Ansprache beim Ausschwitz-Gedenktag 27.01.2007
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Ansprache beim Ausschwitz-Gedenktag 27.01.2007
Christlich – Islamische Arbeitsgemeinschaft Marl Beitrag am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, Samstag, 27.Januar 2007, 16.00 – 18.30 Uhr in der VHS „insel“ Feindbilder damals und heute. Gedanken und Beobachtungen. 1.) Der gemeinsame Bezugspunkt für alle Überlegungen ist das Grundgesetz, Artikel Eins: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Grundrechte wie dieses sind so elementar und eindeutig wie Essen, Trinken, Wachen oder Schlafen. Grundrechte werden nicht gewährt oder gnädig zugestanden, von Politik oder Verwaltung, von einem Staat oder einer Religion, sondern sie sind grundlegend vorhanden wie das menschliche Leben selber. Grundrechte werden nicht geschenkt von Reichen oder Mächtigen sondern gelten allen Menschen – gleich welcher Religion, Nationalität, Geschlecht, Rasse, Einkommensschicht. Politik und Verwaltung, Religionen und Staaten, Gerichte und Gelehrte, Medien und alle mit Einfluss müssen dafür sorgen, dass Grundrechte zur Geltung kommen, verwirklicht und eingehalten werden. Nach religiösen Maßstäben sind Grundrechte „heilig“. Im Nationalsozialismus galten die Grundrechte grundsätzlich nicht, sondern wurden systematisch und brutal gebrochen. Wir wissen das und haben heute wieder davon Erschütterndes erfahren. In der Bundesrepublik Deutschland gelten die Grundrechte, sie sind der erste Teil der Verfassung, des sog. Grundgesetzes unsers Landes. Sie müssen täglich verwirklicht und gewahrt werden. Schulen kommt dabei eine große Aufgabe zu. Daher sind wir froh über die jährliche Beteiligung der Marler Schulen am heutigen Gedenktag. (2.) Wie ist das politische Klima bei uns im Lande im Jahre 2006 – 2007? Wir beziehen uns auf drei wichtige Untersuchungen aus jüngster Zeit: Wir beginnen mit der Studie der Friedrich – Ebert – Stiftung vom Herbst 2006, sie wurde in Leipzig erarbeitet, 5000 Menschen wurden befragt. Das Ergebnis ist erschreckend: „Rechtsextreme Einstellungen sind kein Randphänomen, sondern in der Mitte der Gesellschaft verwurzelt. Ausländerfeindlichkeit ist demnach die am weitesten verbreitete rechtsextreme Einstellung – 26,7 Prozent der Befragten aus allen Bevölkerungsschichten, Bundesländern und Wählergruppen stimmten entsprechenden ausländerfeindlichen Thesen zu. Mehr als 19 Prozent zeigten sich zudem empfänglich für ein Überlegenheitsgefühl der Deutschen gegenüber anderen Völkern, d.h. fast 15 Prozent zeigen sich überzeugt, dass die Deutschen anderen Völkern „von Natur aus überlegen“ seien. Mehr als 10 Prozent stimmen der These zu, es gebe „wertvolles und unwertes Leben“. 9 Prozent geben an, sie betrachteten die Diktatur als die unter Umständen bessere Staatsform. 15,2 Prozent sehen sich nach einen „Führer“ mit starker Hand, 26 % nach einer einzigen Partei, von der die „Volksgemeinschaft“ verkörpert werde. Antisemitische Äußerungen wie „Juden arbeiten mehr als andere Menschen mit üblen Tricks“ fanden Zustimmung bei 6,1 Prozent der Ostdeutschen, aber bei 15,8 Prozent der Westdeutschen. Als Gründe für diese rechtsextremen Haltungen ermitteln die Autoren Elmar Brähler und Oliver Decker zweierlei: wirtschaftliche Benachteiligung und Ängste sowie politische Einflusslosigkeit. Übrigens sind nicht nur Jugendliche anfällig sondern auch bei älteren Menschen gibt es Rechtsextremismus. Und die Friedrich Ebert Stiftung weist nach, dass bei Gewerkschaftsmitgliedern diese besorgnis erregenden Meinungen mindestens so stark vertreten sind wie bei Nicht-Mitgliedern. „Das Besondere an der gewerkschaftlich organisierten Mittelschicht besteht nach Meinung der Experten von der Friedrich Ebert Stiftung darin, dass sie in doppelter Hinsicht massive Ängste entwickelt, die sich gegenseitig noch verstärken dürften: Als Arbeitnehmern droht ihnen das Schicksal von sozialen Verlierern, als Gewerkschaftsmitgliedern droht ihnen das Schicksal von politischen Verlierern.“ (zitiert Ver.Di Publik, Dez.2006, s.3). (3.) Die zweite Untersuchung stammt vom Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld unter der Leitung von Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer. Es werden in ganz Deutschland seit 2002 Jahr für Jahr 2.000 Menschen befragt und die Ergebnisse unter dem Titel „Deutsche Zustände“ im Suhrkamp Verlag Frankfurt als Taschenbuch veröffentlicht. Die 5. Folge dieser Untersuchung ist im Dezember 2006 erschienen und in jeder Buchhandlung zu erhalten. Seit 2002 ermitteln die Bielefelder Forscher deutlich wachsende Vorbehalte gegen Ausländer. Fast 60 Prozent der Befragten stimmten der These „eher“ oder „voll und ganz“ zu, dass zu viele Ausländer in Deutschland lebten. Das sind 6 Prozent mehr als in der Befragung vor 4 Jahren. Gewachsen sind vor allem Vorbehalte gegen Muslime. Gut 28 Prozent konnten sich mit der Forderung anfreunden, Muslimen sollte die Zuwanderung nach Deutschland verboten werden. Die Abwehr gegen den Islam geht durch alle Bevölkerungsschichten. Zum Antisemitismus befanden die Bielefelder Forscher: Wegen des Konflikts zwischen Israel und Libanon im vergangenen Sommer sind die Vorbehalte gegen Juden wieder gestiegen, als sei die Religion des Judentums das gleiche wie die Politik des Staates Israel. Ferner stellen auch die Bielefelder Forscher fest: die Ängste der Deutschen vor Arbeitslosigkeit und sinkenden Lebensstandard wachsen weiter (vgl. Frankfurter Rundschau, 15.12.06, s. 4). (4.) Und drittens kommt die in Wien ansässige Europäische Behörde der Europäischen Union zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (EUMC) zum Ergebnis für ganz Europa: „Besonders häufig sind die Roma Fremdenhass und Gewalt ausgesetzt. Registriert werden daneben weiterhin antisemitische Vorfälle und eine steigende Zahl von Beleidigungen sowie körperlichen Angriffen gegen Muslime. Die zunehmende Islamfeindlichkeit ist ein besonders besorgniserregendes Problem“ in Europa, beklagt die Chefin dieser Europäischen Behörde Anastasie Crickley. (FR 29.11.2006, s.4). Was tun? Wir leben hier in Marl nicht auf einer Insel der Harmonie und des Friedens. Wer weiß, welche Ergebnisse die Befragung in Marl in Schulen, Betrieben, Stadtverwaltung, Parteien und auf der Straße ergeben würde, vielleicht wäre das mal ein Unterrichtsprojekt an Schulen – mit den Fragebögen der Friedrich Ebert Stiftung oder des Bielefelder Instituts. (5.) Im Jahre 2000 wurde unsere Stadt Mitglied in dem Deutschland-weiten Netzwerk gegen Rassismus und stellte fest: „Marl hat keinen Platz für Rassismus“ (zu lesen auf 13 Tafeln im Stadtgebiet, es könnte ein lohnendes Unterrichtsprojekt sein, die 13 Standorte zu finden). Es gibt seit 1998 ein Europa-weites Netzwerk der „Städte für die Menschenrechte“, Mühlheim/Ruhr hat sich längst dafür entschieden, ebenso München u.a. Städte. Es wäre an der Zeit, dass jemand an den Rat der Stadt Marl den Antrag stellt, dass auch Marl dem Europa-Netzwerk „Städte für die Menschenrechte“ beitreten sollte. Wir alle sind verpflichtet, für das eingangs zitierte Grundrecht tagtäglich zu arbeiten: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Mit Euch/Ihnen zusammen machen auch wir als Christlich – Islamische Arbeitsgemeinschaft Marl und auch mit dem Projekt des jährlichen Abrahamsfestes beharrlich immer weiter. Schalom – Frieden – Salam.