Einführung Sammelklagen in Frankreich
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Einführung Sammelklagen in Frankreich
JUNE Nr. 2012 5/2013 Aus dem Inhalt ... Die rechtlichen Neuerungen in § 94 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AMG: Deklaratorische Unabhängigkeit von Versicherungsunternehmen und verfassungswidrige Einschränkung bei der Rückversichererauswahl? Insolvenzen nach ESUG – Was sind die Folgen für Versicherungslösungen? The sky is the limit – Anwaltshaftung im internationalen Mandat Rechtsprechung/Gesetzgebung: Kein Eintritt des Versicherungsfalls in der D&O-Versicherung bei fehlender „ernstlicher Inanspruchnahme“ PHi PHi Haftpflicht international – Recht & Versicherung Ein Unternehmen der Berkshire Hathaway Gruppe Inhaltsübersicht Aufsätze Die rechtlichen Neuerungen in § 94 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AMG: Deklaratorische Unabhängigkeit von Versicherungsunternehmen und verfassungswidrige Einschränkung bei der Rückversichererauswahl? von Ass. iur. Anna Serdiuk und Ass. iur. Marco Visser 162 Insolvenzen nach ESUG – Was sind die Folgen für Versicherungslösungen? von Jörg Conradi und Dr. Jürgen Wolters 176 Literatur Rechtsprechung/Gesetzgebung D&O/Berufshaftpflicht The sky is the limit – Anwaltshaftung im internationalen Mandat von Bastian Finkel 188 Dr. Hans Josef Kullmann/Prof. Dr. Bernhard Pfister/ Karlheinz Stöhr/Prof. Dr. Gerald Spindler: Produzentenhaftung 169 Kein Eintritt des Versicherungsfalls in der D&O-Versicherung bei fehlender „ernstlicher Inanspruchnahme“ von Prof. Dr. Tobias Lenz und Mike Weitzel 170 BGH: Zur Haftung einer Bank gegenüber Anlegern wegen angeblicher Aufklärungspflichtverletzungen (Lehman Brothers) 174 BGH: Zur Haftung des Geschäftsführers einer Komplementär-GmbH gegenüber der GmbH & Co. KG 174 BGH: Zur Verjährung gem. § 43 Abs. 4 GmbHG 175 KG Berlin: Zur Haftung eines Geschäftsführers gegenüber Dritten für Schutzrechtsverletzungen der Gesellschaft 175 von Dr. Oliver Sieg und Dr. Tanja Schramm Aus aller Welt Frankreich Aktuell Australien: Federal Court lehnt Vioxx-Vergleich ab 181 Deutschland: BGH legt EuGH Fragen zur Medizinproduktehaftung vor • Apotheker haftet wie Arzt für Verschreibungsfehler 181 Österreich: Verbandsklage gegen geschlossenen Immobilienfonds 182 Vereinigtes Königreich: Ausführungsverordnung zur Haftung von Ratingagenturen 183 Baldige Einführung von Sammelklagen in Frankreich wahrscheinlich von Thomas Rouhette, Christine Gateau und Désirée Maier 184 Das französische Gesundheitswesen könnte bald Sammelklagen ausgesetzt sein von Cécile Derycke, Thomas Rouhette, Charles-Henri Caron und Dr. Matthias Schweiger 187 PHi – 5/2013 161 Frankreich aktuell Thomas Rouhette und Christine Gateau, Paris, sowie Désirée Maier, München Thomas Rouhette ist Partner in der internationalen Sozietät Hogan Lovells in Paris. [email protected] Christine Gateau ist Partnerin in der internationalen Sozietät Hogan Lovells in Paris. [email protected] Désirée Maier ist Associate in der internationalen Sozietät Hogan Lovells in München. [email protected] Baldige Einführung von Sammelklagen in Frankreich wahrscheinlich Am 3. Juli 2013 hat das französische Parlament (Assemblée Nationale) einen Gesetzentwurf zur Änderung verschiedener verbraucherschützender Gesetze (Projet de loi Consommation) mehrheitlich und mit nur wenigen Ergänzungen und Änderungen angenommen. Der Entwurf soll die Informations- und vertraglichen Rechte der Verbraucher stärken sowie die Befugnisse der Vollzugsbehörden erweitern. Insbesondere ist in Art. L. 423-1 ff. des französischen Verbraucherschutzgesetzes (Code de la consommation) die Einführung von Sammelklagen vorgesehen. Nachdem am 13. September 2013 auch der Senat (Sénat) den Gesetzentwurf nach Vornahme nur weniger Änderungen verabschiedet hat, wurde dieser nun wiederum dem Parlament vorgelegt. Sofern dieses dem Entwurf in unveränderter Fassung zustimmt, müsste er dem Senat nicht ein weiteres Mal vorgelegt werden. Dies läge auch im Sinne der Regierung, die die Einführung der Sammelklage noch vor Ende des Jahres 2013 zu planen scheint. Anwendungsbereich des Gesetzes Der Gesetzentwurf sieht die Einführung eines Sammelklageverfahrens vor, das sich vom US-amerikanischen Modell unterscheidet. Nach Ansicht der Verfasser des Gesetzentwurfs soll damit ein Gleichgewicht zwischen Verbraucher- und Unternehmerinteressen geschaffen werden. Nach der derzeitigen Fassung des Entwurfs ist ausschließlich eine auf nationaler Ebene vertretene Verbraucherschutzorganisation i. S. von Art. L. 411-1 Verbraucherschutzgesetz berechtigt, vor bestimmten Zivilgerichten den Ersatz von Schäden geltend zu machen, die eine Gruppe von Verbrauchern erlitten hat. Das den Verbraucherschutzorganisationen hiermit gewährte Monopol wurde von verschiedenen französischen Rechtsanwaltskammern und -organisationen kritisiert. Diese setzen sich für eine Änderung des Gesetzentwurfs ein, die vorsieht, dass auch Rechtsanwälte Sammelklagen anstren- 184 PHi – 5/2013 gen können, anstatt lediglich auf die Vertretung der Verbraucherschutzorganisationen beschränkt zu sein. Sie argumentieren, dass es französischen Anwälten – anders als ihren US-amerikanischen Kollegen – nach dem für sie geltenden Standesrecht nicht möglich sei, mit Sammelklagen eigene Vorteile zu erstreiten und diese in Teilen nicht an den Verbraucher weiterzugeben. Kriterien für eine Sammelklage In vielen europäischen Ländern sind Sammelklagen auf Fälle beschränkt, in denen die Verbraucher anderenfalls keinen Ersatz ihrer erlittenen Schäden erlangen würden. Der französische Gesetzentwurf sieht eine solche Beschränkung nicht vor. Ferner enthält er keine detaillierten Vorgaben für eine bereits bei Einreichung der Sammelklage bestehende Verbrauchergruppe. So wird weder eine Mindestanzahl von Klägern vorgegeben, noch findet sich im Gesetzentwurf ein ausdrückliches Erfordernis des Bestehens einer Gruppe von Verbrauchern bei Klageeinreichung. Einige juristische Kommentatoren sind daher der Ansicht, dass eine Sammelklage von einer Verbraucherschutzorganisation angestrengt werden könne, ohne dass zum Zeitpunkt der Klageeinreichung auch nur ein einziger Verbraucher als Teil einer zu vertretenden Gruppe bekannt sein müsse. Der Gesetzentwurf nennt die Voraussetzungen für die von einer Sammelklage erfassten Sachverhalte: Danach können sich Verbraucher einer Sammelklage anschließen, die sich in einer identischen oder ähnlichen Position befinden, weil sie einen Schaden durch denselben Unternehmer erlitten haben. Ferner müssen die erlittenen Schäden die Folge der Verletzung gesetzlicher oder vertraglicher Verpflichtungen sein oder im Zusammenhang mit dem Verkauf von Waren oder der Erbringung von Dienstleistungen stehen. Die Sammelklage kann auch dem Ausgleich von Schäden infolge wettbewerbswidrigen Verhaltens dienen (etwa bei überhöhten Preisen durch die Bildung von Kartellen oder Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung). In den letztgenannten Fällen muss die Sammelklage innerhalb von fünf Jahren nach Erlass des Beschlusses einer nationalen oder europäischen Behörde oder des Urteils eines zuständigen Gerichts eingereicht werden. Der Gesetzentwurf sieht ausdrücklich vor, dass nur solche Beschlüsse und Urteile Grundlage einer Sammelklage sein können, die nach Inkrafttreten des Gesetzes ergangen sind. erlitten haben, auch mittels Sammelklagen Entschädigung fordern könnten. Kein Einfluss auf das Prinzip der vollen Entschädigung Der Umstand, dass die Fünf-Jahres-Frist nur für Sammelklagen im Zusammenhang mit wettbewerbswidrigem Verhalten gilt, gibt Anlass zu zahlreichen Bedenken über den zeitlichen Anwendungsbereich des Gesetzes. Eine der Hauptsorgen von Unternehmen ist, ob auch bereits entstandene aber nicht verjährte Ansprüche Gegenstand einer Sammelklage sein können. Zum derzeitigen Zeitpunkt ist noch unklar, ob Sammelklagen nur solche Sachverhalte erfassen, die nach Inkrafttreten des Gesetzes auftreten, oder auch solche, die bereits älter sind. Ebenfalls erwähnenswert ist, dass der Gesetzentwurf das Prinzip der vollen Kompensation für Schäden unangetastet lässt. Danach wird stets der ganze Schaden ausgeglichen, darüber hinausgehende Zahlungen von Strafschadensersatz sind jedoch ausgeschlossen. Andererseits müssen Verbraucherschutzorganisationen, die die Verfahren anstrengen, die Verfahrenskosten tragen. Da diese Organisationen neben den Mitgliederbeiträgen nur öffentliche Fördermittel erhalten, könnte es sein, dass Sammelklagen durch einen Anteil der erstrittenen Schadensersatzzahlungen aus vorangegangen Verfahren finanziert werden müssen. Dies würde jedoch bedeuten, dass dem Verbraucher nicht der gesamte Schaden erstattet wird. Daher muss ein anderer Weg zur Finanzierung der Verfahren gefunden werden. Der Gesetzentwurf sieht vor, dass diese Frage in einer Umsetzungsverordnung zu regeln ist. Betroffene Branchen Bislang keine Höchstgrenze Der Gesetzentwurf schließt keine Branchen oder Tätigkeitsbereiche ausdrücklich vom Anwendungsbereich der Sammelklagen aus. Allerdings sollen nur Vermögensschäden ersetzt verlangt werden können. Ausgeschlossen wäre demnach die Kompensation immaterieller Schäden, etwa Schmerzensgeld wegen physischer oder psychischer Verletzungen. Daher dürfte die Pharmaindustrie von Sammelklageverfahren kaum betroffen sein. Entsprechend wird es auch nicht möglich sein, gegen Hersteller von Verbrauchsgütern eine Sammelklage anzustrengen, wenn eines ihrer Produkte zu Gesundheitsschäden geführt hat. Dem größten Risiko werden vermutlich die Finanzbranche sowie Dienstleistungsunternehmen aus dem Telekommunikations-, Strom-, Gasund Wassersektor ausgesetzt sein. Ebenfalls noch ungelöst ist die Frage eines Mindest- oder Höchstschadensersatzes, der Verbrauchern zugesprochen werden kann. Eine Höchstgrenze ist jedenfalls im Gesetzentwurf nicht enthalten, könnte jedoch in die Umsetzungsverordnung aufgenommen werden. Bedenken aufgrund fehlender zeitlicher Beschränkung Da keine Branche ausdrücklich vom Anwendungsbereich des Gesetzes ausgeschlossen ist, wird die Ansicht vertreten, dass Verbraucher, die infolge eines fehlerhaften Produkts materielle Schäden Praktische Umsetzung Wer sich der Verbrauchergruppe für eine Sammelklage anschließt, erteilt der Verbraucherschutzorganisation automatisch das erforderliche Mandat, seine Ansprüche gerichtlich geltend zu machen. Nach französischem Recht ist ein solches Mandat notwendig, um vor Gericht für einen anderen handeln zu können. Das zuständige Gericht muss die Zugehörigkeit zur Gruppe bestätigen. Damit folgt das vorgesehene System nicht dem „Opt-out“Prinzip der US-amerikanischen Sammelklagen, sondern einem „Opt-in“-Prinzip. Um jeglichen Missbrauch zu vermeiden, soll eine Vertragsklausel, die den Beitritt zu einer Sammelklage im Voraus untersagt, unwirksam sein. PHi – 5/2013 185 Frankreich aktuell Es ist wahrscheinlich, dass in der noch zu erlassenden Umsetzungsverordnung lediglich ein Dutzend Zivilgerichte für Sammelklagen für zuständig erklärt werden. Nach der Zuteilung eines Falls muss das Gericht mit einem Urteil folgende Entscheidungen treffen: • Liegen die Voraussetzungen für die Einleitung einer Sammelklage vor? • Besteht eine Haftung des Unternehmers? • Welche Verbrauchergruppe hat Ansprüche gegen den Unternehmer? • Welche Fristen und Voraussetzungen gelten für die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe und damit für das Recht auf Entschädigung? Die Frist muss hierbei zwischen zwei und sechs Monaten ab Benachrichtigung der Verbraucher betragen. • Wie hoch sind die erlittenen Schäden, und welche Faktoren bestimmen sie? entscheidet, die der Unternehmer nicht erfüllt hat. Die Verbraucherschutzorganisation vertritt die nicht entschädigten Verbraucher auch bei der Vollstreckung ihrer Forderungen. Die Urteile im Sammelklageverfahren sowie die gerichtliche Bestätigung der durch Mediation erreichten Einigung sind für alle Mitglieder der Verbrauchergruppe, die durch das Verfahren entschädigt wurden, bindend. Sie haben jedoch weiterhin das Recht zur Geltendmachung von nicht von der Sammelklage erfassten Schäden, etwa nach Vertrags- oder Deliktsrecht. Eine Sammelklage hemmt die Verjährung von Klagen Einzelner für den von der Entscheidung erfassten Sachverhalt. Nach Rechtskraft des Urteils läuft die Verjährung wieder für einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten. Nächste Schritte Sobald die Entscheidung rechtskräftig ist, wird das Gericht auf Kosten des unterliegenden Unternehmers die notwendigen Maßnahmen veranlassen, um die Verbraucher zu benachrichtigen, die der erfassten Gruppe angehören. Es ist hervorzuheben, dass der Gesetzentwurf nicht nur die beschriebene Möglichkeit der gerichtlichen Entscheidung vorsieht. Eine Verbraucherschutzorganisation kann vielmehr individuelle Entschädigungsansprüche auch mittels einer Mediation klären. Führt eine solche Mediation zur Einigung, kann diese dem Gericht zur Genehmigung vorgelegt werden. Auch in diesem Fall benachrichtigt das Gericht die Verbraucher über die Einigung. Wie erfolgt die Entschädigung der Verbraucher? Das Gericht legt fest, ob die Verbraucher die ihnen zustehende Entschädigung direkt vom beklagten Unternehmer, von der Verbraucherschutzorganisation oder einer die Verbraucherschutzorganisation unterstützenden Partei erhält. Das über die Haftung des Unternehmers entscheidende Gericht wird auch bei Schwierigkeiten während des Vollstreckungsverfahrens tätig, indem es über alle Entschädigungsansprüche 186 PHi – 5/2013 Noch gibt es bei dieser neuen „class action à la française“ viele Ungewissheiten und Grauzonen. Einige Änderungen und Ergänzungen des Gesetzentwurfs gab es schon während der Lesungen im Parlament und Senat, weitere folgen möglicherweise im Laufe des weiteren Gesetzgebungsprozesses. Zahlreiche Klarstellungen, insbesondere in Bezug auf die Voraussetzungen für die Einreichung einer Sammelklage, müssen in die Umsetzungsverordnung aufgenommen werden. Es ist umstritten, ob es dieser Reform überhaupt bedarf. Im französischen Recht gibt es bereits prozessuale Mittel, mit denen der steigenden Anzahl von Verfahren mit einer Vielzahl von Klägern entsprochen werden kann. Grundlegende Aspekte werden in dem Gesetzentwurf nicht behandelt. Dies führt zu berechtigter Kritik und Sorge seitens der Unternehmen. So besteht u. a. die Befürchtung, dass dieses neue prozessuale Mittel die Türen zu einer übermäßigen Entschädigung durch Sammelklagen öffnet. Insbesondere im Hinblick auf die derzeitige wirtschaftliche Lage in Frankreich scheint eine derartige „Revolution“ nicht notwendig zu sein.