Manualtherapeutische Maßnahmen zur Durchblutungsförderung
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Manualtherapeutische Maßnahmen zur Durchblutungsförderung
Manualtherapeutische Maßnahmen zur Durchblutungsförderung der unteren Extremität bei Poliospätfolgen. Eine Fallstudie Eingereicht durch Alfred Ellinger zur Erlangung des Titels „Physiotherapeut“ Dezember 2006 1 I. Danksagung Ich danke meiner Mutter, einer wundervollen Frau mit viel Herz und enormer Lebenskraft. Selbst in der Nachkriegszeit an Kinderlähmung erkrankt, hat Sie sich lassen, niemals ist unterkriegen aktiver als so mancher „gesunde“ Mitmensch und ist mir ein Beispiel dafür, dass eine körperliche Behinderung nicht „verhindert“. Ihre Liebe hat mich mehr gelehrt als alle Bücher dieser Welt, denn Sie hat mich aus meinen Fehlern lernen lassen anstatt zu strafen, hat mich mit Ihrer Führsorge begleitet und mir nicht zuletzt meine Ausbildung ermöglicht. Sie ist mir nicht nur Mutter, sondern auch ein lieber Freund, dessen Bekanntschaft ich niemals missen möchte. Ich danke Dir „Mutti“! Danke an alle jungen Poliopatienten/innen, die ich während meinem Praktikum in Nepal kennen lernen, behandeln, befragen, filmen und fotografieren durfte. Sie alle haben meiner Arbeit zu mehr Relevanz, Lebendigkeit und Farbe verholfen. Weiters danke ich Herrn Mag. Jürgen Hacker (Institut für Botanik der Leopold Franzens Universität) und Herrn Dr. Andreas Grainer (Abteilung für Gefäßchirurgie an der Universitätsklinik Innsbruck) für ihre umfangreiche Mithilfe bei den Messungen und deren Auswertung. Vielen Dank meinem Erstleser Physiotherapeut Wolfgang Kattnig D.O., der mir auch mit viel Geduld eine Einführung in die Recoiltechnik der Arterien nach Paul Chauffour D.O. gab, dem Physiotherapeut Ulli Gmach, der die Zweitleserschaft übernommen hat und meinem Puppi Lu. 2 II. Erklärung Ich erkläre hiermit ehrenwörtlich, dass ich die vorliegende Diplomarbeit selbst verfasst und die aus fremden Quellen direkt oder indirekt übernommenen Gedanken als solche kenntlich gemacht habe. Die gegenständliche Arbeit wurde bisher noch keinem anderen Prüfungsgremium vorgelegt und keinerlei Veröffentlichung zugeführt. Banepa (Nepal), Oktober 2006 Alfred Ellinger 3 III. Vorwort Meine Mutter leidet seit dem Jahr 1954 an den Folgen einer Polioinfektion. In diesem Jahr gab es in Österreich 835 Fälle von akuter Poliomyelitis mit tödlichem Ausgang der Infektionskrankheit in 103 Fällen [BMGF, 2006]. Früh hab ich begriffen, dass sich meine Mutter in manchen Dingen von anderen Müttern unterscheidet. Sie hat dieses seltsame steife Rohr, in das sie ihren linken Fuß packte und zwei Stöcke ohne die sie das Haus nie verlässt. Kälte konnte sie noch nie ausstehen und oft lässt sie ihre Beine in einem Eimer warmen Wasser baumeln, als wäre es ein kühles Bächlein. Ich bin allein mit meiner Mutter und all ihren körperlichen Einschränkungen aufgewachsen und es gab keine Probleme; ihr Gang, ihr schiefes „Kreuz“, sie war einfach so wie ich sie von Anfang an kannte. Im Laufe meiner Ausbildung zum Physiotherapeut wurde mir erstmals bewusst, was ich all die Jahre zuvor beobachtet und „mitgelebt“ hatte. Ich sehe nun die Probleme meiner Mutter, die sie durch die Polioerkrankung hat und die ihr Leben erschweren. Grund genug endlich was zu tun und die Diplomarbeit bot den richtigen Rahmen dafür. Bestätigt in der Wahl meines Themas wurde ich auch durch ein zweimonatiges Pädiatrie und Orthopädiepraktikum im Hospital and Rehabilitation Center for Disabled Children (HRDC) in Banepa (Nepal) im Herbst 2006. Dort traf ich bereits an meinem ersten Arbeitstag ein junges Mädchen (Abb. 1), das seit ihrem zweiten Lebensjahr an paralytischer Poliomyelitis leidet. Ihr Name ist Ashmi. Sie erlaubte mir sie zu befunden. Ich sah die unterschiedlich langen und atrophierten Beine, den Beckenschiefstand, die Skoliose mit dem dominanten „Rippenbuckel“ und auch Trauer in ihren Augen. Ich palpierte als erstes ihre Füße und Beine. Sie waren kalt und ich kannte diese Kälte von den Füssen meiner Mutter. 4 Abb. 1: junges Mädchen (Ashmi Sherpa) aus dem Tengboche Village (Nepal), das an den Folgen einer spinalen Kinderlähmung leidet [Alfred Ellinger, Nepal 2006]. 5 IV. Abstrakt Titel: Manualtherapeutische Durchblutungsförderung der Maßnahmen zur unteren bei Extremität Poliospätfolgen. Eine Fallstudie. Hypothese: Durch ausgewählte Manualtherapeutische Maßnahmen ist es möglich, bei einer Probandin mit Paralysen der unteren Extremität in Folge von spinaler paralytischer Poliomyelitis, die Durchblutung und den venösen Rückfluss in der unteren Extremität während einer Behandlung zu beeinflussen. Auch das subjektive Wärmeempfinden der Probandin lässt sich beeinflussen. Dies geschieht durch manuelle, lokal oder konsensuell gesetzte Reize, die einen Durchblutungsfördernden Effekt auf verschiedene Strukturen der unteren Extremität haben sollen. Methoden: Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine Fallstudie. Über einen Zeitraum von fünf Monaten wird die Probandin mit fünf verschiedenen manualtherapeutischen Techniken zehnmal behandelt. Folgende Techniken werden angewendet: Fußreflexzonenmassage, Bindegewebs- massage, Manuelle Therapie nach Maitland, Propriozeptive Neuromuskuläre Fazilitation, Recoiltechnik an den Arterien nach Paul Chauffour D.O.. Jede Technik wird zweimal innerhalb einer Woche angewendet, wobei zwischen den Techniken jeweils eine dreiwöchige Behandlungspause angesetzt wird. Zur Einschätzung der Therapiewirkung werden zwei Beurteilungskriterien eingesetzt. Bei jeder zweiten Behandlung mit einer Therapieform, werden mit einer Infrarot veränderungen Messpunkten Wärmebildkamera an der ermittelt. unteren Die die Temperatur- Extremität Probandin in zwei dokumentiert schriftlich ihre subjektiven Empfindungen zur jeweiligen Therapieform und ihren Wirkungen. 6 Ergebnisse: Die Fußreflexzonenmassage führt an zwei Messpunkten zu einer durchschnittlichen Zunahme der Hauttemperatur um 2.51°C. Die Probandin Fußreflexzonenmassage als beschreibt symptomlindernd die und wirkungsvoll. Auch die Recoiltechnik der Arterien nach Paul Chauffour D.O. führt zu einer Erhöhung der Oberflächentemperatur an den Beinen um durchschnittlich 0.6°C. Bei den andern Therapietechniken zeigten sich keine deutlichen oder konstanten Temperaturveränderungen. Aber auch diese Techniken hatten positive Wirkungen, die von der Probandin subjektiv bewertet wurden. Die Mobilisation der Wirbelsegmente Th12–L2 hat laut der Probandin einen später einsetzenden, wärmenden Effekt auf die untere Extremität. Schlüsselwörter: Poliomyelitis, Durchblutungsförderung, manualtherapeutische Fußreflexzonenmassage, Techniken, Bindegewebs- massage, Propriozeptive Neuromuskuläre Fazilitation, Manuelle Therapie, Recoiltechnik nach Paul Chauffour D.O. 7 I. Danksagung 2 II. Erklärung 3 III. Vorwort 4 IV. Abstrakt 6 V. Inhaltsaltsverzeichnis 8 1. Einleitung 11 2. Poliomyelitis 12 2.1. Poliomyelitis und ihre Geschichte 12 2.2. Poliomyelitis und ihre Spätfolgen 19 2.3. Kalte Füße 22 3. Durchblutung 25 3.1. Einführung 25 3.2. Kreislauforgane 26 3.3. Transportsystem Blutkreislauf 29 3.4. Hämodynamik 29 3.5. Treibende Kräfte 29 3.5.1. Das Herz als Druckpumpe 29 3.5.2. Das Druckgefälle im Gefäßsystem 31 3.5.3. Der venöse Rückfluss 31 3.6. Der Strömung entgegenwirkende Kräfte 32 3.6.1. Strömungswiderstand 32 3.6.2. Die innere Flüssigkeitsreibung 34 3.6.3. Die Wandreibung in Gefäßen 34 3.7. Mikrozirkulation Organisation und Funktion 3.7.1. Funktionelle Anatomie der terminalen Strombahn 36 36 3.7.2. Kräfte und Austauschprozesse in der terminalen Strombahn 3.7.3. Lymphsystem 3.8. Die Rolle des vegetativen Nervensystems 37 38 39 3.8.1. Regelkreise 40 3.8.2. Autonomie der Gefäße 40 3.8.3. Vegetative Regulation und Vasomotorik 40 8 3.8.4. Organisation des vegetativen Nervensystems unter besonderer Berücksichtigung der Kreislauf- und Thermoregulationszentren 42 3.8.4.1. Der Hypothalamus 43 3.8.4.2. Temperaturregulation 45 3.8.4.3. Kreislaufregulation 48 3.8.4.4. Sympathikus versus Parasympathikus 52 3.8.5. Zusammenfassung der Mechanismen der Durchblutungsregulation 57 3.8.5.1. Kreislaufregulation 57 a) kurzfristige Mechanismen 57 b) mittelfristige Mechanismen 58 c) langfristige Mechanismen 59 3.8.5.2. lokale Durchblutungsregulation 60 3.8.5.3. Nervale Regulation des Gefäßtonus 63 Dermographismus 65 3.9. Regulation des Blutflusses bei körperlicher Leistung 66 3.10. Orthostatische Durchblutungsanpassung 68 3.11. Reflexphysiologie, viszerale Afferenzen und therapeutische Ansätze 70 3.11.1. Die Haut und ihre sensible Seite 70 3.11.2. Reflexphysiologie 71 4. Leitungsbahnen der unteren Extremität 4.1. vegetative Leitungsbahnen der unteren Extremität 77 79 4.1.1. Efferenzen 79 4.1.2. Afferenzen 79 4.3. Vegetative Reflexbögen der unteren Extremität 80 5. Empirischer Teil 81 5.1. Studienumfeld 81 5.2. Studiendesign 81 5.3. Studienvorbereitung 82 5.4. Behandlungstechniken 83 5.4.1. Fußreflexzonentherapie 83 9 5.4.2. Bindegewebsmassage 83 5.4.3. Manuelle Therapie (Mobilisation Th10–L2) 83 5.4.4. Recoiltechnik der Arterien nach Paul Chauffour D.O. 84 5.4.5. Propriozeptive Neuromuskuläre Fazilitation (PNF) 5.5. Messmethoden 84 85 5.5.1. Infrarotkamera 85 5.5.2. Subjektives Empfinden der Probandin 85 5.6. Vorstellung der Probandin 86 5.7. Ergebnisse 88 6. Diskussion 96 7. Schlusswort 97 8. Literaturverzeichnis 98 9. Abbildungsverzeichnis 101 10 1. Einleitung 1958 schrieb der der Schweizer Kinderarzt und Begründer der modernen Pädiatrie Guido Fanconi im Neujahrsblatt der Naturforschenden Gesellschaft Zürich folgendes: „Die Geschichte der Kinderlähmung im 20. Jahrhundert gehört zu den faszinierendsten Kapiteln der Medizingeschichte überhaupt. Noch vor 70 Jahren ein dem praktischen Arzt kaum bekanntes Krankheitsbild, entwickelte sich die Poliomyelitis parallel mit der Hebung des Lebensstandards in den hoch zivilisierten Ländern zur wichtigsten und am meisten gefürchteten Infektionskrankheit der letzten zwei Dezennien.“ [vgl. Fanconi 1958, S. 65] 11 2. Poliomyelitis 2.1. Poliomyelitis und ihre Geschichte Die epidemiologische Geschichte und Geographie der Poliomyelitis als Infektionskrankheit, beginnt mit der Zivilisationsentstehung an den Ufern des Nils im Mittleren Osten vor etwa 5000 Jahren. Den wahrscheinlich ältesten Hinweis auf paralytische Poliomyelitis fand man in Steintafel Ägypten. Auf ist ägyptischer Hohepriester ein mit verkürztem einer atrophiertem, Bein bei und Abb. 2: Hohepriester mit Spitzfuß Spitzfußstellung, einer [aus Lehmann-Buri 2004, S. 3] Opferzeremonie dargestellt (siehe Abb. 2). Für Jahrhunderte eine kaum wahrgenommene und unbekannte Viruskrankheit, erreicht die Poliomyelitis ihren Höhepunkt bei epidemischen Ausbrüchen in den Jahren 1881 bis 1920 und einer Ausbreitung zur Pandemie in den Jahren 1921 bis 1955. [Smallman-Raynor et al., 2006]. Vom Krankheitsbild der Poliomyelitis wird dann gesprochen, wenn das Virus über hematogenen oder nervalen Weg das zentrale Nervensystem erreicht und dort entzündliche Prozesse verursacht. Man unterscheidet einen aportiven, seichten Verlauf der Infektion, von einem akuten paralytischen Verlauf. Beim paralytischen Verlauf werden motorische Neurone, auf spinaler und seltener auf cerebraler Ebene durch infektiösentzündliche Prozesse zerstört. Die Bezeichnungen Poliomyelitis anterior acuta, Kinderlähmung und akute Poliomyelitis, sind der paralytischen Verlaufsform vorbehalten. 12 Die Poliomyelitis wird erstmals im 17 Jahrhundert, zu Beginn des Industriezeitalters, als „Paralysie atrophique graisseuse de l’ enfance“ erwähnt. Die ersten detaillierten Beschreibungen liefern der italienische Arzt Monteggia (I 1762–1815) und später der Orthopäde Heine (D 1799– 1879). Die beiden Neurologen Romberg und Duchenne (F 1806–1875) untersuchen die Krankheit auf ihre neurologisch-klinischen Aspekte und beschreiten mit dem Einsatz von Strom neue diagnostische und therapeutische Wege. Charcot (F 1825–1893) erhärtet mit seinen histologischen Untersuchungen den Verdacht, dass sich die Symptome dieser Erkrankung aus einem Verlust von grauer Substanz in den Vorderhörnern des Rückenmarks ergeben. Die Abklärung der Krankheit unter infektiologischen und epidemiologischen Gesichtspunkten, dauert aufgrund der damaligen medizinischen Erkenntnisse, speziell im Bereich der Mikrobiologie und Virologie etwas länger. [vgl. Lehmann-Buri 2004, S. 3 f.] 1954 erhaltet das Forschertrio Enders, Robins und Weller den Nobelpreis für den Nachweis, dass der Poliovirus sich in verschiedenen, auch nicht neuronalen Strukturen, vermehren kann. [vgl. Nobel Foundation 2006; vgl. Howard 2005, S. 1315] Es gibt drei Serotypen von Polioviren, von denen Typ I am virulentesten ist und 85% der paralytischen Krankheitsverläufe verursacht. Polioviren sind kleine hüllenlose RNS Viren und gehören zur Gruppe der Enteroviren, einem Subtyp, der gegenüber Umwelteinflüssen sehr stabilen Gruppe der Pocaronaviren. Der Infektionsgipfel befindet sich in den warmen Jahreszeiten. Das Virus dockt an die Wirtszelle an. Er injiziert ein viruskodiertes Enzym, das eine Eiweißzerstörende Wirkung hat und die Translationsfähigkeit der Zelle stoppt. Dies führt nach Ausbeutung der Wirtszelle als „Virusfabrik“ zum Untergang der Zelle durch Pyknose. [vgl. Miksits/Hahn 2004, S. 71 ff.; Hahn et al. S. 513] Die Krankheit wurde Mitte des 19. Jahrhunderts als nosiologische Einheit erkannt. [vgl. Lehmann-Buri 2004, S. 3 f.] Die Kinderlähmung hat zu diesem Zeitpunkt, aufgrund der weltweit mehreren Millionen, vorwiegend jungen Opfer, bereits pandemische Ausmaße. Die Bedrohung durch die Polioviren wird auch vom damaligen amerikanischen Präsident Franklin D. Roosevelt (32. Präsident der USA 1933–1945) erkannt, der selbst seit 1921 an den Lähmungsfolgen einer Polioinfektion leidet. Er unterstützt 13 über Initiativen, wie die „National Foundation for Infantile Paralysis“, die „Warm Springs Foundation“ und die „March of Dimes“, eine Wohltätigkeitsvereinigung, die Versorgung von Poliobetroffenen in den USA und Kanada und treibt die medizinische Forschung auf dem Gebiet der Virologie und die Entwicklung eines Impfstoffes voran. [ vgl. Halstead 1998, S 36 f.; vgl. Neumann 2004, S. 481 f.; vgl. Hahn et al.2005, S. 512]. Auch einige physiotherapeutische Behandlungskonzepte stehen entwicklungsgeschichtlich im Zusammenhang mit der Poliomyelitis. Propriozeptive Neuromuskuläre Fazilitation (PNF) gründet auf der manuellen therapeutischen Arbeit der Krankenschwester Elisabeth Kenney mit Opfern der Poliomyelitis-Epidemien, die zu Beginn der 40erJahre in den USA grassieren. [vgl. Junker 2003, S. 34 ff.] In der Zeit von 1916–1955 gibt es in den USA etwa 1,5 Millionen Fälle von akuter Poliomyelitis [vgl. Neumann 2004, S. 481] mit irreversiblen Lähmungen in etwa 800.000 Fällen. Der Neurophysiologe Dr. H. Kabat entwickelt, angeregt durch die Techniken von Kenney, das Konzept der „propriozeptiven Fazilitation“, das er mit der Physiotherapeutin Margaret Knott, die er 1945 einstellt, weiterentwickelt. [vgl. Junker 2003, S. 34 ff.] Der Arzt und Physiotherapeut A. Neumann von der Marquett Universität in Milwaukee (USA) beschreibt in seinem Artikel: “Polio: Its Impact on the People of the United States and the Emerging Profession of Physical Therapy”, neben den Auswirkungen der Krankheit, auch den Einfluss der Poliomyelitis auf die Entwicklung der Physiotherapie und ihrer Behandlungskonzepte in den USA. Es wird auf die großen, physischen und intellektuelle Herausforderungen der Polio-Epidemien, auf die Physiotherapeuten der damaligen Zeit hingewiesen. Diese müssen sich erst mit dem Krankheitsbild vertraut machen und ihr therapeutisches Vorgehen an die Anforderungen der neuen Patienten anpassen. Die „Krankengymnasten-Ausbildung“ ist damals noch eine rein praktische Ausbildung mit relativ geringem theoretischem Hintergrundwissen. Neumann [2004, S. 484] weist darauf hin, dass besonders unter dem Aspekt, der Selbstständigkeit des Patienten und seiner Lebensqualität, damals wie Heute die Funktionalität und die Kräftigung im Vordergrund stehen. Durch die neuen Anforderungen des Krankheitsbildes, der damit verbundenen körperlichen Einschränkungen und der großen Anzahl an 14 Betroffenen wurde die Entwicklung von neuen Behandlungsprinzipien in der Physiotherapie zwingend notwendig. Neben PNF werden auch Konzepte aus anderen Bereichen, wie etwa das, aus der Sportmedizin stammende, die Muskelfunktion verbessernde Konzept des ‘‘progressive resistance exercise’’ (PRE) von DeLorme (1948) integriert. Dieses Konzept führt, auch in Verbindung mit der zu dieser Zeit noch jungen Unterwassertherapie, zu Behandlungserfolgen bei gelähmten Poliopatienten. Die ersten Arbeiten über Gang, Gangschulung und wahrnehmbare Abweichungen vom physiologischen Gangmuster werden verfasst. Orthopädische Hilfsmittel wie Krücken, Schienen und Rollstühle werden entwickelt und produziert. Dies führt in den 40ern auch zu Fortschritten im Bereich der Orthopädietechnik. Die Therapeuten müssen die Patienten mit ihren neuen Hilfsmitteln vertraut machen und ihnen nicht nur möglichst ökonomische Variationen von Bewegungen und Transfers, sondern auch Formen der Fortbewegung beibringen. Man möchte mit den Patienten ein Maximum an Mobilität und Selbstständigkeit erarbeiten. Es werden in dieser Zeit die fundamentalen Gangmuster mit Krücken, wie etwa der Zwei-, Drei-, Vierpunkt und der Schwunggang beschrieben. [vgl. Neumann 2004, S. 484 f.] 1936 gibt es den ersten Impfstoff, der aber eine hohe Rate an ImpfPoliomyelitis verursacht. [vgl. Lehmann-Buri 2004, S. 4 f.] Nach intensiver Forschung gelingt es Salk 1955 einen Impfstoff mit formalininaktivierten Viren zu entwickeln, der per Injektion verabreicht wird. Sabin entwickelt einen oral zu verabreichenden Lebendimpfstoff der 1961 auf den Markt kommt. In diesem Impfstoff sind alle drei Wildpolio Virusarten in „inaktiver“ Form enthalten. Durch diese beiden Impfstoffe, die immer noch ein minimales Infektionsrisiko in sich bergen und die weltweiten Initiativen und Impfkampagnen, der seit 1948 agierenden Weltgesundheitsorganisation (WHO), wird die Poliomyelitis in den 70er Jahren in den Industriestaaten bis auf wenige Fälle stark zurückgedrängt. 1988 macht die WHO die Ausrottung der Poliomyelitis zu einem ihrer weltweiten Hauptanliegen und Aufgrund der hohen Durchimfpungsrate sind heute beinahe alle westlichen Industrieländer als Poliofrei deklariert. Ein ähnlicher Erfolg wird auch mit etwas Verspätung in den übrigen überwiegend wirtschaftlich armen Ländern erreicht. In einigen Staaten Afrikas und Asiens, wie 15 etwa in Nigeria und Indien ist die Poliomyelitis aber auch heute noch präsent und fordert tausende von Opfern. [vgl. WHO 2006] Die letzten Fälle von paralytischer Poliomyelitis in Europa durch eine Infektion mit Wildpolioviren (3 Serotypen) ereignen sich 2001 in Bulgarien. Drei Romakinder aus sozial benachteiligten Umfeldern im Alter zwischen drei und 26 Monaten erkranken an akuter Poliomyelitis [vgl. Kojouharova et al. 2003, S. 476 ff.] Sie leiden heute noch, falls nicht verstorben, an den Spätfolgen der Kinderlähmung. Der letzte Fall von akuter Poliomyelitis in Österreich scheint in der Statistik des Bundesministeriums für Gesundheit und Frauen (BMGF) [2006] im Jahre 1980 auf. Somit gibt es in Österreich seit nunmehr sechsundzwanzig Jahren keine Polio-Neuinfektionen mit akut symptomatischem Verlauf. Insgesamt werden in Österreich in der Zeit von 1946–1980 offiziell 12.658 Fälle von akuter paralytischer Poliomyelitis mit einer Letalität von 11.3 % verzeichnet. Den Auflistungen des BMGF [2006] ist eine Gipfelzeit der Morbidität in der Nachkriegsjahren und ein deutlicher Abfall der Inzidenz nach Einführung des oralen Lebendimpfstoffes 1961 zu entnehmen. Im Jahr 1980, in dem in der Steiermark (Österreich) der letzte Fall von Poliomyelitis bekannt wird, gibt es laut WHO [2006] weltweit 52.630 dokumentierte Fälle. Indien ist mit 18.975 Betroffenen das Land mit den meisten Krankheitsfällen. Laut BMGF [2006, S. 34] treten in Europa manchmal durch Touristen eingeschleppte Polioinfektionen auf. In den Jahren 1992 und 1993 kommt es beispielsweise in den Niederlanden zu einer kleinen Polioepidemie mit 68 Erkrankungen, die ungeimpfte Personen betrifft. In der Zeit von ersten Jänner 1980 bis zum 12.Dezember 2006 werden von der WHO [2006] weltweit offiziell 528.572 akute Poliofälle dokumentiert, die durch Wildpolioviren verursacht wurden. Diese Zahlen ergeben sich aus Erhebungen in weltweit 191 Ländern, wobei sich über 99% der Fälle auf Schwellenländer und Länder der dritten Welt beschränken. Indien ist mit fast 300.000 (über 50%) Fällen das Land mit den meisten Polioopfern weltweit. [vgl. WHO 2006] Diese Zahlen geben keine Auskunft über die tatsächliche stille Durchseuchung der Weltbevölkerung mit dem Poliovirus, da über 90% der Infektionen inapparent verlaufen. [vgl. Hahn et al. 2005, S. 512] Nur 4–8% aller Infektionen haben einen aportiven Verlauf (minor illness) mit 16 allgemeinen Infektionszeichen, wie Unwohlsein, Durchfall und leichtem Fieber. Etwa bei 1% aller Infektionen erreicht das Virus über die Darmbarriere und über die Lymphknoten hämatogen das zentrale Nervensystem, was auch in diesem Fall meist zu unspezifischen leicht meningitischen Krankheitszeichen, wie Kopf-, Nacken- und Rückenschmerzen führt. Seltener wandern die Viren über Wunden im Nasen-Rachenraum axonal direkt in den Hirnstamm ein, wo sie in wenigen Fällen eine schwere bulbäre Form der akuten Poliomyelitis verursachen können. Nur 0,1% aller Polio-Virusinfektionen führen nach den allgemeinen Infektionszeichen und einem einige Tage dauernden beschwerdefreien Intervall zu einem direkten Befall von Nervenzellen (major illness). Es kommt zu Entzündungsprozessen in der grauen Substanz der Vorderhörner und/oder motorischen Kerngebieten im Hirnstamm. Im akuten Stadium kommt es zu aufsteigenden Lähmungen unterschiedlicher asymmetrischer Ausprägung, Adynamie und erheblichen Nervenschmerzen. Ist die Funktion der Atemmuskulatur stark beeinträchtigt oder sind vegetative, viszeromotorische Bereiche im Hirnstamm durch den Virus erheblich betroffen (bulbäre/bulpontine Form), kann es zu einem Atemstillstand kommen. Dies bedeutet für den Patienten eine Intubation und dauerhafte mechanische Beatmung oder den Erstickungstod. Patienten mit einem solchen „worst-case-Verlauf“ wurden bis in die späten 60er Jahre mit Hilfe der so genannten „Eisernen Lunge“ beatmet (siehe Abb. 3). [vgl. Niedersächsisches Gesundheitsamt 2006] Polioviren können in seltenen Fällen auch befallen Probleme Abb. 3: Kind in der eisernen Lunge und das Myokard so kardiale verursachen. Herzkreislaufversagen und das der Aussetzen Atemfunktion führen zu einer [aus www.pathmicro.med 12/2006] 17 10%gen Letalitätsrate bei akuter Kinderlähmung. Bei der paralytischen Verlaufsform der Infektion bleiben bei über 50% der Betroffenen irreversible Lähmungen zurück, die sich in den meisten Fällen mit unterschiedlicher Ausprägung und Symmetrie in der unteren Extremität manifestieren. [vgl. WHO 2006; vgl. Bundesverband Polio e.V. 2006, Speer/Gahr 2005, S. 459 f.] Eine teilweise Rückbildung oder ein vollständiges Abklingen des Lähmungszustandes ist nur möglich, wenn das Motoneuron, oder die von ihm ausgehenden Fasern nur für eine bestimmte Zeitspanne durch ein entzündungsbedingtes Ödem komprimiert, das Neuron selbst vom Virus aber nicht zerstört wurde. [vgl. Krämer/Grifka 2005, S. 124] Bei einem inapparenten oder aportiven Verlauf und dessen nur leichten und kurzfristigen Symptomen, kommt es nur selten zu Diagnoseerhebungen durch einen Arzt. Vor allem in Ländern, in denen der Gang zum Arzt nur bei schweren Erkrankungen und lebensbedrohlichen Zuständen in Erwägung gezogen wird, oder gar keine medizinische Versorgung mit Laboreinrichtungen im westlichen Format vorliegt, kann man keine Auskünfte über reelle Infektionsraten geben. Die Mehrzahl akuter Poliopatienten hat keinen Zugang zu einer medizinischen Versorgung und Therapieeinrichtungen. Die WHO kann nur einen Anteil aller akuten Poliofälle dokumentieren. Man geht davon aus, dass die tatsächliche Anzahl der Polioerkrankten mit Lähmungserscheinungen um das 5–6-fache höher ist, als jene, die den statistischen Erhebungen der WHO (2006) zu entnehmen ist. [vgl. Weiss 1997] Dies soll zu keiner Kritik an der WHO führen, denn ihr ist der weltweit starke Rückgang der Kinderlähmung in den letzten Jahrzehnten zu verdanken. Vielmehr sei darauf hingewiesen, dass es kein leichtes Unterfangen ist einen Virus wie den Poliovirus zu bekämpfen und zu kontrollieren. Dies hängt neben gesellschaftlichen, auch von politischen Grenzen und der Stabilität innerhalb eines Landes ab. Besonders in Unruhe und Kriegsgebieten sind eine flächendeckende Durchimpfung der Bevölkerung und eine statistische Erhebung der Krankheitsfälle sehr schwierig. Zu Ende dieses Jahres (2006) berichtet die WHO von weltweit 1791 akuten paralytischen Erkrankungsfällen. Eine Zahl die zeigt, wie durch weltumspannende Impfkampagnen der WHO, besonders seit 1988, eine Abnahme der 18 Anzahl von Neuerkrankungen an paralytischer Poliomyelitis erreicht wurde. Von jährlich weltweit hundert Tausenden paralytischen Opfern bei Epidemiespitzen in der ersten Hälfte des 19 Jahrhunderts, wurde ein Rückgang auf knapp 1800 Fälle im Jahr 2006 erreicht. Diese Anzahl zeigt aber auch, dass das propagierte Ziel der WHO die Welt von Poliomyelitis zu befreien weder im Jahr 2000 noch im Jahr 2005 erreicht wurde. Ein Anstieg der Neuerkrankungen kann auch im Vergleich mit dem Jahr 2001 erkannt werden, in dem es weltweit 537 dokumentierte Erkrankungen gab. [vgl. Hahn et al. 2005, S. 513] Die Tendenz der Erkrankungsfälle zeigt auch von Seiten der WHO [2006] 2006 vor allem in endemischen Ländern eine Zunahme der dokumentierten Neuerkrankungen im Vergleich zum selben Zeitraum des Vorjahres. 2.2. Poliomyelitis und ihre Spätfolgen Die WHO schätzt die Anzahl der Menschen die an den Spätfolgen der paralytischen Poliomyelitis leiden weltweit auf über 12 Millionen. [vgl. Weiss 1997] Nimmt man die, von der WHO über den Zeitraum von 1980–2006 erhobene Zahl von 528.572 paralytischen Fällen und rechnet man mit einem irreversiblen Zurückbleiben von Lähmungen bei etwa 50–60 % der Fälle, so ergibt dies eine Zahl von weltweit etwa 300.000 Menschen die seit 1980 an den Spätfolgen eine Poliovirus-Infektion mit paralytischem Verlauf leiden. Geht man aufgrund der Annahme von Weiss [1997] davon aus, dass die tatsächliche Anzahl der Lähmungsfälle 5–6 mal höher ist als die von der WHO erhobene Zahl, und bezieht man eine Letalitätsrate von 10% ein, so erhält man in etwa eine Anzahl von 1,6 Millionen vorwiegend jungen Menschen, überwiegend aus wirtschaftlich benachteiligten Ländern, die seit 1980 an den Folgen einer Kinderlähmung leiden. Vor allem in Entwicklungs- und Schwellenländern wie Indien, mit etwa 300.000 paralytischen Fällen [vgl. WHO 2006] im Zeitraum von 1980–2006, in denen das Umfeld, die Infrastruktur und die medizinische Versorgung für behinderte Menschen im internationalen Vergleich gering ist, haben Polioopfer einen schweren Alltag zu bewältigen. Polioviren können Paralysen und zentralnervöse Läsionen 19 verschiedenster Ausprägung verursachen. Vornehmlich kommt es aber nach einer Infektion und akut paralytischem Verlauf zu schlaffen atrophischen Lähmungen der unteren Extremität, da das Virus primär enterotop wirkt und somit, nach Überwinden der Darmbarriere, eher die unteren Segmente des Rückenmarks befällt. [vgl. WHO 2006; vgl. Hahn et al. 2005, S. 513]. Die Sensibilität in den betroffenen Körperabschnitten bleibt erhalten. Oft besteht eine generelle Überempfindlichkeit in den gelähmten Körperabschnitten, besonders gegenüber thermischen und mechanischen Reizen. Schmerzreize werden mit steigernder Tendenz im Alter mit bis zu doppelter Intensität wahrgenommen. [vgl. Bruno et al 1985b] Besonders bei sich im Wachstum befindenden Kindern unter 10 Jahren, mit Lähmungen der Beine nach Polio, kommt in über 95 % der Fälle zu einer ungleichen Ausbildung der unteren Extremität. Dies zeigt sich Umfangsdefizit in einem und einem strukturellem Längendefizit von bis zu 10 Zentimetern und mehr (siehe Abb. 4). In über 90% der Fälle sind sowohl Abb. 4: Kinderlähmungsopfer mit Beinlängendifferenz von ~5 cm als auch Tibia verkürzt. Das durch die Lähmung stärker betroffene Bein ist meist das [Alfred Ellinger 2006] Femur Kürzere. Es wurden Zusammenhänge zwischen dem Ausmaß der Beinverkürzung, dem Erkrankungsalter, sowie dem Grad der Lähmung beobachtet. Diese Zusammenhänge konnten jedoch nicht bewiesen werden und auch der genaue Grund für die Beinverkürzung ist unklar. [vgl. Ratliff 1959, S. 56 ff.] Eine Überlegung wäre, dass durch die verringerten muskulären Reize und die geringeren axialen Belastungen auf die Knochen, sowie aufgrund verminderte Durchblutung der Extremität infolge der Inaktivität, eine unzureichende Trophik der wachsenden Strukturen vorliegt. Auch ein nervales Versorgungsdefizit auf 20 somatischer und vegetativer Ebene kann Grund für Versorgungsdefizite sein. Durch die unterschiedliche Länge der Beine wird das Körpergefüge in seinem Zusammenspiel gestört und Belastungen können nicht mehr in den physiologischen Achsen der Gelenke wirken. Es kann zu Überlastungen der teilweise schwächer ausgebildeten arthrogenen Strukturen kommen (Genu recruvatum im Stehen). Häufige Folgen sind Beckenschiefstand und Verkrümmungen der Wirbelsäule. Skoliosen können durch asymmetrische Paresen der Bauch und Rumpfmuskulatur entstehen oder durch diese verstärkt werden. Kontrakturen bei schlaffen Lähmungen von Muskulatur entstehen durch den Zug der Stärkeren weniger oder nicht paretischen Antagonisten und den geringeren Widerstand der schlaffen Agonisten. Dies kann bei Kindern, die sich im Wachstum befinden und bei denen die Knochen noch keine große Festigkeit aufweisen, zu starken Fehlstellungen der Gelenke und Knochen führen. Bei starken Kontrakturen und Fehlstellungen sind meist operative Eingriffe und orthopädisch invasive Techniken an Sehnen, Knochen und Gelenken notwendig. Starke Muskelverkürzungen werden häufig mit Traktion und Sehnenverlängerungen beseitigt und Fehlstellungen der Extremitäten durch operative Umstellung von Knochen und Gelenken, sowie gipsen in Korrekturstellung therapiert. Um skoliotische Veränderungen der Wirbelsäule zu verhindern, legte man Poliopatienten, besonders in früheren Zeiten, ein Gipskorsett an. Aber auch therapeutische Interventionen hinterlassen Spuren am wachsenden Skelett. Es kommt bei akuter Poliomyelitis nicht nur zu somatischmotorischen Funktionsverlusten, sondern auch zum Untergang vegetativer Motorneurone auf spinaler und/oder cerebraler Ebene, die führ die Steuerung der Eingeweide zuständig sind. Dies führt zum Verlust oder zum Ungleichgewicht des regulierenden vegetativen Einflusses. So kommt es neben sympathischer Dysregulation und Vasomotionsstörungen auch zur Beeinträchtigung von Organen auf parasympathischer Ebene. Bruno et al [1995] beschreiben eine Häufung von Problemen im Bereich des Gastrointestinaltraktes bei Polioopfern, die 5–6-mal höher ist als beim Durchschnitt der Bevölkerung. Sie diskutieren diese Prädestinierung im Zusammenhang mit einer Schädigung vorderer Anteile des Hypothalamus und vasomotorischer Zentren im Hirnstamm. Vor allem im Falle der 21 bereits erwähnten bulbären Verlaufsform können lebenswichtige Regelungsprozesse beeinträchtigt werden. Ist eine Läsion der vegetativen Kreislaufzentren durch den Virus zu groß, kann es zu einem plötzlichen Versagen der kardiovaskulären Funktionen kommen. [Bruno et al. 1995, S. 594] Nach überstandener akuter Polioinfektion, die häufig zentralnervöse Läsionen hinterlässt, verursachen Folgeschäden und Spätfolgen der Kinderlähmung chronische körperliche Probleme und beeinträchtigen die Einschränkungen in Durchblutungsprobleme Lebensführung der und Mobilität, ein der Betroffenen. sondern Kältegefühl in Nicht nur auch Schmerzen, den paralytischen Extremitäten erschweren das Leben nach der Poliomyelitis. In manchen Fällen kommt es nach Jahrzehnten zu einer erneut auftretende progrediente Verschlechterung der Symptome, dem so genannte Postpolio Syndrom (PPS) [vgl. Bundesverband Polio e.V. 2006.] Dies verringert erneut die Lebensqualität der Betroffenen und stellt sie vor neue Probleme. Bei der paralytischen Form der Kinderlähmung werden Motoneurone zerstört die ein bestimmtes Myotom mit anderen Motoneuronen des gleichen, oder benachbarten Segments innervieren. Dadurch müssen jene Neurone die vom Entzündungsprozess verschont bleiben 5–10-mal mehr motorische Einheiten versorgen. Dieser Aufgabe sind die Nervenzellen je nach Beanspruchung nur über einen gewissen Zeitraum gewachsen. Durch einen, einem Verschleißprozess ähnelndem Vorgang kann es zu einem weiteren Verlust von motorischer Funktion und einer Schwächung des Gesamtorganismus kommen. Es zeigt sich eine Verstärkung und Ausweitung von Lähmungen, Schmerzsymptomatiken, chronischen Müdigkeitssymptomen. Im Dokumentationssystem ICD-9 wurden von 1992 bis 2003 in Österreich 994 Krankenhausaufenthalte mit der Diagnose ICD-9 138 – Spätfolgen der akuten Poliomyelitis (805 Patientinnen und Patienten) codiert. 2.2. Die kalten Füße Bei der Palpation der gelähmten Extremitäten von Poliopatienten fällt häufig, auch bei relativ warmen Umgebungstemperaturen, eine Kälte 22 auf. Betroffene erzählen von einem quälenden Kältegefühl in den paralytischen Gliedmaßen in Verbindung mit einer erhöhten Schmerzsensibilität. Meist sind diese Empfindungen distal an der Extremität und in den Akren stärker ausgeprägt und konzentrieren sich mehr auf die schwächere Extremität. Owen (1985) erwähnt, dass 50% aller Menschen mit Poliofolgen, besonders ältere, eine Kälteintoleranz aufweisen. Kälte führt bei diesen Personen häufig zu einem gesteigerten Schmerzempfinden und verursacht bei über 60% der Betroffenen Muskelschmerzen, und einen Verlust von Muskelkraft. Bei etwa 40% kommt es zu allgemeinen Ermüdungszuständen durch Kälteeinwirkung. [vgl. Bruno et al. 1985b] In der geringen Literatur zu dieser Thematik werden mehrere Mechanismen und Gründe für die Kälte in den gelähmten Extremitäten genannt. Primär beruhen alle Annahmen auf einer gestörten vegetativen Regulation des Gefäßtonus und einem, durch das Fehlen der Muskelvenenpumpe verringerten venösen Rückfluss. Stammers [1954, S.214] berichtet von Patienten mit peripheren Durchblutungsstörungen bedingt durch einen Vasospasmus nach akuter Poliomyelitis. Dies ist auf eine übermäßige Sympathikusaktivität zurückzuführen. Die Patienten leiden an trophischen Störungen der Haut und besonders in den kalten Jahreszeiten an unterkühlten Extremitäten. Bei diesen Patienten führte der Chirurg in vielen Fällen eine partielle Sympathectomy, also eine partielle Durchtrennung des sympathischen Grenzstranges durch. In den 50er Jahren gab es noch keine pharmakologische Therapiemöglichkeit um einen Sympathikotonus zu hemmen. Damit erreicht man für einen gewissen Zeitraum eine trockene, stärker durchblutete Haut. Ulcera die in manchen Fällen durch die Minderdurchblutung entstehen, können verheilen. Durch das invasive Ausschalten des Sympathikus besteht in den Gefäßen nur mehr ein Basaltonus. Dies führt zu einer Weitstellung der Gefäße, auch jener in der Peripherie, und damit zu einem Abfall des peripheren Widerstandes. Es kommt zu Veränderungen der Blutdrucksituation und der Belastung des kardiovaskulären Systems. Der Patient empfindet eine momentane Erleichterung, da seine Beine durch die gefüllten Hautkapillaren eine lebendige Farbe bekommen und sich bei warmen Umgebungstemperaturen auch relativ warm anfühlen. Einige Folgen dieser invasiven Therapie sind jedoch ein vermehrtes 23 Versacken des Blutes in die Beinen, eine Neigung zu Ödemen in den Beinen und eine irreversible Beeinträchtigung von kreislaufregulatorischen, blutdrucksteuernden und thermoregulatorischen, vegetativen Mechanismen. Damit erreicht der Patient eine ähnliche vegetative Ausgangslage in den Extremitäten, wie jene Poliopatienten, bei denen das Kältegefühl auf eine verringerte Sympathikusaktivität zurückzuführen ist. Bruno et al [1985] erklären, dass durch die Verminderung sympathischer Neurone im Rahmen der Kinderlähmung auch die vaskulären Regelmechanismen des vegetativen Nervensystems beeinträchtigt werden. Eine Vasokonstriktion durch die in der Media liegenden Muskelschicht ist nicht mehr möglich und die Anpassungsfähigkeit der Gefäße an thermische Reize geht verloren. Die Gefäße verfügen wie im Falle der Sympathectomy nur mehr über einen abgeschwächten Tonus und sind teilweise permanent dilatiert. Sinkt die Außentemperatur an der Haut und kontrahieren die kleinen Arterien, Arteriolen und die präkapillaren Sphinktere nicht reflektorisch, da sie keine sympathischen Afferenzen bekommen, dann strömt weiter warmes Blut vom Zentrum in das Kapillargebiet. Dieses Blut wird von den Venen nahe der Körperoberfläche, die sich durch die Kälte passiv kontrahieren, in das Kapillargebiet zurück gestaut. Dieses gestaute Blut ist Sauerstoffarm. Es zeigt sich eine levide Verfärbung der Haut. Zusätzlich ist der venöse Rückstrom durch die verringerte Muskelvenenpumpe eingeschränkt. Die Körperwärme, die von den weit gestellten Arterien über das Blut permanent an die Haut nachgeliefert wird, geht an die Umgebung verloren. Der Körper kühlt aus und die Strukturen der Extremität sind durch das zurück gestaute, kalte Blut und die Umgebungstemperatur stark abgekühlt. Dieser Unterkühlung kann der Organismus durch die verringerte Muskelfunktion nur unzureichend mit Muskelaktivität entgegenwirken und er produziert Wärme über den Stoffwechsel. Der Körper verliert Wärme und Energie. [vgl. Bruno et al. 2006] Dies wäre auch eine Erklärung für die Müdigkeitszustände. Eine Abkühlung der Extremitäten und Energieverlust kann nur durch entsprechende Bekleidung, oder eine relativ hohe Umgebungstemperatur (< 30°) verhindert werden. 24 3. Durchblutung 3.1. Einführung …die Durchblutung liegt mir am Herzen durch Sie fließt Leben, Wärme und Leidenschaft… Im Roche Lexikon für Medizin [5. Auflage 2003] wird die Durchblutung recht einfach und übersichtlich als die Leistung des Herz-Kreislauf- Systems unter der Berücksichtung einer Hand voll physikalischer und chemischer Einflüsse beschrieben. Legitim für ein Nachschlagewerk, aber die Durchblutungsregulation des menschlichen Organismus ist auch von der Funktion anderer komplexer Systeme, wie dem Atmungssystem, dem Nervensystem, dem endokrinen System und dem Lymphsystem abhängig. Besonders die neuronale Regulation von Atmung und Kreislauf ist sehr eng aneinander gekoppelt [vgl. Schmidt/Schaible 2006, S. 170]. Die Durchströmung und ausreichende Versorgung der verschiedenen Körperabschnitte mit Blut ist ein komplexer physiologischer Prozess, der von einer Vielzahl verschiedenster anatomischer Strukturen, deren physiologisch störungsfreien Funktionen und einem reibungslosen Zusammenspiel all dieser Komponenten untereinander, abhängig ist. Umgekehrt schafft die Durchblutung im Sinne der Energie- und Sauerstoffversorgung, des Stoffwechsels und der Immunabwehr die Voraussetzung für die gesunde Funktion aller Organe, Gewebe und Strukturen im Körper. „Wo Du Heilen willst, dort bringe Blut hin.“ Diesem Gedanken scheint auch der Körper zu folgen, wenn sich die Durchblutung bei Entzündungen, Heilungs- und Reparationsprozessen, oder auch im Rahmen von Immunabwehrreaktionen am Ort des Geschehens erhöht. Um Durchblutung in ihrer Gesamtheit zu verstehen, ist eine Betrachtung dieser Thematik unter Einbeziehung verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen notwendig. Die Anatomie und Histologie bringen die Strukturen, Gewebe und Leitungsbahnen näher, die Durchblutung ermöglichen. 25 Die Physik gibt uns Auskünfte über die Hämodynamik, Kräfte zur Aufrechterhaltung der Homöostase und physikalische Größen, die im und auf das kardiovaskulären System wirken; wie den Gewebsdruck, den hydrostatische Druck, den kolloidosmotische Druck, die arteriovenöse Druckdifferenz und den Strömungswiderstand in Gefäßen. Die Chemie bildet Grundlagen um physiologische Prozesse, synaptische Informations- und Signalübertragung und die Wirkung von vasoaktiven Substanzen, Peptiden und Hormonen auf das Gefäßsystem nachvollziehen zu können. Die Mechanik gibt vereinfachte Modelle vor, um komplexe physiologische und neurovegetative Regelungsprozesse und somit die Durchblutungsregulation verstehen zu können. 3.2. Kreislauforgane Das Blut im Körper, beim Erwachsenen etwa 5–6 Liter, strömt aus den Ventrikeln durch je eine Arterie in alle Körperabschnitte. Im Herz befinden sich am Ende der Diastole etwa 7% des Blutvolumens. Das Blut für den Körperkreislauf, in dem sich etwa 84% des Blutes befinden, wird vom linken Ventrikel mit einem Druck von etwa 130 mm/Hg und einer Strömungsgeschwindigkeit von rund 20 cm/s durch die Aorta gepumpt. Der rechte Ventrikel transportiert das Blut für den kleineren, widerstandsärmeren Lungenkreislauf, in dem sich etwa 9% des gesamten Blutvolumens befinden, mit einem mittleren Druck von etwa 25 mm/Hg durch den Truncus pulmonalis. [vgl. Schmidt 2001, S. 205 ff.] Wie die Wurzeln eines Baumes durchziehen Verzweigungen und Verästelungen mit immer kleineren Arterien und schließlich Arteriolen die Gewebe und Organe. [vgl. Lüllman-Rauch, 2003, S. 207 f.] Bei den größeren Arterien und Venen treten durch die Tunica externa Vasa Vasorum ein, Gefäße für die Gefäße, die die äußeren Wandschichten versorgen. Alle anderen kleineren Gefäße werden vom intravasalem Blutstrom versorgt. [vgl. Fritsch/Kühnel 2003, S. 86] Die terminalen Arterien und Arteriolen werden auch Widerstandsgefäße genannt. Ihr kleiner Querschnitt und ihre stark muskuläre Wandstruktur bewirken bis zu 50% des 26 Gesamtwiderstandes im Gefäßsystem. Es kommt auf relativ kurzer Strecke zu einem Druckabfall im Körperkreislauf, von 85 mm Hg zu Beginn der terminalen Arterien auf 15 mm Hg beim Eintritt in das Kapillargebiet, welches aufgrund der großen Anzahl an Kapillaren und deren Kürze, nur zu 25% am gesamten Strömungswiderstand beteiligt ist. Bis zum arteriellen Abschnitt der Endstrombahn bezeichnet man den Körperkreislauf auch als Hochdrucksystem (arterielles System), während der Lungenkreislauf, die Kapillaren und das Venensystem des Körperkreislaufs zum Niederdrucksystem gezählt werden, in dem sich etwa 85% des gesamten Blutvolumens Füllungsdruck von 6–7 mm Hg befinden. Der mittlere bei Herzstillstand, auch statischer Blutdruck genannt, macht ebenfalls deutlich, wie groß der Anteil des Niederdrucksystems am Kreislaufsystem ist. [vgl. Thews/Vaupel 2005, S.184 ff.] Das Gesamtquerschnitt Kapillarnetz als die hat einen Aorta. 500–800-fach Dies größeren bewirkt eine 500–800-fach geringere mittlere Strömungsgeschwindigkeit des Blutes in den Kapillaren (etwa 0,2–0,5 mm/s). Ein Erythrozyt verweilt somit bei einer durchschnittlichen Länge der Kapillaren von 0,75 mm etwa 1,5 Sekunden in einer Kapillare. Aufgrund der hohen Permeabilität der Wände von Kapillaren und postkapillären Venolen reicht die Zeit aus, um vorwiegend durch Diffusion einen effektiven Stoffaustausch zwischen Interstitium und dem Kapillarblut zu erwirken. [vgl. Thwes/Vaupel 2005, S. 174] Nach Austauchprozessen im Kapillargebiet beginnt der Rückweg des sauerstoffarmen und mit Metaboliten angereicherten Blutes über die drainierenden Venolen und kleinen Venen, die zu, in ihrem Durchmesser immer größer werdenden Venen, konvergieren. Aufgrund ihrer hohen Elastizität bezeichnet man Venen auch als Kapazitätsgefäße. Sie bieten Speicher- und Kompensationskapazität für den Kreislauf. Bei Verlust von einem Liter Blut wird das Blutvolumen so umverteilt, dass dem Hochdrucksystem nur 5 ml seines Volumens fehlen; die restlichen 995 ml werden von den venösen Kapazitätsgefäßen kompensiert. [vgl. van den Berg 2000, S. 125 f.] Im rechten Atrium des Herzens münden die V. Cava inferior et superior aus dem Körpergreislauf, im linken Atrium die Vv. Pulmonalis des rechten und des linken Lungenflügels. Der größte Druckabfall im venösen Schenkel liegt beim Durchtritt der V. Cava 27 durch das Zwerchfell. Ausgehend von einem Druck von 12 mm Hg vor dem Zwerchfell erreicht das Blut den rechten Vorhof mit einem zentralen Venendruck von nur 3–5 mm Hg. [vgl. van den Berg 2000, S. 126] Die Vasa Lymphatica, die man als ein in das Venensystem einspeisende Rückflusssystem für die interstitiellen lymphpflichtigen Lasten beschreiben kann [vgl. Kettenhuber, 2005, S. 12 ff.], beginnen blind als im Gewebe liegende fingerförmige Ausbuchtungen oder Kapillarschlingen. Diese nehmen die überschüssige Lymphe auf und führen sie über die Präkollektoren, die epi- und subfaszial verlaufenden Kollektoren und schließlich über die beiden Hauptlymphstämme den Ductus thoracicus in den linken- und den Ductus lymphaticus dexter in den rechten Venenwinkel. Abb. 5: Überblick über das kardiovaskuläre Drucksystem [aus Schmidt 2001, S. 205] 28 3.3.Transportsystem Blutkreislauf Das Kreislaufsystem ist ein sich schnell anpassendes und konvektives Transportsystem, das besonders für den O2 und CO2 und den Stoffwechsel unabdingbar ist. Wie wichtig die Konvektion für die Versorgung und Homöostase des Organismus ist, soll an folgendem Beispiel verdeutlicht werden: Die Zeit für eine Diffusion steigt mit dem Quadrat der Diffusionstrecke an. Somit beträgt die Diffusionszeit eines Glukosemoleküls durch eine ein µm Dicke Kapillarwand 0,5 ms, durch eine ein Zentimeter dicke Ventrikelwand jedoch 15 Stunden. Im Gegensatz dazu, dauert der konvektive Sauerstofftransport von der Lunge bis in das Bindegewebe der Akren der unteren Extremität, über das kardiovaskuläre System mit Blut als strömendem Medium, dem Hämoglobin als Carrier und dem Erythrozyten als Transportzelle, nicht mehr als 20 sek. [vgl. Schmidt et al., 2005, S. 604] 3.4. Hämodynamik Damit sich eine Flüssigkeit in einem geschlossenen Röhrensystem in Bewegung versetzen kann, müssen unter Berücksichtigung der wirkenden physikalischen Einflussgrößen in diesem System, treibende Kräfte bestimmte Widerstände überwinden. 3.5.Treibende Kräfte 3.5.1.Das Herz als Druckpumpe Im Kreislaufsystem wird das Blut entlang eines Druckgefälles befördert. Die Systole beginnt mit der isovolumetrischen Kontraktionsphase (Anspannungsphase) des Herzens. Bei maximaler Füllung und geschlossenen Semilunarklappen erhöht sich der Druck im Ventrikel 29 durch die einsetzende Kontraktion des Herzmuskels (1. Herzton). Dadurch schließen sich die Atrioventrikularklappen und es folgt eine isovolumetrische Kontraktion der Herzkammern, der Herzmuskel verformt sich rundlich, wird kleiner, und die Wanddicke des Ventrikels nimmt zu. Es kommt also in Abhängigkeit von der Wandspannung und des Innenradius des Ventrikels zu einer Druckanstiegsphase ohne Volumsveränderung. Ist der diastolische Aortendruck von etwa 80 mm Hg, etwa 10 mm Hg bei der Arteria pulmonalis, überschritten, öffnen sich Seminularklappen und in der Austreibungsphase kommt es durch Verkürzung der Herzmuskelfasern zu einem weiteren Druckanstieg. Es kommt zu einem Volumensauswurf von 60–70 % des enddiastolischen Ventrikelvolumens (Ejaktionsfraktion) ausgeworfen. Durch diese auxotone Kontraktion nähert sich die Ventilebene (Klappenebene) (siehe Abb.6) der unteren Herzspitze mit stempelartigen einer Bewegung, die eine Sogwirkung auf das Blut in den großen herznahen Venen ausübt. Am Ende dieser Phase liegt der Druck in der Aorta über Abb. 6: Das Herz [aus van den Berg 2000, S. 139] dem Druck in den Ventrikel, die Aortenklappe sich (2.Herzton) schließt und die Diastole beginnt. So wird von der Herzmuskelpumpe in Abhängigkeit von Alter, Leistungsfähigkeit und Kreislaufanforderung ein Schlagvolumen von etwa 10 ml bei Neugeborenen bis zu 200 ml beim Leistungsmaximum eines Spitzensportlers in das vaskuläre System ausgeworfen. Dies entspricht beim Menschen einem Herzzeitvolumenspektrum von etwa einem Liter bis zu 40 Litern. [vgl. van den Berg 2000, S. 139 ff.] 30 3.5.2.Das Druckgefälle im Gefäßsystem Im vaskulären durchschnittlich System 96% kommt (etwa es zu 100–130 einem mm Druckgefälle von zwischen dem Hg) Druckmaximum beim Austritt des Blutes aus dem linken Vorhof in die Aorta, bis zum Druck des Blutes in den herznahen Venen (siehe auch Abb. 5). Dieses Druckgefälle ist die entscheidende Voraussetzung für die Überwindung des Strömungswiderstandes. 3.5.3.Der venöse Rückfluss Unterstützt wird der venöse Rückstrom durch den Restdruck des linken Herzens in den Venen, die Aktionen des rechten Ventrikels und dessen Ventilebenenmechanismus, durch die Atemexkursion des Thorax, den Druck-Saugpumpen-Effekt der Inspiration und der Zwerchfellsenkung, den massierenden Effekt der arteriellen Pulswelle (Abb. 6) Einen wichtigen Beitrag zum Rückfluss trägt auch die Kontraktion der Skelettmuskulatur bei (Muskelvenenpumpe), die auch zu einem Abfall des Venendrucks führt [vgl. Gauer/Thron 1965, S. 2409 ff.] [vgl. Tews/Vaupel 2005, S. Abb. 7: Rückflussfördernder 184 ff.]. Der venöse Rückfluss kann Effekt der arteriellen Pulswelle [aus van den Berg 2000, S. 127] aufgrund insuffizienz, einer eines Rechtsherzübermäßigen Widerstandes, beispielsweise durch eine hohe Spannung des Zwerchfells, oder das Fehlen der Muskelvenenpumpe beeinträchtigt sein. Dadurch kommt es zu einem erhöhten Gefäßinnendruck und einen dadurch erhöhte Filtrationsdruck. Die Folge ist ein übermäßiger Austritt von Flüssigkeit ins Gewebe. Kann diese aufgrund des Rückstaus (erhöhter venöser Druck) nicht im ausreichenden Maße rückreapsobiert werden und ist die Förderkapazität des Lymphsystems ausgeschöpft, kommt es, primär in der unteren Extremität, zu Ödembildungen. Stick et al. 31 [Grote/Witzleb (Hrsg.)1987, S. 187 ff.] beschreiben in ihrer Studie: „Über Einflüsse der Muskelpumpe auf das extravaskuläre Flüssigkeitsvolumen der Wade“, die Bedeutung der „ödemprotektiven Wirkung“ der Wadenpumpe in Orthostase. Sie untersuchten über die Messung des Wadenvolumens und den Verlauf des Venendrucks in der Vena Saphena magna bei Muskelarbeit, die drainierenden Eigenschaften von Muskelaktivität auf das interstitielle Flüssigkeitsvolumen der Wade. Es zeigte eine Tendenz zur Abnahme des Wadenumfangs bei 17-minütiger Beinarbeit am Fahrradergometer. 3.6. Der Strömung entgegenwirkende Kräfte 3.6.1. Strömungswiderstand Ohne Herzdruckpumpe gäbe es keine Druckentstehung und ohne Widerstand könnte kein Blutdruck entstehen. Der Strömungswiderstand, der dem Blut im Gefäßsystem entgegenwirkt, ist von der Viskosität des Blutes, sowie der Länge und dem Durchmesser des Gefäßes abhängig. Da der Energieverlust der Strömungsstärke durch Reibung umgekehrt proportional der vierten Potenz des Röhrenradius ist (Hagen-Poiseuille Gesetz), bewirken bereits kleinste Veränderungen im Röhrendurchmesser starke Änderungen des Strömungswiderstandes. [vgl. Schmidt 2001, S.208] Da das Gefäßsystem kein Netzwerk aus starren Röhren ist, trifft die Anwendung des Hagen-Poiseuille Gesetz auf die Physiologie des Gefäßsystems nicht in jeder Hinsicht zu, erklärt aber, weshalb sich der Hauptwiderstand im Gefäßsystem im Bereich der Arteriolen und Kapillaren befindet. [vgl. Schmidt et al. 2005, S. 607]. Aufgrund der Elastizität und der Kontraktionsfähigkeit von Gefäßen, sind der Strömungswiderstand und somit auch das Stromvolumen für einen Gefäßabschnitt nicht immer konstant. Die Gefäße werden bei zunehmendem transmuralem Druck (Druckdifferenz zwischen Innen- und Außenseite der Gefäßwand) gedehnt, was zu einem Absinken des Strömungswiderstandes und einem steilen Anstieg des Stromvolumens führt. Im Rahmen der Autoregulation der Gefäße kann durch eine 32 rasche Erhöhung des Gefäßinnendrucks und somit auch eines Dehnreizes auf die Gefäßwand, eine myogene Reaktion der Media als Reizantwort erfolgen. Die Media kontrahiert sich, wirkt dem erhöhten intravasalen Druck entgegen und reguliert somit den Blutstrom. [vgl. Schmidt 2001, S.209] Diese als Bayliss-Effekt bezeichnete Reaktion ist vor allem für die konstante Durchblutung, der an die terminalen Arterien und Arteriolen nachgeschalteten Kapillargebiete, von Bedeutung. Besonders ausgeprägt ist dieser Effekt bei den kleinen Arterien der Niere und des Gehirns, da für die Funktion dieser Organe eine konstante Durchblutung besonders wichtig ist. Eine Änderung der Körperposition bewirkt eine entsprechende Änderung des hydrostatischen Drucks im Kopfbereich. Durch die myogene Durchblutungsregulation kann die Hirndurchblutung in einem Bereich von 70 bis 160 mm Hg des arteriellen Drucks weitgehend konstant gehalten werden. [vgl. Thews/Vaupel 2005, S. 202] Abb. 8: Drücke, mittlere lineare Strömungsgeschwindigkeit, und Gesamtquerschnitte der verschiedenen Abschnitte des kardiovaskulären Systems. [aus Thews/Vaupel 2005, S. 190] 33 3.6.2. Die innere Flüssigkeitsreibung Die innere Flüssigkeitsreibung des Blutes ist durch die Reibung aneinander vorbei gleitender Flüssigkeitsschichten bedingt. Blut ist ein heterogenes fluides Medium, mit sich in ihrem Aggregatszustand und ihrer Größe variierenden Bestandteilen, die unter statischer und dynamischer Betrachtungsweise unterschiedliche Eigenschaften besitzen. Die Viskosität des Blutes hängt von der Viskosität des Blutplasmas und vom Hämatokritwert, also dem Anteil an Erythrozyten im Blut, ab. Sie verändert sich auch mit dem Gefäßdurchmesser, der Fließgeschwindigkeit und der damit verbundene Schubspannung, der sich gegeneinander teleskopartig verschiebenden Flüssigkeitsschichten. Bei starker Strömungsstärke und hoher Schubspannung nimmt die scheinbare Viskosität des strömenden Blutes so weit ab, dass sie sich der Plasmaviskosität annähert und sich wie eine dünnflüssige Emulsion verhält. Diese Eigenschaft ist auf die Verformbarkeit der Erythrozyten zurückzuführen (Glocken- oder Tropfenform). Bei geringer Strömungsgeschwindigkeit und herabgesetzter Schubspannung steigt die scheinbare Viskosität des Blutes an. Dies kommt durch die Neigung zur Bildung von geldrollenartigen Erythrozytenaggregaten bei niedriger Strömungsgeschwindigkeit zustande. [vgl. Thews/Vaupel 2005, S.162 f.] Besonders im venösen System ist die Strömungsgeschwindigkeit gering, weshalb hier die Wahrscheinlichkeit der Thromben- und Aggregatbildung erhöht ist. 3.6.3. Die Wandreibung in Gefäßen Das Blut fließt meist in einer Schichtenströmung (laminare Strömung) mit einem parabolähnlichem Strömungsprofil, wobei der zu den Gefäßachsen parallel verlaufende Axialstrom des Blutes schneller ist, als der Randstrom nahe der Gefäßwand. Wird eine kritische Fließgeschwindigkeit überschritten, so geht die geordnete laminare Strömung in eine turbulente, langsamere Strömung über, was zu einer Abflachung des Strömungsprofils und Wirbelbildung führt. Für die Höhe dieser 34 kritischen Geschwindigkeit sind die Viskosität und der Durchmesser von Gefäßen verantwortlich. [vgl. Schmidt 2001, S. 208] Während der Austreibungsphase wird dieser Wert in den proximalen Abschnitten der Aorta und der A. pulmonalis um ein vielfaches überschritten, sodass es zu kurzeitigen Wirbelbildungen im Blutstrom kommt. Bei Stenosen oder Widerständen im Gefäß, wie Thromben, sowie bei erhöhter Viskosität, kann es auch in peripheren Arterien zu auskultierbaren, turbulenten Strömungen kommen. [vgl. Schmidt et al. 2005, S. 607] In Blutgefäßen mit einem Durchmesser von unter 300 μm bewegen sich Erythrozyten vorwiegend im schnelleren Axialstrom, sodass im Randbereich der Gefäße eine gleitfähige Plasmaschicht verbleibt. Die scheinbare Viskosität des Blutes nimmt bis zu einem Kapillardurchmesser von 4 μm ab und erreicht nahezu den Plasmawert, danach ist die Flexibilität der Erythrozyten ausgeschöpft und bei weiterer Verringerung des Durchmessers steigt die scheinbare Zähigkeit des Blutes wieder steil an. [vgl. Thews/Vaupel 2005, S. 162 f.] Da sich Gefäße in ihrem Durchmesser der Kreislaufsituation anpassen müssen, ist deren Compliance in den unterschiedlichen Abschnitten des Gefäßsystems verschieden und abhängig von der jeweiligen Wandstruktur, sowie dem auf die Gefäßwand wirkenden transmuralen Druck. Der transmurale Druck entspricht meist dem intravasalen Druck, da in den meisten Geweben nur geringe Drücke vorliegen. Konträr ist die Situation in der Muskulatur, da sich hier durch Kontraktion der Muskelfasern ein hoher extravasaler Druck aufbaut. Übertrifft dieser den Gefäßinnendruck, so kommt es zu einem Kollaps des Gefäßes und so zu einer Unterbrechung der Durchblutung im nachfolgenden Versorgungsgebiet. [vgl. van den Berg et al. 2000, S. 121]. Ist die Compliance von Gefäßen aufgrund von pathologischen Prozessen oder Läsionen herabgesetzt, so ist meist auch die Funktionsfähigkeit der Media herabgesetzt. Dieser Verlust der Funktion kann zu irreversiblen Schäden and der Gefäßstruktur führen, sowie in weiterer Folge die Funktionsfähigkeit des Herzkreislaufsystems beeinträchtigen. 35 3.7. Mikrozirkulation Organisation und Funktion 3.7.1. Funktionelle Anatomie der terminalen Strombahn Die Endstrombahn des Gefäßsystems ist für den Stoff-, Flüssigkeits- und Wärmeaustausch zwischen Blut und Interstitium besonders wichtig. [vgl. Thews/Vaupel, 2005, S. 174 f.]. Sie wird durch Arteriolen, Metarteriolen, Kapillaren (Ø 4–8 μm), postkapilläre Venolen, Venolen, sowie arteriovenöse Anastomosen und kleine Lymphgefäße gebildet und fasst die peripheren Abschnitte des Gefäßsystems zu einer funktionellen Einheit zusammen. [vgl. Schmidt et al., 2005, S. 619]. Ungefähr 1000 m² Gesamtfläche werden für Austauschprozesse im menschlichen Organismus durch die etwa 40 Milliarden Kapillaren und die postkapillaren Venolen zur Verfügung gestellt. Es gibt drei Arten von Kapillaren, die sich durch die Ultrastruktur ihres Wandaufbaus unterscheiden und dadurch eine divergente Permeabilität für Stoffe aufweisen. Kapillaren besitzen keine muskulären Wandelemente, weshalb ihre Weite durch ihre Elastizität und den transmuralen Druck bestimmt wird. Somit variiert die Gefäßweite mit den vorgeschalteten Strömungswiderständen. Abb. 9: Terminale Strombahn und Verhältnis von Filtration und Resorption durch die Kapillarmembran bei unterschiedlichem Gefäßtonus [aus Schmidt 2001, S. 215] 36 Jedes Organ und jede Struktur verfügt über ein, den spezifischen Erfordernissen entsprechendes terminales Strombahnmuster, das dem organtypischen Durchblutungsbedarf angepasst ist und die spezifische Funktion des Organs ermöglicht. Unter Ruhebedingung und in Arbeit, ist das Kapillargebiet, je nach Durchblutungsbedarf und Beteiligungsprofil des Organs an einer Aufgabe, unterschiedlich ausgelastet. Im Gehirn und der Leber kommen Variationen der Kapillarperfusion nur geringfügig vor. Bei den Funktionen der Skelettmuskulatur spielt dieses Variationsspektrum im Dienste der Fortbewegung und Thermoregulation eine große Rolle, da hier der Perfusionsbedarf, je nach Ausmaß der zu erbringender Muskelleistung, sehr unterschiedlich ist. Die Durchblutung des Kapillargebiets wird durch das vegetative Nervensystem, die Vasomotion und kontraktile Muskelringschichten, sogenannte präkapillare Sphinkter an den Übergängen von den Metarteriolen zu den Kapillaren reguliert. (siehe Abb. 9) [vgl. Thews/Vaupel 2005, S. 176] Unter Ruhebedingung sind nur 25–35% der Kapillaren durchblutet, was einer Austauschfläche von 300 m² entspricht. In den meisten Fällen stellen Kapillaren keinen direkten Verbindungsweg zwischen Arteriolen und Venolen dar. Die Hauptstrombahn wird von den Metarteriolen gebildet, die in die Venolen münden. Von ihnen wird das arterielle Blut, bei unterbrochener Kapillardurchblutung, direkt dem venösen System zugeführt und verzweigt sich nicht in den Kapillarbäumen. [vgl. Schmidt et al. 2005, S. 619 ff.] Daneben existieren vor allem in der Haut der Extremitäten und der Akren muskelstarke arteriovenöse Anastomosen (Kurzschlussgefäße) zwischen kleinen Arterien und Venen, die dort thermoregulatorische Prozessen dienen. [vgl. Thews/Vaupel 2005, S. 175] 3.7.2. Kräfte und Austauschprozesse in der terminalen Strombahn Der Anteil des Flüssigkeits- und Stoffaustausches im Gebiet der terminalen Gefäße wird beinahe zu 98% durch Diffusion und somit durch ein Konzentrationsgefälle erreicht. Nur 2–3 % des täglichen Austausches, bei dem etwa beachtliche 80.000 Liter an Flüssigkeit und bis zu 20 kg Glucose verschoben werden, wird durch den Filtrations37 Rückresorptions-Prozess erzielt. Bei Letzterem sind hydrostatische und koloidosmotische Drücke die treibende Kraft. Die Permeation, das Durchtreten von Eiweißmolekülen durch große Poren der Kapillarmembran, kommt regional unterschiedlich und physiologisch nur im geringen Umfang vor. Wie die Diffusion erfolgt sie entlang eines Konzentrationsgefälles, in diesem Fall aufgrund verschiedener Eiweißkonzentrationen zwischen intravasalem und interstitiellem Raum. [vgl. Schmidt 2001, S. 216] Abb. 10: Stofftransport durch Diffusion und Filtration im Bereich der terminalen Strombahn im Verhältnis zum HZV. [aus Schmidt 2001, S. 216] 3.7.3. Lymphsystem Die Anzahl der Lymphkapillaren ist mit Ausnahme des ZNS, der Knochen und der Oberhaut ähnlich groß, wie die der Blutkapillaren. Da die Bilanz des Filtrationsflusses, im arteriellen Schenkel und des Resorptionsflusses im venösen Schenkel des Kapillarbetts nicht stimmig ist, müssen etwa 38 10 % (2–4 l/Tag physiologisch) der filtrierten Flüssigkeit mit einem durchschnittlichen Eiweißgehalt von 20 g/l als Teil der Lymphe über das Lymphsystem abtransportiert werden. [vgl. Schäffler/Menche 1999, S. 257 f.] Das Lymphsystem hat neben seinen Aufgaben im Rahmen der Immunabwehr und des Transportes, von über die Darmwand resorbierten Stoffen, eine wichtige Drainagefunktion. Über den Lymphfluss wird das interstitielle Flüssigkeitsvolumen und damit auch den hydrostatischen Druck des Gewebes reguliert. Dieser Funktion ist besonders dann wichtig, wenn beim Flüssigkeitsaustausch über die Blutkapillaren, die Filtrationsgeschwindigkeit die Zeit für die Rückresorption übertrifft. [vgl. Schmidt 2001, S.216] Ist dieses System in seiner Funktion eingeschränkt oder aufgrund von pathologischen Vorgängen überfordert, kommt es zur Ödembildung. 3.8. Die Rolle des vegetativen Nervensystems Abb. 11: schematische Darstellung des Zusammenspiels von Vegetativem Nervensystem, Gehirn und Organismus. [aus Schmidt/Schaible 2006, S.133] 39 3.8.1. Regelkreise Regelkreise haben die Aufgabe in einem geschlossenen Wirkungskreis vorgegebene Regelgrößen mit Fühlern zu überwachen, Störgrößen zu erkennen und bei der Abweichung von bestimmten Grenzwerten durch regulierendes und steuerndes Eingreifen eines Reglers, ein Gleichgewicht oder benötigtes Ungleichgewicht zu erhalten. Regelkreise können untereinander auf verschiedenste Weise verschalten sein und aufeinander Einfluss haben. Alle regulativen Prozesse des vegetativen Nervensystems als sich in Regelkreisen darstellen. 3.8.2. Autonomie der Gefäße Gefäße besitzen einen Basaltonus, also eine autonome Spannung der glatten Muskulatur, die bei den Arteriolen und einigen großen Arterien auch nach Denervation, etwa im Falle einer Querschnittsymptomatik, erhalten bleibt. Dies gilt vor allem für Organe mit wechselnden Durchblutungsanforderungen, wie der Skelettmuskulatur. [vgl. Schmidt 2001, S. 217]. Der Ruhetonus eines Gefäßes setzt sich aus dem Basistonus und dem, durch die Impulse der sympathischen Fasern getriggerten Tonus in Ruhe, zusammen. In Stresssituationen ist der Blutdruck oft erhöht. Dies kann man auf eine erhöhte Sympathikusaktivität, die den Tonus in den meisten Gefäßen generell erhöht, zurückführen. 3.8.3. Vegetative Regulation und Vasomotorik Somato- und viszerosensible Afferenzen aus der Peripherie und von den Organen werden im Hinterstrang (aufsteigende Bahnen) und im Seitenstrang (vegetative Bahnen) des Rückenmarks auf spinaler Ebene unter Einbeziehung einer oder mehrere Segmente in einem vegetativen Reflexbogen rückgekoppelt, und/oder gelangen entlang der sensiblen (aufsteigenden) Nervenbahnen, dem Tractus Spinothalamicus und den 40 Hinterstrangbahnen (Fasciculus Cuneatus und Gracilis), aber auch entlang von Hirnnerven zu den entsprechenden Umschalt- und Verarbeitungszentren (Reglern) des vegetativen Nervensystems. Afferenzen der sensiblen aufsteigenden Bahnen Abb. 12: (A): Afferenzen des Viszeralen-Motor-Systems treffen über Hirnnerven und aufsteigenden sensiblen Bahnen (orange), (B) Topographie des Solitarischen Traktes mit den Kerngebieten der viszeralen Sensibilität [aus Hall et al., 2001] Es gibt aber auch Afferenzen aus über- und untergeordneten Bereichen des Gehirns, wie dem Hirnstamm, dem limbischen System und dem Neokortex und somit auch Verbindungen zu den Arealen der Empfindungen, der Emotion, der Vorstellung und des bewussten Handelns (somatische Funktionen). Das vegetative Nervensystem passt das Köperinnere und die Leistung der Organe nicht nur über die Information des Sensiblen Systems dem exogenen und endogenen Milieu und Einflüssen an, sondern bereitet den Körper und seine Organe und Gewebe durch viszerale und vegetative Anpassungsvorgänge auf bewusste Handlungen (somatomotorisches Nervensystem) und Geschehnisse vor und begleitet diese. Ein wichtiger Bereich beim Multitasking des Hypothalamus nimmt dabei die Kontrolle des HerzKreislaufsytems und somit auch die Beeinflussung der Vasomotorik, der Vasomotion und Durchblutung ein. Feststellbar ist dieser Einfluss bei 41 einem Kurzstreckenläufer, bei dem sich bereits vor dem Start das Herzzeitvolumen und die Durchblutung der Skelettmuskulatur erhöht. Man kann sich auch die Veränderung der primären und sekundären Geschlechtsorgane bei der Ansicht oder Vorstellung eines erregenden Moments vor Augen halten. [vgl. Schmidt/Schaible 2006, S. 132 ff.] Auch über humorale Wege und hormonell vermittelt, erreicht Information aus dem Körperinneren die vegetativen Bereiche des zentralen Nervensystems und versorgt so das Regelzentrum mit den nötigen Informationen, Istwerten aber auch allfälligen Störgrößen. Aus den vegetativen Zentren entspringen die motorischen Efferenzen für die glatte Muskulatur der Gefäße und Eingeweide. Über die Verbindung von Hypothalamus zur Hypophyse wird auch das endokrine System reguliert und Hormone ausgeschüttet. [vgl. Kahle/Frotscher 2002, S. 292] Durch diese Befehle an Erfolgsorgane in der vegetativen Kette werden die fundamentalen Funktionen des Kreislaufes und der Atmung, der Verdauung und Ausscheidung, des Stoffwechsels, der Sekretion, der Köpertemperatur und der Fortpflanzung kontrolliert und geregelt. 3.8.4. Organisation des Vegetativums unter besonderer Berücksichtigung der Kreislauf- und Thermoregulationszentren Abb. 13: Steuerung der spinalen Anteile des vegetativen Nervensystems durch Kerngebiete im Hirnstamm und der Hypophyse [aus Schmidt 2001, S. 150] 42 3.8.4.1. Der Hypothalamus Der Hypothalamus, ein Teil des Zwischenhirns, ist das komplexe Regulations und Rechenzentrum des vegetativen Nervensystems. Er reguliert das innere Milieu in Anpassung an innere und äußere Bedürfnisse und Anforderungen. Diese exakte Regulierung geschieht unbewusst und funktioniert sehr genau und reflexartig, da das innere Gleichgewicht nur in sehr engen Grenzen bestehen kann. Abb. 14: a: Lokalisation des Hypothalamus, b: afferente und efferente Neuronale und humorale Verbindungen des Hypothalamus [aus Schmidt/Schaible 2006, S. 173] Der Hypothalamus nimmt über neuronalen aber auch über humoralen und hormonellen Weg Organfunktionen. Einfluss Er regelt auf die das Regulation Endokrine verschiedener System über Releasinghormone, die über die hypothalamischen Portalgefäße den Hypophysen Forderlappen zugeführt werden. Dieser sezerniert je nach Art des Releasinghormons unterschiedliche Hormone in das Blutsystem, die Organe beeinflussen und die Hormonausschüttung endokriner Drüsen wie der Nebennierenrinde, der Schilddrüse und der Keimdrüse regeln. Über spezielle Rezeptoren in Hypothalamusneuronen wirken die Hormone der endokrinen Drüsen auf die Neurone im Hypothalamus zurück. Somit wird 43 die Konzentration der Hormone im Blut überwacht. Der Hypothalamus passt den Hormonbedarf an den Organismus an. Bei längerer Kältebelastung kommt es zu einer Aktivierung der Schilddrüse und bei körperlicher und/oder seelischer Belastung zur Ausschüttung von Glucocorticoiden in der Nebennierenrinde, welche die Widerstandskraft des Organismus erhöhen. [vgl. Schmidt/Schaible 2006, S. 172 ff.] Der Sympathikus bewirkt in der Nebennierenrinde beim so genannten Fightand-Flight-Syndrom Ausschüttung einen Adrenalinausstoß, wiederum Hypothalamus zur über die Ausschüttung der hormonale von bei längerer Regulation Glucocorticoiden des führt (Anpassungssyndrom). Adrenalin wird wie Noradrenalin und Dopamin zu den Katecholaminen gezählt die vorwiegend sympathisch anregende Wirkungen auf das Herzkreislaufsystem haben. Bei Herz- und Skelettmuskeln, sowie in der Leber wirkt Adrenalin jedoch bis zu einer gewissen Konzentration vasodilatatorisch. Das im Nucleus Supraopticus des Hypothalamus produzierte Vasopressin (ADH) erreicht axonal die Hypophyse und gelangt von dort ins Blut. Es ist von großer Bedeutung für den Wasserhaushalt des Körpers, wirkt auch in der Niere, wo es neben Aldosteron die osmotische Rückresorption von Wasser aus dem Harn ermöglicht und somit die Anpassung des Blutvolumens an die Gefäßkapazität unterstützt. Vasopressin wird als stark blutdrucksteigernde Substanz auch erfolgreich bei der Reanimation von Patienten mit Herzkreislaufstillstand eingesetzt. Es wirkt bei hoher Konzentration vasokonstriktorisch. Im Gehirn- und Koronarkreislauf wirkt es jedoch durch die lokale Freisetzung eines Lokalhormons (EDRF) aus dem Gefäßendothel vasodilatatorisch. Der Endothel Derived Relaxing Faktor (EDRF) ist auch als Hemmstoff für Thrombozytenadhäsionen bekannt. [vgl. Schmidt 2001, S. 217 f.] 44 3.8.4.2.Temperaturregulation a b Abb. 15:Überblick Temperaturregulation; a: die wichtigsten beteiligten Strukturen, [aus Schmidt/Schaible 2006, S. 176] b: Schaltbild der Temperaturregulation [aus Schmidt 2001,S. 260] Der Hypothalamus ist auch Ort der Thermoregulation des menschlichen Organismus. Eine Konstanthaltung der Körpertemperatur in einem relativ engen Bereich ist Voraussetzung für die Funktion des Organismus. Bei warmblütigen Tieren muss man zwischen Kern- und Schalentemperatur unterscheiden. Die Kerntemperatur ist sehr konstant während die Schalentemperatur sehr stark mit der Umgebungstemperatur variiert (siehe Abb. 16). Abb. 16: Die Körperkerntemperatur in Abhängigkeit zur Außentemperatur; gleichwarmer Körperkern in A und B (dunkelrot); Das Temperaturfeld der wechselwarmen Körperschale (hell) hängt von der Außentemperatur (blau/gelb) und der Wärmebildung des Körpers ab. Bei kalter Umgebung verlagert sich die Wärme in die Körpertiefe. [aus Schmidt 2001, S. 257] 45 Die Körperinnentemperatur wird über die Produktion und Abgabe von Wärme durch das vegetative Nervensystem eingestellt. Durch somatomotorische Aktivitäten wie etwa Muskelzittern kommt es zur Wärmebildung im Körper. Bei Neugeborenen wird dies auch durch einen gesteigerten Fettstoffwechsel unter dem Einfluss des vegetativen Nervensystems erreicht (zitterfreie Thermogenese). Die Wärmeabgabe wird über das Blut nahe der Körperoberfläche, durch eine erhöhte Hautdurchblutung und über Schweiß und dessen Verdunstung an der Hautoberfläche erzielt. In den Fingern etwa kann die Durchblutung in einem Verhältnis von 1:600 variieren und jeder Liter Schweiß, der an der Körperoberfläche verdunstet, entzieht dem Körper durchschnittlich 2400 Kilojoule an Wärmeenergie. Im Hypothalamus befinden sich spezialisierte „Temperaturneurone“, die vor allem einen Anstieg, aber auch einen Abfall der Kerntemperatur registrieren. Beide Mechanismen der Wärmeabgabe werden über den Sympathikus geregelt, der sekretionssteigernd auf die Schweißdrüsen wirkt und eine Veränderung des Gefäßtonus steuert. (vgl. Schmidt/Schaible 2006, S. 174 ff.] Bei den Blutgefäßen der Haut und des Gastrointestinaltraktes bewirkt eine Sympathikusstimulation eine Konstriktion der Gefäßwand, während er in der Skelettmuskulatur und beim Herz zu einer Dilatation führt. [vgl. Trepel 2004, S. 278]. Bei dem Wärmeabgabemechanismus über die Haut werden die sympathischen viszeromotorischen Neurone gehemmt, die Vasomotoren übermitteln eine verminderte Impulsrate, was zu einer Weitstellung der Gefäße führt. Das warme Blut wird nahe zur Körperoberfläche transportiert, wo es durch die Umgebungstemperatur und/oder die beim Schwitzen entstehende Verdunstungskälte abgekühlt wird. In der Haut sind vor allem die Kaltsensoren an der Thermoregulation beteiligt, während die kutanen Warmsensoren keine Rolle im zentral gesteuerten Prozess der Temperaturanpassung zu spielen scheinen. [vgl. Schmidt/Schaible 2006, S. 175] Kaltsensoren sind zwischen 20°C und 34°C besonders empfindlich. Wenn die Haut von einer neutral empfundenen Temperatur ausgehend (~34°C) abgekühlt wird, reagieren die Kaltsensoren mit einem Anstieg der Entladungsfrequenz. Bei starker Abkühlung wird auf den "Burstmodus" umgestellt. Aktionspotentiale werden in Gruppen (Bursts) gefeuert, die durch Perioden ohne Aktivität getrennt sind. Kaltsensoren 46 reagieren auch auf chemische Stimulation mit Menthol. Die Kaltafferenzen werden reflexartig von vegetativen Neuronen im Hypothalamus mit einer Erhöhung der sympathischen Impulse der Vasomotoren beantwortet, was zu einer Vasokonstriktion und somit zu einer Durchblutungsverminderung in der Haut führt. Der Körper versucht den Verlust von Wärme über das Blut in der Haut zu verringern. Warmsensoren sind zwischen 37°C und 34°C besonders empfindlich. Sie reagieren auf Erwärmung über die neutrale Hauttemperatur mit einem Anstieg der Entladungsfrequenz. Bei Temperaturen über 45°C übernehmen Schmerzrezeptoren die Temperaturregistrierung. Capsaicin (scharfer Bestandteil von Chili) erregt auch die Wärmerezeptoren. Kaltpunkte sind dicht unter der Epidermis, Warmpunkte in der Lederhaut. Es gibt grundsätzlich mehr Kalt- als Warmpunkte, die Dichte variiert in den Körperregionen. Axone von Kaltpunkten sind myelinisiert und leiten deshalb schneller. Bei gleich bleibender Temperatur Dauerentladung. [vgl. zeigen Fain Warm 2003, S. und 56 Kaltrezeptoren ff.] Die so von eine den Temperaturrezeptoren impulsartig generierten Afferenzen werden einem Reflexbogen und/oder dem Hypothalamus zugeführt. Dieser erwirkt im Falle eines drohenden Absinkens der Körperkerntemperatur eine erhöhte Wärmeproduktion durch Muskelaktivität (Muskelzittern) und bei starker längerer Abkühlung eine starke Vasokonstriktion in der Peripherie und eine Verschiebung des Blutvolumens nach zentral. [vgl. Schmidt/Schaible 2006, S. 175 f.] Die Thermoregulation ist also auch als eine Leistung des Kreislaufsystems zu sehen, was sich neuroanatomisch in der Verschaltung des Hypothalamus und den Kreislaufzentren im Hirnstamm zeigt. 47 3.8.4.3. Kreislaufregulation Abb. 17: Kreislaufzentrum im Hirnstamm mit den zuständigen Nervenkernen und Leitungsbahnen. RVLM = rostrale ventrolaterale Medulla, NTS = Nucleus tractus solitarii, KVLM = kaudale ventrolaterale Medulla, E = exitatorische bzw I = inhibatorische Verbindungen. [aus Thews/Vaupel 2005, S. 218] Die Kernbereiche im Gehirn, die primär als Kreislaufumschaltzentren beschrieben werden, finden sich hauptsächlich in Nachbarschaft zum Atemzentrum in der Formatio reticularis (Anhäufung von vernetzten Nervenkernen) des Tegmentums (Haube), dem entwicklungsgeschichtlich alten Bereich des Hirnstamms. Er erstreckt sich über Medulla oblongata, Pons und Mesenzephalon und wird in der Höhe von Medulla und Pons 48 vom Kleinhirn überlagert. [vgl. Kahle/Frotscher 2002, S. 132]. Die enge Verbindung zwischen Atmung und Kreislauf beruht funktionell und anatomisch auf der Einbindung der Lunge in das Herzkreislaufsystem und physiologisch auf dem wechselnden Bedarf an Sauerstoff und Kohlendioxidabtransport der verschiedenen Organe und Gewebe bei Ruhe und Aktivität. Das Kreislaufsystem kann in Depressorenzentrum und Pressorenzentrum unterteilt werden. Das Depressorenzentrum liegt medialer und kaudaler im Hirnstamm als das Pressorenzentrum; seine Reizung durch Mechanorezeptoren führt zu einer Verringerung der Herzleistung und einem Abfall des Blutdrucks durch Vasodilatation. Eine Reizung des Pressorenzentrums führt zu einer Erhöhung der Herzaktivität und des Blutdrucks durch Vasokonstriktion. [vgl. Trepel 2004, S. 137]. Die Mechanorezeptoren (Barorezeptoren) im Herz und den großen Gefäßen und hoch spezialisierte Chemorezeptoren in der Aorta und den Bifurkationen der Karotisarterien sind die Fühler die Blutdruckregulation. Die Nervenendigungen der Barorezeptoren reagieren auf Veränderungen der Wandspannung von Gefäßen und liefern Informationen über Herzfrequenz, den Blutdruck und dessen Amplitude. Wirkt auf die Gefäßwand ein, die Toleranzgrenze der Barosensoren überschreitender Gefäßinnendruck, kommt es zum sogenannten Pressosensorenreflex (siehe Abb.17). Abb. 18: Pressosensorenreflex als Regelkreis [aus Schmidt 2001, S. 219] Durch eine Minderung des Sympathikus und Steigerung des Parasympathikus werden die Herzleistung und der periphere Widerstand 49 verringert und der Blutdruck sinkt. Die wichtigen Efferenzen für die Blutdruckanpassung haben ihr Innervationsgebiet am Herzen und bei den kleinen Arterien und Arteriolen. Diese Efferenzen werden kontinuierlich als Impulse von vegetativen Kernen im Hirnstamm über Rückkoppelung mit den Afferenzen der Rezeptoren generiert. Sinkt etwa im Rahmen einer Anpassung durch eine parasympathische Intervention aus dem Hirnstamm die Impulsrate der parasympathischen Kardiomotoneurone und/oder erhöht sich die Impulsrate der sympathische Kardioneurone, so kommt es zu einem Anstieg der Herzfrequenz. Eine Erhöhung der Impulse von sympathischen Vasomotoren führt zu einer Gefäßverengung und somit zu Blutdrucksteigerung durch Widerstandserhöhung in den kleinen Arterien. [vgl. Schmidt/Schaible 2006, S. 167 ff.] a Abb. 19: sympathische Innervation eines Gefäßes; a: Vasokonstriktor projiziert auf seinen Effektor; b: sympathisches Nervengeflecht umgibt das Gefäß; c und d: Organisation der neuroeffektorischen synaptischen Impulsübertragung [aus Schmidt/Schaible 2006, S.151] 50 Chemorezeptoren reagieren auf die Partialdrücke von Sauerstoff und Kohlendioxid und kontrollieren den Atemgasgehalt und sind somit auch am Säure-Basenhaushalt des Körpers beteiligt. [vgl. Hall et al. 2004] Ausschlaggebend ist hier der Kohledioxid Partialdruck; übersteigt dieser einen gewissen Grenzwert, erfolgt von Kernen im Atemzentrum, welche im Hirnstamm mit dem Kreislaufzentrum korrespondieren, ein Atmungsreiz. Die Afferenzen aus der Peripherie werden über den Nervus Vagus und Glossopharyngeus und die sensiblen aufsteigenden Bahnen (somato und viszerosensibel) im Rückenmark in die dorsolateren Formatio reticularis zu den Nuclei tractus solitarii geleitet. Interzerebrale Afferenzen kommen vom Nucleus paraventricularis hypothalami, vom Amygdalkerngebiet im Hypothalamus und von der vorderen Großhirnrinde. Die Efferenzen für die vegetative Steuerung von Herz und Blutgefäßen verlassen das Kreislaufzentrum über den Nucleus ambigus und Kerngebiete in der oberen ventrolateralen und ventromedialen Medulla und ziehen über die motorische extrapyramidale Bahn zu den Erfolgsorganen. [vgl. van den Berg et al. 2000 S. 389 ff.]. Im Kreislaufzentrum der Formatio reticularis kann der Blutruck und die Durchblutung auch autonom und ohne den Einfluss von übergeordneten Hirnregionen, wie im Fall von psychischer Erregung, durch den Neokortex und das limbische System, gesteuert werden. [vgl. Schmidt/Schaible 2006, S. 167] Die neuronale Kreislaufregulation spielt natürlich auch in vielen anderen Bereichen der Homöostase, der Anpassung, sowie im Bereich der Psychosomatik, der Verdauung und der Sexualfunktionen eine Rolle. Alle Bereiche stehen in komplexen Wechselbeziehungen zueinander und beeinflussen sich verschiedenste Weise untereinander. Ein gutes Beispiel wäre etwa eine psychogen bedingte Impotenz, bei der es im Rahmen einer Stresssituation und/oder psychogenen Anspannung zu einem Ausbleiben der Mehrdurchblutung des Schwellkörpers und somit der Erektion kommt. 51 3.8.4.4. Sympathikus versus Parasympathikus Abb. 20: Organisation und Versorgungsgebiete von Sympathikus (rot) und Parasympathikus (grün); postganglionäre Axone sind gepunktete Linien [aus Schmidt Schaible 2006, S. 136] Sympathikus und Parasympathikus bewirken je nach Ort und Gewebe unterschiedliche Reaktionen. Dem sympathischen Anteil des Vegetativums wird eine energiemobilisierende und aktivitätssteigernde Funktion auf den Körper zugeschrieben während der parasympathische Anteil eher für Konservierung und Wiederaufbau der Energien verantwortlich ist. [vgl. Trepel 2004, S. 277] Sie wirken nicht nur antagonistisch, sondern auch synergistisch und wechseln in ihrer Präsenz ab. Dies geschieht durch Ab- und Zunahme der von den vegetativen Regelzentren generierten Impulse. In einer Stresssituation werden meist beide aktiviert, was die Erklärung für einen Harndrang bei Aufregung und Magenbeschwerden bei häufiger Unruhe sein kann. Die beiden Bereiche des vegetativen Nervensystems unterscheiden sich primär aufgrund ihrer anatomischen Topographie und der Transmitter die sie im Erfolgsorgan ausschütten. Das schwerpunktmäßige Innervationsgebiet der 52 parasympathischen Fasern sind die Eingeweide von Kopf, Brust, Abdomen und Becken, während sich die sympathischen Fasern durch alle Körperabschnitte ziehen und auch die Extremitäten versorgen. Das Leitungssystem des Sympathikus weist eine thorakolumbale Verteilung der ersten Neurone auf (Rückenmarksegmente Th1–L2), wobei die meisten Neurone in der paravertebralen Ganglienkette auf das zweite Neuron verschalten werden. Die ersten Neurone des Parasympathikus sind craniosacral organisiert und werden in Ganglien nahe dem Erfolgsorgan oder in der Wand des Erfolgsorgans, selbst verschalten. Physiologisch bewirkt eine Aktivierung des Parasympathikus meist eine sehr selektive und auf einzelne Organe bezogene Wirkung. Der Sympathikus hingegen wirkt meist umfassender und im Bezug auf mehrere Systeme. Ein gutes Beispiel für diesen Unterschied ist die selektive, parasympathisch bedingte Steigerung der Magenperistaltik, im Gegensatz zu einer Schrecksituation, bei der es zu einer Vielzahl von, durch den Sympathikus gesteuerten, Reaktionen kommt. Während beide Systeme bei der synaptischen Verschaltung des ersten Neurons Acethylcholin als Neurotransmitter verwenden, ist das zweite sympathische Neuron noradrenerg und das zweite parasympathische Neuron cholinerg. Ob nun eine sympathische Synapse an einem glatten Muskel hemmend oder erregend wirkt, hängt von der ausgeschütteten Transmittersubstanz ab und entscheidet sich am postsynaptischen Rezeptor der Muskelzelle. Es existieren Alpha- und Beta- Rezeptoren die sich noch weiter unterteilen lassen. Dabei hat etwa die Stimulation von Alpharezeptoren durch einen Transmitter eine erregende und die von Betarezeptoren eine hemmende Wirkung. Es hängt letzt endlich von der Mengenverteilung der unterschiedlichen Rezeptoren in der glatten Muskulatur ab ob es zu einer Tonussenkung oder -erhöhung kommt. Beim Parasympathikus liegt eine ähnliche Situation vor. Hier ist es jedoch die Art des vorherrschenden choilnergen m-Rezeptors die ausschlaggebend selektive Struktur. Die sympathische Innervation von Schweißdrüsen stellt insofern eine Ausnahme dar, als dass die sonst noadrenergen sympathischen Fasern des zweiten sympathischen Neurons, wie auch das zweite parasympathische Neuron Acethylcholin als Hauptüberträgersubstanz verwenden. [vgl. Trepel 2004, S. 278 ff.] 53 Abb. 21: (A): Organisation des Sympathikus auf spinaler Ebene (B): Topographie der sympathischen Neurone im Rückenmark [aus Hall et al. 2001] 54 Abb. 22: (A): parasympathische Kerngebiete im Hirnstamm (B): Topographie der parasympathischen Kerne im Hirnstamm (C): Organisation des Parasympathikus auf spinale Ebene (D): Topographie der parasympathischen Neurone im Rückenmark [aus Hall et al. 2001] 55 Abb. 23: Sympathikus und Parasympathikus: Versorgungsgebiete [aus Hall et al. 2001] 56 3.8.5. Zusammenfassung der Mechanismen der Durchblutungsregulation Abb. 24: a: Tonusregulation der Widerstandsgefäße; b: Blutdruck in Abhängigkeit zum Tonus der Widerstandsgefäße; [aus van den Berg 2000, S. 130] 3.8.5.1. Kreislaufregulation a) kurzfristige Mechanismen Kreislaufreflexe die als Regelkreise verschalten sind, ermöglichen Blutdruckanpassung im Sekundenbereich. Kreislaufreflexe werden von den folgenden Sensoren ausgelöst: • Barosensoren im Aortenbogen und Karotissinus: Ihre Erregung führt zur Hemmung des Sympathikus und Aktivierung des Parasympathikus. Sie ermöglichen eine Anpassung der Herzleistung und des Blutdrucks. • Volumendehnungsrezeptoren in den Vorhöfen und großen Venen: 57 Sie erfassen den zentralen Venendruck und korrigieren denselben, falls erforderlich, über vegetative Tonusveränderung der Skelettmuskelgefäße. • Dehnungsrezeptoren in den Ventrikeln: Sie wirken reflektorisch über den Nervus Vagus hemmend auf die Schlagkraft des Herzens (negativ ionotrop). Bei einem Herzversagen werden die Blutgefäße erweitert. Hierdurch wird eine Senkung der Herzfrequenz (Bradykardie) und eine Verringerung des Blutdruckes erreicht. • Chemosensoren in der Aorta und den Carotiden: Sie messen Hypoxie, Hyperkapnie, und Azidose und sind hauptsächlich für die Atemregulation verantwortlich. • Chemosensoren im verlängerten Rückenmark: bei starker Hypoxie wird über diese Sensoren eine extrem Sympathikusaktivität eingeleitet um eine Minderversorgung des Gehirns zu verhindern. b) mittelfristige Mechanismen Die mittelfristigen Mechanismen wirken im Verlauf von Minuten transkapilläre Verschiebung von Volumen: Verschiebung von Flüssigkeitsvolumen über Änderung des effektiven Filtrationsdrucks in der terminalen Strombahn. • Stressrelaxation von venösen Gefäßen (delayed compliance): Nach rascher Füllung oder Entleerung von Venen wird die Dehnungsfähigkeit langsam angepasst, damit sich der intravasale Druck nach großer Volumenänderung wieder dem Ausgangswert nähern kann. 58 • Renin-Angiotensin-System: Bei einer Minderdurchblutung der Niere wird durch die Barorezeptoren ein Gefäßreflex ausgelöst und es wird lokal Renin freigesetzt (Juxtaglomerulärer Apparat). Renin wird enzymatisch zu Angiotensin II überführt, welches lokal stark vasokonstriktorisch wirkt, den Sympathikus aktiviert und die Sekretion von Aldosteron triggert. c) langfristige Mechanismen Langfristige Mechanismen der Kreislaufregulation beziehen sich vorwiegend auf die Anpassung des extrazellulären und intravasalen Volumens. • Renales Volumenregulationssystem: arterielle Hypertonie führt zu erhöhter Harnausscheidung und somit zur Senkung des Venendrucks. Dadurch kommt es zur Minderung des Herzzeitvolumens und des Blutdrucks und zu einer verminderten Diurese. • Adiuretin-System: Die Wirkung des Vasopressin ist Teil des Renalen Volumenregulationssystem. • Aldosteronsystem: Aldosteron erhöht die tubuläre Resorption von Kochsalz und Wasser. 59 3.8.5.2. lokale Durchblutungsregulation Gefäßtonus und seine lokalen Faktoren: • Temperatur: Verschieden Temperaturen führen zur Durchblutungsanpassung der Haut im Rahmen der Thermoregulation • Transmuraler Druck: Bei hohem externem Druck auf die Gefäßwand kommt es zu einem Anstieg des intravasalen Drucks und damit des Blutdrucks. Das Gefäß weitet sich je nach Ausmaß seiner Elastizität in Abhängigkeit zum transmuralen Druck. Bei einigen Gefäßen führt dieser Dehneffekt zu einem reaktiven Tonusanstieg (Bayliss-Effekt). Durch starken mechanischen Druck auf Gefäße über einen längeren Zeitraum kann es zu ischämischen Versorgungsdefiziten in Geweben und wie vom Dekubitus bekannt, auch zu einer Gewebsschädigung kommen. • Lokale Metaboliten: Die Anhäufung von verschiedenen Stoffwechselprodukten in Geweben, wie etwa von Kohlendioxid oder Milchsäure, führt zu einer lokalen metabolischen Vasodilatation. Die Stoffwechselprodukte koppeln an einen Rezeptor am Endothel der Gefäße, wodurch Lokalhormone mit vasodilatatorischen Eigenschaften freigesetzt werden. Eine Reaktive Hyperämie nach Unterbrechung der Blutzufuhr ist auf diesen Effekt zurückzuführen. • Lokalhormone: Dazu zählen vasoaktive Stoffe die lokal produziert und freigegeben werden. In der Folge werden die wichtigsten beschrieben. Histamin: Histamin ist ein wichtiger Entzündungsmediator der hauptsächlich durch Immunglobulin und andere 60 Histaminliberatoren von Mastzellen freigesetzt wird. Es wird in der Epidermis, der Magenschleimhaut und in Nervenzellen synthetisiert und über Vesikel aus der Mastzelle dem Gewebe zugeführt. Histamin, ein vasoaktives biogenes Amin, bewirkt durch Stimulierung der ihm zugeordneten H1- und H2-Rezeptoren unterschiedliche Reaktionen. So induziert es an Gefäßen mit einem Durchmesser unter 80 μm (Arteriolen und Venolen) eine Vasodilatation (H1-Rezeptor-Subtyp), bei einem Gefäßdurchmesser größer als 80 μm (Arterien und Venen) eine Vasokonstriktion (H2Rezeptor-Subtyp). Die Erregung von H1-Rezeptoren an den Endothelzellen hat des Weiteren eine Endothel-„Kontraktion“, eine Permeabilitätserhöhung und die Freisetzung von EDRF und somit eine Gefäßdilatation zur Folge. Bradykinin: Ist wie das Histamin als Entzündungsmediator bekannt und hat neben seinem vasodilatierenden und permiabilitätssteigernden Effekt auf Gefäße, auch konstriktorische Wirkung auf die Bronchien, den Darm und den Uterus. Eikosanoide: Sie wirken als Immunmodulatoren, intra- und extrazelluläre Signalstoffe und Neurotransmitter, und sind an, Allergien, entzündlichen Prozessen, Fieber, Schmerz, und der Blutgerinnung beteilig. Sie können von jeder Zelle produziert werden und sind Produkte des Stoffwechsels von mehrfach ungesättigten Omega-Fettsäuren. Zu ihnen zählen die Prostaglandine (E und F Serie), Prostacyclin, Thromboxane und Leukotriene. Prostaglandin aus der F Serie sowie Thromboxan A2 und Leukotriene wirken vasokonstriktorisch. Prostaglandine aus der Serie E und Prostacyclin wirken vasodilatorisch. Endothel Derived Relaxing Faktor (EDRF) und Endothel Derived Hyperpolarizing Faktor (EDHF): Dies sind Lokalhormone, die durch die Aktivierung anderer Substanzen, wie Stoffwechselprodukte und Neurotransmitter im Gefäßendothel synthetisiert und freigesetzt werden. Sie diffundieren direkt in die Muskelzellen der Media und 61 bewirken dort eine starken Dilatation und eine Permeabilitätssteigerung. Der Endothel Derived Hyperpolarizing Faktor ist primär in Koronargefäßen und im Mesenterium von Bedeutung. Endothelin: ist ein Peptid, das seine Wirkung an den glatten Muskelzellen der Gefäße und des Gastrointestinaltraktes entfaltet. Es wird von Endothelzellen der Arterien, aber auch von anderen Zellen gebildet. Als vasoaktive Substanz ist es ein Bestandteil der Kreislaufregulation und ein hochwirksamer Vasokonstriktor. Es spielt wahrscheinlich eine Rolle bei der Pathogenese der Hypertonie. Es hat eine gefäßverengende und damit eine Blutdrucksteigernde Wirkung, die einhundertmal höher ist als die des Noradrenalins. [vgl. Roche Lexikon der Medizin] Abb. 25: [aus Thews/Vaupel 2005, S. 199] 62 3.8.5.3. Nervale Regulation des Gefäßtonus Die nervale Regulation der Gefäße dient vorwiegend überregionalen, gesamtregulatorischen Aufgaben. Zusammenstellung der Im Folgenden eine unterschiedlichen kurze vegetativen Leitungsqualitäten und deren Wirkung auf die Durchblutung. • Sympathisch-vasokonstriktorisch: Die sympathischen Efferenzen sind die wichtigsten Informationen im Sinne der Kreislaufregulation. Noradrenalin und die Kotransmitter ATP und das Neuropeptid Y sind hier Überträgerstoffe, die postsynaptisch an α-Rezeptoren binden. Eine Entladungsfrequenz der Synapsen von ein bis drei Impulsen/sek. führt zu dem über den Basistonus hinausgehenden Ruhetonus von Gefäßen. Bei 8-10 Impulsen/sek. wird die maximal durch Vasomotoren provozierbare neuronale Vasokonstriktion erreicht. Eine Vasodilatation wird durch Nachlassen der Impulsrate erreicht. • sympathisch-vasodilatorisch: Diese vegetative Wirkung, die eine Herabsetzung des Gefäßtonus unter den Basistonus bewirkt, ist bisher nur in der Skelettmuskulatur von Karnivoren (Hunde und Katzen) nachgewiesen worden. Sie wird beim Abwehrverhalten der Tiere aktiviert und führt zu einer starken Durchblutung der Skelettmuskulatur. Überträgerstoff ist hier, wie bei der synaptischen Übertragung der parasympathischen, sudomotorischen Neurone, Acethylcholin, das an m-Rezeptoren (muskarinerge) bindet. Diese m- Rezeptoren können durch Atropin blockiert werden, weshalb Atropin in der Medizin häufig eingesetzt wird um den Parasympathikus zu blockieren. • Parasympathisch-vasodilatatorisch: Diese Leitungsqualität ist vorwiegend am Ruhetonus von Gefäßen beteiligt und kommt nicht in allen Organen vor. Bekannt ist diese Art von Vasodilatation bei zerebralen und koronaren Arterien und Arteriolen, der Speicheldrüse, beim exokrinen Pankreas, der Mukosa von 63 Magen und Darm und bei genitalem erektilem Gewebe. Primärer Überträgerstoff ist hier das Acethylcholin das an m-Rezeptoren bindet. • sensorisch-efferent: Laut Frau Univ. Prof. Dr. Michaela Kress vom Institut für Physiologie der medizinischen Universität Innsbruck ist die lokale Durchblutungssteigerung und die Rötung der Haut nach einem mechanischen Reiz, wie er etwa bei der Bindegewebsmassage eingesetzt wird, auf einen Axonreflex der Nozirezeptoren (Schmerzrezeptoren) in der Haut zurückzuführen. Als Axonreflex bezeichnet man die von einem Axon über dessen Kollateralen ausgelösten Reaktionen ohne synaptische Impulsübertragung. Somit ist ein Axonreflex kein Reflex im engeren Sinn. [vgl. Roche Lexikon der Medizin 2003] Abb. 26: Axonreflex [aus Roche Lexikon der Medizin 2003] Diese rückläufige (antidrome) Erregung von Axonkollateralen, durch die, bei einem Reiz aktivierten afferenten C-Fasern des Axons, führt an den synaptischen Kollateralendigungen zu einer Freisetzung von Neuropeptiden wie der Substanz P und dem „Calcitonine Genrelated Peptide“ (CGRP). Diese Neuropeptide werden auch durch thermische, elektrische und chemische Reize, sowie UV Strahlung ausgeschüttet. Haupteigenschaften dieser Neuropeptide sind Vasodilatation, Permiabilitätssteigerung, Plasmaextravasation (Ödem) und dadurch auch Ausschleusung von Entzündungszellen ins Gewebe. [vgl. Saloga et al 2006, S. 58] 64 Die physiologische Bedeutung der so entstehenden neurogenen Entzündung ist die Auslösung einer lokalen Abwehrreaktion auf schädliche Reize, wie etwa eine schnelle Beseitigung von eingedrungenen Fremdsubstanzen und Beschleunigung der Wundheilung. (vgl. Zimmermann 2004, S. 515). Die Hyperämie bei der neurogenen Entzündung entsteht durch Vasodilatation von Arteriolen und wird durch das CGRP vermittelt, das Austreten von Proteinen in das Interstitium geschieht hingegen an den postkapillären Venolen und wird primär von der Substanz P hervorgerufen. Die erste Phase der Extravasation wird durch die Wirkung von Substanz P ausgelöst. In der späten Phase werden auch andere freigesetzte Mediatoren wie Serotonin, Histamin, Prostaglandine, Leukotriene und andere Mastzellmediatoren wirksam(Holzer, 1992; Brain, 1997). [vgl. Tsalik 2006, S. 14 f.] Neuropeptide spielen auch eine Rolle bei der Bronchiomotorik. Substanz P wird, wie Immunglobulin E (hautsensibilisierender Antikörper), zu den Histaminliberatoren gezählt und triggert auch die Prostaglandinauschüttung und EDRF-Freisetzung im Gefäßendothel. Substanz P wurde im Zellkörper markloser, afferenter Neurone gefunden und kann nach axonalem Transport sowohl an der zentralen als auch an der peripheren Endigung freigesetzt werden. [vgl. Hirner 2006] Dermographismus Der Dermographismus („Hautschrift“), die lokale Verfärbung der Haut auf einen mechanischen Reiz ist ein Ausdruck des Axonreflexes, der, wenngleich ein lokaler Prozess, auch von der vegetativen Ausgangslage in den Gefäßen und im Hautgewebe abhängig ist. [vgl. Roche Lexikon der Medizin 2003] Auch bei Pathologien oder trophischen Unregelmäßigkeiten dieser Strukturen, kann sich die reaktive Hautzeichnung verschieden repräsentieren. Dies zeigt sich in der Verzögerung des Eintretens und der unterschiedlichen Ausdehnung und Qualität der Rötung, 65 aber auch in der Farbe des Dermographismus. Somit bietet die Interpretation der Hautschrift Möglichkeiten der Diagnose. Der rote Dermographismus (Dermographia rubra oder erythematosa) entsteht infolge einer Gefäßweitstellung durch Ausschüttung vasoaktiver Mediatoren und Neuropeptide und führt damit zu einer kutanen Hyperämie. Diese Rötung beruht auf einer „tripple response“ (vgl. Lewis 1927). Diese Dreifachantwort besteht aus einer Rötung an der Reizstelle, einem Reflexerythem, das sich über die Reizstelle ausdehnt (flare response) und einem Ödem durch Plasmaextravasation. Der weiße Dermographismus bei einem Druckstrich Haut, auf der den man bei Neurodermitikern beobachten kann, ergibt sich aus einer paradoxen Gefäßreaktion. Er ist auf eine Vasokonstriktion oder auf die Ausbildung eines perivaskulären Kompression Ödems, der welches Gefäße die durch eine Hautdurchblutung mechanische vermindert, zurückzuführen. [vgl. Edusei 2006, S. 71 f.] Kapitel 3.8.5, 3.8.5.1, 3.8.5.2, 3.8.5.1 [vgl. Schmidt 2001, S. 217 ff.] 3.9. Regulation des Blutflusses bei körperlicher Leistung Hier sei wiederum auf die gegenseitige Abhängigkeit von Atmungs- und Kreislaufkoordination hingewiesen. Atmung ist ein zentraler Rhythmus im Körper. Er besteht aus Inspiration, Postinspiration, Exspiration und expiratorischer Pause. Dieser Atemzyklus wird im respiratorischen Hirnstammzentrum erzeugt. Durch das benachbarte Kreislaufzentrum wird der individuelle Sauerstoffbedarf der Körperabschnitte erhoben, und über die synaptische Verknüpfung mit den Kerngebieten des Atemzentrums wird die Atmungsfrequenz für den Gastransport angeglichen. Unter Arbeit wird die Durchblutung dem Bedarf der unterschiedlichen Strukturen angepasst. In Ruhe wird das Herzzeitvolumen etwa folgendermaßen Aufgeteilt: 20% Skelettmuskulatur, 50% Viszeralbereich (incl. Nieren), 15% Gehirn, 5% Koronarkreislauf, 10% Haut. 66 Anpassungen der Blutverteilung bei Muskelarbeit: • Das Herzzeitvolumen erhöht sich bis zum 5-fachen • Die Durchblutung im viszeralen Bereich nimmt ab. • Die Koronardurchblutung nimmt bis um das 4-fache zu • Der Blutfluss in der Skelettmuskulatur nimmt bis zum 20-fachen zu Mann weiß bis zum heutigen Tage nicht ganz genau wie diese Anpassungsreaktionen zustande kommen. Mann geht aber von einer Verschaltung von Herzkreislauf-, Atmungs- und somatomotorischem Zentrum aus, wobei die somatischen Efferenzen aus dem Kortex ebenso eine Rolle spielen wie Afferenzen aus den Muskeln, die Rückmeldungen über die metabolischen Veränderungen im Muskel bei Leistung geben. [vgl. Schmidt/Schaible 2006, S 170 ff.] Abb. 27: a: Gegenüberstellung Ruhedurchblutung maximale Durchblutung b: Blutbedarf verschiedener Organ bei Ruhe und Arbeit [aus van den Berg 2000, S. 129] 67 3.10. Orthostatische Durchblutungsanpassung Der sogenannte Pressosensorenreflex wird bei der Orthostasereaktion, also beim Wechsel vom Liegen zum Stehen, wirksam. Das Gefäßsystem ist ein geschlossenes System. Im Liegen sind die hydrostatischen Drücke auf das Kreislaufsystem vernachlässigbar. Im Stehen ist der Gefäßdruck in den Beinen höher als in Rumpf und Kopf. Der transmurale Druck in den Gefäßen der unteren Extremität nimmt zu und 400– a 600 ml Blut versacken in den Beinvenen. Etwa 2–4 Zwerchfells Finger liegt unterhalb die des hydrostatische Indefferenzebene (siehe Abb. a) in der sich der Druck bei Lagewechsel nicht ändert. Oberhalb dieser Ebene ist im Thorax und im Kopf der Druck im Stehen geringer als im Liegen. Beim Übergang vom Liegen ins Stehen kommt es zu einer Verzögerung des Abtransportes des Blutes aus der unteren Extremität. Dadurch nimmt das Blutvolumen im venösen Kapazitätssystem der Beine zu. Aufgrund des verminderten venösen Rückstroms zum Herzen kommt es zu b Abb. 28: a: Einfluss der Gravitation auf die Gefäßdrücke; b: orthostatische Kreislaufanpassung [aus Schmidt 2001, S. 214] einer geringeren diastolischen Füllung der Ventrikel, einem verminderten Schlagvolumen und geringerer Blutdruckentwicklung. verminderten Wegen des Schlagvolumens, einem geringeren arteriellen Druckanstieg in 68 der Auswurfphase und folglich auch einem Abfall der Wandspannung im Karotissinus. Es sinkt die Entladungsrate, der im Karotissinus liegenden Dehnungsrezeptoren und es kommt zum so genannten DifferentialVerhalten der Barorezeptoren. Bei noch gleicher Herzfrequenz sinkt das Herzzeitvolumen, was bei noch gleichem peripherem Widerstand einen Abfall des Blutdrucks im arteriellen System zur Folge hat. Dies verringert die Entladungsrate der Barorezeptoren ebenfalls (Proportional-Verhalten der Barorezeptoren). Durch die verringerte Entladungsrate und somit einen veränderte Istwert-Information an das Kreislaufregelsystem im Hirnstamm wird eine Sympathikusaktivierung bei gleichzeitiger Hemmung der parasympathischen Vagusaktivität ausgelöst. So wird zunächst die Herzfrequenz um ca. 20% gesteigert und der Gefäßwiderstand durch Vasokonstriktion nimmt zu. Dieser orthostatische Reflex ist individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt. Bei manchen Menschen, die häufig auch hypotone Blutdruckwerte aufweisen, reichen diese Mechanismen nicht zur Aufrechterhaltung einer ausreichenden Kreislauffunktion bei der Orthostasereaktion aus. Klinisch bedeutsam ist die orthostatische Hypotonie, die Unfähigkeit des Kreislaufs, Blutdruck und Herzminutenvolumen nach Lageänderung vom Liegen zum Stehen im Regelbereich zu halten. Das Kreislaufsystem ist nicht in der Lage, den Blutdruck an die veränderten Bedingungen anzupassen (Orthostasesysndrom). Hierbei sinkt bei raschem Lagewechsel der Blutdruck deutlich ab und als Folge einer zerebralen Minderdurchblutung treten subjektive Beschwerden wie Schwindel, oder sogar ein Bewusstseinsverlust (orthostatischer Kollaps) auf. [vgl. Schmidt 2001, S. 214 ff.] 69 3.11. Reflexphysiologie, Viszerale Afferenzen und therapeutische Ansätze 3.11.1. Die Haut und ihre sensible Seite Abb. 29: Die sensiblen Organe der Haut [aus Schmidt 2001 S. 96] Das sensible System der Dermis vermittelt Berührung und somit auch den Kontakt zwischen Patient und Therapeut. Berührung und Reize über die Haut werden sowohl bewusst, als auch unbewusst wahrgenommen und über das vegetative Nervensystem verarbeitet. Das sensible System ermöglicht uns Wahrnehmungen, Empfindungen und nach Verarbeitung reaktives und geplantes Handeln. In der Unterhaut liegen die Blutgefäße und Nervenendigungen und deren Fasern in einem lockeren, subkutanen Gewebe, in dem sich auch viele gewebsständige Zellen mit Strukturbildenten Eigenschaften und Immunabwehrfunktionen befinden. Verschiedene freie Nervenendigungen und eingekapselte Rezeptororgane nehmen unterschiedliche sensible Qualitäten wie Temperatur, Berührung, Vibration, Druck, und Schmerz auf. Eingekapselte Rezeptoren nehmen 70 eher Druck, Vibration und Berührung wahr und besitzen schnell leitende myelisierte A-Fasern, während die gänzlich freien Nervenendigungen langsam leiten und für Berührung, Wärme-, Kälte-, Juckreiz und dumpfen, später eintretenden C-Faserschmerz zuständig sind. In Knäuel organisierten Nervenendigungen leiten auch eher schnell und vermitteln Druck, Wärme und Kältereize und den ersten hellen Schmerz. Die klinisch bedeutendste sensible Qualität ist der Schmerz. [vgl. Schiffter/Harms 2005, S. 6 f.] 3.11.2. Reflexphysiologie Fast alle Strukturen mit Ausnahme des Gehirns, der Knochensubstanz, und des Bandscheibengewebes besitzen Schmerzrezeptoren. Schmerz wirkt sympathikusaktivierend und löst segmentale Schutzreflexe und über Muskelkontraktion analgetische Schonhaltungen aus [vgl. Schiffter/Harms 2005, S. 6 f.] Schmerz hat eine bewusste und eine unbewusste Komponente, die beim Menschen Unbehagen, Stress und vegetative Reaktionen im endokrinen und viszeralen Bereich verursacht. Auf Körpersegmentebene sind sensible-, somato- und viszerosensible Efferenzen, sowie vegetative und motorische Afferenzen miteinander verschalten, wodurch sich komplexe Reflexmechanismen ergeben, die sich auf verschiedenen spinalen Ebenen verschalten. [vgl. Schiffter/Harms 2005, S. 12 ff.] Abb. 29: Aufbau eines vegetativen Reflexbogens [aus Schmidt 2001, S. 150] 71 Abb. 31: Reflexverschaltungen zwischen Enterotom, Myotom und Dermatom: viszerogene, kuti-viszerale, myo-viszerale Reflexe [aus Schiffter/Harms 2005, S. 16] Laut der Physiotherapeutin Katja Seizer (Physiotherapeutin an der Abteilung für Innere Medizin der Universitätsklinik) stehen die Rückenmarksegmente auch noch in einem anderen korrespondierenden Verhältnis. So steht etwa Zervikalsegment C1 mit Thorokalsegment Th1 in Verbindung, C2 mit Th2,…, Th5 mit L1,…, L2 mit S5,…. Die entsprechenden Gewebsanteile eines Segments können entwicklungsgeschichtlich in Neurotom, Dermatom, Myotom, Enterotom und Sklerotom unterteilt werden. Diese Unterteilung ergibt sich daraus, dass die meisten Gewebe eines Segmentes entwicklungsbedingt aus den Selben Ursegmenten (Somiten), die sich aus dem embryonalen Mesoderm differenzieren, hervorgehen. Das Neurotom mit seinen segmentalen Neuronen und Axonen versorgt alle anderen Gewebsanteile des Segments mit sensiblen Fasern und zu gewissen Anteilen auch mit somato- und viszeromotorischen Efferenzen. Durch die Verschaltung der Neurotome auf segmentaler spinaler Ebene und in der Peripherie in einem Plexus oder einem Ganglion wird ein Erfolgsorgan meist von mehreren Segmenten nerval versorgt. Durch diese anatomische und 72 neuroanatomische Organisation der Segmente ergeben sich unzählige Verschaltungen zwischen sensiblem, motorischem und vegetativem System. [vgl. Schiffter/Harms 2005, S. 12 ff.] Somit erklären sich segmentale konsensuelle Wirkungen auf eine Extremität, die von Reizen auf der kontralateralen Seite ausgehen. Es gibt mannigfaltige Reflexe zwischen Strukturen, die nicht nur von Seite zu Seite sondern in allen Dimensionen des Körpers wirken. Die wichtigsten vegetativen Reflexe : • Viszero-kutaner Reflex: Reflexbogen von Organen zur Haut, der Sensibilität, Trophik und Pilomotion beeinflussen kann. • Viszero-somatomotorischer Reflex: vom Organ zur im Segment liegenden Muskulatur; beeinflusst Spannungsveränderungen, Schmerz und Trophik der Muskulatur • Viszero-periostaler Reflex: vom Organ zur Knochenhaut und Knorpelgewebe; beeinflusst die Entstehung von schmerzhaften Quellungen Bsp.: und Eintellungen Palpationsschmerz im der Periost (Periostpunkte). Sternokostalgelenke bei Herzerkrankungen. • Viszero-viszeraler Reflex: von einem Organ zum anderen; • Kuti-viszeraler Reflex: von der Haut zum Organ im selben Segment; Möglichkeit der Beeinflussung von Organen über die Haut; Bsp.: Schröpfen, Wärme zum lösen von Koliken • Myo-viszeraler Reflex: von der Muskulatur zum Organ; • Osteo-viszeraler Reflex: von der Knochenhaut oder dem Gelenk (Arthrotom) zum Enterotom; eingesetzt etwa in der Periostbehandlung nach Prof. Vogler, bei der durch manuelle kleinflächige Druckmassage in druckdolenten Knochenhaut- und Sehneninsertionszonen Einfluss auf viszerale Bereiche genommen wird; oder bei der Manipulativmassage nach Dr. Terrier bei dem das Gelenk und segmentgebundene die periartikulären Einheit angesehen Strukturen werden. als [vgl. Kolster/Paprotny 2002, S. 193 ff.] 73 Es gibt also eine Vielzahl an segmentalen Reflexmechanismen, die zu Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Gewebsanteilen eines Segments führen. Laut Henry Head besteht zwischen den Enterotomen und den Dermatomen auf segmentaler Ebene, eine Verbindung, wodurch jedes Organ auf einem bestimmten Hautbereich im gleichen oder benachbarten Segment projiziert und dort hyperalgetische Hautzonen (Headsche-Zonen) verursachen kann. [Trepel 2004, S. 290] Abb. 32: Verknüpfung vegetativer und somatischer Efferenzen auf spinaler Ebene; (1) viszero-kutaner Reflex, (2) viszero-somatischer Reflex (3) kutiviszeraler Reflex, (4) viszero-viszeraler Reflex [aus Schmidt/Schaible 2006, S. 158] Dadurch ergeben sich verschiedene diagnostische und therapeutische Optionen. Nimmt man diese segmentale Sichtweise als Grundlage, so kann man durch gewisse optische strukturelle und sensibel-sensorische Veränderung der Haut und des Bindegewebes, aber auch schmerzhafte Punkte im Myotom auf organische Probleme rückschließen. Umgekehrt kann man über Dermatome, Myotome, Sklerotome und Neurotome Einfluss auf Enterotome nehmen. So kann etwa in der Schmerztherapie durch einen mechanischen oder thermischen Reiz im Dermatom oder 74 Reizung von Druckpunkten im Myotom (Mackenzie Maximalpunkte) ein Schmerzreiz aus dem zugehörigen Enterotom überlagert werden und über Segmentreflexe Einfluss auf Organe genommen werden. [vgl. Schiffter/Harms 2005, S. 12 ff.] Trepel [2004, S. 290] versucht die Headschen Zonen anhand der sensiblen viszeralen Afferenz zu erklären. Er weist darauf hin, dass viszerale und somatische Afferenzen im Hinterhorn des Rückenmarksegments auf das Selbe weiterleitende Neuron verschalten sind, welches die sensiblen Afferenzen zum somatosensiblen Kortex weiterleitet. Das Gehirn scheint auf diese Weise oft viszerosensible Reize fälschlicherweise als somatosensible Impulse zu interpretieren, was zu Schmerzen in einem Dermatom führen kann dem eigentlich eine viszerosensible Schmerzafferenz zugrunde liegt. In der Kinesiologie wiederum liegt der diagnostischen und therapeutischen Angriffspunkt in den Muskelzonen. Jedem Organ ist dabei ein oder mehrere Muskeln zugeordnet, über die man Einfluss auf den viszeralen Bereich nehmen kann. [vgl. van den Berg 2000, S.176] Dr. Fitzgerald und Bowers, die als Begründer der Körperlängszonen gelten, veröffentlichten 1917 Erkenntnisse bezüglich der Reflexzonen and Händen, Füßen, Ohren und im Gesicht. Dies könnte auf der Überlegung beruhen, dass bei der segmentalen Entwicklung die Gewebeanteile auseinander und in die Peripherie wachsen, aber ihre segmentalen Verbindungen erhalten bleiben. Diese Mechanismen haben sich auf empirischer Ebene schon oft bewahrheitet, sind aber nicht hinreichend erforscht. Allerdings gelang es dem italienische Neurologen Prof. Dr. Calligaris und auch Dr. Armasian (Baltimore) bereits 1976 die Verbindungen zwischen den Reflexzonen und gewissen, sich überlappenden Gehirnzonen und denen zu ihnen gehörigen Organen nachzuweisen. [vgl. van den Berg 2000, S. 171 ff.] Auch an der Universitätsklinik Innsbruck wurden zwei Studien über die organassoziierten Wirkungen der Fußreflexzonentherapie auf die Durchblutung durchgeführt. Mur et al. bewiesen durch Stimulierung der organassoziierten Reflexzonen der Niere [1999, S. 129 ff.] und des Darmes [2001, S. Durchblutungssteigerung Fußreflexzonentherapie. 86 ff.] in Die und einer damit verbundenen diesen Organen, die Wirkung der globale Wirkung von Reizen und Segmentreflexen ergibt sich wahrscheinlich dadurch, dass bewusst 75 wahrgenommene sensible Reize und deren Verarbeitung auch die vegetativen Zentren integrieren. Deshalb stellt therapeutisches Arbeiten mit reflektorischen Strategien in den meisten Fälle auch eine Ganzkörpertherapie dar. [vgl. Schiffter/Harms 2005, S. 17 f.] Viele Therapieformen, auch fernöstliche Formen, beruhen auf dem Prinzip der reflexartigen Verbindungen und Verschaltungen im Körper. Besonders in der Traditionellen chinesischen Medizin, bei Akupunktur und Tuina, spielen reflexartige Zusammenhänge zwischen Punkten in der Haut und im Bindegewebe und deren Verbindungen in Meridianen, denen unterschiedliche Organe und Körperfunktionen zugeordnet werden, eine Rolle. Aber auch in Indien hat man in alten Zeiten durch Beobachtungen diese Zusammenhänge erkannt und diese im Joga und der Ayuvedischen Volksmedizin umgesetzt. Verschiedene Atemtechniken aus Asien, wie etwa Pranajama in Indien oder Qi Gong in China haben Einfluss auf Teile oder die Gesamtheit des Organismus, in einer Art, wodurch diese Wirkungen nicht nur auf eine gesteigerte Oxigenierung und die Mechanik der Zwerchfellatmung zurückzuführen sind. Diese Atemübungen verursachen neben strukturellen auch psychogene Veränderungen. Auch bestimmte Körperübungen und deren spezifische Wirkungen auf Organsysteme ist vom Joga, Tai Chi und auch dem Lu Jong der tibetanischen Mönche bekannt. Ähnlich Körperübungen wurden auch von den Germanen praktiziert. Sie setzten ihre Symbole (Runen), denen sie unterschiedliche kosmisch-energetische Eigenschaften zusprachen, in Körperstellungen und so genannte Runengriffe um. Man war davon Überzeugt das diese Übungen starke Wirkungen auf Leib, Seele und Umwelt hatten. [vgl. Spiesberger 1968, S. 1 ff.] 76 4. Leitungsbahnen der unteren Extremität a b 77 c d Abb. 33: Leitungsbahnen der UEX: a: Nerven b: Arterien c: tiefe Venen d: oberflächliche Venen e: epifasziale Lymphgefäße [aus Todd R. Olson/ Wojciech Pawlina 1999, 226 ff.] 78 4.1. Vegetative Leitungsbahnen der unteren Extremität Vegetativ wird die untere und obere Extremität nur vom Sympathikus innerviert. Er regelt die Vasomotorik der peripheren Gefäße, die Sudomotorik und die Piloerektion der kleinen Hauthärchen. 4.1. 1. Efferenzen Die präganglionären sympathischen Fasern verlassen das Rückenmark aus den Rückenmarksegmenten Th10–L2 [vgl. Trepel 2004 S. 285] (Lagebeziehung zu den Wirbelkörpern beim Erwachsenen: BWK Th8Th11) über das Vorderhorn und ziehen als Teil des jeweiligen Spinalnerv aus den Zwischenwirbellöchern der Lendenwirbel TH10–L3. [vgl. Rohen et al. 2002, S.461] Unmittelbar danach zweigen die präganglionären Fasern als Ramus comunicans albus in die zugehörigen lumbalen und sakralen Grenzstrangganglien ab, wo sie auf das zweite sympathische Neuron umgeschaltet werden. Dann schließen sie sich als Ramus comunicans griseus (marklos) wieder den jeweiligen Spinalnerven an. (siehe Abb. 29) [vgl. Trepel 2004 S. 283 ff.] Die so in ihrer Leitungsqualität vermischten bidirektionalen Spinalnerven vereinigen sich im Plexus Lumbosacralis zu den peripheren Nerven der unteren Extremität. Diese Nervenstränge aus dem Neurotom verzweigen sich dann wie Gefäße und ziehen sub- und epifaszial in segmentaler Anordnung zu den jeweiligen Sklero-, Myo- und Dermatomen und den Gefäßwänden im Angiotom, die sie als feines Nervengeflecht begleiten. (siehe Abb. 19b) 4.1.2. Afferenzen Die viszerosensiblen und allgemein sensiblen Afferenzen für das vegetative Nervensystem werden von Berührungs-, Druck-, VibrationsKalt- und Chemorezeptoren registriert. Entlang der Afferenten Faseranteilen des Nervus Femoralis, des Nervus Ischiadicus und des 79 rein sensiblen Reizinformationen Nervus über cutaneus den femoris Ramus lateralis comunicans gelangen albus und die das Spinalganglion in das Hinterhorn des Rückenmarks ein. [vgl. Trepel 2004, S. Dort verschalten sie sich in einem Reflexbogen über ein oder mehre Segmente und/oder werden zu den übergeordneten vegetativen Zentren im Gehirn geleitet. (siehe Abb. 12) 4.3. Vegetative Reflexbögen der unteren Extremität Es kommt zu vasomotorischen, sudomotorische und pilomotorischen Reflexen. Ein Beispiel für einen vegetativen Reflexbogen ist die jedem bekannte Gänsehaut durch Kälte, bei der sich durch die Aktivierung eines segmentalen sympathischen Reflexbogens die Musculi arrector pili der Wollhare in einem größeren Hautgebiet kontrahieren. Entsteht die Gänsehaut durch einen psychogenen Trigger, wie etwa ein schlechtes Gewissen im Nacken, so wäre dies ein gutes Beispiel für eine, im Kortex initiierte sympathische Efferenz die zu einer Piloerektion führt. 80 5. Empirischer Teil 5.1. Studienumfeld Die Behandlungen werden in einem Therapieraum der gefäßchirurgischen Ambulanz der Universitätsklinik Innsbruck durchgeführt. Alle Behandlungen werden auf einer Therapieliege ausgeführt. Während aller zehn Behandlungen wird mit Hilfe eines Raumthermostats auf eine konstante Raumtemperatur von 25 Grad Celsius geachtet. Es wird bei geschlossenen Türen und Fenstern behandelt. Durch diese Maßnahmen wird versucht, verfälschende Temperatureinflüsse in der unmittelbaren Umgebung der Probandin so gering wie möglich zu halten. 5.2. Studiendesign Bei dieser Studie handelt es sich um eine Fallstudie. Diese dient dem Verfasser dieser Arbeit als Pilotstudie für weitere Untersuchungen auf dem Gebiet Durchblutungsfördernder und -regulierender Therapiemaßnahmen. Es wird zur Evaluation der Durchblutungsbeeinflussenden Wirkung der verschiedenen Therapieformen eine wissenschaftliche und eine subjektive Beurteilungsmethode verwendet. Es wird bewusst auf einen Fragebogen verzichtet. Die Probandin wird gebeten, zu jeder Therapieform ihre subjektiven Empfindungen und die, ihr auffallenden Veränderungen und Wirkungen in eigenen Worten schriftlich auszuformulieren. Im Zeitraum vom 29 Mai bis zum 14 Oktober 2006 wird die Probandin insgesamt zehnmal behandelt. Es werden fünf verschieden Therapieformen im physiotherapeutischem Kontext an der Probandin angewendet. Mit jeder Therapieform wird zweimal innerhalb einer Woche behandelt, wobei zwischen den angewendeten Therapieformen jeweils eine dreiwöchige Pause angelegt wird, um Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Therapienformen möglichst auszuschließen. Die Behandlungen finden jeweils an einem Montag und Donnerstag zwischen 16 und 17 Uhr statt .Die Behandlungsdauer für 81 die verschiedenen Therapieformen wird zwischen 20 und 40 Minuten angesetzt. Die beiden Behandlungen einer Therapieform werden in Ablauf und Dauer möglichst gleichartig ausgeführt. Bei jeder Behandlung ist Herr Dr. Grainer von der Abteilung für Gefäßchirurgie anwesend. Mittels einer Infrarotkamera wird durch Herrn Mag. Juergen Hacker vom Institut für Botanik der Leopold Franzens Universität, ein Film jeder zweiten Behandlung gedreht. 5.3. Studienvorbereitung Die Probandin wird von Herrn Dr. Grainer angiologisch abgeklärt um eine periphere arterielle Verschlusserkrankung und andere Gefäßerkrankungen auszuschließen, die eine Kontraindikation für gewisse Therapieformen darstellen könnten. Es werden Literaturrecherchen und Gespräche mit, im medizinischen Bereich tätigen Personen geführt, um ein tieferes Verständnis über die spezifischen anatomischen Strukturen, an denen während den Behandlungen gearbeitet wird zu erlangen. Besonders im Fall von Gefäßen und Nerven, die als leicht verletzlich gelten, scheint dies angebracht zu sein. Es werden alle Therapieformen, jeweils in der Zeit vor den Behandlungsblöcken, vom Therapeuten wiederholt und einstudiert (nicht am Probanden), um eine möglichst effektive und therapiegerechte Ausführung zu gewährleisten. 82 5.4. Behandlungstechniken 5.4.1. Fußreflexzonentherapie Die Probandin wird in Rückenlage gelagert. Es wird jeder Fuß jeweils 20 Minuten behandelt. Behandlungsplan: Es wird vorerst 20 Sekunden Kontakt mit beiden Füßen aufgenommen; Handflächen auf den Fußflächen. Danach folgt die Behandlung von Lymphzonen (10 min), Zwerchfellzone (5 min), Herzzone (5min), Es wird zuerst der Linke, dann der Rechte Fuß behandelt 5.4.2. Bindegewebsmassage Es wird 30 Minuten behandelt. Behandlungsplan: Grundaufbau (1. Aufbaufolge) im Langsitz (15 min), Umlagerung in Rückenlage (1 min), Behandlung der Beine in Rückenlage (je Bein 7 min) 5.4.3. Manuelle Therapie (Mobilisation Th10–L2) Probandin wird in Bauchlage gelagert. Es wird 30 Minuten behandelt. Behandlungsplan: 20 Sekunden Kontaktaufnahme; Handflächen beidseits am thorako-lumbalen Übergang; dann Behandlung der Wirbelsegmente TH10–L2 mit „kleinamplitudigen“, der Skoliose und Rotation der Wirbelsäule entgegenwirkenden, Rotationsmobilisationen (15 min) und sanften Segmentmobilisationen von posterior nach anterior(15 min). 5.4.4. Recoiltechnik der Arterien nach Paul Chauffour D.O. Die Probandin wird in Rückenlage gelagert. Es wird 30 Minuten behandelt. Es wird durch Palpation ein struktureller Kontakt mit dem jeweiligen 83 Gefäßabschnitt aufgebaut; bei Gefäßen gut durch die Pulsation spürbar. Das Gefäß wird dann sanft in seiner Qualität und Beweglichkeit getestet. Fällt beim Testen der Beweglichkeit in alle Freiheitsgrade oder der Qualität (Elastizität) des Gefäßes eine Restriktionen oder Einschränkung auf, wird nach Einstellen der Struktur in die Restriktion (sanfter Spannungsaufbau) ein Recoil (-Impuls) durch spontanes loslassen der Struktur ausgeführt. Die Technik wird sanft und mit viel Gefühl und Vorsicht durchgeführt. [vgl. Wolfgang Kattnig 2006] Behandlungsplan: Es wird zuerst die Vena Cava inferior getestet. Danach werden vom Herz ausgehend, über den Aortenbogen absteigend, der thorokale Abschnitt der Aorta, sowie die Arteria thoracica interna (dexter et sinister) getestet. Danach folgen die abdominale Aorta bis zur Bifurkation und von dort, zuerst entlang der Arteria iliaca externa dexter, über die rechte Femoralarterie, die Arterien des rechten Unterschenkels und Fußes. Danach werden von der Bifurkation ausgehend die linke A. iliaca externa und die Arterien der linken unteren Extremität getestet. Ein Recoil wurde an den folgenden Gefäßen ausgeführt: Arteria thoracica interna dexter; bei folgenden Arterien wurde beidseits ein Recoil ausgeführt: Arteria iliaca externa und interna, Arteria femoralis im gesamten Verlauf, Arteria poplitea, Arteria typialis anterior und posterior, Arteria dorsalis pedis, Arteria plantaris. 5.4.5. Propriozeptive Neuromuskuläre Fazilitation (PNF) (Pelvispattern) Die Probandin wird in Seitenlage gelagert. Es wird auf jeder Seite 10 Minuten gearbeitet. Bei der Umlagerung ist eine 3-minütige Pause vorgesehen. Behandlungsplan: Pelvispattern in Seitenlage zuerst rechts dann links; Pattern: anteriore Elevation und posteriore Depression; Zuerst passive rhythmische Bewegungseinleitung (3 min/je Seite), dann aktiv assistiv (3 min/je Seite) und zuletzt aktive Bewegung gegen moderaten Widerstand (4 min/je Seite). 84 5.5. Messmethoden 5.5.1.Infrarotkamera Jeweils die zweite Behandlung jeder Therapieform wird, unter Verwendung einer Infrarot Wärmebildkamera (ThermaCAMTM S60) der Firma Flir Systems (Danderyd, Schweden), gefilmt. Die Steuerung der Infrarotkamera erfolgt über einen Labtop, der mittels FireWire/IEEE1394 mit der Kamera verbunden ist .Die ThermaCAMTM Kamera erfasst ,die von einem warmen Gegenstand oder Körper emittierte Infrarotstrahlung in einem Wellenlängenbereich von 0,7 bis 14 µm. Jeder Körper mit einer Schalentemperatur über dem absoluten Nullpunkt emittiert Strahlung. Die Intensität und Wellenlänge der emittierten Strahlung ist von der Temperatur des Körpers abhängig (Stefan-Boltzmann-Gesetz). Durch die Aufzeichnung der emittierten Wärme- bzw. Infrarotstrahlung mit einer Infrarotkamera kann die Oberflächentemperatur eines Körpers ermittelt werden. Die Visualisierung der unterschiedlichen Temperaturen erfolgt durch einer Farb- charakteristischen oder Graustufencodierung, Infrarotbilder entstehen. wodurch Typischerweise die werden Farbverläufe verwendet, wobei die niedrigen Temperaturen dunklen Farben und die hohen Temperaturen hellen Farben entsprechen. Die Temperaturbereiche zwischen den Maxima werden durch entsprechende Farb- oder Graustufen dargestellt. Für eine gute Übersichtlichkeit werden die Temperaturen mit einer Grauskala visualisiert, wobei die Farbe schwarz einer Temperatur von 25°C und die Farbe weiß einer Temperatur von 35°C entspricht. Der Temperaturverlauf wird jeweils in einem distalen und einem proximalen Punkt an der Hautoberfläche eines Beines ermittelt. 5.5.2. Subjektives Empfinden der Probandin Die Probandin Therapieformen schreibt und ihre ihren subjektiven Wirkungen Empfindungen am zu Donnerstagabend allen der jeweiligen Behandlungswoche nieder. 85 5.6. Vorstellung der Probandin: Alter: 61Jahre Geschlecht: weiblich Beruf: – Hobbys: Lesen, Landschaft, Theater, Kultur, Reisen, Kinder und Enkel Abb. 34: Die Probandin Probleme: häufige Harnwegsinfekte (2–3-mal jährlich); intermittierendes Kältegefühl in den Beinen, zeitweise Kreislaufbeschwerden, Schwäche und Abgeschlagenheit, leichte Verdauungsstörungen; Schmerzen: leichte intermittierende Schulter- und Armschmerzen rechts, leichte intermittierende krampfartige Schmerzen im Becken und Unterbauchbereich links; Diagnosen: St.p. akuter paralytischer Poliomyelitis 1954 mit unsymetrischen Restlähmungen der unteren Extremität → 1957 Arthrodese linkes Sprunggelenk, 1960 operativer Epiphysenfugenverschluss rechte Tibia proximal, 1965 Stellungsosteotomie bei Genu valgum und Arthrodese rechtes Sprunggelenk, 1980 Stellungsosteotomie rechtes Knie mit Hüftspan bei Genu recruvatum; St.p. lymphozytisches Non-Hodgkin-Lymphom, → Operation 4.12 1990 (Teilresektion des Magens), August 1992 Rezidiv im Bereich des Restmagens ohne Hinweis auf Streuung, es folgt Chemotherapie nach NOSTE- Schema (i.v. und oral) im September 1992April1993; komplette Remission; Kontrolle 12/2006: Gastritis, Magengeschwür; 86 Überblick: Die Probandin lebt selbständig. Sie ist mit Stützapparat (linkes Bein) und Unterarmkrücken über mehrere hundert Meter, bei flachem Untergrund, gehfähig. Sie kann Stiegen, bis zu einem Stockwerk, ohne große Anstrengungen mit Geländer steigen. Die untere Extremität ist atrophiert; links > rechts. Die Haut der unteren Extremität hat eine blasse, leicht levide Farbe. Die untere Extremität fühlt sich besonders distal kühl an. Die peripheren Pulse der unteren Extremität sind ab der Leiste (A. femoralis) abgeflacht und schwer palpierbar; rechts > links. Es besteht eine Beinlängendifferenz; die linke Tibia ist um 2cm kürzer. Bei der Probandin zeigt sich ein Beckenschiefstand, die rechte Crista iliaca steht höher. b Abb. 35 : a/p Röntgen der Probandin; a: Rumpf, Becken, Hüfte (6/2000) b: Thorax (12/2005) a [Sylvia Ellinger 2006] Es besteht eine doppelt s-förmige Skoliose, die im LWS-Abschnitt linkskonvex, im BWS-Abschnitt rechtskonvex und im HWS-Abschnitt linkskonvex verläuft. Die Probandin hat schlaffe Lähmungen der unteren Extremität, links ausgeprägter als rechts. Die Zehen des linken Fußes können nur leicht bewegt werden; Rechts sind auch kleine Bewegungen im Sprunggelenk möglich. Das rechte Bein kann leicht aktiv in der Hüfte gebeugt, aber nicht gestreckt werden. Beim Gehen wird das Rechte Bein in der Standbeinphase über Hyperextension im Knie stabilisiert. In der 87 Schwungbeinphase ist eine leichte aktive Flexion in der Hüfte zu erkennen Die Bauchmuskulatur wird unterstützend eingesetzt, um über ein Dorsalkippen des Beckens das Bein mit Schwung weiter nach vorne zu bringen. Links besteht diese Bewegungsstrategie, als Ersatz für die aktiven Hüftflexion, ausgeprägter und das durch den Stützapparat versteifte Bein wird mit einer Zirkumduktion nach vorne bewegt. Die obere Extremität ist im Vergleich sehr stark ausgebildet und in allen Gelenken besteht das volle Bewegungsausmaß. 5.7.Ergebnisse 88 Abb. 36: Infrarotbilder Fußreflexzonenmassage Die Fußreflexzonentherapie führt zu einer durchschnittlich Erhöhung der Hauttemperatur von 2.35°C in den gemessen Punkten. Der am Oberschenkel gemessene Wert ist um 0,5°C höher. Die Umgebungstemperatur beträgt ~25°C. Die Ausgangstemperatur der Messpunkte liegt im Durchschnitt bei 30.15°C. In den Infrarotaufnahmen sind deutliche Temperaturzunahmen, vor allem im Bereich der oberflächlichen Venen, wie der Vena saphena magna, erkennbar. Die stärkste Temperaturzunahme in den Messpunkten wurde in den ersten 15 min der Behandlung erreicht. 89 Abb. 37: Infrarotbilder Bindegewebsmassage Die Durchschnittliche Ausgangstemperatur der beiden Messpunkte beträgt zu Beginn der Behandlung 32.05°C. Der proximal gemessen Wert ist um 1.1°C höher. Die Umgebungstemperatur beträgt ~25°C. Es kommt in den ersten 15 min der Behandlung zu einem durchschnittlichen Temperaturabfall von 1.05°C in den Messpunkten. Mit Beginn der Beinbehandlung steigt die Hauttemperatur innerhalb von 5 Minuten mit steilem Verlauf auf durchschnittlich 32°C an und liegt in beiden Punkten etwa beim Ausgangswert. Im Verlauf der Beinbehandlung fällt die Temperatur wieder auf durchschnittliche 30.9°C ab und liegt damit 1.6°C unter dem Ausgangswert. 90 Abb. 38: Infrarotbilder Manuelle Therapie (Mobilisation Th10-L2) Die durchschnittliche Ausgangstemperatur der beiden Messpunkte liegt bei 29.55°C. Die Temperatur des am Oberschenkel gemessenen Punkt ist um 0.1°C höher. Die Umgebungstemperatur beträgt ~25°C. Die Temperatur des proximalen Hautpunktes fällt in den ersten fünf Minuten der Behandlung um 0.2°C ab, während der distal gemessene Wert um 0.4°C zunimmt und über dem durchschnittlichen Wert und dem proximal gemessenen Ausgangswert liegt. Der proximal auf der Haut gemessene Temperaturwert verläuft danach geradlinig, ohne Veränderung bis zum Ende der Behandlung. Der distale Wert verhält sich gleich sinkt aber in den letzten 5 Minuten der Behandlung und liegt nur mehr 0.1°C über seinem Ausgangswert. 91 Abb. 39: Infrarotbilder Recoiltechnik nach Paul Chauffour D.O. Bei durchschnittliche Ausgangstemperatur liegt bei 31,35°C. Die proximal gemessene Hauttemperatur ist um 0.7°C niederer als der distale Wert. Die Umgebungstemperatur beträgt ~25°C. Zu Beginn der Behandlung steigt der distale Temperaturwert um 0.3°C an, während der proximale Wert um 0.2°C sinkt. Danach kommt es zu einem durchschnittlichen Anstieg beider Werte um 1.25°C; mit einem Anstiegsgipfel zwischen der 25. und 30. Minute der Behandlung. Zu diesem Zeitpunkt wird im Bereich der rechten Femoralarterie behandelt. In den letzten 5 Minuten sinkt die Temperatur durchschnittlich um 0.65°C ab, liegt aber immer noch um 0.6°C über der durchschnittlichen Ausgangstemperatur. 92 Abb. 40: Infrarotbilder PNF Pelvispattern Die durchschnittliche Ausgangstemperatur der Messpunkte liegt am rechten Bein bei 29.1°C. Die Umgebungstemperatur beträgt ~25°C. Der proximal gemessene Temperaturwert ist um 0.4°C geringer als der distale. In den ersten fünf Minuten kommt es zu einem Temperaturanstieg beider Messpunkte um 0.4°C. Danach bleibt der proximal gemessene Wert stehen und der distale Wert steigt weiter und liegt zum Ende der Behandlung der rechten Seite um 0.5°C höher als sein Ausgangswert. Nach einer Umlagerung auf die linke Seite und drei Minuten Pause liegt 93 die Ausgangstemperatur am linken Bein bei durchschnittlich 29.75°C und ist somit um 0.65°C höher als die Ausgangstemperatur zu Beginn der Behandlung. Während der Behandlung der linken Seite kommt es jedoch zu einem durchschnittlichen Abfall der Temperatur des distalen Messpunktes um 1°C und damit zu einem Abfall um 0.5°C unter den durchschnittlichen Ausgangswert zu Beginn der Behandlung. Die proximal in einem Punkt erhobene Hauttemperatur steigt nach einem 5minütigem Abfall gemeinsam mit dem distalen Messwert wieder leicht an und befindet sich zum Ende der Behandlung 0.3°C unter seinem Ausgangswert. Die unterschiedlichen Therapieformen im Vergleich: 94 Subjektives Empfinden der Probandin zu den Therapieformen und deren Wirkung: „„Ich empfand die Fußreflexzonentherapie als schmerzhaft. Die Beine wurden gleich während der Behandlung warm. Diese Wärme hat nach der Behandlung noch einige Stunden bis zum Abend angehalten. Nach der Behandlung verspürte ich ein Gefühl wie einen Muskelkater in den Beinen. Meine Füße waren danach einfach besser zu spüren. Sie waren mir bewusster. Von dieser Behandlung halte ich viel“ „Die Bindewebemassage empfand ich als sehr entspannend und ich bin während der Behandlung angenehm müde geworden. Mein Rücken ist beinahe heiß geworden. In den Beinen habe ich keine große Wärme verspürt. Ich habe in dieser Nacht sehr gut geschlafen und mein Rücken fühlte sich auch am nächsten Tag noch gut an.“ „Nach der ersten Anwendung der Manuellen Therapie, hatte ich noch ein paar Tage nachher Schmerzen im Rücken. Eine Stunde nach der Behandlung habe ich einen Schub Durchblutung in den Beinen verspürt. Bei der zweiten Anwendung hatte ich Schulter- und Armschmerzen, die aber in keinem Zusammenhang mit der ersten Behandlung stehen. Die Schmerzen sind dann verschwunden und ich habe mich sehr wohl gefühlt. Das Wärmegefühl war nicht so stark aber ich hatte noch am nächsten Tag das Gefühl den Effekt zu spüren.“ „Bei der PNF Technik hatte ich ein Wärmegefühl während und nach der Therapie. Außerdem verspürte ich Bewegung. Ich fühlte mich danach vitaler. Dieser Effekt hielt bis zum Abend an. Von der Wärme verspürte ich nicht so viel wie bei den anderen Techniken.“ „Durch die Arterientechnik hatte ich kurz nach der Behandlung ein Wärmegefühl, das etwa eine halbe Stunde anhielt.““ [vgl. Sylvia Ellinger 2006] 95 6. Diskussion Es geht in dieser Arbeit nicht darum Therapieformen einem allgemeinen Wirkungsvergleich zu unterziehen. Jede Behandlung hat, wenn medizinisch oder aufgrund ihrer Wirkung gerechtfertigt, ihre Berechtigung. Da es sich um eine Fallstudie handelt, kann man nur Aussagen über die verschiedenen Wirkungen der Therapieformen bei der Probandin machen. Die Wirkung einer Therapieform kann von Patient zu Patient variieren. Was dem einen Patient gut tut und gefällt, führt bei einem anderen vielleicht nicht zum erwünschten Erfolg. Diese Arbeit soll in ihrem theoretischen Teil einige physiologische Hintergründe zum Thema Durchblutung geben. Mit der Hilfe dieses Fundaments werden im empirischen Teil verschiedene therapeutische Wege beschritten um die Durchblutung zu beeinflussen. Eine sehr gute Wirkung hat bei der Probandin die Fußreflexzonentherapie gezeigt. Sie führte zur durchschnittlichen Zunahme der Temperatur um 2.51°C bei einer bereits relativ hohen Schalentemperatur. Die Umgebungstemperatur liegt unter der Temperatur der Haut. Der Anstieg der Temperatur verläuft relativ konstant. Auch die Bilder zeigen eindrucksvoll ein, in den Graustufen hell erkennbares Hervortreten der oberflächlichen Venen. Dies weist auf einen gesteigerten Rückfluss von warmem Blut hin. Den venösen Rückfluss zu verbessern ist wie aus dem theoretischen Teil hervorgeht, von großer Bedeutung für paralytische Opfer der Poliomyelitis, da sich das Blut im Kapillargebiet staut und an der Oberfläche stark abkühlt. Es zeigt sich bei der Fußreflexzonenmassage eine Wirkung von Segmentreflexen auf das Erfolgsorgan. Es scheint durch die Behandlung eine harmonisierende Wirkung auf das vegetative System vorzuliegen. Dies fördert die Durchblutung der Haut der unteren Extremität und den venösen Rückfluss. Durch den angepassten peripheren Widerstand nimmt der Druck im angrenzenden Kapillargebiet ab, dies begünstigt eine Flüssigkeitsverschiebung vom interstitiellen Raum in die Kapillaren und postkapillären Venolen. Während in den Venen durch eine Tonusanpassung, der Rückfluss des gespeicherten Blutvolumen in Richtung rechten Vorhof begünstigt wird. Das Blut kann das Kapillargebiet schneller passieren und kühlt nicht in der Peripherie ab. Bei der 96 Probandin verringert sich das Kältegefühl und der Temperaturanstieg an der Haut lässt sich mit der Infrarotkamera nachweisen. Der venöse Rückfluss wird natürlich auch durch die horizontale Lagerung der Probandin auf der Behandlungsliege unterstützt, da der hydrostatische Druck nicht mehr auf die Beingefäße wirkt. Einen weiteren zusätzlichen Effekt könnte die gerichtete Aufmerksamkeit der Probandin auf das Erfolgsorgan, in diesem Fall die Füße, haben. Die Probandin beschreibt im Rahmen seiner subjektiven Empfindungen, dass er seine Füße bei und nach der Fußreflexzonentherapie noch längere Zeit bewusster wahrgenommen hat. Auch die Bindegewebsmassage zeigt eine Wirkung, die jedoch erst einen positiven Einfluss zeigt, als die Behandlung der Beine beginnt. Die Manuelle Therapie zeigt bei den Temperaturmessungen einen unauffällig gleich bleibenden Verlauf. Die Probandin beschreibt aber einen später stark eintretenden Effekt. Auch die Recoiltechnik nach Chauffour D.O. der Arterien führt durch einen Temperaturanstieg der Extremität zu einem Erfolg. Die Probandin verspürt ein Wärmegefühl. PNF erwärmt anfangs die Beine, nach Seitenwechsel liegt jedoch ein, im Vergleich starker Temperaturabfall vor. 7. Schlusswort Auch wenn die Themen Durchblutung und Herzkreislaufsystem in der Physiologie sehr ausgiebig behandelt werden, sind meiner Meinung nach, in der wissenschaftlichen Betrachtung physiotherapeutischer Maßnahmen und deren gezielten Wirkungen auf die Durchblutung verschiedener Körperabschnitte und Organe, noch viele Fragen offen. Physiotherapeuten sollten aktiv an medizinischer Forschung teilnehmen. Ich glaube, dass es in der Physiotherapie, vor allem im Bereich der viszeralen Therapie und damit, auf physiologischer Ebene auch in den Bereichen des vegetativen Nervensystems und der Reflexphysiologie, noch viel zu erkunden gibt. 97 8. 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[aus Thews/Vaupel 2005, S. 190] • Abb. 9: Terminale Strombahn und Verhältnis von Filtration und Resorption durch die Kapillarmembran bei unterschiedlichem Gefäßtonus [aus Schmidt 2001, S. 215] • Abb. 10: Stofftransport durch Diffusion und Filtration im Bereich der terminalen Strombahn im Verhältnis zum HZV. [aus Schmidt 2001, S. 216] • Abb. 11: Schema des Zusammenspiels von Vegetativem Nervensystem, Gehirn und Organismus. [aus Schmidt/Schaible 2006, S.133] 101 • Abb. 12 Abb. 12: (A): Afferenzen des Viszeralen-Motor-Systems treffen über Hirnerven und aufsteigenden sensiblen Bahnen (orange), (B) Topographie des Solitarischen Traktes mit den Kerngebieten der viszeralen Sensibilität [aus Hall et al., 2001] • Abb.13: Steuerung Nervensystems der durch spinalen Kerngebiete Anteile im des Hirnstamm vegetativen und der Hypophyse [aus Schmidt 2001, S. 150 ] • Abb. 14: a: Lokalisation des Hypothalamus, b: Afferente und efferente neuronale und humorale Verbindungen des Hypothalamus [aus Schmidt/Schaible 2006, S. 173] • Abb. 15: Überblick Temperaturregulation; a: die wichtigsten beteiligten Strukturen, [aus Schmidt/Schaible 2006, S. 176] b: Schaltbild der Temperaturregulation [aus Schmidt 2001,S. 260] • Abb. 16: Die Körperkerntemperatur in Abhängigkeit zur Aussentemperatur; [aus Schmidt 2001, S. 257] • Abb. 17: Kreislaufzentrum im Hirnstamm mit den zuständigen Nervenkernen und Leitungsbahnen. [aus Thews/Vaupel 2005, S. 218] • Abb. 18: Pressosensorenreflex als Regelkreis [aus Schmidt 2001, S. 219] • Abb. 19: sympathische Innervation eines Gefäßes; a: Vasokonstriktor projiziert auf seinen Effektor; b: sympathisches Nervengeflecht umgibt das Gefäß; c und d: Organisation der neuroeffektorischen synaptischen Impulsübertragung [aus Schmidt/Schaible 2006, S.151] • Abb. 20: Organisation und Versorgungsgebiete von Sympathikus (rot) und Parasympathikus (grün); postganglionäre Axone sind gepunktet Linien [aus Schmidt Schaible 2006, S. 136] • Abb. 21: (A): Organisation des Sympathikus auf spinaler Ebene (B): Topographie der sympathischen Neurone im Rückenmark [aus Hall et al. 2001] 102 • Abb. 22: (A): parasympathische Kerngebiete im Hirnstamm (B): Topographie der parasympathischen Kerne im Hirnstamm (C): Organisation des Parasympathikus auf spinale Ebene (D): Topographie der parasympathischen Neurone im Rückenmark [aus Hall et al. 2001] • Abb. 23: Sympathikus und Parasympathikus: Versorgungsgebiete [aus Hall et al. 2001] • Abb. 24: a: Tonusregulation der Widerstandsgefäße; b: Blutdruck in Abhängigkeit zum Tonus der Widerstandsgefäße; [aus van den Berg 2000, S. 130] • Abb. 25: Übersicht über die wichtigsten vasomotorischen Funktion des Endothels [aus Thews/Vaupel 2005, S. 199] • Abb. 26: Axonreflex [aus Roche Lexikon der Medizin 2003] • Abb. 27: a: Gegenüberstellung Ruhedurchblutung maximale Durchblutung b: Blutbedarf verschiedener Organ bei Ruhe und Arbeit [aus van den Berg 2000, S. 129] • Abb. 28: a: Einfluss der Gravitation auf die Gefäßdrücke; b: orthostatische Kreislaufanpassung [aus Schmidt 2001, S. 214] • Abb. 29: Die sensiblen Organe der Haut [aus Schmidt 2001 S. 96] • Abb. 30: Aufbau eines vegetativen Reflexbogens [aus Schmidt 2001, S. 150] • Abb. 31: Reflexverschaltung zwischen Enterotom, Myotom und Dermatom: viszerogene, kuti-viszerale, myo-viszerale Reflexe [aus Schiffter/Harms 2005, S. 16] • Abb. 32: Verknüpfung vegetativer und somatischer Efferenzen auf spinaler Ebene; (1) viszero-kutaner Reflex, (2) viszero-somatischer Reflex (3) kuti-viszeraler Reflex, (4) viszero-viszeraler Reflex [aus Schmidt/Schaible 2006, S. 158] • Abb. 33: Leitungsbahnen der UEX: a: Nerven, b: Arterien, c: tiefe Venen, d: oberflächliche Venen, e: epifasziale Lymphgefäße [aus Todd R. Olson/ Wojciech Pawlina 1999, 226 ff.] • Abb. 34: Die Probandin [Alfred Ellinger 2005] • Abb. 35 : a/p Röntgen der Probandin; a: Rumpf, Becken, Hüfte (6/2000); b: Thorax (12/2005) [Sylvia Ellinger 2006] 103 • Abb. 36: Infrarotbilder Fußreflexzonenmassage • Abb. 37: Infrarotbilder Bindegewebsmassage • Abb. 38: Infrarotbilder Manuelle Therapie (Mobilisation Th10–L2) • Abb. 39: Infrarotbilder Recoiltechnik nach Paul Chauffour D.O. • Abb. 40: Infrarotbilder PNF Pelvispattern Abb. 36–40: [Ellinger A./Hacker J.2006] 104