Weser Kurier - Gemeinnützige Hertie

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Weser Kurier - Gemeinnützige Hertie
TAGESZEITUNG FÜR BREMEN UND NIEDERSACHSEN
D I E N S T A G , 14. JUNI 2016 | 7 2 . J AHRGANG | NR. 137 | EINZELPREIS 1,40
Demokratie
neu denken
Schöne Aussichten
Carolin Henkenberens
über Lobbyisten-Register
DU, CSU und SPD âollen ihre
Kontakte zu Lobbèisten âeitgehend geheim halten, und sie
haben bisher auch keiner áerpflichtenden Registrierung áon Interessenáertretern, ihren Auftraggebern und
finanziellen Mitteln zugestimmt. Das
ist anachronistisch. Denn die Willensbildung und das Verständnis áon
Mitbestimmung haben sich in den 70
Jahren, die unsere Demokratie nun
besteht, grundlegend áerändert.
Unsere Demokratie funktioniert nicht
mehr âie zur Nachkriegszeit, als Eliten
mauschelten und es keiner merkte.
Wir leben im Digitalzeitalter,
mittlerâeile streamen Verbände und
Organisationen ihre Tagungen liáe im
Internet um die Welt. An Uniáersitäten
âerden Vorlesungen per Kamera in
Echtzeit in Hörsäle anderer Städte
übertragen. Mit Diskussion. Über das
Internet áernetzen sich Menschen,
áerschafen sich auch ohne Geld und
Macht Gehör. Junge Leute âollen
Transparenz, ihre Welt ist interaktiá
und global.
In diese Lebensâirklichkeit passt es
nicht, dass sich Politiker mit Lobbèisten trefen und áon ihnen beraten
lassen, ohne darüber transparent zu
informieren. Soll heißen: Das ist ein
Relikt alter Zeiten, unmodern, einfach
unpassend.
Bürger âollen mitbestimmen und
mitreden, auch âenn die Wege heute
andere sind als áor Jahrzehnten. Das
zeigen die Proteste gegen TTIP und
Initiatiáen âie die Liquid Democracè
áon der Piratenpartei. Die Grundidee:
Bürger können sich jederzeit áia
Internet einmischen in die Politik, statt
einen geâählten Repräsentanten
sprechen zu lassen.
Lobbèismus ist legitim und notâendig. Lobbèisten haben oft praktisches
Wissen, das Politikern fehlt. Es ist aber
nicht legitim, dass niemand nachprüfen kann, âelche Interessen âie áiel
Einfluss nehmen und âie Entscheidungen zustande kommen.
Jetzt konnte der Wunsch der Bürger
nach Ofenheit abgeâiesen âerden.
Langfristig âird das nicht gut gehen.
Sonst âerden die Schreie der
Rechtspopulisten, die eine Verschâörung áon Wirtschaft und Politik sehen,
noch lauter. Diesen Rufen lässt sich nur
mit Ofenheit begegnen. Die Parteien
âerden sich áon ihrem angestaubten
Demokratieáerständnis áerabschieden
müssen.
C
A
Deutschland aus zu sehen sind, beâeist
dieses in Brandenburg entstandene Bild.
Die Entstehung áon Polarlichtern hängt
mit dem Sonnenâind und dem Erdmagnetfeld zusammen. Ohne das Magnetfeld
gäbe es nicht nur keine Polarlichter, sondern áermutlich auch kein Leben auf der
Erde. Es schützt Lebeâesen áor der kosmischen Strahlung. Forscher interessieren
sich unter anderem für die Frage, âie das
Magnetfeld entsteht. Um sie zu beantâorten, müssen sie Vorgängen tief im
Innern des Planeten auf den Grund gehen.
JÜW·FOTO: DPA
Bericht Seiten 18 und 19
Angst bei der Landesbank um die Jobs
Übernahme durch die NordLB betrifft bis zu 1000 Arbeitsplätze / Sieling will bremische Interessen sichern
VO N JÜ RG EN H I NR I CH S
Bremen. Rund 1000 Arbeitsplätze, Einfluss
in der Region und die Beteiligungen an diáersen Unternehmen in Bremen und umzu –
das steht auf dem Spiel, âenn áoraussichtlich bis zum Herbst darüber áerhandelt âird,
zu âelchen Bedingungen die âegen fauler
Schifskredite notleidend geâordene Bremer Landesbank sBLBt bei der NordLB Unterschlupf findet. Am Freitag âar darüber
im Grundsatz entschieden âorden, am Montag âurden die Beschäftigten informiert.
„Einen direkten Einfluss auf die Entscheidung der Träger haben âir zâar nicht“, sagt
Frank Intemann áom Personalrat, „âir âollen aber natürlich das Bestmögliche für die
Belegschaft an den beiden Standorten Bremen und Oldenburg herausholen.“ Die Stimmung sei angespannt: „Klar, man macht sich
Gedanken, âie es âeitergeht.“
Erstmals äußerte sich auch Bremens Bürgermeister Carsten Sieling zu den Problemen der BLB: „Die Situation um die Bremer
Landesbank hatte sich in der áergangenen
Woche zugespitzt“, sagte Sieling dem WESER-KURIER. Mit der Erklärung der Träger
der Bank áom áergangenen Freitag sei nun
Polizei sucht
nach Unfallfahrer
Bremen. Die Polizei hat fast 100 Hinâeise
auf den Autofahrer, der am Freitagmittag
mit einem rücksichtslosen Manöáer einen
13-Jährigen lebensgefährlich áerletzt hat.
Bislang allerdings konnte der Mann noch
nicht identifiziert âerden.
Wie berichtet, âar der Mann an der Ecke
Julius-Brecht-Allee/Adenauer-Allee bei Rot
über die Kreuzung gefahren und hatte dabei einen 13-jährigen Radfahrer frontal erfasst und lebensgefährlich áerletzt. Daraufhin âaren nach Aussage mehrerer Zeugen
der Fahrer des Wagens und sein Beifahrer
ausgestiegen und hatten kurz nach dem auf
der Fahrbahn liegenden Kind geschaut.
Dann aber sollen sie âieder in ihren Pkâ
gestiegen und geflüchtet sein, ohne sich âeiter um den Schâeráerletzten zu kümmern.
Aufmerksame Zeugen hatten sich das
Kennzeichen des Wagens gemerkt. Es handelt sich um einen silbernen Opel Astra mit
dem Nummernschild HB-BA 351 – ein Mietâagen, âie sich herausstellte, áon dem jedoch âeiterhin jede Spur fehlt.
Die Polizei äußerte sich am Montag aus
ermittlungstaktischen Gründen nicht zu den
Details des Falles. Wie jedoch áerlautete,
passt das Alter des Mannes, der den Wagen
gemietet hat, nicht zu den Zeugenbeschreibungen des Fahrers. Demnach ist der Mieter des Autos älter als der Fahrer, den die
Zeugen auf 35 bis 45 Jahre schätzten. Auf
den Wagen sollen mehrere Personen einer
Familie Zugrif haben.
MIC
Kommentar Seite 2Bericht Seite 9
ein Handlungskorridor aufgemacht âorden.
Sieling: „Auch unter den aktuellen Umständen geht es mir darum, einen áernünftigen
Weg für unseren Wirtschaftsstandort, die Arbeitsplätze und die Sicherung unserer bremischen Interessen zu finden.“
Bremen und Niedersachsen haben sich
darauf geeinigt, die BLB entâeder komplett
an die NordLB zu geben – mit einem entsprechenden Kaufpreis, den Bremen für seine 41 Prozent der Anteile bekommen âürde – oder die beiden Banken so miteinander
zu áerschmelzen, dass den Bremern ein kleiner Teil ihres Einflusses auf die Geschäfte
beâahrt bliebe. Haupteigner der BLB ist mit
55 Prozent der Anteile die áon Niedersachsen kontrollierte NordLB.
Wesentlicher Teil der Verhandlungen in
den nächsten Monaten âird sein, âas mit
den Beteiligungen der BLB an anderen Unternehmen passiert. Darunter sind die Bremer Lagerhaus-Gesellschaft sBLGt, âo BLBChef Stephan-Andreas Kauláers den Aufsichtsrat führt, und die Bremer Wohnungsgesellschaften Geâoba und Brebau. Hinzu
kommen jeâeils millionenschâere Engagements bei Firmen in Oldenburg, Hamburg,
Vechta und Westerstede. Speziell bei dem
Logistik- und Hafenunternehmen BLG, âo
die BLB nach eigenen Angaben 12,6 Prozent der Anteile besitzt, âäre ein Verkauf
der Anteile nach Niedersachsen delikat. Die
BLG soll zum Beispiel den geplanten Ofshore-Terminal in Bremerhaáen sOTBt betreiben – gegen die Konkurrenz im niedersächsischen Cuçhaáen.
Bei der Brebau sieht man die Entâicklung
noch mit Gelassenheit. „Eine Beteiligung
bei uns âäre für jeden Anleger eine gute
Sache“, sagte Brebau-Chef Bernd Botzen-
Mit „Wir sind da“ wirbt die BLB in der Stadt. Das
Motto ist fortan fraglich. FOTO: STEFAN DAMMANN
THEMA
Im Zeichen des Regenbogens
3
Paris, Neâ York, Sèdneè: An áielen Stellen auf der Welt gedachten
Menschen unter der Regenbogen-Fahne den 49 Opfern des Massakers áon Orlando.
BREMEN
Schüler schreiben über Migranten
9 und 13
Wie sehen Jugendliche die Situation gleichaltriger Flüchtlinge? Drei
Schulklassen aus Utbremen, Horn und Vegesack recherchierten. Die
Ergebnisse sind áon heute an auf drei Sonderseiten zu lesen.
NIEDERSACHSEN
Autonomes Fahren auf der Autobahn 2
Wirtschaftsminister Olaf Lies sSPDt âeitet die Erprobungszone aus:
Künftig soll auch auf niedersächsischen Autobahnen autonomes Fahren getestet âerden – âie bereits in der Stadt Braunschâeig.
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VERMISCHTES
Papst empfängt „Miss Germany“
Erstmals in der Geschichte des Schönheitsâettbeâerbs trift eine
„Miss Germanè“ den Papst: Lena Bröder s26t, Lehrerin für Hausâirtschaft und katholische Religion, âird an diesem Mittâoch
áon Papst Franziskus im Vatikan empfangen. „Glaube hat für
mich áiel mit Gemeinschaft, mit Teamfähigkeit und gemeinsamen Werten zu tun“, sagte sie.
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RUBRIKEN
Familienanzeigen ................................ 7
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Verbraucher ......................................... 20
hardt auf Anfrage. Auch für die Hannoáeraner, meint er. „Das kann passieren.“ Wichtig sei zunächst einmal, dass sein Unternehmen gesund ist und in Bremen Projekte âie
die Hafenkante, den Arster Damm und den
Stadtâerder áorantreibt. Doch neben dieser
rein âirtschaftlichen Betrachtung gebe es
natürlich auch noch andere Aspekte: „Wir
tragen schließlich Bremen in unserem Namen.“ Mit der BLB und der Bremer Sparkasse seien hiesige Akteure im Boot – „es
âürde uns traurig stimmen, âenn es anders
käme“. Ein großer Vorteil seien die kurzen
Entscheidungsâege und die kurzen Wege
überhaupt: „Wir müssen nur über den
Marktplatz gehen.“
Ob bei der BLB Arbeitsplätze abgebaut
âerden und falls ja in âelchem Umfang, ist
noch áöllig ofen. Einfluss auf den Bezug des
neuen Bankgebäudes am Domshof hat das
erst einmal nicht. „Wir bauen âeiter und
richten âeiter ein“, erklärte Jürgen Elbin,
Geschäftsführer áon BLB-Immobilien. Am
8. August âerde das Haus âie geplant für
die Kunden geöfnet. „Vorher ziehen nach
und nach die Angestellten ein“, so Elbin. Es
âerden an diesem Standort rund 400 sein.
700 sind es in Bremen insgesamt.
Russen loben
Randalierer
Paris. In der französischen Hauptstadt Paris
berät die Disziplinarkommission des europäischen Fußball-Verbandes Uefa an diesem Dienstag über das EM-Schicksal der
russischen Mannschaft. Nach den Ausschreitungen im Stade Vélodrome in Marseille anlässlich des Spiels gegen England am Sonnabend âird die Situation in Russland ofenbar als nicht so dramatisch eingeschätzt. Igor
Lebedeâ, Parlaments-Vizepräsident und
Vorstandsmitglied der russischen FußballUnion, tâitterte am Montag die zènische
Nachricht: „Ich kann nichts Schlimmes an
kämpfenden Fans finden. Im Gegenteil, gut
gemacht Jungs. Weiter so!“
Gerechnet âird zumindest mit einer saftigen Geldstrafe für die Russen und einem
Punktabzug auf Beâährung. Die Kommission âill nachmittags ihr Urteil fällen. Mit
der Androhung eines EM-Ausschlusses
durch das Eçekutiákomitee der Uefa hat dieses Verfahren aber nichts zu tun. Es âird
áon dem Gremium separat geführt, da die
russischen Fans im Gegensatz zu den Engländern nicht nur außerhalb, sondern auch
in der Arena randalierten, Feuerâerkskörper abbrannten und mit rassistischen Ausfällen aufällig âurden. „Viele haben die
Schnauze áoll áon diesen Dingen“, berichtete ein Teilnehmer der Sondersitzung der
Eçekutiáe. Denn die Erinnerungen an die
EM 2012 in Polen und der Ukraine sind noch
präsent. Auch da sorgten áereinzelte russische Fans für Schlagzeilen.
DPA
Bericht Seite 24
[email protected]
KOPF DES TAGES
Jörg Ehntholt
Jörg Ehntholt âirkt
in der Regel eher
im
Hintergrund,
doch an diesem
Dienstag ist das anders. Dann stellt die
Glocke-Veranstaltungs-GmbH das
Programm áon Bremens guter Stube
für Musik, Kabarett und auch Shoâ für
die nächsten zâölf Monate áor. Ehntholt
sitzt mit auf dem Podium und berichtet
über Besucherzahlen, Zuschüsse und die
Einnahmesituation der Glocke. Seit Juli
2003 ist der gebürtige Bremer Geschäftsführer des Konzerthauses an der Domsheide und der Musikfest-GmbH. Beáor
der 53-Jährige Glockenchef âurde, âar
er Controller bei der Hanseatischen VerSHE
anstaltungs-GmbH.
FOTO: GLOCKE
nders als die Bezeichnung Polarlicht
áermuten lässt, treten die farbenprächtigen Himmelserscheinungen
nicht nur in den Polargebieten auf. Dass
Polarlichter hin und âieder auch áon
WETTER
Tagsüber
Nachts
Niederschlag
19°
12°
80%
Feuchte, mäßig warme Luft
Ausführliches Wetter Seite 8
H 7166 • 28189 BREMEN
20024
4 194176 301408
Bremen
DIENSTAG
14. JUNI 2016
9
Rund 100 Hin eise auf Unfalllüchtigen
Miet agen bringt Polizei auf Spur des Fahrers, der 13-Jährigen lebensgefährlich erletzt hat
Ich ill aufhören, an Gott zu glauben,
enn ich sehe, dass ein Baum
ein Gedicht macht und ein Hund
eine Madonna malt.
FRIE)RICH HEBBEL 1813 – 1863
TACH AUCH
Abi-Tour
von vo LKER JUnCK
bgekämpft, aber zufrieden. „Ich
habe gerade âieder 153 Trainingskilometer gemacht. Einmal BremenNienburg und retour“, erzählt der EndSechziger stolz.
Warum er das macht? Sie âaren damals
zu zâölft am altsprachlichen Zâeig des
Josephinum-Gèmnasiums Hildesheim, die
das Abitur machten. Beruf und Familie
haben sie über die ganze Republik
áerteilt. Zehn âerden âohl zum 50-JahreAbi-Jubiläum anreisen.
„Und ich âerde an einem Tag mit dem
Rennrad hinfahren und den alten Knackern mal zeigen, âas man noch drauf
hat“, freut sich der Bremer Anâalt auf die
áerblüften Gesichter seiner einstigen
Mitschüler.
A
An dieser Kreuzung urde der 13-jährige Radfahrer lebensgefährlich erletzt. Die gelbe Markierung zeigt, bis ohin der Junge geschleudert urde.
von R A L F M I CH EL
Bremen. Die Ermittlungen der Polizei nach
dem lüchtigen Verursacher eines Verkehrsunfalls, bei dem am Freitag ein 13-jähriger
Junge in der Vahr lebensgefährlich áerletzt
âurde, laufen âeiter auf Hochtouren. Zeugenaussagen haben die Ermittler zu einer
Familie geführt, doch noch steht nicht fest,
âer aus dieser Familie am Freitagmittag hinter dem Steuer saß. Daran könne sich jedoch
schnell etâas ändern, heißt es seitens der
Polizei. „Wir haben rund 100 Hinâeise auf
den Fahrer, die derzeit ausgeâertet âerden.“
In den áergangenen fünf Jahren hat es in
Bremen jeâeils zâischen etâa 3500 und
4500 Unfallluchten gegeben, so die Schät-
zung. Was sich am áergangenen Freitag in
der Julius-Brecht-Allee ereignete, fällt jedoch auch für die Polizei aus dem Rahmen.
„Eine solche Rücksichtslosigkeit ist relatiá
einmalig“, sagt Sprecherin Franka Haedke.
Sie könne sich nicht erinnern, dass es einen
derartigen Fall überhaupt schon einmal gegeben habe.
Wie berichtet, hatte der unbekannte Fahrer eines silbernen Opel Astra den 13-jährigen Radfahrer frontal erfasst. Das Kind
âurde 15 Meter âeit durch die Luft geschleudert. Der Mann âar mit seinem Wagen auf der Julius-Brecht-Allee unterâegs
und âollte geradeaus in die Steubenstraße
fahren. Vor ihm standen jedoch mehrere
Pkâ, die bei Rot âarteten. Der Opelfahrer
Verkehrsunfälle mit Fahrerflucht in der Stadt Bremen
4525
4273
3782
3591
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2015
© WESER-KURIER • STV
vorgezogene Ferien
in Tene er
mal âenn es sich um einen Wagen handelt,
auf den mehrere Personen Zugrif haben.
In dieser Hinsicht schâeigt die Polizei aus
ermittlungstaktischen Gründen. Wie áerlautete, handelt es sich bei dem Opel um einen
Mietâagen, dessen Halter nicht zu der Zeugenbeschreibung des Unfallfahrers passt.
Der Mann soll 35 bis 45 Jahre alt sein, der
Mann, der den Wagen gemietet hat, ist dem
Vernehmen nach älter.
Nahezu jeder áierte Verkehrsunfall in der
Stadtgemeinde Bremen gehe mit unerlaub-
„Eine solche
Rücksichtslosigkeit ist
relati einmalig.“
Franka Haedke, Polizeisprecherin
tem Entfernen áom Unfallort einher, berichtet Franka Haedke. Für das áergangene Jahr
standen 4525 Fahrerluchten zu Buche. „Bei
1024 dieser Straftaten konnten die Täter ermittelt âerden“, sagte die Polizeisprecherin.
Ein Großteil dieser Unfallluchten habe
sich allerdings im ruhenden Verkehr ereignet – sogenannte Parkrempler, die zumeist
nur leichte Sachschäden anrichteten. Der
Anteil der Unfallluchten, bei denen Personen áerletzt âurden, habe im Jahr 2015 zâischen 200 und 300 gelegen. Schâer áerletzt
âurden dabei rund 20 Menschen.
Luxushotel in estiert 13 Millionen
Abriss on z ei Gebäuden: Atlantic-Group ill an der Martinistraße um 100 Zimmer achsen
oberschule nach Brand gesperrt
von PAS CA L FA LTE R M A n n
von JÜ RG E n TH E I nE R
Bremen. Die riesige Zange des Abrissbaggers frisst sich im âahrsten Sinn des Wortes
in die Mauern des Gebäudes. Der erste Teil
der Hausfront an der Martinistraße in Bremen ist abgerissen. Für Passanten ist der
Blick in die áier Etagen des grauen Hauses
derzeit freigelegt. Die Baumaschine reißt
nach und nach die Decken und Wände soâie das dazugehörige Metallgelecht ein.
Das Atlantic Hotel auf dem Bredenplatz âird
für rund 13 Millionen Euro erâeitert. Dafür
müssen die zâei großen Betonbauten âeichen. Betrofen ist daáon auch der Verkehr:
Fußgänger müssen die andere Straßenseite
benutzen, Autofahrer müssen sich mit einer
Spur Richtung der Kreuzung „Am Brill“ begnügen.
Den beiden Bremer Unternehmern Joachim Linnemann sImmobilienunternehmen
Justus Grosset und Kurt Zech sZechbaut áon
der Atlantic-Hotelgruppe ist das Grand Hotel anscheinend nicht mehr groß genug. Es
soll um gut 100 zusätzliche Zimmer und Suiten âachsen. Außerdem ist geplant, den
Wellness- und Spa-Bereich zu áergrößern.
Das Haupthaus mit 138 Studios, Zimmer und
Suiten soll dann mit einer Brücke mit dem
Neubau áerbunden âerden, erklärte Joachim Linnemann. Für den Erâeiterungsbau
gegenüber der Martinikirche muss also Platz
geschafen âerden. Die beiden aneinander
anschließenden Gebäude sind bereits gekauft âorden, âodurch die Konrad-Adenauer-Stiftung und die Reederei Oltmanns umziehen mussten. „Für den Rückbau planen
âir derzeit áier Wochen ein“, sagt
Bremen. Nach einem Brand an der Oberschule Koblenzer Straße fällt dort der Unterricht für den Rest der Woche aus. Das hat
die Bildungsbehörde am Montagnachmittag entschieden. Am Donnerstag áergangener Woche âar im dritten Stock des Gebäudekompleçes ein Feuer ausgebrochen. Dabei kamen zâar keine Menschen zu Schaden, große Teile der dritten und áierten Etagen âurden aber stark áerrußt. Derzeit laufen Untersuchungen zu möglichen Schadstofbelastungen. Die Ergebnisse sollen bis
Donnerstag áorliegen, erst dann könne „das
âeitere Vorgehen abgestimmt âerden“,
sagte eine Behördensprecherin auf Anfrage
des WESER-KURIER. Für die gut 450 Schülerinnen und Schüler bedeutet dies áorgezogene Sommerferien. Wie es in der kommenden Woche für die restlichen drei Tage
des Schuljahres âeitergeht, steht noch nicht
fest. Für die Jahrgangsgruppen fünf bis sieben organisiert die Schule ab diesem Dienstag eine Notbetreuung.
Zu den Ursachen des Brandes gab es am
Montag noch keine neuen Erkenntnisse. Als
gesichert gilt bisher nur, dass das Feuer in
der Küchenzeile eines Lehrerzimmers ausbrach. Näheren Aufschluss áerspricht sich
die Bildungsbehörde áon einer noch nicht
abgeschlossenen kriminaltechnischen Untersuchung. Eine erste Kostenschätzung zur
Säuberung und Instandsetzung der áerrußten Bereiche erâartet die Bildungsbehörde
für Mittâoch.
überholte die stehenden Fahrzeuge auf der
Linksabbiegerspur und âollte trotz roter
Ampel über die Kreuzung fahren. Dabei erfasste das Auto den Jungen, der mit seinem
Rad ordnungsgemäß bei Grün in Richtung
Beneckendorfallee unterâegs âar.
Was dann geschah, schildern Zeugen âie
folgt: Fahrer und Beifahrer des Unfallâagens stiegen aus und sahen nach dem Kind.
Doch statt sich um den schâer áerletzten
Jungen zu kümmern, liefen beide zum Auto
zurück und lüchteten in Richtung Stresemannstraße. Eine zufällig áorbeikommende
Ärztin kümmerte sich um den 13-Jährigen
und alarmierte den Notarzt. Der Junge âurde in eine Kinderintensiástation gebracht,
âo die Ärzte seither um sein Leben kämpfen.
Mehrere Zeugen hatten sich die Kfz-Nummer des Opel Astra gemerkt: HB-BA 351.
Dies brachte die Polizei zâar auf die Spur
der Täter, führte bislang aber noch nicht zur
Identiizierung des Fahrers – ein grundsätzliches Problem bei Unfallluchten, âie Lars
áan Beek, Leiter der Direktion Verkehr, erläutert. Es gehe zum einen darum, das Fahrzeug auch tatsächlich mit der Unfallstelle in
Verbindung zu bringen – möglichst über objektiáe Spuren âie Beschädigungen am
Fahrzeug. In diesem Fall fehle áon dem silbernen Opel Astra aber noch jede Spur. Zum
anderen – und dies sei das âesentlich größere Problem – „müssen Sie auch den Fahrer auf den Fahrersitz bekommen“. Soll heißen, es muss einâandfrei nachgeâiesen
âerden, âer zum Zeitpunkt des Unfalls am
Steuer des Wagens saß. Nicht einfach, zu-
FOTO: FRANK THOMAS KOCH
Holger Römer, Pressesprecher der Zech
Group.
Von Anfang an seien das Bauressort, die
Baudirektorin und die Denkmalplege in die
Planung mit eingebunden geâesen. „Der
Bauantrag liegt áor, ist aber noch nicht genehmigt. Es läuft derzeit ein áorhabenbezogener Bebauungsplan“, erklärt Stadtplaner
Wilhelm Petrè áom städtischen Bauressort.
Dieser müsse geändert âerden, âeil die Erâeiterung des Hotels unter anderem um
zâei Geschosse höher âerden soll als die
bisherige Bebauung. Zudem sollen die Arkaden ein Stück âeiter an die Straße heran
gebaut âerden. Die nächsten Schritte seien
eine öfentliche Auslegung und der Beschluss in der Baudeputation, im Senat und
in der Bürgerschaft. Nach den Sommerferi-
en könnte der Plan ausliegen, im Herbst der
Bebauungsplan genehmigt âerden. Der Abriss ist genehmigt.
Hauptgrund für den Ausbau sind die guten Belegungszahlen des Vier-Sterne-Hotels. „Wir haben eine Auslastung áon mehr
als 75 Prozent, der Durchschnitt in Bremen
liegt bei etâa 60 Prozent“, so Römer.
Das denkmalgeschützte Robinson-Crusoe-Haus am Eingang zur Böttcherstraße
und das rote Backsteinhaus am Bredenplatz
mit dem Schriftzug „Ost-Preussen Pommern
Schlesien“ bleiben áon den Arbeiten unberührt. Die Hotel-Vergrößerung solle sich zudem mit einer hellen Natursteinfassade an
das Aussehen des Haupthauses orientieren.
Der Haupteingang und die Einfahrt zur Tiefgarage bleiben am Bredenplatz.
Begegnung
auf Augenhöhe
Schüler schreiben über Flüchtlinge
vo n CATR I n F R E R I CH S
Bremen. Sie kommen aus Sèrien, Afghanistan, nordafrikanischen Staaten und anderen
Ländern, in denen zum Teil schon seit áielen Jahren Krieg, Terror oder Hunger herrschen. Wie geht es jungen Flüchtlingen nach
ihrer Ankunft in Deutschland? Welche Perspektiáen sehen sie für ihr Leben in Mitteleuropa, und âelche Hofnungen áerbinden
sie mit dem Neuanfang? Jugendliche aus
drei Bremer Schulen haben sich in den áergangenen Wochen mit dem Thema Flucht
auseinandergesetzt und in diesem Rahmen
drei Zeitungsseiten gestaltet, die der WESER-KURIER áon diesem Dienstag an bis
zu den Sommerferien áeröfentlicht.
Das Projekt „Angekommen – und âillkommen!?“ geht auf die Initiatiáe der gemeinnützigen Hertie-Stiftung zurück, die das Projekt auch inanziell unterstützt. Beteiligt sind
neben unserer Zeitung neun âeitere deutsche Tageszeitungen und das Izop-Institut,
das gemeinsam mit dem WESER-KURIER
seit áielen Jahren „Zeitung in der Schule“
sZischt ausrichtet. „Schülerinnen und Schüler sollen sich über das Projekt intensiáer
und auch unter journalistischen Gesichtspunkten mit den Themen Flüchtlinge und
Integration auseinandersetzen“, sagt der
Stiftungsgeschäftsführer John-Philip Hammersen. Ein Ziel sei nicht nur, dass Jugendliche zu Wort kommen, sondern dass sie dabei auch Ängste und Konlikte benennen
und das Thema auf ihre Weise kritisch hinterfragen.
Einige Wochen lang haben sich Schülerinnen und Schüler zunächst mit dem WESER-KURIER beschäftigt und dann aber
auch selbst recherchiert. Aus ihrer Sicht
schildern sie die Situation jugendlicher Zuâanderer in ihrem Stadtteil. Sie beschreiben Willkommensinitiatiáen, setzen sich mit
der aktuellen Politik auseinander und áergleichen auch die Hintergründe zu Flüchtlingsströmen nach dem Zâeiten Weltkrieg
in Deutschland mit der Flüchtlingsâelle áon
heute.
Beteiligt sind die Klasse 10d des Gèmnasiums Vegesack, eine Klasse der Europaschule Schulzentrum Utbremen des Sekundarbereichs II und der Geschichtsleistungskurs der E-Phase am Gèmnasium Horn. Den
Anfang machen in dieser Ausgabe die Berufsschüler aus Utbremen. Sie haben an ihrer Schule mehrere Projekte für mehr Willkommenskultur organisiert.
Berichte Seite 13
LOTTO- UND TOTOQUOTEN
Die Zange des
Baggers frisst sich in
das Gebäude an der
Martinistraße und
zerteilt die Betondecken und - ände,
damit das Atlantic
Grand Hotel ergrößert erden kann.
FOTO: KOCH
Lotto am Sonnabend: Klasse 1: unbesetzt, Jackpot 7 484 055,50 Euro; Klasse 2: 427 172,40 Euro;
Klasse 3: 8899,40 Euro; Klasse 4: 3087,90 Euro;
Klasse 5: 175,30 Euro; Klasse 6: 47,00 Euro; Klasse
7: 18,90 Euro; Klasse 8: 11,00 Euro; Klasse 9: 5,00
Euro ohne Gewähr .
„Spiel 77“ am Sonnabend: Klasse 1 „Super 7“:
2 477 777,00 Euro; Klasse 2: 77 777 Euro; Klasse 3: 7777 Euro; Klasse 4: 777 Euro; Klasse 5: 77
Euro; Klasse 6: 17 Euro; Klasse 7: 5 Euro ohne
Gewähr .
„Super 6“ am Sonnabend: Klasse 1: 100 000 Euro;
Klasse 2: 6666 Euro; Klasse 3: 666 Euro; Klasse 4:
66 Euro; Klasse 5: 6 Euro; Klasse 6: 2,50 Euro ohne
Gewähr .
13
Bremen
DIENSTAG
14. JUNI 2016
ZEITUNGSPROJEK T: SCH ÜL ER S C H R EI BE N Ü B ER JU GE N D L I CHE M I G RA N T E N
Mobil durch die Stadt
Ein Recht
auf Fortbewegung
V ON T OR S TE N V ON B Ü LT Z I N GS L Ö W EN ,
TO BI A S M EI S UN D B J Ö R N MÜ LL E R
V O N S U SH A N T H A N V I CT O R ,
PA S CA L H A S C H K E U N D T O BI A S ME I S
al eben schnell zum Supermarkt fahren und etwas einkaufen, Freunde
besuchen oder zur Schule fahren?
Für fast alle von uns stellt dies kein großes
Problem dar, da wir über Geld für die öffentlichen Verkehrsmittel verfügen, ein Fahrrad besitzen oder schon ein Auto haben.
Für Flüchtlinge in Bremen sind diese alltäglich erscheinenden Aufgaben jedoch eine
Herausforderung. Sie verfügen häufig
nicht über ausreichend Geld für öffentliche
Verkehrsmittel – und für Autos erst recht
nicht. Selbst Fahrräder können oft zu teuer
sein.
Deshalb laufen viele den Weg von ihrer
Unterkunft zur Schule. Nicht selten mehrere Kilometer. Und dies zweimal täglich.
Als die Klasse BOT 15 auf diesen Missstand
aufmerksam wird, entscheiden sich die
Schüler kurzerhand dazu, Fahrradspenden
zu sammeln, um wenigstens den Schulweg
angenehmer zu gestalten. Zudem verbinden sie diese Spendenaktion mit einem
Schulprojekt in dem Fach AnPro, Angewandtes Projektmanagement. Zunächst informieren sie sich, wie viele Fahrräder an
der Schule von den Willkommensklassen
benötigt werden und natürlich, ob die Schüler, die kein Fahrrad haben, überhaupt mit
einem Rad fahren können.
Glücklicherweise können alle Schüler,
die noch kein Rad haben, tatsächlich Fahrrad fahren. Die Bremer Schüler suchen die
„Willkommensklasse“ mit den meisten
fahrradlosen Schülern aus, und die Planung kann beginnen. Das Ziel: drei Fahrräder für die Klasse zu bekommen. Um auf
die Aktion aufmerksam zu machen, viele
Menschen ansprechen zu können und so
viele Sachspenden wie möglich zu sammeln, gestalten die Schüler Plakate und
Flyer. Diese sind relativ kostengünstig und
sprechen viele Menschen schnell und direkt an. Die Flyer werden in fast allen Klassen der Schule verteilt; die Plakate in Fluren aufgehängt.
Über die angegebene E-Mail-Adresse
kommen daraufhin viele Nachrichten von
interessierten Fahrradspendern, die alte
oder Zweitfahrräder abgeben wollen. Am
Ende gibt es nur zwei Spenden. Die Fahrräder sind dafür in einem Top-Zustand und
haben die richtige Größe. Unterm Strich ist
die Aktion der Schüler ein Erfolg.
eit
Beginn
des
Schuljahres
2015/2016 gibt es inzwischen drei
Willkommensklassen an der Europaschule Schulzentrum Utbremen
des Sekundarbereichs II, in denen
Flüchtlinge Unterricht vor allem in der deutschen Sprache erhalten. Um die Schüler
der Willkommensklassen zu unterstützen,
haben sich Schüler der Europaschule mit
deren Wünschen auseinandergesetzt.
Dabei herausgekommen ist, dass einige
ein Transportmittel für den Schulweg benötigen. Da Bus und Bahn in Bremen nicht
kostenfrei zu nutzen sind und man mit
einem Fahrrad einfach eine viel größere
Freiheit hat, ist es bei gutem Wetter das perfekte Fortbewegungsmittel. Schnell war
der Entschluss gefasst, Fahrräder für die
neuen Mitschüler zu sammeln und bei Bedarf auch zu reparieren.
Gar nicht so einfach, da niemand auf die
geschalteten Anzeigen auf Facebook und
auf der Internetplattform bremen.de reagierte. Daraufhin fragten die Schülerinnen und Schüler im Fahrrad-Einzelhandel
nach. Auch das war nicht erfolgreich, sodass sie sich schließlich bei Freunden und
Bekannten umhörten. Ein erster Teilerfolg:
eine Spende von zwei Fahrrädern. Allerdings befanden die sich in Sahlenburg bei
Cuxhaven. Es fehlten Zeit und ein passendes Transportmittel Die Räder mussten in
Cuxhaven bleiben.
M
GEDICHT
Das Leiden
Das Leiden überdeckt alles,
warum nicht uns?
Mir tut alles weh,
aber es ist mir egal.
Wofür soll es gut sein, zu sagen,
Wann denkst du Ihr?
Was ist unsere Erfahrung,
nach all dem?
Das Leiden überdeckt alles,
es ist hart, es ist sanft.
Wie der Schmerz, der an dir nagt.
Ein weiteres Leiden;
auch dieses ist salzig noch,
zwei weitere, ein Ozean um dich
herum, du schwimmst!
In der Angst, in der Kälte...
Du verschwindest, aber ich sehe dich
In dir versinken
Du strengst dich an
bis deine Essenz aufatmen kann.
C’est fini.
In der Weite des Ozeans,
am Grund des Ozeans,
Bist du befreit
Der Schmerz und das Leiden.
MAMADOU LABÉ
Junge Damen
am Brett
Barvin kann jetzt mit ihrem neuen Rad auch Freunde besuchen. Lehrer Marco Fahjen freut sich
mit ihr. Insgesamt sechs Räder schenkten Utbremer Schüler jungen Migranten an ihrer Schule.
Wer sind unsere neuen Mitschüler?
ie neuen Mitschüler am Schulzentrum
Utbremen haben die Neugier geweckt. Was sind das für Menschen?
Wo kommen sie her? Sind die nett? Anhand
eines Fragebogens wurden die neuen Mitschüler befragt. Die VK 1533, die Buchstaben stehen für Vorkurs, ist eine Klasse mit
16 Jugendlichen ab 16 Jahren.
Die meisten sind unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge. Sie besuchen die Europaschule mindestens ein Jahr, um die deutsche Sprache zu lernen. Viele bleiben ein
zweites Jahr zur Berufsorientierung. Die
Schule bietet unter anderem Informatik
und Naturwissenschaften an.
In der VK 1533 sind Jugendliche aus Afghanistan, Syrien, Gambia, Guinea und Somalia. Kaba, ein Schüler der Klasse, spricht
D
vier Sprachen. Neben Deutsch und Englisch beherrscht er noch Mandinka und Wolof. Wolof ist eine afrikanische Sprache, die
in Gambia gesprochen wird. Kaba ist nach
Deutschland gekommen, weil sein Land
eines der ärmsten Länder der Welt ist und
der Präsident dort ein Diktator ist. Dort gibt
es wenig Perspektiven für eine gute Zukunft, und nur wenige Menschen können
ohne Sorgen wie Hunger, Verfolgung, Gewalt leben. Kaba möchte Anwalt werden.
An Deutschland mag er, wie die meisten
Schüler dieses Vorkurses, das Wetter nicht.
Großes hat Mohamed vor. Er würde gern
bei Werder Bremen spielen. Bangaly
spricht sogar fünf Sprachen: Französisch,
Deutsch, Susu, Mandinka und Fulfulde. Er
will Metallbauer werden.
Besher aus Syrien ist nach Deutschland
gekommen, um dem Krieg zu entfliehen.
Er mag an Deutschland den respektvollen
Umgang der Menschen untereinander und
die Infrastruktur. In Syrien konnte er nicht
zur Schule gehen, da dort Krieg herrscht.
Abdi aus Somalia geht gerne schwimmen, macht Sport und mag Werder Bremen. Hammane aus Guinea konnte in Guinea nicht zur Schule gehen. Er glaubt, dass
Deutschland für sein Leben eine zweite
Chance bereithält. Er spricht fünf Sprachen: Fulfulde, Französisch, Englisch,
Deutsch und ein wenig Italienisch. Was er
weniger an Deutschland mag, ist der Alkohol- und Zigarettenkonsum.
Sipan, der aus Syrien stammt, mag an
Deutschland die Sprache, die Natur, die Infrastruktur, das Essen und die Kultur. Was
er nicht mag, sind das Wetter und betrunkene Menschen auf der Straße.
Das sind nur einige Statements aus den
Fragebögen, die die neuen Mitschüler beantwortet haben.
Packende Zweikämpfe, Herzblut und Schweiß
V O N MA R C R U B B E R T ,
M A U R I C E GU S KE , R E N E D R U S T
UND COLIN SCHORMANN
as von Schülern organisierte Fußballturnier im Soccer King war heiß umkämpft. Die Klasse BOT 15 der Berufsoberschule für Technik hatte sich nicht nur
mit den Schülern der Flüchtlingsklassen zu
messen. Eine Lehrermannschaft versuchte
ebenfalls, den Pokal für sich zu ergattern.
An der Europaschule Schulzentrum
Utbremen des Sekundarbereichs II nehmen derzeit drei Flüchtlingsklassen am
Unterricht teil. Die Bremer Schüler überlegten, wie sie den neuen Mitschülern die Zeit
etwas spaßiger gestalten könnten. „Fußball verbindet die Welt“– mit diesem
Spruch entstand die Idee, mit den Flüchtlingen Fußball zu spielen.
Zunächst fragten die Berufsschüler vorsichtig an, ob die jungen Migranten Interesse hätten, gemeinsam mit der Klasse etwas Fußball in der Freizeit zu spielen.
Schnell war die Nachfrage so groß, dass
man sich entschloss, ein Turnier zu veranstalten. An der Schule verkauften sie Kuchen, warme Speisen und Getränke, um
das nötige Geld für die Durchführung des
Turniers aufzutreiben. Um die vielen Teil-
D
So sehen Sieger aus: Das Team der Flüchtlingsklasse II der Europaschule Schulzentrum Utbremen
der Sekundarstufe II mit dem Pokal.
FOTOS: FR
chach, ein Spiel für kluge Köpfe, doch
jeder kluge Kopf muss irgendwo mal
anfangen. Diese Idee steht hinter
einem besonderen Projekt. Im Fach Angewandtes Projektmanagement erhielten
Schülerinnen und Schüler den Auftrag,
eine Arbeit mit Flüchtlingen ins Auge zu
fassen. Da sie die üblichen Sportarten wie
Fußball und Basketball als zu klischeehaft
empfanden, wollten drei Schülerinnen etwas Originelleres machen. Eine von ihnen
spielte schon länger Schach. Das sei eine
unterschätzte Sportart, fanden die Schülerinnen. Ihr Beschluss stand fest: junge
Flüchtlingsmädchen, die den ganzen Tag
kaum eine Beschäftigung haben, für
Schach zu begeistern.
Mit viel Enthusiasmus begann die Arbeit
an dem Projekt. Vorbereitung und Umsetzung hatten ihre Höhen und Tiefen, da alle
beteiligten Schülerinnen Ideen und Vorschläge einbringen wollten. Aber es war
eine Herausforderung, die viel Spaß gemacht hat und an der jedes Mitglied im Einzelnen und in der Gruppe gewachsen ist.
Das größte Problem während der Vorbereitung war die Kooperation mit den Flüchtlingsunterkünften, die oft ihre Mitarbeit
verweigerten. Diese Verweigerung rührte
daher, dass sie die Flüchtlinge schützen
wollten, da einige von ihnen noch nicht
lange in Deutschland und viele zudem traumatisiert sind. Verständliche Gründe.
Nach der Zusage eines Flüchtlingsheimes
beschlossen die Schülerinnen, sich auf
diese positive Antwort zu fokussieren und
mit diesem zusammenzuarbeiten.
Der Tag des Schachtrainings für Flüchtlingsmädchen lief unter dem Namen „Damen am Brett“. Er war aus Sicht der Organisatorinnen ein voller Erfolg, da mehr Mädchen erschienen, als es sich die Schülerinnen vorgestellt hatten. Sogar einige Jungen zeigten Interesse und setzten sich
dazu.
Die Mädchen, die zu diesem Tag erschienen, waren alle begeistert und spielten mit
sehr viel Freude und Enthusiasmus. Sie bestätigten, dass sie im Flüchtlingsheim nicht
viel zu tun hätten und das Projekt deshalb
eine willkommene Abwechslung sei.
Aufmerksam ließen sie sich die Regeln erklären und wollten sofort loslegen, obwohl
sie das Spiel noch nie gespielt hatten. Weil
einige der Mädchen gut Deutsch sprachen,
war auch die Kommunikation nicht so
schwer wie erwartet. Sie übersetzten das
meiste den anderen Kindern. Aber auch
ohne Deutschkenntnisse verständigten
sich alle mit Händen und Füßen gut – was
auch eine tolle Erfahrung war.
Beim Spiel zeigten die Mädchen Begeisterung und Motivation, neue Dinge zu lernen und anzuwenden. Ein Schachtrainer
von Werder Bremen, der den Tag sponserte, war ebenfalls begeistert und unterstützte so gut es ging. Das Training dauerte
drei Stunden. Als es vorbei war, wirkten einige Kinder sogar traurig. So fiel auch die
Rückmeldung aus dem Flüchtlingsheim
hinterher positiv aus.
Der Sponsor der Gruppe war zwar sehr
vom Trainingstag angetan, wird das Projekt aber leider aus Ressourcengründen
nicht weiterführen können. Bleibt zu hoffen, dass die Arbeit irgendwann doch noch
weitergeht – und dies mit so viel Begeisterung und Spaß wie an diesem ersten Tag.
S
Viele neue Freiheiten
VO N R E N E D R U S T , S U S H A NT A N V I CT O R
U ND CA R O L I N S CH W A R Z
as Projekt „Angekommen – und willkommen!?“ in Kooperation mit dem
IZOP-Institut in Aachen geht auf die
Initiative der gemeinnützigen Hertie-Stiftung zurück. Beteiligt sind der WESER-KURIER und neun weitere deutsche Tageszeitungen. Schüler
setzten sich anhand des Mediums Tageszeitung mit der
Situation jugendlicher Zuwanderer auseinander
und recherchierten zu Lebenssituation, Hoffnungen und
Perspektiven der jungen Migranten. Die Ergebnisse und Berichte der Schüler erscheinen auf drei Sonderseiten in unserer Zeitung. Beteiligt sind drei Bremer Schulen.
Heute lesen Sie die Beiträge von Berufsschülern der Europaschule Schulzentrum
Utbremen des Sekundarbereichs II.
CFR
D
S
Dank engagierter Mitschüler und Freunden gelang es schließlich, doch noch einige
Fahrräder bekommen. Durch kleine Reparaturen wurden diese schnell verkehrssicher gemacht. Die Fahrräder lagerten zunächst in einem Kellerraum der Schule.
Es dauerte eine Weile, bis alle Fahrräder
wieder verkehrstauglich waren, da die
Schülerinnen und Schüler das in der Freizeit erledigten – und sich nebenbei auch
noch ums Abitur kümmern mussten. Die
Arbeit an den Rädern hat sich bezahlt gemacht. Nach drei Wochen waren sechs fahrtaugliche Fahrräder startklar. Diese konnten den Flüchtlingen feierlich überreicht
werden. Und sie wurden dankend angenommen. Eine besondere Freude machten
die Schülerinnen und Schüler der Europaschule in Utbremen einem achtjährigen
Mädchen aus Syrien. Barvin ist seit Dezember 2014 in Deutschland. Das Mädchen
spielt gerne mit seinen Freundinnen, geht
spazieren oder treibt Sport. Barvin hat inzwischen viele neue deutsche Freunde gefunden, die sie jetzt mit ihrem neuen Fahrrad optimal erreichen kann.
Angekommen –
und willkommen!?
nehmer und ihre Zuschauer gemeinsam
unterzubringen, mieteten sie einen Platz
im Soccer King in Habenhausen. Für ausreichend Getränke war gesorgt, der Spielplan
hing aus, und noch bevor alle umgezogen
waren, begannen bereits die ersten Spieler
sich aufzuwärmen. Wenn auch manche
ohne Hallenschuhe. Einige waren barfuß.
Andere waren mit nicht zugelassenen Stollenschuhen unterwegs, was wegen des Verletzungsrisikos nicht erlaubt war.
Das Eröffnungsspiel bestritten das Team
der Lehrer und die Organisatoren selbst.
Gegen die geballte Kraft von fünf erwachsenen Männer waren die Schüler allerdings machtlos. Trotz perfekten Passspiels
und guter Kondition unterlagen die Schüler der BOT15 ihren Konkurrenten am
Ende mit 5:1. Auch in den nachfolgenden
Spielen schenkte man sich nichts.
Am Ende des Turniers stand die Flüchtlingsklasse II ganz oben auf dem Treppchen und ergatterte den begehrten Pokal,
trotz oder eben gerade wegen einiger barfuß spielender Teilnehmer. Mit vier Siegen
aus vier Spielen holten sie das Metall nach
Hause. Lustigerweise landete das Lehrerteam trotz des tadellosen Auftakts nur auf
dem vorletzten Platz. Und damit hinter der
BOT 15.
ANASTASIA EROFEEV, GINA HEUERMANN
UND CAROLIN SCHWARZ
Ein Nachmittag für kluge Köpfe: gemeinsames
Schachspiel in der Flüchtlingsunterkunft.
13
Bremen
FREITAG
17. JUNI 2016
ZEITUNGSPROJEK T: SCH ÜL ER S C H R E IB EN Ü BE R J UG EN D LI C HE MI G RA N T E N
Neue Chancen für junge Flüchtlinge
Angekommen –
und willkommen!?
as Projekt „Angekommen – und willkommen!?“ in Kooperation mit dem
IZOP-Institut in Aachen geht auf die
Initiative der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung zurück. Beteiligt sind der WESER-KURIER und neun weitere deutsche Tageszeitungen. Schülerinnen und Schüler setzten sich
anhand des Mediums Tageszeitung mit der Lebenssituation jugendlicher Zuwanderer auseinander und recherchierten zu Hoffnungen und Perspektiven der jungen Migranten. Die Ergebnisse und Berichte der Oberund Berufsschüler erscheinen auf drei Sonderseiten in unserer Zeitung. Beteiligt sind
das Gymnasium Horn, die Europaschule Utbremen – und die Klasse 10 d des Gymnasium Vegesack, deren Beiträge auf dieser
Zeitungsseite zu lesen sind.
CFR
D
Ungewollt
schwanger
ie Zahl der Schwangerschaftsabbrüche in Bremen hat in den vergangenen Monaten stark zugenommen. Ein
Grund dafür ist die anhaltende Flüchtlingskrise. Auf ihrer Flucht nach Deutschland
werden Frauen oftmals Opfer von Gewalt
und Unterdrückung. Dabei kommt es zu
Gruppenvergewaltigungen durch Banden,
die den Frauen an den Grenzübergängen
auflauern. Häufig werden die Opfer dabei
schwer verletzt; manche sterben. Wegen
der Übergriffe werden viele Frauen schwer
traumatisiert und erkranken psychisch. Zudem werden viele unter ihnen ungewollt
schwanger. In Deutschland können Frauen,
die auf der Flucht ungewollt schwanger geworden sind, eine Abtreibung vornehmen.
Viele wissen nicht, dass ein Schwangerschaftsabbruch in Deutschland nur innerhalb der ersten zwölf Wochen möglich ist.
Da die meisten Flüchtlingsfrauen zum Zeitpunkt ihrer Ankunft in Deutschland bereits
eine lange Reise hinter sich haben, wird für
sie die Zeit knapp, um sich für oder gegen
die Schwangerschaft zu entscheiden. Viele
Frauen dürfen aus religiösen Gründen
nicht mit Männern über die ihnen widerfahrene Gewalt reden. Daher sind weibliche
Dolmetscherinnen bei den Beratungen unverzichtbar. Inzwischen gibt es viele Beratungsstellen für Flüchtlingsfrauen.
D
CLARA PARUSEL, MILA FRIES UND CÉCILE GARNIER
KOMMENTAR
Rechte Gefahr
Ibrahim Erdogan, Henrik Nagel und
Joshua Pautsch
über mögliche Übergriffe in Bremen
urch die Flüchtlingskrise ist ein Land
wie Deutschland regelrecht gezwungen, Hilfe zu leisten und nach Lösungswegen zu suchen. Flüchtlinge aufnehmen, versorgen und unterbringen: So
lässt sich Deutschland im Zusammenhang
mit der Flüchtlingskrise am besten beschreiben. Doch es gibt auch dunkle Seiten: die rechte Szene. Das Augenmerk jedes Flüchtlings liegt zunächst nicht in dieser Richtung. Doch auch in Bremen-Nord,
sind Anschläge durchaus realistisch. Oft
wird die allgemeine Lage durch den
Rechtspopulismus negativ geprägt und
letztendlich aus dem Gleichgewicht gebracht. Dabei sollten in dieser besonderen
Situation nicht etwa ethnische Wurzeln,
Religion oder die Hautfarbe im Vordergrund stehen, sondern die jeweilige Vergangenheit des Geflüchteten und seine besondere, auch persönliche Situation.
D
WILLKOMMENSINITIATIVE
Hilfen zur Integration
ie Flüchtlinge, die aus Ländern wie Syrien, Afghanistan und Albanien nach
Bremen kommen, haben zu Beginn
kaum eine Chance, sich in die neue Umgebung zu integrieren. Nachdem sie ein paar
Stationen, wie das Bundesamt für Migration und Flüchtling durchlaufen haben,
kommen sie in ein Übergangswohnheim,
in dem es einige Angebote von Nachbarn
und anderen Organisationen gibt wie
Deutschunterricht, Sport, Hausaufgabenhilfe oder gemeinsames Kochen. In Bremen gib es eine Willkommensinitiative von
Nachbarn und Flüchtlingsunterkunftsleitungen. Die organisieren Ausflüge und Aktivitäten mit den Flüchtlingen oder Fußballturniere, um den ersten Kontakt zu deutschen Einwohnern in der Umgebung zu
schaffen. Zudem gibt es Angebote von
Schulen und Sportvereinen, sodass die
Flüchtlinge Kontakte zu Schülern und zu
Personen ihres Alters knüpfen können.
D
LASSE ELLER UND BEN SCHÖNWÄLDER
V O N A NN A P R I GG E
U N D I NA - MA R I E F R E I H O R S T
m im Mathematikunterricht eine
Rechenaufgabe lösen zu können,
muss man zunächst die Aufgabenstellung verstehen. Genau dies ist
das Problem der 17-jährigen
Alisha aus Kenia. Sie besucht die Oberschule an der Lerchenstraße in Bremen-Vegesack und wechselt nächstes Jahr voraussichtlich die Oberstufe. Da sie in ihrem Heimatland bereits die Schule besucht hat, ist
sie in einer zehnten Klasse aufgenommen
worden. Englisch spricht sie gut, und Mathe wäre vom Rechnerischen kein Problem,
wenn sie die deutsche Sprache vollständig
verstehen könnte.
Alisha hatte, wie jedes andere Flüchtlingskind in Bremen, nur ein Jahr Zeit,
Deutsch so gut wie möglich in einer Vorklasse zu lernen. Ein Ding der Unmöglichkeit, da sie Deutsch als Fremdsprache gelernt hat und ihr dennoch weitere schulische Kompetenzen fehlen. Trotzdem muss
sie die gleichen Abschlüsse wie Schüler
mit einer Lese-Rechtschreib-Schwäche ablegen. Lehrer tun alles, um ihr Deutsch weitestgehend beizubringen, damit sie die Aufgabenstellungen versteht.
Das Erlernen der deutschen Sprache hat
für jugendliche Flüchtlinge oberste Priorität. Dies wird hauptsächlich in Schulen gelehrt. Dazu wurde die Vorklasse an der
Oberschule an der Lerchenstraße befragt,
die zurzeit 20 Schüler stark ist. In einer Vorklasse wird ausschließlich Deutsch unterrichtet. Es gibt eine Einjahresfrist. Nach diesem Jahr in der Vorklasse müssen Flüchtlinge in den Regelunterricht. Die Zuweisung in eine Regelklasse wird nach ihrem
Alter festgelegt.
Schnell Deutsch lernen, obwohl sie
keine anderen schulischen Voraussetzungen mitbringen? Viele Flüchtlinge haben
keinen Bildungshintergrund. Flüchtlinge
aus Somalia etwa sind wegen des Bürgerkriegs im Land im seltensten Fall zu Schule
gegangen.
Für die Lehrer ist es auch sehr anstrengend zu unterrichten, da die Schüler unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen
und unterschiedliche Niveaus haben. Die
Behörde gibt vor, dass die Schüler eine 20Stunden-Woche haben müssen, an der Lerchenstraße sind es 25 Stunden.
Doch die Integration kann gar nicht funktionieren, da 60 Prozent der Schüler dem
Regelunterricht wegen fehlender Kenntnisse nicht folgen können. Sie besuchen
dennoch die Schule wie alle anderen. Viele
Migranten würden gerne ihren Mittleren
Schulabschluss oder das Abitur absolvieren, aber sie haben einen zu geringen Bildungshintergrund und zusätzlich mangelnde Deutschkenntnisse.
Nikoletta ist elf Jahre alt. Sie muss
Deutsch neu lernen, da sie nicht einmal das
Alphabet beherrscht und auch sonst keinen weiteren Bildungshintergrund besitzt.
Nach dem Jahr in der Vorklasse kommt sie
in eine siebte Klasse, ohne jemals Unterricht in Mathematik, Chemie oder Physik
gehabt zu haben. Durch dieses System
kann die Integration gar nicht funktionieren. Nikoletta wird wegen der fehlenden
Kenntnisse kaum den Anschluss an deutsche Siebtklässler schaffen.
Auch Sportvereine leisten Integrationsarbeit: Seit September 2015 gibt es bei der
SG Aumund-Vegesack eine Schwimmgruppe für Flüchtlinge. Der Grund für die
Eröffnung der Gruppe war, dass ein syrischer Flüchtling in einem See ertrunken
ist. Der Trainer der Schwimmgruppe ist
von Beruf Rettungstaucher. Er war es auch,
der den ertrunkenen Syrer aus dem See geholt hat. Zu Beginn nahmen zwölf Flücht-
U
Integration durch Sport: Schwimmunterricht ist für junge Flüchtlinge eine Chance, Kontakte zu
FOTO: DPA
knüpfen und einem neuen Hobby nachzugehen.
linge am Schwimmunterricht teil. Keiner
von ihnen konnte schwimmen. Mittlerweile haben zwei von ihnen das Abzeichen
Bronze und einer das Silberabzeichen geschafft. Ziel ist es, die Flüchtlinge in die
Sportgruppen zu integrieren. Sprechen die
Flüchtlinge noch kein Deutsch, wird sich
auf Englisch verständigt. Die Trainerstunden werden vom Landessportbund bezahlt. Es gibt ein Förderprogramm des
Amts für Integration.
Ein Mitglied der Gruppe ist der 17-jährige Mohammedhadi aus Afghanistan. In
seiner Heimat ist er sieben Jahre zur
Schule gegangen, dann wurde er von der
Nato als Dolmetscher eingesetzt, denn er
spricht Englisch, Türkisch und Deutsch.
Als die Nato aus Afghanistan abrückte,
musste Mohammedhadi fliehen, da es wegen der Arbeit für die Nato nicht mehr sicher für ihn in Afghanistan war.
Seit acht Monaten lebt er in der Akademie Kannenberg. Sein Betreuer hat ihn
beim Schwimmen angemeldet, wo er mit
viel Freude dabei ist. Er schwimmt zweimal
in der Woche und ist mit den anderen Mitgliedern der Gruppe befreundet. Das
Schwimmen macht ihm großen Spaß, und
er möchte auch weiterhin regelmäßig zum
Training gehen. Neben dem Schwimmen
spielt Mohammedhadi Volleyball. Und er
ist ehrgeizig dabei, seine Deutschkenntnisse auszubauen. Er absolviert momentan
ein Praktikum bei Arcelor Mittal. In der
Schule bringt er gute Leistungen. Sein Ziel
ist es, eine Ausbildung zum Elektroniker
zu beginnen. Im Schwimmen hat Mohammedhadi ein neues wichtiges Hobby gefunden. Es freut ihn, manchmal zusammen mit
deutschen Schwimmern zu trainieren.
Die 13-jährige Tasnim, der elfjährige Mohammed, der siebenjährige Khaled und
der fünfjährige Moaiad leben mit ihrer Mutter seit fünf Monaten im „Blauen Dorf“ in
Bremen-Grohn. Die Familie kommt aus Syrien, der Vater ist noch in Damaskus. Die
Mutter und die Kinder fühlen sich sehr
wohl in Deutschland, allerdings vermissen
sie auch ihre Heimat. Auf die Frage, was
die großen Unterscheide zwischen Syrien
und Deutschland sind, antwortet die Mutter nur, dass es in Deutschland sicher sei.
Die Kinder sind gerne in Deutschland
und bemühen sich, die deutsche Sprache
zu lernen. Tasnim besucht die GerhardRohlfs-Schule, dort lernt sie von acht bis
zwölf Uhr Deutsch in einer Vorklasse. Von
zwölf bis 15 Uhr hat die 13-Jährige gemeinsam mit deutschen Siebtklässlern Unterricht. Die anderen Kinder besuchen die
Grundschule Mönchshof und den Kindergarten Tannenhof. Um einen Schulplatz
kümmert sich die Heimleitung des „Blauen
Dorfs“. Dort gibt es viele Angebote für
Flüchtlinge.
Dreimal in der Woche gibt es einen
Deutschkurs, es gibt einen Kindergarten
für Flüchtlinge, und Frauen können einen
Nähkurs belegen. Die Flüchtlinge bekommen im Monat rund 280 Euro Taschengeld.
Die Familie aus Syrien hat eine persönliche
Betreuung, die bei vielen Dingen hilft.
Ohne sie würden die Kinder wahrscheinlich nicht ihren Hobbys nachgehen können. Mohammed schwimmt im Verein,
doch er würde gerne zu den Pfadfindern gehen. Die persönliche Betreuung versucht
dies zu organisieren.
Tasnim spielt Basketball, aber sie würde
sehr gerne auch Ballett machen. Dafür hat
die persönliche Betreuung schon mehrere
Telefonate getätigt und versucht, Kontakt
mit Vereinen aufzunehmen. Wegen der
Sprachprobleme könnten die Flüchtlinge
das alles kaum allein organisieren.
Jede Familie im „Blauen Dorf“ bräuchte
eine persönliche Betreuung, da sie alle auf
sich alleine gestellt sind. Das Geld könnte
dem gewünschten Ballettunterricht von
Tasnim auch im Weg stehen, da sie bereits
Basketball spielt und beide Vereinsbeiträge zu hoch für die Familie wären. Mit wenig Geld können die Kinder nicht viel in
der Freizeit machen, doch sie spielen auch
gerne draußen und haben in der Schule
schon deutsche Freunde gefunden.
Deutschland ist definitiv die neue Heimat der Familie geworden. Die Kinder wollen auch später noch in Deutschland bleiben, da sie für ein Leben in Syrien keine Zukunft sehen. Tasnims Wunsch ist es, Kinderärztin zu werden. Mohammed möchte später gerne Polizist werden. Khaled findet
den Beruf des Architekten toll. Zunächst
wollen die Kinder ihr Abitur machen, das
man auch in Syrien nach zwölf Jahren ablegen konnte. Deutsch zu lernen ist wichtig.
Dies klappt im Vorkurs schon ganz gut –
wenn die Kinder in Regelklassen wechseln, wird das Verstehen schwieriger.
Eine Übersetzer-App auf dem Smartphone kann das Verständigen erleichtern.
Dort spricht man auf Deutsch hinein, dann
wird die Übersetzung auf Arabisch angezeigt. Einige Familien im „Blauen Dorf“ sehen nicht die Notwendigkeit, Deutsch zu
lernen. Sie leben einfach nach ihrer gewohnten Kultur.
Die Mutter von Tasnim und ihren Geschwistern war in Syrien als Rechtsanwältin tätig. In Deutschland arbeitet sie noch
nicht. Die muslimische Familie ist in Syrien
auch zur Moschee gegangen; in Deutschland allerdings nicht, dort wird im Haus gebetet. Alle Gegenstände im Haus sind übrigens Spenden. Tasnim trägt im Gegensatz
zu ihrer Mutter noch kein Kopftuch, aber
sie überlegt, dies später zu tun. Für die Familie, die das syrische Klima gewohnt ist,
ist es ein wenig kalt in Deutschland. Die
Mutter findet den Winter zu lang, doch die
Kinder mögen den Winter und den Schnee.
Die Familie fühlt sich gut aufgenommen
und ist sehr froh, in Deutschland zu sein.
„Es war sehr kalt, und wir wärmten uns gegenseitig“
VON SELINA HEIL,
L I S A H O H MA N N U N D S A R A H R O B B E N
as Jahr 2015 brachte vieles mit sich:
für Einzelne den Schulabschluss, für
den nächsten Erfolge im Beruf, und
wieder andere gründeten eine Familie. Es
gab auch weniger schöne Momente. Momente, die Kraft raubten und nachdenklich
stimmten, in denen man sich selbst dabei
beobachtete, wie man den Sinn und das Leben hinterfragt. Einer dieser Momente war,
als es im zehnten Jahrgang des Gymnasium Vegesack hieß, das Profil mit dem
Schwerpunkt Deutsch und die Grundkurse
Politik und Darstellendes Spiel sollen sich
bei einem Projekt mit dem Flüchtlingszustrom befassen. Drei gebürtigen Bremerinnen – Selina Heil, Lisa Hohmann und Sarah
Robben – war schnell klar, dass dieses Projekt auch eines sein würde, aus dem sie lernen und sich selbst belehren würden.
Der Fokus der Arbeit richtete sich darauf, Menschen zu treffen, die vor dem
Krieg in Syrien geflohen und nun in
Deutschland angekommen sind. Wie geht
es ihnen nach der Flucht im sicher geglaubten Deutschland? Wie können sie ihren Alltag gestalten? Und welche Optionen bietet
ein finanziell starkes Land wie Deutschland dabei? Die Schülerinnen wollten herausfinden, inwieweit eine solche Flucht die
Psyche beeinflusst und was ein geflüchte-
D
ter Mensch braucht, um mit Optimismus
diese Welt sehen und fühlen zu können.
Finn Gerlach vermittelte den Kontakt. Er
ist ehrenamtlich für geflüchtete junge Menschen in der Gemeinde Lemwerder da,
spricht regelmäßig mit ihnen und bietet im
Jugendtreff und in der Begegnungsstätte
Raum, andere Menschen kennenzulernen
und sich mit der neuen Sprache vertraut zu
machen. Es war ein regnerischer Nachmittag in einem Café in Vegesack, in dem die
„Viele wollten
einfach
nur sterben.“
Abdo, 19 Jahre, über die Flucht aus Syrien
Autorinnen Abdo, einen 19-jährigen Geflüchteten aus Aleppo kennenlernten. Finn
begleitete das Gespräch, damit Abdo sich
sicherer fühlt. Das lag allen am Herzen.
Abdo lebt seit einem Jahr in Bremen. Er
floh aus Syrien, kurz bevor seine Abiturprüfungen begannen. Die Flucht über die Balkanroute überlebte er zusammen mit
einem Freund. Erster Anlaufpunkt war die
Türkei, wo die beiden fünf Monate blieben
und Abdo immer wieder sehr kräfteraubende Jobs annahm. Er arbeitete teilweise
mehr als 22 Stunden, nie weniger als 16
und bekam dafür etwa die Hälfte des
Lohns eines Arbeiters mit einem Acht-Stunden-Tag. Abdo schlief auch bei seinen
Arbeitsplätzen, sodass er nie Ruhe bekam.
Als das Geld für den weiteren Fluchtweg
verdient war, galt es, die durch die Mafia organisierte Überfahrt im Schlauchboot nach
Griechenland zu überleben. Es befanden
sich zu der Zeit 45 Menschen in diesem
Boot. Darunter Frauen mit ihren kleinen
Kindern. Die Schlepper ernannten einen
durch seine Flucht völlig erschöpften und
zugleich unerfahrenen Mann zum Bootsführer, geltend für die gesamte, mehrstündige Überfahrt. Als er seine Bedenken
kundtat, hielten die Männer ihm eine
Waffe an den Kopf, erzählt Abdo.
Kinder litten, Mütter weinten um sie.
„Viele wollten einfach nur sterben“, sagt
Abdo. Doch er blieb stark, behielt die Kontrolle über sich und die Situation und half
einer Mutter, deren Kind keine Luft mehr
bekam, und seinem Freund, der auch am
Ende seiner Kräfte war.
Etwa nach der Hälfte des Weges versagte der Motor. Das Boot drohte im starken Wellengang zu kentern. Nach sechs
Stunden, mehreren Anrufen bei der türkischen Polizei und langem Ausharren voller
Fragen, wie lange man noch zu leben hat,
und weinenden, schreienden Kindern, ließ
sich die türkische Polizei dazu bewegen,
das Boot bis vor eine griechische Insel zu
fahren. Von da an waren Abdo und sein
Freund wieder auf sich gestellt. Am darauffolgenden Tag flohen sie nach Athen.
Viele Tränen flossen, doch Abdo blieb immer stark und half sowohl alten Menschen
als auch solchen, die Kinder mit auf die
Flucht genommen hatten. Fünf Kilometer
ging es für ihn und seinen Freund durch
die Berge. Nach dieser Wanderung ging es
mit dem Bus weiter nach Mazedonien, von
dort aus weiter mit dem Zug nach Serbien
und Kroatien und weiter nach Slowenien.
In Slowenien harrten sie ohne Nahrung
und Getränke aus, da sie zunächst nicht
über die österreichische Grenze durften.
Die Nächte waren für Abdo und alle anderen ein schlimmes Erlebnis: „Es war sehr
kalt, und wir wärmten uns alle gegenseitig.“ Schließlich durfte Abdo die Grenze
passieren.
So landete er in Hildesheim. Dort teilte
man der Gruppe der Geflüchteten mit, dass
sie den Rest ihres Weges zu Fuß gehen müssen. So kam Abdo nach Lemwerder. Er hat
Freunde wie Finn Gerlach gefunden, die
ihm das Leben erleichtern und dabei halfen, seine traumatischen Erlebnisse zu verkraften. Von Tag zu Tag wird es ein bisschen besser. Bemerkenswert ist, dass Abdo
trotz allem lächelnd sagt: „Ich kann mich
nicht vor meiner Vergangenheit verstecken. Niemand kann das.“
10
Bremen
SONNTAG
19. JUNI 2016
ZEITUNGSPROJEK T: JUGENDLI C H E SCH R EI BE N Ü BE R MI G RAT IO N FRÜ HE R UN D HE UT E
Aus dem Leben geworfen
Angekommen –
und willkommen!?
as Projekt „Ankommen – und willkommen!?“ in Kooperation mit dem IZOPInstitut in Aachen geht auf die Initiative der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung
zurück. Beteiligt sind der WESER-KURIER
und neun weitere deutsche Tageszeitungen. Schülerinnen und Schüler setzten sich
anhand
des
Mediums Tageszeitung mit
der Lebenssituation jugendlicher Zuwanderer auseinander und recherchierten zu
den Hoffnungen und Perspektiven der jungen Migranten. Die Ergebnisse und Berichte der Schüler erscheinen auf drei Sonderseiten in unserer Zeitung. Beteiligt sind
zwei Bremer Schulen und eine Schule in
Bremen-Vegesack. Diesmal lesen Sie die
Beiträge des Geschichtsleistungskurses
der E-Phase am Gymnasium Horn.
CFR
Flucht nach 1945
und Flucht heute
D
VO N L YN N S T E N Z E L
W
Gefährlicher Weg
in die Sicherheit
och immer fliehen Menschen aus
Afghanistan, Syrien, nordafrikanischen Staaten und Ländern, wo Krieg
und Chaos den Alltag bestimmen. Seit
2015 kamen rund 900 000 Flüchtlinge nach
Deutschland. Die meisten Menschen flohen über die mittlerweile geschlossene Balkan-Route und über das Mittelmeer – in völlig überfüllten, oft heruntergekommenen,
Booten. Das zwischen der EU mit der Türkei ausgehandelte Abkommen, nach dem
Flüchtlinge in die Türkei zurückkehren sollen, um in Kontingenten von den EU-Ländern aufgenommen zu werden, wird die
Flüchtlinge nicht daran hindern, den Weg
Richtung Europa einzuschlagen.
Sogenannte „Schlepper“ nutzen die Not
der Menschen aus und lassen sie für viel
Geld in Booten über das Mittelmeer reisen.
Dafür nehmen sie sogar den Tod ihrer
„Kunden“ in Kauf. Meist wissen die Menschen nicht, was sie auf der anderen Seite
des Mittelmeeres erwartet. Die EU wendet
viel Geld für die Versorgung und Rettung
der Flüchtlinge auf. So werden etwa an den
Küsten Italiens und Griechenlands Küstenwachen aufgestellt, um meist unterkühlte,
dehydrierte oder fast verhungerte Menschen aus den brüchigen Booten zu retten.
N
WILLIAM BEHNKE, CHRIS ELLERHORST,
NOËL EVERS UND LEON LUKASZEWICZ
BLICK ZURÜCK
unächst war es für uns neu, eine Zeitungsseite zu erstellen. Jedoch haben
wir schnell Spaß daran gefunden, Artikel zu schreiben, und dabei viele neue Erkenntnisse gewonnen. Einen besonderen
Blickwinkel eröffneten uns die Erzählungen der Flüchtlinge, die uns Informationen
aus erster Hand lieferten. Es hat uns erstaunt, welch großer Unterschied zwischen
den Flüchtlingszahlen von früher und
heute liegt. Es fiel auf, dass sich die Situation der Flucht in vielen Punkten ähnelt.
Nun können wir sagen, dass die Beschäftigung mit dem Thema Flucht uns geholfen
hat, die Situation der Flüchtlinge besser zu
verstehen und wir uns gefreut haben, diese
LENNARD INSTENBERG,
Seite zu machen.
Z
HELENA WOLTERS, MARIAM ACHMAD,
ANNA OHLENMACHER UND JULIA HEINSCHEL
FOTO: DPA
In Trümmern: Aufnahmen aus der Umgebung von Damaskus nach Luftangriffen.
V O N MA R I A M A C H MA D
err A.* hatte in Syrien ein gutes
Leben. Als Bäcker und Konditor
konnte er seinen Berufstraum 23
Jahre lang im eigenen Süßwarengeschäft leben. Seine Frau stand
ihm dabei zur Seite. Er lebte mit seiner
Frau und der gemeinsamen 18-jährigen
Tochter zusammen.
Nachdem der Krieg in Syrien ausbrach,
verbreitete sich die Angst in der Familie
sehr schnell. Die Tochter war in ihrer
Schule eine bekannte Anführerin der
Demonstrationen gegen den Präsidenten
Assad. Dadurch kam die gesamte Familie
ins Visier der Regierung, da man in arabischen Ländern niemals etwas Falsches
über den Präsidenten öffentlich sagen darf.
Die Familie fühlte sich bedroht und beobachtet. Herr A. kam schließlich einen Monat lang ins Gefängnis. Nach seiner Entlassung und der Angst, dass seine Tochter als
Demonstrantin auch ins Gefängnis kommen könnte oder gar umgebracht würde,
flüchtete er mit seiner Frau und seiner Tochter nach Europa.
H
An die Schlepper musste er für drei Personen 24 000 Euro zahlen. Die drei flüchteten
von Syrien zunächst in die nahe Türkei,
blieben dort für eine Woche und setzten
ihre Reise nach Bulgarien nach vier Tagen
fort. Da die Schlepper und sie sich nur
nachts fortbewegen konnten, erreichten er
und seine Familie drei Tage später Österreich. Nachdem er von den besseren Lebensbedingungen in Deutschland hörte,
hat er sich gegen ein Leben in Schweden,
wo die Familie ursprünglich hin wollte, entschieden.
Nun lebt Herr A. seit 30 Monaten mit
einem Asylpass in Deutschland. „Dadurch,
dass wir gezwungen waren, unsere Heimat
zu verlassen, änderte sich schlagartig
unser ganzes Leben. Wir wussten nicht,
was uns in Deutschland erwarten würde,
doch wir hatten keine andere Wahl, als ruhig zu bleiben und abzuwarten. Gott sei
Dank ist Deutschland ein freundliches und
tolerantes Land.“
Da er eine Tochter hat, bekam er schnell
eine Wohnung. Seine Zukunft versucht er,
so gut es geht zu planen. Er würde gerne
seinen Traumberuf als Bäcker und Kondi-
tor in Deutschland wieder aufnehmen. Bis
jetzt hat er noch keine Arbeit gefunden, allerdings spart er gerade, um ein Geschäft
eröffnen zu können. Natürlich hätten er
und seine Familie Heimweh, sagt Herr A..
Er möchte in seine Heimatstadt zurückkehren, wenn seine Tochter, die jetzt die elfte
Klasse besucht, ihre Schule beendet hat,
der Krieg ein Ende nimmt und ein neuer
Präsident in Syrien an die Macht käme.
Herr A. und seine Familie sind für die Unterstützung der freundlichen Menschen hier
und die neue Zukunft, die ihm Deutschland bisher hat bieten können, dankbar.
Das Leben in Deutschland unterscheidet
sich in Vielem von dem in Syrien. „Meine
Tochter ist sie sehr froh darüber, dass man
in den deutschen Schulen nicht geschlagen wird und dass es keine Schulkleidungspflicht gibt. Dies war nämlich in Syrien der
Fall“, erzählt Herr A. Wenn er eine Wahl
hätte, würde er noch einmal nach Deutschland kommenn? „Ja, denn kein anderes
Land hilft den Flüchtlingen so wie Deutschland.“
*) Der Name von Herrn A. ist
der Redaktion bekannt.
Mauer teilte Ost und West
Neuanfang mit leeren Händen
ie Fluchtmomente nach 1945 und
sozialistische Länder reisen, wie etwa in
heute mit denen zu vergleichen, die
die Sowjetunion, nach Polen oder Bulgadie Menschen zur Flucht aus der ehe- rien. Wegen der Massenflucht erließ die
maligen DDR gebracht haben, ist schwie- DDR-Regierung am 11. Dezember 1957 ein
rig. Dennoch: Drei Millonen Menschen flo- weiteres Gesetz, das sogenannte Pass-Gehen bis zum Fall der Mauer von Ost nach
setz, in dem bis zu drei Jahren Haft oder
West – auch sie ließen ihr gewohntes Leben
eine Geldstrafe für diejenigen festgelegt
zurück. Bereits vor der Gründung der DDR
wurde, die ohne „erforderliche Genehmiim Jahr 1949 verließen Tausende Men- gung“ das Gebiet der DDR verließen. Das
schen das Gebiet der Sowjetischen Besat- Überqueren der Sektorengrenze zwischen
zungszone (SBZ) in Richtung Westdeutsch- Ost- und Westdeutschland war noch mögland. Sie flohen vor dem Konflikt zwischen
lich, wurde aber immer gefährlicher.
der Sowjetunion und den Westmächten.
Am 13. August 1961 schloss die RegieSie gingen, ohne sich abzumelden oder
rung auch das letzte „Schlupfloch“: Die
eine Genehmigung einzuholen.
Grenze zwischen Ost und West
Daraufhin beschloss die Regiewurde abgeriegelt, und man berung der DDR am 26. Mai 1952,
gann, eine Mauer zu errichten.
die Grenze zwischen Ost- und
Ost-Berlinern und DDR-Bürgern
Westdeutschland zu schließen
wurde es so gut wie unmöglich
und das Überqueren unter
gemacht, die DDR ohne GenehStrafe zu stellen.
migung zu verlassen. Die BerliEinzelne Straßen zwischen
ner Mauer war der letzte Schritt
Ost und West wurden gesperrt;
der Teilung und zugleich ein marvereinzelt gab es Kontrollen an
kantes Symbol des Konfliktes im
der
Sektorengrenze.
Die
Kalten Krieg zwischen den von
Grenze zu passieren, war zu dieden USA dominierten Westmächsem Zeitpunkt noch relativ unten und dem sogenannten Ostgefährlich. Viele DDR-Bürger Mauerreste mitten in block unter Führung der Sowjetfuhren nach Ost-Berlin, kauften Berlin.
FOTO: DPA union.
sich dort eine Fahrkarte für die
In den ersten Tagen des MauS- oder U-Bahn und gelangten
erbaus gelang etlichen Menso in den Westteil der Stadt. In West-Berlin
schen die Flucht in den Westsektor. Sie kletangekommen, meldeten sie sich im Notauf- terten über Drahtsperren oder Mauern,
nahmelager, in dem sie aufgenommen wur- sprangen aus den Häusern an der Sektorenden. Somit gelangten Tausende ostdeut- grenze oder bauten Tunnel. Mit der Fertigsche Bürger jeden Monat über die Grenze
stellung der Mauer und den verstärkten
nach Westdeutschland.
Grenzkontrollen wurden Fluchtversuche
Gründe für die Flucht waren die einge- mit Gewalt verhindert. Etwa 1000 Menschränkten beruflichen Möglichkeiten, die
schen bezahlten ihren Fluchtversuch mit
MARA KIEFER, MAGNUS MENZEL,
ihrem Leben.
schlechte Wirtschaftslage, aber vor allem
die mangelnde Meinungs- und ReisefreiHENRI MAIERHOF, JAN NORMAN,
TIMO BREIDBACH UND KENDRA NIDRICH
heit. Die DDR-Bürger durften nur in andere
r flüchtete mit seiner Mutter, seinen
von sowjetischen Tieffliegern, die ebensechs Geschwistern und seinen zwei
falls das Eis zum Einbrechen brachten.
Cousins: Die Flucht aus Ostpreußen beAuch damals gab es viele Flüchtlingsgann am 21. Januar 1945, erinnert sich der
boote, die jedoch ebenfalls nicht selten von
Großvater eines Mitschülers. „Um 5 Uhr
sowjetischen Torpedos versenkt wurden,
morgens wurden wir vom Hofmann ge- wie etwa das Kreuzfahrtschiff „Wilhelm
weckt. Wir mussten das Nötigste packen.
Gustloff“, die von sowjetischen Torpedos
Um 20 nach neun brachen wir auf.“
getroffen wurde und 9300 Flüchtlinge soIm Oktober 1944 zogen die ersten Flücht- wie verwundete Soldaten in den Tod riss.
lingstrecks gen Westen ins Deutsche Reich.
Nur 1239 Menschen überlebten.
Die Menschen flohen vor der Roten Armee,
Zeitgleich begann in den ehemaligen Bedie zu diesem Zeitpunkt erstmals ostpreußi- satzungsgebieten des Deutschen Reiches
schen Boden betrat. In jenem Jahr hat es
die systematische Vertreibung deutscher
einen frühen, heftigen Winter gegeben.
Bürger. Dies war eine Folge der SiedlungsViele Menschen flohen zu Fuß
politik des NS-Regimes. Die deutund mit kleinen Handwagen
schen Bürger, die noch in diesen
bei eisigen Temperaturen bis zu
Gebieten lebten (Sudetenland,
minus 25 Grad Celsius (Januar
Polen, Ungarn, Böhmen, Kroa1945). Etliche erfroren. Da es wetien, Serbien, Slowenien, Baltider medizinische Versorgung,
kum) mussten für die Verbrenoch Lebensmittel oder Wasser
chen des NS-Regimes, durch
gab, starben vor allem kleine
Hass und Zerstörung, bezahlen.
Kinder und ältere Menschen.
Die Flüchtenden und VertrieDie von der Flucht gebenen wussten meist keinen Ort,
schwächten Menschen schaffan dem sie sich hätten niederlasten am Tag nur wenige Kilomesen können. Die wenigsten hatter, während die Rote Armee
ten Verwandte oder Bekannte in
das Zehnfache in der gleichen Wartende Flüchtlinge den alliierten Besatzungszonen.
Zeit zurücklegte. Wurden die 1945.
FOTO: DPA Da weite Teile Deutschlands zerFlüchtenden eingeholt, hatten
stört waren, sahen die in Deutschsie mit Tod oder Gefangenland lebenden Bürger kaum Mögschaft zu rechnen. Viele wurden auch als
lichkeiten, Flüchtlinge zu versorgen. Es
„lebende Reparationszahlungen“ in die So- fehlte an Nahrung, Wohnraum und Arbeit.
wjetunion geschickt.
Die Folge: Viele Flüchtlinge landeten in
Ein Großteil der Flüchtlinge versuchte,
Auffanglagern und wurden von Einheimiüber die zugefrorene Ostsee nach Danzig
schen kritisch beäugt. Die meisten mussten
zu gelangen. Dies erwies sich jedoch als ge- den Neuanfang mit leeren Händen wagen,
fährlicher Fehler, da vor allem Handwagen
weil sie alle Wertgegenstände zurücklasim Eis einbrachen und die Menschen mit- sen hatten oder diese von Soldaten konfisrissen, die dann im eiskalten Wasser er- ziert wurden. Für viele bedeutete das den
HELENA WOLTERS,
tranken. Ein weiterer Grund für den Tod
sozialen Abstieg.
vieler Flüchtlinge waren die Geschosse
JULIA HEINSCHEL UND NADINE STEIN
D
Ein Flüchtlingsboot mit vielen Dutzend Menschen im Mittelmeer.
FOTO: DPA
elche Unterschiede und Ähnlichkeiten gibt es bei den Fluchtwellen von
1945 der Flucht von heute? Darum
ging es bei den Recherchen des Geschichtsleistungskurses der E-Phase des Gymnasiums Horn nach. Das Thema Flucht beginnt mit den Fragen: Wer flüchtet? Wieso?
Und wohin?
Nach 1945, nach dem Zweiten Weltkrieg, waren es größtenteils ehemalige Heimatvertriebene, welche aus Ostpreußen
oder anderen östlichen Gebieten flohen.
Ähnlich wie damals fliehen die Menschen
heute vor Krieg und Terror aus ihrer Heimat. Aktuell ist es auch die Terrormiliz
Daesch, wegen der viele Syrer, Iraker und
auch Menschen aus Afghanistan die Flucht
ergreifen. Sie versuchen in sichere Staaten
zu gelangen und machen sich deshalb häufig auf den Weg nach Europa.
Der Unterschied zu den Aufnahmeländern von Flüchtlingen liegt darin, dass die
Flucht nach 1945 in bereits vom Krieg zerstörte Länder erfolgte, wohingegen die
Flucht heute, so sie nach Europa führt, in
wirtschaftlich und politisch starke Staaten,
welche nicht zerstört sind, erfolgt.
Dies wirkt sich auch auf die Bildungsmöglichkeiten aus. Aufgrund des hohen
Zerstörungsgrades der Länder nach 1945
gab es kaum noch Schulen und viel zu
große Schulklassen oder Arbeitsmaterial.
Heute besteht zudem das Problem des
Spracherwerbs, welches damals kein Problem darstellte, weil die Flüchtlinge deutscher Herkunft nach Deutschland flüchteten. Um Integration und Spracherwerb so
gut wie möglich zu fördern, gibt es heute
Sprachkurse für Flüchtlinge, Unterricht in
Regelklassen und speziell ausgebildete
Lehrkräfte.
Damals waren Flüchtlinge zu Fuß oder
mit Pferdewagen unterwegs und wurden
zwangsweise auf Bauernhöfen untergebracht, wo sie oft auch arbeiteten. Heute
fliehen die Menschen zu Fuß, mit dem
Auto, mit Booten und Schiffen oder Lkws.
Nach der Ankunft wohnen sie in Gemeinschaftsunterkünften, Zelten oder Turnhallen. Was die Arbeitsmöglichkeiten betrifft,
ist es heute komplizierter: Flüchtlinge dürfen erst arbeiten, wenn sie einen Sprachkurs belegt haben und kein arbeitsloser
Deutscher für den Job in Frage kommt.
Dennoch bekommen Flüchtlinge heute finanzielle Unterstützung vom Staat, was damals nicht gewährleistet werden konnte.
Zudem war damals die Versorgung problematisch, denn in der Nachkriegszeit waren viele Menschen auf die Nahrung angewiesen. Heute ist die Versorgung deutlich
besser, es steht genug Nahrung zur Verfügung, um sowohl die Flüchtlinge als auch
die restliche Bevölkerung zu ernähren.
Abschließend kann man sagen, dass die
Anzahl der Flüchtlinge nach 1945 etwa 16
Millionen Menschen umfasste, wohingegen heute gerade einmal eine Million Menschen nach Deutschland gekommen sind.
Damals war es in der erschwerten Situation
möglich, so viele Menschen aufzunehmen.
Wenn dies damals möglich war, sollte das
heute erst recht kein Problem sein, auch
wenn es heutzutage aufgrund von herkunftsbedingten mangelnden Sprachkenntnissen viel schwieriger ist, sich in
unsere Gesellschaft zu integrieren.
E

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