die dritte radikale widerstandsbewegung: der islamismus
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die dritte radikale widerstandsbewegung: der islamismus
Ernst Nolte die dritte radikale widerstandsbewegung: der islamismus ernst nolte im Januar 2009 inhaltsverzeichnis 9 Einführung 31 I . Die ersten radikalen Widerstandsbewegungen 1. Die konservativen Züge im Marxismus S. 33 2. Die irreguläre Revolution des Marxismus- Leninismus S. 40 3. Gegenrevolution oder Revolution? Der Nationalsozialismus Adolf Hitlers S. 48 61 II. Der Westen als frühe Herausforderung für den Islam 1. Die Mühen und Ambivalenzen des »Nachholens« in der islamischen Welt des 19. Jahrhunderts S. 63 2. Frühe intellektuelle Auseinandersetzungen um »Fortschritt« und »Identität« S. 79 3. Die islamischen Länder in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg S. 86 93III. Die große Niederlage des Osmanischen Reiches und die kleinen Erfolge des arabischen Islam im Ersten Weltkrieg 1. Das Osmanische Reich vom Kriegsausbruch bis zur kemalistischen Republik S. 95 2. Die Vernichtung der armenischen Minderheit im osmanischen Reich S. 100 3. Die Anfänge des Zionismus S. 107 4. Die Balfour-Deklaration S. 121 5. Arabien auf dem Weg zu Unabhängigkeit und Nationalität? S. 129 6. Der arabische Aufstand und »Lawrence von Arabien« S. 134 7. Verrat des Westens an den Arabern? S. 140 155IV. Zwischenkriegszeit, Zweiter Weltkrieg und die Herausforderung des Islam durch den Zionismus 1. Der Islam in der Zwischenkriegszeit und im Zweiten Weltkrieg (1923 –1948) S. 157 2. D as Ringen der arabisch-islamischen Länder um die Unabhängigkeit S. 163 3. Die Verbündeten und Sympathisanten Hitlers im Raum des Islam S. 170 4. Die zionistische Besiedlung Palästinas, der arabische Widerstand und der Unabhängigkeitskrieg Israels S. 178 289VII. Der Islamismus als defensiv-aggressive im Riesenraum des Islam 1. Der Nahe Osten und der Islam nach der Gründung Israels bis zum »Sechstagekrieg« von 1967 S. 195 2. D er arabische Sozialismus Gamal Abdel Nassers S. 208 3. Der National-Sozialismus der Baath-Partei in S yrien und im Irak S. 215 4. Die Anfänge des Islamismus S. 221 243 VI. Die islamistische Revolution im Iran und die E rmordung des ägyptischen »Pharao« 1. Säkulare und islamische Tendenzen bis zur Revolution im Iran S. 245 2. Die islamistische Revolution des Ayatollah Chomeini im Iran S. 261 Ideologie in dem neuen Weltkonflikt 1. Aufstieg des Islamismus zur Weltmacht? S. 291 2. Die Ideologie von Osama bin Laden S. 306 3. Arabische Selbstkritik am Anfang des 21. Jahrhunderts S. 311 4. Der auch von innen umstrittene Staat: Israel S. 317 335Schlussbetrachtung: Die drei radikalen Widerstands- bewegungen im Vergleich 377Exkurs über einige vielgebrauchte Begriffe (»Antimarxismus« – »Singularität des Holocaust« – »jüdischer Bolschewismus« – das »absolute Böse«) 193V. Israel als Einsprengsel von »Modernität« 3. Der Islamismus und die USA im gemeinsamen Kampf gegen den Kommunismus in Afghanistan S. 273 4. Anwar as-Sadats Friedensschluss mit Israel, die neuen islamistischen Organisationen und die Ermordung des »Pharao« S. 278 395 Nachwort 401 Anhang Personenregister S. 403 Kurzbiografie des Autors S. 413 einführung 11 W enn es heute ein Modethema gibt, so ist es »der Islamis mus«, und es kann keine Rede davon sein, dass nur Is lamwissenschaftler oder Orientalisten sich als zuständig betrach ten. Viele Artikel in den Tages- und Wochenzeitungen sind voll davon, und für nicht wenige Reden von Politikern gilt das Glei che. Es handelt sich ja um eine Realität, die der ganzen west lichen Welt spätestens seit der Zerstörung der Zwillingstürme des World Trade Center durch ein völlig präzedenzloses Atten tat auf den Nägeln brennt, weil sie so neuartig und bedrohlich ist. Man holt sich häufig Rat bei den wissenschaftlichen Sach kennern, geht aber bei der Interpretation rasch über diese hin aus. Die am meisten verbreitete Deutung, es handle sich um ei nen fundamentalistischen »Aufstand gegen die Moderne« oder eine »Revolt against Modernity«1 ist aus der Islamwissenschaft als solcher nicht herleitbar, denn von »Moderne« lässt sich auf sinnvolle Weise nur sprechen, wenn die Frage ausdrücklich er örtert wird, was die Moderne denn eigentlich sei, gegen die der Islamismus offenkundig nur dann revoltieren kann, wenn er sich nicht ihrem Begriff subsumieren lässt, wenn es sich also um ein ausschließlich »antimodernes« oder mindestens »nichtmo dernes« Phänomen handelt. Aber der frühere Präsident der USA George W. Bush hat ausdrücklich den Begriff »Islamfaschismus« verwendet, und er hätte sich auf Vorläufer in der Literatur be rufen können.2 Gewiss ist auch und gerade »der Faschismus« als »antimodern« charakterisiert worden, aber es ist zweifelhaft, ob diese Kennzeichnung gleichermaßen auf den Faschismus Benito Mussolinis wie auf den Nationalsozialismus Adolf Hit lers zutrifft, zumal es keinem Zweifel unterliegt, dass alle Arten des Faschismus auf irgendeine Art modern sein wollten und insofern modern waren, als sie durchweg in einem negativen Verhältnis zu den konservativen und reaktionären Tendenzen in dem jeweiligen Lande standen. Ja, es gibt sogar ernstzuneh mende Autoren, die im Nationalsozialismus so etwas wie einen 12 einführung einführung 13 Gipfelpunkt oder ein Konzentrat der Moderne sehen.3 Um die Frage nach dem Islamismus auch nur richtig stellen zu kön nen, müsste man also Faschismusexperten heranziehen. Aber viel häufiger und mit besserer Begründung ist der Islamismus mit dem Kommunismus in Verbindung gebracht worden – und nicht erst seit der berühmten These von Jules Monnerot, der Kommunismus sei der Islam des 20. Jahrhunderts, einer These, die im Blick auf das 21. Jahrhundert leicht umgekehrt werden kann. Dennoch muss der Titel des vorliegenden Buches, Die dritte radikale Widerstandsbewegung: der Islamismus, Verwunderung her vorrufen, denn offensichtlich wird dadurch der Sowjetkommu nismus des 20. Jahrhunderts sowohl mit dem Faschismus wie mit dem Islamismus in enge Verbindung gebracht, wenngleich gewiss nicht identifiziert. Dieser Kommunismus, der noch für lange Jahre nach der Russischen Revolution von 1917 als Bol schewismus bezeichnet wurde, betrachtete sich selbst ja als die revolutionärste aller Bewegungen, und als solche wurde er auch von großen Teilen der außerrussischen Bevölkerung in Europa, ja in der Welt, und vornehmlich eines bedeutenden Teiles der Intellektuellen enthusiastisch bejaht und von noch größeren Tei len dieser Bevölkerung in tiefem Schrecken verneint. Er durfte als die konkret gewordene Vernichtungsdrohung gelten, die vor 1917 nur von einzelnen Denkern, in erster Linie von Nietzsche, wahrgenommen wurde, und die nach der Revolution bereits in der Praxis unter Beweis gestellt hatte, dass sie gewillt und in der Lage war, in ihrem Herrschaftsbereich diejenigen Klassen und Schichten sozial und großenteils auch physisch auszurotten, die als Träger und Förderer »des Kapitalismus« anzusehen waren, d. h. jener Wirtschaftsordnung, welche auf der Privatinitiative von einzelnen Individuen und Firmen beruhte und seit den Anfängen der Industriellen Revolution das Gesicht der europäi schen Zivilisation bestimmt und freilich nicht wenig an innerer Kritik hervorgerufen hatte. Die seit 1922 formell existierende »Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken« hatte gezeigt, dass ein völlig andersartiges Wirtschaftssystem möglich war, das jenige einer umfassenden Planwirtschaft ohne »Privateigentum an den Produktionsmitteln«. Nie hatte sich die europäische Ge sellschaft, die sich trotz aller gesellschaftlichen und staatlichen Unterschiede als einheitliches Ganzes betrachten durfte – als das Ganze der europäisch-amerikanischen Zivilisation mit ihren »Kulturstaaten« an der Spitze – einer so fundamentalen Heraus forderung konfrontiert gesehen. Und dieses schreckenerregende Phänomen soll eine (konser vative) Widerstandsbewegung gewesen sein? Ist eine paradoxere, unglaubwürdigere Interpretation vorstellbar? Aber schon in den frühen zwanziger Jahren war eine Deu tung zu Wort gebracht worden, die in dem Staat Lenins und Stalins das »Reich der roten Zaren« erkennen wollte, also das nur oberflächlich veränderte und seit Iwan dem Schrecklichen und Peter dem Großen stets despotisch regierte, dem liberalen System des übrigen Europa schroff entgegengesetzte Zaren reich. Und dieses Reich vermochte ja tatsächlich dasjenige zu bewahren, was den Engländern und Franzosen bereits aus den Händen zu gleiten begann, nämlich das riesige Kolonialgebiet, das die Zaren im 18. und 19. Jahrhundert in Sibirien und Mittel asien erobert hatten, so gewiss dieser erstaunliche Erfolg nur unter der Fahne eines »Antikolonialismus« möglich wurde, der sein Banner erstmals 1920 bei dem Kongress der unterdrückten Völker Asiens in Baku entfaltet hatte. Gewiss war diese »Befreiung« ihrerseits eine neuartige Un terdrückung, wie sie nicht zuletzt den Muslimen Zentralasiens gegenüber zum Vorschein kam und wie Lenin in seinen letzten Lebensjahren im Blick auf das vergewaltigte Georgien klar er kannte.4 Aber es war trotzdem eine tief erregende und enthu siasmierende Vorstellung, dass »die Weltrevolution« nicht den 14 einführung einführung 15 Weg über Berlin und Paris, sondern denjenigen über Peking und Neu-Delhi einschlagen würde, und die Vergleiche mit frü heren historischen Realitäten konnte man durch die Hervorhe bung der großen Unterschiede zurückweisen. Doch die Kritik kam nicht nur von außen, sondern auch aus dem (einstmals) innersten Inneren. 1937 schrieb der in der Auseinandersetzung mit Stalin unter legene und seit Jahren aus der Sowjetunion verbannte Leo Trotzki im Zusammenhang seiner Polemik gegen den Stalin schen Begriff des »Sozialismus in einem Lande«: »Im Laufe eini ger weiterer Fünfjahrpläne werden wir noch nicht entfernt den Stand der fortgeschrittenen Länder des Westens erreichen. Was wird in dieser Zeit mit der kapitalistischen Welt geschehen? . . . Hält man es für möglich, dass sie eine neue jahrzehntelange Blütezeit erlebt, dann ist es eine erbärmliche Abgeschmacktheit, von Sozialismus zu reden, dann wird man sagen müssen, dass wir uns in der Einschätzung der ganzen Epoche als einer Epoche der kapitalistischen Fäulnis geirrt haben, dann wäre die Sowjet union nach der Pariser Kommune das zweite Experiment einer Diktatur des Proletariats, ein größeres und fruchtbareres, aber nur ein Experiment . . .«5 Trotzki glaubt, diese Denkmöglichkeit zurückweisen zu dürfen, aber eine innere Tendenz seiner Ausführungen ließe sich heute folgendermaßen artikulieren: Da die »Weltmarktwirtschaft« (»der Kapitalismus«) seit 1937 tat sächlich eine lange, wenngleich nicht krisenlose Blütezeit erlebt und sich als das Gegenteil eines »verfaulenden« Systems darge stellt hat, ist die Konzeption einer »Weltplanwirtschaft« als ein Fehlschlag erwiesen, als ein großangelegter Versuch, inmitten der revolutionären Rhetorik und Militanz etwas zu bewahren, was in der Turbulenz der Entwicklung das eigentlich Erstrebte und in Ansätzen längst Vorhandene war: die trotz aller noch vorhandenen oder neu entstehenden Klassenunterschiede rela tive Undifferenziertheit der Individuen und die Bedarfsdeckung für alle im Rahmen einer nicht mehr autonomen, dem Willen des Staates bzw. der Staaten unterworfenen Wirtschaft. Und als im Jahre 1991 die Sowjetunion »zusammenbrach«, d. h., sich in ihre Bestandteile auflöste, und ein »Turbokapitalismus« ins Leben trat, da war es für einige Jahre die so gut wie allgemein vertretene oder vertretbare Überzeugung, dass ein erstarrter, bewegungslos gewordener Sozialismus sich als bloße »Wider standsbewegung« gegen den höchst flexiblen und dynamischen Kapitalismus gezeigt habe und mit innerer Notwendigkeit ge scheitert sei. Mithin wäre es gerechtfertigt, den scheinrevolutio nären oder verfehlt revolutionären Kommunismus als eine von drei Widerstandsbewegungen gegen »den Kapitalismus« neben den Faschismus und den Islamismus zu stellen. Wie sich von selbst versteht, bedarf die abkürzende und zusammenfassende Formulierung der Grundkonzeption im weiteren Verlauf der Ausführung und Begründung im Einzelnen. Der Islamismus wird als das relativ Neuartige dabei im Vordergrund stehen müssen, doch die beiden anderen Bewegungen müssen ständig, ausdrücklich oder unausdrücklich, anwesend sein, um den Ver gleich, der keine Gleichsetzung ist, immer wieder zu überprü fen und zu differenzieren. Aber den Islamismus in den Vordergrund zu stellen, schließt eine bedeutende Erweiterung der Fragestellung ein. Deshalb muss mit einigen Worten von dem intellektuellen Lebenslauf des Autors die Rede sein: Meines Wissens ist nie ernsthaft bestritten worden, dass die Publikation meines Buches Der Faschismus in seiner Epoche von 1963, in den Worten von Hans Morgenthau, ein »landmark in the history of political thought« gewesen ist 6, denn zum ersten mal wurde nach einer fünfzehnjährigen Periode des Schweigens der Faschismus wieder zum Thema gemacht, und zwar auf un verwechselbare Weise. Sehr rasch wurde er, nur teilweise durch den Anstoß dieses Buches, zum Thema einer ganzen jüngeren 16 einführung einführung 17 Generation, die sich durch die Verwendung dieses Begriffs grö ßere Klarheit über die Geschichte des Dritten Reiches und zu gleich den Schlüssel für die Auseinandersetzung mit der älteren Generation zu verschaffen suchte und dabei die große Rolle entdeckte, welche die Diskussion über den Faschismus in der Geschichte der Weimarer Republik gespielt hatte. Sie machte sich dabei ein Verfahren zu eigen, das in Faschismus in seiner Epoche gerade abgelehnt worden war, nämlich das Verfahren der »kollektivistischen Schuldzuschreibung« gegenüber der Gene ration ihrer Eltern. So tauchte schon bald der Verdacht auf, dass meine Forderung, auch dem Faschismus und selbst Hitler ge genüber nach allgemeinen wissenschaftlichen Grundsätzen zu verfahren und Objektivität auf dem Grunde des Willens zum Verstehen anzustreben, eine Tendenz zur Relativierung, ja mög licherweise sogar zur Apologie erkennen lasse. In der Tat war es ja unverwechselbar, den italienischen Faschismus und sogar die allgemein als konservativ geltende Action française neben den deutschen Nationalsozialismus zu stellen, aber das Resultat wa ren nicht Gleichsetzungen, sondern tiefgreifende Unterschei dungen im Rahmen einer grundlegenden Konzeption, die man der Geschichtsphilosophie und besser dem Geschichtsdenken zuordnen mochte, weil in dem fünften und abschließenden Teil Begriffe wie »theoretische und praktische Transzendenz« verwendet und durch Bezugnahmen auf Denker wie Imanuel Kant, Karl Marx, Friedrich Nietzsche und Max Weber erläu tert worden waren. Eine Erweiterung der Fragestellung war also schon im ersten Ansatz enthalten. Die überaus positive Aufnahme der ungekürzten Überset zungen in den USA und anderen Ländern drängte die kritischen Stimmen in den Hintergrund. Dennoch kam die erste und in ih rer Auswirkung folgenreichste Kritik aus den USA, als ich eine neue Erweiterung der Fragestellung vorgenommen und 1974 die umfangreiche Untersuchung über Deutschland und der Kalte Krieg vorgelegt hatte. Nun wurde mir von einem sehr angesehe nen deutschen Emigranten der Vorwurf gemacht, Deutschland in den Mittelpunkt gestellt und eine nationalistische Position eingenommen zu haben, obwohl ich gerade das Heraustreten Deutschlands aus dem Mittelpunkt der Ereignisse hatte nach zeichnen wollen und von einer Glorifizierung Deutschlands weit entfernt zu sein glaubte.7 Aber erst als ich dasjenige, was schon in Der Faschismus in seiner Epoche klar erkennbar und in seinem Verlauf immerhin umrissen worden war, nämlich die Beziehung zwischen Nationalsozialismus und Bolschewismus, untersuchte, und zwar durch das 1987 erschienene Buch Der europäische Bürgerkrieg 1917–1945, gewann der Verdacht plötzlich eine unerwartete Stärke, denn ich hatte den »kausalen Nexus« zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus, der zuguns ten eines kausalen Nexus zwischen deutscher Geschichte und Nationalsozialismus aus dem Blick geraten war, neu formu liert und dessen inneren Höhepunkt sogar im Verhältnis der beiderseitigen Vernichtungsmaßnahmen gesehen – bildlich ge sprochen im Verhältnis von Gulag und Auschwitz. Diese Erweite rung der Fragestellung war jedoch in Deutschland und großen Teilen der Welt tabuisiert wie keine andere, und ich sah mich nun in Deutschland – wenngleich nicht in Italien und Frank reich – von nahezu allen Autoren und zumal von fast der gan zen Historiographie verlassen und in die Acht getan. Das war allerdings nicht unmittelbar auf das Buch, sondern auf einen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit dem Titel »Ver gangenheit, die nicht vergehen will. Auseinandersetzung oder Schlußstrich?« zurückzuführen. Dadurch entstand der soge nannte »Historikerstreit«, über den weiter nichts gesagt werden muss. Immerhin konnte ich auch in Deutschland die Fragestel lung noch einmal erweitern, und zwar durch die Bücher über Nietzsche, Heidegger und das Geschichtsdenken im Zwanzigsten Jahrhundert. Sie verfolgten dasjenige in die Vergangenheit hinein, 18 einführung einführung 19 was in der Gegenwart fremdartig und untragbar erschien, aber sie wurden in der Regel mit Wendungen wie derjenigen abge tan, man kenne doch das alles schon aus meinen früheren Bü chern und ich brächte es anscheinend nicht fertig, endlich das Thema zu wechseln und mich Karl dem Fünften oder Friedrich dem Großen zuzuwenden. Das Hauptkennzeichen des Schritts zum Thema des »Isla mismus« besteht darin, dass die Frage nach Faschismus und Bol schewismus in einen bisher nur am Rande berührten Bereich übertragen wird, nämlich in denjenigen der in ihrer Entwick lung zurückgebliebenen Länder, der »Dritten Welt«. Sowohl der Bolschewismus wie der Faschismus entstanden in Europa, und Europa wurde im ganzen 19. Jahrhundert als der fortschritt lichste, ja als der herrschende Teil der Welt gesehen. Ein erstes Resultat der Hinwendung zu dem neuen Gegenstand könnte in der Annahme bestehen, dass es sich bei beiden Bewegungen und den entsprechenden Regimen um europäische Phänomene oder Phänomene der Ersten Welt gehandelt habe und dass in zurückgebliebenen Ländern allenfalls Nachahmungen aufkom men könnten, so dass von Anfang an ein scharfer Trennungs strich zwischen Kommunismus und Faschismus auf der einen Seite und Islamismus auf der anderen zu ziehen wäre. Wenn keiner der großen Staaten Europas als zurückgeblieben zu be trachten wäre, würden sie zueinander nur in einem Verhältnis des Ringens um Machtzuwachs und Einflussgebiete stehen, und wer von ihnen fortschrittlicher sein würde, wäre ebenfalls nur in diesem Ringen auszumachen. Für alle Länder der Dritten Welt würde dagegen der Satz gelten, dass ihre Fortschrittlichkeit in einem mehr oder weniger gelingenden Nachholen bestehen müsste und insofern mit erheblich größerer Bestimmtheit er kannt und definiert werden könnte. In seinem Selbstverständnis könnte der entwickelte Teil der Welt sich selbst einen dauer haften Vorrang im Sinne eines Grundgesetzes der Ungleichheit zuschreiben und als oberste Aufgabe die Behauptung und Ver stärkung dieser Ungleichheit sehen. Die Rede Adolf Hitlers vor dem Industrie-Club zu Düssel dorf am 26. Januar 1932 formuliert diese Auffassung mit großer Entschiedenheit, und sie entspricht der von nahezu der gesamten angelsächsischen Literatur verfochtenen oder als selbstverständ lich zugrundegelegten Überzeugung von der Existenz »höherer« und »niedrigerer« Rassen, aus deren unterschiedlichen Begabun gen und Anlagen jene Entwicklungsdifferenz resultiere.8 Aber im Denken sowohl der Sozialisten wie der Liberalen wurde die faktische Ungleichheit zwar konstatiert, jedoch nicht als etwas Endgültiges angesehen. Hier musste man von einem »Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung« sprechen, aber diesem Ge setz wurde keine zwingende Kraft zugesprochen, sondern es konnte durch einen intellektuellen und moralischen Faktor verändert werden: durch den Willen, den Bevorzugten die Ver pflichtung zur Hilfe für die Zurückgebliebenen oder Benachtei ligten aufzuerlegen und damit den Weg zu einem Weltzustand zu bahnen, der nicht mehr durch die Ungleichheit der Staaten und Kulturen und nicht einmal durch deren »ungleichmäßige Entwicklung« charakterisiert wäre.9 Im Blick auf den zu erstrebenden Weltzustand im ganzen würden Liberale und Sozialisten allerdings keineswegs mehr übereinstimmen, denn am Postulat der individuellen Freiheiten kann nur dann festgehalten werden, wenn der Entfaltung neuer Ungleichheiten keine prinzipiellen Hindernisse in den Weg gelegt werden, so dass mithin das Prinzip des Egalitarismus zu verneinen wäre. Aus dieser hypothetischen Sicht der Dinge würden sich dann die folgenden Begriffsbestimmungen herlei ten lassen: »Faschismus« wäre ein historisches Phänomen in der »europäischen« oder »Ersten« Welt, das einen bedrohten Vor rang mit Gewalt festzuhalten und möglichst zu erweitern sucht; »Liberalismus« wäre eine europäische Bewegung oder Tendenz, 20 einführung einführung 21 die den faktisch vorhandenen Vorrang der europäischen »Ersten Welt« durch die Macht des kulturellen Willens zur Hilfe für die zurückgebliebenen Teile der Welt allmählich abzubauen oder zu reduzieren bereit ist; »Bolschewismus« wäre die Bewegung, die nicht nur alle egalitären Tendenzen fördern will, sondern durch eine umfassende Revolution die Egalität sämtlicher Men schen in einer Welt ohne Klassen und Staaten herzustellen sucht. Wenn diese Weltrevolution gelingt, sind alle Unterschiede durch ein umfassendes Hilfsangebot zu bloßen Übergangsphänome nen geworden; wenn sie sich dagegen nur in Etappen vollzieht, sind die zurückgebliebenen Länder dazu aufgerufen, sich durch eigene und ungewöhnliche Anstrengungen an dem Ringen um den Ausgleich der Entwicklungsdifferenzen zu beteiligen, so fern ihnen der »liberale Weg« eines evolutionären Ausgleichs nach dem Muster des Einholens Englands durch Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verwehrt ist, d. h. durch einen mobilisierenden National-Sozialismus, der mit dem »Na tionalsozialismus« genannten Regime des deutschen Radikal faschismus trotz einiger äußerlicher Ähnlichkeiten nichts zu tun haben würde. So würden sich im Ausgang von dem Begriff der »ungleich mäßigen Entwicklung« sehr klare begriffliche Unterscheidun gen treffen lassen, und der Gegensatz zwischen Bolschewismus und Faschismus, der von so zentraler Bedeutung ist, solange die Fragestellung auf das Gebiet der Ersten Welt beschränkt ist, würde in die zweite Linie zurücktreten. Aber die gedanklichen Unterscheidungen stoßen, so gut sie in der historischen Realität begründet sein mögen, auf den Widerstand der konkreten Ver hältnisse, und sie müssen daher auf vielfältige Weise konkreti siert und verfeinert werden. Die erste Schwierigkeit ergibt sich aus der Vorstellung einer relativ einheitlichen und den Fortschritt verkörpernden europä ischen Welt, der gegenüber alle anderen Länder »zurückgeblie ben« sind, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Im Februar 1931 sagte Stalin im Zusammenhang des »ersten Fünfjahrplanes« Folgendes: »Wir sind in einem Lande zur Macht gelangt, des sen Technik furchtbar rückständig ist. . . . Wir müssen erreichen, dass wir die fortgeschrittene Technik der entwickelten kapitalis tischen Länder einholen und überholen. . . . Entweder erreichen wir das, oder wir werden zermalmt. . . . Das ist nicht nur vom Standpunkt der Errichtung des Sozialismus richtig. Es ist auch richtig vom Standpunkt der Behauptung der Unabhängigkeit unseres Landes unter den Verhältnissen der kapitalistischen Umkreisung. . . . Und vollbringen können dies nur wir, die Bol schewiki.«10 Stalin sah also gerade die Zurückgebliebenheit als ein Haupt kennzeichen des Landes, das doch andererseits beanspruchte, die Vormacht der sozialistischen Weltrevolution zu sein. Aber er konnte ein solches national-sozialistisches Manifest (wie man die Rede nennen könnte) nur schreiben, indem er in evidenter Einseitigkeit bloß die negativen Züge hervorhob: Russland war keineswegs ausschließlich das Opfer der Angriffe von Tataren und Polen, die er in dieser Rede erwähnte, sondern es hatte sich unter der Führung der Zaren in einer Angriffsoperation, die nur mit derjenigen der Amerikaner zu vergleichen war, über einen ganzen Kontinent ausgebreitet, und es war vor 1914 im Begriff gewesen, einen erstaunlichen industriellen Aufstieg zu vollziehen, so gewiss es wegen seiner ungeheuren Ausdehnung mit Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, von denen Deutschland oder Frankreich nichts wussten. Seine sinnlich wahrnehmbare Zurückgebliebenheit beruhte gerade auf der Revolution und ih ren Nachwirkungen sowie nicht zuletzt auf der Tatsache, dass es sich selbst aus dem Kreis der Siegermächte ausgeschlossen hatte. Aber auf der anderen Seite machte eben diese Revolution es möglich, dass die Stalinsche Sowjetunion der Bevölkerung beispiellose Opfer auferlegen und ein Industrialisierungspro 22 einführung einführung 23 gramm in Gang setzen konnte, das sie durch eigene Anstrengun gen und die teuer erkaufte technische Hilfe von amerikanischer und deutscher Seite im Verlauf von kaum mehr als zehn Jah ren zu der größten und am besten gerüsteten Militärmacht der Erde machen würde. Von einer Einheitlichkeit der entwickel ten Welt, an der sich die zurückgebliebenen Länder der Dritten Welt orientieren würden, konnte mithin nicht entfernt die Rede sein, sondern innere Differenzen und Konflikte, die gerade von der Sowjetunion als »imperialistisch« gekennzeichnet wurden, würden das Bild der Realität weit stärker bestimmen als die ge danklichen Linien, so gewiss diese weit mehr als bloße Kon struktionen in den Köpfen von Intellektuellen waren Und auch Deutschland wich von dem Idealbild der Zugehö rigkeit zur »entwickelten Welt« erheblich ab. Hatte sich das Bismarckreich doch jahrzehntelang gegenüber England als »zurück geblieben« empfunden und dann einen seiner bedeutendsten Triumphe darin gesehen, dass es um die Jahrhundertwende an England vorbeizuziehen schien. Aber die Niederlage im Ersten Weltkrieg und das »Diktat von Versailles« hatten es weit zurück geworfen, und schon sehr bald kamen nationalbolschewistische oder nationalrevolutionäre Tendenzen auf, die Deutschlands rettende Mission in einem Bündnis mit den unterdrückten und wenig entwickelten, aber in einem Prozess der »nationalen Be freiung« befindlichen Kolonialvölker sahen und über einigen Einfluss in den Parteien der Rechten sowie Sympathien auf seiten der Linken besaßen. Es war Adolf Hitler, der sich lange vor dem Durchbruch seiner Partei zu nationaler Bedeutung mit größter Entschiedenheit gegen diese Tendenzen wandte, und zwar mit dem traditionellen Argument der rassischen Überlegenheit der europäischen bzw. kaukasischen Völker, das im Zweiten Weltkrieg die gar nicht wenigen »Freunde des Dritten Reiches« unter Ara bern und Indern in große Schwierigkeiten bringen sollte. Unter einem wichtigen Gesichtspunkt war Hitler in der Tat der ent schiedenste Vorkämpfer des dauernden Vorrangs der »weißen Rasse«, und nichts hätte er lieber gesehen als einen im Bündnis mit Großbritannien geführten Krieg eines vereinigten Europa unter deutscher Führung gegen die »asiatische« und »barbari sche« Sowjetunion. Aber weil er glaubte, dem kommunistischen Vernichtungskampf gegen den Kapitalismus und die bürgerliche Gesellschaft etwas Gleichgewichtiges entgegensetzen zu müs sen, untergrub er durch seinen Kampf gegen die Juden, die doch ebenfalls zur »weißen Welt« gehörten und ein bedeutender Fak tor in der westlichen Gesellschaftsordnung waren, diesen Aspekt seiner Konzeption schon von den Anfängen an. So blieb nach dem Ausscheiden Deutschlands nur noch die angelsächsische Welt für den großen Versuch übrig, die geistige und materielle Kluft zwischen der entwickelten und der zu rückgebliebenen Welt durch eine Unterstützung der »nationa len Befreiungskämpfe« zu verringern oder womöglich gar zu schließen. Für Großbritannien handelte es sich dabei um eine Zerreißprobe präzedenzloser Art, denn es war die größte Kolo nialmacht der Welt und hatte also am meisten zu verlieren. Dass es objektiv trotz starken subjektiven Widerstrebens der führen den Staatsmänner und Schichten die liberale Lösung wählte, war weniger auf Einsicht zurückzuführen als auf das fortwir kende Motiv, die Entstehung einer Hegemonialmacht auf dem europäischen Kontinent zu verhindern, und so konnte Chur chill sich darüber hinwegtäuschen, dass Franklin D. Roosevelt in viel höherem Maße ein Feind des British Empire war als Hitler. Aber der eigene Antrieb fehlte bei den entscheidenden Schritten nicht ganz, vornehmlich wegen der Existenz der L abour Party. So versprachen die Engländer schon 1916 den Arabern die Frei heit, und bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entließen sie den kostbarsten Teil ihres Reiches, Indien, in eine Unabhän gigkeit, deren Bedeutung zunächst noch durch den Begriff des British Commonwealth kaschiert wurde. 24 einführung einführung 25 Aber was da zu politischer Unabhängigkeit und zu wirt schaftlichem Wohlstand gebracht werden sollte, waren Länder einer alten Kultur und Zivilisation, die im Mittelalter der klei nen Insel am westlichen Rand Europas nach Vielfalt des Geistes lebens und Reichtum der materiellen Verhältnisse weit voraus gewesen waren. In der ausgedehnten Welt des Islam, die sich in Nordafrika von der Küste des Atlantik über den »Fruchtbaren Halbmond« des Mittleren Ostens bis zum Osten Indiens und bis nach Indonesien erstreckte und die uns in erster Linie zu interessieren hat, weil daraus der »Islamismus« entsprang, ging also das beinahe allverbreitete Empfinden der Zurückgeblieben heit mit einem starken Gefühl westlicher »Dekadenz« Hand in Hand und hielt neben dem unbestrittenen Wunsch nach »Aufholen« auch den bedrängenden Rückblick auf eine einstige Überlegenheit wach. Bevor der Blick auf die Entwicklung des 19. und 20. Jahr hunderts gerichtet werden kann, sollte vorwegnehmend und abkürzend gesagt werden, dass die Muslime, die Anhänger der Religion – besser: der religiösen Lebensordnung – des Islam, gute Gründe für den Stolz auf ihre Vergangenheit und sogar für die Anhänglichkeit an ihre gegenwärtige Lebensweise besaßen. Nie zuvor hatte eine Religion mit ihren Gesetzen und morali schen Maximen, die anfänglich weiter nichts als die von einer unbedeutenden Sippe in einem abgelegenen Winkel der Welt ernstgenommene Offenbarung durch einen – nicht selten als »Analphabet« bezeichneten oder als »Kameltreiber« verspotte ten – »Gesandten Gottes« war, in so kurzer Zeit in einem rie sigen Gebiet die unbestrittene Vorherrschaft errungen und das Leben vieler Hunderttausender von Menschen zutiefst geprägt. Mohammed ibn Abdallah, um 570 geboren und durch die Ehe mit einer reichen Witwe wirtschaftlich unabhängig gewor den, war offenbar eine ganz außergewöhnlich willensstarke und charismatische Persönlichkeit aus einem der kleineren Zweige des in Mekka herrschenden Stammes der Quraish, und die »Suren« der ihm angeblich von einem Engel übermittelten Of fenbarungen, zuerst nur mündlich vorgetragen und erst nach seinem Tode zum Heiligen Buch des Koran zusammengestellt, werden auch heute noch von Kennern als das machtvollste und schönste Stück poetischer Prosa in arabischer Sprache betrach tet. Dabei lässt sich der gedankliche Gehalt in einem einzigen Begriff zusammenfassen: Es handelt sich um die gegen das herr schende Heidentum gerichtete, weithin auf jüdische und christ liche Quellen gestützte Predigt eines reinen Monotheismus, der sich ebensosehr von der christlichen Trinitätslehre wie von dem jüdischen partikularistischen Universalismus absetzt und nichts anderes sein will als die Religion der im »Islam«, der Ergebung in den Willen Gottes, geeinten Menschheit. In der Einfachheit seines Glaubensbekenntnisses: »Es gibt keine Gottheit außer Gott (Allah), und Mohammed ist sein Prophet«, und in der An schaulichkeit seiner wenigen Gebote (außer dem Glauben an Gott und seinen Propheten das rituelle, fünfmal am Tage durch Niederwerfen vor Gott zu vollziehende Gebet, Almosengeben, regelmäßiges, aber nicht exzessives Fasten im Monat Ramadan, einmalige Pilgerfahrt zum Heiligtum der »Kaaba« in Mekka) ist der Islam tendenziell die Religion der gesamten Menschheit, die nur noch für eine Übergangszeit in das befriedete »Haus des Islam« und das zerrissene, schließlich vom Islam zu erobernde »Haus des Krieges« (dar al-islam – dar al-harb) geteilt ist. Nach seiner Auswanderung (hidschra) mit einer Anzahl von Anhän gern in die Oase Medina, von der die islamische Zeitrechnung ihren Ausgang nimmt, war Mohammed nicht mehr nur der Prophet seiner Gemeinde, sondern der Stadtherr Medinas, der Gesetzgeber und Feldherr, welcher schließlich seine Heimat stadt Mekka eroberte und der mächtigste Mann des bis dahin fast nur von beduinischen Stämmen bewohnten und dann im Islam geeinigten Arabien wurde. 26 einführung einführung 27 So war der Islam keineswegs bloß Lehre, sondern vor allem Lebensordnung in strenger gesetzlicher Regelung, die den Weingenuss und das Glücksspiel verpönte, aber auch einen Genozid möglich machte, nämlich die Vernichtung der etwa 700 Männer des jüdischen, in Medina wohnenden Stammes der Qurayza, die sich in einer schwierigen Situation feindselig verhalten, wenn auch nicht militanter Aktionen schuldig gemacht hatten. Nach dem Tode Mohammeds im Jahre 632 dehnte sich der Islam un ter seinen Nachfolgern, den vier »rechtgeleiteten« Kalifen, bis nach Ägypten und Mesopotamien aus, aber in den Nachfolge kämpfen vollzog sich auch die erste Spaltung, nämlich in die später »Sunna« genannte Mehrheit und in die »Schiiten«, die »Partei Alis«, die aus der Ermordung Alis, des vierten Kalifen und Schwiegersohns Mohammeds, und dem Märtyrertod seiner beiden Söhne ein starkes Element von Emotion und Trauer in die islamische Welt brachte und sich später im Iran sowie zeit weise in Ägypten als Staatsreligion durchsetzte – eine Staatsreli gion freilich, welche die Einheitlichkeit des islamischen Lebens stils nicht aufhob. »Orthodox« waren dagegen die sunnitischen Dynastien der Umajjaden in Damaskus und der Abbassiden in Bagdad, aber dogmatische Glaubensfragen spielten im Islam trotz der bald in Erscheinung tretenden Auseinandersetzungen und des Zerfalls in unterschiedliche Herrschaftsgebiete keine so bedeutende Rolle wie im Christentum. Jedem Muslim und auch jedem »Ungläubigen« (kafir) wurde es bei Reisen selbst in fernen Gegenden unmittelbar anschau lich, dass er sich in der islamischen Welt befand: von den Rufen der Muezzine zum Gebet von den Minaretten der Moscheen angefangen bis zum unverwechselbaren Baustil der Medresen (Koranschulen) und der Paläste der Kalifen oder Sultane. Zwar tobten unterhalb dieser symbolischen Einheit Machtkämpfe zwischen Herrschaftsprätendenten, die oftmals einen in Europa ganz unbekannten Charakter hatten, weil nicht selten die Er mordung der zahlreichen Brüder des künftigen Herrschers ins Werk gesetzt oder die Macht fremdländischer Sklavensoldaten etabliert wurde, aber die herzwärmende Einheit der religiösen Gemeinschaft wurde durch die Kämpfe und Spaltungen der po litischen und meist nach der Tradition des orientalischen Gott königstums »despotisch« geführten Einzelstaaten nicht ernsthaft gefährdet – selbst die Mongolen, die im Jahr 1258 die Abbassi dendynastie in Bagdad zerstörten und in der Stadt ein fürchter liches Gemetzel mit Hunderttausenden von Opfern anrichteten, wurden schließlich zu Muslimen. Sogar als nach Jahrhunderten des Machtverlustes und der Dekadenz der osmanische Sultan-Kalif in Istanbul von dem mächtigsten Vorkämpfer eines säkularen türkischen Nationalis mus, dem einstigen Helden der Verteidigung der Dardanellen gegen die Alliierten im Ersten Weltkrieg Kemal Pascha, abge setzt worden war, konnte ein zum Islam übergetretener Jude das islamische Leben nach seinem inneren und menschlichen Gehalt weit über das Leben der Menschen im schon nicht mehr wirklich christlichen Europa stellen. Leopold Weiss, der sich Mohammed Asad nannte und später sein Leben als pakistani scher Botschafter beschloss, beschrieb in den zwanziger Jahren die Erfahrungen, die er in der Berliner U-Bahn gemacht hatte: die Menschen seien gut gekleidet und offensichtlich nicht hung rig gewesen, aber sie hätten einen gehetzten und unglücklichen Eindruck gemacht – im Gegensatz dazu führten alle Muslime, sogar die ärmsten, »ein wundervoll einfaches Leben von der Geburt bis zum Tode«, weil sie außerhalb der mechanisierten Lebensweise in einem Europa ständen, das »verbraucht, deka dent, von Ausbeutung geprägt und konsumorientiert« sei, aber Glück oder Zufriedenheit nicht zu vermitteln vermöge.11 Das mag ein guter Ausgangspunkt sein, um genauer auf das Selbstverständnis und die Zielsetzungen einer Kultur einzuge hen, deren Wortführer ihre Gegenwart durchweg als »zurück 28 einführung geblieben« betrachteten, aber aus einer glorreichen Vergangen heit Kraft und Zuversicht zu gewinnen versuchten und sogar für die konkrete Gegenwart nicht selten ein Gefühl der Überlegen heit artikulierten. Doch zunächst muss gefragt werden, ob jene anderen Widerstandsbewegungen eine ähnliche Bestimmung des Gegners bzw. des Feindes vornahmen wie ansatzweise der Islam und später mit größerer Entschiedenheit der Islamismus. einführung 29 Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 Vgl. z. B. Thomas Meyer: Fundamentalismus. Aufstand gegen die Moderne, Reinbek 1989; Michael Youssef: Revolt against Modernity. Muslim Zealots and the West, Leiden 1985 George W. Bush in der Pressekonferenz vom 7. August 2006 in Crawford unter besonderem Hinblick auf die »Hisbollah«. In der Literatur vornehm lich Norman Podhoretz: World War IV. The long Struggle against Islamofascism, New York 2007, und die Zeitschrift Commentary. Zygmunt Bauman: Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 1992 Wladimir I. Lenin: Ausgewählte Schriften, hrsg. und eingeleitet von Her mann Weber, München 1963, S. 1217 (Briefe an Trotzki und an die geor gischen Kommunisten vom 5. bzw. 6. März 1923). Zuerst veröffentlicht in Leo Trotzki: Mein Leben. Versuch einer Autobiographie, Frankfurt a. M. 1961 [zuerst Berlin 1929], S. 443 ff. Leo Trotzki: Verratene Revolution, Zürich 1937. In Leo Trotzki: Schriften, Bd. I. 2, Hamburg 1988, S. 997 f. In Book Week vom 13. 2. 1966 Felix Gilbert in The American Historical Review, Bd. 81, Heft 3/1976, S. 618 f. Vgl. Max Domarus: Hitler. Reden und Proklamationen 1932 –1945. Bd. I, Triumph (1932 –1938). Würzburg 1962, S. 68 – 90 Anders als Hitler und doch nicht ganz anders hatte sich Friedrich Engels 1882 in einem Brief an Karl Kautsky zum Verhältnis der »entwickelten« zur »zurückgebliebenen« Welt geäußert: »Ist Europa [nach der sozialisti schen Revolution] erst reorganisiert und Nordamerika, so gibt das eine so kolossale Macht und ein solches Exempel, dass die halbzivilisierten Länder ganz von selbst ins Schlepptau kommen, das besorgen allein schon die öko nomischen Bedürfnisse. Welche sozialen und politischen Phasen aber diese Länder dann durchzumachen haben, bis sie ebenfalls zur sozialistischen Organisation kommen, darüber, glaube ich, können wir heute nur ziemlich müßige Hypothesen aufstellen. Nur das eine ist sicher: das siegreiche Prole tariat kann keinem fremden Volk irgendwelche Beglückungen aufzwingen, ohne damit seinen eigenen Sieg zu untergraben. Womit natürlich Vertei digungskriege verschiedener Art keineswegs ausgeschlossen sind.« Marx E ngels Werke (MEW ), Bd. 35, S. 356 ff., S. 358 Josef Stalin: Fragen des Leninismus, Berlin 1955, S. 453– 464, hier: »Über die Aufgaben der Wirtschaftler«, S. 461 Ismail Ibrahim Nawwab: »A Matter of Love. Muhammad Asad and Islam«, in: Islamic Studies, Bd. 39, Heft 2/2000, S. 155– 231 (S. 157 f.)