diese Verwunderung, m it der H ans-G ünter Zm arzlik vor etwa anderthalb Jahrzeh nten
seinen W eg in die G eschichtsw issenschaft reflektierte1, für m ich gewissermaßen zum
Refrain wurde, der nach jeder neuen Strophe, nach jedem neuen Ansatz zur U ntersu­
chung der G esch ichte der G eschichtsw issenschaft seit 1945 sich im m er wieder erneut
als Frage stellt.
Doch noch eine andere Beobachtung, die sich im m er wieder zur Frage form uliert,
drängt sich auf, die Überlegung eines jener großen deutschen H istoriker der älteren
Generation, die uns in jenem Suchen nach festem Grund in den Jahren unm ittelbar
nach dem Ende des W eltkrieges aus ihrer eigenen w eltanschaulichen Sicherh eit V o r­
bild wurden, auch wenn wir ihren Glauben nicht teilen kon n ten : Franz Schnabel, der
süddeutsch-katholische H istoriker, der 1947 A ntw ort suchte auf die Frage: „Was b e ­
deutet uns heute Freiherr vom S tein ?“ „D urch das Sieb der Z eit sind“, so sagte er, „so
viele historische Personen samt ihren Biographen und G eschichtsschreibern h in ­
durchgefallen, und es wird Mühe kosten, ihnen im Gesam tverlauf der deutschen G e ­
schichte jetzt nachträglich doch wieder den richtigen Platz anzuweisen .“2 Franz
Schnabel bezog sich auf den Freiherrn vom Stein und die A rt, wie die T reitschke-
' Hans-Günter Zmarzlik, W ieviel Zukunft hat unsere Vergangenheit? Aufsätze und Überlegun­
gen eines Historikers vom Jahrgang 1922 (M ünchen 1 970) 30.
2 Franz Schnabel, Abhandlungen und Vorträge 1 9 1 4 -1 9 6 5 . Hrsg. u. eingeleitet von Heinrich
Lutz (Freiburg, Basel, W ien 1970) 184.
Fritz F elln er
214
Schule das deutsche G eschichtsbild zu beherrschen und ihr nich t Passendes zu ver­
drängen verm ocht hatte. Für m ich ist es eine - oft bedrückende - Ü berlegung, wenn
ich heute nachforschend Sch ich ten von w issenschaftlichen Leistungen, Einsichten
A nregungen bloßlegen und in ihr ursprüngliches L icht zurechtzurücken suche, die ich
als Z eitgenosse erlebt, die m ich in m einem w issenschaftlichen Suchen geleitet haben
und die von späteren Neubauversuchen oder Verm urungen zugeschüttet oder ver­
schoben, verlagert worden sind.
„Daß die deutsche G esch ichte neu geschrieben werden muß, ist unser aller dringen­
des A nliegen. In dem allgem einen Ruin sind auch die alten G eschichtsbild er nieder­
gebrannt ... W ir halten U m schau auf dem Trüm m erfelde . .. “3. A uch für Franz Schna­
bel gilt, was H ans-G ünter Zm arzlik in seiner zu U nrecht gescholtenen und dann ver­
gessenen W ürdigung Gerhard Ritters auf dem Freiburger H istorikertag von Gerhard
R itter gesagt hat: „Er hat versucht, im G estern das M orgen zu e rre ic h e n ...‘“i. Schna­
bel, Ritter, Rothfels, Herzfeld, H eim pel, K aehler, Gerhard, wen im m er man von den
H istorikern nennen mag, die nach 1945 bem üht waren, den Platz der G eschichtsw is­
senschaft in der veränderten W elt zu suchen, für jeden trifft zu, was W aldem ar Besson
klar ausgesprochen hat, als er in der Festschrift zu Hans R othfels’ 70. G eburtstag das
V erhältnis von nationalstaatlichem und historischem D enken zu analysieren ver­
su chte: „Einm al m ehr erweist es sich gerade bei solchen Neuansätzen geschichtlicher
Betrachtung in unserer Z eit, daß, wenn auch die naive Bindung des H istorikers an den
N ationalstaat des
19. Jahrhunderts
aufgegeben
werden
m ußte, der konservative
Grundzug seines W esens geblieben i s t ...“5. Besson betonte, daß „die deutsche H isto­
rie so zur W issenschaft vom Nationalstaat geworden war“. W er seine G esch ichte er­
forschte, beteiligte sich zugleich aktiv an seiner H erstellung, nicht zuletzt dadurch, daß
er ihn als Z iel des gesch ichtlichen Prozesses auffaßte und lehrte6. Als 1949 sich die
deutschen H istoriker zum ersten Mal nach dem Ende des Zw eiten W eltkrieges in
M ünchen wieder zu einem H istorikertag trafen, verkündete Gerhard R itter im Eröff­
nungsvortrag m it unverändertem Pathos, daß „der eigentliche Träger der weltge­
schich tlich en Bewegung [...] die N ationen [sind], nicht die M enschheit als Ganzes,
auch nich t die ,K ulturkreise‘ einer späteren, von der Biologie m itbestim m ten G e­
schichtsphilosophie“7. Und wenn er auch die nationalistischen Verirrungen der deut­
schen G eschichtsw issenschaft beklagte und Selbstkritik übte, so sah er als eigentliche
Aufgabe der deutschen G eschichtsw issenschaft in der Z ukunft doch wieder nur ein
nationales A nliegen: es gälte die eigene V ergangenheit neu zu sehen, die K ritik an der
deutschen V ergangenheit n ich t nur den Frem den zu überlassen; G esch ichte als natio-
3 Ebda.
4 Zmarzlik, 162.
5 Waldemar Besson, G eschichte als politische W issenschaft. Z u m Verhältnis von nationalstaatli­
chem und historischem D enken, in: G eschichte und Gegenwartsbewußtsein. Festschrift für Hans
Rothfels zum 70. Geburtstag (G öttingen 1 963) 84.
6 Ebda, 70.
7 Aianfred Asendorf (Hrsg.), Aus der Aufklärung in die perm anente Restauration. G eschichtsw is­
senschaft in Deutschland (H am burg 1 974) 353.
N ationales und eu ropäisch-atlantisches G esch ich tsb ild
215
nalpolitisches A nliegen ist der T en o r seiner A usführungen und nur m it einem W ort,
m it einem Seitenblick, fast ist man heute im W iederlesen versucht, von einer A libifor­
m ulierung zu sprechen, fügt er der „N ationalitätsidee“ die „Idee der europäischen F ö ­
deration“ hinzu8.
So steht am N eubeginn der deutschen G eschichtsw issenschaft die unveränderte
G leichsetzung von G eschichtsbew ußtsein m it Nationalbewußtsein - so wie H erm ann
O ncken in seinem Aufsatz über die „W andlungen des G eschichtsbildes in revolutio­
närer E p och e “9 den „K am pf um das nationale G esch ichtsbild “ vor A ugen hatte, so
konnte T heod or Schied er noch in seinem R ü ckblick auf die hundertjährige G e ­
schichte der „H istorischen Z eitschrift“ die „tiefe G eschichtsm üdigkeit, die die m ei­
sten ergriffen hat“, in Beziehung setzen zu dem Faktum , daß „das Band zwischen N a­
tionalpolitik und G esch ich te“ zerrissen war, seitdem „die hohen Begriffe der klassi­
schen H istorie: N ation, Staat und Vaterland ausgeplündert und ausgebrannt auf dem
Trüm m erfeld des K rieges lagen“ 10.
„G eschichte als Q uelle nationaler Selbstvergewisserung und Selbstkritik: dies am bi­
valente, offene Verhältnis zur Vergangenheit ken nzeichn et m it w echselnden A kzen­
ten Ritters P osition “ 11 - nicht nur Gerhard Ritters Position m üßte man in B erich ti­
gung von Zm arzliks W ertung festhalten, es trifft auf die G esam theit jen er H istoriker­
generation zu, die aus dem politisch-ideologischen Trüm m erfeld des Nationalsozialis­
mus die Steine für einen Neuaufbau herauszusuchen begann - und seltsamerweise (ich
spreche hier von der älteren G eneration) nur die nationalen Trü m m er aufhob und die
sozialen zur Seite schob und liegen ließ.
Es will und soll diese Feststellung kein Vorwurf und keine Verurteilung sein, gerade
der Band des Briefw echsels Gerhard Ritters, den Schwabe veröffentlicht h at12, zeigt,
wie schw er es die G eneration Gerhard Ritters hatte, sich aus der Verankerung ihres
G eschichtsbildes im D ien st an Nation und Staat zu lösen. Aufgewachsen und ausge­
bildet in der Tradition der G esch ichte der G roßen M ächte, m ußte M achtpolitik im
M ittelpunkt des historischen D enkens für jene verbleiben, die im Chaos des Zusam ­
m enbruchs sich in erster Linie als O pfer einer ins Hybride übersteigerten nationalen
M achtpolitik erkennen m ußten. Ludwig D ehio in seiner kühlen, abwägenden A rt der
Form ulierung, m it der er D eutschland im System des europäischen Gleichgew ichts
einzuordnen sucht, die G esch ichte als eine A bfolge von H egem onialkäm pfen inter­
pretiert, m acht dieses Beharren in den traditionellen K onzepten der großen Politik
noch deutlicher als Ritters leidenschaftliches Engagem ent. D ie N ationen und Staaten
als autom atisch, d. h. geopolitisch determ inierte Faktoren internationaler Beziehungen
- es wirkt wie die Suche nach der Erklärung, wie es zum M ißbrauch eines an sich rich-
8 Ebda, 3 6 3 .
9 H undert Jah re H istorische Z eitschrift 1 8 5 9 -1 9 5 9 . Beiträge zur G eschichte der Historiographie
in den deutschsprachigen Ländern. Hrsg. v. Theodor Schieder (M ünchen 1959) 124.
10 Ebda, 71.
11 Zmarzlik, 149.
12 Gerhard Ritter. Ein politischer Historiker in seinen Briefen. Hrsg. v. Klaus Schwabe und R olf
Reichardt (Schriften des Bundesarchivs 3 3 , Boppard 1984).
216
Fritz F elln er
tigen K onzeptes gekom m en war, es b leibt die G ültigkeit des auf Nation und Staat ori­
entierten G eschichtsbildes.
D ehio war seit 1946 Professor an der U niversität Marburg - im gleichen Ja h r war
ein aus W ien stam m ender A ußenseiter der G eschichtsw issenschaft an die gleiche U ni­
versität berufen worden, Franz Borkenau, der aus einer frühen Bindung an den K o m ­
m unism us sich während des Spanischen Bürgerkrieges zum scharfen K ritik er des S o ­
w jetkom m unism us gewandelt hatte und auf verschiedenen Umwegen im Exil in
G roßbritannien und A ustralien, auf dem Umweg über den Aufbau der D eutschen
N achrichtenagentur zum außerplanm äßigen Professor für m ittlere und neuere G e­
schichte in Marburg bestellt worden war. Im gleichen Jah r, in dem D ehio sein Buch
über „G leichgew icht und H egem on ie“ als Versuch der historischen Erklärung deut­
scher M achtpolitik veröffentlichte, 1948, publizierte Franz Borkenau „D rei A bhand­
lungen zur deutschen G esch ich te“, in denen er in einer geistes- und religionsge­
schichtlichen Interpretation die Problem atik der deutschen G esch ichte in einen ge­
sam teuropäischen Zusam m enhang zu stellen versuchte13. „Luther: O st oder W est“ ist
das T h em a der m ittleren der drei A bhandlungen, und Borkenau glaubt, den Gegensatz
zwischen W ittenberg und G enf, zwischen Luther und Calvin als eindeutig historisch
bedeutsam er werten zu m üssen als den K am pf zwischen R om und der Reform ation.
W as den religionsgeschichtlichen Ü berlegungen Borkenaus, der K atholizism us und
Calvinismus dem Luthertum gegenüberstellt, eine aktuelle politische Bedeutung als
H ilfestellung eines sich langsam entw ickelnden w esteuropäischen G eschichtsbildes
gab, war Borkenaus T h ese, daß der „Gegensatz zwischen O st und W est ..., ursprüng­
lich eine A ngelegenheit der M ittelm eerw elt [war] ... R om gegen K onstantinopel,
Papsttum gegen griechisches Patriarchat ... sich nun nach dem Norden verpflanzt ...
G leichzeitig vollzieht sich ein jahrhundertelanger Prozeß der V erschiebung des
Schw ergew ichts zwischen O st und W e st“. Nach Borkenaus Auffassung war „die gei­
stige Befreiung ... im Luthertum m it w eltlicher K nechtschaft erkauft“. Er sieht es als
ein U nglück für D eutschland, daß sich lutherische H altungen überwiegend in der
deutschen Politik durchgesetzt haben, daß der lutherische O sten den katholischen
und calvinistisch reform ierten W esten politisch überwand. „Als Leistung der politi­
schen T ech nik war Bism arcks W erk ein M eisterstück. A ber es unterwarf die Nation
ihrem politisch zur Führung am w enigsten geeigneten G ebietsbestandteil. Und wir
tragen die Folgen.“ D och nicht in seiner Auswirkung auf die D eutsche G esch ichte
schien Borkenau dieser Sieg des Luthertum s von Bedeutung - es wäre übrigens reiz­
voll, Borkenaus essayistische Interpretation in den Zusam m enhang der Bism arckK ontroversen jener Jah re zu stellen, die zwischen Gerhard Ritter, Eyck, Schnabel,
Srbik und m anchen anderen damals publizistisch ausgetragen worden sind - für Bor­
kenau ist das „Problem des Luthertum s, das Problem der deutschen geistigen Struk­
tur, das Problem der deutschen Politik nich t einfach ein deutsches Problem ..., son ­
dern ein wichtiges Teilstück des großen, die M enschheit seit Jahrtausenden in A tem
haltenden Problem s der A useinandersetzung zwischen O st und W est“ 14.
13 Franz Borkenau, Drei Abhandlungen zur deutschen G eschichte (Frankfurt 1947).
u Ebda, 6 4 , 7 4 . 75.
N ationales und eu ropäisch-atlantisches G esch ich tsb ild
217
Auf jenen Gegensatz von O st und W est und Deutschlands Stellung zwischen O st
und W est ist auch die anschließende A bhandlung über „Die K rise des H istorism us ein Deutsches P roblem “ ausgerichtet: Für Borkenau ist Deutschland „ein Übergangsgebiet zwischen W est und O st, zwischen nordw estlicher Seew andererkultur und der
nordöstlichen Landwandererkultur“. Vielfältiges Siedlungsgebiet, w echselndes Z e n ­
trum, Veränderung der führenden Stände, U nein heitlich keit der Kulturw erte, all das
sind Grundzüge der deutschen Entw icklung, die es bisher verhindert haben, „einen
Gesam tgesichtspunkt für die deutsche G esch ichte zu finden“ ... Es gibt nur „die D ar­
stellung der deutschen G esch ichte unter preußischen und auch österreichischen, unter
lutherischen und katholischen, unter altgerm anischen, m ittelalterlichen, bürgerlich-li­
beralen, proletarischen G esichtspu nkten“. N och viel schwerwiegender aber erscheint
Borkenau die „paradoxe Einw irkung“, daß „ein G roßteil des deutschen G eschichtsver­
laufs im 19-Ja h rh u n d e rt... sich geradezu als schlechte Auswirkung des mißverstande­
nen Vorbilds des Geschichtsablaufs im W esten [erklärt]. W ir wollten auch einen ein ­
heitlichen N ationalstaat haben ... D iese Idee, die, wie Ranke im m er wieder betonte,
den Realitäten der deutschen G esch ichte nich t entsprach, wurde rein ideologisch aus
dem W esten übertragen. Das wirkte besonders paradox bei solchen, die sich vom W e ­
sten bewußt abkehrten, wenn es sich um den w estlichen Freiheitsbegriff handelte, da­
für aber den W esten sklavisch kopierten, wo es sich um den w estlichen Begriff der Na­
tion handelte.“
Borkenaus Ü berlegungen führten zur Überzeugung, daß „wir uns auch noch das
Bild unserer reichen und vielfältigen G esch ichte verdorben [haben], indem wir ver­
suchten, sie - in eitler und unfruchtbarer N achahm ung der englischen und französi­
schen G esch ichte - als einheitliche G esch ich te eines einheitlichen deutschen G eistes­
und Staatslebens zu schreiben“. Eine G esam tkonzeption der deutschen G eschichte ist
nur m öglich, m eint Borkenau, wenn die U nein heitlich keit der deutschen Entw icklung
als ihr Grundprinzip verstanden und wenn dieses Grundprinzip auf die Grundspal­
tung in der deutschen Struktur zurückgeführt wird. „Diese Grundspaltung erschien
zunächst, und auch noch im 19. Jahrhundert, als Gegensatz von Süd und Nord. A ber
hinter dem nord-südlichen Gegensatz verbirgt sich ein tieferer: der ost-w estliche.“
Und Borkenau fordert: „Eine deutsche G esam tgeschichte, geschrieben unter diesem
Aspekt, nicht vom Standpunkt des W estens oder des O stens, nich t vom Standpunkt
ihrer notwendigen Vereinigung oder ihrer notwendigen Trennung, sondern kurzweg
im Namen des echten Verständnisses unserer G esch ichte, eine G esam tgeschichte, die
diese fundam entale O st-W est-Sp annu ng des deutschen W esens in all ihren Phasen
und Abwandlungen darstellt und zu verstehen versucht - das wäre eine naturgemäße
Aufgabe für diese unsere dies irae, das wäre ein Stück in die Z ukunft weisender Besin­
nung .“ 15
Im m er wieder kehrt Borkenau zu der These zurück: „W ir sind nicht in dem selben
Sinne eine E inheit, wie die N ationen, die N ationalstaaten des W estens es sind. W ir ge­
hören m it unserer einen Hälfte der südeuropäischen, m it unserer anderen der nordeu-
15 Ebda, 8 5 - 9 0 , 107.
218
Fritz F elln er
ropäischen W elt an; daher vor allem unsere konfessionelle Spaltung. Sch lim m er ist
daß sich hinter dem nord-südlichen G egensatz in unserer G esch ichte auch noch ein
viel tieferer ost-w estlicher verbirgt ... daß zwar W estdeutschland ein ech ter und ein­
deutiger Bestandteil des A bendlandes war, O stdeutschland aber nicht im selben Sinne
Bestandteil des O stens ist.“
Borkenau form ulierte diese Auffassungen Ende 1947, noch ohne K en n tn is der poli­
tischen Sonderentw icklungen, die für uns historische Realität geworden sind. Er
schrieb im D eutschland der vier Besatzungszonen, in einer A tm osphäre, in der die
Z u nft der politischen H istoriker den deutschen Nationalstaat noch als ein niederge­
w orfenes, aber im K ern unzerstörtes E lem en t der deutschen G esch ichte festhielten.
Da m ußte es wie Häresie klingen, wenn Borkenau postulierte: „W ir schufen niemals
einen echten deutschen N ationalstaat. Erst schufen wir an seiner Stelle ein G roßpreu­
ßen. Als das zerfiel, versuchten wir, an Stelle eines Nationalstaats, zur Überwindung
unserer Zerrissenheit, ein W eltreich zu schaffen. H ier schlug, nach langer Inkuba­
tionszeit, unsere innere K rank heit nach außen ... - als Folge ist der deutsche Staat, ist
unser Ansatz zum Nationalstaat endgültig zerschlagen .“ 16
D e r O st-W est-K o n flik t - W estintegration und Bedrohung aus dem O sten : - zur
K on tin u ität der personellen Zusam m ensetzung und der institutionellen Struktur der
deutschen G eschichtsw issenschaft über den Zusam m enbruch von 1945 hinaus läßt
sich auch noch eine K ontinu ität in der Ü berzeugung feststellen, daß näm lich die
ererbten Traditionen eines abendländischen christlich-freiheitlichen D enkens gefähr­
det, ja bedroht seien von den uniform en, östlichen kollektivistischen H altungen.
„Es vergeht kaum ein Tag, ohne daß wir von .unserer ererbten geistigen Tradition*,
,den typischen W erten der abendländischen K ultur1, oder, einfacher, von .unserer
abendländischen Tradition“, .unseren abendländischen W erten “, ,unserer abendländi­
schen K ultur“ lesen oder hören. Seit dem Ende des K rieges ist kein Gedankengang
m ehr G em einplatz geworden, keiner ist uns m it größerer Ausdauer in die O hren
trom p etet worden“, schrieb G eoffrey Barraclough schon 1947 und fügte seine Beden­
ken gegen die A rt an, wie aus dieser Betonung der abendländischen W erte gefolgert
wird, „daß die bleibenden W erte und Traditionen der K u ltu r in einer einm aligen Art
an das A bendland gek ettet sind. Diese A nschauung unterschätzt nicht nur die Bedeu­
tung der unabhängigen K ulturen des O rients, sondern sie führt auch eine unheilvolle
Trennung zwischen den östlichen und den westlichen Ländern in Europa ein mit
D eutschland als einer A r t ,N iem andsland“ in der M itte .“ 17 D ie „K ontinuität in der eu­
ropäischen Tradition“ hieß der Aufsatz, dem dieses Z itat entnom m en ist, und „History in a changing world“ war der T itel des Sam m elbandes, in dem dieser Aufsatz ver­
öffentlicht worden war. Barraclough glaubte, ein paar Jah re später einen „W andel in
der O rientierung“ der G eschichtsw issenschaft orten zu können, von der „kurzsichti­
gen K onzentration auf Europa und auf europäische M ächte“ abzurücken18. D o ch für
Ebda.
17 Geoffrey Barraclough, G eschichte in einer sich wandelnden W elt (G öttingen 1957) 39.
18 Ebda, 162.
N ationales und eu ropäisch-atlan tisches G esch ich tsb ild
219
die deutschen H istoriker wie Publizisten jen er Jah re war das Bewußtsein des W andels
überlagert vom Traum a des Zusam m enbruchs - und nicht nur für die D eutschen:
W ährend M einecke von der „deutschen K atastrophe“ sprach und andere H istoriker
vom „Trüm m erfeld der G esch ich te“, so publizierte Sir Lewis Namier über die „Vanished Suprem acies“ und H ajo H olborn über den „Zusam m enbruch des europäischen
S taatensystem s“, man sprach vom .A b sch ied von der G esch ichte“, und für viele m ei­
ner G eneration war das faszinierendste Buch jen er Z eit Karl Jaspers’ Suchen nach
,Ursprung und Z iel der G esch ich te“, - nicht zuletzt vielleicht deshalb, weil es den
Blick hinauslenkte aus der nationalen Enge, in der die Z u nft der deutschen G e ­
schichtsw issenschaft w eiterhin befangen blieb (während die österreichische G e ­
schichtsw issenschaft sich noch stärker zu verengen begann). Gerhard R itter hatte 1949
auf dem M ünchner H istorikertag die „Erhebung über die Enge einer rein nationalen
G eschichtsbetrachtung“ geford ert19, H erm ann H eim pel glaubte auf dem Marburger
Historikertag 1951 bekunden zu können, daß die deutsche G eschichtsw issenschaft
sich neuen Ström ungen und T endenzen öffnet, daß als Z eitgeschichte „die H istorie
als politische W issenschaft das O h r an der Gegenwart hat“ und in der „Sektion S o z io ­
logie* echte Begegnung m it der w estlichen wie östlichen A ußenw elt erstrebt“ wird, ja
noch m ehr, „die deutsche H istorie strebt aus nationaler und europäischer Enge, so
weit sie darin befangen war, in die zeitgemäße W eite der W elt“20. Es war in diesem
Klim a der aus dem nationalen D enken hinausstrebenden Bem ühung um eine neue
Sinndeutung der W elt, daß Jasp ers’ Interpretation der „A chsenzeiten“ und seine A us­
weitung des G eschichtsbildes so anregend wirkte. „Es gab bisher noch keine W eltg e­
schichte, sondern nur ein Aggregat von Lokalgeschichten“, m einte Jasp ers21. Und in
der Ausweitung des Bildes durch E inbeziehung von China, Indien, all der außereuro­
päischen K ulturen in ihrer Eigenständigkeit und ihrem Eigenwert, gab seine Deutung
der historischen Stellung des A bendlandes ein Selbstwertgefühl zurück, das in dem
Trauma der Niederlage, in der geistigen Verunsicherung der Jah re um 1945 verloren
gegangen war: „die W issenschaft m it ihren Folgen in der T ech n ik “ - das ist die w elthi­
storische Leistung des .A bend land es“ ... „Das A bendland gibt der A usnahm e
Raum “22 - m it diesem K em satz schien Jaspers uns damals einen Schlüssel zu geben
für die historische Forschung: die R ückbesinnung auf das, was Europa in der Neuzeit
alle anderen K ulturen hat überflügeln lassen, schien Aufgabe des H istorikers, wenn er
den W eg aus der „deutschen K atastrophe“ weisen sollte. Und warnend form ulierte
Jaspers das Problem der Gegenw art: „Die W e lt ist europäisch geworden durch A uf­
nahme europäischer T ech n ik und europäischer nationaler Forderungen, und wendet
19 Gerhard Ritter, Gegenwärtige Lage und Zukunftsaufgaben deutscher Geschichtswissenschaft.
Eröffnungsvortrag am 20. D eutschen Historikertag in M ünchen am 13. Septem ber 1949, abge­
druckt bei: M anfred Asendorf, Aus der Aufklärung in die perm anente Restauration. G eschichts­
wissenschaft in Deutschland (H am burg 1 974) 3 5 0 -3 7 2 .
20 Bericht über die 21. Versam m lung deutscher H istoriker in M arburg/Lahn. 1 3 .-1 6 . Septem ber
1951 (Beiheft zur Z eitschrift G eschichte in W issenschaft und U nterricht, Stuttgart o. J.) 5.
21 Karl Jaspers, V om Ursprung und Ziel der G eschichte (Ungek. Neuausgabe, M ünchen 1963) 45 .
22 Ebda, 90.
220
Fritz F elln er
beides m it Erfolg gegen Europa. Europa ist, als das alte Europa, nicht m eh r beherr­
schender W eltfaktor. Es ist abgetreten, überflügelt durch A m erika und Rußland, von
deren Politik das europäische Schicksal abhängt, - wenn Europa nicht im letzten A u­
gen blick sich zusam m enfindet und stark genug wird, sich in Neutralität zu halten
wenn ein neuer W eltkrieg den Planeten in die vernichtenden Stürm e bringt .“23
„A bschied von der bisherigen G esch ich te“ hat damals nicht nur Alfred W eb er ge­
fordert, dieser allgem einen Stim m ung gab auch der britische H istoriker Barraclough
in einem Aufsatz im „Listener“ (übersetzt im „M erkur“), 1954 ersch ienen24, Ausdruck
einer Betrachtung, die für unsere Fragestellung deshalb von Bedeutung ist, weil Barra­
clough die deutsche W urzel des bis zum Zw eiten W eltkrieg gültigen europäischen
G eschichtsbildes bloßlegte: „D ie A nschauung von der europäischen G eschichte, die in
England und D eutschland (weniger vielleicht in Frankreich) allen w esentlichen histo­
rischen W erken zugrunde liegt, geh t auf den großen deutschen H istoriker Leopold
von Ranke zurück“, heißt es da, und „die europäischen H istoriker hatten so lange in
europäischen Begriffen gedacht, daß ihnen der Gedanke an ein E nd e des europäischen
Zeitalters unfaßbar war. Sie sprachen und sprechen noch ... von den Jah ren zwischen
1870 und 1890 als von dem ,Z eitalter Bism arcks'.“ Barraclough ging in seiner K ritik
am „europäischen G esch ichtsbild “ von der Überzeugung aus, daß „der russische Sieg
von Stalingrad 1943 eine totale Revision des europäischen G eschichtsbildes unerläß­
lich gem ach t hat“25.
1943 - nich t nur das Ja h r der Entscheidung für den Zw eiten W eltkrieg, sondern
auch das des W endepunktes für eine N euorientierung des G eschichtsbildes? Nun ist
es auffallend, daß tatsächlich in der M itte des Zw eiten W eltkrieges, im A ugenblick der
größten M achtentfaltung des nationalsozialistischen Imperialism us sich eine H inw en­
dung zu einer übernationalen Interpretation der G esch ichte feststellen läßt. W en n der
nationalsozialistische H istoriker K arl Richard G anzer in einem Buch 1941 „Das Reich
als europäische O rdnungsm acht“ zu deuten versucht, so ist die propagandistische
Zielsetzung des D ienstes des H istorikers in politischer Mission offenkundig. A ber es
klingen in Ganzers Ü berspitzung doch Ü berlegungen an, deren E ch o in dem europä­
isch-atlantischen G eschichtsbild der N achkriegszeit dem feinfühlig H örenden im m er
wieder in Erinnerung kom m en, wie etwa, wenn Ganzer davon spricht, daß „die charis­
m atische Bereitschaft zu europäischer V erantw ortung., als eine der stärksten bewe­
genden K räfte schon am A nfang der deutschen G esch ich te“ steh t26. O der wenn er auf
die selbstgestellte Frage, was denn das „gestalterische Prinzip dieses besonderen deut­
schen Typus ,R eich ““ sei, die A ntw ort gibt: „D er deutsche K ern organisiert kraft sei­
ner höheren politischen Potenz um sich als bestim m ende M itte eine Gruppe anders­
gearteter Räum e, die völkisch durchaus eigenständig sein können, zu einer politischen
G em ein schaft“, wodurch seiner M einung nach „die natürliche G liederung Europas er­
23 Ebda, 104.
2i Barraclough, 1 9 8 -2 1 6 .
25 Ebda, 19 9 , 2 1 0 , 2 1 3 .
26 K arl Richard Ganzer, Das Reich als europäische O rdnungsm acht (Schriften des Reichsinsti­
tuts für G eschichte des neuen Deutschland, H am burg 1941) 106.
N ationales und eu ropäisch-atlan tisches G esch ich tsbild
221
r e ic h t“ wird. Sie findet ihren klarsten Ausdruck darin, daß, im großen gesehen, das
R e ic h den europäischen W esten als eine außerhalb seiner aktiven Raum interessen lie ­
gende Z one betrachtet, hingegen den europäischen O sten, der kein eigenes staatliches
Gebilde von überzeugender S icherh eit hervorgebracht hat, seiner Gestaltung unter­
s te llt; „das südliche M itteleuropa, Italien, erscheint in den großen Z eiten der R eich s­
geschichte dem R eich koordiniert“27. Und natürlich war diesem so organisierten
R e ic h die historische Aufgabe des Schutzes Europas vor den Barbaren, die aus dem
Osten andrängen, zugedacht.
Auf die „Nähe zu Ganzere V orstellungen“ hat schon H erm ann Gram l hingewiesen,
als er 1966 die außenpolitischen Vorstellungen des deutschen W iderstandes unter­
suchte und aufzeigte, wie sehr die Vorstellung der „deutschen Führung“ Europas, ei­
nes ,A uftrags zum R eich der O rdnung und der Völkerbefriedung im europäischen
Raum “, vom „Abendland unter deutscher Führung“ und von der besonderen Stellung
eines gesunden, lebenskräftigen D eutschland gegenüber dem bolschew istischen Ruß­
land in den ersten Kriegsjahren die D enkschriften der konservativen W iderstands­
gruppen ken nzeichn eten28. Daß die Forderung nach deutscher Führung Europas seit
der Jahresw ende 1941/42 zurücktritt und, wie es Gram l form ulierte, „die Vorstellung
eines europäischen Bundes“ stärker in die Diskussion eingeführt wird, mag ebenso auf
die Rückw irkungen der m ilitärischen Lage wie auf die Verbindung der konservativ­
preußischen W iderstandsgruppen m it den K reisauer D enkern zurückzuführen sein.
Doch der Europagedanke des deutschen W iderstandes blieb auf die Funktion eines
deutschen R eich es zentriert, und er hat sich nie von seiner Bindung an die Aufgabe
der A bw ehr östlicher Gefahren zu lösen verm ocht. D er Aufsatz, den U lrich von Has­
sel im D ezem ber 1943 in den „M onatsheften für Auswärtige Politik“ veröffentlichte,
wäre es wert, über die kurze Darlegung von H erm ann Gram l hinaus in seiner eigen­
tüm lichen
M ittlerfunktion
zwischen
nationalsozialistischen
Europavorstellungen,
K onzeptionen des konservativen W iderstandes und w esteuropäisch-angelsächsischer
Europadiskussion analysiert zu werden, die in seltsam er W eise die verschiedensten
ideologischen und m achtpolitischen Interpretationen durch das Bindem ittel eines m i­
litanten A ntibolschew ism us zu vereinen verm ögen29.
„Die M eldungen aus aller W e lt lassen erkennen, daß ein A ufbruch Gesamteuropas
gegen den Bolschew ism us zu verzeichnen ist, ... Europa m arschiert gegen den g e ­
m einsam en Feind in einer einzigartigen Solidarität und steht gewissermaßen gegen
den U nterdrücker jed er m enschlichen K u ltu r und Zivilisation auf. D iese G eburts­
stunde des neuen Europa vollzieht sich ohne Forderung und Zwang deutscherseits“ heißt es in einer vertraulichen Inform ation des Propagandam inisterium s für die Presse
von 1941, die Paul K luke in seinem Aufsatz über die „N ationalsozialistische Europa­
27 Ebda, 86.
28 Hermann Graml, Die außenpolitischen Vorstellungen des deutschen W iderstandes, in: D er
deutsche W iderstand gegen Hitler. Vier historisch-kritische Studien, hrsg. v. Walter Schmitthen­
n eru n d H ans Buchheim (Köln 1 966) 1 5 -7 2 .
29 Ulrich von Hassel, Ein neues europäisches G leichgew icht?, in: M onatshefte für Auswärtige P o ­
litik N ov./D ez. (1 9 4 3 ) 6 9 7 ff. Vgl. Graml, 6 3 - 6 5 .
222
Fritz Felln er
ideologie“ veröffentlicht hat30. H einz G ollw itzer hat in seinem W erk über „Europabild
und Europagedanke. Beiträge zur deutschen G eistesgeschichte des 18. und 19. Jah r­
hunderts“ darauf aufm erksam gem acht, wie in „einem bestim m ten Stadium der Ent­
faltung“ die faschistischen Parteien „m it dem A nspruch nicht bloß nationaler, sondern
auch europäischer Erneuerung“ hervorgetreten sind. Sch on 1932 veranstaltete M usso­
lini in R o m einen Europakongreß, und der Gedanke der europäischen Neuordnung
wurde unstreitig vom N ationalsozialismus für seine im perialistischen Ziele miß­
braucht. Und doch ist G ollw itzer zuzustim m en, wenn er in seinem Buch zur D iffe­
renzierung m ahnt und sagt: „N icht richtig wäre es indessen, deswegen alles, was sich
zwischen 1933 und 1945 in D eutschland an w issenschaftlichen und literarischen Be­
m ühungen um den Europabegriff feststellen läßt, von vorneherein als tendenziös ab­
zutun. W ie in den H eeren der A ch senm äch te nich t wenige gutgläubige junge Männer
für Europa zu käm pfen verm einten, so erschien auch m anchem A ngehörigen der In­
telligenz der Begriff .Europa“ als eine H offnung inm itten des K riegsgeschehens .“31
G ollw itzer selbst ist Z euge für diese H altung, hat er doch die A rb eit an seinem Buch
im Jah re 1944 begonnen und 1949 abgeschlossen (unter den widrigen äußeren und
w issenschaftlichen A rbeitsbedingungen, an die zu erinnern in einem K olloquium , das
sich m it dem Problem der G eschichtsw issenschaft in der N achkriegszeit befaßt, nicht
vergessen werden sollte).
Gollw itzer wandte sich 1944 der Erforschung des Europagedankens zu, in Italien
hat Federico Chabod 19 4 3 -4 4 an der U niversität Mailand Vorlesungen über die G e­
schichte des Europagedankens gelesen, die er in den Jah ren 1947 und 1948 in erwei­
terter Form w iederholte32. M achiavelli, M ontesquieu und Voltaire stehen im V order­
grund seiner U ntersuchungen, und die Begriffe „Freiheit“ und „Dynam ism us“ erschei­
nen als die charakteristischen W esenszüge Europas, zu denen seit der R om antik noch
der N ationsbegriff als konstituierendes E lem en t tritt: „D ie europäische K ultur kann
nur insofern existieren, als es viele N ationalkulturen gegeben hat und noch g ib t... das
Zusam m enw irken von Besonderem und A llgem einem , von N ation und Europa ist
also glücklich erreicht w orden .“33 - „Auf der Vereinigung dieser drei E lem ente - des
dem okratischen, des liberalen und des nationalen - beruht die politische K ultur der
atlantischen V ölker“, hat Franz Schnabel fast zur gleichen Z eit in einem Vortrag über
die „Revolution von 1848 und die deutsche G esch ich te“ gesagt34. Und was bei Schna­
bel selbstverständlich ist, daß die christliche Religion die Basis des Europagedankens
ist, das hat Chabod unter Berufung auf Benedetto Croce ebenso beto n t: „W ir können
nichts anderes sein, auch wenn wir nich t praktizierende Gläubige sind; das C hristen­
tum hat auf unauslöschliche W eise unser aller D enken und Fühlen g e fo rm t... Auch
30 Paul Kluke; Nationalsozialistische Europaideologie, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 3
(1 9 5 5 ) 2 5 9 ; A nm . 90.
31 H einz Gollwitzer, Europabild und Europagedanke. Beiträge zur deutschen Geistesgeschichte
des 18. und 19. Jahrhunderts (M ünchen 1 964) 6, 7.
32 Federico Chabod, D er Europagedanke. V on A lexander dem Großen bis Z ar A lexander I. (U r­
ban-B ücher 7 1 , Stuttgart 1963).
33 Ebda, 115.
34 Schnabel, 192.
N ationales und eu ropäisch-atlantisches G esch ich tsb ild
223
den sogenannten ,Freidenkern“, auch den A n tiklerik alen “ ist es nich t m öglich, diesem
gem einsam en Schicksal des europäischen G eistes zu entflieh en .“35
C hristopher Dawson hat in seiner Interpretation von „Europa: Idee und W irk lich ­
keit“ diese religiöse Basis des Europagedankens zum K ernpu nkt seiner Betrachtung
erhoben: „Europa ist nicht eine politische Schöpfung; es ist eine G esellschaft von V ö l­
kern, die den gleichen G lauben und die gleiche sittliche W ertordnung besaßen .“36
In der Vielfalt seiner kulturellen und politischen Gliederung sieht Dawson den
Grundcharakter W esteuropas, an deren Stelle in O steuropa die G leichförm igkeit tritt,
„die Masse übernim m t die Rolle des Individuums“37. Und doch sieht er in der „kul­
turellen A btrennung Osteuropas vom Abendland [...] die verhängnisvollste Erschei­
nung der N achkriegszeit. D ie neue interkontinentale M ächtegruppierung schneidet
wie ein Messer durch Europa - und nicht allein durch Europa, sondern der Schnitt
geht m itten durch D eutschland und Ö sterreich. So kom m t es, daß O stdeutschland zu
dem selben politischen B lock wie China gehört, während W estdeutschland den W eg
Nordamerikas, A ustraliens und Japans g eh t .“38 Christopher Dawson, der W esteu ro­
päer, hat wenige Jah re später das Vorw ort zu einer kleinen, aber um so gewichtigeren
Studie geschrieben, die ein O steuropäer zum Them a „Europa. G renzen und G liede­
rung seiner G esch ich te“ verfaßt hat - sofem e man O scar H alecki m it dem sim plifizie­
renden E tik ett „Osteuropäer“ versehen darf, jenen aus Polen stam m enden W eltbü r­
ger, der seine katholische Erziehung in W ien erhalten hatte und sein Buch über E u­
ropa aus G edanken zusam m enstellte, die er über 25 Jah re hinweg in Brüssel, Oslo,
W ien, W arschau und zuletzt als Professor an der Catholic University in W ashington
im Rahm en der A m erican H istorical A ssociation in Vorträgen präsentiert hatte. W as
Dawson für die politische Entw icklung befürchtete, die Teilung Europas in W est und
Ost, dem wirkte H alecki als H istoriker entgegen, indem er den europäischen O sten als
integralen Bestandteil der europäischen Tradition zu erklären versuchte. D er Gedanke
einer Periodisierung der europäischen G esch ichte in die A bfolge von ozeanischen und
kontinentalen Perioden, die auf die M ittelm eerperiode nach A bstoßung der afrikani­
schen K üsten die Eingliederung des kontinentalen O stens brachte, w elcher seit den
Entdeckungen des 15. Jahrhunderts die E inbeziehung der jenseits des atlantischen
Ozeans liegenden K üsten folgte, ist sicherlich vom Lebensweg des Autors her m itge­
staltet und sollte doch noch über diesen persönlichen H intergrund hinaus in seiner hi­
storischen G ültigkeit beachtet werden: „eine lange, ununterbrochene Flut von E in ­
wanderungen aus praktisch allen Ländern der A lten W elt, ... hatte in A m erika ein
neues Europa geschaffen, bevor noch das alte dahin ging. Es ist keine Ü bertreibung,
wenn man die w estliche H em isphäre im G anzen N eu-Europa nennt, gerade so wie ein
kleiner Teil der ursprünglich englischen K olon ien heute noch N eu-England heißt und
viele am erikanische Städte einen alten europäischen N am en m it der Beifügung ,Neu-‘
erhielten. D enn das gesam te Erbe der europäischen K ultur, die ihrerseits das w ohlbe­
wahrte Erbe der m editerranen, griechisch-röm ischen Zivilisation und die gesamte
35 Chabod, 135.
36 Cbristopher Dawson, Idee und W irklichkeit (M ünchen 1 9 5 3 ) 25.
37 Ebda, 52.
38 Ebda, 83.
224
Fritz F elln er
christliche Tradition in Form all der verschiedenen Bekenntnisse in sich schloß, wurde
auf die andere Seite des A tlantischen O zeans gebracht. . . Für H alecki „[beschränkt]
sich die Zugehörigkeit zur atlantischen G em einschaft nicht auf Länder an der A tlan­
tik k ü ste ...: der A tlantische Ozean ist lediglich die geographische M itte eines viel wei­
teren R a u m e s... O bwohl das A tlantische Z eitalter erst begonnen hat, ist es bereits
klar, daß es m ehr m it dem Europäischen Z eitalter gem ein haben wird, als dies letztere
m it dem M editerranen gem ein h atte .“39
G ünther Stökl konnte es sich, als er H aleckis Buch 1951 in der Z eitschrift „Wort
und W ahrheit“ - einem von den H istorikern viel zu wenig beachteten Spiegel der in­
tellektuellen Gärung der N achkriegszeit - rezensierte, nich t versagen, auf den fast pa­
thologischen Zug hinzuweisen, den die Beschäftigung m it dem T hem a „Europa“ ge­
nom m en hatte: „Erst dem K ranken wird der eigene K örper zum Problem . K aum je
ist m it solchem E rnst Begriff und W esen ,Europa“ in allen seinen Bedeutungsnuancen
durchdacht worden, wie in unseren Tagen von C hristopher Dawson, A rnold J . Toynbee, Gonzague de Reynold bis zu Friedrich H eer .“40
Stökl hätte eigentlich auch noch den N am en O tto Brunner hinzufügen m üssen, der
im gleichen Jahrgang von „W ort und W ahrheit“, wenn auch erst gegen Ende des Ja h ­
res, das Problem einer „europäischen Sozialgeschichte“ untersuchte und abweichend
von der Europaeuphorie w estlicher H istoriker weit m ehr die G renzen der Europäi­
schen G eschichte als ihre Gliederung aufzeigte: „Es ist uns heute nicht m ehr m öglich,
G esch ichte Europas als ,W eltg esch ich te“ im alten Sinn zu schreiben. D enn heute ist
Europa weder wie einst m it der C h ristenheit identisch, noch m it der zivilisierten“
W e lt... D ieser Zustand m acht notwendigerweise einem D enken ein Ende, dem euro­
päische G eschichte G esch ichte schlechthin war und erlaubt nich t m ehr, alle außereu­
ropäische G esch ichte an jen er zu m essen. E r zerstört eine einlinige K onstruktion der
W eltgeschich te etwa als eines kontinuierlichen Fortschrittsp rozesses... D am it kann
aber die europäische G esch ichte ... nicht m eh r als das allein gültige und vorbildliche
N orm alschem a angesehen werden .“41
In einer Neufassung dieses Aufsatzes, die Brunner dann auf dem B rem er H istori­
kertag 1953 vorgetragen hat, hat Brunner eingeschränkt, daß er den Begriff „Europa“
„als Bezeichnung der w estlichen C hristenheit, des A bendlandes, also in einem histori­
schen, nich t im geographischen S in n “ verstehe42, seinen Europabegriff als „A bend­
land“ von der historischen Entw icklung des O stens abgegrenzt hat. Stökl hatte in sei­
ner H alecki-Besprechung schon recht, wenn er darauf hinwies, daß das ganze „G e­
spräch m ehr oder m inder im europäischen W esten geführt wird“, und daran die Frage
anschloß, ob „so nicht wiederum die europäische E in heit gefährdet wird, deren rechter
39 Oskar Halecki, Europa. G renzen und Gliederung seiner G eschichte (D arm stadt 1957) 47 , 48,
50.
40 Günther Stökl, Rezension von O. Halecki, Europa. G renzen und Gliederung seiner G eschichte,
in: W o rt und W ahrheit 6 (1 9 5 1 ) 69.
41 Otto Brunner, Problem e der europäischen Sozialgeschichte, in: W o rt und W ahrheit 6 (1951)
744.
42 Otto Brunner, Neue W ege der Verfassungs- und Sozialgeschichte (G öttingen 31980) 84.
N ationales und eu ropäisch-atlantisches G esch ich tsbild
225
Inhalt ja zur Diskussion stünde“43. D ie „Ausschaltung des O stens“ wurde noch deutli­
cher auf dem Internationalen G elehrtenkongreß, der im März 1955 am Institut für E u ­
ropäische G esch ichte in Mainz zum Them a „Europa - Erbe und Aufgabe“ veranstaltet
wurde: zu dem K ongreß waren G elehrte und Publizisten aus allen westeuropäischen
Ländern, aus den U SA und aus Kanada eingeladen, aber kein einziger Osteuropäer,
nur V ertreter des Faches „O steuropäische G esch ichte“. Und Martin G öhring m achte
in der Einleitung zu dem Sam m elband, in dem die Referate veröffentlicht wurden,
deutlich, daß das A nliegen des Kongresses weit m ehr ein politisches als ein historiographisches war: Europa wurde von ihm - er zitierte A. Bergsträsser - als „geistig-kultureller Begriff m it kaum absteckbarer Spannw eite“ definiert; „Er ist überall dort, wo
die von ihm geprägten N orm en des D enkens und H andelns, wo seine geistige W elt
als verbindlich anerkannt wird, wo kirchliche D enk- und Lebensform , interkonfessio­
nelle K ulturgesinnung und H um anität klassischer A rt Zusam m enw irken ... D ieser B e­
reich ist geographisch nicht m ehr zu erfassen“44, A m erika gehörte zu dieser G em ein ­
schaft, doch „im Bolschew ism us ist die absolute A ntithese zum ech t Europäischen ge­
geben“. Im m erhin stellte G öhring fest, daß die bolschew istische Ideologie „diese Pseu­
doreligion, letzte, radikale, bindungslose Folgerung aus geistigen und sozialen E rschei­
nungsformen der neuzeitlichen europäischen Entw icklung ist“. Es läßt sich nich t ver­
kennen, daß diese Tagung von einer seltsam en W idersprüchlichkeit geprägt ist; wenn
Göhring den Bolschew ism us als ein Ergebnis einer europäischen Geistesentw icklung
sieht, so nennt Rüstow durchaus folgerichtig den Marxismus und Bolschew ism us eine
„Bedrohung von innen“, denn er sei „ein Produkt der abendländischen G eistesentwicklung selber“45. D och daß man konsequenterw eise dann die Auseinandersetzung
mit dem Marxismus in die Diskussion von Erbe und Aufgabe Europas einbeziehen
müßte, davor scheute man zurück. Zur Tagung waren keine M arxisten eingeladen,
und so war es ein leichtes, die „Bedrohung von innen“ zu einer „Bedrohung von au­
ßen“ um zudeuten: die östlichen Staaten wurden auch in der historischen Betrachtung
und nicht nur aus dem neuen Europa ausgeschlossen.
A bendländisches D enken als A ntithese zum K om m unism us - Christopher Dawson
hat es in die Form el geprägt: „W estern D em ocracy and Eastern Soviet Com m unism
are both European in origin, but neither of them has its centre in Europe: one is Eur­
asien and the other Euroam erican .“46 W erner Berthold hat recht, wenn er die Einglie­
derung W esteuropas in das politische System der U SA m it dem „nebulösen“ Begriff
„christliches A bendland“ verklärt sieht47, aber interessanterweise wird in der histo­
risch-ideologischen Rechtfertigung des A bendland-M ythos’, den Berthold in seiner
sozioökonom ischen Bindung an das kapitalistische System richtig erkannt hat, nie
ökonom isch, nich t einm al politisch, sondern im m er nur idealistisch, geistesgeschicht­
lich von den H istorikern argum entiert. Selbst als auf der Berliner Vortragsreihe
1958/59 über die Frage „Die deutsche E in heit als Problem der europäischen G e ­
43 W ort und W ahrheit 6 (1 9 5 1 ) 69.
:i Europa. Erbe und Auftrag. Internat. Gelehrtenkongreß, hrsg. v. Ai. (jnhrin^ (Mainz 1956).
45 Ebda, 12.
46 Christopher Dawson, T he Making of Europe (1 9 3 4 ) 31.
47 Werner Berthold, ...g ro ssh u n g e m und g e h o rch e n ... (Berlin I9 6 0 ) 12.
226
Fritz F elln er
sch ich te“ diskutiert und die W iederherstellung der deutschen E in h eit gewissermaßen
als europäische V erpflichtung postuliert wurde, waren ausschließlich traditionell ge¡_
stes- und politikgeschichtliche A rgum ente, waren M acht- und H errschaftsgeschichte
Basis der historischen A rgum entation48. D och ein A spekt der Betrachtung der deut­
schen G esch ichte hatte sich zwischen den ersten deutschen H istorikertagen und der
Berliner Vortragsreihe von 1958/59 verändert: in Marburg war das Problem der deut­
schen G esch ichte noch die Überwindung des Kriegstraum as gewesen, damals wurde
von D ehio deutsche G esch ichte und nationale G esch ichte als H egem onialgeschichte
gesehen - je m ehr die Bundesrepublik sich in den H egem onialbereich der U SA inte­
grierte, desto zwingender wurde dieser A spekt des G eschichtsbildes aufgegeben.
D ie W endung vom nationalen - wenn auch kritischen, bis zur nationalen Selbstzerfleischung reichenden - G eschichtsbild zum europäisch-atlantischen Geschichtsbild
ist ohne Schw ierigkeit in Parallele zu setzen zur politischen Integration der Bundesre­
publik in das atlantische Bündnissystem . D ie Entw icklung der deutschen G eschichts­
wissenschaft nach 1948 m uß im K o n text der O st-W est-Beziehun gen gesehen werden.
W en n Jo se f B ecker auf einer Tagung über die D eutsche Frage das Problem der OstW est-O rientierung der Bundesrepublik als außenpolitisches Problem untersucht, so
sollte diese seine A rgum entation auch auf das Feld der deutschen Geschichtsw issen­
schaft übertragen werden, die sich in der Bundesrepublik nach 1945 ohne zu zögern
in dreifacher W eise in eine westeuropäisch atlantische G em ein schaft integriert: 1) in
persönlichen K ontakten , 2 ) in der Them enstellu ng und 3) in der ideologischen
G rundhaltung. Es ist - heute im w issenschaftlichen R ü ckblick wertend gesehen - auf­
fallend, m it w elcher L eichtigkeit sich die deutsche G eschichtsw issenschaft, kaum daß
sie sich aus einer ideologischen Bindung hatte lösen können und m üssen, sofort wie­
der in den D ienst einer - bzw. zweier - Ideologien stellt. M it der gleichen Bereitschaft,
m it der sie die nationale Einigung aus der V ergangenheit heraus zu legitim ieren ver­
sucht hatte, wird nun m it H ilfe des europäisch-atlantischen G eschichtsbildes die neue
politische M achtkonstellation aus der Vergangenheit erläutert, ja noch m ehr: eine
neue K am pfstellung gegen den O sten bezogen. D ie Intensität, m it der die „abendlän­
dischen“ Traditionen der V ielfalt und des C hristentum s als G rundelem ente einer at­
lantischen G em einsam keit interpretiert wurden und dem uniform en, orthodoxen,
d. h. jetzt kom m unistischen O sten gegenübergestellt wurden, führte zu einer A rt „ei­
sernem Vorhang des G eschichtsbild es“, der die Tradition des O stens herausdestillierte
aus dem europäischen und nun atlantischen G eschichtsbild und es isolierte in den
Sonderbereich der „osteuropäischen G eschichtsinstitute“. D ie deutsche G esch ichts­
w issenschaft öffnete sich - die H istorikertage in M ünchen, Marburg, Brem en, U lm de­
m onstrierten das - dem W esten gegenüber, m an übernahm die von m ir skizzierten
europäisch-abendländischen Interpretationen, m an diskutierte, wenn auch kritisch, die
w estlichen Einflüsse sozial- und wirtschaftsw issenschaftlicher Art, wie etwa die Linien
der „Annales“, aber man klam m erte M arxismus und m arxistische Geschichtsauffas­
sung aus der fachw issenschaftlichen Diskussion aus, man rezipierte sie bestenfalls als
Feindbild.
48 Die deutsche Einheit als historisches Problem . Hrsg. v. Carl Hinrichs und Wilhelm Berges
1 9 6 0 (Beiheft zu „G eschichte in W issenschaft und U n terricht“, Stuttgart 1960).
Jaroslav Kudrna
Zum nationalen und europäisch-atlantischen
Geschichtsbild in der deutschen und westlichen
bürgerlichen Historiographie
Es ist nicht zu bestreiten, daß das nationale und das atlantische G eschichtsbild in
der deutschen bürgerlichen H istoriographie m it der Niederlage des deutschen Fa­
schismus zusam m enhängt. D ie Niederlage hat näm lich auch für m anche H istoriker
die U nm öglichkeit offenbart, sich w eiterhin an das Paradigma der Rankeschen G e ­
schichtsschreibung zu halten. Es handelte sich nicht nur darum, daß sich diese H isto­
riographie durch den deutschen Im perialism us und Faschism us kom prom ittiert hatte
- hier ist nicht zu untersuchen, in w elchem Ausm aß
sondern daß die Rankeschen
Kategorien nich t imstande zu sein schienen, neue grundlegende gesellschaftliche U m ­
wandlungen zu erfassen. A ußerdem wurde nun als Mangel dieser G esch ichtsschrei­
bung hervorgehoben, daß sie sich von den europäischen Zusam m enhängen isoliert
habe1.
Dabei gab es zuerst keine M öglichkeit, neue V orbilder in der deutschen bürgerli­
chen H istoriographie unm ittelbar vor 1945 zu finden. Das stand im schroffen G egen­
satz zu der italienischen H istoriographie nach 1945, die sich nicht nur auf oppositio­
nelle Ström ungen aus der faschistischen Ära zu berufen verm ochte (Croce, Russo,
Omodeo), sondern die auch einige Stützen im M arxismus finden konnte. Ich werde
deshalb im folgenden auf vergleichbare A spekte beider Historiographien aufmerksam
machen.
W ie bekannt, gab es nach 1945 in der deutschen bürgerlichen Historiographie den
Versuch einer Revision des G eschichtsbildes, der sich unter anderem m ethodologisch
und w eltanschaulich auf Burckhardt berief. Von bürgerlicher Seite (H. H eim pel2)
wurde das später so m otiviert, daß damit die H istoriker der Tatsache entrinnen woll­
ten, zur Z eit des deutschen Faschism us in der R ankeschen Tradition auch bewußt
oder unbewußt den nationalsozialistischen M ythos übernom m en zu haben.
1 Von der um fangreichen Literatur zitiere ich Gerhard Lozek, Werner Berthold, H einz Heitzer,
Helmut Meier, Walther Schmidt, Unbewältigte V ergangenheit (Berlin 1977); Georg G. Iggers,
Deutsche Geschichtsw issenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von H er­
der bis zur Gegenwart (M ünchen 1971). Ich benife m ich hier hauptsächlich auf die Ergebnisse,
zu denen ich in m einer Arbeit, H istorie, filosofie, politika v N SR (Prag 1 964) gelangt bin.
2 H ermann Heimpel, G eschichte und Geschichtsw issenschaft, in: Vierteljahrshefte für Z eitge­
schichte 3 (1957).
228
Jaroslav K u drna
Faktisch gab es an diesem neuen A usgangspunkt gewisse M öglichkeiten nicht nur
für die Verallgem einerung des herrschenden Krisenbew ußtseins, sondern auch f(j.
eine Revision des G eschichtsbildes, die zu dieser Z eit m it einem Staat nicht rechnen
konnte. So sollte zuerst der W eg vom eklatanten N ationalism us zum christlich-eurc
päischen G eschichtsbild führen. Dies ist aber nur eine Seite des Problem s. D ie K ehr­
seite davon ist, daß man auch den Faschism us als gesam teuropäisches Problem inter­
pretierte und daß m an die Verantwortung für das E ntstehen von Gewalt in der Welt
des 20 . Jahrhunderts auf die industrielle westeuropäische Revolution und auf die Fran­
zösische Revolution zu verschieben suchte.
Erst an dritter Stelle hat man die liberalen Vorstellungen des west-europäischen Ge­
schichtsbildes aufgenom m en, m it denen man auch K ritik an einigen Traditionen der
preußischen und deutschen G esch ichte übte. U nter diesem A spekt wurde z. B. Fried­
rich II. kritisiert; er habe das freiheitliche bürgerliche Leben unterdrückt und das
preußische m ilitärische Prinzip verstärkt. A uf der anderen Seite wurde aber bei der
Revision auch der V ersuch unternom m en, aus Bism arck einen Europäer zu machen.
M ethodologisch sollte diese Revision etwa folgende Auswirkungen haben: Statt auf
dem Prinzip der K on tin u ität zu beharren, das in der R ankeschen Historiographie vor
1945 dom inierend war, wurden die K ategorien der D iskontinuität und des Zufalls
eingeführt. D am it sollte - dies ist sicherlich nur einer der A spekte - an der Verant­
w ortlichkeit der herrschenden Klasse für die vorhergehende Politik gezweifelt werden.
Es sollte dabei aber auch ein anderes Hauptprinzip der rankeanischen und neurankeanischen H istoriographie, die Lehre vom Prim at der A ußenpolitik über die Innenpoli­
tik, in Frage gestellt w erden3.
Ideologisch sind folgende G renzen dieser K onzeption zu sehen. Von den europäi­
schen R evolutionen wird höchstens die englische Revolution als positiv anerkannt, da
in ihr die W urzeln des Liberalism us zu suchen seien. Im übrigen wird die A bw ehrstel­
lung gegen die Einflüsse der Französischen Revolution bejaht, und es wird - vielleicht
nicht in voller K en n tn is des Zusam m enhangs - auf H egels T hese zurückgegriffen, daß
in D eutschland und besonders in Preußen die Problem e, die in Frankreich auf revolu­
tionäre W eise gelöst wurden, wegen der Reform ation und des aufgeklärten rationalisti­
schen A bsolutism us auf andere W eise, das heißt auf dem W ege der Reform en, zur
Sprache kam en. D abei wird auch m it einem abschätzigen U nterton auf die klassenm ä­
ßige Verankerung der bürgerlich dem okratischen Regierungsform en hingewiesen
(R. Stadelm ann4).
D ie zweite Etappe dieses Umwertungsprozesses beginnt nach 1949, also kurz nach
der Gründung der Bundesrepublik. Interessant ist dabei, daß es für einige Z eit zu dem
V ersuch kom m t, die R an kesche H istoriographie zu rehabilitieren, indem man auch in
ihr die M öglichkeit erblickt, deutsche G esch ichte in übernationale europäische Zu-
3 Friedrich Meinecke, Die deutsche K atastrophe (W iesbaden .1946); Gerhard Ritter, G eschichte als
B ildungsm acht (Stuttgart 1946).
4 Rudolf Stadelmann, Deutschland und die westeuropäischen R evolutionen, in: D eutschland und
W esteuropa, Aufsätze, Schloß Laupheim (W ürttem berg 1948) 1 1 -3 4 .
N ationales und eu ropäisch-atlantisches G esch ich tsb ild
229
s a m m e n h ä n g e einzugliedem . In seiner G eschichtsschreibung wird deshalb besonders
der Gedanke des G leichgew ichts der europäischen M ächte hervorgehoben. Es werden
an ihr nur jene E lem en te kritisiert, die der Integration D eutschlands m it Europa en t­
gegengesetzt waren, d. h. die Verabsolutierung der nationalen Idee, Ethisierung des
Krieges und Idealisierung der Staatsm acht (W. Hofer). Praktisch bedeutet dies, daß
von der M eineckeschen Revision, wie sie in seiner S ch rift „Die deutsche K atastrophe“
zu W ort kam , nur Teilaspekte aufrechterhalten blieben. Dies spiegelt sich besonders
in G. Ritters Eröffnungsvortrag auf dem deutschen H istorikertag 1 9 4 9 5. R itter b e ­
hauptete da, es sei die Aufgabe der deutschen H istoriker, zum Universalismus zurück­
zukehren, einem Universalism us, der breiter sein sollte als der Universalismus von
Ranke, und er ging sogar so weit, einige E lem en te der A ufklärung zuzulassen, d. h. vor
allem die Vertragstheorie des Staates, die K onzeption der einheitlichen Entw icklung
des M enschengeschlechts und die aufklärerische K ritik, die zum Prinzip des einfa­
chen V erstehens hinzutreten müsse.
Es handelt sich aber da zunächst um die kritische Seite und nich t um die Form ulie­
rung neuer Prinzipien. Es sollte nur bewiesen werden (L. D ehio)6, daß die alten Prinzi­
pien der neurankeanischen H istoriographie nur abgeschwächt, aber nicht abgebaut
werden müssen. Es war, wie L. D ehio feststellte, nach dem Ersten W eltkrieg der Feh ­
ler der deutschen H istoriker, daß sie die veränderte Lage nach 1918 nich t begriffen
und m it alten R ankeschen A nalogien arbeiteten. Auf der anderen Seite begnügt sich
aber L. D ehio m it den R ankeschen Prinzipien, m it denen er z. B. die D eutung von
zwei W eltkriegen geben w ollte7.
V ersuchen wir nun anzudeuten, wie sich die Anpassung der deutschen bürgerlichen
Historiographie an das europäisch-atlantische G eschichtsbild in der M ethodologie
auswirkte. Es ist bekannt, daß Ende der vierziger und A nfang der fünfziger Jah re die
neurankeanische H istoriographie viele Zugeständnisse an die political science machen
mußte. Bezeichnenderw eise widersetzte sich nun auch G . R itter dem älteren Grund­
satz, daß sich die G esch ichtsschreibun g nicht m it der Gegenwart zu befassen habe,
stellte sich aber auch gegen die politische W issenschaft, die nur die Gegenwartsanalyse
erstrebt; die Rankesche H istoriographie könne selbst dieser Aufgabe völlig genügen8.
Dabei stellt sich R itter gegen große Umwälzungen in der M ethodologie und beson­
ders gegen die A ufnahm e des w esteuropäischen Positivism us vom Typus der AnnalesSchule, obwohl er auf der anderen Seite für die Verbreiterung der m ethodologischen
Basis der Rankeschen G eschichtsschreibung plädiert, indem er betonte, es sollten in
ihr andere Faktoren als nur diplom atische zugelassen werden, d. h. die G esch ich ts­
schreibung sollte sich z. B. stark m it den Beziehungen zwischen Politik und Kultur
befassen.
5 Gerhard Ritter, Gegenwärtige Lage und Zukunftsaufgaben deu tscher Geschichtswissenschaft,
Eröffnungsvortrag des 20. deutschen Historikertages in M ünchen, in: H Z (19 4 9 ) 2 ff.
6 Ludwig Dehio, Ranke und der deutsche Imperialismus, in: H Z (1950) 3 0 8 ff.
7 Den., D eutschland und W eltpolitik im 20. Jahrhun dert (W ien 1955).
8 Gerhard Rittet; Gegenwärtige Lage und Zukunftsaufgaben deu tscher Geschichtsw issenschaft,
in: H Z (1 9 5 0 ) lff.
230
Jaroslav K u drna
Als Reaktion auf den w esteuropäischen Positivism us erscheint schon teilweise bei
H ofer, aber hauptsächlich bei Schieder die historische Typ enlehre9. Es geht hier um
eine Reaktion, die eigentlich schon seit D ilthey zu verfolgen wäre. Insbesondere bei
Schied er ist die neue, andere historische Begründung der N otw endigkeit der Typen.
lehre in der G eschichtsw issenschaft von Interesse. D ie E inführung der Typen in die
G eschichtsw issenschaft sei aus dem Grunde nötig, weil sich die nationalen Individua­
litäten in Europa integrierten. A ußerdem wird die Typenlehre vom G esichtspunkt der
Katastrophe - so wird die Niederlage des deutschen Faschism us 1945 bezeichnet - in_
terpretiert. So wird nun schrittw eise das Prinzip der Individualität durch sogenannte
typische Vorläufer und W irkungszusam m enhänge ersetzt und es wird bezeichnender­
weise in diesem Zusam m enhang auf die Beschränktheit der Rankeschen G eschichts­
schreibung hingewiesen. Es wird nun zugegeben, daß die Rankesche G eschichts­
schreibung einseitig klassenm äßig bedingt war: es handele sich bei ihr um G eschichts­
schreibung der adelspatrizischen S ch ich t und um eine negative Reaktion auf die Fran­
zösische R evolu tion10.
Die weitere A bkehr von der Rankeschen G eschichtsschreibung sollte dann durch
die Anwendung der Schem ata von Toynbee (O. F. A n d erle 11 und andere Historiker) sicherlich eine klare Ü bergangserscheinung - , die aber m it dem Europabegriff und
dem W eltbegriff der sogenannten atlantischen Zivilisation zusam m enhing - und vor
allem durch die Soziologisierung der G eschichtsschreibung bewirkt werden. Das R an­
kesche Prinzip der K ontinu ität sollte nun durch das Prinzip der D iskontinuität, dies­
mal in der Form der industriellen G esellschaft, ersetzt werden. D en w eltanschaulichen
H intergrund dieser T end enz kann man klar erkennen. D ie soziologisierenden und g e ­
neralisierenden M ethoden sollten deshalb notwendig sein, weil man in der Gegenwart
den Rahm en der nationalen G esch ichte verlasse. Das Bestreben der H istoriker sollte
auf die Herauspräparierung der K onstanten einzelner Perioden, z. B. der strukturellen
E lem ente der japanischen, chinesischen und arabischen G esch ichte hinzielen, was das
Verständnis des europäisch-am erikanischen technisch-industriellen Zeitalters erm ög­
lichen sollte. D ie G esch ichte hört dann auf, nur Schilderung dessen zu sein, was ge­
schehen ist.
Es ist auffallend, daß dabei Conze viel schärfer vorgeht als z. B. Schieder, der seine
A ufm erksam keit vor allem auf die Beziehung des Staates zur industriellen Gesellschaft
konzentriert. Dabei wird auch die Funktion des Staates neu gefaßt. D er m oderne Staat
wird neu dem industriellen U nternehm en angeglichen, in dem sich unterschiedliche
Gruppen zu W ort m elden.
9 Walther Hofer, G eschichte zwischen Philosophie und Politik, W eltanschauung und G eschichts­
bild in D eutschland (Basel 1 9 5 6 ); Theodor Schieder, D er Typus in der Geschichtsw issenschaft, in:
Staat und Gesellschaft im W andel unserer Z eit (M ünchen 1960).
10 Werner Conze, Die Strukturgeschichte des technisch-industriellen Zeitalters als Aufgabe für
Forschung und U n terricht (K öln 1957).
11 Othmar F. Anderle, Theoretische G eschichtsbetrachtungen zur Grundlagenkrisis der G e­
schichtswissenschaft, in: H Z 185 (1 9 5 8 ) 11 ff.
N ationales und eu ropäisch-atlantisches G esch ich tsb ild
231
Bevor wir einige Schlüsse aus dieser Entw icklung der deutschen bürgerlichen G e ­
schichtsschreibung ziehen, sei uns noch der Vergleich m it der Entw icklung der italie­
nischen bürgerlichen G eschichtsschreibung nach 1945 erlaubt.
M ehr als in der deutschen konnte in der italienischen bürgerlichen Historiographie
das Prinzip der K ontinu ität m it der G eschichtsschreibung der Vorkriegszeit akzen­
tuiert werden, da man diese H istoriographie, vielleicht m it A usnahm e von Volpe, als
antifaschistisch hinstellte, was selbstverständlich problem atisch ist. A ußerdem konn­
ten sich italienische H istoriker auf Croce berufen, der von einem europäischen G e ­
schichtsbild ausging und durch seine liberal-konservative Einstellung Auswüchse des
bürgerlichen Nationalism us zu brem sen verm ochte. In der Entw icklung der italieni­
schen H istoriographie nach 1945 sollte es sich also nicht um D iskontinuität, sondern
um A kzentverschiebung besonders in R ichtung Sozialgeschichte handeln. Interessan­
terweise wurde dieser Übergang anfangs nich t durch die italienische W irtschaftsge­
schichtsschreibung der Vorkriegszeit, sondern durch den Marxismus von Gram sci ver­
m ittelt. D er Einfluß des Marxismus m achte sich auch in der philosophierenden K u l­
turgeschichte bem erkbar. Aus diesem Grunde kann man erklären, warum z. B. bei
Chabod das Europabild schon 1947 andere Züge gewann als zur gleichen Z eit bei
M einecke und Ritter. Es wird bei ihm in akzentuierter Form die Rolle der Aufklärung
hervorgehoben, A m erika wird sogar als Verkörperung der Aufklärung hingestellt.
Chabod wußte auch unter dem Einfluß des Marxismus die klassenmäßige G esch ichts­
auffassung der französischen H istoriker der Restauration (Thierry, Guizot) zu schätzen.
Früher als westdeutsche neurankeanische H istoriker, hebt Chabod schon 1947 die
Notw endigkeit der Verbindung der diplom atischen G eschichtsschreibung (A ußenpo­
litik) m it der inneren Politik hervor. A n M einecke und R itter erinnert Chabods A uf­
fassung des Faschism us als einer bloßen Zufallserscheinung in der italienischen G e ­
schichte.
Früher als die deutsche begann sich die italienische Historiographie (Cantimori)
1946 m it jenen deutschen D enkern zu beschäftigen, die auf den Marxismus reagierten
und einige seiner E lem en te in ihre eigene K onzeption aufnahm en (Troeltsch, Max
W eber). Dies soll aber nicht besagen, daß bis zu den sechziger Jah ren der H orizont der
neuidealistischen H istoriographie überschritten wäre. D ie E lem ente des Marxismus,
m it denen die italienische G eschichtsschreibung operierte, wurden in diesen idealisti­
schen Rahm en eher hineingezwängt.
D ie Einflüsse der A nnales-Schule halfen dann in der N achkriegszeit höchstens zum
Abbau der philosophischen E lem en te, die von Croce stam m ten. Erst in den sechziger
Jah ren setzten in der italienischen Historiographie neue Ström ungen ein, aber es
handelte sich dabei eher um die Reaktivierung anderer Spielarten der früheren italie­
nischen Historiographie, die m ehr zum Positivismus tendierten (Cattaneo, Salvemini,
Luzzatto, Barbagallo) und die die herrschende neuidealistische H istoriographie der
N achkriegszeit (Chabod, O m odeo, Cantim ori) an den Rand drängten.
Aus diesem Grunde, daß der eigentliche m ethodologische Rahm en der italieni­
schen Historiographie breiter war als der der deutschen bürgerlichen Historiographie
Rankeanischer Prägung, läßt sich erklären, warum die italienische den neuen Strö ­
m ungen der G eschichtsschreibung weniger zugänglich war als die bürgerliche deut-
232
Jaroslav K u drna
sehe. Erst die siebziger Jah re brachten da eine gewisse, aber auch für diese Z eit noch
beschränkte W e n d e 12.
W as die w estdeutsche H istoriographie nach 1945 betrifft, so hat sich erwiesen, daß
hier politische Zielsetzungen m it den m ethodologischen Fragen einhergingen, was zu
einer gewissen U m w ertung der älteren Positionen der deutschen Historiographie
führte. D ie politischen Z iele gipfelten im B eitritt der B R D zur N A TO , die m ethodo­
logische Reaktion erfolgte - auch dank der zurückgekehrten Em igranten - als breitere
Ö ffnung für die Problem atik, die in der am erikanischen, englischen und teilweise fran­
zösischen bürgerlichen H istoriographie erarbeitet worden war. D abei wurden die
G rundbegriffe dieser H istoriographie um funktioniert, was in gewisser W eise auch in
der deutschen bürgerlichen H istoriographie die Fragestellung jen er D enk er reakti­
vierte, die bisher für Randerscheinungen historischen D enkens gehalten worden wa­
ren. Im G egensatz dazu war das Verhältnis zum Marxismus und der m arxistischen G e­
schichtsschreibung polem isch und feindlich, was sicherlich nicht der Vertiefung der
Problem atik und ihrer w issenschaftlichen Lösung dienen konnte.
12 Vgl. Jaroslav Kudrna, Z u einigen charakteristischen Zügen der italienischen bürgerlichen H i­
storiographie, Sbom ik praci Filozoficke fakulty B m enske univerzity C 2 5 - 2 6 (1 9 7 8 ) 7 - 4 0 .
Peter Stadler
Die „Deutsche Frage“ in der deutschschweizerischen
Geschichtswissenschaft nach 1945
Als der Zw eite W eltkrieg entbrannte, beendete er eine Ära, in w elcher deutsche
und deutschschw eizerische H istoriker seit rund einem Jahrhun dert in regem geistigen
Austausch standen. D ie m eisten Lehrstuhlinhaber in Basel, Zürich, Bern oder Fri­
bourg hatten - sofern sie nicht D eutsche waren - in D eutschland oder doch bei deut­
schen Lehrern studiert, angefangen beim jungen Ja c o b Burckhardt. Zwar m inderte
stets das Bew ußtsein einer gewissen Distanz oder der politischen V erschiedenheit das­
jenige der Ü bereinstim m ung. A ber noch im Ersten W eltkrieg waren die Sym pathien
vieler dieser U niversitätslehrer pro-deutsch bis zur E inseitigkeit gewesen. In den Ja h ­
ren nach 1933 dagegen verlor diese Zuneigung im m er m ehr an Grund. Statt dessen
traten A bw ehrreflexe hervor, im Z eich en und unter den Im pulsen der „Geistigen Lan­
desverteidigung“. Sie nahm en teilweise extrem e Form en an - so etwa, wenn der Zür­
cher Mediävist K arl M eyer in seinen Publikationen der K riegsjahre über die Anfänge
der schw eizerischen Eidgenossenschaft den „Freiheitskam pf der eidgenössischen B un­
desgründer“ gegen das werdende habsburgische G roßreich um 1300 in Parallele setzte
zum Abwehrwillen der Schweiz von 1940 gegenüber dem D ritten R eich, dies zuletzt
in scharfer K onfrontation m it dem damaligen M G H -Präsidenten Theod or M ayer1.
D er große Zusam m enbruch von 1945 brachte Erleichterung und auch eine gewisse
Ratlosigkeit. Erleichterung, weil man sich - anders als 1918 - m it den w estlichen Siegerm ächten in ideologischer Ü bereinstim m ung wußte und ihnen dafür dankbar war
und blieb, daß sie die Schweiz vor den Gefahren hitlerischer wie stalinistischer D ik­
tatur bewahrten. D ankbar auch dafür, daß die Eidgenossenschaft erstmals wieder seit
langem nicht m ehr direkt dem K räftefeld rivalisierender G roßm ächte ausgesetzt war.
A ber auch eine gewisse Ratlosigkeit. W as sollte aus dem D eutschland werden, in des­
sen geistiger N achbarschaft sich die eigene Identität eben doch entw ickelt hatte? Gab
es überhaupt irgendwelche R ich tlinien? Das waren Fragen, denen sich die damalige
Professorengeneration -
durchweg um die Jahrhundertw ende geboren -
stellen
mußte. Da ich selber in jenem H erbst 1945 zu studieren anfing, mag ich m ich der da­
maligen Situation rech t gut entsinnen. Man darf, ohne grob zu vereinfachen, zwei Fo r­
m en der A usrichtung unterscheiden. D ie eine predigte eine R ü ckkehr Deutschlands
' Peter Stadler, Zw ischen Klassenkampf, Ständestaat und Genossenschaft. Politische Ideologien
im schweizerischen G eschichtsbild der Zwischenkriegszeit, in: H Z 2 19 (1 9 7 4 ) 2 9 0 -3 5 8 .
P eter Stadler
234
zur D em okratie, was man m it einer A nknüpfung an die nach den freiheitlichen Auf
brüchen von 1848 und 1918/19 wieder verschütteten Traditionen der Selbstverwal­
tung und sogar der G em eindefreiheit um schreiben kann. A dolf Gasser ( 1903 - 1985 )
Sch üler Karl Meyers, als Privatdozent in Basel keiner der großen Lehrstuhlinhaber
aber als K olu m n ist der „N ational-Zeitung“ und Verfasser eines Buches „G em einde­
freiheit als R ettung Europas“ (Aarau 1943) von nicht zu unterschätzender publizisti­
scher W irkung, vertrat solche T h esen 2. D ifferenzierter und ohne Gassers doktrinären
Anflug wirkten aber auch die Basler H istoriker W erner K aegi (1 9 0 1 -1 9 7 9 ) und Edgar
Bonjour (geb. 1898) - beide Schüler deutscher U niversitäten - in dieser Richtung
K aegi schrieb damals an seiner großangelegten Biographie Ja c o b Burckhardts, deren
eine erkennbare Tendenz darin bestand, sichtbar zu m achen, daß der Basler erst in der
Em anzipation von seinen deutschen Lehrern und Studienfreunden wirklich zu sich
selber und zum G eiste seiner Vaterstadt zurückfand - ein G edanke, den er erstmals in
seinem 1943 erschienenen Essay, betitelt „G eschichtsw issenschaft und Staat in der
Z eit
Rankes“
(Schw eizer
Beiträge
zur
allgem einen
G esch ichte,
Bd. 1,
1943,
S. 1 6 8 -2 0 5 ), umriß. Edgar Bonjour wiederum legte in seiner 1946 erstmals erschiene­
nen (später fundam ental erweiterten) „G eschichte der schw eizerischen N eutralität“
dar, daß die Bedrohung dieser N eutralität in den letzten Jah rzeh n ten vor allem von
D eutschland ausgegangen war. Sch on der T itel war für jeden, der sich in schw eizeri­
scher H istoriographie auskannte, ein Program m : 1895 war Paul Schweizers gleichbeti­
teltes W erk erschienen, als R eaktion auf die H erausforderung und - wie es damals
schien - Gefährdung dieser N eutralität durch Bism arck im Z eich en des W ohlgem uthHandels. Bonjour hat diese T hem atik in seiner Basler Rektoratsrede von 1946 „Euro­
päisches G leichgew icht und schw eizerische N eutralität“ konzentriert und variiert. A n­
ders als Frankreich oder England sah D eutschland „das G leichgew icht in einer euro­
päischen Rechtsorganisation, deren starke, bestim m ende M itte es selber ausfülle, und
von wo aus es die Führungsaufgabe für den ganzen Erdkreis übernehm e“ - darin aber
wirke „ein unvertilgbares G ed enken an das H eldenalter des m ittelalterlichen K aiser­
tums nach“3. Sehr anders die Stellungnahm e seines - ihm m enschlich übrigens eng
verbundenen - Z ü rch er K ollegen, m eines Lehrers Leonhard von Muralt (1 9 0 0 -1 9 7 0 ).
Er las im W in ter 1945 wohl nicht ganz zufällig über Bism arck, und dieses K olleg war
eine einzige, höchst em otionale A useinandersetzung m it der kurz zuvor in der
Schweiz herausgekom m enen dreibändigen Bism arck-Biographie des deutschen D e ­
m okraten und Em igranten Erich Eyck, die auch von Bonjour wohlwollend bespro­
2 A dolf Gasser, Gem eindefreiheit als R ettung Europas (Basel 21947) 131. H ier betont der Autor,
die Unselbständigkeit der preußischen und deutschen Landgem einden sei nichts anderes als
„eine abgewandelte Form der m ittelalterlichen B auem unfreiheit“. In seiner „G eschichte der
Volksfreiheit und D em okratie“ (Aarau 21949) 2 5 0 erhebt er - lange vor W eh ler - die Forderung
nach einem „Prim at der Innenpolitik“ und verlangt „strikt dezentralisierte, von dem m enschli­
chen Gewissen getragene e ch t volkserzieherische Staatsordnungen“. Später wurde Gasser be­
kanntlich zu einem der entschiedensten M itstreiter Fritz Fischers im Disput um den Ursprung
des Ersten W eltkrieges.
3 W iederabgedruckt in: E dgar Bonjour, Die Schweiz und Europa (Basel 1 958) 30.
D ie „deutsche Frage“ in Sch w eizer S ich t
235
chen worden war4. Leonhard von M uralt dagegen lehnte sie scharf ab; überhaupt ließ
er nicht zu, den K anzler in irgendeinem , auch indirekten Zusam m enhang m it dem
Dritten R eich zu sehen. E r b etonte, „daß es keinen schärferen Maßstab gegen das na­
tionalsozialistische D eutschland geben kon nte als gerade B ism arck“. Fü r ihn wuchs
vielmehr diese Figur zur Verkörperung einer protestantisch verstandenen „Europä­
ischen M itte“ em por, einer richtigen Staatskunst des Maßes, des wahren A usgleichs
und der in christlicher E th ik wurzelnden „V erantw ortlichkeit“5. Das war kaum b e ­
streitbar. A llerdings: Problem e und D iffizilitäten einer allfälligen K ontinu ität vom bism arckischen (oder gar lutherischen) zum hitlerischen O brigkeitsstaat wies er, der kein
H istoriker der G esellschaft, der M entalitäten oder der Strukturen war, sondern vor al­
lem personalistisch dachte, entschied en von sich. Sein historiographisches Vorbild war
Bismarcks Zeitgenosse R anke, den er weit höher schätzte als Burckhardt, gerade weil
er ihm das Positive einer richtigen K onstellation der „G roßen M ächte“ - auch sie un­
ter protestantischen V orzeichen - entnahm . Seine R an ke-A n thologie „V ölker und
Staaten“ (1945) legt davon ebenso Zeugnis ab wie die vielen Ranke und Bism arck ge­
widmeten Sem inarübungen, die er während Jah ren regelmäßig abhielt - nicht im m er
zur ungeteilten Freude aller G eschichtsstudenten. Leonhard von Muralts Auffassun­
gen fanden - was m it der restaurativen Ära der jungen Bundesrepublik zusam m en­
hängt - in D eutschland dankbaren W iderhall. D ankbar deshalb, weil sie eine zwar aus­
ländische, aber eben doch von genuinem Verständnis für eine traditionale Sicht der
deutschen Vergangenheit zeugende Stim m e war. Davon zeugen K on takte zu V ertre­
tern der älteren wie der jüngeren Bism arckforschung (W ilhelm Schüssler, Gerhard
Ritter, O tto Becker, W alter Bussm ann).
E iner seiner Schüler, der damals (und in gewissem Sinne auch heute noch bzw. w ie­
der) prom inenteste von ihnen, W alth er H ofer (geb. 1920), hat sich des Them as eines
aktiv verstandenen W iederaufbaus der deutschen G eschichtsw issenschaft angenom ­
men. Er orientierte sich nun allerdings nicht an Ranke, sondern am greisen Friedrich
M einecke. Seine zu einem gew ichtigen Buch herangewachsene D issertation „G e­
schichtsschreibung und W eltanschauung. Betrachtungen zum W erk F. M eineckes“
(1950) trug ihm nicht nur das Zutrauen des A ltm eisters, sondern auch eine D ozentur
an der kurz zuvor gegründeten Freien Universität Berlin ein. M it einer scharfen K ritik
an Srbiks A lterswerk über deutsche G eschichtsschreibung 6 und seinem zweiten Buch
über die „Entfesselung des Zw eiten W eltkrieges“ (1954) leitete H ofer seine zeitge­
schichtliche A useinandersetzung m it dem N S-R egim e ein, die für ihn fortan ein L eit­
thema seines geschichtsw issenschaftlichen Engagem ents bildete und ihm großen,
breiten W iderhall verschaffte.
4 Zeitschrift für schweizerische G eschichte 2 4 (1 9 4 4 ) 6 0 8 -1 0 .
5 Vgl. seine Aufsatzsam m lung: Bism arcks V erantw ortlichkeit (G öttingen 1955). H ier (auf
2 1 8 -2 3 4 ) der sich m it Eyck und anderen A utoren kritisch auseinandersetzende Beitrag „Bis­
m arck-Forschung und B ism arck-Problem “. Die zitierte Stelle 2 2 0 . Eine 2. Auflage des Buches er­
schien in erweiterter Fassung 1970.
6 Walther Hofer, H. von Srbiks letztes W erk , in: H Z 175 (195:3) 5 5 -6 6 .
236
P eter Stadler
Je a n Rodolphe von Salis (geb. 1901) wiederum, irenischer veranlagt als H ofer, einer
der wenigen an der Sorb on n e prom ovierten deutschschw eizerischen H istoriker und
international bekannt durch seine w eltpolitischen Ü berblicke im Radio, hat im kriegs
Versehrten W ien 1947 in V orlesungen seine Sich t der G esch ich te entw ickelt, die dann
in die dreibändige „W eltgeschichte der neuesten Z e it“ (Zürich 1 9 5 1 -1 9 6 0 ) eingegan
gen ist7.
W ir haben damit einige der w ichtigsten Positionen abgegrenzt und müssen doch
abschließend noch eine P ersönlichkeit erwähnen, die eine K ontinu ität der Beschäfti­
gung m it deutscher G esch ich te über Jahrzeh nte m arkiert: W ern er Näf (1 8 9 4 —1959 J
D ieser in Bern als Ordinarius wirkende St. G aller H istoriker war D oktorand von Erich
Mareks gewesen und früh m it den Problem en deutscher G esch ichte und deutsch­
schw eizerischer W echselw irkungen vertraut geworden, wobei ihm die Perspektiven
von 1848 ebenso nahe standen wie die der Bism arckzeit. Sch on 1938 hatte er seinem
langjährigen Bekannten und Briefpartner H einrich R itter von Srbik, der über den A n­
schluß jubelte, seine B edenken kundgetan, bei allem Verständnis. „Ich habe auch
m enschlich genug unter dem Eindruck des Kriegsabschlusses von 1919 gestanden
um die m aterielle und geistige N ot Ihres Vaterlandes m itfühlen zu kön nen“, schrieb er
damals dem W iener H istoriker, um fortzufahren:
„A ber
w;rd das Resultat des groß­
deutschen nationalen Staates nicht m it teuersten m en schlichen und m enschheitlichen
W erten erkauft ?“8 Zw eieinhalb Jah re später, im H erbst 1940, führte er in einer Studie
„D ie Eidgenossenschaft und das R e ich “ (SA aus der „N euen Schw eizer Rundschau“,
O kto ber 1940, S. 15) program m atisch aus: „D ie Tatsache des Lebens im K leinstaat im kleinstaatlichen Raum e und in kleinstaatlicher M entalität - führt zurück zum UrU nterschied deutscher und schw eizerischer Staatsgestaltung, der im ausgehenden M it­
telalter angelegt wurde und bis heute nicht verwischt worden ist, - so wenig er zu al­
len Z eiten ein absoluter oder ein gegensätzlicher U nterschied war. D er genossen­
schaftlich gefügte Staat verhält sich zum M enschen anders als der herrschaftlich er­
richtete. Er wird innerhalb des ewigen Problem s: M ensch und G em einschaft, andere
Lösungen finden.“ Das ist wohl eines der m arkantesten Bekenntnisse jen er Z eit und
auch eines der gültigsten, weil es von gesch ichtlich gewordenen U nterschieden aus­
geht und sich freihält von apodiktischer Ü berheblichkeit. Seine 1945/46 erschienenen
und seither vielbenutzten zweibändigen „Epochen der neueren G esch ichte“ sind rankeanischer dem T itel als der Gedankenführung nach, die weniger der A ußenpolitik als
dem typologisch erfaßten inneren Aufbau der Staaten und Staatengem einschaften gilt.
N och während des K rieges, als die deutschen Zeitschriften ausfielen, hatte Näf die da­
mals jährlich erscheinenden „Schw eizer Beiträge zur allgem einen G esch ich te“ ins L e­
7 Je a n Rodolphe von Salis, Im Lauf der Jah re (Z ürich 1 962) 2 2 9 - 2 6 2 : W ien er Som m er 1947.
8 Zitiert bei Peter Stadler, Das schweizerische Geschichtsbild und Ö sterreich, in: Friedrich Koja/
Gerald Stourzh, Schweiz-Ö sterreich. Ä hnlichkeiten und K ontraste (Graz 1986) 45. Eine Edition
der Briefe Srbiks bereitet die H istorische K om m ission bei der Bayerischen Akadem ie der W is­
senschaften in M ünchen vor. Einen sehr gerechten und abgewogenen N achruf auf Srbik publi­
zierte Werner N ä f'm : H Z 173 (1 9 5 2 ) 9 5 - 1 0 1 .
D ie „deutsche Frage“ in Sch w eizer S ich t
237
ben gerufen und damit die Fortdauer deutschsprachiger G eschichtsforschung über die
s c h w ie r ig e n
Jah re hindurch sicherzustellen geholfen. Als diese Beiträge nach seinem
1959 erfolgten Tode eingingen, hatten sie gewissermaßen ihre Mission erfüllt.
Man sieht: aus der A bhängigkeit der schw eizerischen G eschichtsforschung von
Deutschland, wie sie das 19. Jahrhu n d ert im w esentlichen bestim m te, war um 1950
eine echte Zwiesprache geworden, eine D ialektik aus A nregung und W iderspruch,
freilich auch - das darf am Ende noch hinzugefügt werden - eine ganz westlich bzw.
m itteleuropäisch geprägte Diskussion. Für m arxistische A nregungen irgendwelcher
Art war die Stunde noch nich t gekom m en, wie auch die Sozialgeschichte zu warten
hatte, bis die ihre kam. D ie zweite große Herausforderung, die der späten 1960er
Jahre, fand dann eine neue G eneration m it neuen H orizonten.
Volker Berghahn
Deutschlandbilder 1 9 4 5 -1 9 6 5 . Angloamerikanische
Historiker und moderne deutsche Geschichte
Die Internationalisierung der natur- und hum anw issenschaftlichen Forschung hat
nach dem Zw eiten W eltkrieg eine neue Stufe erreicht und sich seither weiter b e ­
schleunigt. Nie zuvor ist der Transfer von W issen über nationale G renzen hinweg u m ­
fangreicher gewesen als in den letzten Jah rzeh n ten . Für die G eschichtsw issenschaft
hat sich damit ein faszinierendes Feld eröffnet: Die Analyse der internationalen W an ­
derung von Ideen und U ntersuchungsm ethoden sowie deren A ufnahm e und A dap­
tion durch andere akadem ische K ulturen m it oft ganz anderen Traditionen und O p e­
rationsweisen. G ilt dies im Prinzip für alle Länder, so bietet der deutsche Fall einige
Besonderheiten, die m it der Erbschaft des „D ritten R eich es“ Zusammenhängen. W as
im m er die H itler-Z eit sonst an unheilvollen Entw icklungen mit sich gebracht haben
mag, sie führte bekanntlich auch zu einem enorm en Aderlaß an w issenschaftlichem
und kulturellem Talent. Für die historische Forschung erhob sich daraus zum einen
die Frage, wie und wieweit vor allem die britischen und am erikanischen Natur- und
H um anw issenschaften durch deutsche Em igranten beeinflußt worden sind; zum an ­
deren stellte sich das Problem , in w elcher W eise und in w elchem Ausm aß Em igranten
und Rem igranten auf den W iederaufbau der w estdeutschen W issenschaften nach dem
Ende der H itler-D iktatur E influß genom m en haben.
Zum ersten Problem kom p lex sind inzwischen eine ganze R eihe von Studien er­
sch ie n e n 1; weitere, detailliertere U ntersuchungen sind im G an ge2. Das zweite P ro­
1 Siehe z.B . Marion Bergbahn, G erm an-Jew ish Refugees in England (London 1984); Lewis Coser,
Refugee Scholars in A m erica (New Haven 19 8 4 ); Maurice Da vie. Refugees in A m erica (New
Y ork 1947); Stephen Duggan und Betty Drury, T he Rescue of Science and Learning (New Y ork
1 9 4 8 ); Laura Fermi, Illustrious Im m igrants (Chicago 19 6 8 ); D, Fleming und B. Bailyn (Hrsg.),
T he Intellectual Migration (C am bridge, Mass. 19 6 9 ); Jo h n H. Herz, V om Überleben, W ie ein
W eltbild entstand (Düsseldorf 1984); Gerhard Hirschfeld (Hrsg.), Exile in Britain (Leam ington
Spa 1984); H. Stuart Hughes, T he Sea C hange, T he migration of social thought, 1 9 3 0 -1 9 6 5 (New
Y ork 1975 ); Martin Jay, T he Dialectical Imagination (Boston 1 973); Donald P. Kent, T he Refu­
gee Intellectual (New Y ork 1 9 5 3 ); Horst Möller, Exodus der K u ltu r (M ünchen 1984); Franz Neu­
mann u.a., The Cultural M igration (Philadelphia 1 9 5 3 ); Helge Pross, Die deutsche akademische
Em igration nach den V ereinigten Staaten, 1 9 3 3 -1 9 4 1 (Berlin 1955); International Biographical
D ictionary of Central European Em igres 1 9 3 3 -1 9 4 5 , Vol. II: T he Arts, Sciences, and Literature
(M ünchen etc. 1983); The Legacy of the Germ an Refugee Intellectuals, als Buch hrsg. v. R. Boyers
(New Y ork 1972), Salmagundi (Sondernum m er), H erbst 1 9 6 9 /W in te r 1970.
2 So z.B . G. Hirschfeld (über em igrierte W issenschaftler in England); P. H o ch (über Physiker); F.
M ecklenburg (über Juristen in A m erika); M. R. Lepsius (über Sozialwissenschaftler in Amerika).
240
V o lk er Berghahn
blem der Rückwanderung von Ideen und M ethodologien und deren Einfluß auf j w iedererstehende deutsche W issenschaft nach dem Zw eiten W eltkrieg ist bisher
allem für die Sozialw issenschaften erforscht worden. D abei kam en m ehrere Stud'
unabhängig zu dem Ergebnis, daß das Abhängigkeitsverhältnis der W estdeutschen vo
allem von den A ngloam erikanern groß gewesen sei und einer centre-periphery-Bezie
hung geähnelt habe. So schrieb M. Rainer Lepsius, daß die Rem igration „im engeren
S in ne des w issenschaftlichen Einflusses ... von größter Bedeutung“ gewesen sei3. U ncj
noch 1983 kam H orst M öller zu dem Schluß, daß Exilpolitologen die westdeutsche
Politikw issenschaft in ihren Frage- und T hem enstellungen über Jah re hinweg beein
flußt hätten4.
H inter solche U rteile hat Gerhard G öhler neuerdings ein Fragezeichen gesetzt und
zugleich eine strengere Form ulierung der analytischen Maßstäbe gefordert, die über
„allgemeine, vornehm lich auf Plausibilitätsgründen beruhende Trendverm utungen“
hinausgeht5. Generalisierungen und „die bloße A uflistung von N am en und W erk en “
so m einte er, führten nicht weiter. G öhlers skeptisches Resüm ee wäre noch durch das
Ergebnis einer Analyse A rno M ohrs zu ergänzen, wonach „die Zahl der nach Amerika
em igrierten Sozialwissenschaftler, die nach dem K riege nach Deutschland zurück­
kehrten und als V ertreter des neuen Faches an den H ochschulen zu lehren begannen,
... relativ gering“ gewesen sei6: „D er größte T eil der m it dem Aufbau und der E n t­
wicklung der Politikw issenschaft in Verbindung stehenden Persönlichkeiten ist der
sogen. ,inneren Em igration“ zuzurechnen.“ D och selbst wenn von außen kom m ende
Einflüsse höher anzusetzen sind, als G öhler und M ohr es tun würden, schließlich er­
h ebt sich noch die Frage, wie weit die Politologie im Vergleich zu anderen Disziplinen
einen Sonderfall darstellt. H atte es ihr doch schon vor 1933 an Eigenständigkeit ge­
fehlt. Zudem bestand nach dem Zw eiten W eltkrieg in dieser Disziplin ein besonderes
Bedürfnis, sie w issenschaftlich neu zu fundieren, als es den Besatzungsm ächten und
vor allem den A m erikanern darum ging, „die D eutsch en m it den Prinzipien der west­
lichen D em okratie vertraut zu m achen“7.
A lle diese Faktoren stellten sich bei der H istorie anders dar. D en n zum einen war
sie als Fach seit langem fest etabliert und wurde weder durch die Ereignisse von 1933
noch von 1945 personell oder institutioneil zerstört. Ja , es ist schon bemerkenswert,
wie sicher die deutsche H istorikerschaft ihre Lehrstühle über beide U m brüche hin­
3 M. Rainer Lepsius, Die sozialwissenschaftliche Em igration und ihre Folgen, in: K öln er Z eit­
schrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft Nr. 23 (1 9 8 1 ) 4 7 8 .
4 Horst Möller, From W eim ar to Bonn. The A rts and the H um anities in Exile and Return,
1 9 3 3 -1 9 8 0 , in: (s.o.), International Biographical Dictionary of Central European Émigrés,
1 9 3 3 -1 9 4 5 , Bd. 2 (M ünchen 1 9 8 3 ) LIX . Siehe auch das seit 1983 laufende, von H erbert Strauss
geleitete Projekt an der T U Berlin: „Die intellektuelle Em igration seit 1 9 3 3 : Transfer und R ück­
transfer wissenschaftlicher Inhalte und M ethoden.“
5 Gerhard Göhler, V om Sozialismus zum Pluralismus, in: PVS 1 (1 9 8 6 ) 6 - 2 7 , hier: 8.
6 Arno Mohr, Politikwissenschaft als Alternative. Stationen einer Disziplin auf dem W ege zu ih­
rer Selbständigkeit in der Bundesrepublik Deutschland, 1 9 4 5 -1 9 6 5 (Phil. Diss. Heidelberg 1985)
431, 433.
7 So Göhler (A nm . 5), 7.
A ngloam erikan ische H isto riker und m oderne deutsche G esch ich te
241
wegretten konnte. D iese personelle K ontinuität hatte, zum zweiten, tiefgreifende F o l­
gen sowohl für die Them enw ahl und die ideologischen G rundpositionen als auch für
¿¡e M ethodologie der N achkriegshistoriographie. D ie häufig konstatierte Fortsetzung
und W iederbelebung nationaler Traditionen in den vierziger und fünfziger Jah ren ist
für unser Them a insofern wichtig, als es die Disziplin für „Neuanfänge“ und vor allem
von außen kom m ende A nstöße unem pfänglicher m achte als die Politologie, in der es
nach 1945 um einen personellen, institutionellen und theoretisch-m ethodologischen
Aufbau ging8.
Zwar versuchten die britischen und am erikanischen Besatzungsbehörden M ei­
nungsaustausche zu fördern und w estdeutschen H istorikern G elegenheit zu geben,
sich über die zw ischenzeitlich erfolgte westliche Forschung zu inform ieren. So unter­
nahmen z. B. Francis Carsten und einige andere britische H istoriker nach dem Kriege
eine als G ood-w ill-Tour gedachte Vortragsreise, auf der sie z.T . offene O hren fanden,
aber auch m ancherlei Feindseligkeit. K ritik rief vor allem Carstens Preußen-Bild her­
vor, das er später in seinem B uch über The Origins o f Prussia veröffentlichte und das in
der Bundesrepublik zunächst w eitgehend m it Schw eigen übergangen wurde9.
Etwa zur gleichen Z e it wie Carsten reiste auch der junge, aus Berlin stam m ende
W erner Mosse in die Bizone, um m it w estdeutschen K ollegen K o ntakt aufzunehm en.
In G öttingen hatte er einen so unangenehm en Z usam m enstoß m it Siegfried K aehler
über die Beurteilung Bism arcks, daß er nach England zurückfuhr, um seine eigene P o­
sition im Detail in einem Buch niederzulegen. Das Ergebnis seiner Forschungen ist in
Mosses 1958 v eröffentlichter A rbeit über Ihe European Powers and the German
Question, 1848-1878 nachzu lesen10. W elch er A rt die damaligen D ifferenzen nicht nur
mit Em igranten, sondern auch m it anderen angloam erikanischen H istorikern waren,
läßt sich neuerdings in groben U m rissen auch anhand der veröffentlichten K orrespon­
denz Gerhard Ritters abschätzen11. Zwar wird man über die Beziehungen verschiede­
ner deutscher H istoriker untereinander m ancherlei D ifferenzierungen vornehm en
müssen, die auch in den Ritter-Pap ieren etwa in seinen Reibungen m it „klerikalen“
K ollegen oder den A useinandersetzungen um den Aufbau des M ünchener Instituts
für Z eitgeschichte zum Ausdruck kom m en ; aber R itter nahm nicht nur innerhalb des
w estdeutschen Lagers eine starke Stellung ein, sondern er stieg auch zu einem der
wichtigsten Sprecher gegenüber dem Ausland auf. Seine Bücher wurden dort zur
K enntnis genom m en und später auch übersetzt. Schon 1949 wurde er von der Ger­
man Educational Reconstruction zu einer Vortragsreise nach England eingeladen. Z u ­
dem korrespondierte er m it einer R eihe von angloam erikanischen K ollegen.
8 Siehe hierzu z. B. H ans 1Mommsen, Haupttendenzen nach 1945 und in der Ära des Kalten K rie­
ges, in: Bernd Faulenbach (Hrsg.), Geschichtsw issenschaft in Deutschland (M ünchen 1974)
1 1 2 -1 2 0 ; Georg G. Iggers, D eutsche Geschichtsw issenschaft (M ünchen 21 972) 32 8 ff.
9 Siehe dazu die Analyse von Henry Cohn in: Volker Bergbahn und Martin Kitchen (Hrsg.), G er­
many in the A ge of Total W a r (Fs. für Francis Carsten) (London 1 981) 11 f.
10 Werner E. Mosse, T he European Powers and the G erm an Question, 1 8 4 8 -1 8 7 8 (Cambridge
1958).
11 K. Schwabe und R. Reichardt (Hrsg.), Gerhard R itter (Boppard 1984).
242
V o lk er Berghahn
A n Ritters Fall wird nun recht deutlich, wie stark die w estdeutsche Position durch
eine defensive M entalität geleitet wurde, die ausländische Interpretationen der deut
sehen G eschichte nur in erheblich gefilterter und m odifizierter Form rezipierte. Wie
im m er m an Ritters Position heute einstufen mag und wie sehr sie auch m it cjer
G rundstim m ung unter seinen K ollegen übereinstim m te, bei w estlichen Historikern
fanden diese Perspektiven wenig Verständnis. In einem „Erguß m eines H erzens“ an
George P. G ooch, einem alten Bew underer deutscher K u ltu r und Geisteswissenschaft
bekannte R itter im Februar 1948, daß er seine K ritik an A. J. P. Taylors „antideut­
schem “ Traktat The Course o f German History „nicht aus hartnäckig nationalistischer
H altung heraus“ vorgebracht habe, „sondern gerade um gekehrt, weil m ir so sehr viel
daran liegt, m it der englischen W issenschaft zu w irklichem , gegenseitigem Verständ­
nis zu kom m en und alte gegenseitige Vorurteile überwinden zu helfen“ 12. So schön
dieses Eingeständnis auch klingt, es bedarf gleichw ohl der kritischen Überprüfung
D enn nur wenige M onate zuvor hatte er eine Rechtfertigung seiner 1936 erschiene­
nen Biographie Friedrichs II. verfaßt, die in einer von G ooch 1947 veröffentlichten
Studie des Preußenkönigs als „eine A rt von Rückfall in die traditionelle Auffassung
und eine A rt patriotische[r] V erherrlichung“ bezeichnet worden war13. Je tz t gab Ritter
dazu folgende Erläuterungen: „Mein Buch ist geschrieben als Protest gegen den be­
rüchtigten Tag von Potsdam , März 1933, den ich in der E inleitung auch erwähne. J e ­
der Satz dieser Einleitung und der V orbem erkung ist genau überlegt als Appell an
jene ,unsichtbare G em ein schaft von Trägern des echten Frontgeistes im R eiche deut­
scher W issenschaft', denen das W idm ungsblatt gilt. D iese Form ulierung der W id­
m ung ist aufs genaueste m it m einen nächsten Freunden überlegt. Ich dachte dabei an
diejenigen K ollegen, die wie ich T eiln eh m er des Ersten W eltkrieges gewesen waren,
dort noch in der Tradition der alten Preußenarm ee steckten und von daher verzweifelt
waren über die V erseuchung der neuen Reichsw ehr durch den H itlergeist. Es waren
M änner wie K aehler, H artung, Baethgen, Schram m , m it denen ich damals auch in die­
sem Sinn korrespondiert habe. W ir standen zusam m en in der Überzeugung, daß eine
weitere Auflösung ,des echten
Frontgeistes“ zum V erderb Deutschlands führen
m üßte.“
K ein W under, daß Ritters Verständigungsbem ühungen nur wenig Erfolg beschieden war, solange sie auf solchen Interpretationen der deutschen V ergangenheit beruh­
ten. W aren es in der Sich t der Engländer und noch stärker der A m erikaner (siehe un­
ten S. 2 5 0 ff.) doch gerade diese geistigen Positionen, die sie für den Verfall liberalen
Gedankenguts und der W eim arer parlam entarischen D em okratie nich t weniger ver­
antw ortlich m achten als die D ogm en der N ationalsozialisten. Letztere waren inzwi­
schen verschwunden; aber die V ertreter der ersteren saßen noch auf ihren Lehrstühlen
und rechtfertigten die Fortführung ihrer alten them atischen und m ethodischen Inter­
essen m it derartigen A rgum enten. D ie Distanz zwischen den westdeutschen und den
angloam erikanischen H istorikern kam auch in einem D isput zum A usdruck, den Rit-
12 Ebd., 4 4 6 .
13 Ebd., 4 4 4 f.
A ngloam erikan ische H istoriker und m oderne deutsche G esch ich te
243
ter im Frühjahr 1950 m it G eoffrey Barraclough fü h rte14. Letzterer hatte sich in einem
L eserb rief im Times Literary Supplement (T L S ) gegen eine seines Erachtens zu günstige
Besprechung einer Reihe von Ritters Büchern sowie die darin anklingenden antiwest­
lichen U ntertöne gewandt. R itter schrieb ihm daraufhin: „Es ist für m ich ein nicht nur
betrübender, sondern geradezu beängstigender Eindruck, daß Sie hinter allem , was ich
als kritische Besinnung auf das W esen am erikanisch-w esteuropäischer Freiheitsideale
ausführe, nichts anderes wittern als nationalistische Selbstüberhebung und Selbstver­
stockung. ... H alten Sie das für den richtigen W eg, um zu einem europäischen G e ­
spräch zu kom m en? ... H errscht denn zwischen uns noch im m er K rieg?“ Vorausset­
zung für eine echte Diskussion, so fuhr R itter fort, sei „ein M indestm aß von gegensei­
tigem Vertrauen - Vertrauen in die E hrlichkeit des reinen W ahrheitsw illens und ruhi­
ger politischer Vernunft.“ Zw ar wisse er, daß das Vertrauen nach den Ereignissen der
N S-Z eit „in England tief erschüttert“ sei. H ingegen habe er sich „auf Grund der einge­
henden U nterhaltungen, die ich auf m einer Englandreise im O kto ber 1949 m it über
50 englischen K ollegen führen durfte, eingebildet, wenigstens für m eine Person, ein
wenig von dem allgem einen M ißtrauen zerstört zu haben. Leider m uß ich nun aus Ih ­
ren Ausführungen, wie es scheint, entnehm en, daß diese H offnung eine bloße Illusion
gewesen ist. W ie tief diese E in sich t einen M ann erschüttern muß, den die deutsche
H istorikerschaft m it ihrem besonderen Vertrauen beehrt hat und der seit 1945 m it äu­
ßerstem Einsatz seiner K räfte sich bem üht, in W issenschaft und Publizistik zur Selbst­
besinnung, zur Ernüchterung, zur Revision veralteter A nschauungen aufzurufen
(mehr als irgend ein zweiter in der heute tätigen Generation), das brauche ich Ihnen
nicht erst zu sagen.“
Barraclough blieb unbeeindruckt. In seiner A ntw ort wandte er sich nicht nur gegen
die apologetische G eschichtsschreibung der älteren G eneration, sondern griff auch
Ritter persönlich an. Er zieh ihn des Illiberalism us und stellte ihn gar in die Nähe fa­
schistischer D enker, die aus der Vergangenheit nicht genügend lernen wollten oder
könnten. Barraclough schoß m it letzterem Vorwurf vielleicht etwas über das Z iel hin­
aus; hier interessiert weniger eine Ideologiekritik Ritters als die Frage, wie der damals
dom inante N ationalkonservatism us auf von außen kom m ende w issenschaftliche E in­
flüsse reagierte. A llgem ein wird man sagen können, daß die westdeutsche H istoriker­
schaft nach 1945 institutionell und auch von ihren Them enstellungen und Interpre­
tationen der Vergangenheit her viel zu gefestigt blieb, um für konkrete sachliche und
m ethodische Einflüsse aus A m erika oder W esteuropa offen zu sein. D ie Gruppen um
W erner Conze und K arl D ietrich Bracher bildeten eine M inorität und gehörten zu­
dem einer jüngeren G eneration a n 15. Bei den tonangebenden Ä lteren blieb daher auch
der Appell des nam haften französischen H istorikers Jacq u es Droz unerhört, die K o lle ­
gen jenseits des Rheins m öchten doch endlich das G h etto nationaler A pologetik ver­
lassen und sich zugleich den Sozialwissenschaften öffnen.
14 Ebd., 4 6 2 ff., auch für das Folgende.
15 Siehe dazu z .B .Jü rg en Kocka, Sozialgeschichte (G öttingen 21 986) 7 0 ff.
244
V o lk er Berghahn
M o ch te R itte r a u ch g lau b e n , für ein e V erstän d ig u n g m it d em W e ste n zu w irken
und o b e n d re in m e in e n , d iese so g ar e rre ic h t zu h a b en , w en n ih m h ö flich e britische'
K o lle g e n bei se in e n V o rträg en freu n d lich z u lä ch e lte n und u n k o n tro v erse In form a
tio n sfrag en ste llte n , in W irk lic h k e it h a tte e r sich g eg en die E in flü sse, auf die D roz an
sp ielte, a b g e s c h o tte t; in W irk lic h k e it se tz te n die w estd eu tsch e n H is to rik e r d er älteren
G e n e ra tio n in ih re r M e h rh e it ih re se h r tra d itio n elle P o litik g e sc h ic h te fort. D ie A n ­
w en d u n g so z ia lh isto risch e r W e rk z e u g e und n e u e r F ra g estellu n g en le h n te n sie n ich t
nu r verbal ab, so n d ern au ch d u rch die B lo ck ie ru n g e n ts p re c h e n d e r V e rö ffe n tlic h u n ­
g en . O tto B ü sch m u ß te bis 1962 w arten, eh e R itte rs W id ersta n d g eg en ein e V e rö ffe n t­
lich u n g se in e r D isse rta tio n ü b er Militärsystem und Sozialleben im alten Preußen
1 7 13-1807 e n d lich ü b erw u n d en w urde. E in e d eu tsch e Ü b ersetz u n g von H an s R o sen ­
bergs Bureaucracy, Aristocracy and Autocracy, 1660-1815, das 1958 bei H arvard er­
sch ie n , k o n n te R itte r „d u rch sein sch ro ff a b le h n e n d e s G u ta c h te n b e im V erlag “ gar
vo llen d s to rp e d ie re n 16.
D ie Betonung solcher M acht- und Einflußverhältnisse ist nich t zuletzt deswegen in­
teressant, weil Rosenberg seinerzeit sowohl in Berlin als auch in Tübingen Gastprofes­
suren w ahm ahm und häufiger als Paradebeispiel transatlantischen W issens- und For­
schungstransfers angeführt worden ist. G eorg Iggers hat berichtet, daß bei seinem er­
sten Besuch 1949/50 K arl D ietrich Bracher und Gerhard A. R itter zu seinen Studen­
ten zählten17. D och dies dürfte allenfalls die These bestätigen, daß sich Rosenbergs
Ideen erst in der nächsten G eneration auswirkten. G leiches gilt für D ietrich Gerhard,
der häufig in K ö ln und später in G öttingen zu Gast war, „wo er eine stark an Otto
H intze orientierte vergleichende U ntersuchung der Beziehungen zwischen ständi­
schen Institutionen und absoluter M onarchie im Europa des A ncien Regim e för­
derte“. Insgesam t bleibt daher Iggers’ U rteil unverändert gültig, der 1974 m einte, „der
Einfluß der Em igranten auf die bundesdeutsche G eschichtsschreibung der 50er Jah re“
sei gering geb lieb en 18. Dies gilt in noch stärkerem Maße für etwaige Einflüsse aus
England. D ort kam erschwerend hinzu, daß die m eisten deutschen Em igranten im
G egensatz zu ihren am erikanischen K ollegen englische T hem en aufgriffen und sich
der deutschen G esch ich te entweder nie oder sehr viel später zuwandten. A uch auf der
Insel geborene H istoriker wie H ugh Trevor-Roper, A lan B ullock oder Jam es Jo ll ver­
folgten ihre D eutschlandinteressen nicht als eigentlichen Forschungsschwerpunkt.
D eutsche G esch ichte wurde in den fünfziger Jah ren als solche kaum gelehrt, jü n geren
D ozenten wie Carsten wurde von ihren A bteilungsleitern nahegelegt, lieber über das
englische M ittelalter als über rein deutsche T hem en zu lesen. Für die damaligen V er­
hältnisse ist es wohl sym ptom atisch, daß Carsten 1961 schließlich der M asaryk-Lehrstuhl an der Londoner School o f Slavonic and East European Studies angeboten wurde.
V on dort aus entw ickelte er dann allerdings die deutsche G esch ichte in der Graduier-
16 Hans-Ulrich Wehler, G eschichtsw issenschaft heute, in: Jü rgen Habermas (Hrsg.), Stichworte
zur ,Geistigen Situation der Z e it1, Bd. 2 (Frankfurt 1 979) 721.
17 Georg G. Iggers, Die deutschen H istoriker in der Em igration, in: Bernd Faulenbach (Hrsg.), G e­
schichtswissenschaft in Deutschland (M ünchen 1 974) 109.
18 Ebd.
A ngloam erikan ische H isto riker und m oderne deutsche G esch ich te
245
tenförderung, so daß zusam m en m it den D oktorarbeiten, die am O xforder S t.A n tony’s College entstanden, in der Überwindung der geringen Popularität der deut­
schen G eschichte in England w enigstens ein A nfang gem acht wurde. W ie schon er­
wähnt, blieb die W irkung nach D eutschland hinein freilich gering. Das dürfte auch für
Erich Eyck gelten, dessen G esch ichte der W eim arer Republik im m erhin zuerst auf
Deutsch e rsch ien 19. Eine Gastprofessur hat er aber, soweit bekannt, nicht innegehabt,
und es ist auch nicht ganz klar, inwiefern seine „radikal-liberale Bism arckkritik“ in der
Bundesrepublik, wie W olfgang M om m sen gem eint hat, partiell rezipiert worden sein
könnte20. W ich tig er waren in dieser Beziehung in der Tat wohl eher die „damals äu­
ßerst einflußreichen A rbeiten von Hans R othfels“, der „Bism arcks W erk als grundsätz­
lich von den nationalistischen M assentendenzen unterschiedene Politik des A ugen­
maßes und der staatsm ännischen Selbstbegrenzung“ interpretierte, „die nicht so sehr
die Belange der deutschen N ation, als vielm ehr die Interessen der europäischen Staa­
tenordnung in ihrer G esam th eit im Auge gehabt habe“21.
Diese Beurteilung ist für unseren Zusam m enhang zunächst deshalb bedeutsam ,
weil Rothfels einer der wenigen Em igranten unter den H istorikern war, die sich für
die dauernde R ü ckkehr in die Bundesrepublik entschieden. Sein Bism arckbild weist
aber zugleich darauf hin, daß ihm eine Reintegration in die deutsche H istorikerschaft
seiner G eneration keine übergroßen beruflichen oder seelischen Schw ierigkeiten be­
reitete. Schon vor 1933 hatte er ideologische Positionen eingenom m en, die es ihm
wahrscheinlich erm öglicht hätten, nach 1933 in K önigsberg zu bleiben, wäre er nicht
jüdischer A bstam m ung gewesen. W ie weit seine am erikanischen Erfahrungen ihn zu
einer U m interpretation seines nationalkonservativen Bildes von deutscher G esch ichte
veranlaßten, wäre angesichts der Tatsache, daß seine damaligen M itflüchtlinge von
Amerika stark geprägt worden sind, sicherlich einer näheren Überprüfung wert. D em
ersten A nschein nach ist ihm aber die Verwurzelung in der neuen G esellschaft nicht
wie anderen gelungen, während er nach seiner R ü ckkehr in die Bundesrepublik im
Kreise seiner K ollegen schnell akzeptiert wurde. Zwar verm ochte ihm ein M ann wie
Gerhard R itter bei seiner D eutung der Bism arckschen Politik nicht im m er zu folgen,
und auch über die Bew ertung der „R oten K apelle“ und des „Kreisauer K reises“ ge­
langten die beiden zu unterschiedlichen Auffassungen. D och, wie R itter im Februar
1958 in einem Brief an Rothfels bem erkte, solche M einungsverschiedenheiten verhin­
derten nicht, „daß uns gleichw ohl sehr vieles sowohl in der historischen wie in der
politischen A nschauung verbindet, und das ist m ir zuletzt w ichtiger“22.
W ie R itter bewahrte daher gerade auch Rothfels das politische E rbe des m ilitäri­
schen W iderstandes gegen H itler einschließlich des nationalkonservativen G esch ich ts­
verständnisses, das er verkörperte. D iese Aufgabe nahm er nicht zuletzt als H erausge­
ber der Vierteljahrsbefte f ü r Zeitgeschichte sehr ernst, über deren Program m er sich von
19 Erich Eyck, G eschichte der W eim arer Republik (Z ü ric h -S tu ttg a rt 1 9 5 4 -5 6 ).
20 W olfgangJ. Mommsen, Gegenwärtige Tendenzen in der G eschichtsschreibung der Bundesre­
publik, in: G eschichte und Gesellschaft 7, H. 2 (1 9 8 1 ) 154.
21 Ebd., 154 f.
22 Zit. in: Schwabe und Reicbardt (Hrsg.), (A nm . 11), 527.
V o lk er Berghahn
246
M ünchen aus persönlich von H elm ut K rausnick inform ieren ließ. Ebenso achtete
darauf, daß bei seiner Edition der Briefe von H elm ut Stieff, des Reichsw ehroffizund W iderstandskäm pfers, kom prom ittierende Passagen, in denen Stieff Anfang cje
dreißiger Jah re gegen die verräterischen „Schufte“ im republikanischen Reichsbanner
zu Felde zog, ohne entsprechenden Fußnotenhinw eis durch Pünktchen ersetzt wur
d en23. Ein jüngerer H istoriker, der einen Aufsatz zur Selbstnazifizierung der W ehr
m acht bei der Redaktion der Vierteljahrshefte f ü r Zeitgeschichte eingereicht und damit
gegen herrschende M einungen über das konservative deutsche Offizierkorps versto
ßen hatte, wurde von Tübingen aus um eine Entschärfung seiner allzu unverblümten
Schlußbetrachtungen gebeten.
W as im m er m an daher über R othfels’ Einfluß denken mag, der Rem igrant Rothfels
wirkte kaum als V erm ittler zwischen den A ngloam erikanern und den Deutschen
M ochten letztere sich m it R itter auch als Protagonisten einer V ersöhnung m it dem
W esten sehen, tatsächlich hatten sie gegen ihre eigene A ufnahm efähigkeit erhebliche
psychologische Barrieren aufgerichtet, die dazu führten, daß „die Revision des deut­
schen G eschichtsbildes, die sich in A m erika und England durchgesetzt hatte, ... -weit­
gehend unbeachtet“ b lieb24. W elch er A rt aber war diese Revision sowohl them atisch
als auch m ethodologisch? D ieser Frage werden wir uns nunm ehr zu wenden müssen.
Bei deren Beantw ortung sollte als erstes verm ieden werden, Lobeshym nen auf die
Innovationsfreudigkeit der angloam erikanischen H istorikerschaft im allgem einen an­
zustim m en. A uch in den G eschichtsabteilungen britischer und am erikanischer U ni­
versitäten ging es nach dem Zw eiten W eltkrieg noch rech t orthodox zu: politische Er­
eignisgeschichte, D iplom atiegeschichte und Verfassungshistorie bildeten dort den
mainstream. D er w ichtigste U nterschied lag darin, daß andere A nsätze, voran in der
W irtschafts- und Sozialgeschichte, weder, wie in D eutschland durch das D ritte Reich,
eine U nterbrechung erfahren hatten noch durch die K arrierestruktur behindert wur­
den. Dadurch ergaben sich, zum indest an einer ganzen Reihe von Institutionen auch
gewisse
„ A b fä rb e ffe k te “
auf die dom inante Politikhistorie. Das gilt auch für das Fähn­
lein von H istorikern - in A m erika erheblich größer als in England - , die sich auf die
deutsche G esch ichte spezialisierten. D ie M ischung, die daraus entstand, stellte sowohl
gegenüber der Zw ischenkriegszeit als auch gegenüber der em otionsgeladenen A tm o­
sphäre der Jah re 1945/46 gewiß eine Revision dar. Sie soll uns in diesem zweiten A b ­
schn itt im H in blick auf die verfolgten Them ata und Schw erpunkte sowie auf die dabei
entw ickelte M ethodologie beschäftigen. Allerdings werden wir uns hierbei nicht auf
einige M onographien stützen, die dann schlicht als repräsentativ bezeichnet werden.
Es schien für eine R ekonstruktion des damaligen D eutschlandbildes verläßlicher, eine
Analyse von sog. College Textbooks vorzunehm en, wie sie an angloam erikanischen
Universitäten im L ehrbetrieb benutzt werden. Sind solche T extbooks doch am ehe­
sten Synthesen und K onzentrate nicht nur des bis zu einem bestim m ten Zeitpunkt
25 Diese Entdeckung m ach te Francis Carsten bei seinen Forschungen zu seinem Reichswehr­
buch. Siehe Francis L. Carsten, Reichsw ehr und Politik, 1 9 1 8 -1 9 3 3 (Köln 1964) 2 9 4 , A nm . 48,
24 Iggers, Die deutschen Historiker in der Em igration (A nm . 17), 109.
A n gloam erikan ische H istoriker und m oderne deutsche G esch ich te
e r r e ic h te n
247
Forschungsstandes, sondern sie spiegeln auch die dom inante M ethodik und
die vorherrschenden allgem einen Perzeptionen der deutschen G esellschaft und G e ­
schichte. Aus diesem Grunde scheinen sich solche Bücher besonders gut für eine
te rsu c h u n g
U n­
angloam erikanischer D eutschlandbilder zu eignen, wie sie hier vorgenom -
men werden soll.
Eine der ersten einflußreichen Analysen der m odernen deutschen G esch ichte war
Taylors The Course o f German History, die im Ju li 1945 erschien. D ie Perspektive, die
durchgehend in dem Buch eingenom m en wird, geht bereits aus den ersten Sätzen des
1. Kapitels hervor25: „The history of the G erm ans is a history of extrem es. It contains
everything, except m oderation, and in the course of a thousand years the Germ ans
have experienced everything except norm ality. ... Geographically the people of the
centre, the G erm ans have never found a middle way of life, either in their thought or
least of all in their politics. O ne looks in vain in their history for a juste milieu, for
com m on sense - the two qualities w hich have distinguished France and England.
Nothing is norm al in G erm an history except violent oscillations.“ D ieser Vorstellung
entsprechend entw ickelte sich die deutsche G esch ichte Taylor zufolge denn auch „lo­
gisch“ vom lö .Jah rh u n d ert bis zum Zerfall des D ritten R eich es: „In Ju ly 1945 the
leaders of the three Great victorious Powers m et at Potsdam to plan the future of G er­
many. The ,many great nations1, whom Bism arck had dismissed with scorn, now sat in
the seats of Frederick the G reat, of H itler, and of Bism arck him self. G erm an history
had run its course.“
Das Vorw ort der Neuausgabe des Buches aus dem Jah re 1961 beleuchtet Taylors
Grundeinstellung zur deutschen G esch ichte noch deutlicher26. Er habe, so m eint er
zunächst, nicht die geringste Veranlassung, seine M einung im Lichte der zw ischen­
zeitlichen Entw icklungen zu ändern. Es sei, so schreibt er, „no m ore a mistake for the
German people to end up with H itler than it is an accident when a river flows into the
sea“. Er fügte hinzu: „There was a great pother after the war about how we should edu­
cate the Germ ans in dem ocracy. I never understood how this should be done. D em o ­
cracy is learned by practice, n o t by sitting on forms at a political finishing school. Our
only contribution should have been to ensure that the Germ ans did not .solve' their
problem at the expense of others.“
Obwohl, wie alle A rbeiten Taylors, m ethodisch sehr traditionellen Zuschnitts, ist es
die politische A usrichtung des Buches und seine Sicht „der D eu tsch en“, die für unse­
ren Zusam m enhang das eigentlich Relevante sind. Jedenfalls war Gerhard R itter nach
der Lektüre des Buches, das K aehler ihm zugeschickt hatte, so „tief niedergeschlagen“,
daß er sogleich einen K lagebrief an G ooch schrieb27: „W enn dieses Buch etwa die
D urchschnittsansicht der heutigen englischen öffentlichen M einung wiedergibt, dann
müssen wir ja wohl alle H offnungen auf eine Besserung unserer Zukunft aufgeben.
25 A . J P. Taylor, T he Course of G erm an History (London 19 4 5 , hier zitiert nach der T aschen­
buch-Ausgabe von 1961) 1, 263.
26 Ebd., V I I , X.
27 Schwabe und Reichardt ( Hrsg.), (A nm . 11), 445.
248
V o lker Berghahn
W en n ein O xforder G elehrter von Namen und A nsehen, der sich m it deutscher Ge
schichte im m erhin ausführlich beschäftigt hat, solche U rteile fällt, was soll man dann
von dem Mann auf der Straße erwarten und von dem Politiker, der keine Z eit hat so
ausführlich über das deutsche Problem nachzudenken wie dieser H istoriker? W jr
D eutsche sind also ein bösartiges, ausschließlich auf Eroberung und auf Vernichtung
unserer slawischen N achbarn bedachtes G eschlecht, nur dadurch zu zähm en, daß wir
dauernd unter strengste Überwachung der vereinigten w esteuropäischen und slawi­
schen N ationen gestellt werden und dadurch, daß unser Staatswesen in viele kleine
Stücke zerhackt wird. ... W ie haben wir deutschen G elehrten uns geschäm t und wie
haben wir innerlich g ek och t über den blutrünstigen U nsinn, der in der H itlerzeit über
England geschrieben wurde, aber wenigstens war an dieser Literatur kein akademi­
scher H istoriker - soviel m ir bekannt - beteiligt. U m so tiefer bin ich bestürzt und er­
schreckt darüber, daß selbst in O xford die verstehende H istorie in so hohem Maße
durch politische T end enz-H istorie verdrängt werden kann.“
G ooch plädierte in seiner A ntw ort dafür, Taylor nich t zu ernst zu nehm en. Er sei
der „einzige“ britische H istoriker, der derart heftige antideutsche M einungen vertrete.
D am it mag G ooch insofern recht gehabt haben, als auch Taylor zu Beginn seiner pro­
vokanten Schrift über deren Entstehung sowie über die Schw ierigkeiten berichtete,
die ihm daraus in W hitehall erwachsen seien28. D en n ursprünglich sei das Kapitel
über die W eim arer R epublik als Auftragsarbeit verfaßt worden, um in eines der Hand­
bücher eingefügt zu werden, die im Zw eiten W eltkrieg für die zukünftigen alliierten
Besatzungstruppen zusam m engestellt wurden. E r fügte sarkastisch hinzu: „My piece
proved unacceptable; it was, I learnt, too depressing. T h e G erm ans were enthusiastic
for a dem agogic dictator and engaged on a war for the dom ination of Europe. But I
ought to have shown that this was a bit of bad luck, and that all Germ ans, other than a
few wicked m en, were bubbling over with enthusiasm for dem ocracy or for Christian­
ity or for som e other noble cause w hich would turn them into acceptable allies once
we had liberated them from their tyrants.“ D och selbst w enn sich Taylors Thesen un­
ter seinen K ollegen und im Foreign O ffice nur geringer B eliebtheit erfreuten, die all­
gem eine öffentliche A usstrahlung seines Buches war enorm und dauerte lange an. Bis
1961 erlebte der Band sechs Auflagen, ehe er in die University Paperbacks-R eih e von
M ethuen übernom m en wurde. Taylor bildete die Grundlage vieler U nterrichtsstunden
in Schulen und U niversitäten und ist auch heute noch in zahlreichen Leihbüchereien
und Schulbibliotheken zu finden. A uch in A m erika dürfte das Buch ein Erfolg gewe­
sen sein, da es auch dort auf eine G rundstim m ung in der gebildeten öffentlichen Mei­
nung stieß, die m it Taylors S ich t „der D eutsch en“ w eitgehend in Einklang stand. Nur
so ist der am erikanische Erfolg eines w eiteren Bandes zu erklären, der 15 Jah re später
erschien und schnell ein Bestseller wurde: W illiam S. Shirers 1400-S eiten O pus über
The Rise and Fall o f the Third Reich, dessen zeitlicher R ahm en weit über die Jahre
1 9 3 3 -1 9 4 5 hinausging und m it Taylors Gesam tschau der deutschen G esch ichte har­
m on ierte29. Shirers W irku ng wurde seinerzeit in den U SA noch dadurch verstärkt, daß
28 Taylor, (Anm . 25), VII.
29 William L. Shirer, T he Rise and Fall of the Third Reich (London I960).
A n gloam erikan ische H istoriker und m oderne deutsche G esch ich te
249
die Bundesrepublik A nfang der sechziger Jah re von einer neonazistischen W elle erfaßt
wurde und die Israelis A dolf E ichm ann aus Südamerika nach Israel entführt hatten.
D ie deutsche Vergangenheit m achte daher einm al m ehr die Schlagzeilen, und viele
A ngloam erikaner fragten sich, ob sich „die D eutsch en“ überhaupt geändert hätten.
Es ist wichtig, sich dieses allgem einen K lim as zu erinnern, da T eile der w estdeut­
schen akadem ischen und politischen Eliten, voran einige prom inente H istoriker, auch
später - ob in Bitburg oder anderswo - im m er wieder gröblich unterschätzt haben, wie
wenig die N S-Z eit m it ihren Brutalitäten in angloam erikanischen Ländern vergessen
ist. W ieviel stärker waren diese G efühle in den fünfziger Jah ren , als das K riegsende
erst zehn oder fünfzehn Ja h re zurücklag. D ie überwiegende M ehrheit der Bevölkerung
hatte noch direkte E rinnerungen an den Krieg. In dieser Z eit erschienen nun in
N ordam erika die ersten T extbü cher, die im Stile Taylors den Gang der m odernen
deutschen G eschichte zu analysieren versuchten. W ill man die them atischen und m e­
thodologischen Prioritäten dieser Bücher verstehen, so ist das von Taylor u.a. verbrei­
tete Deutschlandbild im A uge zu behalten. W ar es den A utoren dieser T extbü cher
doch gerade darum zu tun, dieses ältere Bild zu überwinden und eine differenziertere
Interpretation anzubieten.
Als erstes und frühestes Beispiel sei hier Ralph Flenleys Modern German History er­
wähnt, die 1953 ersch ien30. D er kanadische H istoriker sah sein Buch ausdrücklich als
G egenstück zu jenen A utoren, die den N ationalsozialismus als den logischen E n d ­
punkt und authentischen A usdruck der preußisch-deutschen G esch ichte bezeichnet
hatten. Jedenfalls hielt er es für „quite wrong to declare that all G erm an history led to
H itler and Nazism. It could, and did, lead also to Lessing, ... to G oethe and K ant, to
W illiam von H um boldt, enem y of the Machtstaat, to rebels against autocracy, intolerance, m ilitarism , even nationalism , yet good Germ ans all, w hether Protestant, Catholic
or Je w ish .“31 U nter H inweis auf G oethes These, daß die m en schliche Seele auch eine
däm onische Seite habe, und auf Friedrich M eineckes A rgum ent von der Doppelgesichtigkeit des preußischen Staates, betonte Flenley die W idersprüche und Dualism en
der deutschen G eschichte. Zw eck seiner Untersuchung, so schreibt er einleitend, sei
es zu eruieren, warum D eutschland weniger erfolgreich gewesen sei, wenn es darum
ging, D ifferenzen durch K om prom isse zu überbrücken. In diesem Zusam m enhang
hält er das Ü berleben des O brigkeitsstaats und von K lassenunterschieden für einen
w ichtigen Faktor in einer Z eit, zu der das Land sich nicht nur m it liberal-dem okrati­
schen Ideen konfrontiert sah, sondern auch m it Sozialrevolutionären Theorien, die m it
dem Beginn der Industriellen Revolution entstanden.
D iesen Thesen entsprechend werden dem Leser viele Details über intellektuelle
und kulturelle Ström ungen im 19.Jahrhun d ert vorgeführt, während bei ihm über öko­
nom ischen W andel und Sozialstruktur zwar einiges, aber doch erheblich w eniger ge­
boten wird. Flenley beendete seine vornehm lich kulturgeschichtlich orientierte Studie
m it einem Lob auf Thom as M ann, jen em Em igranten, der als Schriftsteller und V er­
30 Ralph Flenley, M odern G erm an H istory (London 1953).
31 Ebd., 386.
250
V o lk er Berghahn
treter des „anderen D eutschland“ schon in den dreißiger und vierziger Jah ren auf dje
A m erikaner eine eigenartige Faszination ausgeübt hatte. Mann, so m ein t er, habe sei
nem Lande gut gedient, da er nich t nur m itgeholfen habe, das ech te deutsche kultu
relle Erbe zu retten und zu stärken, sondern auch weil er die V erbindung zwischen
diesem Erbe und der w estlichen K ultur aufrechterhalten habe.
A ber auch m ethodisch betrachtete Flenley sein Buch als eine A b kehr vom „Taylor­
ism us“. Andere K ollegen , so schrieb er, betonten das Politische und den „Primat der
A ußenpolitik“ zu seh r32. Er wolle dagegen soziale und w irtschaftliche, aber gerade
auch geistige und kulturelle A spekte hervorkehren, die seiner M einung nach für die
deutsche G esch ichte von großer Bedeutung seien. A uch wenn Flenley die Gewichts­
verlagerung auf die W irtschafts- und Sozialgeschichte weniger gut gelang, die A kzent­
verschiebung zu Taylor war deutlich genug. A ls K ategorie kam en „die D eutschen“
nicht m ehr vor, und auch die H erausarbeitung deutscher K ulturtraditionen war be­
deutsam vor dem H intergrund einer Z eit der N S-Barbarei, nach der viele A ngloam eri­
kaner sich w eigerten, D eutschland überhaupt als K ultum ation zu bezeichnen. Dar­
über hinaus lohnt es sich, Flenleys Ansatz m it dem zu vergleichen, der zur gleichen
Z eit von R itter u.a. in der Bundesrepublik vertreten wurde.
D en Dualism us in der deutschen G esch ichte m achte auch Marshall D ill zum
Them a seines T extbu chs, das 1961 in der R eihe „University o f /Michigan History o f the
Modern IFbr/<r/"erschien33. E r sah die D eutschen, anders als Taylor, als „a talented and
com plex people; they have produced m en with the lofty grandeur of Jo h an n Sebastian
Bach, Im m anuel K an t and Jo h a n n W olfgang von G o eth e; they have also produced
m en with the diabolic venom of Paul Jo sep h G oebbels and H einrich H im m ler. W hen
divided they have sought unity, but when united they have tended to split into their
constituent parts. A lthough an integral part of W estern culture, they have at times
forsworn and challenged that culture; the challenge has been supported with such
power that the W est had been hard-pressed to subdue it.“ D ills m ethod ischer Ansatz
ist dem Flenleys durchaus ähnlich: W irtschafts- und sozialgeschichtliche Fragen wer­
den gesehen, aber nicht detaillierter verfolgt. D er Schw erpunkt liegt neben der politi­
schen Ereignisgeschichte deutlich auf jen er intellectual history, die sich inzwischen vor
allem in A m erika zu einem eigenständigen G enre entw ickelt hatte und die einige ih­
rer W urzeln in der deutschen G eistesgeschichte besaß3,1. W enn es zu einer solchen
Verbindung dieser Tradition m it angloam erikanischen sozialgeschichtlichen Elem en-
32 Ebd., VII.
33 Marshall Dill, Germ any. A M odern H istory (Ann A rbor 1961) VII.
34 Eine ähnliche Perspektive bot schließlich auch Koppel S. Pinsons M odem Germany. Its History
and Civilization (New Y ork 1954), ein weit verbreitetes T extbuch, das C arlton J . B. Hayes gewid­
m et war. Pinson betonte zudem besonders offen seine ideologische Position: „This work is writ­
ten frankly from the standpoint of one who finds liberal dem ocracy, humanitarianism and the
ethical ideals of the Judeo-C hristian tradition m ost congenial to his own frame of mind. ... If
there is a unifying them e to this work, it is that of the tragic efforts made by liberalism and de­
m ocracy to assert them selves in m odem Germ an history, of how they have been inundated time
and again by the opposing forces, especially those of militarism and nationalism , and of how, ne­
vertheless, these efforts recur to start the struggle anew.“ (IX).
A ngloam erikan ische H istoriker und m oderne deutsche G esch ich te
251
ten kam, so ist dies nicht zuletzt dem Einfluß em igrierter deutscher H istoriker zuzu­
schreiben, voran H ajo H olbom . Im Jah re 1959 veröffentlichte H olborn den ersten
Band einer Textbu ch-T rilogie, die schon deshalb in A m erika besonders einflußreich
werden sollte, weil er auch sonst als einer der Hauptförderer des Studium s der deut­
schen G esch ichte in den U SA gelten muß. W ährend dieses Fach an britischen U niver­
sitäten in den fünfziger Jah ren kaum existierte, erlebte es in den U SA damals eine b e ­
achtliche Blüte, und zwar gerade auch aufgrund des W irkens H olborns, der 1933 em i­
griert war und seit 1934 an der Yale University lehrte. Zw ischen 1941 und 1968 wur­
den bei ihm nicht weniger als 55 D oktorarbeiten zu m eist deutschen T hem en angefertigt.
Solche Zahlen sind deshalb bedeutsam , weil auf diese W eise in Yale wie auch z.B.
in Chicago und Colum bia eine N achw uchsgeneration entstand, die in England bis auf
weiteres fehlte und unter der sich auch viele angehende H istoriker befanden, die
D eutschland als K inder oder Ju g en d lich e verlassen m ußten. U m die A rbeiten dieser
jüngeren G eneration zu verstehen, müssen wir uns als nächstes der großen Interpreta­
tion der deutschen G esch ichte zuwenden, die H olbom nach dem Zw eiten W eltkrieg
in A ngriff nah m 33. Da der Gesam tentw urf in den fünfziger Jah ren entstand, soll hier
auch der dritte Band über die Jah re 1 8 4 0 -1 9 4 5 abgehandelt werden, obwohl er erst
1969 erschien. Für unseren Zusam m enhang ist zunächst das Vorw ort zum ersten
Band von Interesse, in dem H olborn auf seine eigene intellektuelle Entw icklung zu
sprechen ko m m t36. H ier erwähnt er den Einfluß seines Lehrers M einecke, der sein In ­
teresse für die G eistesgeschichte gew eckt, aber ihn zugleich an den verfassungsge­
schichtlichen Ansatz von O tto H intze herangeführt habe. D och, so fährt er fort, o b ­
wohl er sich dieser form ativen Einflüsse bewußt geblieben sei und sich im m er noch
als in der Tradition Rankes stehend sehe, seine späteren R eflexionen über die E n t­
w icklungen der dreißiger Jah re hätten ihn auch zu Ä nderungen seiner Perspektive
veranlaßt. V or allem habe ihm seine Transform ation in einen A m erikaner einen brei­
teren H orizont verm ittelt, vor dem er heute alles D eutsche und Europäische be­
trachte. N och entscheidender, so fügte er hinzu, sei seine wachsende Neigung gewe­
sen, historische V ergleiche zu ziehen und dadurch die deutsche G esch ichte in anderen
Proportionen zu sehen. N icht zuletzt hätten die Ereignisse im D ritten R eich ihn zu ei­
ner Revision vieler A nsichten gebracht, auch wenn er die Behauptung scharf zurück­
wies, daß alle D eutschen aufgrund ihrer Charakterstruktur böse seien. E benso sei es
falsch anzunehm en, die deutsche Geistestradition sei früh durch ein überzogenes
M achtdenken vergiftet worden.
Ü ber seine M ethodologie schreibt H olborn, daß der 'Rankeanism us m it seiner ein ­
seitigen Präferenz für die G roße Politik kein ausreichendes Verständnis für historische
Entw icklungen verm itteln könne. A uch der geistesgeschichtliche Ansatz sei zu b e ­
grenzt. V ielm ehr kom m e es darauf an, den M enschen in allen seinen E xistenzkam pf­
lagen zu analysieren, d. h. in seinen m ateriellen Lebensum ständen, in seiner A useinan-
35 Hajo Holborn, A History of M odem G erm any, 3 Bde. (New York 1 9 5 9 -6 9 ).
36 Ebd., Bd. 1, X ff.
252
V o lk er ßergh ah n
dersetzung m it der bestehenden sozialen und politischen O rdnung wie auch in seine
V ersuchen, seine begrenzte W e lt geistig zu transzendieren. D eshalb kom m e es darauf
an, über die Politik- und Verfassungsgeschichte hinauszustoßen einerseits zur Sozial
und W irtschaftsgeschichte und andererseits zur G esch ichte der Religionen und geisti
gen Bewegungen.
D iesem Program m entsprechend beginnt auch der dritte Band H olbom s m it einer
A bhandlung der w irtschaftlichen und sozialen K räfte der 1840er Jah re, bevor er sich
den politischen und geistigen Bew egungen zuwendet, die von diesen „K räften“ da­
mals hervorgebracht w urden37. N icht weniger bezeichnend für H olborns Ansatz ist es
aber, daß alle diese T h em en unter der G eneralüberschrift „Liberalism us und Nationa­
lismus, 1 8 4 0 -1 8 7 1 “ erscheinen. N och deutlicher wird die Grundperspektive im zwei­
ten Teil des Buches, das den T itel „Das Zeitalter des Im perialism us, 1 8 7 1 -1 9 4 5 “ trägt
H ier beginnt der A u tor m it einem Ü berblick der internationalen K onstellation der
1870er Jah re, dem eine Analyse der Bism arckschen Innenpolitik folgt. Daran wieder
schließt sich ein A b sch n itt über die w ilhelm inische A ußenpolitik an, und erst hier­
nach stößt H olbom zu einer U ntersuchung des w irtschaftlichen und sozialen Lebens
im K aiserreich vor, in dem Bevölkerungsentw icklung, Landwirtschaft und Industrie in
ihren verschiedenen „Stufen ökonom ischen W achstu m s“ diskutiert werden. Doch
selbst in diesem T eil achtet der A utor darauf, w irtschaftliche Strukturfaktoren nicht
die Überhand gegenüber den geistigen gewinnen zu lassen. Das K apitel enthält zu­
gleich viel Material über Bildung, K ultur und G eistesleben. Einer R eih e von K ü n st­
lern und G elehrten ist sogar ein eigener biographischer U nterabschn itt gewidmet. Ins­
gesam t zeichnete H olborn ein außerordentlich differenziertes Bild der deutschen E n t­
wicklung, das sich von Taylors Verallgem einerungen über „die D eu tsch en “ bewußt
entfernt.
Darüber hinaus sieht er die m oderne deutsche G esch ichte in einem R ahm en, der
seinerzeit die am erikanische G eschichtsschreibung über D eutschland zu dom inieren
begann: Das Versagen des Bürgertum s, das den Liberalism us „verriet“ und sich dem
Chauvinismus und Illiberalism us hingab. Obwohl gegenüber dem „Pseudokonstitutionalism us“ Bism arcks grundsätzlich kritisch eingestellt, gilt H olbom s eigentliche V er­
achtung dem deutschen Bürgertum , das dieses politische System n ich t zerbrochen
habe, als es 1890 in die H ände von Nachfolgern fiel, die seiner M einung nach weitaus
schw ächer waren als der Eiserne K anzler. W andel sei auf zwei W egen denkbar gewe­
sen, näm lich entw eder durch eine A llianz größerer bürgerlicher G ruppen m it der S o ­
zialdem okratie oder durch eine m ilitärische Niederlage der preußisch-deutschen A r­
m ee als der Bastion des Status quo. D ie erste Lösung wurde nie erreich t; die zweite
verwirklichte sich 1918, freilich m it gefährlichen und schließlich katastrophalen R ü ck ­
wirkungen. H olb om nim m t das Liberalism us-Them a m ehrm als auf, so auch am Ende
seines Buches, wo er sch reib t38: „Bism arck is always accused of having stymied the li­
beral developm ent of G erm any. This is true, but it should not be forgotten that Ger-
37 Ebd., Bd. 3, passim.
38 Ebd., 8 1 2 .
A ngloam erikan ische H istoriker und m oderne deutsche G esch ich te
253
man liberalism was a relatively willing v ic tim .... Nationalism becam e the com m on denom inator between the old ruling classes and the new dom ineering elem ents of G er­
man industrialization, with the latter proving to be the m ore dynam ic force in transform ing G erm an nationalism into an aggressive im perialism .“ D ieser Nationalism us
der O ber- und M ittelklassen habe dann 1914-1918 einen ersten H öhepunkt erreicht.
Niederlage, Revolution und H offnungen auf einen W ilson-Frieden hätten danach das
Bürgertum zeitweilig für die D em okratie gewonnen und es in T eilen bereit gem acht,
eine Verständigung m it der A rbeiterbew egung zu suchen. D och sei dies nur ein kur­
zes Zw ischenspiel geblieben. Bald sei der Nationalism us erneut und in einer Form
hochgekom m en, die noch explosiver war als zuvor, weil innere und äußere Feinde
noch m ehr als im Ersten W eltkrieg in eine gem einsam e Front gestellt wurden. Die
Große Depression der dreißiger Jah re habe diese nationalistischen Leidenschaften wei­
ter angefacht. W ahrscheinlich, so schließt H olbom , hätten die traditionellen Füh­
rungsschichten am liebsten die Errichtung eines autoritären Regim es durch A rm ee
und Bürokratie gesehen. D och dann sei 1931/32 im m er klarer geworden, daß die par­
lam entarische Republik nur m it H ilfe einer Massenbewegung zu zerstören gewesen
sei. Das auf deren Trüm m ern zu schaffende Regim e mußte sich als Repräsentant aller
Sch ichten darstellen können. Dies, so folgert H olborn schließlich, sei dann der H aupt­
grund dafür gewesen, daß das H itler-R egim e 1933 von den D eutschen akzeptiert wor­
den sei.
Es lohnt sich, die bisher zitierten Thesen H olborns kurz zu überdenken und m it
seiner Biographie in Beziehung zu setzen. Schon 1926, als er in H eidelberg einer der
jüngsten Privatdozenten D eutschlands wurde, sah er sich als Liberaler, der die W eim a­
rer Republik offen unterstützte, und in der K rise nach 1930 tat er dies sogar so unein­
geschränkt, daß er nunm ehr für ein Bündnis m it der S P D eintrat. Zugleich kämpfte
H olbom aktiv gegen den nationalsozialistischen Irrationalismus und T otalitätsan­
spruch. A ls dieser K am pf A nfang 1933 auch für ihn verloren ging, wanderte er sofort
aus. D ie H offnungen, die er in den zwanziger Jah ren für sein Land gehegt hatte, ver­
kehrten sich jetzt zu Enttäuschungen, die von ihm nach rückwärts in die V ergangen­
heit projiziert wurden und ihn zu seiner These eines bis ins späte 19-Jahrhundert zu­
rückgehenden politischen Versagens des deutschen Bürgertum s gelangen ließen.
Sch on damals, so glaubte er jetzt, habe sich das Bürgertum gegenüber den ökono­
m isch absteigenden Agrariern als politisch schwach erwiesen, während die S P D noch
unreif gewesen sei. Diese S ich t der m odernen deutschen G esch ichte erleichterte es
H olbom , sich um so vorbehaltloser angloam erikanischen Postulaten von Liberalismus
und D em okratie zu öffnen, schien hier doch ein Bürgertum entstanden zu sein, das
n ich t versagt hatte. V ielm ehr hatte es sich inzwischen nicht nur im Innern durchge­
setzt, sondern bot anschließend auch dem D ritten R eich die Stirn, wo der Illiberalis­
mus zur Barbarei degeneriert war. M ochten in H olborns neuer H eim at und sogar an
seiner renom m ierten A lm a Mater m ancherlei illiberale Tendenzen festzustellen sein,
entscheidend war für ihn, daß die W aage zur liberalen Seite hin geneigt blieb, während
sich in D eutschland inzwischen die G egenkräfte durchgesetzt hatten.
H atten, wie H olbom im Vorw ort zum ersten Band seiner Trilogie hervorgehoben
hatte, seine am erikanischen Erfahrungen seinen H orizont und seine wissenschaftli­
254
V o lk er Berghahn
chen Interessen erheblich erweitert, so galten auch für sein Verständnis von D em oktie und Liberalism us sehr deutlich angloam erikanische M aßstäbe. Ebenso war er in sc;
nen m ethodischen Auffassungen über M einecke und H intze hinausgegangen, ohn
freilich seine geistigen W urzeln völlig gekappt zu haben. Sowohl seine diversen ande
ren B ücher als auch die O rganisation des dritten Bandes seiner G esch ichte Deutsch
lands weisen auf bestim m te Präferenzen hin. Und schließlich ist auch seine Analyse
des aufsteigenden Nationalsozialismus nicht eigentlich die eines Sozialhistorikers und
Soziologen, der sich in erster Linie für gesellschaftliche K o nflik te und Machtbalancen
interessiert. Statt dessen spricht er von den Beziehungen zwischen dem Nationalsozia­
lismus und „den D eu tsch en“ - einer soziologisch kaum präzisen K ategorie, die der
heutigen Forschung nich t genügen würde. Zudem glaubt H olborn, daß der Nieder­
gang der Bildung in D eutschland als Erklärung fruchtbar sei, warum H itler so viele
Stim m en angezogen habe und warum so viele D eutsch e bereit gewesen seien, vor den
späteren V erbrechen die A ugen zu schließen. D och bei aller A blehnung demokrati­
scher Institutionen und trotz ihres Nationalism us wollten, so setzte er hinzu, viele und
vielleicht sogar die m eisten H itler-W ähler von 1933 den Rechtsstaat nicht abgeschafft
sehen. A ndererseits sei es beschäm end gewesen, wie schnell selbst diejenigen, die das
System durchschauten, bereit gewesen seien, ihr Gewissen zu betäuben. Erst im Zu­
sam m enhang m it dem 20. Ju li 1944 bem ü ht sich H olborn wieder um eine konkrete
Differenzierung, die bezeichnenderw eise aber nicht soziologischer, sondern morali­
scher A rt ist und einer Q uantifizierung w eiterhin unzugänglich bleibt39: „The men
who participated in it were desirous of saving their country not only from further de­
struction through the war but also from annihilation of its moral fiber by a heinous re­
gim e. Many of them did not even fully care w hether they would succeed in their ac­
tion. They felt the point had been reached where it was necessary that som e Germans
should dem onstrate by the sacrifice of their lives before the world and history that the
sense of obligation to hum ane values had not perished in Germ any. W ith their deed
they laid a foundation stone for a new beginning of G erm an history in a world totally
changed by the events which H itler had brought on.“
Später, nachdem wir auf die A rbeiten einer jüngeren Em igrantengeneration einge­
gangen sind, werden wir die Sich t der m odernen deutschen G esch ichte, die solchen
Sätzen zugrunde lag, noch um eine tiefer liegende Interpretationsebene erweitern
müssen. H ier ist zusam m enfassend festzuhalten, daß die in diesem Teil des Aufsatzes
analysierten T extb ü ch er im V ergleich zu Taylor und Shirer deutlich andere Akzente
setzten. D eutschland wird nicht m ehr als eine m onolithische G esellschaft behandelt,
sondern als eine „Z w ei-Seelen“-K u ltu r betrachtet. Bei den am erikanischen Sozialwis­
senschaftlern bestanden ähnliche Tendenzen. W ie die Studien H ans K ohns über „The
M ind o f Germany“ oder die U ntersuchungen, die Hans Speier, Gabriel A lm ond, Da­
niel Lerner und Lewis Edinger seinerzeit im Aufträge der kalifornischen R A N D -C orporation begannen, zeigen, herrschte in den U SA ein großes Interesse an den Dingen,
die vor oder nach 1945 in den Köpfen diverser K ategorien von D eutschen vor sich
39 Ebd., 818.
A n gloam erikan ische H isto riker und m oderne deutsche G esch ich te
255
gingen40. Ideologiefragen waren T rum pf und stellten auch die Basis der intellectual
history dar. Zuerst war noch die V orstellung von einer „däm onischen“ Seite des deut­
schen Charakters verbreitet, die das „bessere“ D eutschland langsam verdrängte, bis ihr
durch die A lliierten, voran durch die A m erikaner, 1945 der Garaus gem acht wurde.
Das gute kulturelle Erbe Zentraleuropas kam damit erneut zum D urchbruch. Später
wurden solche Thesen dann weniger m ystisch und gruppenspezifischer form uliert,
sind aber selbst bei G ordon Craig n och aufzufinden, dessen G esch ichte Deutschlands,
wenn auch erst 1978 erschienen, bereits in den fünfziger Jah ren konzipiert war41:
„Adolf H itler was nothing if not thorough. He destroyed the basis of the traditional re­
sistance to m odernity and liberalism just as com pletely as he had destroyed the struc­
ture of the Rechtsstaat and dem ocracy. Because his work of dem olition was so com ­
plete, he left the G erm an people nothing that could be repaired or built upon. They
had to begin all over again, a hard task perhaps, but a challenging one, in the facing of
which they were not entirely bereft of guidance. For H itler had not only restored to
them the options that they had had a century earlier [in 1848 and 1866 V.B.], but had
also bequeathed to them the m em ory of horror to help them with their choice.“
M ochten die Ideen Taylors auch weiterhin Einfluß ausüben, es kann kein Zweifel
bestehen, daß die neuen T extb ü ch er der fünfziger und sechziger Jah re im Rahm en
von K ursen zur deutschen G esch ichte an angloam erikanischen U niversitäten und
Colleges auf die zukünftigen Eliten der Länder zu wirken begannen. Für diese Stud en­
ten, nich t aber für deutsche K ollegen und deren Studenten waren diese Bücher ge­
schrieben. Dies scheint m ir ein entscheidender A spekt zu sein, der auch in der E in ­
flußgeschichte über andere D isziplinen bisher kaum durchdacht worden ist. W er da­
mals in Freiburg oder in G öttingen in den Vorlesungen und Sem inaren saß, bekam
ein Bild der deutschen G esch ichte verm ittelt, das von G. Iggers u.a. näher untersucht
worden ist und selbst m it dem revidierten angloam erikanischen Bild allenfalls an eini­
gen Punkten in Einklang zu bringen war.
Englischsprachigen Lesern war auch eine dritte K ategorie von Studien zur deut­
schen G eschichte gew idm et, die nun im letzten T eil dieser U ntersuchung über anglo­
am erikanische D eutschlandbilder analysiert werden soll. D iese Studien waren vor al­
lem durch drei M erkm ale gekennzeich net, deren Bedeutung dann abschließend her­
ausgearbeitet werden soll. V o m G enre her handelte es sich weder um historische Spe­
zialm onographien noch um T extb ü ch er der bisher vorgestellten A rt. V ielm ehr waren
es Bücher, die breiter angelegt und m it schärferer Thesenführung auf die Beziehung
von „M assen“ und „E liten“ seit dem 18.Jahrhu nd ert eingingen. D iese Beziehung wird,
zweitens, nicht im ökonom ischen oder sozialen Bereich untersucht, sondern im ideo­
logisch-politischen und „kulturellen“. D ie A utoren dieser Studien sind, drittens, E m i­
granten, die als Jug end lich e D eutschland verlassen m ußten. Sie erhielten ihre akade­
40 H ans Kobn, T he Mind of G erm any (London 1 9 6 2 ); Hans Speier und William P. Davison
Edinger, K urt
(Hrsg.), W est G erm an Leadership and Foreign Policy (Evanston 1957); Lewis J
Schum acher. Persönlichkeit und politisches Verhalten (Köln 1967).
41 Gordon A. Craig, Germ any, 1 8 6 6 -1 9 4 5 (O xford 1 978) 7 6 4 .
256
V o lk er Berghahn
m ische A usbildung in den späten vierziger und frühen fünfziger Jah ren in Amerik
und standen dabei direkt oder indirekt häufig unter dem E influß einer älteren Ern''
grantengeneration.
Aus dieser Gruppe, die in A m erika schließlich in die akadem ische Historiographie
nachrückte, werden hier nur zwei A utoren ausgewählt: G eorge Mosse und Fritz Stern
Beide schrieben nich t nur einflußreiche Bücher, die von vielen angloam erikanische
Studenten gelesen wurden, sondern sie sind auch besonders prononcierte Vertreter ei
nes cultural history A nsatzes. Bei genauerem H insehen handelt es sich freilich nicht
um eine Perspektive, die im V ergleich zu H olbom neu gewesen wäre und sich von
den Sozialw issenschaften und speziell von der Sozial- und Kulturanthropologie hätte
inspirieren lassen. A llenfalls Mosse interessierte sich für diese D isziplinen, und auch
dies nur später. Eher handelte es sich um eine Fortentw icklung jen er „intellectual his­
tory“, die von H olborn u.a. inzwischen in A m erika aus einer durch die Analyse sozialer
Bewegungen erw eiterten G eistesgeschichte geschaffen worden war.
M osse, der bekannten Berliner jüdischen V erlegerfam ilie entstam m end, war 1939
als K ind in die U SA gek om m en 42. Seine Studien hatte er zuerst als undergraduate am
Haverford College aufgenom m en, ehe er seine D oktorarbeit an der Harvard Universi­
tät begann. Er wählte ein frühneuzeitliches Them a der englischen G eschichte, das
1950 unter dem T itel The Struggle fo r Sovereignty in England: From the Reign o f Queen
Elizabeth to the Petition o f Right erschien. Im Jah re 1955 zog er dann von der Univer­
sity of Iowa, seiner ersten D ozentenstelle, nach M adison/W isconsin um. Dadurch er­
gab sich für ihn die G elegenheit, seine Forschungsinteressen in die N euzeit zu verla­
gern. Allerdings blieb sein Ansatz seinen früheren Studien deutlich verpflichtet. Nach­
dem er 1957 The Holy Pretence: A Study in Christianity a n d Reason o f State from Wil­
liam Perkins to John Winthrop veröffentlicht hatte, kam vier Ja h re danach sein Buch
The Culture o f Western Europe heraus. Später gab er erläuternd dazu an: „I really knew
very little of the period after 1700. I wrote an article w hich w ent into the eighteenth
century, but it was on puritanism , which was part of my interest, and casuistry and the
Reform ation, all m atters which occupied me. ... The theology I worked on was above
all concerned with popular piety, and popular piety and m od em ideology are not so
far removed from each other. Finally, my really passionate interest during the late fif­
ties ... - the baroque - is directly relevant to modern mass m ovem ents, their theatri­
cality and all that goes with it. So I wouldn’t say there is a m ajor break. I would say
that there is a continuity of interest. M oreover, if I look at the work of my students
(and I have had students in all these periods) it com es out very clearly that their con ­
cern is with the problem of myth and reality, if you like, between asthetics and politics,
or theology and politics. T h e books of my students reflect very clearly an interest in
the myths people live by, their political relevance, and the penetration of these myths
by reality.“ A nders form uliert, glaubte Mosse, sich m it Problem en zu beschäftigen, die
zeitlos waren und sich über die Jahrhun derte hinweg nicht stark veränderten. H atte er
42 Hierzu und zum Folgen den: George L. Mosse, Nazism. A Historical and Com parative Analysis
of National Socialism (Interview m it M ichael A. Ledeen) (O xford 1978) 2 Iff., Z itat 2 7 f.
A n gloam erikan ische H isto riker und m oderne deutsche G esch ich te
257
es bis dahin unm öglich gefunden, sich aus psychologischen G ründen der deutschen
G esch ichte zuzuwenden, die von ihm form ulierten, „im m er gültigen“ Fragen erleich­
terten ihm den nun erfolgenden Übergang. H inzu kam freilich eine Faszination für
M einecke und dessen Idee des M achtstaats, den er später zusamm en m it Benedetto
Croce (m it seinem K onzep t von der Totalität der G eschichte), jo h a n Huizinga (mit
seinem K onzep t des Mythos) und G eorge L ichtheim (m it seinem hegelianischen A n ­
satz) als seinen geistigen V ater nannte.
A uf dieser intellektuellen Basis und unter Zurückweisung der Position Taylors und
Shirers entw ickelte M osse in seinen ersten Büchern über Deutschland Fragestellun­
gen, die letztlich - wie bei so gut wie allen seinen K ollegen auch - um das Phänom en
des N ationalsozialismus kreisten. E r m einte, die W urzeln für H itlers Erfolge in der S o ­
zial- und K ulturgeschichte D eutschlands suchen zu müssen. Dabei interessierte ihn
n icht so sehr eine kleine, kulturelle E lite als vielm ehr die W irkung von Ideen auf eine
Ö ffentlichkeit, die lesekundig, aber nicht notwendigerweise gebildet war. Cultural his-
tory, so plädierte Mosse, müsse sich m it Fragen der breiten und politisch durchschla­
genden M assenkultur beschäftigen. A uch der Nationalsozialismus ist für ihn ein derar­
tiges kulturelles M assenphänom en. Bedeutsam für Mosses Ansatz ist des weiteren
seine „D ialektik“, gerade wegen ihrer so besonderen Art. D enn zum einen verfolgt er
die W echselbeziehung von M ythos und W irklich keit weiter. A ber es gibt für ihn auch
eine gewissermaßen diachronische „D ialektik“ zwischen gegensätzlichen Z eitströ­
m ungen, die durch K ontinuität und D iskontinuität oder genauer durch K ontinuitäten
und deren Aktivierung bzw. V erschüttung charakterisiert ist. W ech selseitig aktiviert
bzw. verschüttet wurden Mosses Auffassung zufolge besonders in D eutschland R atio­
nalism us und Irrationalism us, Liberalism us und Nationalismus, Individualismus und
K ollektivism us. V or diesem H intergrund werden nun die Titel der Bücher verständ­
lich, die M osse seither zur deutschen G esch ichte veröffentlicht hat: The Crisis o f Ger­
man Ideology: Intellectual Origins o f tbe Third Reich (1964); The Nationalization o f the
Alasses. Political Symbolism and Alass Movements in Germany from the Napoleonic
Wars Through the Third Reich (1975) und die D okum entenedition N azi Culture. Intel­
lectual, Cultural and Social Life in the Third Reich (1966). Insgesam t wird der Natio­
nalsozialismus hier als eine Bewegung gesehen, der es gelang, die sich seit dem
19.Jahrhundert anbahnende V erbindung von Massen und Nationalismus zu vollenden
und zusamm en m it einem dritten Traditionsstrang, der „M ittelklassenm oral“, in sei­
nen D ienst zu nehm en. Das 1975 erschienene Buch The Nationalization o f the Alasses
stellt eine Fortentw icklung seines früheren Ansatzes dar und liegt außerhalb unseres
U ntersuchungszeitraum s. H ier sollen daher nur seine Bücher aus den frühen sechziger
Ja h ren analysiert werden.
Mosses The Crisis of German Ideology dreht sich um die Inhalte der N S-Ideologie
sowie um die Frage, warum so viele an sich ganz norm ale Erwachsene von ihr einge­
fangen wurden43. Insgesam t sieht er zwar auch den Nationalsozialismus im Zusam -
43 George L Alosse, T he Crisis of G erm an Ideology. Intellectual Origins of the Third Reich (L on­
don 1964) passim.
258
V o lk er Berghahn
m enhang m it dem A ufstieg faschistischen Ideenguts in anderen europäischen Lati
dem . Alle diese Bew egungen hätten eine U nzufriedenheit des Bürgertunis mit de
ökonom ischen und politischen W irklich keit in einem neuen „positiven“ Revolutionis
mus zu m obilisieren versucht. D en n och habe die N S-„R evolution“ etwas spezifjscu
D eutsches an sich gehabt. Sie sei tief in einer engen „m ystischen“ Ideologie befangen
gewesen. V or allem war es in D eutschland eine Revolution, die Ideen von Volk, Natur
und Rasse eine im m er stärkere Schlüsselstellung eingeräum t und die es H itler schließ
lieh erm öglicht habe, diese Revolution in eine „anti-jüdische“ zu transform ieren.
D ie K rise, durch die diese spezielle „deutsche Revolution“ ausgelöst worden sei
setzt Mosse auf die 1870e r Jah re an. Dam als sei das m oderne industrielle Deutschland
geboren worden, wogegen sich bald eine antim odernistische Bew egung erhob. Diese
Bewegung rebellierte gegen die entstehende Zivilisation und propagierte eine Rück­
kehr zu einer „deutschen K u ltu r“. N icht weniger bedeutsam sei es, daß die Bewegung
nicht von den U nterschichten ausging, sondern von Leuten, die Besitz und Status ge­
genüber den „arbeitenden K lassen“ hätten erhalten wollen. D em entsprechend ist das
Buch nicht allein eine genauere Analyse der „deutsch-revolutionären“ völkischen
Ideologie; vielm ehr geh t es auch der Frage nach der sozialen Basis dieser Ideologie
nach. M osse zufolge erhielten die Nationalsozialisten ihren größten Zulauf von den
G ebildeten, während M illionen von D eutschen, die m eist links standen, von der völki­
schen Ideologie niem als eingefangen worden seien. D och gab es noch weitere M illio­
nen, und das waren diejenigen, die über die M illionen auf der Linken am Ende obsieg­
ten oder zum indest durch ihre Zustim m ung den N ationalsozialisten den Trium ph er­
leichterten.
Mosse bem üht sich also durchaus, soziologische D ifferenzierungen vorzunehmen
und untersucht dem entsprechend alle jene Gruppen und O rganisationen, die nach
und nach völkisches G edankengut in sich aufgenom m en haben sollen. Letztlich
schliddert er aber d ennoch in eine reichlich unscharfe Interpretation, die von Sorel
und Le Bon inspiriert ist. Ganz deutlich ist dieser Prozeß anhand seiner Edition von
D oku m enten über N azi Culture zu erkennen44. D ort bezieht sich M osse zum einen
ausdrücklich auf Sorels A rgum ent, daß alle großen Bew egungen durch M ythen vor­
wärts getrieben würden. D iesen G edanken verbindet er sodann m it Le Bons These
vom K onservatism us der M assen, die stark traditionsorientiert seien. H itler habe
schließlich den traditionellen deutschen Nationalismus und die Sehnsucht nach den
festen Beziehungen der alten Z eit genom m en und sie als Bindem ittel seiner M assen­
bewegung benutzt. M it seiner V erbreitung des „M ythos“ habe H itler die Vorhersage
Le Bons bestätigt, daß es m agischer K räfte bedürfe, um die M assen zu kontrollieren.
H itler selbst, so fügt Mosse hinzu, habe über die massensuggestiven und „lithurgischen“ A spekte seiner Bew egung gesprochen und habe sich durch seine Erfolge in sei­
nen A nsichten bestätigt gefühlt.
Dabei, so fuhr Mosse fort, sei es nich t notwendig nachzuweisen, daß H itler Sorels
oder Le Bons Bücher gelesen hat: „The point is that all of them were expressing the
44 George L. Mosse (Hrsg.), Nazi Culture. Intellectual, Cultural and Social Life in the Third Reich
(London 1 9 6 6 ) X X III ff.
A n gloam erikan ische H istoriker und m oderne deutsche G esch ich te
259
problem s of the mass society which the Industrial Revolution had produced and the
doubts about the rationality of hum an nature which cam e with what Le Bon called the
,era of crowds'. ... T h e irrational behavior characteristic of a mass society had been
clearly formulated by the end of the nineteenth century, and the actual behavior of the
crowds during the Dreyfusard struggles in France and during the first big anti-Sem itic
wave in Germ any bore out the theories. In the world that industrialism had produced,
the individual was alienated not only from his society but also from his rational nature.
This was the all-encom passing problem , and Sorel as well as Le Bon envisioned the
specter of a wild irrationality w hich had to be directed by a leader into positive, co n ­
structive channels. ... H itler’s understanding of this approach enabled him to take the
road to power in a nation ravaged by crises and defeat. T he use of basically irrational
prejudices and predilections helped to bring about the acceptance of the G erm anic
world view which was H itler’s solution for ending the modern alienation of man. For
exam ple, H itler believed the mass m eeting necessary because it enabled m an to step
,out of his workshop', in w hich he feels small, and to becom e part of a body of .thou­
sands and thousands of people with a like conviction'. Thus he succum bs to mass sug­
gestion. A lienation was to be exorcised, but the irrationality of hum an nature was basic
to H itler’s own view of the world. T h e m eetings were liturgical rites, staged with close
attention to detail and purpose.“
A llerdings, so schrieb M osse weiter, erfolge die K analisierung der M assenbewegung
nich t nur auf Großveranstaltungen, sondern auch auf allen anderen G ebieten einer
neuen Massenkultur. Eine solche „Totalkultur“ ziele sodann darauf, die nationalisti­
schen Instinkte des V olkes anzuregen, ihnen zu einer Überwindung ihres Einsam ­
keitsgefühls zu verhelfen und ihre schöpferischen Energien auf die Problem e von
Rasse und Boden hinzuorientieren. Gerade an Mosses N azi Culture wird deutlich, wie
sehr ihm jegliche soziologische Präzision zwischen den Fingern zerrinnt. Im übrigen
wird in seinen Schriften im m er wieder folgendes evident: So sehr ihn Ideen und Ideo­
logien sowie deren Sch öpfer und M anipulatoren interessieren, der Schw erpunkt seiner
Studien liegt in der Analyse der W irkung solcher Ideologien auf die „M assen“. D aher
auch sein Interesse an V olksm ythen und -ritualen, an A nthropologie und am Ende gar
an C. G. Ju n gs Theorien.
Im Gegensatz zu Mosse stehen bei Stern m ehr die Erfinder und V erbreiter von
Ideologien im M ittelpunkt. Ihm ging es darüber hinaus um eine Erklärung der D iver­
genz Deutschlands vom W esten, als er 1961 seine A rbeit über The Politics o f Cultural
Despair. A Study in the Rise o f the Germanic Ideology veröffentlichte45. S tem stand zu­
nächst unter dem Einfluß Jacq u es Barzuns, der 1937 seine U ntersuchung über Race. A
Study in Modern Superstition abgeschlossen hatte46, sowie Lionel Trillings, der 1946
seine kulturkritische M ethode als „die dunkle und blutige K reuzung“ bezeichnet
hatte, „an der sich Literatur und Politik treffen“47. A uch Stern bewegte sich m it seiner
45 Berkeley 1961.
46 New Y o rk 1937.
47 Z u T rillin g sieh e: M ark Krupnick, Lion el T rillin g and the Fate of Cultural C riticism (N orth­
w estern U niversity Press 1986).
260
V o lk er Berghahn
A rbeit an dieser K reuzung und bem ühte sich, angeregt durch Peter Gay und Richaitj
H ofstadter, zugleich die psychologische D im ension einzubringen. Allerdings arbeitete
er nicht, wie Mosse, m it m assenpsychologischen und anthropologischen Kategorien
O bw ohl auch an der Breitenw irkung von Ideen und den W urzeln des Nationalsozialis
mus interessiert, bildeten die kulturkritischen Schriften von drei deutschen Publi2;
sten - Lagarde, Langbehn und M oeller van den Bruck - den Ausgangspunkt seiner
Analyse. Soweit es den E influß der drei betraf, stellte er die These auf48: „A thousand
teachers in republican G erm any who in their youth had read and worshipped Lagarde
or Langbehn were ju st as im portant to the trium ph of National Socialism as all the pu­
tative m illions of marks that H itler collected from G erm an tycoons.“ D enn och sah
Stern sein Buch in erster Linie als eine Studie zur „Pathologie von K ulturkritik“. Ziel
seiner A bhandlung Langbehns, Lagardes und M oellers war es, die D ilem m ata und G e­
fahren einer bestim m ten A rt von K ulturkritik offen zu legen. A lle drei waren seiner
M einung nach näm lich nicht nur D iagnostiker einer kulturellen K rise, sondern auch
Propheten, die für eine nationale W iedergeburt arbeiteten und dabei in einen nationa­
listischen U topism us verfielen. Ihre A ttacke, so fährt Stern fort, richtete sich vor allem
gegen den Liberalism us, aus dessen A blehnung heraus sie sodann ihr antim odem istisches Gedankengebäude m it seinen völkischen und antisem itischen Elem enten er­
richteten. Es entspricht seinem Interesse an Eliten, daß er dem biographischen Aspekt
erheblichen Raum gibt. A lle drei K ritiker, schreibt Stern, hätten ihre Schriften aus ei­
genen Leiden und Erfahrungen heraus verfaßt. D aher auch sein R ückgriff auf die Psy­
chologie in der A bsich t, auf die Bedeutung eines neuen Typus von K ulturkritiker hin­
zuweisen, der das Eindringen unpolitischen Gedankenguts in die Politik gefördert
habe. D o ch was im m er die Pathologie seiner drei A utoren auch gewesen sein mag, für
ihn waren sie zugleich (kranke) A nalytiker einer partiell kranken Gesellschaft. Insofern
waren ihre A rbeiten ein A usdruck einer K ulturkrise, die schließlich ins D ritte Reich
führte. H itler sei es am Ende gelungen, M illionen von U nzufriedenen hinter sich zu
sam m eln, von deren Existenz Langbehn, Lagarde und M oeller lange gesprochen hat­
ten und für deren Erlösung sie gefährliche und vergängliche Ideale entw ickelt hatten.
Es ist nicht m öglich, den ganzen Facettenreichtum der A rbeiten von Mosse und
Stern im einzelnen vorzuführen. D ie Grundlinien ihrer A rgum entation sowie ihre
analytischen W erkzeuge dürften aber hinreichend vorgestellt worden sein. W ir haben
dam it den Punkt erreicht, an dem die Analyse auf jene tiefer liegende E bene verlagert
werden kann, auf die w eiter oben bereits kurz hingewiesen wurde. Den Zugang zu
dieser E bene eröffnet die ebenfalls schon hervorgehobene Tatsache, daß die hier auf­
geführten angloam erikanischen H istoriker nich t für ihre deutschen K ollegen schrie­
ben. V ielm ehr wandten sie sich in oft schw er fließendem Englisch an eine Leserschaft
in ihrer neuen H eim at, die sie nich t wieder verlassen wollten. D am it entsteht die
Frage, ob sie für ihre Landsleute irgendeine „Botschaft“ hatten, die aus ihrer intensi­
ven Beschäftigung m it der deutschen G eschichte, aber auch aus ihrem Em igranten­
schicksal gew onnen war. Folgt man den Aussagen, die M osse 1978 m achte, so bestand
48
Fritz Stern, T h e P olitics o f Cultural D espair (B erkeley 1961) 2 9 1 .
A n gloam erikan ische H isto riker und m oderne deutsche G esch ich te
261
kein Bezug zwischen seinen Faschism usstudien und der Situation in A m erika49. Auf
die G efahr eines am erikanischen Faschism us direkt angesprochen, wies er diese M ög­
lichkeit weit von sich. Es gebe in A m erika keine Tradition, an die eine faschistische
Bewegung anknüpfen könne. Zudem , so erklärte Mosse weiter, fehle es in den V erei­
nigten Staaten an ethnischer E in heitlich keit und einem integralen Nationalismus.
Dagegen stelle Europa einen etwas anderen Fall dar. Zwar glaubte er nicht, daß der
Nationalsozialism us noch lebendig sei; aber sein „dialektisches“ Modell von ideologi­
scher V erschüttung und potentieller Reaktivierung ließ die Zukunftsentw icklung
gleichw ohl offen. So war es nur konsequent, wenn auch analytisch zweifelhaft, wenn
Mosse in der Studentenbew egung der sechziger Jah re wieder eine Betonung von M y­
then, Prozessionen und Sym bolen zu entd ecken m einte. D iese Bewegung, so fügte er
hinzu, sei antiliberal, antiparlam entarisch und bis zu einem gewissen Grade auch anti­
rational. A uch vorhandenes rassistisches Gedankengut hielt er nich t für tot. Zwar habe
es nach Auschwitz hinsichtlich des A ntisem itism us eine Ruhepause gegeben; aber
dieses M oratorium habe nie für Schwarze gegolten und sei neuerdings auch bezüglich
der Ju d en , zum indest in Frankreich, wieder aufgehoben worden. O bwohl M osse in
D eutschland nur sehr geringe rassistische Ström ungen zu entdecken verm ochte, lebte
der europäische A ntisem itism us seiner M einung nach fort. D am it zog er 1978 zu­
gleich einen Trennungsstrich zwischen Europa und A m erika, soweit es die histori­
schen Potentiale und die M öglichkeit einer W iederholung der G esch ichte betraf.
W as im m er ihn zu dieser optim istischen Einschätzung der Situation in den USA
veranlaßt haben mag, hätte er vor seinem Interview m it M ichael Ledeen seine ersten
Bücher über D eutschland noch einm al durchgeblättert, dann wäre ihm klar geworden,
daß er früher anderer M einung war. Zwar spricht er in N azi Culture davon, daß die
W e lt H itlers für im m er versunken sei, m eint zugleich aber, daß die Grundvorstellun­
gen und Vorurteile, die in diese W e lt Eingang fanden, w eiterhin lebten 50. M ehr noch:
sie warteten darauf, gewisserm aßen „dialektisch“ aktiviert und in das Bewußtsein der
Massen hineingelenkt zu werden. D enn für viele sei eine „geistige R evolution“ nach
wie vor attraktiver als konstanter sozioökonom ischer W andel, der das Chaos m it sich
bringen könnte. D er N ationalsozialismus, so fährt Mosse fort, illustriere die Gefahren,
die hinter der Fassade eines Konservatism us lauerten. D enn der m oderne K onserva­
tism us sei für extrem istisches Gedankengut sehr anfällig. Dies zeige sich n ich t nur bei
den französischen G aullisten; auch ein großer Teil des am erikanischen K onservatis­
mus sei von bedenklichen Einstellungen durchzogen und wolle die alten, durch die
M oderne aufgelösten W erte w iederbeleben. N och deutlicher form ulierte M osse seine
damaligen Sorgen für die Gegenw art in seinem Buch The Crisis o f German Ideology.
V ölkische Ideen, so schreibt er dort, seien unter der O berfläche weiterhin vorhanden
und für jene K risenzeiten anw endungsbereit, die die M enschheit fortwährend hervor­
rufe31. In den U SA , zum Beispiel, verträten weiße Segregationisten völkische Ideen
und versuchten die gegen Schwarze bestehenden Vorurteile m it antisem itischen zu
Mosse, Nazism (Anm . 42), 127 f.
Mosse, Nazi Culture (A nm . 44), X L I, X X V II.
51 Mosse, Crisis (A nm . 43), 9 f.
<9
50
262
V o lk er Berghahn
verschm elzen. W eiterhin hofften diese Gruppen, die am erikanische R ech te in dersel
ben W eise zu durchdringen, wie die V ölkischen es einst m it der politischen Rechten
in Deutschland getan hätten. Zwar, so fügte M osse hinzu, heiße es im m er, die Ge
schichte wiederhole sich n ich t; aber man dürfe nie vergessen, wie völkische Splitter­
gruppen vor 1933 die Institutionen Deutschlands infiziert und eine bestim m te Stim ­
m ung verbreitet hätten, bis die Z eit zum großen D urchbruch schließlich reif war. Mö­
gen die Flam m en im A ugenblick auch klein sein, das Feuer könne dennoch wieder
auflodern. Es sei nur zu hoffen, aber nicht m it Sicherh eit vorherzusagen, daß die völki­
sche Ideologie nirgends in der W elt während einer geistigen oder politischen Krise er­
neut als Lösung dienen werde.
A uch bei Stern wird bei näherem H insehen klar, daß seine A nalyse der Politics of
Cultural Despair und des Rise o f the Germanic Ideology nur vordergründig eine U nter­
suchung zur m odernen deutschen G esch ichte ist. W ie für M osse der Faschism us, so
ist für Stern der K ulturpessim ism us und die Konservative Revolution ein allgem ein­
europäisches historisches Phänom en. Seien nationalistische Ideologen doch in allen
europäischen Ländern fast gleichzeitig aufgetaucht, w enngleich die Konservative R e ­
volution nur in D eutschland zu einer durchschlagenden politischen und geistigen
K raft geworden sei52. Selbst die Vereinigten Staaten, so m eint Stern, seien gegen die
G efahr nicht im m un gewesen. Jedenfalls ist er bereit, bestim m te Form en des amerika­
nischen Populismus als T eil der ideologischen Ressentim entsbew egungen des späten
19. und frühen 20.Jah rhu nd erts zu begreifen. N och w eniger sei die „K rankheit“ aber
1945 plötzlich verschwunden. V ielm ehr sei die R ebellion gegen die M oderne und den
Liberalism us in den w estlichen G esellschaften nach wie vor latent53. Ihr wirres utopi­
sches Program m, ihre irrationale R h etorik sei nicht w eniger ech t als die Aspirationen
liberaler Reform bew egungen. In Frankreich habe es nach dem Zw eiten W eltkrieg den
Poujardism us gegeben; A m erika habe die W elle des M cCarthyism us erlebt. Auch
Ende der fünfziger Ja h re, so schreibt Stern, besitze der K ulturpessim ism us in Amerika
noch eine erhebliche A nziehungskraft. V or der G efahr solchen Gedankenguts zu war­
nen, ist daher das tiefer liegende M otiv dieser historischen Studien über Deutschland.
Sind es die W arnungen von Liberalen, die Rationalität, K osm opolitism us, Offenheit
und Pluralismus, Industrialisierung, U rbanisierung und Säkularisierung befürworten,
d.h. alle jene A xiom e, die die von ihnen analysierten K ulturpessim isten von Lagarde
bis heute zurückgewiesen haben? In einem recht allgem einen Sinne ist dies gewiß z u ­
treffend. Die Frage ist jed och, ob man darüber hinaus zu einer differenzierteren Inter­
pretation gelangen kann, wenn man die Tatsache einkalkuliert, daß diese Studien von
H istorikern geschrieben wurden, die vor dem D urchbruch des Irrationalism us und Fa­
schism us in Europa während der dreißiger Jah re in A m erika Z u flu cht suchen mußten.
W ie die Z eit vor 1945 und auch die Nachkriegsweit von diesen Em igranten damals
gesehen wurde, m üßte im Detail (und gerade auch soweit es die H istoriker unter ih­
nen betrifft) aus ihren Privatpapieren, Aufsätzen und V orlesungsnotizen rekonstruiert
52 Stern, P olitics (A nm . 48), 2 6 8 f.
53 Ebd., X X I f.
A n gloam erikan ische H istoriker und m oderne deutsche G esch ich te
263
werden. An dieser Stelle können nur m ögliche A nsatzpunkte identifiziert werden.
D iese, so scheint es, lassen sich m it H ilfe von einflußreichen Büchern erfassen - B ü­
cher von aus Europa kom m enden A kadem ikern und Intellektuellen, die m it ihrer Begrifflichkeit eine bestim m te Zeitatm osphäre in A m erika ebenso widerspiegelten wie
form ten und dabei nicht zuletzt einen großen Einfluß auf die nächste G eneration aus­
übten. W ie wir sahen, tauchten sowohl bei Mosse als auch bei Stern bestim m te K o n ­
zepte auf. Sie beschäftigen sich m it den Problem en der „M asse“, der geistigen Eliten,
der Ideologie und der totalitären Bewegungen. Ihre Studien entstanden aber nicht in
einem Vakuum . Sie benutzten eine Begrifflichkeit, die damals in A m erika auch von
anderen A utoren benutzt wurde.
Als vielversprechender Einstieg in diese Materie sei hier H annah A rendts Buch The
Origins of Totalitarianism ausgewählt, das 1951 veröffentlicht wurde54. Ihre einflußrei­
che Studie griff ein K onzep t - Totalitarism us - auf, das nach dem Zw eiten W eltkrieg
das W o rt „Faschism us“ als Interpretationsansatz für die damalige Epoch e verdrängte.
W ie Stuart H ughes beobach tet hat, diente dieser Begriff in den späten vierziger und
frühen fünfziger Jah ren dazu, den A npassungsschock zu m ildem , den viele A ngloam e­
rikaner und Em igranten seinerzeit davontrugen, als sie sich nach dem Sieg über den
Faschism us m it dem Stalinism us als neuem Feind konfrontiert sahen55: „If it could be
proved that Nazism and C om m unism were very m uch the same thing, then the cold
war against the late ally could be justified by the rhetoric that had proved so effective
against the late enemy. A nd by the same token Fascist Italy ceased to be of m uch in­
terest: if it was the com parison between Nazi Germ any and the Soviet U nion that had
now becom e crucial, M ussolini’s looser rule could logically be dismissed as nothing
graver than a dramatic m anifestation of the already familiar phenom enon of pretotalitarian tyranny.“ D ie am erikanische Politikw issenschaft griff das K onzept auf und ver­
feinerte es in der Folgezeit zu einer Regim elehre. D ie klassische D efinition des T otali­
tarismus fand sich schließlich in dem Buch Totalitarian Dictatorship and Autocracy,
das 1956 von dem H arvard-Verfassungstheoretiker Carl Jo ach im Friedrich und dem
Sow jetologen Zbigniew Brzezinski veröffentlicht wurde56. Beide hielten totalitäre D ik ­
taturen für einen Regim etyp sui generis, der neu und ohne historische Vorbilder war.
V or allem aber glaubten auch sie, „that fascist and com m unist totalitarian dictatorships
are basically alike, or at any rate m ore nearly like each other than like any other system
of governm ent, including earlier form s of autocracy. ... They are [basically alike] in
terms of organization and procedures - that is to say in term s of structures, institutions
and processes of rule - , .. “57. Im w eiteren identifizierten Friedrich und Brzezinski
sechs M erkm ale, an denen sie m einten, totalitäre Regim e m essen zu können.
W ährend Arendts Totalitarism us-Begriff m it dieser D efinition generell überein­
stim m te, ist für die Beurteilung ihres Einflusses vorweg zu betonen, daß viele andere
54 New Y o rk 1951.
55 H. Stuart Hughes, T h e Sea C hange (N ew Y o rk 1 975) 120.
56 Carl J . Friedrich und Zbigniew Brzezinski, Totalitarian D ictatorsh ip and A u tocracy (C am ­
bridge, Mass. 1 9 5 6 ; h ier zitiert nach der Paperback-A usgabe 41969).
57 Ebd., 19.
264
V olker Berghahn
Em igranten gegenüber einer ausdrücklichen G leichsetzung von Faschism us und
K om m unism us skeptisch blieben. D iese Skepsis m ündete später in eine ausgedehnte
w issenschaftliche K ritik an Friedrich und Brzezinski, die ihre Regim etehre entweder
für gänzlich unbrauchbar erklärte oder sie nur auf den Nationalsozialism us anwenden
w ollte58. Im letzteren Sinne wurde er auch von Mosse verstanden, wenn er von
einem
totalitären nationalsozialistischen Staat sprach, der einer in der M itte ihres Netzes sit­
zenden Spinne gleich das gesam te Leben eines Landes kontrolliere.
Arendts Buch kann aber als repräsentative A rtikulation von zwei anderen Them en
gelten, die gerade auch die deutsch-jüdischen Em igranten in der am erikanischen H i­
storikerschaft bew egten: 1) D er A ntisem itism us m it seiner „Endlösungs“-K onsequenz; 2) Das Problem der „Masse“ und ihrer Beziehung zu den Eliten eines Landes
im Zeitalter extrem er Ideologisierung. Sow eit es das erstere Them a betrifft, ist es
kaum ein Zufall, daß A rend t unter den drei M assenbewegungen, die ihrer M einung
nach das Zeitalter des Totalitarism us vorbereiteten, den A ntisem itism us an erster
Stelle diskutiert. W ie sie 1950 in ihrem Vorw ort schrieb, wollte sie der him m el­
schreienden Tatsache des H olocaust ins G esich t sehen und verstehen, warum ein im
V ergleich zu anderen Fragen der W eltg eschich te geringfügiges Problem wie der A n ti­
sem itism us als K atalysator dienen konnte erst für die N S-Bew egung, später für einen
W eltkrieg und schließlich für die V ernichtungslager59.
Besonders für die D eutsch en ist es von jeh er nicht leicht gewesen zu begreifen,
welch ein Traum a die fabrikm äßige Erm ordung von sechs M illionen Ju d en für die
Ü berlebenden des H olocaust bedeutete; warum z.B. auch H annah Arendts Mann von
einer tiefen M elancholie befallen wurde, als er von den G askam m ern erfuhr60. M och­
ten die Ü berlebenden anfangs auch ein sprach- und hilfloses E ntsetzen verspüren, frü­
her oder später wandten sich viele von ihnen wie auch A rend t gerade diesem Problem
zu. W enn sie es nicht - wie M osse oder Stern - direkt erforschten, so verfolgten sie
wenigstens die einschlägige Literatur, die nach 1945 zu diesem deprim ierenden
Them a erschien. D ie allgem eine Lektion aus dieser Beschäftigung m it dem A ntisem i­
tismus war, daß die Ereignisse der dreißiger und vierziger Jah re sich auf keinen Fall
wiederholen durften. E in zukünftiges Verhindern erforderte aber vorweg ein Begreifen
der Kausalkette, die zur „Endlösung“ geführt hatte, und an diesem Punkte kam nun
der erste T eil der großen Totalitarism us-Studie A rendts zum Zuge, die den Aufstieg
des A ntisem itism us m it der Entw icklung der Nationalstaaten in Zusam m enhang
brachte und ihn sodann bis zur Dreyfus-Affäre verfolgte.
58 Sieh e z. B. Klaus Hildebrand, Stufen der T otalitarism u s-Forsch u n g, in : P V S X (1 9 6 8 ) 3 9 7 -4 2 2 .
55 Hannah Arendt, T h e O rig ins of Totalitarianism (London 19 5 1 , h ier zitiert nach der 3. A ufl.,
1 9 6 7 ) V II f.
60 A u sführliche D iskussion d er R eaktio nen auf den H olocaust bei Elisabeth Young-Bruehl, H an ­
nah A rendt. Fo r the Love o f th e W orld (New Haven 1982) 1 84 ff. D o rt auch über die Ursprünge
ihres T o talitarism u s-Bu ch s. Fü r die deutsch e S eite b ezeich nend etwa die Ä ußerungen Bu nd es­
kanzler H elm u t K o h ls in Israel oder die von E m st N olte ausgelöste K on troverse über die „En dlösungs“-P roblem atik.
A n gloam erikan ische H isto riker und m oderne deutsche G esch ich te
265
D och so zentral die „Endlösungs“-Problem atik auch für A rendts Ansatz war, der
anwachsende A ntisem itism us war für sie nicht gleichbedeutend m it Totalitarism us.
Totalitarism us ist für sie auch nicht eine politologisch-system atische Regim elehre im
Stile Friedrich/Brzezinskis. V ielm eh r verbindet sie ihn m it jenem anderen Phänom en,
das Intellektuelle wie sie damals tief beunruhigte: dem der „Masse“. D iese Beunruhi­
gung läßt sich vor allem unter denen ausm achen, die die Gewalt und die Gew altsam ­
keit dieses Phänom ens in Europa persönlich m iterlebt hatten und vor ihm nach A m e­
rika geflüchtet waren. W as sie m it Sch recken erfüllte, war die Rebellion der Massen
gegen Rationalität und Realism us, die sich m it der M acht der Ideologie verbunden
hatte. D em entsprechend beginnt A rendts dritter T eil über den Totalitarism us m it ei­
ner Analyse der europäischen M assen sowie der Entw icklung zu G esellschaften, die
klassenlos geworden seien61.
G leich eingangs hebt sie zwei Schlüsselm erkm ale der m odernen „Masse“ und Mas­
sengesellschaft hervor, die sie vom /Moides 19.Jahrhunderts scharf unterscheidet: ihre
Strukturlosigkeit und ihre W ankelm ütigkeit. Schwankend und vergeßlich, so m eint
sie, liefen die Massen das eine Mal hinter diesem Führer und seinen utopischen V er­
sprechungen her, das andere Mal hinter einem anderen. W ie aber war es zur Struktur­
losigkeit der Massen gekom m en, die A rendt als ein K onglom erat von atom isierten
und sich überflüssig vorkom m enden M enschen definiert? Sie glaubt diesen Zustand
auf etwas zurückführen zu können, was sie den Zusam m enbruch der alten K lassenge­
sellschaften nennt. D enn Massen werden ihr zufolge nicht m ehr durch das B e ­
wußtsein gem einsam er Interessen zusam m engehalten; es fehlt ihnen eine klassenspe­
zifische Interessenartikulation, die auf klare, begrenzte und erreichbare Z iele hin ori­
entiert sei. Massen ließen sich nicht, so fügt A rendt hinzu, in O rganisationen wie poli­
tische Parteien, Berufsverbände oder G ew erkschaften integrieren. E rst der Zusam ­
m enbruch des Klassensystem s also, nach dem die Staaten Europas politisch und sozial
gesch ichtet gewesen seien, hätte den totalitären Bewegungen des 20.Jahrhund erts
dann die Chance gegeben, die M assen ihrerseits zu organisieren. D enn diese Bew e­
gungen m obilisierten im G egensatz zu den alten Interessenparteien jene strukturlose
Masse ressentim entgeladener Individuen, die m iteinander lediglich durch das dumpfe
G efühl verbunden waren, daß die alten M ächte korrupt und zum U ntergang ver­
dam m t seien.
Dies war A rendt zufolge der H intergrund für den A ufstieg totalitärer Bewegungen
zu M assenorganisationen verwirrter, atom isierter und einsam er E inzelm enschen. Frei­
lich geschah dieser A ufstieg nicht ohne Führer. Zwar war auch der Fü hrer von der
Masse abhängig und konnte leicht ein O pfer ihrer W ankelm ütigkeit werden, aber die
Massen hingen um gekehrt auch von ihm ab. O hne einen Führer fehlte ihnen die V er­
tretung nach außen und und sie blieben eine gestaltlose Horde. A uf diesem W ege
stößt A rendt im folgenden zu einem Problem vor, das für die deutschen Em igranten
noch beunruhigender war: die Faszination, die die M assenbewegungen auf gesell­
61
Arendt, T h e O rigins (A nm . 59), 3 0 5 ff., auch für das Folgende.
266
V o ik cr Berghahn
schaftliche Eliten ausübten. D iese A nziehungskraft zu begreifen, stellt für sie ein en
wichtigen Schlüssel für das Verständnis totalitärer Bew egungen dar.
Ihr Interesse an dem sie so beunruhigenden Bündnis zwischen der Masse und der
Elite führt sie unter Bezugnahm e auf Ju lien Benda62 nun zu einer Analyse jenes „Ver­
rats“, den sie im w eiteren den europäischen Intellektuellen der Zw ischenkriegszeit
vorrechnet. Zwar kann sie - m it europäischem G eistesleben und der intellektuellen
K ritik an der doppelbödigen Moral des Bürgertum s persönlich vertraut - die W urzeln
dieser Entw icklung durchaus erklären; ein „Verrat“ bleibt es für sie dennoch, denn sie
selbst ist in eine andere R ich tung gegangen. Ihre K ritik veranlaßte sie zu einem ver­
stärkten Eintreten für eine Verw irklichung der W erte des bürgerlichen Liberalismus.
D ie Intellektuellen der Konservativen Revolution hingegen hätten diese W erte zu­
rückgewiesen. Erst dadurch, so fährt sie fort, habe sich der W eg zur Allianz dieser In­
tellektuellen m it der Masse und das A brutschen in den N ihilism us, in die Inhum anität
und in die Zerstörung eröffnet. Und am Ende seien die Eliten gar selbst verschlungen
w orden63: „Totalitarianism in power invariably replaces all first-rate talents, regardless
of their sympathies, with those crackpots and fools whose lack of intelligence and creativity is still the best guarantee of their loyalty.“
Daß A rendts A bhandlung der W urzeln des A ntisem itism us und des M assenphäno­
m ens nicht lediglich als kühle w issenschaftliche Analyse einer 1945 abgebrochenen
Entw icklung gedacht war, wird an m ehreren Stellen des Buches deutlich. E benso war
ihre G leichsetzung von Faschism us und Bolschewismus nich t allein eine W arnung vor
dem Stalinism us der N achkriegszeit. D ie Gefahren, die sie sah, betrafen auch den W e ­
sten und gar die M enschh eit insgesamt. Da der Totalitarism us für A rendt als der zer­
störerische Ausweg aus der Sackgasse m oderner G esellschaften erschien und die D i­
lem m ata und W idersprüche dieser G esellschaften ihrer M einung nach fortbestanden,
drohte auch eine W ied erk ehr des totalitären Zeitalters. Zwar wisse man jetzt, nach­
dem man den Nationalsozialismus bis zum bitteren Ende erlebt habe, w elche Gestalt
das absolut Böse habe und wie extrem radikal es sei. A uch hätten A ntisem itism us, Im ­
perialismus und Totalitarism us bewiesen, daß die m enschliche W ürde einer erneuten
Garantie bedürfe. D iese Garantie könne, so m einte A rendt abschließend, nur in einer
neuen K odifizierung gefunden werden, die diesmal für die ganze M enschheit gültig
sein müsse - streng begrenzt in ihrer M acht und unter der K on tro lle neu zu bestim ­
m ender Territorialeinheiten6'*.
E inen solchen N euanfang hielt sie gerade deshalb für nötig, weil in der ersten
Hälfte dieses Jahrhunderts die bis dahin unterirdisch gebliebenen Ström ungen der
w estlichen Zivilisation an die O berfläche gekom m en seien. Es genüge daher nicht, das
S ch lechte der V ergangenheit abzuwerfen und zu vergessen und einfach auf das Gute
der Ü berlieferung zurückzugreifen. W e r sich damit zufrieden gebe, warnte A rendt, be­
schwöre die V ernichtung der M enschheit herauf.
62 Julien
Benda, La trahison des clercs (Paris 1927).
63 Arendt, T h e O rigins (A nm . 59), 339.
64 Ebd., X X X I.
A n gloam erikan ische H istoriker und m oderne deutsche G esch ich te
267
Es kann hiernach kein Zweifel bestehen, daß A rendt ihre Analyse auch als W ar­
nung vor einem westlichen N achkriegstotalitarism us sah. Er drohte nich t nur in E u­
ropa, wo sie wie etwa in Frankreich das K lassensystem teilweise erst nach dem Zw ei­
ten W eltkrieg zusam m enbrechen sah. V ielm ehr betraf das Problem auch ihre W ah l­
heim at A m erika, und zwar gerade auch deshalb, weil die A m erikaner w eniger als die
Europäer über die Psychologie der Massen wüßten65. Z udem beweise das deutsche
Beispiel, daß eine hochzivilisierte Nation für Massenbewegungen sogar besonders
em pfänglich sein könne und daß, allgem ein gesprochen, ein differenzierter Individua­
lismus eine H ingabe an die Masse nicht nur nicht verhindere, sondern im Gegenteil
sogar fördern könne. D aß am erikanische Sozialwissenschaftler und H istoriker bei ihrer
Analyse m oderner M assengesellschaften A nfang der fünfziger Jah re nich t nur Europa
im V isier hatten, sondern auch A m erika, zeigt nicht nur die damalige soziologische
Diskussion über die K lassenlosigkeit der am erikanischen Gesellschaft, sondern vor al­
lem auch David Riesm ans Studie über The Lonely Crowd, die - wie H ughes schreibt den Drang, das Gewissen der G esellschaft zu durchforschen, spiegelte und antrieb66.
Und im H intergrund dieses Fragens stand die Sorge, ob diese „einsame Masse“ ohne
ein „schützendes“ Klassensystem sich nicht durchaus auch einer dem agogischen und
nihilistischen Elite hingeben könnte. W ar nicht vielleicht schon der M cCarthyismus
m it seiner M assenunterstützung der Beginn eines am erikanischen Totalitarism us?
H errschte in A m erika nicht bereits die antikom m unistische Grande Peur, wie David
Caute seine Studie über den M cCarthyism us betitelte67? Es war nicht zuletzt diese
Sorge, die eine R eihe von Em igranten veranlaßte, A m erika den Rücken zu kehren.
A ndere blieben, und zwar nicht allein, weil sie und ihre K inder jenseits des A tlantik
W urzeln geschlagen hatten und „am erikanisiert“ worden waren. V ielm ehr sahen sie
sich auch als V erm ittler von Erfahrungen, die Europa vor 1945 gem acht hatte. Sie e n ­
gagierten sich, wie A rendt, gegen den M cCarthyismus. Später schlossen sie sich der
civil n^Ms-Bewegung gegen die Rassentrennung im am erikanischen Süden an - wie
H annah A rendt, die 1959 ihren Aufsatz „Reflections on Little R ock “ veröffentlichte68.
Hughes hat auf seine A rt beschrieben, auf welche W eise die Em igranten das in tel­
lektuelle Leben der U SA bereichert haben und wie ihr Einfluß infolge bestim m ter
„Wahlverwandtschaften“ gefördert wurde69. W ir haben die Frage des großen Sea
Change nicht so sehr, wie H ughes, aus der Perspektive der Philosophie, der Psycholo­
gie und Soziologie verfolgt, sondern uns auf die H istoriker konzentriert. D enn eine
Reihe von ihnen boten eine konkretere Lösung für die Problem e der Nachkriegsweit
65 Ebd., 3 1 6 .
66 David Riesman, T h e L on ely Crow d. A Study of the Changing A m erican C h aracter (New H a­
ven 1950 ); Hughes, T h e Sea C hange (A nm . 55), 134. W eitere Beiträge zu der D eb atte von D aniel
Bell, W illiam K o m h au ser, K in g ley D avis, W ilb ert E. M oorse u.a.
67 David Caute, T h e G reat Fear, T h e an ti-co m m u n ist Purge under T rum an and Eisenhow er
(London 1978).
68
69
Hannah Arendt, R eflectio n s on L ittle R o ck, in : D issent 6/1 (W in ter 1959) 4 5 - 5 6 .
Hughes, T h e Sea C hange (A nm . 55), 27 f.
268
V o lk er Berghahn
an als die, die sich in A rendts Forderung nach einem neuen R e ch t findet70. Es
eine Lösung, die am treffendsten in einem 1967 veröffentlichten Essayband eingef1n
gen worden ist: The Responsibility o f Power11. D ie Sam m lung war von K rieger uncj
Stern herausgegeben und als Festschrift H ajo H olbom gew idm et - jen em Manne also
der deutsche N ationalgeschichte im europäischen Zusam m enhang studiert und sie im
L ichte des w estlichen W ertesystem s neu eingeschätzt habe und der, wie K rieger und
Stern hinzufügten, sowohl das Beste als auch das Z erbrechliche der europäischen Kul
tur verkörpere. Und zur W ahl des Buchtitels schrieben die H erausgeber72: „W e have
chosen ,the responsibility of power' as the them e of such a book not because we deem
it the central thread of H ajo H o lb o m ’s historical concern - his respect for the sponta­
neity and m ultiform ity of the hum an experience has been far too great for obsession
with any single them e - but because it is a central thread with the com parative advan­
tage of epitom izing m ore definitely than any other the fruitful reciprocity through
w hich he brings the varied form s of historical experience to bear upon a fundamental
hum an dilem m a and brings the ubiquity of the dilem m a to bear, as a persistent and
unifying motif, upon the m ultifarious interests of m en. Because the responsibility of
power is a universal them e, it crystallizes the problem atic relations of actualities and
ideals, as H ajo H olb om has taught us, it aligns acts and ideas, includes both the Euro­
pean and A m erican experience, joins rem ote and m od em history, and embeds the
stream of history in the hum an condition.“
A llerdings, so fügten die beiden Herausgeber hinzu, konzentriere sich der Band vor
allem auf die A usübung der M acht, d.h. auf die Frage, „how have m en settled the con ­
flicting claims of the purpose for w hich power over m en is supposed to exist and of
the power without whose preservation the purpose supposedly cannot be realized“73.
Zu denen, die ihre A ntw orten zu diesen Fragen anhand konkreter Beispiele vorlegten,
gehörten D ietrich Gerhard, G ordon Craig, Theodore H amerow, O tto Pflanze, Peter
Gay, W illiam Sim on, Carl Schorske, A rno Mayer, Henry M eyer, F elix G ilbert, Otto
K irch h eim er und H erbert Marcuse. In einem Epilog gaben K rieger und Stem noch
einm al eine Zusam m enschau der Ergebnisse, die für unseren Zusam m enhang beson­
ders interessant ist. Seit dem 16.Jahrhundert, so m einten sie, habe es zwei verschie­
dene A nsichten von M acht und Verantwortung gegeben, die sich als zwei Typen grei­
fen ließen und in b estim m ten festen K o m binationen aufgetaucht seien74: „O ne type
of power, the politicized version of the original ethical conception of power, postulates
the necessity of an im plicit, realizable end for power to exist at all. T h e concom itant
type of political responsibility specifies the primary obligation of agents and patients
70 Z u den H istorikern je tz t a u ch : Fritz Stern, G erm an H istory in A m erica, 1 8 8 4 -1 9 8 4 , in : C en ­
tral European H istory 2 (June 1 9 8 6 ) 1 3 1 -6 3 . Sieh e auch Theodore S. Hamerow, G uilt, R ed em p ­
tion and the W ritin g of G erm an H istory, in : A m erican H istorical R eview (1 9 8 3 ) 5 3 -7 2 .
71 Leonard Krieger und Fritz Stern (Hrsg.), T h e R espon sibility of Pow er, H istorical Essays in H o ­
n or of H ajo H o lb o m (New Y o rk 1 9 6 7 , h ier zitiert nach der en glischen A usgabe, London 1968).
72 Ebd., X I II f.
73 Ebd., X IV .
74 Ebd., 44 5 .
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269
alike to act for the preservation of power, which is a worthy o b ject of obligation by vir­
tue of its inherent ends. T h e second type of power, the moralized version of the origi­
nal political con ception of power, postulates the separate existence of power as a
m eans distinct from ends, and predicates, by virtue of this detachm ent, the ethically
invalid tendency of power to b ecom e its own end. T he second type of responsibility,
correspondingly, specifies the primary obligation, incum bent particularly upon the
agent of power, to direct the instrum ents of power exclusively toward an end that lies
beyond their own preservation and extension.“
Im w eiteren spielten K rieger und Stern die verschiedenen Varianten ihrer Typolo­
gie durch, und es war dabei wohl unverm eidlich, daß auch der D iktator H itler zur D is­
kussion kam 75: „H itler’s dem oniacal use of power apparently w ithout end is psycho­
logically and historically unthinkable w ithout reference to the lost order that his pettybourgeois soul vainly and paradoxically sought to restore through total revolution. T o ­
talitarian power, then, may be viewed as the infinite striving after goals that are deem ­
ed unrealizable now by power and unrealizable ever by means other than power.“ In ­
dessen könne ein Verständnis des Phänom ens totalitärer M acht uns nich t nur E in sich­
ten in die verantwortliche A usübung von M acht verm itteln. Totalitäre M acht war für
die beiden H erausgeber zugleich der Extrem fall einer allgem eineren Ström ung, die
K on tro lle des öffentlichen Lebens, nich t aber dessen O rientierung zur H auptfunktion
von M acht zu erklären. M ehr n o ch : der Totalitarism us habe die U nterscheidung zwi­
schen dem politischen und dem nicht-politischen Bereich abgeschafft, indem er die
politischen M achtinstrum ente in alle m enschlichen Bereiche ausdehnte. Dagegen aber
habe sich ein erfolgreicher W iderstand erhoben, und dieser wiederum habe die wach­
sende M acht erwiesen, die dem M enschen bei der Verfolgung n icht-politischer Z iele
durch W issen und Bildung Zuwachse76: „Totalitarianism thus conveyed the shock of
recognition to what had been rising slowly to the consciousness of our age - that
m e n ’s intellectual and social ends, and the activities they undertake to realize those
ends, are not sim ple non-political values to be abetted by or defended from political
power, but rather structures with powers of their o w n .... The net effect of this post-to­
talitarianism is to lim it the scope of power by hom ogenizing it, and thus to resolve the
historical problem of the responsibility of power by restricting political power to possi­
ble political ends and by securing appropriate non-political instrum ents of power for
non-political ends.“
M ögen diese Ü berlegungen auch erst durch sehr genaues Lesen verständlich wer­
den, ihre Stoßrichtung war deutlich genug: das post-totalitäre Zeitalter würde eine
V orstellung von M acht und Verantw ortung verwirklichen, die aus dem w estlichen
N achkriegsliberalism us entw ickelt worden war, auch wenn es eine interessante zusätz­
liche Frage zu sein scheint, wie weit sich hier auch Spuren aus dem W erk Friedrich
M eineckes festm achen ließen. Und wie es A ngehörige der europäischen E liten gewe­
sen waren, die m it ihrem G edankengut das Zeitalter des Totalitarism us gefördert hat-
75 Ebd., 4 4 7 .
76 Ebd., 449-
270
V o lk er Berghahn
ten, so war es im post-totalitären Z eitalter die Aufgabe der E liten, eine W iederholung
der G eschichte unm öglich zu m achen und im M assenzeitalter für die Begrenzungen
der politischen und die Sicherung der nichtpolitischen M acht zu sorgen. Hatte der
Flirt mit der „Masse“ und m it der M aßlosigkeit in der Z w ischenkriegszeit schließlich
in die Katastrophe geführt, so war eine W iederholung eines faschistischen Totalitaris­
mus nur zu verm eiden, w enn sich die Eliten der Verantw ortung ihrer M acht bewußt
blieben und sie maßvoll fü r den sozialen W andel und die Festigung liberaler V erfas­
sungsprinzipien einsetzten. Das, so schien es, war die große Lehre, die aus dem euro­
päischen und speziell dem deutschen Fall und aus dem „Versagen“ des Bürgertums
und der G ebildeten in Zentraleuropa in der ersten Hälfte des 20.Jahrhu nd erts zu zi e ­
hen war. Sie den A m erikanern und s p e z i e l l der jungen G eneration a n den E l i t e - U n i ­
versitäten zu verm itteln, war die Aufgabe, die H olborn m it seinen Schülern und
Freunden, m it ihren Büchern und Vorlesungen zu erfüllen versuchten.
W o aber ist Hans Rosenberg nun in dieser Landschaft am erikanischer G eschichts­
w issenschaft und -pädagogik, die D eutschland zum Exem pel wählte, zu plazieren?
N un, es war nicht so, daß er sich völlig außerhalb des Rahm ens bewegte, in dem dieser
akadem ische Diskurs in den fünfziger Jah ren stattfand. A uch ihn bewegten die aus
dem D ritten R eich zu ziehenden Erkenntnisse, und er bediente sich des Totalitarismus-Begriffs. G leichw ohl ging er an die zentraleuropäische Erfahrung m it anderen
analytischen W erkzeugen heran als H olborn, Mosse und viele der in der HolbornFestschrift vertretenen Em igranten. Er benutzte nicht das Instrum entarium der intel­
lectual und cultural history, die damals den H auptstrom bildete, sondern operierte mit
K ategorien der m odernen W irtschaftsgeschichte und K onju nktu rforschung sowie der
W eberschen Bürokratietheorie. Seine große Studie über die preußische Verwaltungs­
elite leitete er ganz anders als die bisher vorgestellten A utoren m it folgenden W orten
e in 77: „For good or evil, an essential part of the present structure of governance co n ­
sists of its far-flung system of professionalized adm inistration and its hierarchy of ap­
pointed officials upon whom society is thoroughly dependent. W h e th e r we live under
the most totalitarian despotism or in the m ost liberal dem ocracy, we are governed to a
considerable extent by a bureaucracy of som e kind. ... Thus, in principle, nothing is
left to chance and personal caprice. Everybody in the hierarchy has his allotted place,
no one is irreplaceable. In the past two centuries, this im personal m ethod of minutely
calculated governm ent m anagem ent by a standing army of accountable salaried em ­
ployees has acquired world-wide significance. In the free societies of our tim e, non-bureaucratic forms of adm inistration rem ain im portant. Even the totalitarian dictator­
ships make substantial use of nonprofessional agents for policy enforcem ent, although
here bureaucracy is the intolerant and vindictive master of the governm ent. Under
fully developed totalitarianism all social activity, including the private life of the indi­
vidual itself, is the o b ject of public adm inistration.“ Im Prinzip aber, so m einte R osen­
berg, habe die Bürokratie alle m odernen G esellschaften durchdrungen. D em entspre­
77 Hans Rosenberg, Bureaucracy, A ristocracy and A utocracy. T h e Prussian E xp erien ce, 1 6 6 0 -1 8 1 5
(B oston 1 966) I f .
A n gloam erikan ische H isto riker und m oderne deutsche G esch ich te
271
chend befaßt sich auch seine Studie über Preußen m it dem A ufstieg des m odernen
bürokratischen Staatsapparats und m it dessen W irkungen auf die Sozialstruktur und
die politische M achtverteilung unter dem ancien régime. Zugleich verfolgte Rosenberg
seine früheren A rbeiten über die ostelbische Landwirtschaft und die alte preußische
Gutsbesitzerklasse im Zeitalter wachsenden D em okratisierungsdrucks weiter, die zu
einer Reihe von grundlegenden A ufsätzen und schließlich zur V eröffentlichung seines
Buches Große Depression und Bismarckzeit führten78.
Diese Hinweise auf sein Œ uvre dürften deutlich m achen, w elcher A rt Rosenbergs
historische Interessen waren. Sie galten nich t geistigen Bewegungen und dem Einfluß
von Ideen und M ythen auf die G esch ichte. D ie K ategorie der „Masse“ erschien ihm
zu grob, und die Eliten, m it denen er sich beschäftigte, waren nicht am Schreibtisch
sitzende Ideologieproduzenten, sondern sie übten greifbare sozioökonom ische und
politische M acht aus. Als Sozial- und W irtschaftshistoriker scheute er vor Sorel und
Le Bon, vor M assenpsychologie und K ulturanthropologie zurück und hielt es für
falsch, m it T hesen vom Z usam m enbruch der alten Klassengesellschaften und dem
A ufstieg irrationaler M assenm enschen vor den gesellschaftlichen Entw icklungen des
2 0 .Jahrhunderts einfach zu kapitulieren. Ließen sich die „M illionen“, die für H itler
stim m ten, denn tatsächlich soziologisch nich t m ehr sezieren? W ar ihnen das B e­
wußtsein spezifischer Interessen tatsächlich abhanden gekom m en? W ar nicht am
Ende hinter dem Irrationalismus des Zeitalters, den andere postulierten und als gege­
ben hinnahm en, kühle K alkulation und Rationalität auszum achen? Gab es hinter den
Ideologien und der dem agogischen M obilisierung nicht Handlungsspielräume und
Zwangslagen für Individuen wie für klar erfaßbare Sozialgruppen, die m it einem ratio­
nal-w issenschaftlichen Instrum entarium auch für jene Epoche noch zu erfassen waren,
in der das Irrationale, das D äm onische, das absolut Böse seine Trium phe gefeiert zu
haben schien?
Das war ein U nterschied in der M ethodik und der Perspektive, auf den hinzuweisen
Rosenberg sich zurückgehalten hat. Er überließ dies einerseits den Skeptikern seines
Ansatzes, wie z.B. Stern, der sich im Vorw ort zur Taschenbuchausgabe seiner Studie
über den Kulturpessim ism us 1974 gegen sozioökonom ische Interpretationen wandte
und hinzusetzte79: „Specific studies ... have shown that cultural, spiritual and psychic
factors must be taken into account if we are to understand the trium phs of irrationality
that m arked fascism.“ Sein Buch verfolge den Zw eck, Politik als Psychodram a, als Pro­
jektion zu analysieren. Es gehe darum, die irrationalen Elem ente jeglicher Politik zu
erforschen. G ordon Craig form ulierte die Diskrepanz einige Jah re später etwas sarka­
stisch er80: „So m uch is written these days, and so insistently, about the primary im por­
tance of econom ic and social forces in history that one runs the risk of being consider­
ed old-fashioned if one gives too m u ch prom inence to personality.“
78 Hans Rosenberg, G roße D epression und Bisrnarckzeit. W irtschaftsablauf, G esellsch aft und P oli­
tik in M itteleuropa (Berlin 1967).
79 Stern, P olitics (A nm . 4 8 , aber P aperback E d ition , 1974), X .
80
Craig, G erm any (A nm . 41), 1.
272
V o lk er Berghahn
In der T at war nicht nur die Politikgeschichte alten Stils, sondern auch die amerika­
nische intellectual history der fünfziger Jah re inzwischen ein wenig aus der Mode ge­
kom m en. Langfristig wirkten Rosenbergs A rbeiten stärker in die nächste Generation
hinein als die von H olborn, Stern und M osse81. D ie Fragestellungen und Perspekti­
ven, die er für die m oderne deutsche G esch ichte anbot, inspirierten, zusammen mit
den w iederentdeckten Schriften von Eckart K e h r u.a., zahlreiche jüngere H istoriker
sowohl in Am erika als auch in der Bundesrepublik, ehe auch diese wieder ins K reuz­
feuer der K ritik gerieten. D o ch liegt diese Entw icklung, so faszinierend sie auch sein
mag, außerhalb unseres U ntersuchungszeitraum s82. H ier kam es darauf an, bestim m te
Prozesse in der angloam erikanischen G eschichtsschreibung über D eutschland in den
zwei Jahrzeh nten nach dem Zw eiten W eltkrieg herauszuarbeiten und unterschiedli­
che Interpretationen vorzustellen, die vor allem in A m erika von Em igranten entwikkelt wurden, die aber in der Frühzeit der Bundesrepublik auf die damalige H istoriker­
schaft kaum eine W irkung hatten. D och so verschieden die A nsätze der intellectual
historians im Vergleich zu denen der Rosenbergianer auch waren, sie alle gingen vom
D ritten R eich als einem totalitären System aus, dessen U rsprünge sie erklären wollten.
K ein er der vorstehend analysierten H istoriker betrachtete diese Erklärungen indessen
als losgelöst von jedem Gegenwartsbezug. T ief geprägt durch das persönliche M iterle­
ben einer Z eit, in der Europa beinahe auf den K op f gestellt worden wäre, wollten sie
vor allem ihren eigenen M itbürgern E in sich ten in die Gefahren verm itteln, die in der
ersten Hälfte des 20.Jah rhu nd erts drohend an die O berfläche der w estlichen G esell­
schaft gekom m en waren, und zugleich m ithelfen zu verhindern, daß jener W eg noch
ein zweites Mal beschritten wurde. Erst bei der Präzisierung der alternativen M arsch­
routen kam es wieder zu D ivergenzen, die m it den unterschiedlichen M ethoden und
Ansätzen zur Analyse der Vergangenheit in einer direkten Beziehung standen.
81 Sieh e die interessante A nalyse von
Konrad H. Jarausch, G erm an Social H istory - A m erican
Style, in : Jo u rn al o f Social H istory (W in ter 1 985) 3 4 9 -5 9 - A llerdings wäre auch nach den teilw ei­
sen Ü berlappungen zw ischen der cultural und der social history zu fragen.
82 A ls neueste V ersuche, ein e vorläufige Bilanz zu zieh en , siehe die beiden Aufsätze von Jam es N.
Retallack und Roger Fletcher in : G erm an Studies Review 3 (O cto b e r 1984), sowie Volker Berg­
hahn, G esch ich tsw issen schaft und G roße Politik, in : Aus P olitik und Z eitg esch ich te, 311/87 (14.
März 1987).
V. Schlußbetrachtungen:
Zur Veränderung der deutschen
Geschichtswissenschaft in den sechziger
Jahren
Statem ents
Ernst Schulin
D ie Fragestellung ist hier beschränkt auf die G eschichtsw issenschaft in der Bundes­
republik. Große geschichtsw issenschaftliche Veränderungen hat es vor allem nach
1945 und nach I 9 6 0 gegeben, beidem ale sehr vorherrschend auf dem Forschungsge­
biet der neueren und neuesten Z eit (19./20.Jahrhundert). Nach 1945 war die Verände­
rung größer hinsichtlich der politischen und nationalgeschichtlichen Anschauungen,
nach I 9 6 0 größer hinsichtlich der M ethoden (außerdem auch personell).
D ie Veränderungen nach 1960 sind in m ehreren Beziehungen durch die früheren
vorbereitet. Als die beiden w ichtigsten früheren (also nach 1945) erscheinen mir
1 ) die Zeitgeschichtsforschung, d .h. die kritische Erforschung der N S-Z eit und der
W eim arer Z eit, unter veränderten politischen und nationalgeschichtlichen Aspekten.
Das war eine im V ergleich zur früheren deutschen und zur internationalen G e ­
schichtsw issenschaft sehr schnelle und relativ schonungslose Erforschung eines un­
m ittelbar zurückliegenden verhängnisvollen Z eitabschnitts eigener G esch ichte. Sie ge­
schah in Zusam m enarbeit m it der neuen Politischen W issenschaft und ihrer Begrifflichk eit und war weniger ausgerichtet auf Verständnis innerhalb der nationalgeschicht­
lichen K ontinuität als auf historisch-politische Aufklärung über eine m enschenver­
nichtend e Ideologie und H errschaftsform der m odernen Zeit. In diesem Sinne er­
klärte Hans Buchheim 1 9 6 1 : „Z eitgeschichte muß, wenn sie weiter sinnvoll betrieben
werden soll, allm ählich aus der historischen Disziplin in die Disziplin der politischen
W issenschaft rücken; sie m uß die nationalsozialistische Z eit im m er m ehr verstehen
als ein Paradigma der typischen Gefahren des 20.Jahrhunderts überhaupt, als ein B ei­
spiel totalitärer H errschaft.“
2 ) D ie m ethodischen A nsätze zur sozial- und strukturgeschichtlichen Betrachtungs­
weise, am deutlichsten und einflußreichsten entw ickelt für die spätm ittelalterliche und
frühneuzeitliche E poche, und zwar von O tto Brunner, programm atisch aber auch für
274
Sch lu ßbetrachtun gen
die m oderne Z eit (für das Industriezeitalter) vertreten von W ern er C onze; innerhalb
der Z eitgeschich te in der politologischen Variante bei Bracher zu finden.
Als Veränderungen der sechziger Jahre erscheinen m ir am auffallendsten die f0 J_
genden drei:
1) die kritische U m deutung und Erforschung der deutschen G eschichte vor der
Z eitgeschich te, also des Ersten W eltkrieges und des w ilhelm inischen Kaiserreiches, in
ihrem V orgeschichtscharakter für die N S-Z eit. Das beginnt 1961 m it Fritz Fischers
„Griff nach der W eltm ach t“. Es ist zunächst eine Neubewertung der nationalge­
schichtlichen K ontinuität und eine Veränderung der Maßstäbe zur Einschätzung poli­
tisch verantw ortlichen und wirksamen Planens und H andelns; die bewegenden Fakto­
ren der außenpolitischen
G esch ichte erscheinen
außerordentlich verm ehrt, und
gleichzeitig wird die bisher so hochgeschätzte Bedeutung der direkten außenpoliti­
schen Handlungsträger und H andlungen abgewertet.
2 ) die m ethodische Veränderung durch die sog. m oderne Sozialgeschichte, die sich
bis zur program m atischen Ersetzung der bisherigen politikgeschichtlichen A usrich­
tung der G eschichtsw issenschaft zur sozialwissenschaftlichen steigert. Sie unterstützt
sehr bald die erstgenannte Veränderung in der Form der „politischen Sozialge­
schichte“, d.h. der Erklärung politischer H andlungen und ideologischer E rscheinun­
gen aus ökonom ischen und gesellschaftlichen Interessen und die Erklärung dieser In ­
teressen aus ökonom ischen G egebenheiten und (m eist krisenhaften) Entwicklungen.
Hans Rosenbergs „Große Depression und Bism arckzeit“ (1967) und H ans-Ulrich
W ehlers „Bism arck und der Im perialism us“ (1968) sind die bahnbrechenden W erke.
D ie m ethodische Veränderung ist aber von dieser Erklärungsfunktion zur deutschen
politischen G esch ichte unabhängig und wird dann gern (von K ocka) „Gesellschaftsge­
sch ich te“ genannt.
3) D ie Veränderung des öffentlichen A nsehens der G eschichtsw issenschaft, des nun
als reaktionär und ideologiegebunden verurteilten „H istorism us“. Das zeigt sich be­
sonders in den dam aligen Schulplänen und in der Studentenbew egung. D ie prokla­
m ierte Umwandlung der G eschichtsw issenschaft von einer G eistes- zu einer Sozial­
wissenschaft hängt dam it zusamm en.
D iese dritte Veränderung hat sich als die kurzlebigste erwiesen. Sie ist seit den spä­
teren siebziger Jah ren durch ein neues öffentliches, später auch offizielles G esch ichts­
interesse verdrängt worden.
D ie zweite, die m ethod ische Veränderung befriedigte einen w ichtigen N achholbe­
darf der deutschen G eschichtsw issenschaft auf dem G ebiet der neueren und neuesten
G eschichte. Sie hat dam it den A nschluß an m oderne Forschungsrichtungen W esteu ­
ropas und A m erikas erreicht. V or dieser R ezeption vor allem der m odernen französi­
schen R ich tung war nach 1945 vor allem von Gerhard R itter gewarnt worden, wegen
ihrer desinteressierten Einstellung zu Politik- und Ideengeschichte und ihrer m ateria­
listischen Betrachtungsw eise. Es war eine wenig gerechtfertigte W arnung, da die Fran­
zosen in erster Linie über die Frühe N euzeit arbeiteten, über die es ja auch in
D eutschland strukturgeschichtliche Forschungen (wenn auch andere) gab. Berechtigt
war sie also höchstens als W arnung, sich vor verantw ortlicher zeitgeschichtlicher F o r­
schung zu drücken. V on heute her, habe ich den Eindruck, wird man die Auswirkung
Sch lu ßbetrachtun gen
275
dieser W arnung, dieser Verzögerung von Rezeption, weniger stark finden und andere
M aßstäbe anlegen. D ie strukturgeschichtliche R ichtung in Frankreich war bis Ende
der sechziger Jah re zwar lautstark, aber nicht sehr verbreitet, und danach, als sie sich
ausbreitete, hatte sie sich in R ich tung auf die M entalitätsforschung, dann auch auf die
A lltagsgeschichte, verändert. In dieser veränderten Richtung hat sie ziem lich schnell
auch in Deutschland Fuß gefaßt. Das hat vor allem zu neuem Interesse an der m ittelal­
terlichen G eschichte geführt, die in den sechziger Jah ren (übrigens im Gegensatz zu
der offenbar theoriefreudigeren A lthistorie) sehr zurückgetreten war.
W ir haben nun also die historische Sozialwissenschaft, die G esellschaftsgeschichte,
nicht in der beherrschenden, totalen Form wie ursprünglich proklam iert, aber als sehr
wichtigen neuen T eilbereich neben herköm m lichen und neueren. Nur kurzfristig ist
in Deutschland die politische Ideengeschichte und die G esch ichte der außenpoliti­
schen Beziehungen in den siebziger Jah ren zurückgetreten, hat sozusagen eine Z e it­
lang bei der Politologie Asyl gefunden. A uch kulturgeschichtliche R ichtungen sind
nun in ihrer Selbständigkeit anerkannt. Das Ergebnis der m ethodischen Veränderung
der sechziger Jah re ist also eine Pluralität an Richtungen. D ie G esellschaftsgeschichte,
die besonders in der „Bielefelder Sch u le“ konzentriert ist, hat ihre H auptbedeutung in
der Forschung und der w issenschaftlichen Diskussion. Im öffentlichen Interesse, beim
Lesepublikum und seinen nostalgischen Bedürfnissen herrscht die politische Biogra­
phie, die M entalitäts- und A lltagsgeschichte. D ie offiziell erwünschte und entspre­
chend geförderte G eschichtsschreibung der Bundesrepublik ist die neue Politikge­
schichte.
W ie steht es nun m it der erstgenannten Veränderung der sechziger Jah re, der Erfor­
schung der deutschen G esch ichte der letzten 100 oder 150 Jah re zur Erklärung ihrer
K atastrophe in der N S-Z eit? Sie wurde und wird viel kritisiert, zusam m en m it der
Z eitgeschichtsforschung über die N S -Z e it selber. Sie gilt als zu determ inistisch, als zu
sehr fixiert auf V orgeschichte und G esch ichte zweier schrecklicher Jahrzeh nte. Man
will öffentlich wieder m eh r von besserer deutscher V ergangenheit hören, und offiziell
jetzt auch; das wird als „Renaissance des G eschichtsbew ußtseins“ bezeichnet, begriffsverdrehenderweise, denn tatsächlich ist es eine Renaissance nationaler Sinnstiftung;
als verantwortungsvolles G eschichtsbew ußtsein kann die genaue und kritische B e­
schäftigung m it der deutschen G esch ichte der letzten 100 Jah re gar nicht übertroffen
werden. Ich kann also nur der M einung sein, daß sie sehr hochzuschätzen ist und wei­
terentw ickelt werden muß, durchaus unter weiterer w issenschaftlicher und außerwissenschafd icher K ritik und m it einer Vielfalt von M ethoden und Betrachtungsweisen.
W as in der D D R durch schnelle, ideologisch vereinfachte kritische A burteilung der
bürgerlichen, im perialistischen und faschistischen Phase deutscher G eschichte ge­
scheh en ist, wurde in der Bundesrepublik durch langsame, detaillierte Erforschung der
N S-Z eit, der W eim arer Republik, dann der w ilhelm inischen und Bism arckzeit ge­
schafft, bis zur Revision der Gesam tvorstellung eines ganzen Jahrhunderts deutscher
G esch ichte. Mir ist kein anderes Beispiel bekannt, daß eine G eschichtsw issenschaft so
ernsthaft und langanhaltend versucht hätte, die schw er zu tragende W ahrheit über die
jüngste G eschichte ihres Landes aufzudecken. Insofern hat diese Bem ühung Bedeu­
tung über das eigene Land hinaus, sie ist damit ein wichtiger Teil der internationalen
Sch lu ßbetrachtun gen
27 6
G e sch ich tsw isse n sch a ft, d er T e il, d er die b e d ro h lic h e n P ro b le m e u n d die sch w eren
n egativen E rfa h ru n g en d ieses Ja h rh u n d e rts n o tg ed ru n g en sch ä rfe r ins A u g e faßt, als es
an d ere k ö n n e n od er w ollen . Ich b e to n e das, w eil sich in d en n e u e n , in d iesem J a h r vor
allem in d er P resse g e fü h rte n D isk u ssio n e n T e n d e n z e n zeig en , d ie m . E. zu ein e r A b ­
k e h r von d er g e n a n n te n A u s rich tu n g und d en L eistu n g en d er d e u tsch e n G e s c h ic h ts ­
w issen sch a ft fü h ren k ö n n te n . H in sic h tlic h d er M eth o d en b e ste h t g rö ß e re g eg en seitig e
A n e rk e n n u n g als frü h er; u m so g rav ieren d er ist d er p o litisch b e d in g te S tre it um die
A n sch a u u n g en .
Fritz Fellner
D er Übergang von einer statisch-konservativen zu einer dynam isch-progressiven
Phase der G eschichtsw issenschaft in D eutschland, wie er etwa um die M itte der
1960er Jahre erkennbar ist, sch ein t m ir, w enn m an das vielschichtige Phänom en in
vereinfachender K ondensierung für eine Diskussion thesenartig zusammenzufassen
versucht, auf folgenden sechs Faktoren gegründet zu sein:
I. Generationsschub:
1.
D ie in N orm alzeiten sowohl an der O rganisation eines W isse n sch a fts b e trie b e s
wie au ch in der H inw endung zu innovativen M ethoden im Z entru m des G e sch e h e n s
stehende m ittlere G eneration der etwa 35- bis 45jährigen war in dem Jah rzeh n t nach
dem Zw eiten W eltkrieg w eitgehend von gestaltenden und führenden Positionen im
wissenschaftlichen Betrieb und G etriebe ausgeschlossen.
Maßgebend für diesen Ausfall der M ittelgeneration (der etwa zwischen 1910 und
1918 geborenen H istoriker) bzw. der Verzögerung von ihrer W irksam w erdung waren
folgende G ründe:
a) D iese Jahrgänge waren in besonderem Maße O pfer des Krieges und der N S-H errschaft geworden, Em igration wie Kriegsverluste haben diese G eneration zahlenmäßig
stark getroffen.
b) D iese G eneration sowie die unm ittelbar nachfolgende der etwa bis 1927 G ebore­
nen hat durch die Kriegsverluste besondere Z eiteinbußen in ihrer w issenschaftlichen
Ausbildung erfahren, Kriegsdienst und G efangenschaft bzw. politische Verfolgung
oder Em igration haben für die A ngehörigen der Jahrgänge 1910 bis 1927 eine Z e it­
verzögerung in ihrer w issenschaftlichen A usbildung und Laufbahn von mindestens
sechs bis zu zehn Jah ren gebracht.
c) Die existenziellen Problem e, die die ökonom ischen K risen der Nachkriegszeit
m it sich brachten, führten viele gerade der aufgeschlossensten K räfte aus dem U niver­
sitätsleben weg, da es keine Stipendienm öglichkeiten zur Ü berbrückung der stellenlo­
sen Z eit und wenig M öglichkeiten einer w issenschaftlichen K arriere gab.
d) Eine nicht geringe Zahl der A ngehörigen dieser Jahrgänge, in Ö sterreich in ei­
nem w esentlich größeren Ausm aß, war in den Nationalsozialismus verstrickt gewesen
und daher für einige Z e it von w issenschaftlicher W irksam keit ausgeschlossen.
Sch lu ßbetrachtun gen
277
2 . D er Ausfall der m ittleren G eneration brachte es m it sich, daß der W iederaufbau
der G eschichtsw issenschaft nach dem Zw eiten W eltkrieg von den G elehrten getragen
wurde, die bereits in den 1930er Jah ren in führenden Positionen gewesen waren, und
deren Ziel daher weit m ehr auf W iederherstellung traditionell bewährter M ethoden
bzw. Befreiung dieser M ethoden vom ideologischen Mißbrauch durch den N ationalso­
zialismus als auf Einführung neuer M ethoden und G esichtspunkte gerichtet war.
3. D iese D om inanz der G eneration von 1900 und davor wurde gefestigt durch das
Faktum , daß H istoriker vom Range R oth fels’, M eineckes, Ritters, Herzfelds ihre ideo­
logisch wie m ethodisch und auch them atisch rigide konservative G rundhaltung durch
ihren W iderstand gegen das N S-R eg im e bzw. durch ihre Vertreibung aus den U niver­
sitätspositionen durch den Nationalsozialismus moralisch rechtfertigen konnten.
Mit dem A usscheiden dieser, die deutsche Geschichtsw issenschaft bis Ende der
1950er Jah re beherrschenden G eneration wurde der W eg frei für die M ittelgeneration,
der inzwischen durch die Pioniervorarbeiten von Conze und Schieder eine Ausgangs­
basis für die m ethod isch-theoretische Diskussion geschaffen worden war.
II. Institutioneile Ausweitung
1 . Zunahm e der Zahl der Studierenden
2 . Verbesserung der D otierung der U niversitäten seit der M itte der 1 950e r Jahre
a) m ateriell, durch A ufstockung des Bücheretats
b) personell durch Schaffung von A ssistentenstellen - eine Position, die in dieser
Form vor dem Zw eiten W eltkrieg fast unbekannt war
3. Neugründung von Universitäten und damit Schaffung zusätzlicher Lehrstühle.
D ie für die 1960er Jah re kennzeichnende institutionelle Ausweitung des Faches
G esch ichte im Rahm en der Neugründung von U niversitäten, anderen H ochschulen
und Etablierung von Forschungszentren ist in Zusam m enhang m it der durch das A n­
wachsen der Zahl der Studierenden eintretenden V erschiebung der sozialen Basis zu
sehen. D ie seit den 1960er Jah ren in die universitäre Ausbildung drängenden, bisher
von der akadem ischen W e lt ausgeschlossenen M enschen brachten zur Legitim ierung
ihrer eigenen Stellung neue Fragestellungen in die G eschichtsw issenschaft ein, wäh­
rend gleichzeitig durch die A ufstiegsm öglichkeiten, die sich im akadem ischen Bereich
boten, auch in die Forschungspositionen eine jüngere G eneration m it neuen them ati­
schen Fragestellungen und der O ffenheit für neue M ethoden einbezogen wurde.
All diese E lem ente wirkten zusam m en, um gerade in der G eschichtsw issenschaft hier scheint sich m einer M einung nach die soziale U m schichtung der Studierenden
vor allem in der T hem en stellu ng besonders fühlbar zu m achen - einen gewissen
Linksruck, vielleicht sollte man von Linkswendung sprechen, auszulösen.
III. Wechsel von „Verpolitisierung“ und „Entpolitisierung“
1.
„Verpolitisierung“ : D ie bis Ende der 1950er Jah re dom inierenden konservativ­
nationalen G eschichtsbilder werden in revisionistischen A nsätzen in Frage gestellt,
wie dies im besonderen Maße gesch ieh t in
Sch lu ßbetrachtun gen
278
Fischer-K ontroverse
Ü berleitung zur Im perialism us-D ebatte
D isk u ssio n d er H o c h sc h u lre fo rm und im b e so n d e re n d es G e sc h ic h tsu n te rric h ts
Ideologie-D ebatte und G esch ichte der A rbeiterbew egung
2.
„Entpolitisierung“ : In der M itte der 1960er Jah re beginnt die A bkehr von der
politischen G esch ichte, zunächst in der Abwendung von der K abinettsgeschichte und
durch Forcierung ökonom ischer G esichtspunkte in der Erforschung der internationa­
len Beziehungen, später in der H inwendung zur K ulturgeschichte und im Übergang
zu den 1970er Jah ren in der Zuwendung zur A lltags- und Frauengeschichte.
Bedenkensw ert ist das Faktum , daß sich sowohl die V erpolitisierung wie auch die
Entpolitisierung im w esentlichen, sofern es sich um die G esch ichte der N euzeit han­
delt, im Rahm en des 19- und 20.Jahrhunderts them atisch bewegt, es bleibt auch wei­
terhin die sog. Bewältigung der Vergangenheit ein Hauptanliegen der deutschen G e­
schichtsw issenschaft.
I V Verstärkung der Spezialisierung
D ie institutioneilen und personellen Erweiterungen der frühen 6 0 e r Jah re führten
zu einer quantitativen Steigerung der Zahl von Publikationen, die begleitet war von ei­
ner H ebung der qualitativen A nsprüche. Dabei scheint zunächst diese Spezialisierung,
die H inwendung zu im m er enger werdender Them enstellu ng in jenen Bereichen
wirksam geworden zu sein, die von m ethodischen Innovationen oder theoretischen
Ü berlegungen unberührt geblieben waren. D ie Spezialisierung führt zu einer quantita­
tiven Ausweitung der traditionellen G eschichtsforschung, vor allem im Bereich der
Zeitschriftenaufsätze und der Dissertationen und leitet schließlich nach einer Ü bersät­
tigung im Detail zu neuen Fragestellungen und Erprobung neuer M ethoden über.
V Internationalisierung
D ie Ö ffnung der G eschichtsw issenschaft in den 1960er Jah ren scheint m ir ganz
entscheidend davon beeinflußt zu sein, daß die in die Lehr- und Führungspositionen
eintretende G eneration von H istorikern in einem früher nicht m öglichen Maße Aus­
ländserfahrung gesam m elt hatte. D iese Ausländserfahrung wurde in vier B ereichen ge­
w onnen:
1. während des Studium s als Stipendiaten an ausländischen U niversitäten;
2 . als junge Forscher (Fulbright-Stipendien, deutsche A uslandsstipendien, die For­
schungsm öglichkeiten an den D eutschen H istorischen Instituten in Rom und Paris,
sowie regelmäßige Auslandsaufenthalte zu A rchivarbeiten brachten K o ntakte m it jü n ­
geren ausländischen Forschern und die M öglichkeiten m ethod ischer V ergleiche);
3. im Rahm en von Gastprofessuren, wobei wieder in besonderem Maße das Fulbright-Program m m it den daraus sich ergebenden A ustauschm öglichkeiten in die
U SA zu erwähnen ist;
4. durch die Intensivierung der Teilnahm e an w issenschaftlichen K ongressen: von
I 9 6 0 an haben jüngere deutsche H istoriker an den Internationalen H istorikertagen in
zahlreichen Vorträgen und als einfache T eilneh m er K o n takte m it ausländischen For­
schem hergestellt. S eit M itte der 1960er Jah re aber beginnen K onferenzen zu beson­
Sch lu ßbetrachtun gen
279
deren T h em en die Experten bestim m ter Teilbereiche der G eschichtsw issenschaft zum
Gedankenaustausch auf übernationaler Basis zusamm enzuführen.
VI. Wiederaufnahme der theoretischen Reflexionen
(D ieser G esichtspunkt ist von anderer Seite genügend präsentiert worden.)
Abschließende grundsätzliche Beobachtung
W ir laufen Gefahr, in unserer Beurteilung der deutschen G eschichtsw issenschaft
nach 1945 das A ugenm erk zu einseitig auf die durch die politische A ktualität in den
M ittelpunkt publizistischer Diskussion gestellte Problem atik auszurichten. Im allge­
m einen - m eine eigenen Ü berlegungen sind davon nicht ausgeschlossen - konzentrie­
ren wir uns in der Diskussion sowohl der restaurativen Tendenzen nach 1945 wie
auch der innovativen A nsätze der 1960er Jah re in nicht gerechtfertigter W eise auf die
Problem atik des 19. und 20.Jahrhunderts und der an diesen T h em en sich entzünden­
den them atischen, ideologischen und m ethodischen Streitfragen. W ir beziehen unsere
Betrachtung zu sehr auf den D isput der M achtpolitik (etwa die Fischer-K ontroverse)
oder nationalsozialistischer K riegsverbrechen (etwa die A rbeiten des Instituts für Z e it­
geschichte).
D ie m ethodische Erneuerung der G eschichtsw issenschaft vollzog sich aber auch in
den 1960er Jah ren in W estdeutschland zuallererst im Bereich der G eschichte des
18.Jahrhunderts. Von dort her kam en die A nstöße zu den neuen W egen der Sozialge­
schichte, etwa m it den Forschungen Gerhard O estreichs und seinem K onzep t der S o ­
zialdisziplinierung, m it der Diskussion der G eschichtstheorien des 18.Jahrhunderts,
m it der O tto-H intze-R ezep tion, m it den A rbeiten von O tto Brunner.
D ie m ethodische N euorientierung, die in den 1960e r Jahren in der deutschen G e ­
schichtsw issenschaft festzustellen ist, hat in jenem Bereich der Frühneuzeit begonnen,
auf dem G ebiet der G esch ichte des 19- und 20.Jahrhu nd erts brachten die 1960er
Ja h re zuerst nur eine Revision des politischen G eschichtsbildes, erst in den 1970er
Jah ren ist auch in der Erforschung des 19. und 20.Jahrhu nd erts der D urchbruch zur
m ethodischen Innovation erfolgt.
Jaroslav Kudrna
Es ist fast zu einem „bon m ot“ geworden, daß die deutsche bürgerliche G esch ichts­
w issenschaft vor und unm ittelbar nach 1945 atheoretisch war und daß in ihr eben aus
diesem Grunde ein gewisser N achholbedarf gegenüber der Geschichtsw issenschaft an­
derer westeuropäischer Länder bestand1. Diese These ist aber sicherlich im vollen
Sinne des W ortes nicht wahr. So läßt sich z.B . in der „Revue de synthèse historique“
1 In diesem D iskussionsbeitrag stütze ich m ich fast ausschließlich auf ein K apitel m ein er A rbeit
H istorie, filosofie a politika v N S R (Prag 1964), Z teo reticte n i historiografie v soucasné západoném eck é historiografii, D ie th eoretisch en A nsätze in der zeitgen össischen w estdeutschen H istorio­
graphie, 1 4 2 -1 6 8 .
280
Sch lu ßbetrachtun gen
ein A nsatz zur Integration verschiedener Gesellschaftsw issenschaften finden, aber die
realen Resultate dieser R ichtung sind d ennoch nicht sehr überzeugend. Viel ernster ist
in dieser H insicht die A nnalesschule zu nehm en, die einige Ideen der „Revue de syn­
thèse historique“ w eiterentw ickelte, die politische G eschichtsschreibung an den Rand
drängte und gem einsam m it der französischen W irtschaftsgeschichtsschreibung in der
A rt von Labrousse die Erforschung der gesellschaftlichen und ökonom ischen M assen­
vorgänge erm öglichte2. Dazu war auch ein neues theoretisches Begriffsrepertorium
notwendig. A ber die herrschende französische G eschichtsschreibung wurde von die­
sen theoretischen A nsätzen nicht m iterfaßt und bewegte sich im flachen Empirism us.
Im großen und ganzen kann man sagen, daß dies auch bei der bürgerlichen G e­
schichtsschreibung in anderen w esteuropäischen Ländern der Fall war; die theoreti­
schen A nsätze sind da nur am Rande zu finden. In Italien gilt es z. B. von der Nuova
rivista storica, wo wir einigen Versuchen begegnen, Verbindungslinien zur Psycholo­
gie und Soziologie herzustellen3.
Im allgem einen kann man höchstens sagen, daß wir m it A nsätzen zu einer theoreti­
schen G eschichtsschreibung vor allem in der W irtschaftsgeschichte zu tun hatten, also
dort, wo es sich nicht um die Beschreibung von Individualitäten, sondern um die A na­
lyse der gesellschaftlichen M assenprozesse handelt. Dies gilt in großem Maße von der
deutschen W irtschaftsgeschichte und in gewissem Ausm aß auch von der deutschen
R echtsg eschich te; - es wäre gut, einm al zu überprüfen, in w elchem Maße die typologisierenden und theoretischen A rbeitsw eisen dieser D isziplinen auch z. B. die theoreti­
schen A spekte des W erkes von Max W eb er beeinflußt haben. A ußerdem sind die A n ­
lässe zum theoretischen U m denken in der Reaktion der deutschen Geistesw issen­
schaften auf den w estlichen Positivism us zu suchen (K. Lam precht).
Es war dann sicherlich kein Zufall, daß z.B . die G rundkategorien der D iltheyschen
M ethodologie aus der A useinandersetzung des Positivism us m it dem deutschen H i­
storism us entstanden; besonders in der A rbeit „D er Aufbau der geschichtlichen W elt
in den G eistesw issenschaften“ kann man D ilthey als Vorläufer des m odernen Stru k­
turalismus erkennen. Dasselbe gilt auch für die Ergebnisse der Auseinandersetzung
des deutschen H istorism us m it H egel und Marx. O hn e diese A useinandersetzung ist
z.B . die A rbeit von E rnst T roeltsch über den H istorism us nicht zu erklären.
O hn e auf diese Problem atik näher einzugehen, werfen wir nun einen Blick auf die
Entstehung der theoretischen A spekte in der deutschen bürgerlichen G esch ich ts­
schreibung nach 1945 und in den fünfziger Jah ren . Sicherlich war einer der H aupt­
gründe dieses neuen W eges der Zusam m enbruch des deutschen Faschism us, m it dem
die Rankesche G eschichtsschreibung in gewissem Maße verbunden war; man konnte
sich unm ittelbar nach 1945 nicht so leicht direkt zu dem V erm ächtnis der R an ke­
schule bekennen und suchte zunächst eine Ersatzlösung zu finden. W ie ich schon im
K orreferat zu Fellner ausgeführt habe, geschah es durch die Rezeption von Burckhardt. M ethodologisch bedeutete es, daß in die G esch ichte drei G rundelem ente einge­
2 V gl. Jaroslav Kudrna, K e kritice pozitivism u v soucasné burzoazni n em ecké, francouzské a
italské historiografii (Brünn 1 983) 19. a 2 0 .sto l. 2 9 ff.
3 Ebda., 34 ff.
Sch lu ßbetrachtun gen
281
führt wurden: D er G edanke der D iskontinuität, die Lehre von den konstanten E le ­
m enten und stabilen G rößen in der G esch ichte und die Typenlehre. Dies war unge­
fähr die Situation bis 1949, wo wiederum der Versuch unternom m en wurde, die R an­
kesche M ethodologie, w enn auch in m ehr reflektierender Form , neu zu beleben4.
D ie N otw endigkeit des Übergangs zu der m ehr theoretischen G esch ichtsschrei­
bung ergab sich in den fünfziger Jah ren vor allem aus folgenden G ründen: aus der D i­
stanzierung vom engen N ationalbild und, wie man heute in der w estdeutschen H isto­
riographie m anchm al zu sagen pflegt, aus der A bkehr vom deutschen „Sonderweg“,
aus der Einfügung der deutschen G esch ichte in das europäisch-atlantische G e ­
schichtsbild und aus der N otw endigkeit, die Industriegesellschaft in die G esch ich ts­
analysen einzubeziehen. H inzu traten auch schon die R eaktionen auf den westeuro­
päischen Positivism us und in viel geringerem Ausmaß auch auf den M arxismus. Dabei
ist aber sicherlich nicht ohne Interesse, daß viele K ategorien, m it denen m an auf die
neue W irklich keit reagierte, besonders in den fünfziger Jah ren von N ichthistorikem
entw ickelt wurden. Erinnern wir bei dieser G elegenheit an E rich R othacker oder
H ans Freyer, der nur cum grano salis für einen H istoriker gehalten werden kann. In
deren früheren Sch riften kom m en schon die Kategorien, die jetzt als „neue“ gelten,
vor5. Bei dieser G elegenh eit m ö chte ich Freyers „Theorie des objektiven G eistes“ von
1923 erwähnen.
Von den eigentlichen H istorikern haben in dieser H in sicht T heod or Schieder, W e r­
ner Conze und Reinhard W ittram besondere Bedeutung. Eine spezielle Rolle spielte
am Ende der fünfziger Jah re der Toynbeeforscher O thm ar F. Ä nderte, der aber keine
w eiteren N achfolger fand. A uch bei den H istorikern kann man aber V erbindungsli­
nien zur Philosophie finden - neben D ilthey kom m t auch H eidegger in Betracht. Bei
R othacker, der zwar kein ech ter H istoriker war, der sich aber m it den m ethodologi­
schen Fragen der G esch ich te intensiv beschäftigte, ist z. B. die ganze Problem atik des
„Vorhandenen“ und „Zuhandenen“ aus Heideggers „Sein und Z e it“ entstanden. Eine
größere Rolle begann dann in den fünfziger Jah ren auch K arl M annheim zu spielen,
und zwar m it seiner Auffassung vom Relativism us, der nur em pirisch korrigiert wer­
den mußte. Von den G eschichtsphilosophen begann auch T oynbee eine gewisse Rolle
zu spielen, m it dem man versuchte, die Typenlehre zu begründen. In dieser H insicht
ist aber besonders O thm ar F. A nd erle6 zu erwähnen. E r hat Ende der fünfziger Jahre
die beschreibende G eschichtsschreibung der U nw issenschaftlichkeit und Rückstän­
digkeit bezichtigt. In m anchen seiner A nsichten näherte er sich dann dem N eupositi­
vism us; so gab es für ihn keinen Hiatus zwischen den Geistesw issenschaften und den
N aturw issenschaften; die U nterschiede zwischen ihnen seien nur stufenweise gestaltet.
4 So besonders bei Friedrich Meinecke, D ie deutsche K atastrophe (W iesbaden 1946), in abge­
schw ächter Form auch bei Gerhard Ritter, G esch ich te als Bildu ngsm acht (Stuttgart 1946).
5 Erich Rothacker, D ie dogm atische D en kfo rm in den G eistesw issenschaften und das P roblem
des H istorism us (M ainz 1954).
6 Othmar F. Änderte, T h e o retisch e G esch ich tsb etrach tu n g en zur G rundlagenkrisis der G e ­
schich tsw issen sch aft, in : H Z 185 (1 9 5 8 ) 1 1 -1 3 u.ff.
282
Sch lu ßbetrachtun gen
Sowohl die G esch ichte als auch die Natur könne m it generalisierenden und individua­
lisierenden M ethoden angegangen werden.
Es war sicherlich kein Zufall, daß A nderle ein gewisses Vorbild für die G eschichts­
w issenschaft bei G. B. V ico suchte, was aber nich t sehr überzeugend ist. Sonst sind
m anche Gedanken A nderles noch heute bem erkensw ert, so z.B ., daß die theoretische
G esch ichte die K ritik der historischen V ernunft durchführen solle und daß sie die
Fragen der em pirisch verifizierbaren Philosophie beachte. Dazu gesellen sich die Fra­
gen des Zusam m enhangs der historischen Phänom ene und ihres Sinns. Sicherlich
sind bei A nderle schon G edanken enthalten, die in der G eschichtsschreibung der
Bundesrepublik eigentlich erst in den siebziger Jah ren eine Rolle spielten.
W as die eigentlichen H istoriker wie Theodor Schieder, W erner Conze und O tto
B runner anbelangt, so ist Folgendes zu sagen. Sch ied er7, der m it der neurankeanischen H istoriographie eng verbunden war, war schon in den fünfziger Jah ren über­
zeugt, daß man m it dem puren Individualitätsprinzip nich t auskom m e und daß man
generalisierende M ethoden anwenden müsse. Bezeichnenderw eise hat Schieder bei
dieser G elegenheit auch H intzes und W ebers Typenlehre entdeckt. Dabei hält er be­
zeichnenderw eise z. B. den Staat, die Verfassung und die Revolution für solche Typen
und gelangt auch zur K ritik des K ontinuitätsprinzips. A uch bei Schied er wird nun das
neue Prinzip der D iskontinuität m it der industriellen Revolution verbunden.
N och prägnanter werden diese G edanken bei Conze form uliert8. Conze reagierte als
einer der ersten auf die M ethodologie der A nnalesschule, hat aber dabei im m er die
Bedeutung der Politik für die Sozialgeschichte akzentuiert. D am it hing auch die A n­
wendung der generalisierenden M ethode und vor allem der Typenlehre zusammen.
D ie Anwendung dieser M ethoden ist für Conze aus dem Grunde nötig, weil der H i­
storiker m it übernationalen Zusam m enhängen arbeiten müsse. D ie generalisierende
M ethode und die Typenlehre sollen dann durch die Strukturgeschichte ergänzt wer­
den. D er Strukturgeschichte fällt auch die Aufgabe zu, die w issenschaftliche Interdisziplinarität anzubahnen.
O tto Brunner wurde stark von Max W eb er beeinflußt9; die soziale G esch ichte wird
bei ihm zur G esch ichte des europäischen Rationalism us. Brunner will dann in die G e­
schichte die kategorielle Apparatur anderer W issenschaften, besonders der theoreti­
schen N ationalökonom ie, einbauen.
Zum Schluß m öchte ich einige Parallelen zwischen diesen Bem ühungen um das
theoretische G eschichtsbild und dem Positivism us erwähnen. D ie positivistische und
neupositivistische H istoriographie trat m it der K ritik an der traditionellen H istorio­
graphie auf, wollte in der G esch ichte die vergleichende M ethode anwenden, plädierte
für die Interdisziplinarität einzelner Sozialw issenschaften und sprach letzten Endes
von den G esetzm äßigkeiten der G esch ichte. A uch die deutsche bürgerliche G e­
schichtsw issenschaft, die in die G esch ichte die Theorie einführen wollte, hat von die­
7
Theodor Schieder, D er Typus in der G esch ich tsw issen schaft, Staat und G esellsch aft im W andel
unserer Z eit (M ü nch en 1 9 6 0 ) 172 ff.
8 Jaroslav Kudrna, H istorie, filosofie a politika v N S R , 161.
9 Otto Brunner, D as P roblem der eu ropäischen Sozialgesch ich te, in : H Z (1 9 5 4 ) 4 6 9 ff.
Sch lu ßbetrachtun gen
283
sen Grundsätzen G ebrauch gem acht, m odifizierte sie aber im folgenden Sinne. Die
G esetze sollten durch die T ypenlehre und durch Sinnzusam m enhänge ersetzt werden,
den notwendigen Bestandteil der Sozialgeschichte sollte das politische M om ent aus­
m achen, die politische G esch ichte sollte sich zur theoretischen M achtgeschichte, die
m it Ö konom ie und Soziologie zusam m enhängt, entw ickeln. Dies hat sicherlich nicht
die alte M ethodologie der R ankeschen H istoriographie völlig überwunden, sondern
nur im H egelschen Sinne des W ortes aufgehoben.
Hermann von der Dunk
Für eine Bew ertung und Analyse der deutschen G eschichtsw issenschaft nach 1945
ist der V ergleich m it den Entw icklungen im Ausland aufschlußreich. Bei der Ausklam m erung dieses V ergleichs kom m t es leicht zu Schlußfolgerungen, die auf kom pa­
rativer E bene relativiert werden m üssen. Es handelt sich hier um ein Feld, das in Z u ­
ku nft als unentbehrliches K o m p lem en t bei der Beschreibung der N achkriegsentw icklungen in der Bundesrepublik stärker hinzugezogen zu werden verdient. W enn sich
z. B. für die deutsche G eschichtsw issenschaft, als sehr grobe Einteilung, zwei deutliche
W end epunkte ergeben, näm lich M itte der sechziger Jah re die V erschiebung von der
individualisierenden G eistes- und Staatengeschichte zur strukturalistischen Sozialge­
schichte und Ende der siebziger Jah re wieder eine W ende zu einer Neubewertung der
herm eneutischen und historistischen Tradition und der K ulturgeschichte, so en t­
spricht das den Verschiebungen und dem ,Paradigmawechsel‘ in der ausländischen
G eschichtsforschu ng; auch wenn natürlich die T hem atik und die konkreten Felder,
auf die sich die H istoriker konzentrieren, stark variieren. Ebenso wie in der (bundes)deutschen Forschung fand auch in der ausländischen Forschung eine Um wertung der
Bedeutung des Schicksalsjahres 1945 statt. Ebenso wie hier wird auch dort neuerdings
die Frage nach der K on tin u ität gestellt und diese K ontinuität bei den M ethoden, Fra­
gestellungen und G rundm ustem der fünfziger Jah re betont; das W iederanknüpfen an
oder Fortsetzen von Linien der Vorkriegszeit. In beiden Fällen bildet die personale
K ontinuität in der Besetzung der m eisten Lehrstühle eine w esentliche Erklärung: Es
war überall die Vorkriegsgeneration, die sich in einer radikal veränderten W elt zu­
rechtfinden m ußte. Das führte auch überall zu einer N euorientierung innerhalb gewis­
ser, von der Tradition bestim m ter Rahm enbedingungen und m it tradierten M ethoden.
Im U nterschied zu der ausländischen Forschung stand die deutsche G eschichtsw is­
senschaft dann allerdings vor der turm hohen Aufgabe einer drastischen Revision im
Schatten der nationalsozialistischen Verbrecherherrschaft. D ie Auseinandersetzung
m it der N S-Z eit nach 1945 ,von innen heraus' unterschied sich w esentlich von der B e ­
wertung und K ritik der ausländischen Forschung und der S ich t ,von außen her“. In
beiden Fällen ging man näm lich von national bestim m ten Voraussetzungen und K o n ­
zeptionen aus; auch wo diese wie in der Bundesrepublik gerade in Frage gestellt wur­
den. D ie Europa-Ideologie der fünfziger Jah re hat die eigentliche G eschichtsforschung
also nur sehr am Rande berührt.
284
Sch lu ßb etrachtu n gen
Es kam nicht zu einer Revision im übernationalen europäischen Sinne, weder in der
Bundesrepublik noch im Ausland. Aus späterer Perspektive konnten die fünfziger
Jah re allgem ein als eine verhältnism äßig konservative Periode in der Historiographie
charakterisiert werden. D ie nationale Distanz zeigte sich beispielsweise darin, daß auch
in Ländern, wo Publikationen in deutscher Sprache zugänglich sind wie in den Nie
derlanden, deutsche G esch ichte vorwiegend an Hand englischer Literatur konzipiert
wurde. N icht Ritter, Rothfels, H eim pel, Aubin und andere der damals führenden
deutschen H istoriker bestim m ten das Deutschlandbild, sondern Taylor, Trevor Roper
B ullock oder die em igrierten H istoriker, auch wenn m an deutsche H istoriker zur
K enntn is nahm.
D er m it dem Buch von Fritz Fischer und der anschließenden K ontroverse einset­
zende U m schw ung und nam entlich der D urchbruch der Strukturgeschichte, die A b ­
wendung vom H istorism us, führte in den sechziger Jah ren dann zu einer A nnäherung,
sowohl weil im Ausland ein ähnlicher D urchbruch stattfand als auch weil die viel fun­
dam entalere Revision der deutschen G eschichte durch eine neue G eneration (Bracher
W ehler, die Fischerschüler u.a.) m it der ausländischen K onzeption korrespondierte.
D eutsche G esch ichte wird seitdem in den N iederlanden z .B . vornehm lich an Hand
deutscher H istoriker studiert und konzipiert. Einerseits verblaßte die Europa-Eupho­
rie, andererseits kam es zu einer A nnäherung nich t nur der M ethoden und Fragestel­
lungen, sondern auch der Bew ertung der jüngsten V ergangenheit, wo die nationalen
Divergenzen sich selbstverständlich am schärfsten bem erkbar gem acht hatten. Es kam
zu A nsätzen einer übernationalen gem einsam en Sich t auf die deutsche G eschichte.
Das ist insofern bem erkensw ert, als es sich bei den m eisten Vertretern der Sozial- und
Strukturgeschichte überall um progressiv-dem okratisch, wenn nich t ausgesprochen
links gerichtete H istoriker handelte, während andererseits die politische Europa-Ideo­
logie von den Z entru m - und rechtsorientierten oder m ehr konservativen Politikern
und Parteien vertreten war. Politische Europa-Ideologie und übernationale G e­
schichtsperspektive korrespondierten also keineswegs. A uch die jüngste N eubewer­
tung des H istorism us, der narrativen G esch ichte, das erwachte Interesse am Faktor des
Individuellen und Persönlichen in der G esch ichte ist ein übernationales Phänom en in
der H istoriographie. D aß dabei die R eaktion auf eine Ü berbew ertung der Sozial- und
Strukturgeschichte und das Bedürfnis nach neuen W egen, wobei auch der G enera­
tionsfaktor wieder hineinw irkt, eine große Rolle spielen, bedarf keiner Betonung.
D ie große Frage ist, ob diese neue Tendenz wieder zu einem Auseinanderklaffen
der verschiedenen nationalen G eschichtsbilder, zu einer A ufw eichung der übernatio­
nalen Perspektive führen wird. Die neu entfachte D iskussion in der Bundesrepublik
über die Einzigartigkeit und den Stellenw ert von Auschwitz und die N azi-V erbrechen
und die Frage nach dem Verhältnis von Erkenntnis und Sinnstiftung in der A rbeit des
H istorikers müssen in diesem w eiteren Zusam m enhang gesehen werden. Fördern
neohistoristische und individualistische T endenzen auch notgedrungen wieder eine
stärker national orientierte G eschichtsschreibung? Läßt sich einer m öglichen V erfrem ­
dung der G esch ich te durch die A uflösung des personalen Faktors in überpersönliche
Strukturen und abstrakte Bezüge nur durch eine konservativ-apologetische Sinristiftung begegnen? Ist eine übernationale Perspektive nur bei einer ausgesprochen struk­
Sch lu ßbetrachtun gen
285
turgeschichtlichen A usrichtung m öglich? Fragen, die nicht nur die deutsche G e ­
schichtsforschung angehen. O der vielm ehr diese in ganz besonderem Maße, eben weil
sie wiederum alle angeht.
Reinhold Bichler
D ie H ochschulkrise der ausgehenden 60er Jah re bot einer durchaus kulturrevolu­
tionären Bewegung Raum ; einer Bewegung, die sich gegen etablierte Traditionen und
Gewalten wandte. Verständlicherw eise sah sich die H istorie besonders hart um foch­
ten, diente und dient sie doch - auch - als Legitim ationsinstanz und als V erm ittler
von Identitätsgefühl. W ie viele H iebe speziell den A lthistorikern als einer repressiv-fa­
schistoiden Elite galten, die ein Fach vertraten, das konservative Strukturen fördert
und festigt, das läßt sich nur mühsam im konkreten eruieren, doch im allgem einen
rech t gut erahnen.
Institutionell überdauerte die also angefochtene A lthistorie die Stürm e auf dem
Universitätsterrain freilich recht gut. D och mußte sie schm erzliche Einbußen erleiden,
was die Pflege ihres O bjekts im Schulunterricht angeht. D ie Selbstverständlichkeit
klassisch-hum anistischer Bildung war längst erschüttert. Und der reform istische Elan
zur Neugestaltung der schulischen Curricula drängte althistorische G ehalte aus so
m anchem Lehrplan rüde hinaus. Es ist kein W under, daß sich seitdem im m er wieder
auch professionelle A lthistoriker dazu verstanden, die Diskussion über G esch ichte in
Schulbuch und U nterrich t zum Gegenstand ihrer A ufm erksam keit zu m achen. D och
bleiben sie wohl eine klare M inderheit unter den A ngehörigen unserer Zunft.
Im Bew ußtsein, ihr Fach einem stärkeren Legitim ationsdruck der Ö ffentlichkeit
ausgesetzt zu sehen, griffen auch einige G elehrte von Rang und N am en zur Feder, um
ganz allgem ein die Relevanz ihrer Profession in dieser Ö ffentlichkeit zu erläutern und
zu erhärten. D och darf auch die Intensität dieses apologetischen Schrifttum s in
sum m a nicht zu hoch veranschlagt werden.
Dasselbe gilt - anders als es bei der allgem einen G esch ichte der Fall ist - auch für
das durch die K rise der ausgehenden 60er Jah re stim ulierte Interesse an einer kriti­
schen Revision der m ethod isch-theoretischen Grundlagen des eigenen Forschens und
A rbeitens. W issenschaftstheorie der G eschichtsw issenschaft, das Ringen um eine er­
neuerte ,H istorik', die Diskussion über die Relevanz der theoretischen Sozialwissen­
schaften für unser Fach, Streit um die erkenntnisleitenden Interessen und die W e rt­
im plikationen historischer Forschung und Darstellung ... alle diese für die allgem eine
H istorie nun so charakteristischen T h em en fanden auf dem spezifischen Sektor der
A lthistorie eine in m einen Augen doch recht geringe Resonanz. N icht, daß nicht ver­
einzelt sehr wertvolle Im pulse von dieser nun schon historisch gewordenen G rund­
satzdebatte der späten 6 0 e r und der 70er Jah re für die althistorische Praxis ausgegan­
gen wären, aber diese Im pulse wurden doch nur von einer M inderheit unserer Zunft
aufgenom m en. D er hohe Standard an fachspezifischer Grundlagenwissenschaft und
Q uellenarbeit schien es zu rechtfertigen, die Forderung nach grundsätzlicher m ethod i­
scher Besinnung von sich abzuschieben. In ähnlicher W eise schien der traditionell
286
Sch lu ßbetrachtun gen
hohe Stellenw ert exakter D okum entation antiker Institutionen des Rechtslebens und
der Verwaltung, von K ult und K ultur genügend Grund zu bieten, dem in der allge­
m einen H istorie nun so typischen Ruf nach forcierter Strukturgeschichte kein beson­
ders intensives G eh ör zu schenken. Dadurch geriet die A lthistorie - zum indest in
m einen A ugen - in die Gefahr, sich stärker von der allgem einen G esch ichte abzukop­
peln und weiterhin eine theorieabstinente Sach lich keit zu kultivieren. D iejenigen
Fachkollegen, die sich diesem Trend bewußt entgegenstellen, riskieren durchaus A u­
ßenseiterpositionen, wie denn auch nach wie vor althistorische A m bition en auf uni­
versalhistorische Zusam m enschau und interdisziplinär kom paratistische Studien mit
dem Stigm a des D ilettantentum s rechnen m üssen.
In einem Punkt aber hat die Identitätskrise, in die die H istorie zu Ende der 60er
Jah re geraten war, für m ein Dafürhalten recht segens- und erfolgreich auf unser Fach
gewirkt. D ie Bereitschaft, sich über G enese, Standards, Schattenseiten und Verdienste
des eigenen Fachs durch w issenschaftsgeschichtliche Rückschau größere K larheit zu
verschaffen und so ein besseres U rteil über die aktuelle Position unserer Disziplin zu
gew innen, hat eine Serie recht eindrucksvoller und gew innbringender wissenschaftshi­
storischer Studien m otiviert, m it denen sich unsere A lthistorie im Verhältnis zur allge­
m einen G esch ichte durchaus sehen lassen kann, zumal auch die viel zitierte Vergan­
genheitsbew ältigung in ihnen enttabuisiert wird. Mit dieser Erklärung, die auch Sinn
und W ert der gegenständlichen Tagung unterstreichen soll, m öchte ich das Statem ent
beschließen.
Wolfgang J. Mommsen
In gewissem B etracht beginnt die N euorientierung der deutschen G eschichtsw is­
senschaft nach dem Zw eiten W eltkrieg m it Friedrich M eineckes Alterswerk „Die
deutsche K atastrophe“ vom Jah re 1946. Darin bekannte sich M einecke zu der V er­
pflichtung, alle seine ihm verbliebenen K räfte „für die R ettung des uns verbliebenen
Restes deutscher V o lk- und Kultursubstanz“ einzusetzen. M einecke wandte sich aus­
drücklich dagegen, angesichts der Erfahrung der deutschen Katastrophe die deutschen
gesch ichtlichen Traditionen in Bausch und Bogen zu verwerfen. „Aber“, so m einte er,
„unser herköm m liches G eschichtsbild, m it dem wir groß geworden sind, bedarf jetzt
allerdings einer gründlichen Revision, um die W erte und Unwerte unserer G eschichte
klar voneinander zu unterscheiden“ 1. Im Prinzip fand M einecke m it dieser Forderung,
von w enigen A ußenseitern auf der R echten, die bald jeden Einfluß verloren, abgese­
hen, damals in der historischen W issenschaft allgem eine Zustim m ung. Gerhard Ritter
begann seine große Rede auf dem ersten D eutschen H istorikertag nach dem Ende des
Zw eiten W eltkriegs in M ünchen 1949 über „Die gegenwärtige Lage und die Z u ­
kunftsaufgaben der G eschichtsw issenschaft“ m it dem program m atischen Bekenntnis
„zu rückhaltlos kritischer Überprüfung unserer Trad itionen“2. In der Sache ist es dann
1 D ie deutsche K atastrophe (W iesbaden 1946) 8 und 156 f.
2 H istorisch e Z eitsch rift 1 7 0 (1 9 5 0 ) 2.
Sch lu ßbetrachtun gen
287
freilich nur sehr langsam und zögernd zu einer w irklich tiefgreifenden Revision des
herköm m lichen deutschen G eschichtsbildes gekom m en.
Das erste Jah rzeh n t nach 1945 war eher gekennzeich net von dem Bem ühen der
professionellen H istorikerschaft, unter denen die G eneration derer, die noch vor 1933
zu A m t und W ürden gekom m en waren, einstweilen w eiterhin den Ton angab, so viel
wie m öglich aus dem Scherbenhaufen deutscher gesch ichtlicher Traditionen zu retten.
D ieser Sachverhalt läßt sich gut an den großen Forschungskontroversen der 50er Jahre
ablesen, die von seiten der großen M ehrzahl der H istoriker aus einer Abwehrhaltung
gegenüber der w estlichen G eschichtsschreibung und m ehr noch der Publizistik ge­
führt wurden, die teilweise eine überaus scharfe K ritik an den überkom m enen Inter­
pretationen der deutschen G esch ichte übten. Dies gilt beispielsweise auch für die A us­
einandersetzung über das Problem des Militarismus in der deutschen G eschichte, die
durch Ludwig D ehios leidenschaftliche K ritik an Ritters allzu engem M ilitarism usbe­
griff ausgelöst wurde, oder für die zeitlich etwas spätere D ebatte über Bism arck, in der
nahezu alle H istoriker der älteren G eneration das W o rt ergriffen. Dabei überwogen
jene Stim m en, die eher auf eine Verteidigung hergebrachter D eutungen gegenüber
der in der Ö ffentlichk eit verbreiteten K ritik am deutschen M ilitarismus im K aiser­
reich hinausliefen. A uch die Bism arckdebatte war, trotz bem erkensw erter Stellung­
nahm en wie jener Franz Schnabels, überwiegend auf die A bw ehr der radikalliberalen
Bism arckinterpretation E rich Eycks ausgerichtet, die erst jetzt in größerem Maße auf­
gen om m en wurde.
Es waren freilich nicht nur die Inhalte des überkom m enen w issenschaftlichen G e ­
schichtsbilds, die nu nm ehr auf den Prüfstand kam en und einer zunächst eher vorsich­
tigen Revision unterzogen wurden, sondern auch die bislang unbestritten herrschende
M ethodologie des H istorism us. Für Friedrich M einecke hatte der Historism us noch
1936 „trotz aller seiner Schw ächen und K rankheiten unser Lebensglück bedeutet“.
Nach 1945 jedoch schien offenkundig zutage zu liegen, daß die historistische M etho­
denlehre gegenüber solch extrem en Phänom enen wie dem aggressiven Nationalismus
der W ilh elm inisch en Ära und insbesondere dem Nationalsozialismus versagt hatte,
weil sie die H istoriker zu einer allzu harm onisierenden und das jeweils Bestehende
verklärenden Sichtw eise verführt habe, die auch jene Ereignisse als objektives Resultat
eines in sich sinnhaften G eschichtsprozesses deutete. E ben das, was H istoriker vergan­
gener G enerationen, unter ihnen M einecke selbst, am H istorism us gerühm t hatten,
näm lich die Ü berw indung des einseitig rationalistischen W eltbildes der Aufklärung,
wurde nun, und man wird sagen dürfen, m it einigem R ech t, als ein A spekt der E ntfer­
nung des deutschen D enkens von den Ideen der europäischen Aufklärung erkannt.
Selbst Gerhard R itter räumte in seinem bereits erwähnten Vortrag vom Jah re 1949
ein, daß der H istorism us, insow eit als sich dieser gegen das rationalistische W eltbild
der A ufklärung gerichtet habe, heute revisionsbedürftig sei, fügte aber hinzu, „die
deutsche H istorie könnte diesen T eil ihres Erbes nicht fahren lassen, ohne sich selbst,
d.h. den letzten und höchsten Sinn ihrer A rbeit zu verraten“3. G leichzeitig wandte
3 Ebend a, 5.
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Sch lu ßbetrachtu n gen
sich R itte r fre ilich d ageg en , die bew äh rte in d iv id u alisieren d e M eth o d e des H istoris
m u s zu g u n sten v on so z io lo g isch e n und m a teria listisch en G e sch ich tsd e u tu n g e n aufzu
g e b e n ; au ch ty p o lo g isieren d e V erfa h ren w ollte er w eiterh in n u r als „h e u ristisch e H ilfs
m itte l“ zu g elassen s e h e n 1*.
D iese von R itter aufgebaute Verteidigungsposition gegenüber der verbreiteten K ri­
tik an der historistischen M ethodologie der G eschichtsw issenschaft erwies sich in der
Folge als wenig standfest. In den 50er Jah ren erschien der H istorism us, in seiner spezi­
fischen deutschen Spielart, welche die kritische Bew ertung politischer und gesell­
schaftlicher Problem e unter norm ativen G esichtspunkten weitgehend ausgeblendet
und sich damit vielfach unbewußt zum Instrum ent der jeweils H errschenden gem acht
hatte, als Inbegriff des Versagens der deutschen G eschichtsw issenschaft im 20. Ja h r­
hundert5. E r galt m it einigem R ech t als Gralshüter der irrationalistischen, antiwestli­
chen Traditionen des deutschen politischen D enkens, die dem A ufstieg des National­
sozialismus zum indest indirekt den Boden bereitet hatten. D ie den jeweils herrschen­
den Gewalten überwiegend applaudierende Tradition der deutschen nationalliberalen
und insbesondere der neorankeanischen H istoriographie, deren V ertreter wortgewaltig
die politischen Ideale des Kaiserreichs gegen die dem okratische Republik von W e i­
mar ins Feld geführt hatten, unter ausdrücklicher Berufung auf die Gew ißheit gewähr­
leistende M ethodenlehre des H istorism us, war gründlich diskreditiert. W ie sollten
überhaupt H istoriker Ereignissen wie der Erm ordung des europäischen Judentum s
m it dem klassischen Instrum entarium des individualisierenden „Verstehens“ geistig
gegenübertreten ?
D ie K ritik am H istorism us richtete sich nicht in erster Linie gegen dessen herm eneutisches Instrum entarium , sondern vor allem gegen das damit verbundene, gleich­
sam unreflektiert m ittransportierte ideologische Substrat, näm lich eines optim isti­
schen Vertrauens in den objektiven Prozeß der G esch ichte selbst, das das jeweils B e­
stehende und die jeweils herrschenden M ächte als zum indest relativ gerechtfertigt er­
scheinen ließ. Im Grundsatz wurde Rudolf Stadelm anns Diagnose der geistigen Situ­
ation der deutschen G eschichtsw issenschaft w eithin geteilt, daß ein Rückgang bis auf
die Stufe des im 18.Jahrhun d ert Erreichten, hinter die deutsche Sonderentw icklung
des 19. und 20.Jahrhunderts, notwendig geworden sei, um den geistigen und politi­
schen A nschluß an W esteuropa w iederzugewinnen: „Es bleibt wohl nur übrig, daß wir
geistig auf den Punkt zurückgehen, wo die revolutionäre Entw icklung in W esteuropa
und die deutsche Sonderentw icklung sich gegabelt haben. Das, was der abendländi­
schen W e lt zwischen 1 7 7 0 und 1800 gem einsam war, m uß auch für die Gegenwart
wieder die Basis eines gem einsam en europäischen D enkens ergeben.“6
In der T at waren die Postulate des klassischen H istorism us deutscher Observanz
m it der Renaissance naturrechtlicher D enkw eisen ebensow enig verträglich wie mit
4 Ebend a, 7 ff.
5 V gl. M. C. Brands, H istorism e als Ideologie. H et „anti-norm atieve“ en „on p olitieke“ elem en t in
de D u itse gesch ied w eten sch ap (Assen 1 9 6 5 ); fern er Georg G. Iggers, T h e G erm an C on cep tion of
H istory (M iddletow n, C on n. 1 9 6 8 ; dt. D eu tsch e G esch ich tsw issen schaft, M ün chen 21971).
6 D eutsch lan d und W esteuropa (Sch loß Laupheim 1 9 4 8 ) 33.
Sch lu ßbetrachtun gen
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den Ideen des N eoliberalism us, der in der Nachkriegsära dom inierenden politischen
Ideologie. D er Vorwurf, daß die historistische D enkw eise zur U ntergrabung aller m o ­
ralischen und politischen N orm en geführt habe, war als solcher nich t neu, schon vor
dem Ersten W eltkrieg hatte E rnst Troeltsch dies als den K ern der „Krise des H istoris­
mus“ diagnostiziert; jetzt stellte sich dieses Problem erneut in aller Schärfe. E n tsch ei­
dend war freilich, daß der H istorism us, zum indest in seiner deutschen Spielart, allzu
bereit gewesen war, die jeweils bestehenden Verhältnisse historisch zu legitim ieren,
unter H intansetzung m oralischer K ategorien gleichviel w elcher Art. D ie A utoritäts­
gläubigkeit der D eutsch en in der V ergangenheit schien hier eine ihrer W urzeln zu ha­
ben. A lles dies trug zur D iskreditierung des H istorism us als W eltanschauung und in­
direkt auc

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