Das Nashorn spricht

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Das Nashorn spricht
Das Nashorn spricht
Drachen. Also Drachen gibt’s nicht. Wer kommt nur auf so eine Idee? Ich kenne mich ja in Fantasy
nicht besonders gut aus, aber wenn die immer so sind… Sprechen können sie angeblich auch, und
manche lesen sogar. L-e-s-e-n. Wer liest denn heutzutage noch? Ich lese natürlich die Zeitung, aber
denen kann man auch nichts glauben. Und was hat es schon genutzt mit den ganzen Drachen?
Napoleon ist auch gescheitert, Drachen hin – Drachen her. Er hat das Gift aus seiner Tapete
eingeatmet und ist gestorben. An der Tapete! Nicht im Kampf mit einem Drachen. So sieht die
Wirklichkeit aus.
Und dann dieses ganze Getue von wegen „Werden die afrikanischen Drachen Europa überrennen“.
Haben sie es etwa getan? Hat irgendjemand irgendwann jemals davon gehört, dass Europa von
Drachen überrannt wurde? Ich jedenfalls nicht, und das hätte bestimmt in der Zeitung gestanden.
Dann ist ja noch wahrscheinlicher, dass Europa von Nashörnern überrannt wird. Ha, das möchte
ich mal sehn. Nashörner jedenfalls noch eher als Drachen. Das schaffen die nie! Da müssten sich
schon die ganzen afrikanischen Drachen mit den Kaziliken und Wasserspeiern und Fleurs de Nuit
und wie die alle heißen verbünden und das geht schief. Die kommen nicht mal bis an die Grenze
von Spanien, nicht mal bis Gibraltar.
Also Iskierka, die ist nervig. Die geht astrein als hyperaktiv durch. Das sind genau die Leute, denen
man besser aus dem Weg geht. Nur Ärger. Aber Oblomov ist cool. Gut, er jammert bisschen viel. Ich
würde nicht so viel jammern, sondern schön den Mund halten und genießen. Der hat doch ein
Leben. Und unsereins? Ich würde mich auch lieber aufs Sofa legen, als hier meine Zeit zu
vergeuden und mich den ganzen Tag mit Verrückten rumzuschlagen. Jeden Tag die Tretmühle. Und
dann heißt es auch noch, „das Nashorn ist an allem schuld.“ Wenn ich ein Drache wäre, dann
könnten die was erleben. Die würde ich sowas von fertig machen… Feuer spucken und
ausräuchern. Ihr AMEISEN!
Die erste Jahreszeit: Chaos
Das fängt nicht gut an. Am Flughafen ist mir der kleine Koffer abhanden gekommen, der mit den
Unterhemden. Ich kann es nicht leiden, ohne Unterhemd herumzulaufen. Die waren ganz neu, extra
für die Reise gekauft. Jetzt sitze ich hier ohne ein einziges Unterhemd, sowas Blödes. Ich weiß auch
nicht, welcher Teufel mich geritten hat, hierher zu fahren. Es ist heiß, es ist laut und viel zu hell.
Wenigstens habe ich den Strohhut mitgenommen.
Mein Chef war gar nicht begeistert, als ich Urlaub genommen habe. „Wissen Sie, was Sie sich da
zumuten, altes Mädchen? Afrika ist nicht ungefährlich für ein allein reisendes Nashorn. Denken Sie
nur an die Krokodile.“ Nachdem er das gesagt hat, habe ich erst recht auf den Urlaub bestanden.
Ich kann es nicht ausstehn, wenn er mich so nennt.
Dass ich mal in Afrika landen würde –nie im Traum habe ich daran gedacht-, daran ist nur das
Klassentreffen schuld. Ich weiß nicht, wie die mich ausgegraben haben, aber als die Einladung
kam, dachte ich zuerst: Na gut, ich kann’s mir ja mal überlegen. Ich war noch nie auf einem
Klassentreffen. Ich meine, was soll ich dort mit all den gackernden Hühnern. Kein einziges
Nashorn weit und breit außer mir. Ich kann mich noch nicht einmal an die Namen der anderen
erinnern. Also stieg ich auf den Dachboden. Zuerst fielen mir die alten Hefte in die Hand. „Du
solltest etwas sorgfältiger schreiben“, „Die Schülerin stört zum wiederholten Mal durch lautes
Gelächter den Unterricht“ und „… setze ich Sie in Kenntnis, dass Ihre Tochter sich geweigert hat,
die aufgetragene Strafarbeit zu schreiben.“ Ach ja. Daran kann ich mich noch erinnern. Natürlich
habe ich mich geweigert, hundert Mal den Satz zu schreiben: „Ich darf den nassen Tafelschwamm
nicht über dem Kopf meiner Mitschülerin ausdrehen“. Diese „Mitschülerin“ war eine falsche
Schlange und außerdem war ich es gar nicht. Wenn sie mir das ausnahmsweise geglaubt haben,
dann konnten sie es natürlich nie zugeben. Nachdem ich mir die Klassenfotos angesehn hatte,
beschloss ich, den ganzen Krempel zu entsorgen. Von wegen „Betragen nicht immer ausreichend“,
weg damit, und nicht zum Klassentreffen zu gehn. Da war dann auch der Karton, hinten in der
Ecke.
Eigentlich wollte ich das ganze Zeug wegschmeißen, und dazu musste ich ja wohl den Deckel
abheben. Und als ich eben den Inhalt des alten Kartons in den Mülleimer leeren wollte, da habe ich
es gesehen, innen im Deckel. Ich bin fast in den Mülleimer gefallen. Das Papier stockfleckig, die
Tusche verlaufen, sieht ziemlich vergammelt aus. In meinem Kopf hat es Alarm geschrien. Muss
ziemlich bescheuert ausgesehen haben, wie ich da neben dem Mülleimer stand und einen
Schuhkarton-Deckel anstarrte. Egal. Die halten mich hier sowieso für verrückt. So schnell war ich
die Treppe noch nie hoch. Verdammt, wo ist die Brille schon wieder. Eine geschlagene Viertelstunde
habe ich das Ding gedreht und gewendet, Halogenlampe, Lupe. Dann habe ich im Buch
nachgesehn. Bis ich endlich die richtige Stelle gefunden hatte!
Ich fasse es immer noch nicht: Man kann gerade noch den Kopf eines Drachen erkennen. Es ist ein
weißer Drache mit roten Augen.
Mein Kopf drehte sich. Ich ließ das Telefon klingeln und fing nochmal von vorne an: Das
Wachstuch von Rissen durchzogen und die Wachsschicht an den Kanten abgerieben. Stimmt. Der
Karton selbst verbeult und von Feuchtigkeit aufgequollen. Stimmt. Aber angesichts des Alters des
Kartons war das nicht verwunderlich. Jeder Karton sieht nach einer gewissen Zeit so aus. Als
Beweis reicht das nicht aus. Doch was ist mit der Verletzung? Ein Loch im Deckel, an den Rändern
ausgefranst. Stimmt. Jemand hatte einen Gegenstand hineingestoßen und beim Rausziehen das
Wachstuch ausgerissen. Etwas wie ein Messer -oder ein Pfeil. Ich hab’s gewusst! Und das
Drachenbild, Liens Bild, das Emily innen in den Deckel geklebt hat.
Ich nahm mir den Inhalt vor. Briefe mit altmodischen Siegeln. Ein Heft, kindliche Handschrift mit
eingeklebten getrockneten Pflanzen, die Tinte teilweise verlaufen, Spuren von Regentropfen. Eine
getrocknete bräunliche Rose und ein leeres Schneckenhaus. Etwas in arabischer Schrift. Ein Plan
von einem Park mit einem Teich und einem künstlichen Bach. Der Aufriss von einem Pavillon. Noch
ein paar Papiere mehr. Eine alte bräunliche Fotografie, so eine Daguerreotypie, hab extra
gegoogelt. Von den Gesichtern kann man nicht viel erkennen. Ein Mann in Uniform, die langen
Haare zusammengebunden, er hat einen Degen in der Hand. Noch ein Mann in Uniform, der rechte
Uniformärmel ist hochgewickelt. Diese Art von Uniform kann ich nirgendwo im Internet finden. Ein
Mann mit einem Hut, etwas kleiner als die anderen beiden, zusammengestückelte Kleider, halb
europäisch, halb orientalisch. Und eine Frau neben ihm, groß, schlank, etwa Größe 38,
schulterlange lockige Haare.
Ich genehmigte mir erst einmal einen Drink und meldete mich in der Firma krank, ließ die Läden
herunter, stellte die Klingel ab und las die Briefe und die Aufzeichnungen. Wieder und immer
wieder. Dann breitete ich alles auf dem Tisch aus und rekapitulierte:
Drachen gibt es nicht. Also gibt es auch keinen alten pfeildurchbohrten Schuhkarton. Wenn es den
aber doch gibt, soll das umgekehrt bedeuten, dass es auch Drachen gibt?
Das spielt aber auch schon fast keine Rolle mehr. Mich interessiert jetzt nur noch eins: Woher kann
der, der das geschrieben hat, von diesem verdammten Schuhkarton wissen, wenn ich den doch habe.
Und ich habe mich erst an den Karton erinnert, als ich ihn wegschmeißen wollte. Wer zum Teufel ist
Er? Woher weiß er das alles? Wenn ich das Buch nicht gelesen hätte und alles wäre auf dem Müll
gelandet? Was dann? Am Ende gäbe es mich dann gar nicht.
Als ich so weit gekommen war, beschloss ich, den zu suchen, der sich das ausgedacht hat.
Hier bin ich also. Hirnrissige Idee. Ich vermisse meine Unterhemden.
Afrika also. Ich buchte eine Safari. Gelangweilte Löwen, hochmütige Giraffen, missmutige
Nashörner, die mich aus kleinen Augen böse anstarrten, mit dem Fuß im Boden scharrten und dann
davongaloppierten. Reisende, die Fotos schossen und sich über Großwildjagd unterhielten.
Ich schämte mich. Wie war ich nur auf die Idee gekommen, dass ich hier irgendetwas in Erfahrung
bringen könnte? Das Nashorn, das sie angreift, bevor Kefentse auftaucht, - selbst wenn es mir
gelänge, das Nashorn zu finden, was unwahrscheinlich ist, denn es müsste gut 200 Jahre alt sein,
selbst wenn es mir gelänge, mit ihm zu sprechen, in welcher Sprache auch immer, was sollte ich es
fragen? Hat Temeraire jemals existiert außer in einem Buch? Wo ist er? Und würde dem Nashorn
jemand glauben oder mir?
Temeraire lebt vielleicht noch. Er ist in China und erinnert sich mit Wehmut an Laurence. Lien ist
bei ihm, sie haben sich miteinander ausgesöhnt, und sie sind die einzigen, die sich an die
Vergangenheit erinnern. Das ist alles, was sie jetzt tun: Sie sitzen nebeneinander, zwei alte Drachen
mit fast durchsichtigen Schuppen, und sprechen über die Vergangenheit.
Es gibt keine Drachen. Wie man es dreht und wendet, es gibt doch gar keine Drachen. Außer im
Buch. Wenn ich nach Hause komme, nehme ich den Schuhkarton mit dem ganzen Krempel und
werfe ihn endgültig in den Müll. Na ja, wenigstens war ich mal in Afrika. Ich kam völlig entnervt
zu Hause an. Es regnete und war kalt, so wie der Sommer bei uns ist. Ich bezahlte das Taxi,
schleppte den Koffer die Treppe hoch, schloss die Tür auf und ließ mich noch im Mantel in den
Sessel fallen. Die Luft war abgestanden und stickig, das Korkenziehergewächs ließ seine gedrehten
Stängel hängen. Es brauchte Wasser. Ich musste auch unter die Dusche. Im Hotel war das Wasser
abgestellt, und ich war ungewaschen ins Flugzeug gestiegen. Unter dem Fernseher stand eine Kiste,
mitten in der Wohnung. Irgendwie war ich nicht sonderlich verwundert, obwohl nur noch der
Hausmeister einen Schlüssel zu meiner Wohnung hat. Außen auf der Kiste klebten eine Menge
Schilder, von Afrika, von Grönland, von Antibes, Odessa, Baku…. Die Kiste war richtig
zugepflastert damit. Aber nirgendwo stand mein Name und meine Adresse. Ich öffnete die Kiste:
meine Unterhemden. Meine in Afrika gestohlenen Unterhemden. Sie waren über Grönland zu mir
zurückgekommen. Ich nahm eine Dusche und zog eines der weitgereisten, zurückgekehrten
Unterhemden an. Es ist also noch nicht zu Ende, Clarissa, sagte ich laut zu der Kiste. Du wirst
weitersuchen.
Schon fühlte ich mich besser.
Am nächsten Tag musste ich wieder zur Arbeit. Mein Chef kam um 9:30 Uhr in mein Büro
gestürmt und legte sofort los, was noch alles zu tun wäre, als wenn ich nie weg gewesen wäre. Er
sah merkwürdig aus. Zum ersten Mal bemerkte ich, wie klein er wirklich war. Nicht größer als ich,
die ich auf meinem Stuhl vor dem Computer saß. Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder wie
ein Fisch, fast konnte ich die Luftblasen sehen, die herausplatzten. Er blubberte vor sich hin, die
linke Hand zwischen die Knöpfe seiner Lederjacke gesteckt und gab sich sichtlich Mühe, wie
Napoleon auszusehen. Es gelang ihm aber nicht. Während ich ihn fasziniert anstarrte, blühten die
hektischen roten Flecke in seinem Gesicht auf und ab. Er wechselte die Farbe wie ein Chamäleon.
Heute war er mit dem Motorrad gekommen, nicht mit seinem metallic-goldenen Cabrio. Den
Motorradhelm hatte er noch unter den Arm geklemmt. Ich fragte mich, wo er die Motorradkluft
gekauft hatte, wo man solche winzigen Hosen bekommen konnte. Plötzlich hielt er inne. Er musste
eine Frage gestellt haben. Da ich nicht mitbekommen hatte, worum es ging, sagte ich nichts. „Damit
wir nicht noch einmal Reklamationen von unseren Kunden bekommen“, fuhr er fort, „werden Sie
das zukünftig übernehmen. Hier ist grade alles schief gegangen, als Sie weg waren. Es ist mir
unverständlich, wie Sie so einfach in Urlaub gehen konnten. Sie hätten doch wissen müssen, dass
Ihre Kollegin nicht zurechtkommt. Man kann ihr das nicht zumuten.“ Nun hatte ich wieder den
Anschluss: „Aber Sie haben doch selbst meinen Urlaub genehmigt. Außerdem habe ich die Kollegin
gefragt, ob sie etwas dagegen hat. Hatte sie nicht.“ „Jetzt werden Sie nicht unverschämt. So geht
das nicht. Sie können nicht einfach Urlaub machen, wenn es Ihnen passt. Sie haben Glück gehabt
und sind eben noch rechtzeitig zurückgekommen. Ich werde nämlich die nächsten Tage nicht hier
sein, und Sie müssen sich allein um alles kümmern. Wenn es hier so weitergeht, werde ich Ihnen
auch dieses Jahr kein Weihnachtsgeld auszahlen können. Also sehen Sie zu, dass alles läuft, denn in
Chamonix können Sie mich nicht erreichen.“ Von Weihnachtsgeld war auch noch nie die Rede
gewesen. Besser, er ist weg, dachte ich.
Ich machte mich an die Arbeit. Mechanisch öffnete ich die Post, die seit meinem ersten Urlaubstag
liegen geblieben war. Aus einem Umschlag fiel ein kleiner roter Abschnitt. Eine Kinokarte zu einem
Film. Ich drehte den Umschlag um: „Frau Clarissa Nashorn persönlich“ stand darauf. Was sollte das
wieder bedeuten? Quer über die Karte, die entwertet war, hatte jemand mit grünem Filzstift
geschrieben: „I’ll be back.“ Warum schickte mir jemand eine abgelaufene Kino-Karte von Cinestar
zu einem alten Film. Ich drehte die Karte um. Der Film hieß „Terminator“. Irgendetwas in meinem
Kopf klingelte.
Das war ja wohl das Letzte. Ich hatte eben nochmal in dem Buch quergelesen, um sicherzugehen,
dass ich auch nichts übersehen hatte, und im letzten Kapitel, das kannte ich noch gar nicht, stieß ich
auf Kouheis Gedicht. Abgesehen davon, dass das Versmaß total daneben ist, ist es ein Schlag ins
Gesicht jeden Nashorns. Oblomov versucht in dem Kapitel ein Mensch zu sein und leugnet seine
Drachennatur, und Kouhei, der mir bisher immer sympathisch war, sagt von sich selbst, dass er sich
nur zu so etwas Minderwertigem wie ein Nashorn eignet. Langsam habe ich diese ständigen
Schmähungen satt. Wenn ich den, der das geschrieben hat, erwische, dann werde ich ihm zeigen,
wozu ein Nashorn fähig ist.
Ich schmiss das Buch in die Ecke und wollte mir eben zur Beruhigung einen Film anschauen,„Blow
up“, als es an der Tür klingelte. Wer sollte das sein? Ich habe zwar so ein Froschauge in der Tür,
alle Wohnungen haben eins, aber wegen dem Horn kann ich sowieso nicht durchgucken. Ich
öffnete. Vor der Tür stand das Mädchen, das in der Nachbarwohnung eingezogen ist.
Ich hatte Isa schon einmal gesehen, morgens, als ich zur Arbeit ging. Wie immer begegneten mir im
Hausflur die beiden Jungen. Sie streiten sich ununterbrochen, und ich weiß nicht, weshalb sie
befreundet sind, wenn sie sich so spinnefeind sind. Einmal hat der Busfahrer sie ganz nach hinten
ans andere Ende des Busses geschickt. „Geht auf die Rückbank“, fuhr er sie an. „Beinah wäre ich
wegen euch über die rote Ampel gefahren.“ Der eine Junge wohnt bei uns im Haus, aber ich
erkenne ihn meistens an seinem Freund, dem Rothaarigen, denn er hat ständig eine andere Frisur.
Augenblicklich trägt er einen Irokesenschnitt mit grünem Kamm. Davor hatte er Dreadlocks. Es
wird eine Zeitlang dauern, bis die Haare wieder nachgewachsen sind und er zu der
Titusköpfchen-Frisur zurückkehren kann, die er trug, als ich ihn zum ersten Mal sah. Damals sah
seine Mutter noch wesentlich glücklicher aus. Der andere, der Rothaarige mit der Brille, der
aussieht wie eine Primzahl, kommt jeden Morgen seinen Freund abholen. Er ist Klassensprecher,
das habe ich an der Bushaltestelle mitbekommen. Während er mit Irokese über „Ehre“ und „Moral“
diskutierte, hämmerte er wie wild auf seinem Smartphone herum. Er macht immer mehrere Sachen
gleichzeitig. Offensichtlich hatte er sein „letztes Kapitel verloren“. Was für ein Kapitel? Und wie
kann man ein Kapitel verlieren? Isa stieg die Treppe hoch, sie kam gerade nach Hause. Als sie auf
der selben Stufe war wie die Jungen fragte sie: „Wie spät ist es?“ Der Rothaarige warf einen Blick
auf sein Smartphone und antwortete: „Sechs Uhr siebenundzwanzig.“ Prompt sagte Irokese: „Das
ist falsch. Du hast englische Uhrzeit eingestellt. Moment.“ Er zog eine altmodische Taschenuhr, die
nicht zu seiner Frisur passte, aus seiner Jacke, „Es ist genau sieben Uhr achtundzwanzig. Und wir
müssen uns beeilen.“ „Oh.“, hauchte Isa, „So spät.“ Sie schlängelte sich an uns vorbei. Da ich hinter
den Jungen stehen geblieben war, ein paar Stufen höher, konnte ich Irokeses Taschenuhr genau
sehen. Auf dem Deckel war eine Abbildung des Gottes Kronos, wie er seine Kinder verschlingt.
Da stand sie nun also vor meiner Tür. Ich schätzte sie auf fünfzehn. Sie war wie immer ganz in
Schwarz, sehr weiß im Gesicht, die Haare auf der einen Seite lang, auf der anderen Seite abrasiert.
Aus irgendeinem Grund mochte ich sie. „Ich bin Isa“, sagte sie schüchtern und todernst, „Ich hole
meine Nähmaschine ab.“ Nähmaschine? Ich muss wohl etwas dämlich ausgesehen haben. „Sie
haben ein Paket für mich entgegengenommen. Ich hatte einen Zettel im Briefkasten.“ Ach so, das
Paket. Der ups-Bote hatte es mir im Flur aufgezwungen, weil die Nachbarin, also Isa, nicht zu
Hause war. Ich händigte ihr die Nähmaschine aus. Die Kiste war fast so groß wie sie selbst.
Eine Stunde später klingelte es erneut. Ich war nicht wirklich überrascht. „Das Garn hat sich um die
Spule gewickelt“, sagte Isa. „Ich hab alles rausgenommen, und jetzt kriege ich die Teile nicht mehr
zusammen. Kennen Sie sich mit Nähmaschinen aus?“ „Kennst du Terminator?“, fragte ich zurück.
Isa überlegte keine Sekunde: „Ich finde Alien besser.“
Wir teilten uns in meiner Küche das Rührei, das ich mir eben gemacht hatte. Als Isa die Kiste unter
dem Fernseher sah, fragte sie: „Was ist denn da drin?“ „Das sind bloß Unterhemden aus Afrika“,
antwortete ich. Die Nähmaschine brachten wir an diesem Abend nicht mehr zum Laufen.
Am Wochenende startete ich einen neuen Versuch, setzte mich an meinen Schreibtisch und nahm
mir nochmal das Buch vor. Irgendetwas musste ich übersehen haben. Ich war so total in die
Geschichte versunken, dass ich erst aufwachte, als es zu regnen anfing.
Zwei Dinge fielen mir auf. Das Kouhei-Gedicht, das mit dem schiefen Versmaß, in dem er
Nashörner verunglimpft, das kannte ich jetzt. Aber der Turm? Woher kam der Turm so plötzlich.
Wie konnte es sein, dass dieses Buch immer wieder Kapitel hatte, die ich noch nicht bemerkt hatte?
Ich war mir ganz sicher, dass ich in dem Buch noch nie etwas über diesen Turm gelesen hatte. Es
sah fast so aus, als hätte sich das Buch weitergeschrieben, während ich mit Isa versuchte, die
Nähmaschine zu reparieren und den verwickelten Faden aus der Spule herauszuziehen. Es war wie
mit der Nähmaschine: Die einzelnen Teile wollten sich einfach nicht zusammensetzen lassen,
obwohl klar war, dass das Ding laufen würde, wenn man alles richtig zusammensteckte. Ein
Alptraum! Ich hätte die Nähmaschine zurückgeschickt, wegen der Garantie, aber Isa wollte nicht.
Ein Turm mit Gürtel. Ich sah mir im Internet Bilder von Odessa an: Jede Menge Türme, aber keiner
mit etwas, was entfernt an einen Gürtel erinnerte. Na ja, dann eben nicht, dachte ich, der hat eine
ganz schön kranke Fantasie, der Typ, der das geschrieben hat. Vielleicht sollte ich mal bei Freud
nachlesen, was der zu magischen Türmen zu sagen hat. Dann fiel mir das Gedicht ein, das wir mal
in der Schule besprochen haben. Da ging es zwar nicht um einen Turm mit Gürtel, aber jemand
sagt, dass wir nicht sterben werden, weil wir mit Türmen gegürtet sind. Es war eine Widmung an
eine jüdische Schriftstellerin. Unser Deutschlehrer, Herr Flöting, war ein ziemlicher Langeweiler,
und er konnte auch nicht so recht erklären, was es mit dem Turmgürtel auf sich hatte. Jedenfalls
kann ich mich noch genau erinnern, weil ich in der Klassenarbeit eine schlechte Note kassierte.
Erstens: Das Buch hat ständig neue Abschnitte und irgendwie renne ich immer hinterher.
Zweitens: Temeraire erinnert sich an ein Gedicht aus meiner Schulzeit.
Und dann noch was: Die Unterhemden. Wie sind sie aus Afrika, wo sie mir abhanden kamen,
zurück in meine Wohnung gelangt. DHL war das jedenfalls nicht, es sei denn die hätten einen
Schlüssel zu meiner Wohnung. Auf dem Paket stand nicht einmal mein Name und meine Adresse.
Wie haben die Unterhemden zu mir zurückgefunden?
Ich nahm mir gerade Kouheis Gedicht wieder vor, als ein dicker Regentropfen auf das Blatt
klatschte, auf dem ich mir ein paar Notizen machte. Wieso Regen? In meiner Wohnung?? Ich hob
den Kopf und sah zur Zimmerdecke. Von den Rändern eines nassen Flecks zog sich das Wasser in
der Mitte zusammen und tropfte auf meinen Schreibtisch. Ich zog sofort den Netzstecker vom
Computer, stellte einen Eimer unter und klingelte bei dem Nachbarn über mir. Vielleicht war der
Schlauch von seiner Waschmaschine abgeplatzt, war mir auch schon passiert. Komisch, dachte ich.
Was ist nur los in letzter Zeit? Ständig werde ich in irgendwelche Sachen reingezogen, mit denen
ich gar nichts zu tun habe. Ich klingelte ein zweites Mal, und endlich wurde die Tür geöffnet.
Mein Nachbar war klatschnass und sein Gesicht war durch eine Art Taucherbrille halb verdeckt.
„Ja?“, sagte er. Jetzt schob er das Gerät auf die Stirn, setzte es aber nicht ab. Ich sagte:
„Entschuldigen Sie, wenn ich Sie störe. Ich bin Clarissa und wohne in der Wohnung untendrunter.
Bei mir tropft es.“ „Manno“, sagte er. „Schauen Sie sich das an.“ Er trat ein paar Schritte zurück,
und ließ mich eintreten. In dem großen Zimmer stand ein Schreibtisch mit einem PC und zwei
Monitoren, ein Kleiderschrank mit einer zertrümmerten Tür und ein Aquarium. Die Scheibe des
Aquariums war zerbrochen und das Wasser ausgelaufen, genau über meinem Schreibtisch. „Siehst
du mein Freund, ich brauche keinen Hammer.“, sagte mein Nachbar zum Aquarium und schüttelte
drohend seine Faust, die an den Knöcheln von Blutergüssen blau verfärbt war. „Was ist mit den
Fischen?“ Er sah mich erstaunt an. „Da sind keine Fische drin. Es soll was rein, ich weiß noch nicht
genau, was. Aber bestimmt keine Fische.“ „Warum haben Sie das Aquarium kaputt geschlagen?“
„Vermutlich, weil ich wütend war?“ „Sie waren wütend auf das Aquarium?“ „Nicht direkt. Ich
meine, ich war nicht wütend auf das Aquarium, das nicht.“ „Worauf denn dann?“ „Keine Ahnung.
So allgemein.“ Ach so, der große böse schwarze Zorn. Dann war es unumgänglich gewesen, auch
wenn nicht ein Aquarium, das ausgerechnet genau über meinem Schreibtisch stand, hätte dran
glauben müssen.
Einige Zeit später saß ich endlich wieder an meinem Schreibtisch. Die Notizen hatte ich wegwerfen
müssen. Ich verfluchte mich für meine Manie, mit Füller zu schreiben, aber die Tinte war ganz
zerlaufen und man konnte nichts mehr lesen. Es klingelte. O Mann, was war nur los, ständig stand
jemand vor meiner Tür. Es war nicht Isa, sondern mein Nachbar. Er hatte sich ein trockenes T-Shirt
angezogen, aber seine Haare waren noch nass und er trug noch immer das Gerät auf der Stirn, das
aussah wie eine elektronische Taucherbrille. „Ich dachte, ich könnte mir mal den Wasserschaden
ansehn“, sagte er ohne Umschweife. Eine Ausrede, ganz klar. „Na gut“, sagte ich, „komm rein.“ Als
erstes marschierte er zielstrebig zu meinem Computer und sah sich alles genau an. Dabei murmelte
er etwas in den Bart, was ich aber ignorierte. „Was machst du da?“, frage er. Den Wasserschaden
schien er vergessen zu haben. Ich erklärte ihm, dass ich mir Notizen zu einem Buch gemacht hatte,
das ich gerade las. „Ist es das hier?“ Er griff nach dem Buch, das neben dem Computer lag und
schlug es auf. „Das Drachenbuch kenn ich. Ich habe nur anscheinend eine andere Ausgabe. Das
Cover ist anders. Das ist doch mit dieser, wie heißt sie noch, Iskierka, genau. Die immer so zornig
ist und alles um sich herum verbrennt. Warum machst du dir dazu Notizen?“ „Ein paar Sachen
scheinen mir unlogisch. Eigentlich will ich Näheres über den Autor erfahren.“ „Von wem ist es
noch?“ „Das weiß ich nicht, darum geht es ja.“ „Wir könnten doch im Internet recherchieren. Im
Internet findet man alles.“, schlug er vor.
Es klingelte. Diesmal waren es Irokese und sein Freund. Beide trugen Klemmbretter vor der Brust
und waren mit Kugelschreibern ausgerüstet. „Hallo. Wir machen eine Umfrage für die Schule.
Dürfen wir Sie befragen?“ Ergeben sagte ich: „Kommt rein.“ Mein Nachbar las in dem
Drachenbuch und schaute nur kurz auf. „Worum geht es in der Umfrage?“ „Es geht um Ehre“, sagte
Irokese. „Es geht um Moral“, sagte sein Freund gleichzeitig. Die beiden wechselten einen
aufgebrachten Blick. Um einer erneuten Diskussion zwischen den Jungen zu entgehen, von der ich
vermutlich kein Wort verstehen würde, weil es die 275. Fortsetzung ihres ewigen Streitgesprächs
war, sagte ich schnell: „Für welches Fach ist es denn?“ „Geschichte“ - „Sozialkunde“, sagten
Irokese und Freund gleichzeitig. „Egal. Dann fangt mal an.“ Freund schaute auf sein Blatt. „Wie alt
sind Sie?“ Diesmal wechselten sie einen einverständlichen Blick. „Wieso? Ist das wichtig“, sagte
ich beleidigt, da mir der Blick nicht entgangen war. Irokese machte ein Kreuz auf seinem
Fragebogen. „Na gut. „Zwischen 20 und 80„. Das brauchen wir für unsere Statistik.“, fügte er
erklärend hinzu. „Wen habt ihr denn schon alles befragt?“ „Bisher noch niemand. Sie sind die
erste.“, antwortete Irokese. Ich sah voraus, dass die Statistik ein wenig einseitig ausfallen würde. An
Freund gewandt sagte er: „Ich hab's dir gesagt.“ „Können wir weitermachen“, sagte Freund genervt,
ohne Irokeses Blick zurückzugeben. „Welches Verkehrsmittel benutzen Sie überwiegend? Sie haben
die Auswahl zwischen Auto, Bus, Schiff. Gehen Sie zu Fuß?“ Ich sah ihn fragend an. Wir trafen uns
jeden Morgen im Bus, eigentlich müsste er es wissen. „Ich mache ein Kreuz bei „Bus“, kam Irokese
mir zuvor. „Wir müssen das fragen.“, sagte Freund. „Für die Statistik. Sonst ist die Befragung
ungültig.“
Als wir soweit gekommen waren, klingelte es. Diesmal war es Isa, die an ihrer Nähmaschine
basteln wollte. Damit sie das Ding nicht immer hin- und herschleppen musste, wenn sie zu mir kam,
hatte sie es bei mir stehen lassen. Es endete so, dass alle zusammen auf dem Boden saßen, an der
Nähmaschine herumschraubten, aber ohne sich viel Mühe zu geben. Irokese, der in Wirklichkeit
„Kronos“ hieß und Freund „Saphir“ stritten sich dabei wie üblich. Es hatte sich nämlich
herausgestellt, dass sie das Drachenbuch auch gelesen hatten. Jedenfalls behaupteten sie das. Saphir
schwor Stein und Bein, dass ein Drache vorkam, der so ähnlich hieß wie eine FBI-Agentin in einer
Mystery-Fernsehserie. Kronos, der anscheinend Griechisch konnte, erzählte die ganze Zeit von
einem Zeus-Drachen und „bewies“ dessen Existenz, indem er die Genealogie sämtlicher
griechischen Götter aufdröselte. Vom Zeus-Drachen wiederum hatte Saphir noch nie was gehört.
Ich ebenfalls nicht. Aber von dem FBI-Eisspucker auch nicht. Mein Nachbar Fishy bearbeitete
währenddessen eine Schraube und versuchte sie mit Gewalt in die Nähmaschine einzufügen. „Du
erinnerst mich auch an einen Drachen aus diesem Buch“, sagte er zu Isa. Die Schraube brach ab.
„Kein Wunder, dass wir das Ding nicht zusammenbekommen. Die Schraube passt überhaupt nicht.“
„Vielleicht nicht an dieser Stelle?“, schlug Isa vor. Fishy legte die Schraube beiseite und schaute Isa
tief in die Augen. „Willst du mal mein Aquarium sehen?“ Ungläubig starrte ich Fishy an, was sollte
das wieder heißen? Das Aquarium war kaputt, ganz davon abgesehen, dass nichts drin war. Aber das
konnte Isa natürlich nicht wissen. Sollte sie vielleicht in dem Aquarium baden? „Von mir aus. Aber
erst will ich die Nähmaschine reparieren.“, antwortete Isa.
Das Telefon klingelte. Unfassbar. Was war nur los? Seit die Unterhemden von alleine zu mir
zurückgefunden hatten, hatte es eine Überschwemmung gegeben und meine Wohnung wurde von
Leuten belagert, die eine Nähmaschine kaputt machten, sich dabei stritten und sich gegenseitig
anboten in einem fischfreien Aquarium zu baden. Allerdings musste ich zugeben, dass Fische beim
Baden nur gestört hätten. Ich nahm den Hörer ab und sofort brüllte jemand am anderen Ende:
„Weißt du, wo mein Hammer hingekommen ist?“ „Hallo Schatzi“, antwortete ich. „Nett, dass du
anrufst.“ Meine Kollegin Schatzi. trug ihren Hammer immer in ihrer Handtasche bei sich, und
benutzte ihn für alle möglichen und unmöglichen Verrichtungen. Nicht zuletzt wegen des Hammers
hatte jeder ohne Ausnahme einen Heidenrespekt vor ihr. Selbst der Chef. „Moment mal.“, rief ich in
den Hörer. Saphir und Kronos stritten sich lautstark, irgendwas mit „Wirklichkeit und
Wahrnehmung“ und Fishy schrie dazwischen: „Clarissa, hast du mal einen Hammer für mich? Für
die Schraube.“ Ich hielt die Hand über den Hörer und rief: „Könnt ihr mal leise sein? Ich
telefoniere.“ Niemand beachtete mich. Fishy hatte den Stecker der Nähmaschine eingesteckt und
gab mit dem Fuß Vollgas. „Ich mache grade den Führerschein“, sagte er zu Isa. Die Nähmaschine
brach in lautes Rattern aus, aber die Nähnadel bewegte sich nicht. Am Telefon rief Schatzi:
„Clarissa, geh sofort dran. Los! Ich werd sonst stinksauer.“ Ich gab es auf. „Schatzi? Ich hab grade
Besuch. Den Hammer hab ich.“ Schatzi explodierte. „Wie kommst du dazu, meinen Hammer
mitzunehmen? Das ist doch wohl das letzte.“ „Du hast doch selbst gesagt, ich soll ihn sauber
machen. Wegen der Spinne.“ Schatzi hatte im Büro eine Spinne mit dem Hammer erschlagen. Die
Stelle konnte man noch an der Delle in der Wand sehen. Es gab viele dieser Dellen an der
Bürowand, auf dem Schreibtisch und auf der Tür, wo sie den Hammer nach einem Kollegen
geworfen hatte, der aber noch rechtzeitig die Tür zuziehen konnte. Nach der Spinnenbeseitigung
ließ sie den Hammer auf den Boden fallen und weigerte sich, ihn anzufassen, bevor ich ihn sauber
gemacht hatte. Sie ekelte sich so sehr vor der Spinne, dass sie ihr Tira Misu nicht weiteressen
konnte. Jedenfalls nahm ich den Hammer mit in mein Büro und wurde vom Chef erwischt, weshalb
ich den Hammer in meiner Tasche verschwinden ließ. „Ich bring ihn morgen mit“, sagte ich in den
Hörer. „Morgen ist Samstag. Ich hole ihn ab. Jetzt sofort.“ Schatzi legte auf.
Zehn Minuten später war sie da. Ich ließ unauffällig das gerahmte Portrait meines Großvaters
mütterlicherseits, das auf der Sidebar stand, in der Schublade verschwinden und händigte ihr den
Hammer aus. Mein Großvater Klemenz hatte als Kundschafter im Dienst des
Oberkommandierenden Alexander Wissarionowitsch Komarow am Transkapanien-Feldzug
teilgenommen und dabei sein Horn verloren. Ich habe ihn nie kennen gelernt und infolgedessen nie
gesehen, aber er musste nicht unbedingt unter Schatzis entgleistem Hammer enden. Sobald Schatzi
den Hammer in ihrer Handtasche verstaut und die Tasche irgendwo in die Ecke geknallt hatte,
wurde sie ruhig und setzte sich zu den anderen.
Es war schon weit nach zehn Uhr, als es klingelte. Vor der Tür stand ein ziemlich großer Polizist in
Uniform. „N‘Abend, Mam“, sagte er höflich. Das musste er sich aus einem amerikanischen Film
abgeschaut haben, „Zeugin der Anklage“ oder so etwas. „Wir wurden angerufen, ein Herr…“ Er
stockte. „Ach nein, den Namen darf ich nicht sagen, das tut nichts zur Sache. Aber ich kenne ihn,
und kann Ihnen versichern, dass ich ihn für sehr gutmütig halte. Den kann nichts aus der Ruhe
bringen. Aber genau das ist passiert. Es ist zu laut. Was treiben Sie da drin?“ Er spähte über meinem
Kopf um die Ecke. Schatzi versuchte seit geraumer Zeit, uns Steptanz beizubringen. Fishy hatte
allerdings sofort abgelehnt mit der Begründung, er müsse zuerst etwas trinken, bevor er sich auf
Steptanz einlassen könne, er wäre jetzt zu verkrampft. Ich hatte mich mit Fishy in die Küche
verdrückt, angeblich um nachzusehen, ob etwas Trinkbares im Kühlschrank wäre. Dabei wusste ich
ganz genau, dass es nur Kefir gab, den Fishy ganz bestimmt nicht wollte. Es hatte aber nichts
genutzt, denn als der Polizist klingelte, hüpfte ich eben mit Schatzi in meinem Wohnzimmer herum.
Kronos und Saphir machten anfangs auch mit, und sie waren ausnahmsweise synchron, aber
nachdem Kronos im Eifer des Gefechts zu weit mit dem Arm ausgeholt, -er sollte sich in erster
Linie auf seine Füße konzentrieren- und versehentlich Saphir niedergeschlagen hatte, gaben die
beiden auf und fingen wieder an zu streiten. Jetzt tanzten Schatzi und Isa und die anderen feuerten
sie an. Schatzi trug Steptanzschuhe, denn sie war auf dem Weg zu ihrem Tanzkurs gewesen, als sie
bei mir den Hammer abholte. Ihr Tanzpartner wartete heute vergeblich auf sie. Der Polizist hatte
recht, es verursachte einen Heidenlärm auf dem Parkett, wenn Schatzi graziös und nachdrücklich
ihre Füße in den Boden stampfte. Das gab bestimmt ähnliche Abdrücke wie die Hammerspuren, die
sie überall hinterließ. Aber Isas genagelte Springerstiefel klackerten auch nicht eben leise auf dem
Parkett. Eingeschüchtert sagte ich zu dem Polizisten: „Ich habe Parkett in meiner Wohnung. Das ist
ein wenig heikel, wie Sie sich denken können. Es vibriert bei der geringsten Bewegung. Wohnt der
Herr, der die Polizei angerufen hat, unter mir?“ „Bleiben Sie beim Thema“, sagte er barsch. „Das tut
nichts zur Sache. Ich muss mir das leider mit eigenen Augen ansehen.“ Mit zwei Schritten war er
um mich herum und stand in meinem Wohnzimmer.
Schatzi und Isa erstarrten mitten in der Bewegung. „Offenes Feuer in der Wohnung ist gefährlich.“,
sagte er in die entstandene Stille hinein. Alle Anwesenden drehten die Köpfe und schauten sich in
meiner Wohnung um. Wo war da ein offenes Feuer? Schatzi ließ mit einem lauten Knall ihren Fuß
fallen, sodass sie wieder mit zwei netzbestrumpften, miniberockten Beinen auf dem Boden stand.
„Was zum…“, sagte sie leise und drohend. „Löschen Sie dieses Feuer“, sagte der große Polizist und
wies mit einem ausgestreckten Finger auf das Stövchen unter meinem Mate-Tee. Den hatte ich ganz
vergessen. Gehorsam blies Fishy die Teekerze aus. Er musterte die Uniform des Polizisten. „Sind
Sie Polizist oder Feuerwehrmann“, fragte er vorsichtig. „Ich bin Polizist“, antwortete der Polizist.
„Ach so. Dann bin ich beruhigt“, sagte Fishy. „…und Feuerwehrmann.“, fuhr der Polizist fort.
Saphir und Kronos fingen leise zu streiten an, ob es sich bei der Uniform des Polizisten um eine
Polizisten-, eine Feuerwehr- oder eine gemischte Uniform handelte. „Ist das nicht ein bisschen
viel?“, fragte Fishy erstaunt. „Ja, das stimmt“, sagte der Polizist traurig. „Jedes Wochenende gibt es
eine andere Übung oder ein Fest, wo ich die Tuba spielen muss. Ich arbeite am liebsten nachts, aber
da kann man schlecht mit den Rettungsschwimmhunden trainieren, und regelmäßig trainieren muss
man mit ihnen, sonst laufen sie aus dem Ruder. Das ist alles ziemlich schwierig, wenn man Taxi
fährt.“ „Taxi fahren Sie auch?“, fragte Fishy. Der Polizist erinnerte sich wieder, weshalb er hier war.
„Das tut jetzt nichts zur Sache und gehört nicht zum Thema.“, sagte er in wieder geschäftsmäßigem
Tonfall. „Ich nehme jetzt Ihre Personalien auf.“ Er zückte einen Block und einen Bleistift und
wandte sich an Kronos. „Wie alt sind Sie?“ Verlegen antwortete Kronos: „Ich weiß es nicht genau.“
„Was soll das heißen? Sie wissen nicht, wie alt Sie sind?“ „Es ist ein wenig peinlich“, sagte Kronos,
„ich bin am 29. Februar geboren. Genau genommen werde ich also nur alle vier Jahre um ein Jahr
älter.“ „Kommen Sie zum Thema. Wie alt sind Sie?“ „Vier Jahre“, antwortete Kronos.
Email: Clarissa an Jside:
Sehr geehrter Jside,
ich habe ein Problem mit meinem Computer, können Sie mir helfen? Leider konnte ich Sie trotz
mehrmaliger Versuche telefonisch nicht erreichen.
MfG
Clarissa
Email : Jside an Clarissa:
ich telefoniere nicht schreiben Sie mir eine email
Email: Clarissa an Jside
Hi Jside,
folgendes Problem: Jedes Mal, wenn ich ins Internet gehe, erscheint ein schwarzer Balken quer über
dem Bildschirm, und es steht in riesengroßen Buchstaben da: termin - tor. Ist das vlt ein Virus, ein
Wurm oder ein trojanisches Pferd?
MfG
Clarissa
Email : Jside an Clarissa:
das ist windows liegt nicht an mir
Email: Clarissa an Jside
Aber was soll ich denn jetzt machen, Jside?
Email : Jside an Clarissa:
technischer service aber die koennen dir nicht helfen
Email Clarissa an Jside
Vlt kannst du mir sagen, was ich machen kann.
Email: Jside an Clarissa
du kannst da auch nichts machen
Email Clarissa an Jside
Soll das heißen, ich muss mir einen neuen Computer kaufen?
Email: Jside an Clarissa:
am besten mit linux da hast du das problem nicht
Email Clarissa an Jside
Aber ich kann mir doch jetzt keinen neuen Computer kaufen!
Email: Jside an Clarissa:
ich habe das in 5 min erledigt komme vorbei
Email Clarissa an Jside
Danke, Jside. Wann wäre das so ungefähr?
Email: Jside an Clarissa:
jetzt nicht spaeter
Email Clarissa an Jside
Vlt kannst du mir ungefähr sagen? Damit ich mich richten kann…
Email: Jside an Clarissa:
ich weiß nicht ich programmiere
Email Clarissa an Jside
Ich verstehe… Dann bis später.
Eine Woche später hämmerte Jside mit zwei Fingern konzentriert und rasend schnell auf meiner
Tastatur herum, während Isa und ich ihm zuschauten. Es war schon ziemlich spät am Abend und Isa
wollte gerade nach Hause gehen, als er bei mir klingelte. Trotzdem es recht kühl geworden war, ich
hatte zum ersten Mal die Heizung angestellt, trug er nur ein kurzärmeliges T-Shirt. Die langen
schwarzen Haare waren zusammengebunden und er roch heftig nach Axe. Offensichtlich war er
eben erst aufgestanden.
Als er eine Weile auf die Tastatur gehämmert hatte, sagte er ohne aufzusehen: „Nimm mal die
Schnecke da weg, die stoert.“ Das Drachenbuch lag aufgeschlagen auf meinem Computertisch, und
da war ein kleines Schneckenhaus, das in allen Farben schillerte. Wie wir später erfuhren, handelte
es sich um eine Cochlea iris curaris. Vorsichtig legte ich sie auf die Fensterbank.
„Der rechner wurde gehackt.“, sagte Jside. Isa und ich sahen uns betreten an. „Und der angriff
erfolgte von einem meiner surver. Das ist merkwuerdig, das passiert normalerweise nur, wenn ich
angriffe mache.“ Er sah nicht auf, während er weiterhämmerte. „Ich logge mich mal per ess ess
aitch ueber ein terminal auf dem surver ein und ueberpruefe die slash var slash log slash auth dot
log. Wenn dort irgendwo ein authorization missmatch besteht, dann hat sich wohl jemand bei mir
auf dem surver eingeloggt. Das sollte nicht der fall sein, weil ich public key authorization benutze.“
Jside widmete sich dem PC.
„Vielleicht ist es eine Botschaft an dich.“, sagte Isa zu mir. „'Termin‘ ist klar, aber 'Tor‘?“
„Von mir ist die botschaft aber nicht“, antwortete Jside. „Mit 'tor‘ kann man tee cee pee aye pee
verbindungen über beliebige andere hosts umleiten und anonymisieren.“
„Mist. Dann werden wir das wohl nicht rauskriegen.“, sagte Isa.
„Zu 'Tor‘ fällt mir nur Fußball ein“, sagte ich.
„Mit fu[ss]ball will ich nichts zu tun haben“, sagte Jside knurrig.
„Und es heißt auch noch „Dummkopf.“, fuhr ich nachdenklich fort. Als ich das gesagt hatte, zuckte
ich innerlich zusammen, aber Jside schien nicht zugehört zu haben. Trotzdem sagte ich: „Nicht du,
Jside.“
Jside antwortete: „In der grafikkarte gab es am framebuffer an einer dual port memory address ein
memory hole. Das hat den balken verursacht. Am besten, ich bau dir eine neue grafikkarte ein.“ Er
hämmerte weiter.
„Es gibt einen Film, der heißt 'Thor‘. Der soll gut sein.“, sagte Isa. „Ich weiß aber nicht, ob der noch
läuft. Komm, wir gehn ins Kino.“
Da meldete sich Jside wieder zu Wort: „Ich wei[ss] zwar nicht, wie ich das hingekriegt habe, aber
jetzt ist die schrift weg.“
Der Film „Thor“ lief nur noch im Art-in-Fact, einem winzigen Kino in einem Hinterhof. Vorne gab
es ein Café, wo man im Sommer draußen sitzen konnte. Aber da es hauptsächlich von alternativen
Intellektuellen besucht wurde, Psychologen, Sozialpädagogen, Schullehrern, hatte ich es immer
boykottiert. Außerdem konnte ich den Namen, 'Café Pretenzioso‘ nicht ausstehen.
Das Kino bestand aus einem kleinen Raum mit sieben Reihen roter Plüschsessel und einer Theke
auf der linken Seite. Die Besitzerin des Kinos hieß Artifexia und trug eine ziemlich auffällige
knielange Bluse, über die regenbogenfarbene Spiralen liefen, und um den Hals einen Ammoniten an
einem Lederband. Sie saß hinter der Empfangstheke, auf der ein paar Popkorn-Tüten und
Lakritz-Schnecken lagen und ein Teller mit Zuckerschneckenteilchen stand. Auf einem kleinen
Tischchen stand ein abgedecktes Terrarium mit Grünzeug. Zwei Schnecken waren eben in Begriff,
die Wände des Terrariums hochzukriechen und hinterließen dabei eine silberne Schleimspur.
Artifexia war Künstlerin und die Schnecke schien ihr Wahrzeichen zu sein, denn auch das
lebensgroße Bild von Loki, das an die Wand hinter der Theke gemalt war, war mit einer kleinen
Schnecke signiert. Im Halbdunkel des Kinosaals sah es so aus, als stünde Loki hinter Artifexia,
beuge sich über sie und könne jeden Moment mit seinem süßen Lächeln aus der Wand heraustreten.
Nachdem wir Eintrittskarten gekauft hatten, zog ich das Schneckenhaus, das ich auf dem
Drachenbuch gefunden hatte, aus meiner Handtasche. Bevor wir ins Kino gingen, hatte ich es
spontan eingesteckt. Irgendwie dachte ich, dass ich es als Glücksbringer benutzen könnte. „Das ist
eine Cochlea iris curaris“, sagte Artifexia. „Diese Art ist seit cirka 1820 ausgestorben. Woher ist
das?“ „Ich habe es auf dem Drachenbuch gefunden, auf dem Kapitel, das „Schnecken“ heißt, wo
Laurence und Tharkay Rose Shannon kennen lernen. Wie es da hingekommen ist, weiß ich nicht.“
„Rose Shannon? Das ist ja witzig“, sagte Artifexia überrascht. „Schauen Sie mal.“ Sie schaltete das
Licht im Kinosaal ein, und da, neben der Leinwand war das Bild eines regenwolkenblauen Drachen,
alles an ihm war rundlich und zu seinen Füßen flatterten drei aufgescheuchte Hühner. Jetzt war ich
an der Reihe, überrascht zu sein. „Kouhei! Sie kennen das Drachenbuch.“ Artifexia zog eine Mappe
unter der Theke hervor mit Bildern aller Drachen, die in dem Buch vorkamen. Da waren Temeraire,
Iskierka, Caesar, Kulingile und viele andere. „Diesen Drachen kenne ich aber nicht“, sagte ich und
zeigte auf das Bild eines kleinen, frisch geschlüpften Drachen, der in den Armen eines Mannes mit
blauem Rock und Goldknöpfen lag. „Sie kennen Skalli nicht?“ Skalli der FBI-Eisspucker? Das war
doch der Drache, von dem Saphir gesprochen hatte, den weder ich noch Kronos kannten. Und
Artifexia hatte ein Bild von Skalli. Das war alles ziemlich mysteriös, ich musste das bald mal
auseinandersortieren.
Es gab ein kratzendes Geräusch an der Tür. Artifexia öffnete und herein trat nicht etwa ein weiterer
Gast, Isa und ich waren anscheinend die einzigen, die den Film sehen wollten, sondern ein großer
freundlicher Hund. Er hatte spitze flauschige Ohren, die er waagerecht heruntergeklappt trug, ein
rötlich-glattes Kurzhaarfell und eine etwas gedrungene Figur. Ernst und würdevoll schritt er zur
Theke, wo die Zuckerschnecken standen, und bellte einmal kurz, worauf Artifexia ihm ein
Stückchen reichte, das er gemächlich verspeiste. Die anderen Teilchen verteilte sie unter uns, und
dann schauten wir uns den Film an. Auch Artifexia setzte sich zu uns, und der Hund zu ihren Füßen
steuerte Kommentare in Form von drohendem Knurren oder leisem Bellen bei. Als der Film vorbei
war, rannte Artifexia zum Filmprojektor und ließ Lokis süßes Lächeln auf der Leinwand einfrieren,
während wir uns noch eine Weile über Loki und das Drachenbuch unterhielten.
Die zweite Jahreszeit: Bürokratie
Aufforderung zur Erbringung und Feststellung eines Existenznachweises
Einwohneran-, ab- und ummeldeamt
Herr Jackson
Zimmer 17
29.09. 16:30 Uhr
Guten Tag Frau Nashorn
Bei der Revision der anlässlich der Volkszählung 2012 erhobenen Personendaten und beim
Abgleich derselben mit den in unserem Personen- und Einwohnerregister bestehenden Einträge sind
Sie als Nicht-existente-Person (1) aus unserer Datenbank gefallen. Da in keinem unserer
flächendeckend dokumentierenden Personenregister ein Eintrag unter dem Namen „Clarissa
Nashorn“ aufzufinden ist, fordern wir Sie auf, den Nachweis zu erbringen, dass Sie existieren.
Als Nachweis gelten und sind folgende Dokumente vorzulegen:
Primärnachweis
Geburtsurkunde
Schulzeugnisse (Notendurchschnitt mindestens 2,0)
Urkunde über die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels o.Ä.
ggf. beglaubigter Auszug aus dem amtlichen Sterberegister
Sekundärnachweis
Ehemann/-frau (Nichtzutreffendes bitte streichen)
Auszug aus dem Flensburger Verkehrszentralregister
polizeiliches Führungszeugnis
Rechtshelfsbelehrung: Bei Versäumnis des Termins ohne Angabe eines triftigen Grundes wird
ein Bußgeld erhoben und es erfolgt ein Eintrag ins Strafregister (§ 3a Abs 5
Verdunkelungsgefahr)
Dieses Dokument wurde vom Computer eigenmächtig erstellt und benötigt aus diesem Grund keine
Unterschrift.
gez. Jackson
(1) Nicht-existente-Person: Person, zu der in unserer Datenbank keine Datensätze vorliegen
Was war das jetzt wieder? Mann. Die haben keine Unterlagen von mir, und deshalb soll ich nicht
existieren? Was weiß ich, warum die keine Unterlagen von mir haben. Die Datenbank von denen ist
garantiert inkompatibel mit allem, was es gibt. Oder jemand, der zu blöd ist, den Computer zu
bedienen, hat mich einfach gelöscht. Wie in diesem Film „Brazil“, wo ein Käfer in den Drucker fällt
und wegen eines Druckfehlers das Leben des falschen zerstört wird. Wobei ich wohl kaum auf eine
„Informationswiedergutmachungszahlung“ hoffen kann. Ich bin doch hier, verdammt, alle können
mich sehen: Isa, Schatzi, Kronos und Saphir, Artifexia. Der große traurige Polizist hat mich auch
gesehen, und er hat mich gefunden, als sich dieser Typ über den Krach in meiner Wohnung
beschwert hat, der Denunziant. Genau. Der kann meine Existenz ebenfalls bezeugen. Na ja,
allerdings müsste ich dann erst mal wissen, wer er ist… Ich sollte einfach Fishy als meinen
Ehemann ausgeben, dann müssten sie mir glauben. Lächerlich. Als ob das der Beweis wäre.
Es war ziemlich dunkel in den Fluren des An-, Ab- und Ummeldeamtes, als ich Zimmer 17
zustrebte, um Herrn Jackson von meiner Existenz zu überzeugen. Ein Mann schob eine
Bohnermaschine über das Linoleum, er kam nicht vom Fleck und beachtete mich auch nicht. Auf
einem der harten Holzstühle, die an den Flurwänden aufgereiht waren, schlief jemand im Sitzen mit
einer gelben Wartenummer in der Hand. Die elektronische Anzeige an der Decke, wo die
Wartenummern aufgerufen wurden, stand auf 1814. Ob in einem der Büros der Sachbearbeiter
vergeblich auf 1814 wartete und ebenfalls eingeschlafen war?
Unter der Tür von Herrn Jacksons Büro fiel Licht auf den Flur. Ich klopfte energisch, und als ich
keine Antwort bekam, trat ich trotzdem ein. Ich hatte schließlich einen Termin. Hinter dem
Schreibtisch setzte Herr Jackson den Deckel auf einen Schuhkarton mit Retro Boots Größe 41. Er
war etwa in Fishys Alter und sah in diesem Moment ähnlich weggetreten aus, so als würde er aus
einem schönen Traum gerissen, den er lieber weiterträumen würde.
„Ich mache Mittagspause“, sagte er.
„Es ist 16:30 Uhr.“
„So spät? Dann habe ich Feierabend.“
„Mein Name ist Nashorn, ich habe einen Termin bei Ihnen.“
„Nashorn wie N? Da ist meine Kollegin zuständig, aber die ist noch vierzehn Tage krank. Lassen
Sie sich einen neuen Termin geben und kommen Sie dann wieder. Oder warten Sie. Wir haben hier
so eine neue Software, sehr praktisch. Da kann man den Kollegen Termine eintragen. Wenn man
weiß, wie es geht.“ Er schaute in den Computer. „Ich terminiere das mal für Sie.“
„Ich soll aber zu Ihnen kommen“, sagte ich und zeigte ihm die Vorladung. Ich wollte das sofort
erledigen und nicht erst in drei Wochen.
Er sah wieder auf den Bildschirm. „Tatsächlich. Der Termin ist bei mir eingetragen. Da war der
Computer mal wieder intelligenter als meine Kollegen. Die können nämlich mit dem neuen
Programm nicht umgehn. Aber korrekt ist es trotzdem nicht. Ich bin zuständig für den Buchstaben
X.“
Ich überzeugte Herrn Jackson, dass es schneller ginge, wenn wir die Sache jetzt sofort erledigten,
bevor ich mich bei seinem Chef beschwerte.
„Dann aber schnell, ich möchte nicht unnötig Überstunden machen. Man hat schließlich noch ein
anderes Leben. Wie heißen Sie?“
„Das sagte ich bereits: Nashorn. Clarissa Nashorn.“
„Buchstabieren Sie bitte“. Augenrollend gehorchte ich ihm. Ich wollte die Sache möglichst schnell
hinter mich bringen.
„Geburtsdatum?“
„Ehrlich gesagt: Ich kann mich nicht erinnern.“
„Dann anders herum: Wie alt sind Sie?“
„Unbekannt.“ Selbst wenn ich mein Alter wüsste, ich würde es ihm nicht verraten. Wie alt ich war,
ging ihn wirklich nichts an.
„Wenn Sie es nicht genau sagen können, trage ich ein: 'zwischen 20 und 80' - Wo sind Sie
geboren?“
„Auch diese Frage kann ich nicht beantworten.“
Ich versuchte mich an meine Kindheit zu erinnern, aber das einzige, was mir einfiel, waren Szenen
aus meiner Schulzeit, ein paar Lehrer, die ich lieber vergessen wollte. Es waren nur einzelne kurze
Szenen, und ich war mir nicht sicher, ob ich sie irgendwo gelesen hatte oder ob sie wirklich zu
meinem Leben gehörten. Genau genommen konnte ich mich nämlich an überhaupt nichts erinnern,
was länger als drei Jahre her war. Komisch, das war mir bisher noch nie aufgefallen. Ich musste
momentan an einer partiellen Amnesie leiden, hervorgerufen durch den Stress in letzter Zeit. Ich
konnte gar nicht mehr nachdenken, weil ich ständig Besuch hatte oder unnötige Behördengänge
erledigen musste. Es schien so, als wäre ich eines Tages vor drei Jahren plötzlich dagewesen. Eines
Morgens war ich aufgewacht.
„Wir haben also nur Ihren Namen, sonst nichts. Mit zwei Daten kann man jede beliebige Person
ausfindig machen, aber das geht bei Ihnen nicht.“, sagte Herr Jackson. „Ich probiere mal was
anderes.“ Er zwinkerte mir zu, und ich erlaubte mir ein schüchternes Nicken.
„Ich sehe mal bei der ANU nach.“ ANU klang bedrohlich. Er hatte wohl bemerkt, dass ich ein
wenig erschrocken war, und sagte beruhigend: „Keine Panik. Das ist die Datei „anonym nichtexistent - unbekannt. Dort werden Daten und Personen abgelegt, die wir in unserer Datenbank
nicht zuordnen können. Ich zeig es Ihnen gleich, muss mich erst einloggen. Moment.“ Er war
wirklich sehr nett. „Zugang verweigert. Passwort…. TEMERAIRE.“ Ich horchte auf. „Nein, das
war‘s nicht. Ich bin mir aber sicher, dass es irgendwas mit T war. TE….. Oder THARKAY
vielleicht?“ Er tippte Tharkay ein und schickte es ab. „Auch nicht. Wie war das Passwort nochmal?
Ich weiß genau, dass ich aufgeschrieben habe.“ Er nahm den Deckel des Schuhkartons ab und fing
an zu kramen. „Hier muss es irgendwo sein. Ich weiß genau, dass es hier drin ist. Ich habe das Buch
immer dabei und deshalb schreibe ich mir alles, was wichtig ist, auf und lege es in den
Schuhkarton.“ Er kramte ein paar Zettelchen hervor, sah sie durch und legte sie beiseite. Dann
nahm er ein Buch aus dem Schuhkarton und klappte es auf. „Wenn ich das Passwort nicht auf einem
Zettel notiert habe, dann habe ich die Buchstaben im Buch unterstrichen.“ Er blätterte und hielt
inne. „Seite 26: T. Ich wusste doch, dass es mit T anfängt. Das wird jetzt ein bisschen dauern, aber
wir kriegen es schon zusammen. Könnten Sie mir helfen, dann geht es vielleicht schneller.“ Ich ging
mit meinem Besucherstuhl um den Schreibtisch herum und setzte mich neben ihn. Als Wallpaper
hatte Herr Jackson einen Tannenbaum, der mit Hähnchen dekoriert war. Wir blätterten das Buch
durch, -es war das Drachenbuch- und fanden E - I - A - O.
„T - E - I - A - O?“, sagte Herr Jackson. „Das ergibt jetzt keinen Sinn, aber wenn wir alle
Buchstaben gefunden haben, scrabbeln wir. Sie sind wohl nicht in der richtigen Reihenfolge
unterstrichen.“
Die Tür ging auf, und ein kleiner Mann trat zwei Schritte ins Zimmer. Er trug einen grauen
Arbeitsanzug, der mit weißen Farbspritzern übersät war. Ohne ein Wort zu sagen, schaute er uns aus
strahlend blauen Augen an. „Hallo Wolly.“, sagte Herr Jackson, und an mich gewandt: „Das ist
Wolly, der Nachtwächter. Dann müssen wir Schluss machen.“ Er zog die Schreibtischschublade auf.
„Warte mal Wolly. Ich hab noch was für dich…“ Er fand eine angebrochene Prinzenrolle und gab
sie Wolly, der sie wortlos entgegennahm und dann genauso wortlos verschwand.
Nachdem Herr Jackson den Computer heruntergefahren hatte, klemmte er sich den Schuhkarton
unter den Arm, und wir machten uns durch die verlassenen Flure auf den Weg zum Ausgang. Auf
die Gefahr hin, dass er es falsch verstehen könnte, fragte ich Herrn Jackson: „Wollen wir noch ein
Bier trinken gehn?“
Die Tür zu Artifexias Kino wurde aufgestoßen und gleichzeitig mit Schatzi, auf die wir noch
gewartet hatten, kam ein rot-weißer Kater hereingestürmt, verfolgt von dem ernsten Hund, der sich
bei Artifexia immer seine Zuckerschnecke abholte. Der Kater machte keinen verängstigten
Eindruck und auch für den Hund war die Verfolgungsjagd wohl mehr ein Spiel. Es ging alles
blitzschnell: der Kater sprang zuerst auf die Theke links neben der Tür, machte dann ein klassisches
Packman-Ablenkungsmanöver zickzack durch die sieben Sitzreihen nach vorne Richtung
Leinwand. Als der Hund ihm folgte, raste er über die Sitzreihen zurück bis zum Ende des Kinosaals,
die Stufen zum Vorführraum hinauf und verschwand in der Kabine, wo der Projektor stand. Der
Hund blieb verdutzt vor der ersten Reihe stehen und bellte. Auch wir waren ziemlich überrascht.
Artifexia, die für unser Treffen eine doppelte Ladung Schneckenstückchen gebacken hatte, hielt
dem Hund eins hin. Würdevoll nahm er es entgegen und verzehrte es gemächlich. Den Kater schien
er vergessen zu haben. Ihre langen Haare trug Artifexia wieder schneckenförmig hochgesteckt, was
ganz reizend aussah, das musste ich neidlos zugeben. Fishy hatte es wohl auch bemerkt, denn er
hatte von Isa abgelassen und Artifexia in ein Gespräch über ihr Schneckenterrarium verwickelt.
„Hast du auch Wasserschnecken?“, fragte er, „Ich hätte da noch ein Aquarium anzubieten…“ Fishy
stand genau neben dem auf die Wand gemalten lebensechten Loki, und ich beobachtete, wie
Artifexia vergleichende Blicke zwischen Loki und Fishy hin- und herwarf. Der Vergleich musste zu
meinem Leidwesen nicht ganz zu Fishys Ungunsten ausgefallen sein, denn die beiden unterhielten
sich schon geraume Zeit, als der Kater und der Hund ins Kino platzten.
Schatzi brachte ihren Tanzpartner mit. Er hieß Nardo und hatte dass Drachenbuch ebenfalls gelesen.
Jackson mit dem Schuhkarton war auch da. Wir hatten uns am ersten Abend bei einem Bier lange
miteinander unterhalten. Leider waren wir mit meinem Existenznachweis und den Nachforschungen
in der ANU-Datenbank nicht weitergekommen, da der Server des An-, Ab- und Ummeldeamts am
nächsten Tag einen Totalcrash erlitt. Kronos und Saphir unterhielten sich mit Isa und versuchten
sich gegenseitig mit Bemerkungen zu übertrumpfen, was Isa aber genauso gleichmütig
entgegennahm wie Fishys Aquariumgespräch. Na gut, wenn jetzt alle da waren, konnten wir
anfangen.
Die Tür ging auf und ein Mann mit einem Bauchladen kam herein. „Möchte jemand Brezeln? Ich
habe bayrische und schwäbische.“ „Was ist der Unterschied?“, fragte Fishy, stutzte und löschte
diskret die Teekerze im Stövchen, das auf der Theke stand. „Ich bin heute nicht im Dienst der
Feuerwehr. Du kannst die Kerze ruhig anlassen“, sagte der große traurige Polizist, denn es war
derselbe Polizist, der mir vor ein paar Wochen eine anonyme Beschwerde überbracht hatte, dass wir
in meiner Wohnung zu viel Krach machten. Das war an dem Abend, als Fishy sein Aquarium
zertrümmerte und Schatzi in meinem Wohnzimmer einen Steptanzkurs veranstaltete. Anscheinend
war Vic, so hieß der Polizist, nicht nur Polizist, Feuerwehrmann und Taxifahrer, sondern auch
Brezelverkäufer. „Die bayrischen sind nicht mit den schwäbischen Brezeln zu vergleichen. Der
Unterschied ist gravierend.“, antwortete er. Bevor er das jedoch näher erklären konnte, kam der
ernste Hund, der mit seiner Schnecke fertig war, angetrottet, setzte sich aufrecht vor Vic und bellte
fordernd. „Du möchtest also eine.“, sagte Vic und gab dem Hund eine Brezel, es war nicht ganz
klar, ob bayrische oder schwäbische. Statt die Brezel aufzufressen, trug der Hund sie in seinem
Maul zu Saphir, der sich mit Kronos und Isa in die hinterste Ecke des Kinos zurückgezogen hatte.
Saphir erbleichte und versteckte sich hinter Kronos. „Ich fürchte mich ein wenig vor Hunden,“,
sagte er „ich habe fast schon eine Hundephobie.“ „Das ist ein Geschenk“, sagte Vic, „Du musst es
annehmen.“ Mit abgewandtem Gesicht griff Saphir hinter Kronos’ Rücken heraus nach der Brezel,
von der ein Speichelfaden auf den Boden tropfte. Der Hund rührte sich nicht, sondern verharrte
freundlich wartend. „Er will, dass du sie aufisst. Mach das besser, sonst wird er böse.“, sagte
Kronos. „Sie ist übrigens ziemlich vollgesabbelt“. Saphir wollte lieber nicht den Zorn des Hundes
erregen, also biss er widerwillig in die Brezel hinein – an der entfernteste Stelle, die der Hund nicht
im Maul gehabt hatte. Da ging ein Strahlen über das Gesicht des Hundes, er lächelte. Er stellte sich
auf die Hinterbeine, legte Saphir seine Pfoten auf die Brust und fuhr ihm einmal mit der Zunge quer
durchs Gesicht. Saphir streichelte ihm schüchtern über den Kopf. „Er scheint ja ganz nett zu sein,
und er mag mich.“ Der Hund bellte bestätigend und ließ sich dann geruhsam auf Saphirs Füßen
nieder, der nun ebenfalls glücklich lächelte. „Ich nenne dich Babaka, den lächelnden Hund“, sagte
er. Saphir und der Hund hatten sich gegenseitig adoptiert.
„Anscheinend ist es so, dass der Hund dich in seine Horde aufnimmt, wenn du seine Brezel isst.
Tierpsychologisch gesprochen“, sagte Kronos. Er kämpfte mit sich, zeigte dann mit dem Finger auf
Vic und sagte zu Babaka: „Hol mir eine Brezel, Hund. Brezel, fass!“ Der Hund hörte auf zu lächeln,
sah Kronos mit schiefgelegtem Kopf an und trottete dann gemächlich zu Vic, der ihm eine Brezel
ins Maul schob. „Sollen wir jetzt alle eine vollgesabberte Brezel essen“, fragte Fishy zweifelnd.
„Also ich verzichte lieber.“ „Ich würde dir schon raten, das Geschenk des Hundes nicht
auszuschlagen“, antwortete Kronos. „Wenn du die Brezel nämlich nicht isst und sein Wolfsinstinkt
geht mit ihm durch, dann könnte es passieren, dass so ein Hund dir in den Rücken fällt.“ Babaka
lieferte die durchgesabbelte Brezel bei Kronos ab, setzte sich auf seine Hinterläufe und sah dann mit
ernstem Gesicht zu, wie Kronos sie mit Todesverachtung in großen Stücken hinunterschlang. „Seht
ihr, war gar nicht so schlimm“, sagte er und goss schnell ein halbes Glas Cola hinterher. „Damit
habe ich mir seine lebenslange Freundschaft gesichert und er hat später keine Probleme, mich als
Alpha-Tier anzuerkennen.“ Babaka legte ernst den Kopf auf die Seite, dann drehte er Kronos den
Rücken zu und setzte sich dicht neben Saphir. Als dieser ihm die Hand auf den Kopf legte, fing
Babaka an, über das ganze Gesicht zu grinsen. „Hunde ignorieren nicht, sie sondern nur Wichtiges
von Unwichtigem aus.“, sagte Vic. „Bin gleich wieder da.“, nuschelte Kronos und rannte nach
draußen.
„Habt ihr Findus gesehn?“, fragte jemand mit einem melodischen österreichischen Akzent. Wer war
Findus? Exidium erklärte, dass er seinen Kater suchte, der ihm davongelaufen war. „Hier ist er“,
sagte Jside und kam mit dem Kater auf dem Arm aus dem Projektorraum. „Ich habe den Projektor
repariert. Hast du mal einen Film, damit wir ihn testen können?“, sagte er zu Artifexia. Artifexia
meinte, dass irgendwo noch ein Film rumliegen müsste, den sie vergessen hatte, dem Filmverleih
zurückzugeben. Wir versorgten uns mit Schnecken, Brezeln und Getränken, verteilten uns auf die
Sitzreihen und stellten uns auf eine Filmvorführung ein, Jside legte die Fimrolle ein und warf den
Film an. Die Bilder flimmerten über die Leinwand: Arnold Schwarzenegger in …. – der Film brach
ab. „Das funzt wohl noch nicht so ganz. Da muss ich nochmal schauen. Ich war mir sicher, dass es
geht. Vielleicht liegt es auch an diesem Film selbst.“, sagte Jside bekümmert.
Später kam VeV, um Isa abzuholen. Er kannte alle Drachen, die jemals in dieser oder einer
anderen Welt existiert hatten, und er schwor Stein und Bein, dass Isa selbst ein Drache sei. Auch
Fishy war dieser Ansicht, konnte es aber nicht so recht begründen. Isa ließ das kalt, es interessierte
sie nicht im Geringsten, was die anderen von ihr dachten, und sie sagte keinen Piep dazu. „Wenn Isa
ein Drache ist, dann tippe ich auf Lien“, sagte Kronos. Wie zu erwarten, widersprach ihm Saphir:
„Nein. Sie ist Iskierka“, „Sehr witzig“, antwortete Kronos. „Dann ist VeV ein Fleur de Nuit und du
bist Kouhei.“ „Ich mag Kouhei sehr gern, aber wenn ich ein Drache wäre, dann eindeutig Skalli.“
„Ich habe mich geirrt“, konterte Kronos, „in Wirklichkeit bist du eine gefräßige Seeschlange.“
Babaka stand von Saphirs Füßen auf und bellte. „Manno“, sagte Fishy, „geht das schon wieder los.“
„Wenn ihr nicht sofort aufhört,“, sagte Schatzi, „dann gehe ich. Wo ist mein Hammer?“ Sie wühlte
in ihrer Handtasche. Saphir führte mit seinem rechten eingeschlafenen Fuß Kreisbewegungen aus.
„Wer du bist,“ sagte er zu Kronos und wechselte auf den linken Fuß, „das ist ja wohl kein großes
Rätsel.“
„Ich hätte da auch noch ein Rätsel“, sagte Teimor. Teimor war zwar schon den ganzen Abend da,
hatte aber bis jetzt noch nichts gesagt. Meistens war er nicht gesprächig, aber manchmal redete er
ununterbrochen. „Es ist ein Rätselgedicht.“ Er rezitierte:
„Vorhanden bin ich jederzeit,
doch berühren kann man mich nicht.
Gerüchte gibt es weit und breit,
die der Wind eilig weiterspricht.
Schon lang bin ich ein Rätsel,
Menschen beweg' ich zum Denken.
Schon so manches sture Nashorn
musst' ich in seine Bahnen lenken.
Jeder von euch kennt mich,
doch nie bin ich gleich.
Wer über mich verfügt,
der ist geistig reich.
Ich bin die komplizierte Frage
und auch die ersehnte Antwort.
Wahrlich bin ich eine Plage,
verschiedene Meinung bringt Mord.
Viel wird spekuliert,
doch niemand bringt Licht.
Was führt dich zu mir,
das weißt auch du nicht.
Nun frage ich dich,
wer bin ich?“
„Wie kommst du auf „stures Nashorn“? Das reimt sich nicht einmal.“, sagte ich empört.
„Soll ich dir meinen Hammer leihen, Clarissa?“ Schatzi zog das fünf Pfund schwere Teil aus ihrer
Handtasche.
„Ich weiß nicht, wie ich auf das Gedicht gekommen bin“, antwortete Teimor betreten, „ist mir grade
so eingefallen. Die Lösung weiß ich allerdings auch nicht.“
Kronos sagte: „Wie war das: Verschiedene Meinung bringt Mord? Damit bist eindeutig du gemeint,
Schatzi!“ Schatzi sah so aus, als würde sie den Hammer gegen Kronos verwenden.
Excidium überlegte, während er den schnurrenden Findus unterm Kinn kraulte. Jside war wieder im
Vorführraum verschwunden und versuchte den Projektor zum Laufen zu bringen,
„Ich tippe auf: der Sinn des Lebens“, sagte Vic.
„Könnte passen, aber am Ende heißt es nicht was bin ich, sondern wer bin ich, jeder von euch kennt
mich… Die Lösung muss eine Person sein.“, sagte Fishy.
„Das einzige, was mich interessiert,“, sagte ich, „ist nur: Welche geheimnisvolle Person hat mir
meine Unterhemden zurückgeschickt? Die DHL kann es jedenfalls nicht gewesen sein. Das ist das
einzige Rätsel, das ich lösen will. Ich habe nur keine Ahnung, wie.“
„Und die einzige, die wir alle kennen, so wie Teimor im Gedicht gesagt hat, das bist du, Clarissa.“,
sagte Excidium, „durch dich sind wir alle hier zusammengekommen.“
„Das ist sehr nett von dir, Exci, das du mich für den Sinn des Lebens hältst, aber das war doch wohl
Zufall.“
„Zufall gibt es nicht“, sagte Vic.
„Was denn sonst“, antwortete ich. „Du selbst bist doch nur deshalb bei uns, weil dich jemand
angerufen hat, als wir in meiner Wohnung Steptanz geübt haben . Wer war das übrigens?“
„Das tut nichts zur Sache.“, knurrte Vic, „Zeugenschutz.“
„Ich will auch gar nicht wissen, wer dieser Denunziant ist. Jedenfalls - Fishy habe ich kennen
gelernt, weil er sein Aquarium kaputt … , ich meine, weil es kaputtgegangen ist. Meine geschätzte
Kollegin Schatzi ist dazugekommen, weil sie eine Spinne erschlagen hat und den Hammer abholen
wollte. Schatzi, ich wusste nur vorher nicht, dass du das Drachenbuch auch kennst. Wenn du nicht
an den Zufall glaubst, Vic, dann müsstest du anders fragen, nämlich: Wer hat Schatzi die Spinne
geschickt, die sie mit dem Hammer erledigt hat, und wer hat den Chef vorbeigeschickt, als ich den
Hammer für Schatzi sauber machen wollte, sodass ich ihn in meiner Tasche verschwinden ließ und
mit nach Hause nahm. - Wie bist du eigentlich zu uns gekommen, Teimor?“
„Ich hatte auf einmal Lust, ins Kino zu gehn, und dann seid ihr alle gekommen und habt euch über
Drachen unterhalten. Wisst ihr übrigens, wen wir außer Clarissa auch noch alle kennen:
Temeraire.“
Langsam sagte VeV: „Ich weiß nicht…. Das Drachenbuch als Sinn des Lebens? Der Grund,
weshalb wir existieren? Das würde ja bedeuten, dass wir nur existieren, weil jemand uns erfunden
hat. Nicht, dass ich etwas dagegen hätte, ein Fleur de Nuit zu sein…. Aber wenn ich mir vorstelle,
dass jemand an seinem Notebook sitzt und mich denken lässt, dass ich ein Drache bin. Ehrlich
gesagt: ziemlich blöde Vorstellung. Drachen gibt es doch gar nicht.“
„Also ich bin hoffentlich noch bei Sinnen und kann selbst denken, ich hab doch keinen Trojaner im
Kopf“, sagte Kronos.
„Du konntest noch nie selbst irgendetwas machen, geschweige denn denken, das wissen wir doch.
Außer dass du mir ständig widersprichst, obwohl ich immer recht habe.“, sagte Saphir.
„Ich widerspreche dir, weil du eben nicht recht hast. Nie.“
Während Saphir und Kronos stritten, erinnerte ich mich plötzlich, wie ich das Drachenbuch gelesen
und mich aufgeregt hatte, dass es gar keine Drachen gibt. Dann hatte ich den Schuhkarton mit den
ganzen Sachen aus dem Drachenbuch gefunden und war nach Afrika gefahren, wo mir meine
Unterhemden abhanden kamen, die dann wieder in meiner Wohnung waren, als ich zurückkam.
Warum war ich nach Afrika gefahren? Was hatte ich mir nur davon versprochen?
„Ich habe auch immer gedacht, dass es keine Drachen gibt. Obwohl ich trotzdem glaube, VeV, dass
du ein astreiner Fleur de Nuit bist“. Ich zwinkerte VeV zu. „Und da ich ein stures Nashorn bin, ein
für alle Mal: Es gibt keine Drachen. Außer vielleicht in dem Drachenbuch.“
„Wer hat das Drachenbuch eigentlich geschrieben?“, fragte Excidium in die Runde. „Bei mir fehlt
nämlich das Cover, und ich wollte schon immer wissen, wer der Autor des Drachenbuchs ist.“
Kronos hörte auf, mit Saphir zu streiten. „Das war ich“, sagte er. Saphir schaute ihn sprachlos an.
„War ein Witz. - Im Ernst: Ich weiß es auch nicht. Meins hat zwar ein Cover, aber da steht kein
Autor drauf.“
Niemand wusste, wer das Drachenbuch geschrieben hatte.
„Vielleicht will er nicht erkannt werden.“, sagte Teimor.
Artifexia war nicht einverstanden. „Wieso „er“? Das Drachenbuch könnte auch eine Frau
geschrieben
haben.“
„Glaub ich nicht.“, sagte Vic. „Wir müssen es jedoch trotzdem berücksichtigen. Aber das weitet den
Kreis der Verdächtigen um fünfzig Prozent aus, auf die komplette Bevölkerung.“
„Ich kannte mal einen Busfahrer“, steuerte Jackson bei, „der hatte immer ein Buch auf dem
Steuerrad liegen, in das er bei jeder Gelegenheit hineinkritzelte. An jeder einzelnen roten Ampel.
Auch an grünen Ampeln, und manchmal hielt er einfach irgendwo an, wo gar keine Bushaltestelle
war. Ich bekam ständig Klassenbucheinträge, weil ich immer zu spät zur Schule kam. Und eine
schlechte Note in
Betragen.“
Zum ersten Mal an diesem Abend meldete sich Nardo, Schatzis Tanzpartner, zu Wort. „Den
Busfahrer kenn ich. Einmal hat er mich gefragt, ob ich ein paar gute französische Namen wüsste,
und ich habe ihm einfach alle Weinsorten genannt, die mir eingefallen sind. - Er wurde dann auf
eine andere Linie versetzt.“
Jeder von euch kennt mich, doch nie bin ich gleich…. Ich schaute zu Vic. „Sag mal, Vic, hast du das
Drachenbuch geschrieben?“
„Dafür habe ich nun überhaupt keine Zeit.“, anwortete Vic. „Und jetzt sowieso nicht. Ich gehe Taxi
fahren. Will noch jemand eine Brezel?“
Ich musste unbedingt mal wieder allein sein und in Ruhe nachdenken. Den Schuhkarton mit den
Sachen aus dem Drachenbuch hatte ich tief unten im Schrank vergraben. Ob ich mal reinschauen
sollte? Irgendwie hatte ich eine große Scheu davor….
Später, zu Hause, heftete ich einen Zettel an den Kühlschrank, auf dem stand:
1. Wer hat mir meine Unterhemden zurückgeschickt?
2. Wer hat das Drachenbuch geschrieben?
Kronos, Saphir und der lächelnde Hund waren unterwegs zu Artifexias Kino, wo sie sich
inzwischen jeden Abend mit Clarissa und den anderen trafen, DVDs mit Drachenfilmen ansahen,
die VeV mitgebracht hatte, und darüber spekulierten, wer der Autor des Drachenbuches sein könnte.
Kronos und Saphir stritten sich, was ja nun nichts Neues war, während der lächelnde Hund um sie
herumkreiste und zustimmend bellte, wenn Saphir etwas sagte, und drohend, wenn Kronos etwas
dagegen sagte. „Das ist die Frage“, sagte Saphir. „Ich denke, dass Drachen Reptilien sind, und
eigentlich können sie auch gar nicht fliegen.“ „Wie meinst du das? Sie fliegen doch!“ „Ja, aber
Reptilien können nicht fliegen – normalerweise.“ „Für mich ist gerade das Fliegen
ausschlaggebend. Ich denke, dass Drachen Vögel sind“. Saphir stieß ein sarkastisches Lachen aus:
„Mann, Kronos, mach mal ein paar geistige Kniebeugen zum Warmwerden. Vögel? Glaubst du
wirklich, Drachen sind Vögel?“ Kronos streifte ein rotweiß angestrichenes Brett, und da seine Füße
ins Nichts traten, hielt er sich an Saphir fest. Zusammen mit dem Brettergerüst samt Warnlampe
landeten sie in einer zwei Meter fünfzig tiefen Baugrube vor dem An-, Ab- und Ummeldeamt.
„Nein, glaub ich nicht.“, sagte Kronos, stand auf und klopfte den Lehm von seiner Hose. „Ich
glaube nicht, dass Drachen Vögel sind.“ „Und warum sagst du es dann?“, fragte Saphir und stellte
die blinkende Warnlampe ab, an der er sich im Fallen festgehalten hatte. „Weil ich denke, dass
Drachen keine Reptilien sind.“, war Kronos’ Antwort.
Der lächelnde Hund lugte unschlüssig über den Rand der Baugrube nach unten. Nach einiger Zeit
erschienen neben dem Hund Vic und Exodeon. Letzterer hatte die Hände in den Hosentaschen
vergraben, während Vic schwer beladen war. Als Atemschutzgeräteträger bei der Feuerwehr war Vic
allein berechtigt, das Equipment zu tragen, das aus ein paar Sauerstoffflaschen mit einer Menge
Schläuche, einem Taucheranzug, Taucherflossen und allem möglichen Kleinkram bestand. „Geht
ihr auch mit zu Artifexia?“, fragte Saphir, „Wir wollen heute „How to train your dragon“
anschauen.“ „Geht nicht. Ich hab Tauchtraining.“, antwortete Exodeon. „Und Vic kann auch nicht,
weil er meine Ausrüstung tragen muss. Vielleicht kommen wir später nach. Hebt ein paar
Schnecken für uns auf.“ „Ok, bis später“, rief Kronos.
Der lächelnde Hund umkreiste die Baugrube. „Was denkst du, Clarissa, sind Drachen Reptilien oder
Vögel?“, rief Saphir nach oben, als Clarissa an der Baugrube vorbeikam. Sie war ebenfalls auf dem
Weg zu Artifexia und wollte Jackson im An-, Ab- und Ummeldeamt abholen. „ Darüber habe ich
mir auch schon Gedanken gemacht. Genau genommen sind Drachen weder Reptilien noch Vögel.
Sie haben nämlich sechs Gliedmaßen: zwei Arme, zwei Beine, zwei Flügel. Wie die Insekten. Ich
denke, Drachen sind Insekten.“, sagte Clarissa. Saphir und Kronos wollten antworten, als hinter
Clarissa ein gelber Bollerwagen in ihr Gesichtsfeld geriet, der bis oben hin mit Büchern vollgeladen
war. „Drachen sind den Dinosauriern sehr ähnlich, und das sollte doch wohl Beweis genug sein!“,
rief Aquila wütend. „Sie sind eindeutig Reptilien“. Der Wagen berührte Clarissa zwar nicht und
kam dicht hinter ihren Kniekehlen zum Stehen, aber sie erschrak, und da sie sich für das Kino
–genauer gesagt für Fishy- mit Hut und Stöckelschuhen herausgeputzt hatte, verlor sie das
Gleichgewicht, rutschte aus und fiel zu Saphir und Kronos in die Baugrube. Aquila begann hektisch
mit der Deichsel des Bollerwagens zu lavieren – zu spät. Der Bollerwagen glitt zwar nicht in die
Grube, aber der Bücherstapel geriet aus dem Gleichgewicht, und dies Bücher regneten auf Clarissa,
Kronos und Saphir herab. Aquila fluchte, riss sich die Kopfhörer von den Ohren -er hörte
ununterbrochen Sabbaton-, brachte den Bollerwagen auf festen Boden zurück und stieß ein
diabolisches Lachen aus: Clarissa saß auf dem Grund der Baugrube in einem Bücherhaufen, und auf
dem Kopf trug sie anstelle des Hutes, oder vielleicht war der Hut auch nur verdeckt, ein
aufgeklapptes Exemplar von einem Buch. „Drachentraum“ stand auf dem Deckel.
„Du willst doch nicht allen Ernstes behaupten, Drachen wären Insekten!“, sagte Saphir entgeistert.
„Drachen sind Reptilien!“, funkelte Aquila von oben. Ohne Aquilas Einwurf zu beachten, setzte
Clarissa den Hut beziehungsweise „Drachentraum“ ab, und Saphir griff ihr wie ein Kavalier unter
die Arme, um ihr aufzuhelfen. „Wieso nicht? Schau dir mal die Flöhe aus Exodeons Flohzirkus an.
Die sehen aus wie kleine Drachen.“, sagte sie. Das war wieder Aquila: „Reptilien…“. „Ja, Vögel
sind das nicht. So kleine Vögel gibt es gar nicht.“, sagte Saphir. „Es gibt aber auch keine Vögel, die
so groß wie Drachen wären.“, antwortete Kronos prompt. „Flöhe können auch keine Reptilien sein,
denn sie können fliegen. Oder: Können Flöhe eigentlich richtig fliegen?“ „Ich weiß nicht. Wir
müssten mal bei den Flöhen auf Babaka nachsehen.“ Saphir suchte den Rand der Baugrube ab, wo
Aquila war und ab und zu „Reptilien…“ zu ihnen hinunterrief. „Wo ist der Hund eigentlich?“
Babaka, der nicht abwarten wollte, bis die ganze Drachengesellschaft in der Baugrube gelandet war,
kam eben mit Jackson, Wolly und zwei Bauarbeitern zurück, die mit Wolly Kaffee tranken, als der
lächelnde Hund sie so lange verbellte, bis sie mitkamen. Sie hießen Maxe und Kuli und waren
vermutlich die größten Bauarbeiter, die man jemals gesehen hatte.
Kuli sprang in die Baugrube und näherte sich Clarissa, die vor ihm zurückwich. Sofort stellten sich
Kronos und Saphir wie eine geschlossene, wenn auch im Vergleich zu Kuli relativ niedrige Mauer
vor sie. „Du stürzt dich auf die Kniekehlen, ich bearbeite seine Nase. Clarissa, du läufst weg“,
zischte Kronos zwischen den Zähnen. „Ich kann nicht“, piepste Clarissa, „mein Schuh ist weg. Das
sind Highheels von Manolo Blahnik. Außerdem bin ich ganz schmutzig. Was wird Fishy sagen?“ So
ein Pech! Heute wollte sie eigentlich Fishy tief in die Augen schauen und ihm anbieten, sie „Cary“
zu nennen. Das klang so verrucht. Aber jetzt, mit nur einem Schuh… Sie rückte an ihrem Hut, der
ihr schief auf dem Kopf saß.“ „Das ist jetzt egal“, antwortete Saphir, „Es geht um dein Leben.“ „Ja,
sag ich doch. Ich muss zuerst meinen Schuh finden.“ Mit einer Bewegung seiner riesigen Pranke
schob Kuli Kronos und Saphir auseinander, griff sich Clarissa und hob sie wie ein Bündel hoch.
Clarissa stieß einen spitzen Schrei aus und strampelte. „Keine Angst, Fräulein, ich beiße nicht.
Außerdem habe ich grade Kekse gegessen.“, sagte Kuli drohend und entblößte grinsend zwei
Reihen eindrucksvoller Drachenzähne. “Da ist ja mein Schuh! Kronos, Saphir – rettet ihn!“, rief
Clarissa. Der Schuh stak im Morast am Grunde der Baugrube, nur der Absatz ragte heraus. Saphir
bückte sich und zog, die Baugrube gab den Schuh mit einem schmatzenden Plopp frei, und Saphir
reichte ihn nach oben zu Clarissa in Kulis Armen. Nachdem der Schuh jetzt gerettet war, ergab sich
Clarissa in ihr Schicksal, legte Kuli den Arm um den Nacken und kreuzte graziös die Beine, sodass
ihre schlanken Füße zur Geltung kamen. Kuli setzte sie oben ab. Danach reichte Kuli dem Hund die
Bücher, die Aquila in seinem Bollerwagen verstaute, während er ab und zu in Clarissas Richtung
das Wort „Reptilien…“ rief.
„Kommst du auch mit, Athena“, rief Saphir aus der Baugrube, „Wir treffen uns bei Artifexia.“
Während sie Chat an der Hand hinter sich herzog, -er sträubte sich und kam dem Rand der
Baugrube gefährlich nah-, rief Athena über die Schulter zurück: „Kann nicht! Ich muss mal wieder
Babysitten und auf Chat aufpassen. Der läuft sonst weg. Letztes Mal wurde er an einer
Bushaltestelle aufgegriffen. Oder er sitzt den ganzen Abend vor der Glotze, guckt sich CIS New
York an und stopft sich mit Chips voll. Echt blöd. Vielleicht nächstes Mal.“
Die beiden Bauarbeiter stellten den Bauzaun mit den Warnleuchten wieder auf, und die anderen
machten sich auf den Weg zu Artifexia.
Allmählich war es zu einem täglichen heimlichen Wettkampf zwischen Saphir, Kronos und mir
ausgeartet. Jeden Morgen versuchten wir einander zu übertrumpfen, wer morgens zuerst an der
Bushaltestelle ankam. Ich weiß auch nicht, warum wir das machten, jedenfalls wurde es zu einer
Sucht, frühmorgens an der Haltestelle zu stehen, uns über das Drachenbuch zu unterhalten und auf
den Bus zu warten - eine halbe Stunde, bevor er fuhr.
An diesem Morgen lag ein Umschlag auf der Fußmatte vor meiner Wohnungstür, „Clarissa
Nashorn“ stand darauf. Das war natürlich ein Trick von Kronos und Saphir, um mich aufzuhalten,
völlig klar. Ich steckte den Umschlag in meine Manteltasche und rannte die Treppe runter. Unten
hörte ich die beiden lachen. „Deine Mutter sagt, sie hat was vergessen. Du sollst irgendwas
mitbringen oder abholen, ich hab nicht richtig zugehört. Jedenfalls sollst du zurückkommen.“, sagte
ich zu Saphir, als ich ihn und Kronos eingeholt hatte. „Was ist jetzt schon wieder? Komm, wir
beeilen uns.“ sagte Saphir zu Kronos. „Ich muss noch Geschichte bei dir abschreiben. Warum hat
Napoleon nochmal diese Schlacht in England verloren?“ Kronos trug inzwischen lange dunkle
Locken. „Waterloo meinst du? Das liegt nicht in England sondern in Luxemburg. Eigentlich wollte
ich bei dir abschreiben.“
An der Bushaltestelle, einem überdachtes Häuschen, war noch niemand außer dem Colonel. Wir
nannten ihn so, weil der einen dunkelblauen kurzen Mantel mit zwei Reihen Goldknöpfen und
Schulterklappen trug. Vermutlich arbeitete er bei Gericht, denn heute hatte er einen schwarzen Talar
über dem Arm. Für einen Rechtsanwalt oder Richter war er noch ziemlich jung, und obwohl er
jeden Morgen mit uns auf den Bus wartete, hatte er noch nie ein Wort gesagt. Ich riss den Umschlag
auf. Zum Vorschein kam ein aus ausgeschnittenen Zeitungsbuchstaben zusammengeklebtes
Schreiben, ein Drohbrief, wie man ihn aus Filmen kennt:
Man Machine
Masked man,
resurrected out of stainess steel.
Knows no pain,
less you gain.
It's heart is not allowed to feel.
Cause liveless oil fills every vein.
With loss of devotion
you act
by codes and numbers, in fact.
No fun without emotions.
And gears don't turn them back.
Cogged wheels will break someday.
On voltaic cells you depend,
still waiting for an end.
Attrition, either way.
This destiny you can't prevent.
Ich verstand gar nichts. Wenn das ein anonymer Drohbrief war, dann musste man erst
herauskriegen, worin die Drohung bestand. Und dann auch noch auf Englisch! Während ich mein
Schulenglisch hervorkramte, kamen Saphir und Kronos bei der Bushaltestelle an. „Was hat deine
Mutter gesagt?“, fragte ich, ohne die Augen von dem Drohbrief zu heben. „O Mann, ich soll ein
Sixpack Wasser mitbringen. Ich hab überhaupt keine Zeit, ich muss nämlich nach der Schule zu
Artifexia. VeV bringt heute seinen Freund Indi, den Dracologen, mit. Was hast du da?“ „Das wollte
ich euch gerade fragen. Habt ihr mir das vor die Tür gelegt?“ Kronos nahm mir das Blatt aus der
Hand und reichte es gleich an Saphir weiter: „Ich kann nur Griechisch und Latein“, sagte er. Saphir
las das Gedicht laut vor. „Man Machine, der Maschinenmann? Nein, das ist nicht von uns, Clarissa.
Wir schreiben doch keine Drohbriefe auf Englisch, weil man sich dann nie sicher ist, dass der
Empfänger den Text übersetzen kann. Was ist ein Maschinenmann?“ „Nicht „was“, sondern „wer““,
sagte Kronos. „Wer könnte ein Maschinenmann sein?“ „Terminator“, sagte der Colonel.
Überrascht schauten wir ihn an, aber da er anscheinend nicht dazu bereit war, weitere Erklärungen
abzugeben, wandten wir uns wieder dem Drohgedicht zu. Stimmt, der „Maschinenmann“ passte auf
Terminator aus dem Film „Terminator“. „Könnte sein. Mit dem Satz, dass die Zahnräder nichts
zurückdrehen können, ist natürlich die Zeit gemeint.“, sagte Kronos. „Man kann nicht in der Zeit
zurückgehen. Nur Terminator in dem Film kann das. Wenn wir mit den Drachenfilmen durch sind,
müssen wir uns unbedingt die Terminator-Filme anschauen. Letztens, bei Artifexia hat es ja nicht
geklappt, weil der Film gerissen ist. - Clarissa, kommst du auch zu Artifexia? Vielleicht kann dieser
Indi rauskriegen, wer das Drachenbuch geschrieben hat.“ Ich steckte den Brief in meine
Handtasche. So bedrohlich war er wohl doch nicht. „Also ich glaube immer noch, dass Vic das
Drachenbuch geschrieben hat. Wer sonst?“, sagte ich. Ein Bus hielt an. Bevor er einstieg und mit
dem Bus davonfuhr, sagte der Colonel ruhig: „Terminator“.
Die dritte Jahreszeit: Verwirrung
SMS von Clarissa
an Artifexia, Excidium, Saphir, Kronos, Aquila, Exodeon, Schatzi, Fishy, VeV, Indi:
Müss uns dringend treff. Heute 18 h Kino. Autor Drachenbuch identifiz!
„Wer ist es, sag schon!“, rief Aquila, als Clarissa mit Saphir und Kronos Artifexias Kino betrat.
Clarissa war völlig aufgelöst. „Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Wie ihr wisst, habe ich
euch eine SMS geschickt, damit wir uns heute hier treffen.“
„Nächstes Mal schickst du die SMS nicht um sechs Uhr morgens. Ich hab noch geschlafen und vor
Wut das Handy an die Wand geschmissen.“, sagte Schatzi.
„Ist es kaputt?“, fragte Saphir interessiert.
Clarissa sprach schnell weiter: „Saphir, Kronos und ich, wir denken, wir haben den Autor des
Drachenbuches gefunden, nach dem wir schon die ganze Zeit suchen.“
Fishy rief dazwischen: „Manno, es ist VeV, stimmt’s?“
„Wie kommst du denn darauf?“, sagte VeV.
„Also, es ist so:“, fuhr Clarissa fort, Eigentlich suche ich nach ihm, weil… nun das hat persönliche
Gründe, die wirklich sehr persönlich sind. Ich muss euch das jetzt nicht erklären, deshalb…“
„Nein, musst du nicht“, fiel Aquila Clarissa ins Wort. „Jetzt komm mal zum Punkt.“
„Ich habe nämlich etwas gefunden, einen Schuhkarton, der mich zum Nachdenken gebracht hat.
Aus diesem Grund bin ich nach Afrika gefahren. Aber dort war der Autor nicht.“
„Wie kommst du ausgerechnet auf Afrika?“, fragte Excidium schüchtern.
„Das kann ich euch jetzt nicht erklären, würde zu lang dauern. Vor ein paar Monaten beschloss ich
jedenfalls, mal wieder in meiner Wohnung auszumisten. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was sich da
im Laufe der Zeit alles ansammelt. Stellt euch mal vor, ihr müsstet plötzlich umziehen,
Katastrophe! –mit dem ganzen Zeug.“
„Clarissa!“, rief Schatzi ungeduldig.
„Wisst ihr, was komisch ist?“, sagte Indi nachdenklich, „Bis vor kurzem haben wir uns alle noch
nicht gekannt. Nun gut, man lernt Leute kennen, findet sie nett, trifft sich mit ihnen… Mit einem
Unterschied: Wir hier haben alle, wirklich alle, das Drachenbuch gelesen. Es muss ziemlich bekannt
sein, wenn jeder, den man kennt, es gelesen hat.“
„Oder zumindest Varianten des Drachenbuchs. Offensichtlich kennen wir nicht alle dieselbe
Version.“, sagte Saphir. Der lächelnde Hund stand von Saphirs Füßen auf, drehte sich einmal um
sich selbst und ließ sich dann wieder darauf nieder.
„Wie auch immer, wir haben ihn jetzt, den geheimnisvollen Autor.“, sagte Kronos, der das Ganze
beschleunigen wollte. „Sag’s ihnen, Clarissa.“
Es klopfte. „Ach, den hätt ich fast vergessen. Das ist Nelson, der Regisseur. Er will einen
Animationsfilm über Drachen machen und hat mich gefragt, ob ich mitarbeiten will“, sagte
Artifexia stolz. Nelson trug ein kariertes Sakko und eine Brille, die er aber sofort absetzte, weil er
damit nichts sehen konnte. Es war Fensterglas darin, und er trug sie aus Prinzip.
„Lasst euch nicht stören, ich höre zu und hole mir Inspiration.“ Er setzte die Brille wieder auf.
„Wer ist es denn jetzt, Clarissa?“, sagte Exodeon. „Ich muss nämlich gleich weg, hab Karten für das
Fußballspiel.“
„Ich weiß es nicht.“, sagte Clarissa. Allgemeine Verständnislosigkeit. „Das heißt - ich weiß nicht,
wer er ist.“
„????“
„Wenn ihr es wissen wollt: Es ist der „Colonel“.
Unfassbar! Ich glaub’s nicht!
„Was?“, sagte Excidium und schaute sich um. „Wer?“
„Unfassbar!“, sagte Kronos.
„Wir können es auch kaum glauben“, sagte Saphir.
Jetzt fällt mir nichts mehr ein. Wie kommen die denn darauf? Es liegt doch auf der Hand.
„Da fällt mir nichts mehr ein.“, sagte VeV. „Wie kommt ihr darauf?“
„Es liegt doch auf der Hand“, sagte Clarissa. Sie schilderte ihre letzte Begegnung mit dem Colonel.
Warum kapierst du es nicht? Sag ihnen, was er gesagt hat, Clarissa.
„Das kapiere ich nicht“, sagte Indi. „Was hat er denn gesagt? Hat er gesagt, dass er das
Drachenbuch geschrieben hat?“
„Nicht direkt“, antwortete Clarissa. „Aber es kann nur er sein. Ich habe das im Gefühl“
Du hast es längst kapiert, Clarissa, stimmt's? Du weißt genau, wer es ist. Wenn du nicht endlich
damit aufhörst, schick ich dich nach Afrika zu den Nashörnern - endgültig. Das geht nicht, dass du
hier machst, was du willst.
„Ich denke nicht daran“, sagte Clarissa. „Du hast mir gar nichts vorzuschreiben. Misch dich nicht
ein!“
„Was hast du gesagt, Clarissa?“, fragte Excidium.
Clarissa stutzte: „Was? Ach nichts, ich habe nur laut gedacht. Manchmal führe ich Selbstgespräche,
das kommt daher, weil ich so oft allein bin. Das heißt, in letzter Zeit bin ich eigentlich nie allein…“
Lügnerin! Ich werfe dich raus! Jetzt sag es ihnen endlich! Ich bin es. TERMINATOR!
Aus der Vorführkabine meldete sich eine Stimme. Jside saß wohl schon die ganze Zeit dort, denn
niemand hatte bemerkt, dass er reingekommen war. „Wollt ihr „Terminator“ gucken? Jetzt geht’s,
glaub ich. Ich habe den Projektor endlich repariert.“
Artifexia war auf dem Weg hinters Haus: „Ich füttere mal eben die Hühner“, rief sie, „und dann schaue ich, ob ich Eier finde. Bio­Eier, Clarissa!“ Das Haus, ein Bauernhaus aus dem 18. Jahrhundert, war ein zweistöckiges, langezogenes Gebäude mit einem seitlichen Anbau und einem
Gemüsegarten. Um das Haus herum erstreckten sich ausgedehnte Felder. Ein Trupp Reiter näherte sich, und einer, offensichtlich der Anführer, stieg langsam vom Pferd, während ihm ein hochgewachsener Adjutant dabei half. Der Ranghöhere war gut einen Kopf kleiner als Clarissa. Er ergriff ihre Hand und hauchte einen Kuss darauf, dann steckte er seine rechte Hand wieder in den Jackenaufschlag. „Bonjour Madame, ich übernachte hier in Le Caillou. Haben Sie Pferde, ich werde hin und wieder einen Kurier zu meinem Hauptquartier in Belle­Alliance schicken, frische Pferde würden das erleichtern.“ Saphir kam aus der Scheune. „Nein, Pferde sind hier keine.“ Er musterte interessiert den Mann, der bei Clarissa stand. Dann fiel sein Blick auf den Adjutanten, und er erschrak so sehr, dass er sich rückwärts zurückzog, ohne den Adjutanten aus den Augen zu
lassen. Der erwiderte ungerührt, aber nicht unfreundlich seinen Blick. Clarissa fasste sich endlich wieder. „Was soll das, wer sind Sie, was haben Sie hier zu suchen? Wo
bin ich eigentlich?“ Der Offizier war erstaunt. „Sie wissen es nicht? Sind Sie hier nicht zu Hause?“ Er musterte Clarissa von oben bis unten. Als er damit fertig war, zog er die Hand aus dem Revers, gab seine herrische Pose auf und sagte: „Nein, Sie sind nicht von hier.“ Er drehte sich zu seinem Adjutanten um: „Colonel, bringen Sie uns die Flasche Wein aus meiner Satteltasche. Ich habe sie für besondere Gelegenheiten aufgehoben. Dies ist eine besondere Gelegenheit. Und bringen Sie auch mein Gepäck und mein Feldbett hinein. ­ Lassen Sie uns ins Haus gehen, Madame.“ Clarissa schaute rundum über die Felder, aber da war außer mannshohem Weizen nichts zu sehen. Dann blickte sie nach oben, wo weit entfernt zwei Vögel kreisten, oder waren es Drachen? Man konnte es nicht erkennen. „Ich lasse mir das nicht gefallen.“, rief sie empört in den Himmel: und folgte dem Mann ins Haus. Sie nahmen an einem langen hölzernen Tisch mit gedrechselten Beinen Platz. Beide sprachen kein Wort, bis der Adjutant den Wein entkorkt und in zwei Wassergläser, die er im Schrank fand, eingeschenkt hatte. Der Offizier erhob sein Glas, schaute Clarissa, die es ihm nachmachte, in die Augen und trank einen Schluck. „Santé. Darf ich erfahren, mit wem ich es zu tun habe? Wie ist Ihr werter Name?“
„Als ob du das nicht wüsstest, tu doch nicht so. Was willst du?“
Wohlwollend und leise lächelnd antwortete der Offizier: „Ein Teufelsweib, ravissante! Ich habe großen Respekt vor beherzten Frauen. Nun Madame, ich weiß nicht recht, wie ich anfangen soll.“
„Gib dir keine Mühe, Terminator. Ich weiß, dass du es bist, auch wenn du dich als Napoleon verkleidet hast. „Terminator? So hat mich noch nie jemand genannt. Die Kaiserin nannte mich gelegentlich …. nun, das muss die Nachwelt nicht unbedingt erfahren… Ich muss Sie enttäuschen, Madame, ich bin nicht Monsieur Terminator, Sie müssen mich verwechseln. Ich bin Napoleone Buonaparte, Kaiser der Franzosen.“
„Ich glaub’s nicht“, rief Clarissa entsetzt. „Können Sie das beweisen? Ich meine, das kann jeder behaupten….“
„Ich muss das nicht beweisen, Madame. Jedes Schulkind kennt mich.“, sagte Napoleon, entzückt über Clarissas Verwirrung und ihre Unwissenheit. Clarissa fiel etwas ein: „Welches Jahr haben wir?“
„Es ist der 18. Juni 1815. Ich habe gestern General Blüchers preußische Armee geschlagen und werde heute Wellington besiegen.“
Clarissa ärgerte sich, dass sie in Geschichte nicht besser aufgepasst hatte. „Ist das vor oder nach der französischen Invasion in England?“
„Invasion in England? Woher haben Sie das? Es gibt geheime Pläne für eine Invasion in England, aber augenblicklich habe ich andere Probleme. Ach wissen Sie, man erzählt sich so viele Geschichten über mich, und die Leute glauben alles, was sie hören. Selbst wenn jemand auf die absurde Idee käme zu behaupten, ich wäre nach Südamerika gesegelt, um eine Inka­Königin zu heiraten, selbst das würden manche für bare Münze nehmen. Glauben Sie mir, Madame, es ist nicht so einfach, wenn jeder Schritt, den man macht, jeder Satz, den man sagt, bespitzelt und dokumentiert wird. Man kann den Dingen den Anstoß geben, doch sie tragen dich davon. Manchmal weiß ich nicht mehr, ob ich selbst es war, der etwas gesagt oder getan hat, oder ob jemand anderes es erfunden und mir in den Mund gelegt hat. Ich fürchte drei Zeitungen mehr als hundert Bajonette.“ „Stammt der berühmte Satz „Ich komme wieder ­ I’ll be back“ von Ihnen?“, fragte Clarissa. „Ein Kopf ohne Gedächtnis ist eine Festung ohne Besatzung. Ich weiß es nicht, Madame, aber alles, was man ausspricht, wird wahr.“ Artifexia steckte den Kopf zur Tür herein: „Will jemand Eierkuchen, ich mach jetzt welchen“. „Man kann keinen Eierkuchen backen, ohne ein paar Eier zu zerschlagen. Sehr gerne, Mamsell. Das wird ein Frühstück.“ Napoleon wandte sich Clarissa zu. „Doch nun genug von mir, das kann
man in den Geschichtsbüchern nachlesen. Erzählen Sie mir von sich: Was hat Sie hierher verschlagen?“
Clarissa zögerte. „Mein Leben kann man nicht in Geschichtsbüchern nachlesen. Da gibt es nicht viel zu erzählen…“
„Sie haben Recht. Von Frauen spricht man nicht, man beschäftigt sich mit ihnen.“, sagte Napoleon und rückte näher. „Diese aristokratisch schlanken Füßchen, ganz reizend!“ Nachdem sie den Eierkuchen verspeist hatten, der Wein war längst ausgetrunken, ging zögernd die Tür auf und ein völlig durchnässter Excidium, ­es regnete in Strömen­ fragte ins Zimmer: „Hat
jemand Findus gesehen, er ist weg? Ich habe ihn draußen überall gesucht.“
„Wer ist Findus?“, sagte Napoleon und nutzte die Gelegenheit, der durch Excidium abgelenkten Clarissa den Arm um die Schultern zu legen. Hinter Excidium rief Saphir: „Der taucht schon wieder auf. Aber viel schlimmer, Kronos ist auch weg, Clarissa. Das heißt: Er ist überhaupt gar nicht erst hier. Ganz sicher ist er nicht hier, denn das wüsste ich.“
Zwei vorstehende gelbe Augen mit schmalen länglichen Pupillen starrten ihn aus nächster Nähe an. Teufelsaugen! Er saß auf einer Wiese, das fühlte er an seinen bloßen Beinen. Ohne den Kopf zu bewegen sah er vorsichtig nach unten. Zu den Augen gehörten Bocksfüße. Bocksfüße! Es stank nach Schwefel. Teufelsaugen, Bocksfüße und Schwefelgeruch: Er war in der Hölle. Aquila durchforstete sein Gehirn, es musste einen Grund geben, weshalb er hier gelandet war. Dann fiel es ihm ein: das Tomatenbrot! Er musste für das Tomatenbrot büßen! Es war also nicht einfach aus der Luft gegriffen, sie hatten Recht, alles fiel auf einen zurück. Und das Tomatenbrot war schließlich auf ihn zurückgefallen. Aquila seufzte. Herr Kunz, sein Mathematiklehrer war nett, alle Lehrer waren nett. Dagegen war nichts zu sagen. Aber Herr Kunz war ein Gewohnheitstier. Er trug abwechselnd eine taubengraue Hose mit
Polohemd gleicher Farbe und, wenn die taubengraue Montur in der Reinigung war, eine ähnliche Montur in Mausbraun. Dazu Sandalen. Sommers wie winters. Kleider waren Aquila egal, das war es nicht. Herr Kunz war nett, und wenn jemand zu spät kam wie Aquila, weil auf dem Fahrradparkplatz vor der Schule alles voll war und er seinen Bollerwagen nirgends abstellen konnte, dann musste er lediglich zwei binomische Sätze aufsagen. Das war alles. Aber das Tomatenbrot hasste er. Wenn Herr Kunz wenigstens manchmal ein Wurstbrot gegessen hätte… Sobald Herr Kunz das Klassenzimmer betrat, entnahm er seiner abgewetzten Ledertasche, die aussah wie ein Schulranzen ohne Schulterriemen, das Mathematikbuch oder die korrigierten Klassenarbeiten, je nachdem, und dann nahm er die Plastikdose mit dem Tomatenbrot und stellte sie aufs Pult. Die Dose war weißlich­durchsichtig, man konnte gut sehen, wie saftige rote Tomatenstücke ihren fleischigen Rücken an die Dosenwand pressten, während sie langsam Wasser zogen und die Brotscheiben durchweichten. Nach dem Pausenklingeln streute Herr Kunz Salz und Pfeffer, die er ebenfalls immer dabei hatte, auf die Tomaten und aß das Tomatenbrot. Aquilas Mathematiknoten verschlechterten sich, er konnte sich nicht konzentrieren und musste die ganze Zeit die Tomatenbrotdose anstarren. Als Herr Kunz ihm einmal eine Frage stellte, die er
falsch beantwortete, weil er nicht zugehört hatte, sagte der Lehrer tadelnd: „Du solltest etwas mehr Fleiß an den Tag legen, Aquila.“ An dem bewussten Tag war Herr Kunz aus irgendeinem Grund beim Pausenklingeln nicht im Klassenzimmer. Aquila wartete, bis alle weg waren, dann nahm er das Tomatenbrot und nagelte es mit langen Reißzwecken an die Wand. Und heute sollte er in der Hölle schmoren? Aquila wurde durch lautes Hundegebell aus seinen Gedanken gerissen. Der lächelnde Hund trieb die Ziegen auseinander, die um Aquila herumstanden. Der größte Bock senkte zwar den Kopf als wolle er den Hund angreifen, trollte sich aber dann. Reiter näherten sich, gefolgt von einer langen Reihe von Fußsoldaten. Sie trugen altmodische Uniformen und große Gewehre mit Bajonetten. Ein paar altertümliche Kanonen hatten sie auch dabei. Friedrich Wilhelm Bülow von Dennewitz,
preußischer General der Infanterie, zügelte sein Pferd vor Aquila und sagte. „Junge, wir brauchen einen Führer. Wo geht es nach Waterloo?“ In der Ferne donnerte es. Aquila und General Bülow schauten in den Himmel, aber es waren keine Anzeichen eines Gewitters zu erkennen. Aquila hatte einen ziemlich schlechten Orientierungssinn, was er normalerweise unumwunden zugab, aber diesem Offizier nicht unbedingt auf die Nase binden wollte. Um Zeit zu gewinnen, sagte er deshalb: „Ein Gewitter war das nicht, aber Düsenjäger auch nicht. Ist hier in der Nähe ein Manöver?“ Es donnerte heftiger. „Also, wo lang jetzt? Richtung Frischermonts oder Richtung Plancenoit.“ Unschlüssig drehte sich Aquila um seine eigene Achse. Dann zeigte er mit ausgestrecktem Zeigefinger in irgendeine Richtung. „Da“, sagte er. „Ich danke dir, Junge“, sagte Bülow und der ganze Tross setzte sich in Bewegung, in die Richtung, in die Aquila gezeigt hatte. Die ganze Zeit sprang der Hund um Aquila herum, bellte, lief ein paar Schritte in die entgegengesetzte Richtung, kam zurück und zerrte an Aquilas kurzen Hosen. „Halt, stopp“, rief Aquila. „Alles zurück. Nochmal alles von vorne.“ Bülow kam zurück. „Wo geht es nach Waterloo,
Junge?“, sagte er. Der Hund zerrte an Aquila. „Was? Ach so. Gehen Sie lieber da lang.“, sagte Aquila. Der ganze Tross drehte um und marschierte in die entgegengesetzte Richtung. „Danke dir,
Junge.“, sagte Bülow. Er reichte Aquila eine handtellergroße schwarze Platte.„Heb das gut auf, es
ist angeblich eine Drachenschuppe. Und noch etwas: Du solltest etwas mehr Fleiß an den Tag legen.“ Er gab seinem Pferd die Sporen und setzte sich an die Spitze des Zuges. Aquila seufzte. „Waterloo ist die Hölle“, sagte er zu dem Hund, während sie den Soldaten nachschauten.
Es klopfte. Fishy kam herein, und ohne Napoleon zu beachten, sagte er: „Clarissa, kommst du mal. Das ist alles ziemlich komisch. Die anderen sind auch drüben.“ Napoleon kam Clarissas Antwort zuvor: „Wie ist Sein Name, Monsieur?“ „Fishy“, murmelte Fishy, „Hallo Herr Kaiser“. Er warf Clarissa einen unsicheren Blick zu. Napoleon ließ Clarissas Hand los. „Sind Boten aus Belle­Alliance angekommen?“ „Ja, zwei Kuriere von Feldmarschall Ney warten schon seit geraumer Zeit auf Ihre Befehle, Herr Kaiser. Aber Sie haben sie ja nicht vorgelassen. Niemand wird später verstehen, warum Sie so lange gewartet haben, den Befehl zum Angriff zu geben.“ Napoleon trat zum Fenster. Er schob die Gardine beiseite, schaute nach draußen und sagte: „Überwiegend Winter und den Rest auch kein Sommer… Es regnet. Die Wege sind aufgeweicht, wir können die Kanonen nicht in Stellung bringen. Solange es regnet, sind mir die Hände gebunden. Solange muss ich in Ihrer, zugegeben kurzweiligen Gesellschaft, Madame, abwarten.“ Er verneigte sich leicht in Clarissas Richtung, die auf ihrem Platz hin­ und herrutschte. Napoleon wandte sich an Fishy: „Habe Er die Güte und kredenze Er uns Wein. Hier muss es doch einen Weinkeller geben.“ Clarissa gab Fishy heftige Zeichen mit den Augen, dass er das nur ja nicht tun solle. „Tut mir leid, Herr Kaiser, ich bedaure außerordentlich: Hier ist kein Wein, auch keine anderen Spirituosen, glauben Sie mir. Ich könnte weiß der Teufel auch etwas vertragen. Der Colonel und ich haben alles durchsucht.“ „Dann soll einer der Boten, die unnütz herumstehen, in der Umgebung etwas konfiszieren. Ich vergaß, dass wir nicht in Frankreich sind. Die Franzosen wissen einen guten Tropfen zu schätzen, das ist offensichtlich hier anders. Wahrlich ein Grund, dieses Land nicht zu annektieren. Hier herrscht genauso wenig Tischkultur wie in Preußen. ­ Und
dann habe Er die Güte, den anderen Boten zu Maréchal Ney zu schicken mit dem Befehl, auf meine weiteren Befehle zu warten.“ „Das kann ich tun“, sagte Fishy geduldig, „aber es wird auch nichts ändern“. Fishy wandte sich an Clarissa, „Clarissa, wir brauchen dich. Komm jetzt mit rüber.“ Clarissa stand auf. Napoleon lachte giftig: „Fichu, sagten Sie, sei Sein Name? Es gibt eine Redensart in der Sprache des Landes, dessen Kaiser ich bin oder war, ich meine, sein werde. Vous êtes fichu – Sie sind im Eimer. Nun, Fichu, erhebt Er irgendwelche Ansprüche auf Madame Clarisse? Ist die Dame Seine Tochter oder Seine Gattin? Nein? Dann schweige Er und lasse mich und Madame allein. Es gibt einen Dieb, der einem das Kostbarste stiehlt, was man hat: die Zeit. ­
Nein, da fällt mir ein, das wollte ich der Nachwelt eleganter überliefern, mehr auf die Zeit, meine Untertanen und auf Joséphine bezogen. Nämlich: Es gibt Diebe, die einem das Kostbarste stehlen
und trotzdem nicht bestraft werden: die Zeit.“ Fishy riss der Geduldsfaden. „Manno“, sagte er, „Wie kann man nur so gestelzt daherreden. Clarissa, lass jetzt den Scherzkeks. Und Sie, Herr Kaiser, falls Sie es noch nicht mitbekommen haben: Sie sind erledigt. Das sind einfach die historischen Umstände.“ Fishy hatte Leistungskurs Geschichte belegt. Erbost antwortete Napoleon: „Was will Er damit sagen, die Umstände? Ich allein bestimme die Umstände, die herrschen. ­ In diesem speziellen Fall allerdings…“, er musterte mit kleinen Äuglein Clarissa, die rosig anlief. „…die Zeit war noch gar nicht reif… Madame, verschweigen Sie mir etwas?“ Napoleons Augen huschten zu Clarissa, zu Fishy, der ebenfalls rot anlief, aber vor Ungeduld und Wut, und dann zwischen Clarissa und Fishy, die sich unschlüssig ansahen, hin und her. Dann plusterte Napoleon sich auf, stellte sich auf die Zehenspitzen und schrie: „So ist das also! Ich verlange Satisfaktion dafür, dass Er diese Dame kompromittiert und in fatale Umstände gebracht
hat.“ „Was will der nur, Clarissa? Verstehst du das?“, sagte Fishy verzweifelt. „Komm Er mit! Auf der Stelle! Colonel! Pistolen! “, schrie Napoleon, der von cholerischem Temperament zu sein schien. Er packte Fishy am Schlafittchen und schubste ihn durch die Tür und in den engen Flur. Fishy riss sich los und ging hoch wie eine Rakete. „Lass mich sofort los!“, brüllte er. „Willst du dich schlagen? Das kannst du haben. Du bist erledigt. Und außerdem bist du Geschichte.“ Er rannte nach draußen, Napoleon hinter ihm her. „Geschichte ist etwas, worauf man sich geeinigt hat“, rief Napoleon im Laufen. Alle im Haus stürzten ihnen nach. Während Napoleon herumtobte und nach dem Colonel rief, zog Fishy seine Jacke aus. „So ein Mist, dass ich meine Spezialhandschuhe nicht dabei habe.“, sagte er, während er Artifexia seine Jacke zum Halten gab. Endlich kam der Colonel angetrabt mit einer Schatulle, in der zwei große Pistolen lagen. „Manno, Colonel, zu wem gehörst du eigentlich?“, sagte Fishy, als der Colonel ihm die aufgeklappte Schatulle unter die Nase hielt. „Das hätte ich nicht von dir gedacht.“ „Ja.“, antwortete der Colonel. Mit spitzen Fingern griff Fishy nach der Pistole. „Und was soll ich damit?“ Inzwischen lud Napoleon seine Pistole, rannte zu Fishy und stellte sich mit dem Rücken gegen ihn. „Wir gehen jetzt jeder zwanzig Schritte und dann schießen wir“, schrie er. „Eins ­ zwei ­ drei ­ vier …“. Fishy setzte sich in Bewegung. Er hielt die Pistole am Lauf nach unten, geladen war sie nicht, im Gegensatz zu Napoleons Waffe. Als Napoleon bei zwölf angekommen war, trat aus einem Weizenfeld etwa fünfhundert Meter entfernt ein Mann in einer rot­weißen preußischen Uniform mit einem Gewehr. „Die Preußen kommen!“, rief irgendjemand, worauf Napoleon stehen blieb und dem Colonel zurief: „Colonel, mein Pferd. Ich muss augenblicklich nach
Belle­Alliance reiten und Maréchal Ney, le brave des braves, beistehen. Sie kümmern sich um den Preußen da drüben. Nehmen Sie ihn gefangen, und passen Sie auf Fichu auf, damit ich mich nach der Schlacht weiter mit ihm duellieren kann. Überbringen Sie Madame Clarisse meine Verehrung und sagen Sie ihr: „I‘ll be back“, sie wird verstehen. Er kletterte auf sein Pferd und ritt davon. „Das glaube ich nicht, dass der zurückkommt“, sagte Fishy und ließ seine Pistole fallen. Inzwischen hatte sich der Soldat genähert. Es war aber kein preußischer Soldat in preußischer Uniform sondern Exodeon in seinem Bayern­München­Trikot. „Was wolltest du damit?“, fragte er Fishy und hob die Pistole auf. „Napoleon umlegen“, antwortete Fishy leichthin. „Die ist nicht geladen“. Exodeon untersuchte die Waffe. „Der Unterschied zwischen einer modernen Waffe und einer solchen ist ganz einfach: Die moderne Waffe hat Patronen, diese hier muss man mühsam per
Hand nachladen, erst das Pulver, dann die Kugel. Das dauert ewig, und, naja, Zielen ist Glücksache. Das ist, wie wenn sie dir einen Apfel geben, und du sollst ein Auto ausrechnen.“ Er steckte die Pistole ein. „Schaut mal, was ich hier habe. Das ist ein Nothardt­Gewehr, eine M 1801. Mit diesem Modell hat die Entwicklung der Preußischen Muskete einen großen Schritt voran gemacht. Sie ist wie ihre Vorgängerinnen mit einem konischen Zündkanal und einem zylindrischen Ladenstock ausgestattet, aber trotzdem fast ein Kilogramm leichter. Sie hat ein Laufkaliber von 15,7 mm und ein Kugelkaliber von 15 mm, das heißt einen sehr knappen Spielraum. Aber sie besitzt eine vernünftige Kolbensenkung mit eingearbeiteter Backe, weshalb ein Anschlagen der Waffe möglich ist. Und Zielen kann man auch damit, weil am Laufende ein eisernes Visier angebracht ist. Damit ist sie zu Napoleons Zeit das modernste Infanteriegewehr. ­ Wo ist er übrigens hin?“ „Wer? Napoleon? Der ist nach Waterloo geritten.“ Clarissa war geblieben, wo Napoleon und Fishy sie verlassen hatten. „Mann, Terminator, das darf
doch wohl nicht wahr sein.“, seufzte sie. Niemand antwortete.
Aus den Geschichtsbüchern:
Es gibt drei Umstände, die für Napoleons Niederlage in der Schlacht von Waterloo, verantwortlich
sind:
- Der Regen weichte die Straßen auf und erschwerte es, die Truppen und die Kanonen in Stellung
zu bringen.
- Aus unbekannten Gründen, die in der Geschichtsforschung nie hinreichend geklärt werden
konnten, rechnete Napoleon nicht damit, dass die Preußen, die er endgültig geschlagen glaubte,
umkehren und in die Schlacht eingreifen könnten, und er reagierte in seinen Einsatzbefehlen und
seiner Kampfstrategie unzureichend und zögerlich. Am Morgen des 18. Juni soll er den auf die
bevorstehende Schlacht gegen Wellington gemünzten denkwürdigen Satz geäußert haben: „Das
wird ein Frühstück.“
- Hätte Bülow nach Waterloo nur ein, zwei Stunden länger gebraucht, so hätte Napoleon gesiegt.
Aber der junge Ziegenhirte, den Blüchers General Bülow nach dem Weg fragte, schickte diesen
nicht über Frischermont, wo die preußische Infanterie auf eine unüberwindliche Schlucht gestoßen
wäre, sondern über Plancenoit. So kamen die Preußen gerade noch rechtzeitig, um Wellington, der
bereits von Napoleon geschlagen war, zu unterstützen und die Schlacht zu gewinnen.
„Den rechten Arm etwas mehr nach vorne, junger Mann.“, sagte der Maler Lehmann und zückte Skizzenblock und Bleistift. „Nein, nicht so, man muss den weißen Pompon auf dem Hut sehen. Vorsicht, Sie wanken! Etwas mehr Standfestigkeit, die Herren. Und geben Sie Acht, dass Sie sich
nicht an den Säbeln verletzen. So ist gut. Bleiben Sie so, nicht bewegen.“ Hinter ihm setzten die siegreichen Engländer das Gasthaus Belle­Alliance in Brand, das noch am Morgen Napoleons Generalstab als Stützpunkt gedient hatte. „Bin ich froh, dich zu sehen, Teimor“, zischte Nelson zwischen den Zähnen hervor und balancierte
auf seinem linken Bein, da er sich ja nicht bewegen durfte, wie der Maler befohlen hatte. „Ich dachte schon, es hätte mich allein hierher verschlagen. Hast du eine Ahnung, ob die anderen auch hier sind?“ „Ich hab niemand gesehn außer dir, und ich will lieber auch woanders sein. Hoffentlich
ist er bald fertig mit seiner Zeichnung.“, sagte Teimor gequält. Gottfried Arnold Lehmann war ein Berliner Kupferstecher, der zu keinem rechten Ruf gelangte, bis
er 1806 nach Napoleons Einzug in Berlin aus dem Gedächtnis ein medaillonähnliches Profilbild
anfertigte, das in kurzer Zeit einige Tausend Male verkauft wurde. Auf einer Radierung von
Lehmann wird eine Begegnung zwischen Generalfeldmarschall Gottfried Leberecht Blücher und
Feldmarschall Arthur Wellesley, Herzog von Wellington, vom 15. Juni 1815 dargestellt. Die
Feldherren umarmen sich nach der gewonnenen Schlacht vor dem Gasthaus von Belle Alliance, von
dem allerdings auf dem Bild nur ein halb eingestürzter Holzzaun vorne rechts zu sehen ist, und
beide machen ein ziemlich gequältes Gesicht. Wellington trägt auf dem Bild eine rote Uniform, in
Wirklichkeit war sie blau. Ob die Begegnung von Blücher und Wellington an dieser Stelle jemals
stattgefunden hat, ist fraglich. Aber es gibt dieses Bild.
Kronos stapfte durchs dichte Unterholz. Ueberall Laub und stachelige Aeste und l ästige
Zweige, die einem ins Gesicht schlugen. Außerdem musste man auf seine Fue ße achten,
halb vergrabene Steine und Brombeerranken, in denen man hängen blieb. Dazwischen
gab es tueckische Loecher. Hatte Vic nicht kuerzlich gesagt, dass er mal als Foerster
gearbeitet hatte? Kronos hatte nicht viel Erfahrung, was den Wald betraf, aber er
nahm sich vor, sich heute Abend bei Vic zu beschweren, wenn sie sich bei Artifexia
trafen. Er schaute auf seine Taschenuhr: 06:52. Das konnte er noch schaffen,
vorausgesetzt, es fuhr ein Bus. Aber erst einmal musste er eine Bushaltestelle finden
und eine Straße. Saphir wuerde sich wundern, bisher war es noch nie passiert, dass
er zu spät kam, um Saphir vor der Schule abzuholen. Ärgerlich! Er stapfte weiter
durchs Unterholz. Man konnte nicht weit sehen mit dem ganzen dichten Laub, und so
richtig wusste er nicht, in welche Richtung er gehen sollte, aber irgendwie wuerde er
hier schon rauskommen. Ohne stehen zu bleiben, zog er erneut seine Uhr. Dabei
uebersah er den Baum, der sich ihm entgegenwarf, rannte voll dagegen und stie ß sich
den Kopf. Die Uhr fiel ihm aus der Hand. Leicht benommen tastete er am Boden
herum, fand die Uhr und richtete sich auf, während er die Beule rieb, die an seiner
Stirn aufzuschwellen begann. 05:31. So ein Mist, jetzt war auch noch seine Uhr
kaputtgegangen, sein schoener Chronometer, den er zu seinem ersten Geburtstag
bekommen hatte. Er erinnerte sich noch genau daran. Nicht dass er unbedingt eine Uhr
gebraucht hätte, Kronos selbst tickte voellig synchron mit der Weltzeit. Aber er
brauchte die Uhr, um sich zu vergewissern, dass die Zeit weiter in regelm äßigen
Schritten ablief, wie sie das getan hatte, seit er denken konnte. Jedenfalls tickte sie
noch, wenn auch falsch. Die Voegel begannen zu singen. Kronos steckte die Uhr
sorgfältig ein und machte sich wieder auf den Weg. Das heißt, einen Weg gab es
nicht, und es war auch ziemlich dunkel.
Die Voegel waren laengst verstummt, als Kronos aus dem Wald heraustrat. Eine
kleine gruene Schlange schlaengelte sich im Vollmond durchs Gras. Kronos blieb
stehen und zog die Hand mit der Uhr aus der Tasche. Vielleicht hatte er sich geirrt und
falsch abgelesen, und jetzt war wieder alles in Ordnung. Aber eigentlich wusste er,
dass es nicht so war. 03:09. Nach seinem Gefuehl jedoch war es jetzt ungefaehr 10:38.
Na gut. Die Uhr war eine mechanische Angelegenheit, Hauptsache sie war nicht ganz
kaputt. Irgendjemand wuerde das schon wieder hinkriegen. Allerdings war es seltsam,
dass sich die Zahnraeder in die entgegengesetzte Richtung bewegten, ohne kaputt zu
gehen.
Kronos zaehlte schnell seine Finger durch fuer den Reality Check, wie es ihm VeV
beigebracht hatte. Zehn. Alles ok. Eine Eule flog so dicht an seinem Kopf vorbei, dass
ihre Schwingen fast sein Gesicht streiften. Sie flatterte auf einen Baum und rief sanft
und fast zaertlich „Huh - huh - huhu“. Was Saphir wohl grade machte? Er sah sich
um. Weiter vorne, rechts von ihm stand ein gedrungener, nicht sehr hoher Turm, und
da waren auch Leute, die ihn schon bemerkt hatten, denn zwei gro ße Gestalten in
langen schwarzen Maenteln kamen auf ihn zu. Der eine trug einen Stab, auf den ein
metallener Drachenkopf aufgesteckt war; der Drachenkoerper bestand aus einem
Schlauch aus rotem Tuch. Waehrend sie naeher kamen, drueckten sie sich staendig
gegenseitig die Drachenstandarte in die Hand, anscheinend wollte keiner sie mehr als
zwei Schritte tragen. Dabei spielte sich ihre Auseinandersetzung nicht so wortreich ab
wie Kronos‘ und Saphirs Streitigkeiten, sie schienen sich fast wortlos zu verstehen,
auch wenn sie sich stritten.
„Hi Kronos.“, sagte Indi, als die beiden den wartenden Kronos erreichten, und zeigte
mit dem Daumen auf VeV. „Er hat staendig eine Ausrede, warum er das Ding
angeblich nicht tragen kann. Mal hat er kein Gefuehl in der rechten Zeigefingerkuppe,
das andere Mal solche Rueckenschmerzen, dass er nicht aufrecht gehen kann. Ich kann
doch nichts dafuer, dass er mit den Liegestuetzen, den Situps und den Kniebeugen
uebertreibt. Außerdem sind die Betten viel zu kurz, ich schlafe auch nicht so gut, wenn
die Fueße unten raushaengen. Und die komplette Verwandtschaft von Exodeons
Flohzirkus hat ihr Nachtlager in meinem Bett aufgeschlagen. Nur dass sie nachts nicht
schlafen sondern beißen. Aber deshalb kann ich doch nicht die ganze Zeit dieses
schwere Ding allein schleppen.“
„Ein bisschen mehr Training wuerde dir auch guttun. “, sagte VeV gleichmuetig.
„Ja klar. Damit ich ebenfalls eine Ausrede haette, um das Ding da nicht zu schleppen. “
Ryu rammte den Standartenstiel in den Boden und fing ihn sofort wieder mit der
Hand auf, weil er natuerlich nicht stehen blieb.
„Was ist das ueberhaupt?“, fragte Kronos.
„Eine Dracostandarte. Und den Spruch muessen wir auch noch auswendig lernen, hat
der Chef gesagt. Er hat gesagt, dass er uns abhoeren will.“
Auf dem Tuch der Dracostandarte stand der Spruch „Vi veri veniversum vivius vicit “.
VeV seufzte. „Das kann man nicht einmal vorlesen, so ein Zungenbrecher ist das. Vi
veriveni vivicus…. Wie gehts weiter?“
Kronos las ab: „Vi veri veniversum vivius vicit. Ich habe das große Latinum. Es
bedeutet: Durch die Macht der Wahrheit habe ich als Lebender das Universum erlangt.
Was soll das denn heißen?“
„Wenn ich das wuesste.“, sagte VeV.
„Der muss sich ja ziemlich großartig vorkommen, der das von sich sagt. Der Spruch
wuerde gut zu diesem Angeber von Terminator passen, der bildet sich auch ein, er
koennte ueber alles bestimmen.“, sagte Kronos aergerlich.
Die Eule stieß ein erschrockenes „Huh“ aus und flog schnell davon. Vorher lie ß sie
aber noch einen großen gruenen Klecks auf Kronos' Haupt fallen.
„Verdammt, Saphir!“, rief Kronos empoert, doch dann fiel ihm ein, dass Saphir gar
nicht hier war. „Kann man irgendwo duschen?“
„Die haben hier kein fließend Wasser und keinen Strom. “, antwortete Ryu, „Aber du
kannst deinen Kopf in die Wassertonne stecken, wenn du willst.“
„Komm jetzt“, sagte Indi, „wir bringen dich zum Chef. “
Der Turm hatte drei Stockwerke. Im unteren wurden die Vorraete gelagert, im ersten
Stockwerk, wo auch der Eingang war, den man ueber eine steile Treppe erreichte, war
der Schlaf- und Wohnbereich, und ganz oben befand sich die Wachebene mit einer
außen umlaufenden hoelzernen Bruestung. Als sie eintraten schaute Kronos auf seine
Uhr. 23:55. Sie lief immer noch rueckwaerts, und das viel zu schnell.
„Du kannst den RC spaeter machen“, sagte VeV mit Blick auf Kronos ‘ Uhr und
steckte die Dracostandarte in eine Art Schirmstaender, der neben der Tuer angebracht
war, „wenn du mit dem Chef gesprochen hast. Falls du dann noch willst. “
Der Chef saß mit ueberkreuzten Beinen auf einem schmalen Bett. Um ihn herum und
auf dem Boden waren ueberall Blaetter verstreut. VeV raeusperte sich. „Ich krieg den
Fishy-Drachen einfach nicht so hin, wie ich mir das vorstelle.“, sagte der Chef, ohne
aufzuschauen. „Gut, dass ich mir vor dem Wochenende noch einen neuen Zeichenblock
gekauft habe.“ Er riss das Blatt ab, das er eben bearbeitete. „Habt ihr den Spruch
gelernt?“ Er hob den Kopf und schaute die drei an. Der Chef war Schatzi.
„Hi Schatzi,“ sagte Kronos ueberrascht. „Bist du auch hier?“
Indi trat Kronos auf den Fuß und fluesterte: „Die korrekte Anrede lautet: Prima Pila. “
Kronos sah keine Veranlassung zu fluestern: „Prima Pila? Was ist denn das fuer ein
komischer Name? Klingt wie ein Schokoriegel.“
Schatzi sah Indi an, der leicht verlegen zu Kronos sagte: „Das ist ein Titel, kein
Name.“
„Und bedeutet, dass ich hier der Chef bin. Ich wuerde dir nicht raten, dich mit mir
anzulegen.“ fuegte Schatzi giftig hinzu.
„Das wuerde ich dir allerdings auch unter normalen Umstaenden nicht raten. “,
fluesterte VeV.
„Verstehe.“, sagte Kronos verstaendnislos. „Du bist eine Prima Pila, und was sind
Indi und VeV, Secundi Pilaris?. Was soll das ueberhaupt alles? Ich gehe jedenfalls
jetzt mal gucken, wo ich Saphir finde. Wisst ihr, wo die naechste Bushaltestelle ist? “
„Saphir ist nicht hier. Einen Bus gibt es nicht. Du quartierst dich oben ein und passt
auf, ob jemand kommt.. Wenn du jemand kommen siehst, sagst du Bescheid, dann
muessen wir hier Vorsichtsmaßnahmen ergreifen. “ Und zu Indi und VeV: „Ihr koennt
nach unten gehn.“
„Was fuer Vorsichtsmaßnahmen denn?“, fragte Kronos, „Wenn wer kommt? “
„Der Feind sozusagen“, antwortete Indi. „Prima Pila Sempronia Gracchia“, er holte
tief Luft, nachdem er diese Woerter ohne zu stottern herausgebracht hatte, waehrend
Kronos sich an einem unterdrueckten Lachen verschluckte. „Wenn wir unten sind und
Kronos oben, duerfen wir dann Met trinken? Ein Trinkhorn voll vielleicht? “
Schatzi ueberlegte. „Erst muesst ihr den Spruch sagen. Habt ihr ihn gelernt? “
VeV und Indi schauten sich betreten an. „Nun ja, wir haben ihn gelernt. Jedenfalls
haben wir angefangen damit.“, sagte VeV. „Ich hatte nicht so viel Zeit, weil ich noch
trainieren musste, und bei den Rueckwaertsliegestuetze ist immer der Hocker
zusammengeklappt, der mit dem durchhaengenden Leder als Sitzflaeche. Einen richtigen
Stuhl haben wir ja nicht. Staendig habe ich mich verzaehlt und konnte wieder von
vorne anfangen, deshalb hat es ziemlich lang gedauert..“
„Und ich musste waehrenddessen die Drachenstandarte halten“, sagte Indi schnell.
Schatzi war unnachgiebig: „Als Draconarii muesst ihr den Spruch auswendig koennen.
Also kein Met.“
„O Mann, wir sind doch gar keine Soldaten sondern Wanderer.“, sagte Indi
bedauernd.
„Draconarii? Soldaten? Kann mir vielleicht mal jemand erklaeren, was das soll? “,
fragte Kronos.
„Sag’s ihm, VeV“, antwortete Schatzi.
„Wir sind hier in dem Turm und passen auf, ob jemand kommt“, fing VeV an. „So
wie das bei dir war, als du aus dem Wald gekommen bist.“
„Ja genau.“, fuhr Indi fort und warf einen schnellen Blick auf Schatzi. „Das hier ist
die Prima Pila und wir sind Draconarii. - Was ist Kronos eigentlich? “
„Kommt drauf an. Das ueberlege ich mir noch“, sagte Schatzi drohend. Sie wuehlte in
den losen Blaettern, die um sie herum verstreut lagen, zog eins heraus und las laut vor:
„Schwarz ist meine Seele, steinern mein Herz,
Kalt mein Leib und blind meine Augen,
Gutes erschaffen war mein Ziel,
Boeses verbreiten meine Tat,
bereue und duerste doch nach Rache,
blind und tot, gefesselt und gebunden,
so steh ich hier und frage euch:
„Wer seid ihr, dass ihr ueber mich richtet? “
„Was haltet ihr davon?“
„Schoen, aber ein bisschen traurig“, sagte Indi zoegernd. „Hast du das geschrieben? “
„Schoen bestimmt nicht,“ sagte Schatzi ungnaedig. „giftig, aetzend, toedlich – aber
nicht „schoen“. Dann koenntest du auch gleich solche haesslichen Attribute benutzen
wie „gutmuetig“ oder „dankbar“.
Kronos fiel ploetzlich etwas ein. „Außer uns ist niemand hier. Seid ihr sicher? Koennte
es sein, dass dieser Terminator sich in der Gegend herumtreibt? Dem wuerde ich das
zutrauen. Habt ihr nicht eben etwas von einem Feind gesagt? Mir kommt das alles so
unwirklich vor, wie in einem Traum. Ich habe schon ein paar Mal den RC gemacht,
aber alles in Ordnung. Versteht ihr das?“
„Welchen RC hast du gemacht?“, fragte VeV interessiert.
„Na, Finger abzaehlen“, sagte Kronos.
„Manchmal reicht das nicht und manchmal funktioniert es nicht. “
„Du meinst, ich muss auch noch meine Zehen abzaehlen?“, fragte Kronos. „Da kommt
garantiert auch nichts anderes bei raus.“
„Was ist mit der Uhr?“
„Was soll damit sein? Die kann ich im Moment nicht benutzen. Sie ist mir hingefallen
und jetzt ist sie kaputt. Das heißt, sie geht noch, aber rueckwaerts. “
„Ich hab’s dir ja gesagt“, sagte VeV ruhig. „Du musst immer verschiedene RCs
machen. Hast du vielleicht mal eine kaputte Uhr gesehen, die rueckwaerts laeuft? “
Kaum betrat Kronos das oberste Stockwerk des Turmes, kam die Eule hereingeflogen,
denn die Fensteroeffnungen waren nicht verglast. Sie kreiste einmal um Kronos, der
sich vorsorglich wegdrehte, damit er nicht noch einmal etwas Gruenes abbekam, sagte
erfreut: „khuhuks“ und ließ sich dann unter dem Dach im Gebaelk nieder.
Vorsichtshalber schloss sie aber nur ein Auge, mit dem sie Kronos beobachtete,
wechselte jedoch das Auge von Zeit zu Zeit ab. Kronos seufzte: „Wenn du das sehen
koenntest, Saphir!“ Im Dachzimmer gab es allerdings nicht viel zu sehen. Auf dem
Boden lag Stroh aufgeschuettet, kein Bett, kein Tisch, nichts.
Kronos trat auf den Balkon, der rund um den Turm fuehrte. Der Turm stand auf einer
baumlosen gerodeten Schneise, ansonsten rundherum nur Wald. Er drehte nachdenklich
ein paar Runden und sah jedes Mal, wenn er wieder zum Ausgangspunkt zurueckkam,
auf die Uhr. Sie ging nicht nur rueckwaerts, sondern auch unregelmae ßig. Eine Runde
um den Turm dauerte mal vier Minuten und das naechste Mal eine halbe Stunde.
Konnte gar nicht sein. Egal was die anderen sagten, die Uhr war kaputt. Eindeutig. Die
Zeit konnte nicht kaputt sein, also war es die Uhr.
Nach Kronos’ siebenundreißigster Runde trat ein Mann aus dem Wald. Er trug
rotkarierte Hosen, einen topfartigen Metallhelm und lange geflochtene Zoepfe. Kronos
duckte sich hinter die Balkonbruestung und beobachtete den Mann, waehrend der direkt
auf den Turm zuschritt. „Terminator, jetzt kannst du was erleben! “, murmelte er
wuetend.
Kronos rannte nach unten, wo Schatzi immer noch mit ihren Drachenzeichnungen
beschaeftigt war. „Alarm! Terminator kommt!“.
„Lass ihn nur kommen.“, antwortete Schatzi gelassen. „Jemand muss uns hier
rausholen, ich habe kein Papier mehr.“ Sie wies auf die ueberall verstreuten Blaetter
mit Drachenzeichnungen.
Die Tuer wurde aufgestoßen, und der Mann mit den Zoepfen blieb in der Tuerfuellung
stehen, sodass man nur seine Silhouette erkennen konnte. „Salve Prima Pila. Ich
grueße dich ehrwuerdige Matrone. Hi Kronos.“, sagte er und warf die langen Zoepfe
nach hinten.
„Die Matrone kannst du dir sparen.“, fauchte Schatzi.
„Das ist aber ein sehr respektvoller Titel bei den Roemern. Guckst du hier: http
Doppelpunkt slash slash de dot wikipedia dot org slash wiki slash matrone“, sagte er.
„Wir haben kein Internet.“, sagte Schatzi schnippisch. „Au ßerdem interessieren mich
die Roemer nicht.“
„Das sollten sie aber. Es gehoert zum Allgemeinwissen und ist Geschichte. Die
Vergangenheit ist naemlich gar nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen. Das hat
Faulkner gesagt, hier: http Doppelpunkt slash slash de dot wikiquote dot org slash wiki
slash William Unterstrich Faulkner.“ Der Mann trat ins Zimmer. Es war nicht
Terminator.
„Wie hast du uns gefunden, Vic“, fragte Kronos enttaeuscht.
„Na ja, ich bin im Auftrag von Imperator Commodus unterwegs, um eine abolitia
nominis auszufuehren.“
„Abolitia nominis? Ausloeschung des Namens? Warum will dieser Commodus, was ist
das ueberhaupt fuer ein laecherlicher Name?, dass sein Name ausgeloescht wird? “
„Commodus“ heißt hoeflich, gefaellig, zuvorkommend. Gutmuetig eben. Und den
Namen, der ausgeloescht werden soll, den kann ich dir nicht sagen. “, antwortete Vic
bestimmt. „Sonst waere er nicht ausgeloescht. Mann nennt es auch „memoria
damnata. Guckst du hier: http Doppelpunkt slash slash de dot wikipedia dot org slash
wiki slash Damnatio Unterstrich memoriae“.
„Der einzige, auf den ich so eine Wut habe, dass ich die Erinnerung an ihn am liebsten
ausloeschen wuerde, ist Terminator.“, sagte Kronos erbost.
Vic schaute sich um: „Pst! Du darfst diesen Namen nicht nennen, darauf steht eine
lange Zeit der Verbannung.“
„Du meinst, Terminator ist derjenige, dessen Name ausgeloescht werden soll? “, fragte
Kronos verbluefft. „Und wie geht das, den Namen ausloeschen?“
Vic geriet ins Dozieren. „So ist es. Der Name des von der memoria damnata
Betroffenen wird zum Beispiel von jedem Terminus, so heißen die Grenzsteine,
geloescht, jedes einzelne seiner Bildnisse wird umgearbeitet in eine andere,
unverdaechtige Person. Habt ihr schon mal Darstellungen mit einem proportional zu
kleinen Kopf und großen abstehenden Ohren gesehen? Oder ein Eulengesicht? Letztens
habe ich sogar eine Statue mit einer riesigen nashornmae ßigen Nase gesehen, die war
noch von dem urspruenglichen Bildnis stehen geblieben“
„Du meinst, Terminator hat moeglicherweise gar keine abstehenden Ohren, ein
Eulengesicht und ein Nashornhorn? Und es liegt auch nicht daran, dass der Kuenstler
das Bildnis verkorkst hat.“ Kronos schielte auf Schatzis Drachenbilder und verbesserte
sich schnell: „… oder weil Gesichter am schwierigsten darzustellen sind? “
Vic nickte bekuemmert. „Dabei funktioniert es gar nicht. Der Name desjenigen, der
oeffentlich verflucht wurde, ist in der Bevoelkerung bekannter als der Name des
Imperators. Paradoxerweise wird durch die memoria damnata die Erinnerung nicht
ausgeloescht sondern wachgehalten. So war es auch mit Nero und Caligula. “
„Was hast du denn eigentlich mit Terminator zu tun?“, fragte Schatzi.
„Psst“, sagten Vic und Kronos gleichzeitig und schauten sich um.
Im Untergeschoss des Turmes klirrte es. Schatzi zog seelenruhig den Hammer unter
ihrem Kopfkissen hervor, beugte sich aus dem Schneidersitz heraus ueber den Bettrand
und donnerte mit dem Hammer auf den Boden, woraufhin Stille eintrat. Gleich darauf
wurde die Luke im Boden aufgestoßen und VeV und Indi tauchten aus der
Versenkung.
„Kann man euch denn nie aus den Augen lassen?“, sagte Schatzi wuetend. „Wie ihr
seht, haben wir offiziellen Besuch. Wo ist die Drachenstandarte? “
„Das ist doch bloß Vic“, sagte Indi. „Aber er hat sich schon maechtig herausgeputzt
mit seinen Zoepfen. Der Hut ist uebrigens auch gut, darin kann man notfalls Suppe
kochen.“ Er kicherte. Anscheinend hatte er verbotenerweise vom Met gekostet.
„Ich habe doch gesagt, dass ihr nichts trinken sollt. “, sagte Schatzi streng.
„Ich habe nichts getrunken, Prima Pila, sonst kriege ich keine
dreihundertfuenfundzeunzig Liegestuetzen zusammen. Aber Indi wollte partout nicht
glauben, dass das in den Kruegen da unten keine Limonade ist sondern Met. “
„Genauer gesagt: Drachenblut.“, sagte Indi. „Inzwischen ist mir auch klar, dass ich
mich geirrt habe. Aber eigentlich ist kein großer Unterschied zu Limonade. “
Schatzi wandte sich wieder an Vic: „Also, sag mal, was hast du mit diesem
Terminator zu tun, dessen Name jetzt, wo wir ihn nicht mehr aussprechen sollen, in
aller Munde ist?“
„Pssst“, antwortete Vic. „Ich? Nichts. Wirklich nicht, glaub mir. Ich kenne ihn nicht
einmal…“ Schatzi, Kronos und VeV sahen sich an. Es war offensichtlich, dass sie
Vic nicht glaubten. „Ich bin Druide und deshalb…“, fuhr Vic nicht sehr ueberzeugend
fort.
Indi prustete los. „Druide? Ach deshalb hast du diese Zoepfe. Wann bekommen wir
den Zaubertrank?“
„Es gibt keinen Zaubertrank.“ Vic war sichtlich beleidigt. „Ihr habt voellig falsche
Vorstellungen, was die Aufgaben eines Druiden betrifft. Druiden sind die geistige Elite
bei den Galliern. Sie widmen sich dem Studium der Philosophie und sind als
Ratgeber und Unterhaendler der Fuersten taetig. Guckst du hier: http Doppelpunkt
slash slash de dot wikipedia dot org slash wiki slash Druide.“
„Schluss jetzt. Geh die Drachenstandarte holen.“, sagte Schatzi giftig.
„O Mann, immer ich.“ Indi schmollte und trottete nach draußen.
Kronos zog gewohnheitsmaeßig seine Uhr aus der Tasche und warf einen Blick auf das
Zifferblatt mit der Darstellung des Gottes der Zeit, wie er seine Kinder frisst: 9:47. Er
stutzte. Der Deckel auf der Rueckseite klaffte auf. Als er gegen den Baum gerannt war,
musste noch mehr kaputt gegangen sein, denn er war noch nie auf die Idee gekommen,
den Deckel auf der Rueckseite zu oeffnen. Jetzt war er von selbst aufgesprungen. Innen
war etwas eingraviert: Quis, quid, ubi, quibus, auxilius, cur, quomodo, quando ? Cave
canem! Meinem verehrten Freund Franz Bopp von Friedrich Wilhelm Christian Carl
August von Humboldt, anno 1813 . Bopp? Wo hatte er den Namen schon gehoert?
„Seht euch das an“, sagte er. „Das habe ich noch nie bemerkt.“ Cave canem! - Huete
dich vor dem Hund. Dafuer war es ja wohl zu spaet, dachte Kronos wehmuetig, denn
er hatte die versabbelte Brezel des laechelnden Hundes laengst verspeist. Aber in
Zukunft wuerde er sich vor dem laechelnden Hund vorsehen, was nicht so einfach war,
da Babaka Saphir staendig begleitete und Kronos und Saphir sich niemals trennten.
Außer jetzt. Quis, quid, ubi, quibus, auxilius, cur, quomodo, quando ? - Wer, was,
wo, welche, wie viele, wann, wer noch?“
„Das sind die 7W“, sagte Vic, „Die kennt man aus schwedischen Krimis: Wer
berichtet, was ist geschehen, wo und wann, welche Personen sind beteiligt, wie viele
Verletzte gab es, wer hat es gesehen? Guckst du hier: https Doppelpunkt slash slash de
dot wikipedia dotorg slash wiki slash Fragetechnik.“
Indi kam mit der Drachenstandarte herein und veranstaltete dabei einen Riesenlaerm,
weil er versehentlich mit dem Metallkopf der Standarte in die Tuerfuellung knallte, und
der Drachenkopf eine Beule bekam. Schatzi warf ihm erneut drohende Blicke zu. „Es
gibt auch die neun goldenen As“, sagte er eifrig. „Alle anderen Arbeiten auf andere
abschieben, anschließend anschwaerzen. Da, halt mal eben, VeV. “, und er drueckte
VeV, der automatisch danach griff, die Drachenstandarte in die Hand.
„Mach mal den RC“, sagte VeV zu Kronos, waehrend er mit einer Hand die schwere
wankende Drachenstandarte auszubalancieren versuchte.
„Das bringt nichts“, sagte Kronos. „Ich habe schon dreimal meine Finger und Zehen
durchgezaehlt. Macht Sechzig. Alles ok.“
„Was ist mit der Uhr?“
„Die Uhr ist kaputt, sie geht rueckwaerts, das wei ßt du doch “, sagte Kronos
ungeduldig und warf einen vergewissenden Blick auf die Zeiger. 9:52. Er erschrak.
9:52?? „Sie geht wieder vorwaerts. Vielleicht haben die Zahnraeder einen Schlag
bekommen, als der Deckel aufgeflogen ist und drehen sich wieder in die andere
Richtung.“, sagte er hoffnungsvoll.
„Das glaubst du doch selbst nicht“, sagte VeV.
„Ich weiß nicht, ob das so gut ist“, sagte Vic. „Wenn die Uhr wieder regulaer geht,
dann brauchen wir ungefaehr neunhundert Jahre, bis wir wieder zu Hause sind. “
Die Eule kam hereingeflogen und setzte sich auf einen Deckenbalken. „Soll das ein
Witz sein?“, fragte Kronos, „ich kann doch nicht so lange hier herumsitzen. Was wird
Saphir sagen…“
„Und ich brauche dringend Papier“, sagte Schatzi.
„Also ich koennte es ohne Weiteres hier aushalten, solange wir genug von dieser
Limonade haben. Ihr moegt ja keine, oder?“, sagte Indi.
„Da halt mal“, sagte VeV, „ich geh jetzt meine Liegestuetze machen. “ Er gab Indi die
Standarte und verschwand im unteren Stockwerk des Turmes.
„Wir sollten die 7 W zusammen durchgehn. Vielleicht sehen wir dann klarer. “, sagte
Vic. „Wir schreiben das Jahr 125, Commodus der Gutmuetige regiert. Das hier ist ein
Grenzturm des Limes.Das wissen wir.“
„Wie viele Verletzte ist auch klar“, sagte Kronos.
„Ist jemand verletzt?“
„Ich.“, sagte Kronos. „Na ja, nicht direkt, aber man kann auch nicht behaupten, dass
die Brezel sehr gesund war.“
Es rumpelte, und dann wurde die Tür aufgestoßen. „Hi“, sagte der Neuankömmling. „Ich wusste
nicht, dass hier jemand ist. Wollte mich mal umsehen.“ Er zog einen Keks aus der rechten
Hosentasche und biss hinein, dass die Krümel auf den Boden prasselten. “Ich bin Water.“ Water trug
schwarze Hosen mit sehr weiten Beinen, an denen eine Menge Kletten hingen und eine Wollmütze,
in der kleine Ästchen und Blätter steckten. Anscheinend war er schon längere Zeit im Wald
unterwegs. Am Gürtel hatte er rechts und links jeweils ein Messer. „Was treibt ihr hier?“
„Wir führen eben eine Untersuchung durch. Und du?“ sagte Vic vorsichtig und warf seine Zöpfe
nach hinten.
„Wir sind auf Schatzsuche, Stevie und ich.“
„Ist da noch einer?“, fragte Vic.
„Wie man’s nimmt. Wartet mal. Ich hole Stevie.“
Als er weg war, sagte Kronos: „Der hier ist ganz sicher nicht Terminator. Sieht eher aus wie ein
Gallier -abgesehen von der Mütze. Wie ist das jetzt, sind die Gallier unsere Feinde oder nicht?“
Nach zwei Minuten war Water zurück und rief aufgeregt: „Stevie hat was gefunden, bestimmt
römische Goldmünzen, von denen sind hier überall welche vergraben. Kommt ihr?“ Schatzi,
Kronos und Vic stürzten Water neugierig nach, Indi folgte etwas langsamer, da er die
Drachenstandarte schleppen musste. Neben dem halb versunkenen Grenzstein, dessen Inschrift Vic
ausmerzen sollte, kniete Stevie mit dem Rücken zum Turm auf dem Boden und schaufelte die Erde
beiseite. Er war so beschäftigt, dass er die anderen kaum beachtete.
„Dann kannst du mir auch grade helfen, die Inschrift auf dem Grenzstein auszulöschen, Kronos.“,
sagte Vic und zeigte auf den Terminus. Man konnte noch die Buchstaben „tor“ erkennen.
Stevie stieß einen Schrei aus. „Ha, hier ist was. Ich hab’s!“, rief er aufgeregt mit heller Stimme.
Während die anderen gespannt um ihn herumstanden, grub Stevie mit den Händen im losen
Waldboden weiter und zog dann den Schatz vorsichtig aus dem Erdboden. Als er die restlichen
trockenen Erdkrümel abpustete, konnte man zwei Dinge erkennen: Erstens: Stevie war ein
Mädchen. Damit war natürlich klar, dass Stevie nicht Terminator sein konnte. Zweitens: Der
kastenähnliche Gegenstand war nicht etwa eine Schatulle mit Gold und Diamanten, sondern eine
kleine Wanduhr mit Messingperpendikeln in Tannenzapfenform.
„Schade, kein römischer Goldschatz.“, sagte Water enttäuscht.
Im selben Moment sprang ein Türchen an der Uhr auf, eine kleine Schnecke kam herausgefahren
und rief zehnmal „Kuckuck“. Automatisch zog Kronos seine Uhr und verglich die Uhrzeit. 10:00.
Völlig synchron. „Merkwürdig“, sagte VeV, der mit seinen Liegestütze fertig war, „seit wann haben
die Römer Kuckucksuhren?“
„Die kann noch nicht lange hier liegen, wenn sie noch geht.“, sagte Vic.
Stevie gab Kronos die Uhr und zog ein gebundenes DIN A5-Büchlein aus ihrem Rucksack.„Mir ist
was eingefallen, muss ich schnell aufschreiben.“ Während Stevie eifrig in das Buch kritzelte,
begutachteten Kronos und die anderen die Uhr von allen Seiten. Sie schien die neunhundert Jahre
rückwärts gut überstanden zu haben und tickte im Gleichtakt mit Kronos’ Taschenuhr. Auch ein
mehrmals wiederholter RC von VeV und Kronos ergab keine Unstimmigkeiten.
„Wir sind zweifellos nicht in einem Traum, sondern im rl“, sagte VeV enttäuscht.
„Was schreibst du denn da? Hör mal, kann ich ein bisschen Papier von dir bekommen?“, fragte
Schatzi.
Mit klarer, lauter Stimme las Stevie vor, während die Eule, die sich auf einem Baum in der Nähe
niedergelassen hatte, bei den ersten Worten erschreckt aufflog und sich in den Wald flüchtete.
„„Unter metafiktionalen Statements in narrativen Texten verstehe ich binnenfiktionale
metaästhetische und autoreferentiellen Elemente des erzählten und erzählenden Textes, die
unabhängig von ihrer narrativen Funktion über die im Text repräsentierte Wirklichkeit
hinausweisen, indem sie beim Betaleser einen Rekurs auf eine explizite Dialogizität und
Intertextualität evozieren, die über die eigentliche fiktionale Fiktionalität hinausweist auf eine
implizite, als Realität erfahrene Metafiktion.“
Indi und VeV bekamen einen furchtbaren Lachanfall und verschluckten sich fast.
„Sowas fällt dir so nebenbei ein?“, sagte Kronos entsetzt.
„Ja, das ist Stevie“, sagte Water ungerührt und biss in einen Keks, den er aus der linken
Hosentasche gezogen hatte. Dieser war ein wenig matschig.
Vic war beeindruckt: „Leider habe ich jetzt keinen Link parat, aber ich sehe das genauso wie du.“,
sagte er.
„Und was heißt es genau?“, fragte Kronos.
„Das heißt, dass metafiktionales Schreiben als Überlebensstrategie verstanden werden kann.“
„Ach ja?“, sagte Kronos erstaunt. „Hätte ich mir denken können. Wieso das denn?“
„Weil in einem metafiktionalen Roman der Autor selbst eine Romanfigur ist, das heißt, er kann nur
im Roman überleben, weil er, wie seine Figuren, nur dort existiert.“
Kronos überlegte angestrengt. „Versteh ich nicht. Wie kann jemand, der selbst in einem Roman ist,
einen Roman schreiben? Woher weiß jemand, dass er eine Romanfigur ist?“
„Das Problem ist eher, dass die meisten Romanfiguren nicht wissen, dass sie es sind. Oder sie
wollen es nicht wahrhaben. Manchmal merken sie es und wehren sich.“
Kronos horchte auf: „Wie kann man sich gegen den Autor wehren, wenn man in einem Buch ist?“
„Das kann ich dir nicht so genau sagen“, antwortete Stevie. „Soweit bin ich noch nicht in meinen
Studien. Nächste Woche fahre ich erst einmal nach Irland zu Flann O’Brien. Der ist zwar schon tot,
aber vielleicht kann ich trotzdem was rauskriegen. Er hat zwei berühmte metafiktionale Romane
geschreiben: „Der dritte Polizist“ und „In Schwimmen-zwei-Vögel“.“
„Also ich finde, dass du schon ziemlich weit bist“, sagte VeV. „Stellt euch mal vor, wie blöd es ist,
wenn man in einem Buch festsitzt und weiß es nicht. Man sieht vor lauter Bäumen den Wald nicht.“
Er schaute sich nachdenklich um. Die Eule kam wieder geflogen und setzte sich in Kronos’ Nähe
auf den nächsten Baum.
„Das mit dem Autor als Romanfigur muss nicht unbedingt sein.“, sagte Stevie. „Eine Metafiktion
kann auch ein Roman über eine Person sein, die einen Roman liest. Manchmal ist der Roman auch
einfach nicht linear, das heißt, man kann ihn in einer anderen als der linearen Reihenfolge lesen.
Ach ja, aber ganz wichtig: Im Roman ist die Zeit aufgehoben.“
Kronos zog die Augenbrauen hoch. „Wo gibt’s denn sowas. Das ist nicht zu fassen!“, sagte er
empört.
„Letztens habe ich ein Buch rückwärts gelesen, dieses Drachenbuch, das Vic geschrieben hat.“
„Wieso denkt ihr immer, dass ich Terminator bin?“ Vic war jetzt wirklich sauer. „Ich habe Besseres
zu tun als ein Buch über Drachen zu schreiben und andere Leute darin in die Zeitverbannung zu
schicken.“
„Sprecht ihr von Ran Ghor oder von Drachenkrieg?“, fragte Water interessiert und biss in den
nächsten Keks. Es war wieder ein krümeliger aus der rechten Hosentasche. „Die sind cool.“ Es war
nicht ganz sicher, ob er die Drachenbücher oder die Kekse aus der rechten Hosentasche meinte.
„Sie meinen das Drachenbuch mit Temeraire und Kouhei.“, sagte Schatzi, ohne von dem Heft
aufzusehen, das Stevie ihr gegeben hatte. Sie zeichnete schon wieder.
„Ach so das. Das hab ich nicht gelesen. Nur die ersten fünf Kapitel. Ich finde es langweilig.“
Vic sagte langsam: „Wie habt ihr eigentlich den Schatz gefunden, Water?“
„Na ja, man kann schließlich nicht den ganzen Wald umgraben, man muss schon wissen, wo man
suchen muss. Mit einem Metalldetektor natürlich.“ Er hielt das Ding hoch. „Kostet ein paar Euro
bei Amazon.“
„Seit wann haben die Römer Metalldetektoren?“, sagte Vic. „Selbst Karabinerhaken gab es erst zu
Napoleons Zeiten. Guckst du hier: http Doppelpunkt slash slash de dot wikipedia dot org slash wiki
slash karabinerhaken.“
„Was habt ihr nur immer mit den Römern. Davon abgesehen:“, Water wandte sich an Vic, „Du bist
doch wohl eindeutig kein Römer, sondern ein Gallier.“
Vic ging nicht auf diese Feststellung ein. „Welches Jahr ist eigentlich?“
„Wie lange sitzt ihr schon in diesem Wald herum, dass ihr nicht wisst, welches Jahr wir haben.“
„Wenn du es unbedingt wissen willst:“, antwortete Kronos, „ungefähr neunhundert Jahre.“ Er
schaute in den Himmel, wo ein hoch fliegendes Flugzeug einen Kondensstreifen zog. „Aber jetzt ist
es Zeit, nach Hause zu gehn. Saphir wird Augen machen.“
Es regnete ziemlich heftig, und Artifexia hatte die Lampen im Kino eingeschaltet, obwohl erst
Nachmittag war. Indi und VeV waren schon da, die klatschnassen Mäntel und Indis Hut lagen zum
Trocknen über den Kinositzen. Sein blaues Schälchen war ebenfalls nass, aber das legte er aus
Prinzip nicht ab, angeblich trug er es sogar unter der Dusche. Es war sein persönliches
Erkennungszeichen und sein Talisman. Im Schirmständer stak die Drachenstandarte. Nach und nach
trudelten die anderen ein, Saphir und der lächelnde Hund, Schatzi, Aquila, Isa und Nelson. Water
spendierte ein nur ganz wenig durchgeweichtes, angebrochenes Päckchen mit Cookies, das er unter
seiner Alljahreszeiten-Wollmütze transportiert hatte, denn Artifexia hatte diesmal keine
Zuckerschnecken gebacken. Als sie damit fertig war, ein Plakat zum neuen Loki-Film aufzuhängen,
blieb sie völlig abwesend vor dem Plakat-Loki stehen und schaute ihm wehmütig und abwesend in
die Papieraugen. Stevie war nicht da, sie war nach Irland abgereist, und Exodeon absolvierte einen
Lehrgang in Apnoe-Tauchen. „Fishy lässt ausrichten, dass er keine Zeit hat, irgendwas mit seinem
Aquarium. Hat jemand Kronos gesehn?“, sagte Saphir nervös. Er konnte nicht ruhig sitzen und
versuchte, Babaka von seinen Füßen zu schubsen, was der Hund aber hartnäckig ignorierte.
Niemand wusste etwas von Kronos.
Jside und Exidium kamen herein. Jside trug Findus auf dem Arm, der heruntersprang, sobald sie das
Kino betreten hatten. Ohne den lächelnden Hund zu beachten, verschwand er im Projektorraum,
und Jside folgte ihm. Auch Babaka würdigte den Kater keines Blickes. Excidium setzte sich zu den
anderen.
Zuletzt kam Vic. Als er seine Jacke auszog und den Hut, auf dem sich Regenwasser angesammelt
hatte, ausschüttelte, fielen seine langen Zöpfe herab, die er unter den Hut gesteckt hatte.
„Seit wann trägst du Zöpfe?“, sagte Aquila erstaunt. „Mal ehrlich: ich hab überhaupt nichts gegen
Männer mit Zöpfen, aber es sieht trotzdem irgendwie unpassend aus.“
„Was heißt unpassend?“, antwortete Vic. „Hier ist es vielleicht unpassend, woanders ist es normal.“
„Wenn Clarissa da ist, können wir anfangen.“, sagte Nelson. Artifexia reichte die Kekse weiter,
ohne hinzusehen. Sie war immer noch völlig abwesend und betrachtete wehmütig das Loki-Plakat.
„Kronos ist aber auch noch nicht da.“, sagte Saphir besorgt. Es gelang ihm endlich, Babaka
wegzuschubsen. Er öffnete die Tür und schaute in den Regen.
„Er kommt bestimmt noch.“, sagte Indi beschwichtigend. „Vielleicht hat er sich in der Zeit geirrt?“
„Kronos doch nicht“, antwortete Saphir empört. „Er ist die Pünktlichkeit in Person. Ich habe nur ein
einziges Mal erlebt, dass er zu spät gekommen ist, zu früh übrigens auch nicht. Letztes Mal. Aber
da war er ja auch in diesem Turm.“
VeV reichte die Cookies weiter: „Danke. Ich esse meistens erst, wenn es dunkel ist. – Wisst ihr, was
komisch ist? Wenn es ein Traum war, dann waren wir alle zusammen dort. Das kommt vielleicht
vor, aber jetzt sind wir auch alle zusammen hier. Ist das auch ein Traum, ein Traum im Traum,
Artifexias Kino und alles? Wie können wir aufwachen ins wirkliche Leben? Und vor allem: Was ist
das wirkliche Leben? Wenn wir das nicht rauskriegen, dann sehe ich schwarz.“
Aquila schaute auf: „Das bedeutet, dass das Leben nur eine Geschichte ist. Mal ehrlich, das kann ja
wohl nicht sein?“
„Traum oder nicht Traum - Mir ist das egal, wenn ich nur genug Zeichenpapier habe. Hier oder da
ist es genauso wie überall.“, sagte Schatzi. Isa schaute gleichmütig vor sich hin und sagte wie
meistens nichts.
„Eine Parallelwelt vielleicht, Neverworld?“, sagte Water mit vollem Mund. Die Schachtel mit den
Cookies war wieder zu ihm zurückgekehrt, ohne dass sich jemand bedient hätte.
Nelson ergriff das Wort: „Es könnte doch auch sein, dass das alles nur eine Kulisse war mit
Statisten, wie in einem Film.“
„Du meinst, Napoleon war ein Schauspieler? Wer sollte sich die Mühe machen, das für uns alles
aufzubauen?“
„Wenn schon Film, dann wäre ich lieber in einem anderen“, sagte Artifexia träumerisch und
zwinkerte dem Papier-Loki zu.
„Es gab da mal so eine Fernsehsendung, wo sie Prominente reingelegt haben. Einmal haben sie
einen bekannten Literaturkritiker nach Finnland geschickt, finnische Straßenschilder aufgestellt,
finnische Statisten engagiert und die Tankstelle umgebaut. Der Literaturkritiker hat sich tierisch
gefreut, als er sein Bild in einer finnischen Zeitung gefunden hat. Der Chauffeur war natürlich
eingeweiht.“
„Apropos eingeweiht. Ich glaube, der Colonel weiß Bescheid. Der hat von Anfang an alles gewusst,
wenn ihr mich fragt. Er sagt nur nichts.“, sagte Saphir.
„Ich krieg ihn schon zum Sprechen“, sagte Schatzi. „Soll ich ihn mir mal vornehmen?“ Sie kramte
in ihrer Handtasche nach dem Hammer.
„Nicht nötig.“, sagte Indi schnell. „Wir versuchen es zuerst anders. Ich hab da eine Idee. Wir
beschatten den Colonel und versuchen, so viel wie möglich über ihn rauszukriegen. Es ist gut
möglich, dass er Terminator, also der Autor des Drachenbuches ist. Falls du es nicht bist, Vic.“
Vic griff mit der einen Hand nach seinem Hut, raffte mit der anderen die Zöpfe zusammen, legte sie
auf seinen Kopf und stülpte dann den Hut darüber. „Ich muss den Krankenwagen fahren. Bin für
einen Kollegen eingesprungen. Ich hab euch schonmal gesagt, dass ich Besseres zu tun habe, als ein
Buch zu schreiben. Außerdem wird mir euer Gerede über „wirkliches Leben oder nicht wirkliches
Leben“ langsam zu abgedreht. Ich tue jedenfalls was und sitze nicht die ganze Zeit sinnlos rum und
rede. Bis dann.“
Kaum war Vic weg, ging die Tür auf und Kronos trat ein. „Da bin ich. Wir können anfangen.“
Saphir schnaufte erleichtert: „Ich hab mir Sorgen gemacht, wo warst du denn?“
„Ich?“ Kronos zog seine Uhr und warf einen gewohnheitsmäßigen Blick darauf. „Ich bin immer
pünktlich auf die Minute.“ Er steckte die Uhr wieder in die Tasche.
„Ich würd eher sagen, du bist zu spät. Nämlich eine volle Stunde.“, sagte VeV.
„Das kann nicht sein“, antwortete Kronos. „Meine Uhr geht immer richtig. Wenn hier jemand falsch
tickt, dann seid ihr das. Ihr habt die falsche Zeitzone eingestellt, UTC±0 WEZ wie in England, was
weiß ich. Aber jetzt bin ich hier, und wir können anfangen.“
„Kronos?“ Water hielt etwas hinter seinem Rücken versteckt. „VeV, Indi und ich dachten, du sollst
das haben. Stevie meint das auch.“ Er hielt Kronos die Schneckenuhr, die er bei der Schatzsuche im
Wald gefunden hatte, unter die Nase, und obwohl gar nicht die volle Stunde war, sprang das
Türchen auf und die Schnecke fuhr heraus, als wolle sie Kronos begrüßen. Babaka bellte.
„Danke Water“, sagte Kronos. „Das ist nett von euch. Ich verlasse mich zwar nur auf meine eigene
Uhr, aber diese werde ich über meinen Schreibtisch hängen. Übrigens geht die auch eine Stunde
vor. Das kommt garantiert daher, weil du sie ganz schief hältst.“ Kronos nahm Water die Uhr ab und
stellte sie neben Artifexia, die der Gesellschaft den Rücken zudrehte und immer noch ganz
versunken Loki anstarrte, auf die Theke. „Wo ist eigentlich Clarissa?“
„Sie ist auf der Arbeit schon ein paar Tage krank gemeldet“, sagte Schatzi sorglos. „Vielleicht hat
sie sich in Fishys Aquarium eine Erkältung geholt. Oder sie will einfach mal ein paar Tage ihre
Ruhe haben. Die kommt schon wieder. Wenn nicht, werd ich ihr schon Beine machen.“
Viel später, als ihr Plan ausgearbeitet, die Aufgaben verteilt waren, kam eine SMS von Exodeon:
ich lebe noch. vision bei tauchgang in peru (bei 58 m!!!! ): achtung! Vic ist Terminator! melde mich
wieder
Es war noch sehr früh, vor 6 Uhr, und nur selten kam jemand aus dem Wohnheim und machte sich
eilig auf den Weg zur Bushaltestelle, um zur Arbeit oder zur Schule zu fahren. Nur in wenigen
Fenstern war Licht, aber im hell erleuchteten Foyer des Wohnheims thronte der Nachtwächter.
Nachdem VeV geraume Zeit vor dem Wohnheim auf und ab gegangen war und zum zwanzigsten
Mal einen Blick auf seine Armbanduhr geworfen hatte, ließ er sich rechts neben der Treppe zur
Eingangstür des Wohnheims, die von Gebüsch und Zierpflanzen gesäumt war, auf ein Knie nieder
und machte sich an seinen Schuhen zu schaffen. „Hoffentlich löst Aqui mich bald ab. Jetzt steh ich
schon die halbe Nacht hier rum.“, stöhnte er zwischen den Zähnen hervor. „Ich könnte einen
Energy-Drink gebrauchen.“ Er öffnete langsam die Schnürsenkel. „Water?“, sagte er zum Gebüsch,
das aber keine Antwort gab. Ein frischer Frühmorgenwind raschelte in den trockenen Gräsern. VeV
legte eine akkurate Schnürsenkelschlaufe und versuchte es etwas lauter: „Water?“
„Andere Seite, Mann!“, kam es endlich zurück.
VeV wechselte zur anderen Seite der Treppe. „Hast du zufällig noch einen Energy-Drink, Water?“
Eine Hand fuhr aus einem gelben, ins Mattgrünliche schimmernden Grasbusch und schleuderte eine
Energy-Drink-Dose der Marke Rhino in VeVs Richtung. Leider polterte sie auf die Treppe und
hüpfte die Stufen hinunter, während sie ihren Inhalt in einer kleinen Fontäne um sich sprühte.
Der Nachtwächter im Gebäude erhob sich und kam angeschossen. „Was tust du da?“, brüllte er VeV
an. „Das ist Ruhestörung, Umweltverschmutzung, Hausfriedensbruch und Erregung öffentlichen
Ärgernisses!“
VeV hoffte, den Hausmeister ablenken zu können, und um Zeit zu gewinnen, sagte er mit Blick auf
das Namensschild, das der Nachtwächter an seinem Overall festgespengelt hatte: „Guten Morgen
Herr Rancune. Tut mir leid, ich habe mir nur meinen Schuh zugebunden. Ist das verboten? Rancune
ist doch ein französischer Name. Ich hatte Französisch in der Schule. Was bedeutet „rancune“
nochmal?“
Rancune knurrte und ratterte seinen Text herunter, anscheinend hatte er diese Frage schon öfter
gehört: „Wenn man einen französischen Namen hat, heißt das noch lange nicht, dass man Franzose
ist. Meine Familie stammt aus England und hieß ursprünglich Rankin. Als mein Vater ins Saarland
ausgewandert ist, wollte er sich anpassen und hat seinen Namen umgewandelt. Wenn du es
unbedingt wissen musst: „rancune“ heißt „Missgunst“, aber auch das sagt nicht das Geringste über
den Träger des Namens aus.“ Er wechselte in einen strengen Ton: „Also, was tust du hier. Warum
läufst du seit drei Stunden auf und ab. Und erzähl mir nicht, du wärst Columbo und würdest
jemanden beschatten.“
„Ja, genauso ist es. – Ich meine natürlich, nein. Ich warte auf jemanden.“
„Ach wirklich? Warum wartest du hier und nicht zu Hause?“
„Gute Frage“, sagte VeV. „Also, warum ich hier warte und nicht in meiner Wohnung? – In meiner
Wohnung geht nicht. Was ich Ihnen jetzt sage, ist vertraulich, und ich möchte Sie bitten,
Stillschweigen darüber zu bewahren.“ Der Busch räusperte sich. VeV warf einen Seitenblick ins
Gebüsch. „Ja, also, es ist so: Ich habe da gestern dieses Mädchen gesehen, sie ist Verkäuferin in
dem Geschäft, in dem ein Freund von mir Hausverbot hat. Und weil sie aussieht wie Angelina Jolie,
nur ohne Tätowierungen, da bin ich ihr gefolgt. Ich wollte sie nicht verlieren an einen wie Brad Pitt.
Hier bin ich also.“
„Was hat das mit dem Wohnheim zu tun?“, fragte Rankune verständnislos.
„Nun, sie ist hier reingegangen.“
Rancune fuhr auf. „Was? In mein Wohnheim? Eine Frau? Das ist gegen die Hausordnung. Ich hab’s
gewusst! Da soll doch…. Zu dir später. Du bewegst dich keinen Millimeter, bis ich wieder hier
bin.“ Er stürzte ins Wohnheim.
„Musst du mich immer so in Verlegenheit bringen, Water?“, sagte VeV verzweifelt.
„Hi Water“, sagte Aquila ins Gebüsch. „Ich hab dir was mitgebracht, VeV“. Er wühlte in seinem
Bollerwagen und reichte VeV eine Dose Rhino-Energy. Er hatte besonders wirres Haar und sah
noch ein wenig verschlafen aus. „Hat sich schon etwas getan?“
VeV trank in kleinen Schlucken. „Nein, er ist noch nicht rausgekommen, wenn du das meinst.“,
sagte er. „Ich geh dann mal.“
„Warte. Wir müssen noch tauschen.“
„Muss das sein?“, sagte VeV. „Ich fühle mich ohne immer so unangenehm, fast nackt.“ Aqui seufzte
wortlos, worauf VeV ergeben seinen Mantel auszog und ihn Aquila reichte, der hineinschlüpfte. Der
Mantel stand mindestens zehn Zentimeter auf dem Boden auf. „Siehst du, jetzt wird niemand
merken, dass nicht mehr du hier stehst, sondern ich.“, sagte Aquila zufrieden. Er machte es sich auf
dem Bollerwagen gemütlich und setzte Kopfhörer auf.
„Ich mach auch Schluss für heute.“, sagte Water, und der Busch erhob sich. Water trug einen
Kapuzenoverall aus einem gelben, ins Mattgrünliche schimmernden Material, das mit vielen Fäden
besetzt war, sodass der Träger des Overalls kaum von einem Büschel exotischen Ziergrases im
Vorgarten eines Wohnheims zu unterscheiden war. Nur seine Hände und das Gesicht schauten
heraus. Er hatte den Anzug selbst genäht.
Einvernehmlich stiefelten sie nebeneinander her.
Kaum waren sie um die nächste Ecke gebogen, als Vic an ihnen vorbeirannte. „Hi VeV, hi Water!
Wie geht’s? Keine Zeit. Bin ein bisschen spät dran, muss die Nachtschicht im Wohnheim ablösen.
Bis heut Abend.“ Die Zöpfe hüpften beim Laufen auf seiner Brust.
Überwachungsprotokoll:
07:25 Zielperson verlässt Wohnheim, Water folgt ihr
07:34 (lt. Kronos: 07:37) ZP trifft an der Bushaltestelle ein (S + K ebenfalls anwesend, verhalten
sich unauffällig und tun so, als würden sie Water nicht kennen.)
07:38 ZP besteigt den Bus Linie 8
Hier muss die Überwachung durch Water leider abgebrochen werden, da Water und der
Fahrkartenkontrollleur sich nicht einigen können, ob ein Busch in der Farbe trockenen exotischen
Grases einen ermäßigten Fahrschein zu lösen hat (ähnlich einem Fahrrad) oder den vollen Preis
zahlen muss. Water wird aus den den städtischen Verkehrsbetrieben verwiesen.
10:49 Saphir und Kronos, von Water per Handy benachrichtigt, treffen beim Gericht ein. (Jemand
muss noch eine Entschuldigung schreiben, dass wir wegen plötzlich auftretender Zahnschmerzen
vorzeitig den Unterricht verlassen mussten.)
11:07 ZP durchquert mit ein paar Aktenordnern den Flur
11:19 Der Gerichtsdiener fragt S + K, warum sie hier rumhingen, statt in der Schule zu sein.
Nachdem K angegeben hat, dass sie auf den Colonel warteten, der Gerichtsdiener könne gerne den
Colonel fragen, wird die Überwachung nach draußen verlegt. (Der Gerichtsdiener will den Colonel
rufen.) („Gerichtstermin“ ist für die Entschuldigung vielleicht noch besser als Zahnschmerzen,
stimmt ja auch. Zweifache Ausfertigung, an Klassenlehrer Herrn Wirsch (S) und an Klassenlehrerin
Frau Donner (K))
12:07 ZP verlässt mit einer Sporttasche das Gericht.
12:17 ZP betritt das Stadtbad und kann mangels Badehose nicht weiter beschattet werden, S + K
beziehen einen Beobachtungsposten in der Cafeteria an der Glasscheibe, von wo man das
Schwimmbecken überwachen kann. Eine Mädchensekunda aus der Marienschule ist ebenfalls
anwesend. (Spesen: 2 Cola für 3,60 €) ZP schwimmt 20 Runden (lt. Kronos: 21). Die Zeit wird vom
Bademeister gestoppt. Bei diesem muss es sich um Vic handeln, da es statistisch gesehen äußerst
unwahrscheinlich ist, dass noch eine zweite männliche Person in einem Radius von geschätzt 100
km lange Zöpfe trägt, die durch Löcher gesteckt sind, die jemand über den Ohren in die Bademütze
geschnitten hat (Jside: bitte Wahrscheinlichkeit ausrechnen, damit wir ausschließen können, dass es
sich bei dem Bademeister nicht um Vic handelt.)
12:52 ZP verlässt Schwimmbad. Leider werden S + K von einem Jungen aus der Quinta erkannt,
der mit seiner Klasse Schwimmunterricht hat. Damit er sie nicht verpfeift, geben sie ihm 5 € und
sagen, er solle den Mund halten. Andernfalls würden sie ihn verhauen. (Spesen: 5 €)
ZP betritt Burger King und holt sich einen Whopper. S + K folgen ihm. (Spesen: 2 x
Doppelwhopper, 2 Cola, 1 Softeis)
13:05 ZP betritt das Gericht. S + K übergeben an Indi und Aquila.
16:29 ZP verlässt Gericht und rennt zur Bushaltestelle der Linie 22. Aquila und Indi steigen nach
ihm in den Bus.
Aquila muss den Bus wieder verlassen, nachdem er sich beim Busfahrer geweigert hat -solange in
der Beförderungsentgeltordnung der städtischen Verkehrsbetriebe keine Bollerwagen erwähnt
werden- für sein Gefährt den Fahrpreis entsprechend eines mitgeführten Fahrrads zu entrichten (mal
ehrlich, man kann keine Äpfel mit Birnen vergleichen). Indi schnappt einer Hausfrau mit zwei
vollen Einkaufstaschen einen Sitzplatz direkt hinter dem Colonel weg, (was normalerweise nicht
seine Art ist).
Zwanzig Meter weiter, bei der nächsten Ampel kommt es zu einem Zwischenfall, als der Bus in
Begriff ist rechts abzubiegen. Aquila, der auf dem Bürgersteig hinter dem Bus herrennt und es sogar
schafft, den Bus zu überholen, verliert die Kontrolle über den Bollerwagen, der entgleist an der
Bordsteinkante, und die Bücher fallen auf die Straße. Der Busfahrer muss eine Vollbremsung
einlegen, um keine Bücher zu überfahren, die Aquila von der Straße aufsammelt. Bei der
Vollbremsung tritt im Bus unter den sitzplatzlosen Fahrgästen ein Domino-Day-Effekt ein. Die
Frau, die sich krampfhaft an ihren Einkaufstaschen festhält, sieht keine andere Möglichkeit mehr,
das Abendessen zu retten, und nimmt entschlossen auf Indi Platz.
16:54 ZP steigt am Joséphine-de-Beauharnais-Platz aus und betritt im Chinesenviertel einen
Buchladen.
17:04 ZP rennt zum Lokal „Zur großen Glocke“ Ecke Altneugasse / Blumenstraße, durchquert den
Schankraum und verschwindet im Hinterzimmer, wo schon ein paar Leute mit Notebooks sitzen. An
der Tür klebt ein Plakat, auf dem ein Knoten aus Leitungen zu sehen ist, die aus einem viereckigen
Kasten herauskommen.
An alle: klären, ob es sich bei dem Treffen um eine der folgenden Veranstaltungen handelt:
1. Treffen der örtlichen Elektrikerinnung,
2. Kurs zum Erlernen von Seemannsknoten (VHS?)
3. Sicherheitstraining für Hobby-Kletterer
4. (Vorschlag von Kronos:) Treffen der praktizierenden Mythologiker (wg. Gordischem Knoten)
An der Tür wird Indi von einem Mann aufgehalten, der ihn nach seinem Namen und seinem
Mitgliedsausweis fragt.
An alle: klären, wer dieser Mann ist.
Merkmale:
1. ca. 20 cm kleiner als Indi (du solltest mal nachmessen, Indi, wie groß du bist, damit wir die Zahl
als gesichert annehmenn können)
2. grauer Anzug mit braunen Schlammspritzern, als wäre er durch den Schmutz gepflügt
3. pinkfarbener Fleck im Gesicht
4. auf seinem Namensschild steht CCC (Clemens Conrad Casimir???) Arkady
Indi gibt an, er selbst hieße Kanska, er habe selbstverständlich keinen Mitgliedsausweis und wolle
auch nicht an der Versammlung teilnehmen, vielmehr habe er den Colonel verfolgt. Der Türsteher
beäugt Indi misstrauisch. Ob es sich bei dem jungen Mann, der eben reingegangen sei, zufällig um
Auguste Little handele, einen ehemaligen Klassenkameraden von Indi? Der Türsteher beäugt Indi
äußerst misstrauisch und antwortet, dass es sich ganz sicher nicht um einen Auguste Little handele,
aber der junge Mann, der eben hineingegangen sei, sei ebenfalls Engländer, genau wie Indis
Klassenkamerad. Er hieße jedoch nicht Little sondern Doe, John Doe.
Indi setzt die Beschattung ZPs im Schankraum fort.
22:12 Indi verlässt das Lokal, da sich die Versammlung inzwischen aufgelöst hat. ZP hat sich wohl
klammheimlich durch die Hintertür verdrückt.(Spesen: 5 Pils, zwei Kaffee)
22:45 Indi kommt zu Hause an (Spesen: 24,40 € + 2€ Trinkgeld für den Taxifahrer) (Anmerkung:
das Trinkgeld kann nicht übernommen werden, da es sich nicht um Spesen im engeren Sinn,
sondern um eine freiwillige und zusätzliche Leistung handelt.)
Das Haus im Chinesenviertel war alt, wie die anderen auch, zwischen denen es eingeklemmt war,
und schmal, und das Flachdach verlieh ihm etwas Turmartiges. Oben auf dem Flachdach des
Hausturmes stand jemand mit einer Schürze und einer Grillgabel und wendete die Würstchen, die
auf dem Grill bruzzelten. Auf der Schürze stand „Hauptsach gudd gess“. Der Geruch schwappte bis
auf die Straße, die nicht sehr befahren und von parkenden Autos eingerahmt war. Dass sich in dem
Hausturm eine Bücherei befand, konnte man nur daran erkennen, dass neben der Eingangstür, links
am Ende einer hohen Sandsteintreppe mit ausgetretenen Stufen, ein Zettel klebte mit dem
lakonischen Wort „Bücher“. Aber um den Zettel zu lesen, musste man schon die Treppe
hochsteigen. An der Tür gegenüber stand der Name „Adelheid Adam“, wobei nicht so ganz klar
war, was davon der Vorname und was der Familienname war.
Als Aquila und VeV eintraten, bimmelte eine Glocke über der Tür. Es war schummrig in dem
Raum, das kleine Schaufenster war mit Folie zugeklebt und der Raum mit Bücherregalen komplett
zugestellt. Unentschlossen blieben die beiden stehen. „Mal ehrlich, hier ist niemand.“, flüsterte
Aquila nach einer Weile.
„Vielleicht hat der Buchhändler die Glocke nicht gehört.“, flüsterte VeV zurück. VeV machte zwei
Schritte rückwärts und öffnete erneut die Tür. Es bimmelte.
„Moment, ich komme gleich.“, rief eine dumpfe Stimme, deren Besitzer irgendwo hinter den
Bücherregalen stecken musste. „Suchen Sie etwas Bestimmtes?“
Ratlos sahen sich VeV und Aquila an. „Sag was“, flüsterte Aquila nervös.
„Äh ja.“ VeV überlegte und rief dann etwas lauter: „Ich suche ein Kochbuch. Genau. Wo sind die
Kochbücher?“
Es knurrte, gefolgt von einem höhnischen Schnaufen. „Kochbücher? Es gibt hier keine Kochbücher
in dieser Bibliothek. Womöglich sollte ich hier noch eine Küche einbauen und die Gerichte Probe
kochen, damit ich die Kochbücher empfehlen kann. Kochen ist überflüssig, womit auch
Kochbücher überflüssig sind. Schauen Sie sich erst mal um, ich mache das hier noch fertig und
komme dann zu ihnen. AFK!“
„AFK?“, flüsterte VeV. „Was meint er?“
„AFK – mh - alles für die Katz vielleicht“, sagte Aquila.
Draußen näherte sich Gesang. VeV verdrehte die Augen. „Das ist Water“, flüsterte er.
Water sang in voller Lautstärke:
„Ich möcht' ein Glücksbärchi sein…
das wäre wunderbar!
Ein Glücksbärchi sein …
das ist doch sonnenklar!
Ein Glücksbärchi sein, alles tun was ein Glücksbärchi tut.
Ein Glücksbärchi möcht´ ich sein so wie du, so wie du.“
„Weiß er, dass wir hier sind?“, fragte Aquila.
„Na ja, er war doch dabei, als wir bei Artifexia besprochen haben, dass wir uns die Bibliothek, die
der Colonel besucht hat, mal näher ansehen wollen. Vielleicht ist das hier so etwas wie ein toter
Briefkasten. Der Colonel gibt hier Informationen ab und bekommt Anweisungen. Vielleicht laufen
hier alle Fäden zusammen und wir kriegen endlich diesen Terminator zu fassen.“
Aquila seufzte: „Ja, und es stellt sich heraus, dass Vic Terminator ist und damit der Autor des
Drachenbuches. Denk an Exodeons SMS. Also, ich weiß nicht…“. Waters Gesang brach ab.
„Was ist jetzt?“, flüsterte VeV.
„Ich gehe mal gucken. Mein Bollerwagen steht nämlich draußen.“ Aquila stürzte vor die Tür.
Vic, in der Uniform der städtischen Hippos, die Zöpfe unter die Mütze gesteckt, und mit einem
Knöllchencomputer ausgerüstet, sagte gerade zu Water: „Sind Sie der Halter dieses Bollerwagens?“
Water setzte sich auf den Bücherstapel im Bollerwagen, um sich eine Zigarette zu drehen. „Nö.
Warum? Willst du ihn haben? Ich geb ihn dir für, sagen wir, … was wird er wert sein ohne Inhalt?
Der Inhalt wird natürlich einzeln berechnet“.
„Dieses Fahrzeug ist ordnungswidrig geparkt und außerdem ist kein Parkschein hinter die
Windschutzscheibe gesteckt. Zahlen Sie gleich oder wollen Sie Beschwerde einlegen?“
Water wandte sich an Aquila, der hinter Vic stand: „Was ist dein Bollerwagen wert, Aqui, was
denkst du?“
„Water, würdest du bitte mit deinem Tabak woanders hingehn, du krümelst mir meine Bücher zu.“,
sagte Aquila. Water stand gehorsam auf. „Das ist mein Bollerwagen, Vic, das weißt du doch.“
Vic tippte auf dem Gerät herum. „Er kann sogar drucken.“, sagte er begeistert. Er wechselte den
Tonfall und sagte streng: „Ich weiß das natürlich alles, Aquila, das tut aber jetzt nichts zur Sache.“
Aquila sah auf. „Aber er hat doch gar keine Windschutzscheibe, Vic. Das ist ein Bollerwagen.“
Yara kam vorbei, schon von weitem an ihrem schwarz-weiß gepunkteten Rock zu erkennen. Sie
brachte Konstantin mit, der sich zutraulich neben Water stellte. Er trug wie Yara Rucksack und
Turnbeutel, und die Musik auf seinem MP3-Player war so laut, dass man jedes Wort verstehen
konnte, das Kurt Cobain sang. Obwohl er nicht die geringste Ähnlichkeit mit Water hatte und fast
genauso groß war, wirkte er wie dessen jüngere Ausgabe. Nachdenklich schaute Water ihn an.
„Umso schlimmer, dass er keine Windschutzscheibe hat. Normalerweise kann ich das nicht
durchgehen lassen, aber jetzt will ich mal ein Auge zudrücken.“ Vic klappte bedauernd seinen
Knöllchencomputer zu. „Stell den Bollerwagen dahinten zu den Fahrrädern“. Er zeigte auf einen
Fahrradständer an der Ecke.
Aquila seufzte und gehorchte murrend. „Aber ein Bollerwagen ist doch auch kein Fahrrad…“
Ein Mädchen auf einem Fahrrad bremste, stieg ab und machte sich an ihrem Fahrradschloss zu
schaffen. Dan war ziemlich klein, hatte lange braune Haare, dunkle, fast schwarze Augen und war
etwa in Aquilas Alter. Sie strahlte Aquila an. „Kannst du deinen Bollerwagen nicht woanders
abstellen, das ist hier für Fahrräder, und er nimmt den ganzen Platz weg. Dahinten ist doch genug
Platz, warum gehst du nicht dahin?“ Sie zeigte in Vics Richtung.
„Sag mal, kennen wir uns nicht?“, fragte Aquila, der plötzlich das Interesse an seinem Bollerwagen
verloren hatte.
Dan strahlte. „Bist du nicht der Junge, der ständig Drachengeschichten schreibt, im Zug und
überall? Kann man die mal lesen? Ich mag nämlich Drachen.“
„Wirklich? Dann zeig ich dir mal was…“ Aquila wühlte in seinem Bollerwagen und zog die
Drachenschuppe hervor. Einvernehmlich beugten Dan und Aquila sich darüber.
In der Nähe schlug eine Kirchturmuhr die volle Stunde. „Die Würstchen sind fertig, will jemand?“,
rief der Mann vom Dach des Hausturms herunter.
„Meinetwegen, ich habe jetzt sowieso Dienstschluss.“, sagte Vic.
Babaka, der lächelnde Hund, war als erster beim Haus und bellte zustimmend nach oben.
Anscheinend hatte er die Würstchen vom anderen Ende der Stadt gerochen, und war zielstrebig
hierher gerannt, Saphir und Kronos im Schlepptau, die sich mal wieder stritten und sowieso nicht
mitkriegten, wohin Babaka sie führte.
Kronos schaute sich um. „Hi Vic, hi Water. Pünktlich wie immer“, sagte er und sah auf seine
Taschenuhr. „ Als antiker Gott der Zeit, macht es mir zwar nichts aus, meine Kinder zu fressen, aber
momentan ist mir ein Würstchen wirklich lieber. Dann muss ich auch nicht so lange warten.“
Der Mann vom Turm ließ die Würstchen in einem Korb zu ihnen auf die Straße hinunter, denn er
war noch nicht fertig mit Grillen, wie er sagte. „Hoffentlich ist der Besitzer des Turmes nicht da,
denn er mag es gar nicht, wenn hier gegrillt wird. Die meiste Zeit ist er zwar unsichtbar, aber man
weiß ja nie, wenn wir Pech haben … Lasst es euch schmecken.“
Als Water für sich und Vic in die Kneipe gegenüber Bier holen ging, fand er dort Indi. Bevor Stevie
nach Irland abgereist war, hatte sie Indi den Auftrag gegeben, ein Buch, das sie in der Bibliothek
ausgeliehen hatte, zurückzugeben. Indi fragte in der Kneipe gegenüber nach dem Weg zur
Bibliothek und blieb dann dort hängen. Um sich für den Weg zu stärken, trank er ein Bier im
Voraus, aber es machte ihm nichts aus, auf der Straße weiterzutrinken.
Schatzi holte ihre Steptanzschuhe beim Schuhmacher ab und ließ sich bei dieser Gelegenheit das
Sortiment von ausgefallenen Hämmern zeigen, das dieser benutzte. Sie fegte in ihrem schwarzen
mit blutroten Wolken besetzten Akatsuki-Mantel und den frisch mit Eisen beschlagenen
Steptanzschuhen um die Ecke. Die Absätze hinterließen hammermäßige Abdrücke im Asphalt.
„Hi Schatzi“, sagte Indi, „schön, dich zu sehen.“
„Wenn du hier über Gefühle reden willst, dann verzieh ich mich wieder, denn ich habe ein Talent
dafür eben jene unter meinem Absatz zu zertrümmern.“ Jemand hielt ihr ein Würstchen hin.
Angewidert krauste sie die Nase. „Nein danke. Ich habe nichts übrig für Würstchen. – Was treibt ihr
eigentlich alle hier?“
„Ja, ist es nicht seltsam, dass wir uns alle hier treffen, obwohl wir uns gar nicht verabredet haben?“
„Was soll daran seltsam sein?“, sagte Schatzi. „Diese verdammte Stadt ist so klein, dass man sich an
jeder Ecke über den Weg läuft.“
„Wo sind eigentlich Fishy und Clarissa?“
„Wieso sagst du das?“
„Wieso sage ich was?“
„Und. Fishy und Clarissa?“
„?“
„Wieso sagst du und?“
„Wie soll ich denn sonst sagen, „nebst“? Du weißt schon, was ich meine.“
„Das weiß ich eben nicht!“ Schatzi ließ Indi nicht aus den Augen. „Fishy sitzt hoffentlich in seinem
Aquarium, ohne und…“, sagte sie lauernd. Indi verzog keine Miene, „Clarissa habe ich allerdings
seit Tagen nicht gesehen. Sie kommt immer noch nicht zur Arbeit, und ich muss den Chef allein in
Schach halten. Wenigstens traut er sich nicht mehr in mein Büro, seit ich ihm den Hammer
nachgeschmissen habe.“
Eine Horde schnatternder japanischer Touristen schwemmte in die verkehrsberuhigte Straße,
angeführt von Nelson, der wie alle anderen ebenfalls einen hellen Topfhut trug. Er zeigte hierhin
und dahin -sofort richteten sich die Fotoapparate darauf-, und erklärte auf Japanisch. Die Touristen
fotografierten die Treppe zur Bibliothek, den Bollerwagen, den Kirchturm, Dan und Aquila, den
Mann auf dem Turm und zum Schluss Schatzi im japanischen Mantel. Nelson verneigte sich, bevor
er mit den Japanern um die nächste Ecke verschwand.
Jside eilte vorbei.
„Hier seid ihr also. Ich hab übrigens eine Nachricht von Exodeon erhalten, er ist immer noch in
Peru beim Apnoe-Tauchen. Jedenfalls schreibt er irgendwas von einem Kamel, das er mitbringt,
wenn er wiederkommt, und ob jemand einen Garten hat, damit das Kamel grasen kann. Ich hab’s
nicht so ganz verstanden, sieht so aus, als hätte er die Mail unter Wasser geschrieben. Irgendwas
von einer Selbstschussanlage, die das Kamel zerstört hat oder umgekehrt. Ihr könnt ihn ja dann
fragen.“
„Willst du ein Bier, Jside?“, fragte Water.
„Nein, ich brauche Molybdändisulfidfett. Ich muss das Zeug besorgen, um den Projektor zu
reparieren. Artifexia wartet stündlich auf den neuen Loki-Film. Wenn der da ist, muss der Projektor
laufen, sonst ist sie untröstlich.“
Excidium war auch da. „Hat jemand Findus gesehen? Ist er bei Artifexia im Kino, Jside?“, sagte er,
„Dieser Kater treibt mich noch in die Verzweiflung. Ständig muss ich ihn suchen. Wo ist Findus
schon wieder?“
„Wo ist eigentlich VeV?“, fragte Indi.
„Er ist immer noch in der Bibliothek des Colonels…“, sagte jemand.
VeV, der in der Bibliothek zurückgeblieben war, als Aquila wegrannte, war plötzlich sehr müde. Er
lehnte sich an die Wand und schloss die Augen. Von draußen drangen keine Geräusche herein, aber
irgendwo in den Tiefen des halbdunklen dämmrigen Raums, weit hinten, tickte eine Uhr. VeV riss
die Augen auf, stieß sich mit den Schultern von der Wand ab und betrat zögernd die Regalreihen.
Die Bibliothek war größer als es vom Eingang her den Anschein hatte, sie schien sogar sehr groß zu
sein, und nachdem er ein paar Mal abgebogen war, wusste er nicht mehr, wo er sich befand. Die
Bibliothek war geradezu labyrinthisch. Mit dem Finger fuhr er an den Buchreihen entlang: Meyers
großes Konservationslexikon, Germanische Sagen, die Sagen des klassischen Altertums. VeV nahm
das Gilgamesch-Epos aus dem Regal und las:
……… Ein Jäger
war ich, einfing mich
aber das Gras.
Lehr mich reden, Gras,
lehr mich tot sein und hören,
lange, und reden, Stein,
lehr du mich bleiben, Wasser,
frag mir, und Wind, nicht nach
Er las, wie Loki den Göttern die Wahrheit sagte und dafür an einen Felsen gefesselt wurde, und wie
es mit den Menschen war, als Zeus seinen Vater Kronos stürzte und die Herrschaft an sich riss:
Das waren die Menschen, die bald auf der Erde wandelten. Aber sie wussten nicht, was sie mit
ihren Gaben anfangen sollten. Sehend sahen sie nicht, hörend hörten sie nicht und sie liefen wie
Traumgestalten umher.
Er las ein Gedicht aus Amnesia:
leise schritte im neben gang
ich beweg mich nicht,
die dunkelheit meine weit sicht verschlang,
kein ausgang in sicht,
jetzt die angst die ueber mich hineinbricht,
mein mut laesst mich auch im stich,
die schritte naehern sich mich,
feind oder freund,
oder ein wesen der dunkelheit,
werde ich ein gesprochens wort bereuen?,
ich hab kaum noch zeit,
ein schritt vor und in den gang gebeugt,
ich will endlich in die freiheit,
der mondschein zeigt das Rot zeug,
und eingeweide liegen ueber den ganz gang verstreut
VeV schweifte durch die Regalreihen, vorbei an Faulkner „The Sound and the Fury“, Proust „A la
recherche du temps perdu“, Malcolm Lowry „Unter dem Vulkan“, Henry Roth „Nenn es Schlaf“,
Gogol „Die toten Seelen“, Flann O'Brien „The Third Policeman“. VeV lief vorbei an „Per Anhalter
durch die Galaxis, „tschick“, „Hunger Games“, „Fahrenheit 451“. Dann kamen die Drachenbücher:
Naomi Novic „In his Majesty's Service“, Kar Arian „Die Drachen von Tashaa“, Markus Heitz
„Feuerkriege“, Lara Morgan „The Twins of Saranthium“, Jo Walton „Tooth and Claw“ und
E.E.Knight „Age of Fire“. Er folgte den sich verästelnden Regalen und stand unvermittelt vor der
Uhr, deren Ticken er am Eingang gehört hatte. Es war eine altmodische Standuhr, sie tickte
regelmäßig, vielleicht ein wenig langsam, und das Perpendikel schwang hin und her, jedoch wie in
Zeitlupe. VeV starrte die Uhr an: Es war etwas falsch damit, irgendetwas stimmte nicht. Und nach
einer Weile wurde es ihm klar: die Zeiger bewegten sich nicht, sie zeigten immer dieselbe Uhrzeit.
Langsam öffnete VeV das Gehäuse und verschob den Minutenzeiger um ein paar Millimeter,
vielleicht brauchten die Zeiger einen kleinen Anstoß. Dabei geriet seine Hand in sein Gesichtsfeld
und er bemerkte, dass die Haut bläulich verfärbt war, und dass er sechs Finger hatte, was ihn jedoch
nicht wunderte und noch weniger erschütterte. Er träumte, es musste ein Traum sein.
Sanft drehte er sich um und wanderte wieder durch die Regale, während die Uhr ungerührt
weitertickte, ohne dass die Zeiger sich rührten. Langsam fuhr er mit dem Zeigefinger über die
Bücher in den Regalen: Reign of Terror, Fly into the Darkness, Skalli, Drachengift, Lehrbuch für
Durzagh, Drachenmacht, Die Sagen von Zezhuanthia, Triformis, Rhan Ghor, Lucid Dream Dragon,
Seelensplitter, Dead End. Ein Buch fiel polternd aus dem Regal, es dröhnte in der Stille wie ein
Donnerschlag. VeV bückte sich und hob das Buch auf. Seltsamerweise hatte es lauter leere,
unbedruckte Seiten. Er drehte das Buch um: Auf dem Buchrücken stand „Drachentraum“. VeV
klappte das Buch zu und wollte es zurück an seinen Platz stellen, um die Lücke in der langen
Bücherreihe zu schließen, als er entsetzlich erschrak. Durch die Lücke, die das Buch im Regal
gerissen hatte, fixierte ihn ein Auge. Jemand stand auf der anderen Seite des Regals und starrte ihn
an. Sekundenlang, minutenlang sahen sich VeV und das Auge an. Es war totenstill. Ohne sich von
dem Auge zu lösen, hob VeV die Hand und schob Drachentraum zurück in die Lücke im Regal, vor
das Auge.
Plötzlich war der Kater da. Er strich ein paar Mal um VeVs Beine und lief dann zum Regalende, wo
er kurz über die Schulter maunzte und dann abbog. Im fast unerträglich langsamen Ticken der Uhr
folgte VeV dem Kater durch das Labyrinth, und obwohl er ihn erst im Vorraum der Bibliothek
wieder erblickte, fand VeV seinen Weg nach draußen, ohne ein einziges Mal zu zögern oder
innezuhalten. Findus stand vor der Tür und miaute. VeV ließ Findus raus, hörte, wie der lächelnde
Hund freudig bellte und Excidium rief: „Findus, da bist du ja. Wo hast du denn gesteckt?“, lehnte
sich an die Wand und schloss die Augen.
E-Mail von Exodeon
Sah beim letzten Apnoe-Tauchgang, 61m (!), über mir Water auf der Wasseroberfläche treiben wie
einen Baumstamm.
Je tiefer ich abtauche, desto deutlicher wird mir aus der Distanz, dass nur er der Autor des
Drachenbuchs sein kann.
Das Kamel kommt zu Clarissa. Sie hat einen Garten und versteht sich auf solcher Art Tiere. Sie
wird sich um das Kamel kümmern.
Gruß
Exodeon
Das Nashorn spricht:
Wegen der Treuepunkte ist mir schließlich alles klar geworden. „Hier, ihr Wechselgeld und Ihre
Treuepunkte.“, sagte der Kassierer im real. Ich kann das nicht ausstehn. Man kann nicht mehr
normal einkaufen, selbst beim Bäcker gibt es einen Stempel ins Treuekärtchen, und wenn das voll
ist, ein Freibrot. Ich hab inzwischen vier Treuekärtchen vom Bäcker angefangen, weil ich die
ganzen Kärtchen aus sämtlichen Geschäften nie dabeihabe, aber es hat noch nie für ein einziges
Treuebrot gereicht. „Was gibt’s denn für die Treuepunkte?“ Der Kassierer strahlte erfreut und hielt
mir ein Faltblatt hin: „Hier können Sie gucken. Küchenausrüstung, Töpfe zum Beispiel.“ „Ich
brauche keine Töpfe“, sagte ich und reichte die Treuepunkte an den jungen Mann weiter, der hinter
mir an der Kasse stand. „Ich hasse Kochen.“ „Junge Leute nehmen die Sammelpunkte gern.“ sagte
der Kassierer. Ich besah mir den jungen Mann, dem ich die Treuepunkte überreicht hatte. Er war
etwa im gleichen Alter wie der Kassierer. „Oh, danke schön.“, sagte ich freundlich zum Kassierer.
Der kam etwas ins Schleudern: „Ich meinte ja nur: Das erleben wir hier oft. Wenn man mal ein
gewisses Alter erreicht und einen Hausstand gegründet hat, dann besitzt man bereits Töpfe und
braucht infolgedessen auch keine Treuepunkte“. Ich gab ihm keine Antwort und packte meine
Einkäufe zusammen. Mir war gerade etwas aufgegangen.
Die Treuepunkte sind der Beweis: So etwas wie Treuepunkte kannst du nicht erfinden, Terminator,
die gibt’s im wirklichen Leben, im real an der Kasse. Ich weiß nicht, wie ich da hineingeraten bin,
aber eins ist sicher: Ich trage den Müll weg, gehe zur Arbeit und bekomme Treuepunkte. Ich mache,
was man so tut. Es ist das wirkliche Leben und ich bin darin. Es fühlt sich jedenfalls genauso an,
und die Treuepunkte sind der Beweis.
Also, was habe ich davon, wenn ich dich finde, Terminator? Es ändert nichts, ich kann nichts
ändern. Du vielleicht? Die Napoleon-Geschichte war ein lächerlicher Versuch, deine vermeintliche
Macht zu demonstrieren, Napoleon im Jahr 1815, na und? Auch wenn du Kronos’ Uhr rückwärts
laufen lässt: So oder so, eines Tages verschwinde ich, niemand wird sich an mich erinnern. Und
weißt du was, Terminator? Wenn ich verschwinde, verschwindest du auch. Irgendwo anders läuft
die Zeit, und zwar für dich. Der Unterschied zwischen dir und mir ist nämlich gar nicht so groß, wie
du uns immer weismachen willst.
Bekommst du im real Treuepunkte, Terminator?
Die vierte Jahreszeit: Zwietracht
Ich war ziemlich fertig nach der ganzen Waterloo-Aktion, meldete mich krank und vergrub mich zu
Hause. Ich hob das Telefon nicht ab und machte die Tür nicht auf, aber es klingelte auch niemand.
Isa war weg, ich wusste nicht, ob sie überhaupt noch in der Stadt war. Ihre Nähmaschine hatte sie
allerdings bei mir gelassen. Den Computer rührte ich nicht an. Das Drachenbuch, das immer noch
neben dem Computer lag, stellte ich ins Bücherregal, ohne es aufzuschlagen, ich trug es mit
abgewandtem Gesicht hinüber und quetschte es irgendwo dazwischen. Ich wollte nichts mehr mit
dem Buch zu tun haben.
Zuerst ging alles gut. Ich schlief lange, wischte Staub, putzte Fenster und räumte in den Schränken
auf. Dabei vermied ich es, das Drachenbuch anzuschauen, das mich aus dem Bücherregal anstarrte.
Ich versuchte es zu ignorieren. Das gelang mir ganz gut, solange ich etwas zu tun hatte. Aber dann
war ich fertig, saß auf dem Sofa in meiner aufgeräumten Wohnung und wusste nicht, was ich mit
mir anfangen sollte. Das Drachenbuch irritierte mich immer noch, es saugte meinen Blick an, und
ich begann wieder zu grübeln. Um mich abzulenken, legte ich eine CD auf.
It's nice here with a view of the trees
Eating with a spoon?
They don't give you knives?
'Spect you watch those trees
Blowing in the breeze
We want to see you lead a normal life
Ich versicherte mich mit einem Blick aus dem Fenster: glücklicherweise kein Baum in Sicht. Dann
stand ich auf und stellte die Musik ab. Langsam wurde ich wütend, ich musste etwas unternhmen.
Nachdem ich meinen Kleiderschrank inspiziert hatte, zog ich mich um, besprühte mich mit Poison
und machte mich auf den Weg. Kino kam nicht in Frage, denn ich wollte mich nicht den Fragen der
anderen aussetzen, also Theater. Ich wusste nicht einmal, was gespielt wurde, war mir aber auch
ziemlich egal. Es war die „Zauberflöte“, und die Theaterbesucher strömten bereits. Vielleicht war
die Vorstellung ausverkauft, aber dann war ich wenigstens rausgekommen und musste das Buch
nicht die ganze Zeit anstarren.Auf dem Theatervorplatz war Kopfsteinpflaster, was mich
schrecklich ärgerte. Warum wurde in der Fußgängerzone und auf dem Theatervorplatz immer
Kopfsteinpflaster verlegt, ausgerechnet dort, wo man keine andere Wahl hatte, als zu Fuß zu gehen.
Während ich auf die breite Treppe zusteuerte, die die ganze Vorderseite des Theatergebäudes
einnahm, schielte ich mit einem Auge auf das Kopfsteinpflaster und hoffte, dass mein Gang
natürlich und elegant aussah. Aber es ging gründlich schief. Ich blieb mit dem Absatz meines
Manolo-Blaho-Schuhs hängen, ruderte mit den Armen in der Luft, um das Gleichgewicht zu halten,
sodass ich den Inhalt meiner Tasche, die ich wieder nicht zugemacht hatte, weil sie so voll war, um
mich herum verstreute, und sah mich bereits in meinem Gaultier-Kleid auf dem Kopfsteinpflaster
vor dem Theater landen, die oben auf der Treppe konnten besonders gut sehen, wie ich mich
ungraziös ablegte. Aber ich fand mich in den Armen eines Mannes wieder. Seine Augen waren wie
Feuerfackeln, und ich hatte plötzlich keine Kraft mehr. Also blieb ich bewegungslos in seinen
Armen hängen und rührte mich nicht. Auch er unternahm nichts, um die peinliche Vorstellung zu
beenden, bis er nach einer Weile den Mund öffnete und sagte:
Rest your head
You worry too much
It's going to be alright
When times get rough
You can fall back on us
Don't give up
Please don't give up
Don't give up
'cause you have friends
Don't give up
You're not the only one
Don't give up
No reason to be ashamed
Don't give up
You still have us
Don't give up now
We're proud of who you are
Don't give up
Ich registrierte zwei Sachen: Er trug einen Hut, und er sprach Englisch, und zwar in Reimen. Ich
zog den Fuß aus dem Schuh, der im Kopfsteinpflaster steckte, dachte flüchtig an Fishy und entwand
mich seinen Armen. Er bückte sich, zog den Schuh aus dem Pflaster, stellte ihn vor mich, reichte
mir seinen Arm als Stütze, und während ich mit dem Fuß hineinschlüpfte und überlegte, was ich
jetzt sagen könnte, flüsterte er:
Ah please talk to me
Won't you please talk to me
We can unlock this misery
Come on, come talk to me
I did not come to steal
This all is so unreal
Can't you show me how you feel now
Come on, come talk to me
Come talk to me.
“Clarissa Nashorn”, antwortete ich.
“Gabriel”, sagte er und lüpfte höflich seinen Hut.
Seine Haare waren von der Stirn über den gesamten Scheitel in einem dreieckigen Keil ausrasiert.
Na toll, ein Engel. Allerdings benahm er sich dann ziemlich unengelhaft, legte den Arm um mich
und drückte mich an sich, als wollte er mich auf dem Theatervorplatz flachlegen. Glücklicherweise
fing er gleich an zu singen:
I got no means to show identification
I got no papers show you what I am
You'll have to take me just the way that you find me
What's gone is gone and I do not give a damn
Empty stomach, empty head
I got empty heart and empty bed
I don't remember
I don't remember
Eigentlich war es aber nicht besonders glücklich, denn statt ins Theater zu gehen, bildeten die Leute
einen Kreis um uns und hörten ihm zu. Ein paar Handycams liefen auch schon mit.
Plötzlich kam Fishy die Theatertreppe runtergestürmt, zwei Stufen auf einmal, zog mich unsanft an
der Schulter aus Gabriels Umarmung und knurrte: „Was redet der denn bloß für einen Blödsinn??
ALTE Songtexte in Englisch? Fällt dem sonst nix ein??? - Erinnert mich verdammt an meinen
Vater.“ Er wandte sich an Gabriel: „Also, verpiss Dich, Alter!“ Gabriel sah ihn verständnislos an
und sagte:
Strange is your language and I have no decoder
Why don't you make your intentions clear
With eyes to the sun and your mouth to the soda
Saying, „Tell me the truth, you got nothing to fear
Stop staring at me like a bird of prey
I'm all mixed up, I got nothing to say
I don't remember
I don't remember
I don't remember, I don't recall
I got no memory of anything at all
I don't remember, I don't recall
I got no memory of anything
Anything at all
Dann drehte er sich um und ging weg, und das war auch gut so, denn Fishy wurde immer wütender,
und ich hätte ihn keine Sekunde länger zurückhalten können, sich auf Gabriel zu stürzen und sich
mit ihm zu prügeln. Die Leute verstreuten sich, und Fishy half mir, meine über den Theaterplatz
verstreuten Sachen aufzusammeln. Als wir fertig waren, hakte er mich unter und sagte: „Manno
Clarissa, mach sowas nicht nochmal!“
Ein paar Tage später, als ich eben überlegte, ob ich Fishy anrufen sollte, beinah hatte ich den Hörer
schon in der Hand, da schrillte die Türglocke. Ich erschrak. Schnell drehte ich die Musik leise,
streifte meine Schuhe ab und schlich zur Wohnungstür. Vorsichtig presste ich den Kopf seitlich
gegen die Tür und lugte mit einem Auge durch den Türspion. Sofort fuhr ich zurück: ein Auge
starrte fischäugig verzerrt durch die bikonvexe Linse zurück. Da musste jemand direkt vor meiner
Tür stehen. Terminator war der letzte, den ich jetzt sehen wollte. Ich atmete mehrmals tief ein und
aus und schob mein Auge wieder vor die Linse.. Niemand mehr, weg. Dann halt nicht. Ich gab der
Tür einen Fußtritt, der aber nicht richtig saß, weil ich barfuß war.
Ich setzte mich aufs Sofa und drehte die Musik wieder lauter:
Fear, Fear, she's the mother of Violence,
Making me tense to watch the way she breed.
Fear, she's the mother of Violence,
You know self-defense is all you need.
It's getting hard to breathe,
It's getting so hard to believe,
To believe in anything at all.
Außen am Fenster kroch eine Schnecke nach oben und schleppte mühsam ihr Häuschen mit sich.
Ja, genau, “self-defense”. Ohne es zu merken, trat ich vor das Bücherregal. Das Drachenbuch starrte
mich höhnisch an. Es reicht jetzt, dachte ich, das lasse ich mir nicht weiter gefallen. Kurzerhand riss
ich alle Bücher aus dem Regal heraus, wobei die alphabetische Ordnung zerstört wurde, die ich
nach der letzten Wohnungsrenovierung in mühsamer Kleinarbeit hergestellt hatte. Dann stellte ich
die Bücher wieder ein, wahllos, wie sie mir blind in die Hände fielen, keiner systematischen
Ordnung folgend, im Gegenteil, ich gab mir Mühe, alles, was den Anschein eines Systems oder
einer Ordnung erwecken konnte, zu vermeiden. Als ich fertig war, konnte ich ein zufriedenes
Lachen nicht unterdrücken. Ich hatte die Bücher mit dem Buchrücken nach hinten ins Regal
eingestellt, größere, kleinere Bücher, dickere, schmälere, vergilbtes, graues, weißes Paper, das war
alles, mehr sah man nicht, nur die unschuldige papierene innere Buchkante. Keine Ahnung, welches
davon das Drachenbuch war. Es war zwar da, zwischen den anderen Büchern, aber es war gebannt.
Ich musste es nicht mehr anstarren und darüber grübeln, es war nichts weiter als ein Buch unter
anderen Büchern, bedrucktes Papier. Zufrieden zog ich einen Band aus der Bücherreihe heraus und
schlug ihn auf.
„Es gibt keine Ordnung in der Natur, die wir nicht in sie hineinlegen.“
Wie wahr. Das hatte ich gerade eben bewiesen. Ich blätterte um:
„Zeit, Raum und Person sind Hilfskonstruktionen und somit Formen der Wirklichkeit, aber sie sind
nicht die Wirklichkeit selbst. Das naive Vertrauen in die Objektivität der Tatsachen ist der
wesentlichste Ordnungsfaktor im gesellschaftlichen Leben und die Basis allen Denkens und
Handelns - und zugleich der unserer Zeit eigene Aberglaube.“
Das hörte sich schon nicht mehr so gut an, und ich wollte auch gar nicht darüber nachdenken. Ich
drehte das Buch um: Johann Georg Hamann. Wer war das denn wieder? Einige Stellen im Buch
waren mit Bleistift unterstrichen, wie ich das früher immer gemacht hatte, also musste ich dieses
Buch schon einmal gelesen haben. Aber wann und wozu - daran konnte ich mich überhaupt nicht
erinnern.
„Man kann daher dem Herrn von Dangueil keinen Vorwurf machen, wenn er sich gegen das Ende
seines Buches allmählich selbst verleugnet.“
Warum, um alles in der Welt, hatte ich diese Stelle unterstrichen? Das hörte sich wirklich völlig
sinnlos an. Mit diesem Autor konnte ich nichts anfangen. Booklooker oder Container, weg damit.
Auch hier musste mal ausgemistet werden. Es klingelte. Mit dem aufgeschlagenen Buch ging ich
zur Wohnungstür und, ohne durch den Türspion zu sehen, riss ich sie auf. Es war der Colonel.
„Hi.“ sagte er ernst.
„Du weißt, wo ich wohne?“, fuhr ich ihn an. Notfalls konnte ich immer noch das Buch, das
ziemlich dick war, als Waffe benutzen, falls er mir dumm kommen sollte.
„Ja.“, sagte er.
„Was willst du von mir?“
Er antwortete nicht und nahm mir stattdessen das aufgeschlagene Buch aus der Hand, ich hatte
immer noch den Daumen dazwischen. Er nahm es vorsichtig, drehte es zu sich um, tippte mit dem
Zeigefinger auf eine unterstrichene Stelle.
„Hier.“, sagte er und hielt mir das Buch wieder hin:
„Rede, dass ich dich sehe“, stand da.
Er klappte das Buch zu, gab es mir zurück und ging an mir vorbei in meine Wohnung.
Artifexia hängte hinter der Theke ein neues Kinoplakat auf, es zeigte Loki mit der Andeutung
seines berühmten süßen Lächelns. Er hatte ziemlich rote Augen.
Währenddessen versuchte Kronos, der vor der Empfangstheke stand, vergebens, sich Gehör zu
verschaffen. „Ruhe!“, rief er zum wiederholten Mal, aber niemand beachtete ihn. „Schatzi, gib mir
mal den Hammer!“
„Ausnahmsweise. Weil du es bist.“ Schatzi zog den Hammer aus ihrer Handtasche, die sofort nicht
mehr so tief in den Gurten hing, und gab ihn an Kronos weiter. „Sei aber ein bisschen vorsichtig
damit.“, fügte sie drohend hinzu.
Als Kronos den Hammer auf Artifexias Kinoempfangstheke donnerte, trat augenblicklich Stille ein.
Artifexia drehte sich halb um und stellte mechanisch den Teller mit den Zuckerschnecken auf die
Delle, die Schatzis Hammer in der Thekenoberfläche hinterlassen hatte. Verzückt schaute sie dann
wieder zu Loki auf.
„Nach den letzten sehr rätselhaften Ereignissen wollen wir heute zu den Quellen selbst zurückgehn,
um herauszufinden, wer der Autor des Drachenbuches ist.“, sagte Kronos.
„Er ist ein Vampir.“, sagte Artifexia träumerisch. „Aber für mich ist er sowieso unsterblich…“
Kronos räusperte sich und wollte weitersprechen, aber Jackson kam ihm zuvor:
„Fraglich ist, ob nach §753a AErG (AutorenErmittlungsGesetz) Terminator der Autor der
verkorksten Geschichte ist. Dazu wäre zu prüfen, ob Terminator einen Schreibstil und ein
Kreativpotenzial aufweist, und ob die Veräußerung seiner Schriften ihn wirtschaftlich in die Lage
versetzt, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Fraglich ist ebenfalls, ob Terminator willentlich
gehandelt hat und Erklärungsbewusstsein besitzt.“
„Was zum… „, sagte Schatzi. „Was soll das, Jackson?“
„Ich habe hier eine amtliche Untersuchung, die ich bei unserem chinesischen Austauschbeamten in
Auftrag gegeben habe. Na ja, eigentlich war es eine Hausaufgabe für ihn, zum Üben von
Verwaltungsvorgängen, zum Beispiel amtlichen Gutachten. Ich les es euch mal vor, denn ich muss
gleich wieder gehen. Ich muss noch packen.“
„Fährst du weg?“, fragte Dan.
„Ja, jetzt bin ich dran. Ich gehe als Austauschbeamter nach China in die Pekinger Stadtverwaltung.
Das gehört zu einem wichtigen Projekt, das sich zum Ziel gesetzt hat, den Arbeitsablauf in den
jeweiligen Verwaltungen effektiver und nachhaltiger zu gestalten. - Also, hört zu, hier der Bericht
des chinesischen Kollegen:
Terminator hat Fishy genötigt, sich mit Napoleon Bonaparte zu duellieren und Kronos’
Taschenuhr dahingehend manipuliert, dass sie irreführend die falsche Zeit anzeigte. Fishy,
Kronos und Napoleon könnten Terminator gegenüber gemäß §280 Abs. 1 BGB
(Schadenersatz bei schuldhafter Pflichtverletzung) und §311a Abs.2 BGB (Schadenersatz
für anfängliche Unmöglichkeit) Löschungsforderungen des betreffenden Kapitels geltend
machen.
Handlungswille ist der Wille zu Handeln.
Schreiben beinhaltet einen Handlungswillen, da Schreiben eine Handlung ist.
Das Schreiben geschah durch den Handelnden (Terminator) willentlich, Terminator hatte
Handlungswillen.
Erklärungsbewusstsein liegt dann vor, wenn der Erklärende weiß, dass sein Handeln eine
Bedeutung im Sinne einer Willenserklärung hat.
Terminator weist sowohl Handlungswillen als auch Erklärungsbewusstsein auf.
Nach §753 AErG kann zur Autorschaft verpflichtet werden, wer nachweislich einen
Schreibstil UND ein kreatives Potenzial aufweist. Näheres zu diesen Gütekriterien regeln
die VV AErG (Verwaltungsvorschriften zum AutorenErmittlungsgesetz).
Das setzt voraus, dass der Schreibstil und das Kreativpotenzial von einem staatlich
examinierten Lektor abgenommen wurden.
Zu prüfen ist, ob Terminator von einem staatlich examinierten Lektor examiniert wurde.
Ein Termin ist anberaumt zur Überprüfung des inkriminierten Gegenstands der
Überprüfung durch einen staatlich examinierten und zertifizierten Lektor, wobei amtlich
festgestellt wird, ob Terminator eine Person mit Schreibstil und Kreativpotential ist.
Da sämtliche Terminator betreffenden Datensätze nur mit Sondergenehmigung der ANU
eingesehen werden können, bleibt das Ergebnis der Überprüfung unter Verschluss. Der
staatlich examinierte und zertifizierte Lektor unterliegt der Schweigepflicht.“
„Sehr, eindrucksvoll“, sagte VeV höflich. „Zu welchem Ergebnis ist jetzt nochmal das Gutachten
gekommen?“
„Das darf ich euch leider nicht sagen, denn wie ihr grade gehört habt, unterliege ich der
Schweigepflicht.“, sagte Vic zerknirscht.
„Das ist Gutachtenstil, jedenfalls am Anfang.“, sagte Jackson. „Aber Verwaltungsvorschriften
tauchen nie in Gutachten auf… Xiao Sheng muss das noch üben, ich fürchte, er hat den Unterschied
zwischen Gutachten- und Berichtstil nicht verstanden. Und Subsumption kann er auch noch nicht.
Na ja, eigentlich ist er Perlentaucher von Beruf. Jedenfalls muss sich jemand anderes um ihn
kümmern, ich bin nämlich jetzt weg.“ Er verstaute die Mappe mit dem Bericht sorgfältig in seiner
Aktentasche, verabschiedete sich und ging.
„Was ist eigentlich mit Clarissa?“, fragte Saphir und versuchte vergebens, den lächelnden Hund
von seinen Füßen zu schubsen.
„Clarissa war in der Zeitung.“, sagte Schatzi und ließ Fishy nicht aus den Augen. „Sie hat eine
Affaire mit diesem Gabriel, irgendso ein alter Sack, ein Sänger.“ Schatzi nahm Fishys warnenden
Blick in Empfang und sagte dann genüsslich: „Fishy hat sich mit Gabriel geschlagen. Auf dem
Theaterplatz.“
„Manno, Schatzi, so war das doch gar nicht.“, sagte Fishy.
„Wer ist dieser Gabriel?“, sagte Gol. „Wenn er Musiker ist, müsste ich ihn eigentlich kennen. Er
tippte auf den viereckigen schwarzen Kasten mit abgerundeten braunen Ecken, den er neben sich
stehen hatte.
„Fishy ist ganz schön gewalttätig, findet ihr nicht?“, sagte Claire. aggressiv.
„Was kann man denn da machen?“, fragte Konstantin und sah Dante hilfesuchend an.
„Auf Clarissa können wir jetzt keine Rücksicht nehmen“, antwortete Kronos und schaute den
lächelnden Hund feindselig an. „Wer unpünktlich ist, wird vom Verfahren ausgeschlossen. Ich
schlage vor, dass wir als Erstes eine Aufstellung der Personen machen, die in dem Drachenbuch
vorkommen. So können wir Terminator einkreisen.“
„Hört sich logisch an“, sagte Water, der etwas abseits in der hinteren Kionreihe saß, während die
anderen um Artifexias Theke herumlungerten. Er hängte sein Bein über die Lehne des Kinositzes
und fing an Kekse zu knabbern und mit dem Kekspapier zu rascheln. Außerdem knackte es trocken,
wenn er den Keksen das Rückgrat brach und den Spruch herauszog. Es waren Glückskekse.
„Es macht mich immer wahnsinnig, wenn die Leute im Kino mit Papier rascheln.“, sagte Indi
unwirsch.
„Lasse los und fließe. Der Fluss des Lebens trägt dich dorthin, wo der Sinn des Lebens dich
braucht.“, las Water mit vollem Mund vor. „Die sind aber ganz schön trocken.“
„Biologisch gesehen ist der Sinn des Lebens die Erhaltung der Art“, Yaras Blick kreuzte Nelsons
Blick. „Philosophisch betrachtet ist der Sinn des Lebens das Streben nach persönlichem Glück.“
Erneut linste sie zu Nelson hinüber.
„Diese Nachricht zerstört sich in 10 Sekunden selbst.“, las Water vom nächsten Glückskekszettel
ab.
„Ich finde, auch Bücher können der Sinn des Lebens sein.“, sagte Dan.
Kronos donnerte den Hammer erneut auf die Theke, wobei allerdings ein sehr gedämpfter Ton
herauskam, weil er versehentlich in den Zuckerschneckenteller traf. „Können wir jetzt mal zum
Thema zurückkommen?“
„Ich hatte Schienenersatzverkehr und bin heute erst eine Stunde später heimgekehrt.“, sagte VeV.
„Nimm sofort das klebrige Ding von meinem Hammer!“, rief Schatten empört. „Eins sag ich dir:
DU bekommst meinen Hammer nicht mehr. Und mach ihn gefälligst sauber, sonst bist du tot.“ Mit
spitzen Fingern pflückte Kronos die aufgespießte Zuckerschnecke vom Hammer und sah sich um.
Schließlich warf er dem lächelnden Hund, der gemütlich auf Saphirs Füßen lag, die Schnecke vor
die Pfoten. Der hörte sofort auf zu lächeln, und ein dunkles Grollen kam tief aus seiner Kehle. Die
Zuckerschnecke beachtete er nicht.
„Wenn du so weiter machst, Kronos, werden du und Babaka niemals Freunde.“, sagte Saphir.
„Ich an seiner Stelle“, Yara wies auf den Hund, „würde lieber eine Zuckerschnecke essen als
Fleisch. Da weiß man nie, was drin ist, Östrogene, Antibiotika, Bandwürmer. Deshalb bin ich
Vegetarierin.“
„Wieso, du isst doch die ganze Zeit Schnitzel!“, sagte Dan empört.
„Schnitzel zählt nicht.“, antwortet Yara bestimmt.
„Ach wirklich? Dann bist du also Schnitzelvegetarierin?“
„Es sind die richtigen Freunde, die man um 4 Uhr morgens anrufen kann.“, zitierte Water den
nächsten Glückskekstext.
„Soll ich den Hund vielleicht um vier Uhr morgens anrufen, damit er mein Freund ist?“, sagte
Kronos zu Saphir und versuchte den Hund zu ignorieren.
„Das kann man so nicht verallgemeinern“, sagte Fishy. „Ich hab Schatzi auch einmal morgens um
vier angerufen. Ich kann euch sagen, ich bin nur knapp dem Tod entronnen.“
„Abgesehen davon, dass du dran schuld bist, dass mein Handy kaputtgegangen ist, weil ich es
wegen dir an die Wand geworfen habe. Das verzeih ich dir nie, Fishy!“
„Erfolg hat zehn Buchstaben“, verkündete Water den nächsten Glückskeksspruch.
Überrascht sah Aquila, der auf seinem Bollerwagen saß und bisher nur zugehört hatte, auf: „Wieso
zehn?“
„Wieso nicht?“, fragte Nelson.
„Aquila hat zum Beispiel sechs Buchstaben.“
„Das ist jetzt aber kein besonders gutes Beispiel. Nelson hat auch sechs Buchstaben.“
„Ich glaube nicht, dass du dich und mich miteinander vergleichen kannst.“, sagte Aquila giftig und
seufzte.
Yara kam Nelson zu Hilfe und sagte triumphierend: „Das Wort Buchstaben hat zehn Buchstaben!“
Einvernehmlich blinzelten sich Yara und Nelson an.
Kronos sah auf seine Taschenuhr. „Also Leute, ich fang mal an mit der Liste der Personen: 1.
Temeraire.“
„Temeraire hat aber nur neun Buchstaben, Kronos“, sagte Aquila. „Allerdings, wenn man es mit
zwei R schreibt, dann hat Temerraire auch zehn Buchstaben.“
„Wobei das aber von der Rechtschreibung nicht korrekt wäre.“, mischte sich Saphir ein. „Du
würdest dich garantiert beschweren, wenn ich dich mit einem Zusatz-R Aquirla schreiben würde.“
„Du würdest es nicht wagen!“, sagte Aquila.
Kronos wurde ungeduldig. „Wir sind nicht hier um Buchstaben in Wörtern zu zählen. Kommt mal
endlich zum Thema.“
Kronos reichte den gesäuberten Hammer weiter an Dan, die ihm am nächsten stand. Dan gab ihn an
VeV weiter, der seine Hände mit fächerförmig ausgebreiteten Fingern vor sich auf dem Tisch liegen
hatte und dabei war, seine Finger durchzuzählen. Deshalb reagierte er verlangsamt beziehungsweise
gar nicht, und Indi konnte noch gerade seitlich über VeV greifen und verhindern, dass ihm der
Hammer auf die Finger fiel.
„Pass doch auf!“, fauchte Indi VeV an. „Ich sollte heute zwei abgebrochene und verrostete
Schrauben aus dem Rahmen eines Baggers ausbohren.“, sagte Indi. „Beim Bohren sind mehrere
Spiralbohrer stumpf geworden. Hab anschließend nen Torx reingeschlagen und wisst ihr, was dann
passiert ist? Der Torx ist dann, beim Versuch die Schraube zu lösen, auch noch abgebrochen. Sogar
Ferroform hat nicht geholfen den Rost zu lösen. Der Meister hat ganz schön geflucht.“
„Was macht man in so einem Fall?“, fragte Konstantin interessiert?
„Nichts! Jedenfalls nicht ich. Der Meister wusste nicht weiter und ich durfte den Rest des Tages
einen anderen Bagger ausschlachten, bei dem der Rahmen in der Mitte durchgebrochen war. Also…
Öl ablassen, Alles demontieren, was noch irgendeinen Nutzen hat und den Rest verschrotten. Um
die abgebrochenen Schrauben wollte sich später ein Kollege von mir kümmern.“
„Was ist mit Temeraire?“, fragte Claire..
„Temeraire kommt in dem Drachenbuch vor.“, sagte Kronos.
Claire. blätterte wie wild in seinem Buch herum. „Stimmt gar nicht!“, rief er schlecht gelaunt und
sah sich angriffslustig um. „Was redest du denn da? Er heißt nicht Temeraire, aber ich find seinen
richtigen Namen grad nicht. Hier gibt es keinen Temeraire. Und übrigens ist er auch kein Drache,
sondern ein Bullfango.“
„Könnte es sein, dass du im falschen Buch bist, Claire.?“, fragte Saphir.
Claire. fuhr herum: „Ich verbreite normalerweise gute Laune. Außer wenn ich schlecht gelaunt bin,
und das bin ich fast immer. Und jetzt besonders.“
Vic entschloss sich einzugreifen. „Mal was von Mediation gehört?“, wandte er sich an Claire..
„Du meinst, wo man im Schneidersitz auf dem Boden sitzt, bis einem die Beine eingeschlafen sind?
Hab nie verstanden, was die Leute daran finden.“, sagte Aquila.
„Nein, das mein ich nicht. Mediation, von lateinisch Vermittlung, ist ein freiwilliges Verfahren, mit
dem man strukturiert und konstruktiv einen Konflikt beilegen kann. Die streitenden Parteien
gelangen mit Hilfe eines Mediators zu einer gemeinsamen Vereinbarung.“
„Entschuldige, Vic, das ist jetzt nicht unser Thema“, sagte Kronos.
„Dann ist noch was passiert“, sagte Indi. „Ich bin auch noch mit dem Stapler versehentlich gegen
das Hallentor gefahren. Es hatte eine Beule und ging nicht mehr auf.“
„Was habt ihr gemacht? Seid ihr aus dem Fester geklettert?“, fragte Konstantin.
„Ein Kollege ist von außen mit dem Stapler gegen die Delle gefahren und hat sie entbeult. Da ging
es wieder.“
„Wie ist der rausgekommen? Ist der durchs Fenster geklettert? Wie habt ihr den Stapler
rausgekriegt?“, fragte Konstantin.
„Der Mediator wendet eine ausgefeilte Fragetechnik an.“, fuhr Vic fort. „Eine Frage, die man
stellen kann, lautet zum Beispiel: Wer hat dich daran gehindert, mit den Materialien so zu arbeiten,
wie wir es verabredet hatten?
„Das war mein Kollege.“, antwortete Indi. „Er hat die Bremsen nicht entlüftet, deshalb haben sie
blockiert. Das hat der absichtlich gemacht.“
„Hast du ihn fertiggemacht?“, fragte Konstantin.
„Noch nicht. Muss mir noch was überlegen.“
„Wenn ich dir helfen soll, sag mir Bescheid.“
„Eine andere Frage, die man stellen kann, lautet: Wann können wir mit der Umstellung beginnen?“,
sagte Vic
„Was für eine Umstellung?“, fragte Konstantin.
Vic ließ sich nicht aus dem Konzept bringen: „Das war nur ein praktisches Beispiel, Konstantin!
Oder, noch eine Frage: Wo ist der beste Standort für die neue Anlage?“
Konstantin sah Vic verständnislos an.
„Ausgesprochen effektiv ist es auch, wenn ich die Aggression herausnehme. Das erreiche ich,
indem ich dem Aggressor, der mich einen bornierten Blödmann genannt hat, in die Augen schaue
und folgenden Satz äußere: … Ich demonstriere euch das mal.“ Vic wandte sich an Claire., sah ihm
in die Augen und sagte: Was meinst du, wie ich mich fühle, wenn du mich einen bornierten
Blödmann nennst?“
„Es interessiert mich nicht die Bohne, wie du dich fühlst, Vic!“, antwortete Claire..
„Du hast schöne Augen.“, las Water den nächsten Spruch vor und zermalmte krachend den
Glückskeks zwischen den Zähnen. „Ich weiß nicht, warum, aber bei dem Geräusch muss ich immer
an Skydancer-Hatchlinge denken.“, sagte er mit krümeliger Aussprache.
Jside kam herein. „Hi Artifexia, bin später dran. Kermit hat ihren Computer geschreddert.“
„Wer ist Kermit?“, fragte Dan.
„Was hast du gemacht?“, fragte Konstantin.
Jside war schon auf dem Weg zum Projektorraum.
„Ich hab ihr gesagt, dass der Computer zu wenig RAM hat.“, antwortete er.
„Was macht man in so einem Fall? Kannst du das reparieren?“, fragte Konstatin.
„Später“, sagte Jside und verschwand mit Findus, der mit ihm hereingeschlüpft und kurz den
lächelnden Hund angefaucht hatte, im Projektorraum.
In Waters Jacke klingelte es. Er versetzte der Jackentasche einen leichten Klaps von außen, worauf
das Klingeln abbrach, und wühlte dann wieder in seiner Glückskekstüte.
„Kannst du nicht endlich aufhören, Water!“, sagte Indi genervt. „Es ist unerträglich, wie du hier die
ganze Zeit rumraschelst und mit den Keksen einen Riesenkrach veranstaltest. Man kann sich gar
nicht auf den Film konzentrieren.“
„Unter den Kunstfilmen schätze ich das Liebesfilmgenre am geringsten.“, sagte VeV.
„Hier, nimm auch mal einen.“ Water hielt Indi einen Glückskeks hin. Als dieser sich nicht rührte,
riss er mit einem Ratsch das Papier auf, brach knackend den Keks auseinander, sodass trockene
Krümel auf den Kinositz rieselten, und zog den Papierstreifen heraus. Indi zuckte bei jedem
Geräusch schmerzlich zusammen. „Dein Spruch, Indi“, sagte Water, „ Das Leben soll kein uns
gegebenes, sondern ein von uns gemachtes Buch sein. “ Water schaufelte die größeren Keksbrösel
in den Mund.
„Also, ich finde es nicht nett, wie du hier alles zukrümelst, Kronos.“, sagte Saphir und zeigte auf die
Zuckerschnecke am Boden. Der lächelnde Hund bellte bestätigend, während er Kronos mit einem
Auge spöttisch anblinzelte. „An Artifexias Stelle wäre ich ziemlich sauer auf dich. Du wirfst ja auch
bei dir zu Hause nicht einfach alles auf den Boden. Ich würde doch darum bitten, dass du dir einen
Besen nimmst und den Dreck wegkehrst.“
„Warum ich?“, fragte Kronos wütend. „Soll er doch die Krümel auflecken.“ Er vermied es, den
lächelnden Hund anzusehen. „Obwohl man dann anschließend noch mit Eau de Chavel
drüberputzen muss, weil er alles vollgesabbelt hat. Im Übrigen: Kann ich doch nichts dafür, wenn
du immer bei der Hausarbeit helfen musst, Saphir. Bei uns zu Hause ist das nicht nötig, da gibt es
keinen Schmutz, noch nicht einmal Wollmäuse unter dem Bett. Wenn man da im Wohnzimmer vor
dem Fernseher eine Schale mit Erdnüssen auf den Boden fallen lässt, und man kommt nicht sofort
dazu, die Bescherung wegzumachen, weil man keine Zeit hat und vorher noch dringend im Keller
was machen will… Ob ihr’s glaubt oder nicht: nach kurzer Zeit sind die Erdnüsse weg. Es
funktioniert auch mit Chips, Salzstängchen, Erdnussschalen und Pommes mit Ketchup. Hab’s
ausprobiert, selbst wenn man das Zeug großflächig verstreut oder in den Boden reintritt oder
einmassiert. Wirklich wahr! Wisst ihr, was ich glaube? Es gibt doch solche Backöfen mit
Selbstreinigungsmechanismus, die schaltet man nur an und schon sind sie sauber. Ich vermute, wir
haben sowas wie eine selbstreinigende Wohnung.
„Was musst du denn dringend im Keller machen?“, fragte Konstantin.
„Mein Computer steht im Keller“, sagte Kronos. „Damit ich meine Ruhe habe, wenn ich zum
Beispiel Hausaufgaben mache. – Wenn du die Krümel nicht wegmachen willst, Saphir, ich mach
das ganz sicher nicht. Oder dressier ihn doch.“ Er wies mit spitzem Zeigefinger auf den Hund, zog
die Hand aber sofort wieder zurück, als der Hund knurrte und ihn mit bösen gelben Augen ansah.
“Sein Name ist Ba-ba-ka! Und ein bisschen Hausarbeit hat noch nie jemand geschadet.“
Schnell fuhr Kronos fort: „Dafür habe ich keine Zeit. Meine Zeit ist zwar nicht begrenzt, aber
trotzdem könnten wir jetzt mal zurück zum Thema und weitermachen. Hat jemand einen Vorschlag,
wen wir außer Temeraire noch auf die Liste setzen sollten?“
„Ich vermisse meine Drachenuhr“, sagte VeV.
Kronos sagte erstaunt: „Wie kann man denn eine Uhr verlieren?“
„Schau mal unter der Spüle.“, sagte Water.
„Sie ist aus schwarzem Kunststein gearbeitet. Warum sollte sich meine Drachenuhr unter der Spüle
befinden?“
„Weil man dann das Ticken nicht hört?“, schlug Water vor.
„Seit die Uhr nicht mehr auffindbar ist, habe ich zweimal verschlafen, und es war mir nicht
vergönnt, in der Mittagspause zu speisen. Dann wurde mir auch noch auferlegt, am Abend
nachzuarbeiten.“
„Möchtest du vielleicht einen Keks?“, fragte Water.
„Was machst du, wenn du die Uhr nicht mehr wiederfindest?“, fragte Konstantin.
„Wie wär’s mit Kanska, Kronos? Schreib den mal auf deine Liste.“, rief Schatzi von hinten. Fishy
saß neben ihr.
„So weit sind wir noch gar nicht“, knurrte Claire.. „Erst müssen wir klären, was mit diesem
Temeraire ist.“
Vic hatte Gol angeschleppt; er und Gol spielten im selben Orchester, Vic die Tuba und Gol
Trompete. Wie jedoch Claire. zu ihnen gefunden hatte, wusste niemand. Eines Tages war er da
gewesen, schlecht gelaunt zwar, aber er kannte sich gut in dem Drachenbuch aus.
VeV bemerkte den Hammer, der immer noch neben ihm auf dem Tisch lag, reichte ihn an Indi
weiter und breitete dann seine Finger wieder vor sich aus. Als Indi Claire. mit der flachen Hand
leicht auf die Schulter schlug, um ihm den Hammer weiterzugeben, fuhr Claire. herum, klappte das
Buch zu, in dem er immer noch wie wild herumgeblättert hatte, rief: „Lass deine Griffel von meiner
Jacke, die ist neu!.“, und ließ das Buch mit der Breitseite auf VeVs Hände niedersausen, die dieser
noch immer versunken betrachtete.
Alle, außer VeV fuhren hoch. VeV blieb sitzen.
„Au“, sagte VeV.
Indi ließ den Hammer neben VeV auf den Tisch fallen. Augenblicklich erhob sich der lächelnde
Hund von Saphirs Füßen, schritt gemächlich zum Tisch hinüber, packte den Hammer mit dem
Maul, trug ihn zu den Kinositzen und ließ ihn darunterfallen. Dann schritt er würdevoll zu Saphir
zurück und setzte sich aufrecht zwischen Saphir und Kronos, letzteren aufmerksam im Auge
behaltend.
„Wo ein Kopf und ein Buch zusammenprallen, gibt es ein hohles Geräusch.“, sagte Water. „Nee, das
brauch ich nicht. Wenn es mir zu viel wird, geh ich auf Abstand, und wenn der andere es nicht
merkt, beiß ich“. Nachdenklich betrachtete er den eben ausgepackten Keks, verstaute ihn
schließlich in der Tüte mit den restlichen zwei Glückskeksen und schlenderte langsam zu Artifexia
hinüber, die immer noch hinter der Theke stand. Artifexia ergriff das Terrarium mit den Schnecken
und stellte es vorsichtig unter die Theke. Bei dem Knall, den das niedersausende Buch auf VeVs
Händen verursachte, hatten sich sämtliche in ihr Häuschen zurückgezogen.
Ein Glück, dass der Hammer nicht mehr da lag, sonst hätte VeV zweifellos diesen erwischt:
Stattdessen griff er sich das Buch, das ihm am nächsten auf dem Tisch lag, sprang
traumwandlerisch schnell auf und rief in verspäteter Reaktion auf das, was Indi vor zwanzig
Minuten zu ihm gesagt hatte: „Pass doch selber auf“. Er holte aus und ließ das Buch auf Indis Kopf
niedersausen. Indi trug seinen Hut, der ihm bei dem Hieb mit dem Buch über die Augen rutschte,
was ihn sehr erboste.
„Halt, stopp, VeV.“ VeV und Indi ließen voneinander ab. „Aufhören! Das ist das falsche!“, rief
Aquila.
„Wovon sprichst du?“, fragte VeV.
„Das Buch! Das ist das falsche!“
VeV musterte erstaunt das Buch in seiner Hand, reichte es wortlos an Indi weiter, förderte einen
schwarzen Folianten mit einem leuchtend roten Emblem mit der Aufschrift „Triformis“ aus seiner
Manteltasche zu Tage und holte mit diesem Buch aus, um es Indi erneut über den Kopf ziehen. Indi
parierte den Schlag jedoch mit den „Sagen von Z.“, das Drachenbuch, das er selbst mitgebracht und
das ihm VeV eben gereicht hatte. Sie begannen einen knallenden Schlagabtausch mit den Büchern,
wobei sie „japanisch“ kämpften und sich nach jedem Schlag höflich voreinander verneigten.
Einen kurzen Moment lang war nichts zu hören außer dem Knallen von Indis und VeVs Büchern.
Dann rief Aquila: „Endlich passiert mal was! Euch werd ich’s zeigen!“ Er duckte sich hinter seinen
Bollerwagen, wodurch er den anderen gegenüber strategisch eindeutig im Vorteil war, griff sich
einen Stapel Bücher, die er im Bollerwagen mit sich führte, und begann wahllos verschiedene Ziele
zu bombardieren. Dabei lächelte er diabolisch mit geschlossenem Mund. Eines von Aquilas
Wurfgeschossen zischte haarscharf an Kronos’ Kopf vorbei, aber Water, der hinter der Theke stand,
-Kronos stand davor-, wich ihm mit einem geschickten Schlenker aus. Water bückte sich, hob das
Buch auf, warf einen kurzen Blick auf den Titel und schleuderte es, - haarscharf an Kronos’
Hinterkopf vorbei-, zu Aquila zurück.
„Seit wann kannst du Russisch, Aquila?“, rief er.
Aquila fing das Buch im Flug ab. „Danke, Water, außerordentlich zuvorkommend von dir.“ Er
wühlte im Bollerwagen. „So ein Mist, da sind zu viele Reclam-Hefte dabei! Wusst ich’s doch, dass
das Schulzeugs zu nichts zu gebrauchen ist.“ Er sah auf: „Warum fragst du? Ich kann gar kein
Russisch, wieso?“ Er ließ das Russisch-Wörter Buch, das Water ihm zurückgeworfen hatte, vor
einem Auge wippen, das andere hatte er geschlossen, damit er besser zielen konnte, und warf es
noch einmal ab. Dann zog er zwei neue Bücher heraus, wog sie gegeneinander ab und schleuderte
schließlich Die Elixiere des Teufels von E.T.A. Hoffmann in Schatzis Richtung. Das andere Buch
verwahrte er liebevoll unter seiner Jacke, nachdem er einmal über den Einband gestreichelt hatte.
„Ich muss mich jetzt erst bis zum Boden durchkämpfen, Meyers Konservationslexikon liegt ganz
unten. Zwanzig Bände“ Als nächstes schoss er ein altgriechisches Wörterbuch ab und schickte eine
Reclamstreubombe, bestehend aus Bellum Gallicum, Metamorphoses, Controversiae, Suasoriae
und Apocolocyntosis, hinterher.
Diesmal traf Aquilas Wörterbuch, und zwar Saphir in den Rücken. Der geriet aus dem
Gleichgewicht und trat Kronos auf den Fuß. Kronos brauchte ein paar Schrecksekunden bis er
realisierte, was passiert war. „Wie kannst du mir nur so in den Rücken fallen, Saphir!“, rief er
aufgebracht. Er zögerte einen kurzen Moment, dann überlegte er es sich anders, gab Artifexia sein
Buch Drachenohnmacht zur Aufbewahrung und begann den lächelnden Hund mit Artifexias
Zuckerschnecken zu bombardieren. Er kam nicht weit mit dieser Munition, sie war schnell
verschossen und nicht wirklich als Kampfmittel einsetzbar. Außerdem gab Saphir sein Bestes und
leitete die Schnecken um, wobei er Skalli wie einen Baseballschläger benutzte. Der lächelnde Hund
wartete das Schneckenbombardement ab, dann stand er auf, gähnte, streckte nacheinander
genüsslich jedes Bein und schritt gemächlich auf Kronos zu.
Eine einzige der von Kronos abgeschossenen Zuckerschnecken erhielt von Saphir den Ritterschlag
und wurde tatsächlich zum Kampfmittel geadelt, was sich im Nachhinein als großer Fehler
herausstellte. Sie landete nämlich auf Schatzis Akatsuki-Mantel, wo sich der Zuckerguss beim
Aufklatschen mit dem schwarzen Stoff verband, und dort blieb die Schnecke dekorativ, wenn auch
für alle Ewigkeit ungenießbar, hängen. Dass Saphir dann noch den Schnecken-Teller umleitete, den
Kronos der schnell verschossenen Schnecken-Munition hinterherwarf, und dass dieser hinter
Schatzi und Fishy an der Wand zerschellte, war auch schon fast egal.
„Mach das nicht noch einmal“, schrie Schatzi außer sich. „Willst du durch die Hölle gehn? Ich
bring dich um, Kronos, und dich auch Saphir und Clarissa und Wonhala, euch alle! Vor allem dich,
Fishy! Mein Hammer, wo ist mein Hammer!“ Schatzi wühlte in ihrer Handtasche, warf wütend ihr
neues Handy an die Wand, wo es sein Betriebssystem aushauchte, die Tasche hinterher und stürzte
sich auf Fishy, der den Überfall nicht erwartet hatte. Jetzt war es jedoch zu spät. Schatzi trat Fishy
mit ihren eisenbeschlagenen Steptanzschuhen ans Schienbein und hebelte ihm dann das andere Bein
weg, sodass er auf dem Boden landete. „Es hat sich ausgeniedlicht, Fishy!“
„Ja, Schatzi, ich hab dich auch lieb.“, sagte Fishy und schnappte nach Luft. „Aber das war unfair.“
„Ich reiß dir die Augen aus.“ Schatzi warf sich auf ihn, und sie begannen miteinander zu ringen.
„Warum das denn?“, sagte Fishy gequetscht, riss Schatzis Handgelenke von seinem Hals und
versuchte aus der Reichweite ihrer strampelnden Beine mit den Steptanzschuhen zu gelangen.
„Ganz einfach: Ich stell deine Augen neben dem Computer auf, in einem Glas!“ Sie wälzten sich
ringend auf dem Boden.
Gol öffnete seinen viereckigen braunen Koffer, legte das Buch obenauf beiseite, -es war Kampf um
Horus-, packte seine Trompete aus und verstaute das Buch wieder im Kasten. Dann schob er den
Kasten unter Artifexias niedrigen Couchtisch, machte einen Schritt auf den Tisch, setzte die silberne
Trompete an die Lippen und blies die Reveille aux armes, was aber völlig unnötig war, denn das
Kampfgetümmel war bereits in vollem Gang. Als er zu Cut to chase überging, verließ Vic eilig das
Kino.
Yara, die lange Zeit Fechtunterricht genommen hatte, sprang auf die Theke. Einen Stockschirm, der
im Kino stehen geblieben war, als Degen benutzend, hielt sie die Angreifer in Schach und auf
Distanz, indem sie über Nelson hinweg mit dem Schirm in der Luft herumstocherte und -wirbelte,
während Nelson, immer an ihrer Seite neben der Theke hin- und herlaufend, einen aufgespannten
Knirps vor Yara haltend –leider hatte sich kein zweiter Stockschirm gefunden-, darauf achtete, dass
niemand ihr zu nahe kam. „Ich bin der Zorn des Basketballgotts!“, rief Yara und legte einen
astreinen Ballestra, einen Sprung mit nachfolgendem Ausfallschritt, auf die Theke.
„Wieso Basketball?“, fragte Nelson irritiert.
„Ich fechte nicht nur, ich spiele auch Basketball“, rief Yara kämpferisch.
„Ich fechte auch! Verdammt, ich hab aber keinen Degen!“, schrie Dan.
„Was sollen wir denn da machen?“, sagte Konstantin bedauernd. Er und Dan kämpften mit Atlas
und Kleiderbügel gegen Yara und Nelson. Konstantin versuchte Nelson mit dem großen
aufgeklappten Atlas möglichst nahe zu kommen, um das Buch im richtigen Moment um Nelsons
Nase zuschnappen zu lassen und diese zwischen Schwarzwald und Ural einzuklemmen, was
Nelson, wie Konstantin vermutete, außer Gefecht setzen würde. Aber Nelson nutzte geschickt die
Knirpsöffnungsautomatik, die einen im Nahkampf hilfreichen Überraschungseffekt bot, und das
Aufklappgeräusch zermürbte den Gegner zusätzlich.
Nachdem Dan den Kleiderbügel verloren hatte, -sie benutzte ihn wie einen Bumerang, aber leider
war er schon beim ersten Abwurf nicht zurückgekommen-, wollte sie mit einem ein Buch aus
Konstantins Schultasche einen Blitzangriff auf Nelson starten.
„Nein, nicht das Angelbuch! Das kannst du nicht machen! Das brauch ich für meinen Angelschein.
Hier nimm das!“ Konstantin reichte Dan seine Frühstücksdose, in der friedlich schlummernd ein
saftiges Tomatenbrot lag. Es hatte noch nicht sehr viel Wasser gezogen.
„Was ist DAS denn?“, rief Dan angeekelt, „Sowas isst du? Wie abartig.“ Sie schleuderte die
Frühstücksdose von sich, nachdem sie das Tomatenbrot, ohne es anzufassen, mit einer
Handbewegung aus der Dose katapultiert hatte. Es landete in Aquilas Bollerwagen.
Aquila hatte inzwischen auch Meyers Konservationslexikon verschossen und, nachdem er ein paar
Reclam-Hefte aufgesammelt hatte, die in seiner Nähe niedergegangen waren, ging er dazu über, die
Blätter herauszureißen und daraus Flugzeuge zu bauen, die er als Kampfjäger einzusetzen gedachte.
Vielleicht konnte er ja sogar jemanden ins Auge treffen. Allerdings war ihm entfallen, wie man
Papierflugzeuge faltete. „Verdammt, warum kommt immer Himmel-und-Hölle raus? Wie war noch
der Bauplan für die Luftschiffe?“, murmelte er und seufzte, während er verbissen weiterfaltete. Als
das Tomatenbrot in den Bollerwagen klatschte, schrie er: „Tomatenbrot?! Es verfolgt mich!
Verflucht seist du!“ Mit einer CD aus dem Bollerwagen schaufelte er Tomaten- , Brot- und
Buttermatsch in eine seiner gefalteten Papier-Himmel-und-Höllen, klappte die Hölle zu, hielt das
Geschoss an der Spitze zusammen und warf es ab. „Geh zurück, wo der Pfeffer wächst!“
„Komm, Artifexia, wir trinken erst mal Tee.“, sagte Water. Sie hockten sich unter die Theke, und als
das Wasser im Wasserkocher heiß war, streute Water ein paar grüne Blätter aus einem Briefchen,
das er aus seiner Brusttasche zog, in ihre Henkeltassen. Während der Tee zog, knackten sie die
letzten beiden Glückskekse. Nach zwei Minuten klingelte VeVs Drachenuhr, die Water als Teatimer
einsetzte, und Water fischte die Teeblätter mit einem Löffelchen heraus. Schweigend schlürften sie
ihren Tee. Es war recht gemütlich unter der Theke. Artifexia umarmte ihre angewinkelten Beine und
beobachtete, wie die Schnecken ihre Hörnchen ausfuhren und wieder begannen, an der Innenwand
des Terrariums nach oben zu kriechen. Als sie den Tee ausgetrunken hatten, streckte Water seinen
Kopf über den Rand der Theke und verkündete den neuesten Glückskeksspruch: „Wenn du Liebe
hast, spielt es keine Rolle, ob du Kartoffeln baust oder in der Küche Türme schälst!“. Niemand
beachtete ihn.
Water sah sich im Kino um. Die einzige Insel im allgemeinen Schlachtengetümmel waren Claire.
und Gol. Sie saßen einträchtig nebeneinander auf Artifexias Couchtisch und unterhielten sich
angeregt über Musik. Claire. war bester Laune und sang hin und wieder ein Melodiefragment, und
Gol spielte dazu ein paar Takte auf der Trompete vor.
In Waters Gesichtsfeld gerieten Yaras, mit weißen Leggins bestrumpfte Beine, die auf der Theke
herumsprangen.
„En garde!“, rief sie und führte in Richtung des Tomatenbrots eine Flèche aus, denn Konstantins
Tomatenbrot, oder das, was davon übrig war, kam gerade auf Aquilas Himmel-und-Hölle-Luftschiff
angesaust und ließ unterwegs rote Tomatensafttropfen regnen. Konstantin hielt sich schnell den
Atlas als Regenschutz über den Kopf. Kurz vor der Theke verließ das Tomatenbrot im Schleudersitz
sein Luftschiff, während das von Aquila gefaltete Luftschiff selbst und ohne Tomatenbrot sicher vor
Water landete. Es klappte auf und offenbarte sein Innerstes.
…..Thurm der Vernunft, las Water und schnippte einen Tomatenkern beiseite, dessen Spitze bis an
den Himmel reicht und durch dessen Ziegel und Schleim wir uns einen Namen zu machen gedenken
und dessen Fahne der irrenden Menge zum Wahrzeichen dienen soll. Das stand auf der
herausgerissenen, mit Tomatenblut durchtränkten Reclam-Seite, die das
Himmel-und-Hölle-Luftschiff in einer anderen Welt gewesen war.
Fishy gelang es endlich, sich aus Schatzis Schwitzkasten zu befreien und sich von ihrem Knie, das
sie mit ihrem ganzen Gewicht auf seine Gurgel stemmte, frei zu kämpfen. Er sprang auf, zog auch
Schatzi auf die Füße, packte sie und warf sie mehrmals hintereinander in die Luft. Es sah malerisch
aus, wie sie mit dramatisch drapiertem Mantel und wehenden Haaren in einer
Zehntelsekundenaufnahme über dem Getümmel unter der Decke des Kinos schwebte. Dabei brüllte
sie die ganze Zeit wie am Spieß.
„Waffenstillstand! Yara, gib mir mal dein Haargummi!“, rief Dan. Yara stoppte in der Bewegung
und blieb mitten auf der Theke stehen. Nelson, der nicht darauf gefasst war und nicht so schnell
bremsen konnte, lief mit dem aufgespannten Schirm bis zum Ende der Theke weiter, sodass Yara
einen kurzen Moment ohne Deckung war. Schnell kam er zurück und begann Yara zu schützen,
indem er den Knirps vor ihren Knien rhythmisch zu- und aufklappte. Eine Salve von Aquilas
Reclam-Heften prallte am Knirps ab und rutschte auf den Boden.
„Das stinkt mir kolossal, dass du immer meine Sachen haben willst. Kauf dir doch selbst ein
Haargummi!“, rief Yara. Dan blieb ganz ruhig:
„Weißt du, ich hab mir das überlegt: Die langen Haare stören, besonders jetzt. Immer hängen sie im
Gesicht rum. Ich geh zum Friseur und lass sie abschneiden. Ganz einfach.“
Yara brach beinahe in Tränen aus. „Nein, das darfst du nicht. Du darfst dir die Haare nicht
abschneiden lassen, ich wäre sehr traurig darüber. Bitte nicht!“
„Aber ich seh nichts mit den Haaren im Gesicht.“ Dan schüttelte ihre Haare nach vorne.
„Versprich mir, dass du dir nie nie nie die Haare abschneiden lässt!“, sagte Yara unglücklich. Sie
riss sich das Haargummi aus den Haaren, reichte es ihrem Bodyguard Nelson und dieser gab es an
Dan weiter. Dan raffte ein paar Reclam-Hefte aus Aquilas Arsenal zusammen, und zog sich mit
Konstantin, der den aufgeklappten Atlas über ihre Köpfe hielt, ein wenig zurück. „Was sollen wir
denn jetzt machen?“, fragte er.
„Los, hilf mir.“, zischte sie und begann statt einer Antwort einzelne Seiten aus einem
aufgesammelten Reclam-Heft herauszureißen und zu einem Kügelchen zusammenzuknüllen.
Konstantin übernahm die Aufgabe, auf jedes Kügelchen draufzuspucken, damit die Munition
geschmeidiger wurde. Als sie einen kleinen Haufen Munition vor sich liegen hatte, schoss Dan die
Kügelchen mit Hilfe des Haargummis auf Yara und Nelson ab, während Konstantin für
Munitionsnachschub sorgte. Allerdings ging ihm langsam die Spucke aus.
„Verräterin!“, schrie Yara.
Es regnete Papierkügelchen auf die Theke.
Fishy warf Schatzi noch einmal in die Luft und machte sich dann schnell aus dem Staub. Sobald
Schatzi den Boden berührte, stürzte sie zu ihrer Tasche, deren Inhalt auf den Boden ausgeleert war.
„Mein Hammer! Ich brauch meinen Hammer!“, schrie sie, schnappte sich Reign of Terror und
wollte Fishy hinterher.
„Ich habe ein Bokken, das ist ein Kendo-Holzschwert“, sagte Indi, der Schatzi in die Quere geriet
und wegen seiner Unachtsamkeit von VeV einen Schlag mit Triformis auf den Kopf einheimste,
aber er bewahrte Haltung. „Willst du es mal sehen?“
Erfreut rief Schatzi:
„Klar. Wo hast du es? Kannst du mir das mal grad ausleihen?“
Abwartend ließ VeV seine Waffe Triformis sinken. „Ich zeigs dir, Moment.“ Indi fummelte an
seinem Handy. „Hier. Meins ist aus Weißeiche, Shiro Kashi.“ Er hielt Schatzi sein Handy hin.
Schatzi war enttäuscht. „Warum sagst du denn nicht gleich, dass du das Schwert nicht bei dir hast.
Los geh es holen! Ich weihe es hier für dich ein. Mit Menschenblut.“
„Ich will es auch selbst ausprobieren, obwohl ich noch nicht so viel Muße hatte, mit dem Bokken zu
trainieren. - VeV, hast du mein Bokken gesehn? Guck mal!“
VeV hatte seine Finger durchgezählt, alles in Ordnung, und nun blätterte er in Triformis. „Ich
besitze keine endgültige Gewissheit darüber, ob ich mich in einem Traum befinde. Der Fingertest
hat keine Abweichungen ergeben, aber das ist nicht unbedingt ein Indiz. Und in diesem Buch
befinden sich leere Blätter.“
„Das ist das Blatt hinter dem Einband, das ist immer leer.“, sagte Schatzi..
„Jetzt guck mal nach meinem Bokken, VeV, und dann gehen wir es holen.“, sagte Ryu.
Inzwischen bearbeitete Fishy in der Ecke Artifexias Schrank mit Faustschlägen und Fußtritten.
„Halt endlich den Mund, sonst passiert was. Ich habe schon Straßenschilder kleingekriegt. Aus
Metall. Und aus dir mach ich Brennholz.“ Die Schranktür gab seinen Fußtritten splitternd nach und
hing schief in den Angeln.
„In dem Song Solipsist heißt es: If nobody sees you, do you exist?”, sagte Claire.. “Hat ihn
eigentlich jemals jemand gesehen? Vielleicht gibt es ihn gar nicht, diesen ominösen Terminator.“
Gol nahm das Mundstück seiner Trompete ab, trocknete es mit einem Tuch und legte es in den
Kasten zurück. „Ich weiß nicht. Jemand hat gesagt, dass Vic in Wirklichkeit Terminator ist oder der
Colonel oder Water. Vielleicht ist es aber auch jemand anderes. Ich meine, es könnte jeder von uns
sein, alle sind verdächtig. Womöglich bist du es oder ich? Jedenfalls sind sie hier besessen von
ihm.“
„Ist das denn so wichtig? Wie du gesagt hast: Niemand hat ihn je gesehen. Wenn er nicht mit uns
spricht und sich nicht outet, dann existiert er nicht. Jedenfalls nicht für uns.“
Fishy ergriff die schiefe Schranktür mit beiden Händen und riss sie heraus. „Weißt du, wie man
Kämpfende auseinander kriegt?“, sagte Claire., der Fishy die ganze Zeit beobachtet hatte, während
er sich mit Gol unterhielt. „Mit Überraschungstechnik. Entweder man stößt sie voneinander weg
oder man überrumpelt sie. Moment mal.“ Er stand auf, ging zu Fishy, stellte sich dicht hinter ihn
und rief in voller Lautstärke:
can you hear my voice
can you hear my words
do you feel me now
Fishy fuhr herum, ohne die Schranktür loszulassen. „Natürlich hör ich dich, ich bin ja nicht taub.
Was soll das? Schon wieder Englisch! Dachte schon, dieser Raphael wäre hier, oder wie der heißt,
Clarissas falscher Engel. Dann hätt ich gleich mit dem weitergemacht. Manno, hast du mich
erschreckt!“
Claire. fixierte Fishy mit seinen grünen Augen und fuhr fort:
can you hear my voice, can you hear my words
blind eyes are staring at me, knowing nothing, nothing but the lies
hold my hand or go away
Fishy stellte die Schranktür auf dem Boden ab und lehnte sie gegen seinen Körper, damit sie nicht
umfiel. Dann schüttelte er Claire. die Hand. „Schon gut. Bist du jetzt zufrieden? Hier, halt mal.“ Er
nahm die Schranktür wieder auf, reichte sie Claire. zum Halten und begann sie dann wie einen
Boxsack mit beiden Fäusten zu bearbeiten.
„Bis nachher, Artifexia“, sagte Water und quetschte sich an Kronos vorbei. Als Water die Tür zum
Projektorraum öffnete, wo Jside Artifexias Hardware bearbeitete, schlüpfte Findus nach draußen.
Zwischen Tür und Theke war Kronos mitten in einer Bewegung zu Stein erstarrt. Der lächelnde
Hund hatte sich in den Stoff seines Hosenbeins verbissen, und sobald Kronos nur einen Finger
bewegte, zog Babaka mit geschlossenem Maul die Lefzen hoch, sodass seine scharfen Fangzähne
sichtbar wurden, und knurrte drohend.
„Saphir, mach doch was, meine Arme sind eingeschlafen..“, sagte er und atmete vorsichtig.
„Das hast du dir selbst zuzuschreiben“, antwortete Saphir. „Atme nicht so viel, sonst fällt er dich
an.“ Der aus dem Projektorraum entwichene Findus rannte mit gesträubtem Fell und erhobenem
Schwanz auf Kronos zu, sprang auf die Theke und von dort auf Kronos’ Schulter. Er hatte die
Krallen ausgefahren. Dann schob er seinen Kopf dicht vor Kronos’ Augen und fixierte ihn mit
bösen länglichen Pupillen. Dazu fauchte er furchterregend. Plötzlich fuhr er seine raue Zunge aus
und zog sie Kronos, der sich nicht zu rühren wagte, übers Gesicht.
„Saphir, rette mich!“, würgte Kronos gequält hervor.
„Tut mir leid, da kann ich dir auch nicht helfen.“, sagte Saphir. „Ich möchte es mir nicht mit Babaka
verscherzen.“
„Rede, dass ich dich sehe!“, rief Water durch den Projektorschacht in den Kinosaal und warf dann
das goldene Papierchen des letzten Glückskekses hinterher.
Da wurde die Tür aufgestoßen, Exodeon kam herein. Und hinter ihm war noch etwas, etwas
Großes, Helles, Flauschiges.
„Was ist das denn?“, sagte Schatzi, die mit Ryu und VeV unterwegs war, um das Bokken zu holen.
Aquila blätterte in dem Buch, das er vorhin so liebevoll unter seine Jacke geschoben hatte.
„Ah, hier: Kamel, neutrum“, zitierte Aquila, “- ein Vierfüßer von großem Nutzwert für das
Schaustellergewerbe. Es gibt zwei Arten von Kamelen: das eigentliche und das uneigentliche
Kamel. Zur Schau gestellt wird immer letzteres. Ambrose Bierce“
Das Kamel besah sich den lächelnden Hund, Findus und Kronos, dann zog es die Backen ein, zielte
und spuckte dem versteinerten Kronos ins Gesicht.
Exo sah sich fassungslos um: „Sogts a moi was treibsten ihr da?“
Der lächelnde Hund ließ Kronos' Hosenbein los und lächelte.
„Platz da, aus dem Weg!“ Vic und Excidium, zwischen sich eine Notarzttrage, auf der, vorerst, ein
Erste-Hilfe-Koffer lag, schnappten ohne Federlesens den nun befreiten Kronos, legten ihn auf die
Trage und schnallten ihn fest. Da erst kam er zu sich und versuchte sich zu wehren.
„Was soll das? Lasst mich los!“ Aber er verstummte sofort, als Findus mit einem ordentlichen
Platsch auf seinem Magen landete und Kronos warnend anfauchte.
„Findus! Kommst du mit?“, fragte Excidium.
Und dann trugen Vic und Excidium Kronos weg.
Monolog des Nachbarn
Das Halten von Tieren ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Wer führt nicht gern seinen Hund
spazieren, um auf diesem Weg frische Luft zu tanken, wer lauscht nicht gern dem zwitschernden
Gesang seines Papgeis? Wenn Sie selbst einmal stolzer Besitzer eines Hamsters oder einer
Weinbergschnecke gewesen sind, - sind Sie nicht?- jedenfalls wissen Sie dann, Herr Jackson,
worauf ich anspiele. Ich habe als Bürger und Nachbar vollstes Verständnis für Tierhalter, besaß ich
doch selbst jahrelang einen Dackel, - und habe ihn noch immer, obwohl er leider schon lange
verstorben ist. Er sitzt fast lebensecht neben mir auf dem Sofa im Wohnzimmer, ausgestopft. Halten
Sie mich nicht für pietätlos, Herr Jackson, aber nachdem auch meine Frau dahingegangen war, ist
Waldemar, so heißt mein Dackel, mir ein großer Trost.
Was ich aber mit diesem anderen Tier erleben muss, tagtäglich, geht doch zu weit. Ich habe mich
erkundigt: laut Landesimmissionsschutzgesetz sind Tiere so zu halten, dass die von ihnen
ausgehenden Immissionen nicht die Nachbarn in ihrem Wohlbefinden beeinträchtigen, andernfalls
ist ein Bußgeld fällig. Bei den Immissionen meine ich nicht allein die äußerst unmelodischen
Schreie, die das Tier von sich gibt, bevorzugt dann, wenn Waldemar und ich uns im Fernsehen den
Musikantenstadl anschauen. Jedes Mal kommt das Tier sofort angerannt, lugt zum Fenster herein
und „singt mit“, anders kann ich es nicht nennen, sodass wir keinen Genuss mehr aus der
wunderschönen Volksmusik ziehen können. Es hört erst mit seinem Geschrei auf, sobald ich den
Fernseher ausschalte. Das sind aber noch gar nicht die einzigen Immissionen!
Beim Halter des Tieres handelt es sich um einen gewissen Herrn Exodeon, einen Peruaner, das hört
man schon an seiner Aussprache, der nicht hier wohnt, aber des Öfteren bei Fräulein Dan hier im
Hause zu Besuch ist, wobei sie und wechselnde, äußerst verdächtige Subjekte -lange Mäntel,
geflochtene Zöpfe, mehr muss ich ja wohl nicht sagen- mit dem Tier im Vorgarten herumtoben und,
was das Tier noch von den Blumenrabatten übrig gelassen hat, niedertrampeln. Habe ich es schon
gesagt, das Tier ist ein Kamel, und es spuckt.
Fräulein Dan ist „examinierte Kamelbeauftragte“, wohl so eine Art Tierpsychologin, aber bisher ist
es ihr noch nicht gelungen, dem Kamel das Spucken abzugewöhnen. Jedes Mal, wenn ich die
Haustür öffne und einen Fuß nach draußen setze, kommt Kregor Knarrpanti, so heißt das Kamel
angeblich, ich habe mir den Namen extra notiert, hier, das Kamel kommt also angerast, stürzt sich
auf und bespuckt mich. Ich bin inzwischen dazu übergegangen, aus dem Küchenfenster zu klettern
und mich durch den Garten hinter dem Haus zu schleichen, wenn ich einkaufen will, denn das
Kamel lebt im Vorgarten und schläft in der Garage. Und das seit geraumer Zeit.
Mein Waldemar litt in fortgeschrittenem Alter an Rheumatismus, und deshalb hatte meine Frau ihm
ein Mäntelchen mit passendem Mützchen gehäkelt, damit er sich bei unseren täglichen
Spaziergängen nicht verkühlte. Aber wozu um alles in der Welt benötigt das Kamel einen Turban?
Verstehen Sie das, Herr Jackson? Von einem seiner zwielichtigen Freunde bekam ich die Antwort,
ich solle nur froh sein, dass es ein Kamel und kein Drache sei! Das muss man sich mal vorstellen!
Ich habe schon überlegt, ob ich umziehen soll, aber wo soll ein verwitweter Rentner auf die
Schnelle eine alleinstehende Dame herbekommen? Es ist nicht so einfach, glauben Sie mir, die sind
verwöhnt und wollen heutzutage nicht mehr selbst kochen, nur in teure Restaurants ausgeführt
werden. „Erich“, sagte meine Frau immer, -ich heiße nämlich Erich-, „ein Mann muss essen. Ins
Gulasch gehört Paprika, Erich, viel Paprika, aber doch keine Tomaten.“ Und so hat sie es auch
gehalten.“ Schauen Sie sich die Damen heutzutage an, Herr Jackson: hochhackige Schuhe und
kurze Röcke! Ich habe ja gar nichts dagegen, im Gegenteil, durchaus ein Augenschmaus, wenn sie
in den Schuhen laufen können oder doch besser langbeinig damit irgendwo herumliegen. Nur
kochen können die alle nicht. „ Für Fußball haben die neumodischen Damen auch kein Verständnis,
und wenn, dann sitzen sie bei jedem Fußballspiel neben dir auf dem Sofa, und kochen nicht!
Nun, was das Kamel mit dem Turban betrifft: Es gibt nur eine Möglichkeit: entweder ich muss weg
oder das Kamel! Ich schlage Folgendes vor: Sie lassen eine amtliche Anordnung ergehen, Herr
Jackson, fangen das Kamel ein und lassen es ausstopfen. Von mir aus kann es ausgestopft mit
Turban im Vorgarten stehen, aber dann spuckt es wenigstens nicht mehr, und ich kann auch wieder
in Ruhe meinen Musikantenstadel anschauen. So geht es jedenfalls nicht weiter, so nicht!
Die fünfte Jahreszeit: Die Nachwirkungen
Die Geschichte vom Schlangenwylye
für saphira und Elias
In der Stadt Warminster in der Grafschaft Wiltshire in England lebte vor vielen Jahren ein Junge,
der die berühmte Warminster School besuchte. Der Junge kam aus einem fremden Land. Einmal
gelang es seinem Klassenkameraden John Granby einen Blick in das kleine eisblaue Büchlein zu
werfen, das der Junge ständig mit sich trug und in das er immer schrieb. John konnte aber nichts
von dem Geschriebenen verstehen, da es in einer ihm unverständlichen Sprache abgefasst war,
Deutsch oder Schwedisch vielleicht. Auf dem ersten Blatt stand in eisblauen Buchstaben „Skalli“,
und so wurde der Junge, dessen richtiger Name nicht überliefert ist, fortan von allen auch „Skalli“
gerufen.
Jede Nacht, wenn die anderen längst eingeschlafen waren, schlich sich Skalli aus dem Schlafsaal,
kletterte aus dem Fenster und lief zum Fluss Wylye. Er musste nicht lange warten, denn sobald er
am Flussufer angekommen war, erschien eine Seeschlange und begrüßte ihn mit einem Stups ihres
nassen Mauls. Skalli stieg auf ihren Rücken, und während sie durchs flache Wasser pflügten, sprach
er in der Seeschlangensprache mit ihr. Kurz vor Morgengrauen kehrte er zurück in den Schlafsaal
der Schule.
So ging das ein paar Wochen, bis Leander Simpson, der zu viele Pfannkuchen zu Abend gegessen
und deswegen Bauchschmerzen hatte, nicht einschlafen konnte und bemerkte, wie sich Skalli
davonstahl. In der nächsten Nacht folgten er, John Granby, Arne Saknussem, Charles Lord und
Michael Waterscreen ihrem Klassenkameraden zum Fluss. Da sie sich aber im Dunkeln ständig
anrempelten, sich gegenseitig auf die Füße und auf trockene Äste traten und darüber in Streit
gerieten, veranstalteten sie einen Lärm wie Robin Hood im Sherwood Forest. Als sie das Flussufer
erreichten, stand Skalli mit hochgekrempelten Pyjama-Beinen im flachen Wasser und rührte mit
einem verzweigten Ast die Wasseroberfläche auf. „Was tust du da?“, rief Leander. „Ich fische einen
großen runden Käse aus dem Wylye.“, antwortete Skalli. Die Jungen brachen in Lachen aus, denn
Skalli rührte nur im Spiegelbild des Vollmondes, der sich auf der glatten Flussoberfläche spiegelte.
Wenig später kehrte Skalli in seine Heimat, Bayern oder Schweden, zurück. Aus dem Schlangenei
aber, das Skalli vor den Blicken seiner neugierigen Kameraden verborgen hatte, indem er die
Wasseroberfläche aufwirbelte, schlüpfte eine Seeschlange, die jedes Jahr zu der Stelle im Fluss
Wylye bei der Stadt Warminster zurückkehrte.
So bekam der Fluss den Namen „Schlangenwylye“.
"Ich habe Hunger. Was gibt es zu essen?", sagte Kool. "Jside, isst du auch mit?"
Jside nahm die Augen nicht vom Monitor. "Mmh? Mal sehen...."
"Wie süß!" Teha hatte das Aquarium entdeckt. Teha, Dan und Yara drückten sich an der
Glasscheibe die Nase platt.
Müssen die mich so anstarren? Ziemlich lästig!
"Ambystoma mexicanum..." Jside hämmerte auf der Tastatur: " Axolotl...."
"Was frisst es?", fragte Kool hungrig.
Jside drehte am Mausrad: "Laut Wikipedia: Apfelschnecken, Posthornschnecken,
Spitzhornschnecken."
Ich verziehe mich mal lieber unter die Wasserpest, lateinischer Name "Egeria densa", falls
es jemand interessiert. Es ist schon ein wenig peinlich, dass man durch die dünne, fast
durchsichtige Haut die inneren Organe sehen kann, mein dreikammriges schlagendes Herz,
den Verdauungstrakt und darin mein Frühstück. Posthornschnecken und ein paar
Kellerasseln. Ja... Erstaunlich schmackhaft ... hätt ich nicht gedacht. Etwas einseitig
vielleicht.
"Hört sich nicht gerade vielversprechend an." Kool trat hinter Jside und las über dessen Schulter
vom Computermonitor ab: "Bei manchen Völkern gilt das Axolotl selbst als Spezialität." Er
schüttelte sich.
Dan fuhr herum, stellte sich mit dem Rücken zum Aquarium und breitete schützend die Arme aus.
"Dass du es weißt, Kool, wenn du das Axolotl auffrisst, bringe ich dich um. Und Clarissa und
Terminator bekommen es auch nicht serviert. Mein armes kleines Axolotl." **
Ein Candle Light Dinner für Clarissa und Terminator. Blöde Idee! Ich seh's vor mir: Clarissa
lächelt grausam, während sie in ein gegrilltes Beinchen beißt, die Soße läuft ihr aus dem
Mundwinkel. Sie schlüpft aus einem Stöckel und lässt den Fuß unter dem Tisch
wandern......
Jside sah vom Monitor auf und sagte beruhigend zu Dan: "Axolotl haben die Fähigkeit, Gliedmaßen
zu regenerieren. Wenn man ihnen etwas ausreißt, ein Beinchen zum Beispiel, bildet sich an der
Stelle eine Knospe und nach ein paar Tagen ist ein neues Beinchen nachgewachsen."
Das wusste ich gar nicht. Aber ich will es auch gar nicht wissen. Tut bestimmt weh.
Dan ließ sich durch Jsides Information überhaupt nicht beruhigen. "Ich lasse das nicht zu, ist das
klar!? Ihr könnt das Candle Light Dinner vergessen und das Probekochen heute auch. Und dann
werdet ihr niemals erfahren, wer Terminator ist!"
Amüsant... Aber das wird sowieso nicht passieren. Entweder er oder ich.
Kool hörte nicht zu. Er stellte sich einen großen Schokoladedrachen und ein kleines
Schokoladeaxolotl vor, die von Schokolademarienkäfern umschwirrt wurden.
Dan wurde immer wütender: "Das arme Axolotl wurde fast von einer Schlange gefressen! Ich habe
es vor diesem Schicksal bewahrt und seitdem lebt es hier, und ihr wollt es essen!"
"Ich habe ja wohl zuerst gesagt, dass Papa es bloß nicht bei den Schlangen reintun soll. Und
außerdem ist es nur bei dir, weil Fishy uns das Aquarium geliehen hat.", rief Yara.
"Uns? Um das Aquarium habe ich mich gekümmert. Und außerdem war das gar nicht so einfach.
Fishy wollte das Aquarium nämlich zuerst nicht rausrücken. Er hat gesagt, er braucht es für
Clarissa."
Kools Schokoladedrachen und das Schokoladeaxolotl schmolzen in der tropischen Sonne Afrikas zu
einem klebrigen eiförmigen Klumpen. Kool klaubte in Gedanken die Schokolademarienkäfer von
dem geschmolzenen Schokoladedracholotl, steckte sie in einen Umschlag und schrieb die Adresse
der Antarktis darauf. "Weiß jemand, was für eine Briefmarke man für die Antarktis braucht? - An
dem Axolotl ist ja wohl gar nichts dran, das geht nicht einmal als Vorspeise durch. Also ich ziehe
Steak Hawai vor. Water? Was gibt es denn zu essen?"
In der Küche schepperte es metallisch, danach prasselten dumpfe Platscher, gefolgt von einem
ausländischen Fluch. Dann war Stille. Das Axolotl entließ eine Serie von Sprechblasen, die aber
keinen Text enthielten, jedenfalls keinen sichtbaren. Sie zerplatzten an der Aquariumoberfläche.
"Water? Was gibt es zu essen?", versuchte Kool es noch einmal.
"Kartoffeln jedenfalls nicht mehr."
"Och ich habe mich so auf die Haxe mit Bratkartoffeln und Speck und zart gedünstetem Blattspinat
gefreut.", sagte Kool bedauernd. Dann brüllte er lauter in Richtung Küche: "Warum denn nicht?"
"Es ist vorbei mit den Kartoffeln. Ich habe mir am Kartoffelwasser die Finger verbrannt und dann
ist mir das Messer aus der Hand gefallen. Kann mal kurz jemand kommen und das Kartoffelmesser
aus meinem Fuß ziehen?" Yara und Teha warfen dem Axolotl ein Luftküsschen zu und trabten zu
Water in die Küche.
"Wikipedia sagt:", las Jside, "Eine Besonderheit des Axolotl ist, dass es nie richtig erwachsen wird,
sondern sein Leben im Larvenstadium unter Wasser verbringt. Die biologische Verweigerung der
Metamorphose hat jedoch nichts Pathologisches, denn solange die Wohngewässer nicht
austrocknen, brächte die Umwandlung zum Molch keinen Vorteil.“
Manchmal bringt eine Metamorphose schon einen Vorteil. Okay, es muss nicht unbedingt
ein Molch sein....
Yara und Teha kamen aus der Küche zurück. Teha fuhr mit einem weichen Schneckenfinger über
die Scheibe.
Verdammt! Was ist das denn? Wie ärgerlich: beim Anblick des Schneckenfingers läuft mir
sofort das Wasser im Mund zusammen.Ein paar saftige Apfelschnecken wären jetzt nicht
schlecht.
"Trotzdem werden Axolotl geschlechtsreif.", las Jside
In der Tat! Dieser Metamorphose muss man sich doch nicht unbedingt verweigern.
"Seht mal, es folgt meinem Finger mit den Augen, als ob es uns verstehen würde.", sagte Teha
entzückt. "Ist es eigentlich ein Männchen oder ein Weibchen?"
Ich stecke schnell mein hinteres Ende unter die Rote Haarnixe, Cabomba furcata
piauhyensis, aber Latein nutzt jetzts auch nichts. Das habe ich nicht bedacht. Mann, ist das
peinlich! "
"Ich weiß nicht genau", sagte Dan und versuchte durch die Haarnixe hindurchzulugen.
Was soll das heißen, du weißt es nicht? Hallo? Das ist doch wohl klar!
"Ein Gelege besteht aus 80 bis 800 Eiern.", verkündete Jside.
So viele? Das ist ja wohl nicht normal! Mir kommt ein entsetzlicher Gedanke: Kann ich mir
eigentlich sicher sein ....?
"Schaut mal, es läuft rosa an und schielt nach seinem Hinterteil. Wie niedlich!" Teha und Yara
kicherten.
"Wäre das nett, wenn es ein paar Eier legen würde. Dann hätte es auch ein bisschen Gesellschaft
und wäre nicht mehr so einsam in seinem Aquarium.", sagte Dan begeistert. Glücklicherweise
entging ihr Kools Bemerkung, dass man mit 800 Axolotl schon eher etwas anfangen könne, zu einer
Vorspeise sollte das allemal reichen.
"Kommt nicht in Frage, vergiss es!
"Egal, was es ist, Männchen oder Weibchen: Ich nenne es jedenfalls Otto."
"Hör mal, Axolotl, - Otto, es wird Zeit, dass du zurückkommst. Wir tauschen zurück! ----Otto? Ich weiß genau, dass du hier bist. Otto, hörst du mich?"
"Nein. Keine Lust."
"Wie, keine Lust? Was soll das heißen, keine Lust?
"Keine Lust eben."
"Hör mal, Otto, du wolltest doch zuerst gar nicht. Du wollstest in deinem blöden Aquarium
sitzen, mit den Kiemen wedeln und Wasserflöhe fressen. Das darfst du jetzt wieder. Los,
komm."
"Jetzt hab ich aber keine Lust mehr."
"Komm, Otto, sei kein Frosch. Ich hab noch einiges zu regeln da draußen. Vom Aquarium
aus geht das nicht. Los, tauschen!"
"Nein. Ich mag nicht."
Verdammt! Bist du bescheuert? Du kannst mir doch nicht meine Identität stehlen. Ich will
hier raus."
"Jetzt nicht. Kannst du vergessen."
**"Los, mach. Sonst serviere ich dich wieder den Schlangen zum Fraß."**
"Das mit den Schlangen ist gemein. Siehst du, schon deshalb können wir nicht wieder
zurücktauschen."
"Na gut. Dann anders. Wenn du wieder mit mir tauschst, setze ich dich in einer schönen
dunklen Höhle ab, in der Eifel, wo du nie mehr das Tageslicht zu Gesicht bekommst und nie
mehr eine Menschenseele triffst. Das verspreche ich dir. Na, wie hört sich das an?"
"Hört sich verdammt gut an! Danke!"
........????**
.........
Aber nein, doch nicht."
"Warum denn nicht? Warum willst du denn nicht mehr?"
"Du, hör mal?"
"Ja, lieber Otto?"
"Was trägt man denn so zu einem Candle Light Dinner?"
"Ach, da muss man nicht so ein Theater machen. Jeans und T-Shirt, das reicht. Es kommt
auf die inneren Werte an. Kleider sind unwichtig. Aber warum machst du dir über sowas
Gedanken?"
"Stimmt. Wenn ich dich so anschaue: Du gibst auch ohne Kleider ein sehr hübsches Axolotl ab."
"Also?"
"Ich muss dich was fragen...."
"Was denn noch? Lass uns zuerst zurücktauschen, dann können wir reden, Otto."**
"Nenn mich bitte nicht Otto! Wir haben getauscht, vergessen? Du bist Otto, das Axolotl. Ich bin
jetzt Terminator. ---- Also: Wie geht das denn mit der Paarung bei euch?
Water kam barfuß und mit verbundener Katzenpfote aus der Küche; in der anderen schwang er
einen neongrünen Schneebesen. "Kool, du könntest mal Bier holen gehen."
"Och immer ich", maulte Kool. “Aber erst will ich was essen." Er stiefelte in die Küche und kam
mit einer Schüssel zurück. "Was ist das, Water? Sieht gut aus." Er tunkte einen hungrigen Löffel
hinein.
Water warf einen Seitenblick auf Jside, der den Beinamen Mr Krab trug, denn seine Maushand, von
der er nur zwei Finger zum Festhalten und einen Finger zum Klicken benutzte, kam tatsächlich
einer Krabbenschere ziemlich nah. “Das ist die Vorspeise”, sagte Water und räusperte sich.
"Lass mal sehen.", sagte Yara. Kool kippte die Schüssel ein wenig, sodass Yara hineinschauen
konnte. "Ach das! Das sind bestimmt Marengo-Herzen, Koolicheen."
"Was ist das denn? Marengo-Herzen, nie gehört."
"In der Schlacht bei Marengo am 14. Juni 1800 errang Napoleon im Zweiten Koalitionskrieg den
entscheidenden Sieg über die Österreicher. Marengo ist ein Dorf in der italienischen Provinz
Alessandria.", las Jside bei Wikipedia ab.
Kool zog den Löffel aus der Schüssel. "Du willst mir doch nicht erzählen, dass ihr Clarissa und
Terminator als Vorspeise über zweihundert Jahre alte Soldatenherzen serviert!"
"Nicht wirklich", antwortete Yara zögernd. "Marengo" heißt auch eine tropische Pflanze mit
würmchenähnlichen Früchten."
"Davon hab ich noch nie gehört.", sagte Kool erleichtert und warf der Vorspeise wieder begehrliche
Blicke zu.
"Das ist auch kein Wunder, Kool.", antwortete Yara. "Marengos sind sehr selten und ziemlich teuer.
So ähnlich wie Trüffel."
"Wikipedia kennt die Marengo-Frucht gar nicht.", sagte Jside erstaunt. "Vielleicht sollte mal jemand
einen Artikel...".
Water zog sich feixend in die Küche zurück.
"Egal!" Kool stopfte sich unbekümmert den Mund voll und krähte: “Es sieht aus wie
Krabben-Cocktail, und es schmeckt wie Krabben-Cocktail. Wenn sie so selten und teuer sind,
warum habt ihr dann eigentlich Marengos genommen und keine Krabben?”
Vor dem Fenster röhrte das Kamel Kregor Knarrpanti. “Ich glaube, es hat Hunger. Meint ihr, es mag
Pellkartoffel?”, fragte Dan besorgt.
Es klingelte, und sofort kam das Kamel angetrabt und streckte von draußen den Kopf zum Fenster
herein.
“Das ist die Höhe!”, schrie ein völlig echauffierter Herr in Lederhosen und Scharivari, die
Knallwaden in gestrickten Kniestrümpfen, und fuchtelte mit dem Zeigefinger. Es war derselbe
Nachbar, der bei Jaxom einen Antrag gestellt hatte, das Kamel ausgestopft in den Vorgarten zu
stellen, da es ihm mit seinem Geschrei den Hochgenuss des Musikantenstadls vergällte. “Ich zeige
Sie an. Wer weiß, wann ich wieder meine Wohnung betreten kann. Wenn ich heute Abend den
Musikantenstadl verpasse, sind Sie daran schuld, dann sind Sie dran, das sag ich Ihnen. Sorgen Sie
dafür, dass das Kamel den Schlüssel rausrückt.”
Hochmütig schweigend tat das Kamel mit seinen langwimprigen Plüschaugen keinen
Wimpernschlag. Seine weichen pelzigen Nüstern schnaubten zärtlich und unter den
zurückgezogenen Lippen kamen prächtige gelbe Zähne zum Vorschein..
“Da bist du ja, mein Süßer!”, rief Dan entzückt und kraulte das Kamel unter dem wolligen Kinn.
“Hast du denn heute schon etwas zu essen bekommen?”
“Das hat es allerdings.”, schrie der Nachbar. “Erst hat es im Vorgarten die letzten Tulpenzwiebel
ausgegraben und die zarten Rosenknospen abgenagt, und anschließend hat es meinen
Wohnungsschlüssel gefressen.”
Dan erschrak. "Armer Kregor. Dann hast du bestimmt Bauchschmerzen!"
Ungerührt besah sich das Kamel weiter den aufgeregten Nachbarn.
“Sowas Ähnliches ist mir auch schon passiert," sagte Yara. "Ich hatte mal eine Schraubmutter in der
Nase."
"Warum hast du dir eine Schraubmutter in die Nase gesteckt?", fragte Kool mit vollem Mund.
"Ich stecke mir doch keine Schraubmutter in die Nase, Kool! Ich war noch sehr klein und bin mit
der Nase draufgefallen. Sowas passiert."
Kool wischte sich den Mund ab, er war fertig mit dem Marengo-Cocktail. "So, ich geh jetzt Bier
holen. " Er hakte den Nachbarn unter und bugsierte ihn nach draußen, während er auf ihn einredete:
"Sie müssen ein wenig Geduld haben. So ein Kamel hat vier Mägen, und es braucht seine Zeit, bis
Ihr Haustürschlüssel da durch ist. Aber er Schlüssel kommt schon wieder zum Vorschein, das
verspreche ich Ihnen, und dann können Sie zurück in Ihre Wohnung..."
Das Kamel zog seinen Kopf aus dem Fenster, und nach zwei Minuten hörte man es im Vorgarten
röhren.
"Ich bring dir nachher noch was Feines zum Futtern", rief Dan dem Kamel nach und ging zum
Aquarium zurück.
Es klingelte. Cely kam herein. "Weiß jemand, wie groß Terminator ist?", fragte sie.
Geschätzte fündundzwanzig Zentimeter. Mehr nicht, leider.
"Keine Ahnung. Warum fragst du?"
"Weil an der Wohnungstür außen ein fetter Ohrabdruck ist. Als ob jemand an der Tür gelauscht
hätte. Und ich war's nicht, ich komme höher."
Verdammt, Otto lauscht an der Tür! Gleich wird er hier hereinspazieren – als Terminator.
Und ich sitze hier fest in Axolotlgestalt. Alle können mein Frühstück in seinem Magen
sehen. Was mach ich jetzt?
Hinter Cely kam eine merkwürdige Person hereingeschwommen. Es sah tatsächlich so aus, als
schwömme sie unter Wasser, denn sie bewegte sich zwar flüssig, aber wie in Zeitlupe, als gölte es
einen Wasserwiderstand zu überwinden. Die Person war mindestens zwanzig Zentimeter kleiner als
Cely, trug einen hellgrauen Anzug über weißem Hemd. Die viel zu langen Ärmel und die
Hosenbeine waren umgeschlagen. Auf dem Kopf trug die Person einen schwarzen Zylinder, der tief
in die Stirn gezogen war. Vom Gesicht war nicht viel zu erkennen, jedenfalls war es rund, flach und
mehlweiß, und die Augen wurden von John-Lennon-Sonnenbrillengläsern verdeckt, die Gläser
waren jedoch so klein, dass sie im Gesicht aussahen wie ein Paar schwarze Knopfaugen. Die Person
war wie Water barfuß, allerdings hinterließ sie auf dem Parkett nasse Fußabdrücke, als wäre sie
eben aus der Badewanne gestiegen. Der Besucher schwamm wortlos um Cely herum bis zum
Aquarium.
Jside schaute kurz auf, hämmerte auf die Tastatur und verkündete: "Das ist Yoko Ono."
Das Axolotl im Aquarium geriet in Panik. Es rannte von einem Aquarium-Ende zum anderen,
scharrte mit seinen kurzen Vorderbeinen am Glas, versuchte, an der Aquarium-Innenwand
hinaufzuklettern und entließ blubbernde Sprechblasen.
Bist du verrückt geworden, Otto? Verschwinde sofort! Das sind meine Darsteller, **ich**
sage hier, wo es langgeht! Es ist meine Geschichte! Was ich sage, ist fett und kursiv
gedruckt. Du kannst hier nicht einfach machen, was du willst!
Jetzt nicht mehr, Termi. Deine Zeit ist vorbei.
Otto, das merkwürdige Wesen, schwamm direkt auf Dan zu, die sich wachsam aufrichtete, den
Rücken straffte und das Sprungbein fluchtbereit vorstellte. Unvorsichtigerweise ließ sie jedoch die
Hand, wo sie war, nämlich außen auf dem Aquarium. Ihre Finger klebten wie saftig-zarte, fleischige
Schnecken auf der Aquariumscheibe. Als der Besucher Dan erreichte, fuhr er eine kurze fleischige
Zunge aus und schoss damit blitzschnell über Dans Schneckenfinger. Dan reagierte prompt: Sie zog
die Hand zurück und verabreichte dem Besucher eine schallende Ohrfeige. “Was erlaubst du dir!
Iiiiiiiih, wie eklig! ” Sie hielt die Hand möglichst weit vom Körper weg und rannte ins Badezimmer.
“Cely, pass auf Otto auf, lass dieses Ekel nicht so dicht an ihn ran, ich trau dem nicht!”, rief sie über
die Schulter. Wasser plätscherte.
Ich werd langsam wütend! Jetzt wirst du mal sehen, wer hier das Sagen hat! Ich ich ich! Dir
werd ich's zeigen”
Der Besucher ließ seine Zunge kreisen, rollte sie von einem Mundwinkel zum anderen und förderte
nach geraumer Zeit spucketräufelnd den folgenden Satz zutage:
“He! Helfende Hände heißen Himmel für Heiden.”, sagte er. “Hä?”
Das Axolotl im Aquarium bekam einen Schluckauf. Der Besucher kämpfte erneut mit seiner Zunge
und äußerte dann in Richtung Aquarium:
„'S ist sicherlich spaßig, sensationelle stimmhafte Sprachsysteme zu suchen. Bloß beispiellose
Buchstabenbarrieren bilden brachiale Betrachtungsweisen bei bescheidenen Beiträgen.”
Alle versuchten erstaunt, das orakelhafte Gerede zu verdauen. Das Axolotl im Aquarium patschte
mit den Stummelpfoten und sprang triumphierend mit den Hinterbeinen hoch.
Cely überwand ihren Abscheu und stellte sich zwischen das Aquarium und den Besucher, der
mindestens zwei Kopf kleiner war als sie. Niemand sagte etwas. Nach einer Weile rollte das Wesen,
ohne die Augen zu heben oder den Kopf zu bewegen, einen weiteren Satz aus seinem Mund:
“Obacht! Oberkörper ohne gleichen obvserviert!”
“Wer bist du eigentlich?”, fragte Cely erbost und kreuzte die Arme über der Brust.
“Also, artikuliert die Angebetete ihre Anrede an den arglosen Anbeter?”, kam die Antwort, nun
schon flüssiger und ohne vorheriges Zungengerolle.
Dan kam aus dem Bad und stellte sich neben Cely. Auch Yara und Teha kamen herbei und bildeten
drohend eine Elf-Zentimeter-Abwehr-Mauer im Strafraum vor dem Aquarium.
Der Besucher schaute von einer zur anderen. “Kalte Konfusion! Kann diese Königin doch keine
Dame namens Clarissa darstellen?”
Einen Kasten Urpils schleppend, kam Kool zurück und erfasste die Situation mit einem Blick
“Bleib ganz ruhig, Cely”, sagte er, “Er wird dir nichts tun. - Wer bist du? Was willst du von Cely?"
“Großartige Grundeinstellung gegen koole Gleichgültigkeit gegenüber großartigem Geschwafel.
Notabene: Nenn niemals nervenden Niemanden deinen Namen. Sofern solche Subjekte sich nicht
so nennen.”
"Scheint ein Freund von Clarissa zu sein, so wie der redet.", sagte Kool.
"Literatur lesende Ladys lieben lausiges Gelaber.", kam es vom Besucher zurück.
Entschlossen wandte Yara sich an den Besucher: "Verzeihen Sie, wenn ich Sie so direkt frage: Sind
Sie vielleicht Terminator?"
"Ich kann keine Kongruenz zwischen kopfstehenden Krill-Konsumenten und quadratisch kantigen
Kegeln konstatieren. Nur von verrücktem Verstand vermag vorgelegter Vergleich verarbeitet
werden."
Vorausschauende Verfasser verschmerzen verschwindend geringe Verluste. - ?????- Das
wollt ich gar nicht sagen! Mist, jetzt fang ich auch noch so an. Nochmal und langsam. Otto, ich meine: Als vorausschauender Verfasser dieser wirren Geschichte – geht doch!habe ich natürlich alles vorhergesehen, was passiert. Du hast keine Wahl, Otto, du musst
machen, was ich dir vorsage, Otto. Kapiert? Otto?
"Verrückte Versuchung, freundliche Verbreitungsvorschläge zu verwerfen... Welch würgreizendes
Wesen wohnt in widerlichen Wässern? Nur hirnrissige Hanfkonsumenten holen solch
haarsträubenden Herpes ins heimische Haus, hinfort! Gärend in grauenhafte Grotten gehört dieses
Geschöpf, geschwind! Transportiert Teufels Tagelöhner in den tiefsten Tartaros."
"Versteht jemand, was er meint?", fragte Kool.
"Keine Ahnung, ich verstehe kein Wort davon. Aber ich glaube, das Axolotl ist im Aquarium nicht
mehr sicher.", sagte Dan nachdenklich. "Am besten bringen wir es von hier weg. Es wird mir zwar
das Herz brechen, aber wir müssen es tun, bevor uns das arme kleine Axolotl in dem schlechten
Brackwasser hier eingeht. Wir bringen es zu der Grotte in der Eifel, von der Aquila erzählt hat, und
setzen es dort aus.Was haltet ihr davon?"
"Stücke selbiger Sätze sahen schon sprachliche Verwendung. Sicher sind seine Schriften dort
sicher sowie sorgsam gesäubert. Schönen Samstag, schreibwarensüchtige Schriftensammler!",
sagte der Besucher und ging.
Das Axolotl im Aquarium begann, die rote Wasserpest mit den Wurzeln auszureißen.
Terminator träumt
Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen hatte, aber als ich erwachte, das Buch fiel mir aus der
Hand, war es schon ziemlich dunkel. Durch die zugezogenen Vorhänge drang nur wenig Licht in
die Bibliothek. Die rotblättrige Fittonie, auch Fittonia verschaffeltii oder Gymnostachyum
verschaffeltii genannt, lag auf dem Boden, und es sah so aus, als hätte jemand sie samt Wurzel
aus dem Topf gerissen. Vielleicht hatte ein Windstoß den Fensterflügel aufgedrückt und dabei die
Pflanze heruntergefegt. Ich klaubte die Schnecke, die schon längere Zeit bei mir wohnte und
überall silberne Kriechspuren hinterließ, aus dem Wurzelballen der entwurzelten Topfpflanze und
setzte sie auf die Fensterbank. Sofort.begann sie, hinter dem Vorhang die Scheibe
hinaufzukriechen. Ich würde später aufräumen. Erst mal Kaffee.
Als ich in der Bibliothek das Licht anknipste, rückten die Wände zusammen Auf der Lücke im
Regal lag ein Lichtkreis. Ich schob das heruntergefallene Buch in die Lücke zurück, verkehrt
herum, mit dem Buchrücken nach hinten, wie die anderen Bücher auch, ein Buch unter vielen,
sichtbar unsichtbar. Nicht weiter bemerkenswert. Ich lupfte den Vorhang und schaute nach
draußen. Es war „Blasslilawetter“, wie Teha immer sagte. Es goss in Strömen, man sah nur
Wasserfäden, die von einem heftigen Wind gestrafft in Streifen schräg herunterprasselten. Fester
Boden war nicht sichtbar. Die Bibliothek war eine Insel im nassen unsicheren Inferno, und wenn
man lang genug in den Regen starrte, kam es einem vor, als flöge man. Die Bibliothek schwankte
leise, während der Wind draußen an den Holzwänden vorbeirauschte. Ich ließ den schweren
Samtvorhang zurückfallen und vergewisserte mich, dass die schmale Ausstiegstür der Sänfte
eingerastet, dass die Tür fest verschlossen war und ich nicht hinausfallen konnte, wenn ich mich
versehentlich dagegenlehnte. Dann setzte ich mich auf die staubige mit rotem Plüsch bezogene
Bank. Im Bücherregal über der Sitzbank - es war so angebracht, dass man noch bequem unter
dem Regal Platz nehmen konnte, ohne den Kopf zu beugen-, waren die Bücher mit Ledergurten
gesichert, damit sie bei der schaukelnden Bewegung der Sänfte nicht herunterfielen. Dicht bei der
Ecke, wo die Rückwand der Sänfte an die Ausstiegsseite mit der Tür stieß, hing eine Kuckucksuhr
mit langem Pendel, das durch die Schräglage der Sänfte aus dem Takt gebracht wurde. Daneben
hing an einer langen Kette eine goldene Taschenuhr mit einem Bild aus der griechischen
Mythologie auf dem Zifferblatt. Sie zeigte eine ganz andere Zeit als die Kuckucksuhr. Ich erhob
mich, wobei ich mit den Knien an die gegenüberliegende Sitzbank stieß, fuhr mit dem Finger an
den Büchern vorbei und las die Titel: Newtons Principiae mathematica, Novalis’ Gesänge an die
Nacht, François Villons Ballade des contre-vérités, Thomas Chattertons Song from Æwa,
Bobrowskis Boehlendorff. Ich schubste ein paar Bücher, die durch die Erschütterung nach vorne
gegen den Gurt gerutscht waren, in die Reihe zurück. Eines davon, das kopflastig übergewichtig
bei der nächsten größeren Turbulenz herausfallen würde, schlug ich auf und las:
...daß ich glaube mein Gedächtnis und meinen Kopf sehr geschwächt zu haben durch diesen
gehäuften und unnützen Schulfleiß und daß meine natürliche Lebhaftigkeit und Fähigkeit
einigermaßen darunter gelitten. Ein noch größer Übel ist, daß diese Methode alle Ordnung, ich
möchte sagen, allen Begriff und Faden und Lust an derselben in mir verdunkelt hat. Ich fand mich
mit einer Menge Wörter und Sachen auf einmal überschüttet, deren Verstand, Grund,
Zusammenhang, Gebrauch ich nicht kannte. Ich suchte immer mehr und mehr ohne Wahl, ohne
Untersuchung und Ueberlegung auf einander zu schütten; und diese Seuche hat sich über alle
meine Handlungen ausgebreitet, daß ich mich endlich in einem Labyrinth gesehn habe, von dem ich
weder Aus noch Eingang noch Spur erkennen konnte.
Ein Labyrinth? Das war es. Überrascht drehte ich es um und las den Titel Johann Georg Hamann
Gedanken über meinen Lebenslauf. Ein Labyrinth aus Worten in einem Turm, zugestellt mit
Büchern. Während man immer höher stieg, fielen die Worte klumpig nach unten und
verbarrikadierten den Ausgang. Draußen gab es Tauchbecken, Luftschiff-Hangars, zubetonierte
Zengärten, ein Gehege, in dem man sich gegenseitig besichtigen konnte, Staubsmileys, lauter
unnötige Dinge. Man fiel ständig über die Hübbel, die von den zubetonierten Bonsais gebildet
wurden, die Drachenuhr tickte unter der Spüle wie eine Zeitbombe und die Truhe mit den
vergessenen Geheimnissen wurde nie voll, so viele Worte man auch hineinwarf. Ganz zu
schweigen davon, dass die Büsche nicht echt waren, die Bademeister Zöpfe und das Kamel einen
Turban trugen.
Irgendwo in diesem ganzen Wust von Worten und Sachen hatte ich den Zusammenhang verloren.
Wie viele Spuren meiner Existenz hatte ich gesetzt, die nie jemand entschlüsselte. Konnte ich
existierten, wenn mich nie jemals jemand erkannte? Wenn ich für die anderen nicht existierte, war
ich nicht da. Clarissa, die es besser wissen musste, stampfte mit ihren Stöckeln auf den Boden
und verleugnete mich, noch bevor der Kuckuck dreimal aus der Uhr sprang.
Fieberhaft begann ich die Bücher aus dem Regal herauszureißen, ich musste etwas finden, das
meine Existenz bewies, ein Dokument, einen Schnipsel Papier, meinen Namen. Ich fand dies:
ottos terminator trotzt
otto: fort terminator fort
ottos terminator hopst fort
otto: soso
otto holt holz
otto motzt
otto: terminator terminator
otto horcht
ottos terminator klopft
otto: komm terminator komm
ottos terminator kommt
ottos terminator kotzt
otto: ogottogott
Es war also Otto, der die Geschichte schrieb! Otto hatte schließlich kaltblütig mein Leben an sich
gerissen, er hatte mich fertig gemacht. Ich existierte nicht einmal mehr in einer Anspielung in
Jacksons Papieren oder als Kinokarte.
Die Sänfte ächzte und senkte sich nach vorne, offensichtlich verloren wir an Höhe. Sie rüttelte in
Turbulenzen, die Bücher prasselten auf den Boden der Sänfte zwischen die Sitzbänke und türmten
sich auf.
Neben einem leeren Marmeladenglas, das auf der Sitzbank hin und herrollte, zweifellos der
Aufbewahrungsort der Schnecke, die jedoch langsam in Richtung Kuckucksuhr an der Wand
entlangzog, lag aufgeschlagen ein Buch, Augustinus’ De Trinitate:
... wird jemand darüber zweifeln, dass er lebt, sich erinnert, Einsichten hat, will, denkt, weiß und
urteilt? Mag einer auch sonst zweifeln, über was er will, über diese Zweifel selbst kann er nicht
zweifeln.
Wie ich so in dieser schwankenden Sänfte zwischen Himmel und Erde saß, ohne Bodenkontakt,
erschien es mir gar nicht mehr so erstrebenswert, jemandem meine Existenz zu beweisen. Wenn
niemand daran glaubte, dass ich existierte, dann tat ich es auch nicht. Ich war nicht da. Unsichtbar.
Als ich vom Buch aufsah, drang Wasser durch die Wände, das langsam immer höher stieg. Zuerst
geriet ich in Panik, aber ich konnte unter Wasser atmen, mit Hilfe der Kiemen außen an meinem
Kopf. Die Bücher lösten sich vom Boden, schwammen aus den Regalen, kreisten oben auf der
Wasserfläche, weit über meinem Kopf. Dann wurde es hell, rosa Schneckenfinger umfassten mein
Gefäß, ich konnte viele uhrenähnliche Messgeräte sehen, die wie verrückt ausschlugen. Wir waren
in der Luft! In einem Flugzeug ohne Motor, in Nelsons Segelflugzeug! Ich hoffte, dass das Wasser
in meinem Marmeladenglas den Aufprall abmildern würde, wenn etwas schief ging und wir
abstürzten. Ich krallte mich mit Vorder- und Hinterfüßen an die Fittonia verschaffeltii , die aber
trotz ihres klotzig-robusten Namens nachgab und sich sanft neigte, sodass ich, noch immer mit
allen Vieren den Stängel umarmend, auf dem Rücken landete.
„Es hat schon wieder die Wasserpflanze mit der Wurzel herausgerissen.“, sagte Dan. „Ich glaube, es
mag diese Sorte nicht.“ Das Flugzeug sackte ab und kam ins Trudeln. „Meinst du, das
Marmeladenglas ist groß genug für das Axolotl? Mein kleiner Otto hat ganz schön zugelegt in
letzter Zeit.“
„Bis in die Eifel geht's schon.“, antwortete Nelson, der eine coole spiegelnde Sonnenbrille und eine
Fliegermütze trug. Gekonnt zog er das Flugzeug nach oben. „Und in Aquilas Höhle wird es sowieso
nicht so viel zu fressen bekommen, wenn es sich erst sein Futter selbst fangen muss.“
Aus dem imaginären Tagebuch:
Die erste Zeit war dumpf. Ich kann nicht sagen, wie viele Stunden, Tage, Jahre ich in der Höhle
saß und wartete, auf irgendetwas oder irgendjemand. Ich vegetierte in völliger Dunkelheit vor mich
hin, bewegte mich wenig. Hin und wieder aß ich eine der Schnecken, die Dan in den Spalt der
Unterwasserhöhle gesteckt hatte, den ich mit meinem Körper verschloss. Ich aß sie mechanisch
und gedankenlos, nicht, weil ich hungrig gewesen wäre, sondern einfach, weil die Schnecke an mir
vorbeikroch. Ich träumte.
Ich sah Otto, das Axolotl, das jetzt ein Mensch war, wie es in meiner Wohnung, angetan mit einem
meiner Unterhemden, hin- und herging. Schiesser Feinripp, dieselbe Sorte von Unterhemden, die
auch Clarissa immer trug. Nach einer Weile spazierte das Axolotl aufrecht in meinen
Kleiderschrank und kam nur in Boxershorts zurück, die die Aufschrift trugen you miss me. Es hielt
die Boxershorts mit einer Hand in Höhe des Schlüsselbeins (haben Axolotls Schlüsselbeine?),
jedenfalls kurz unterhalb seines schwabbligen Halses gerafft, sodass die meisten Buchstaben in
den Rafffalten verschwanden: u is me konnte man jetzt noch lesen. Ich hoffte inständig, dass es
die Shorts nicht verlieren würde, um mir wenigstens diesen Anblick zu ersparen – womöglich kam
das halbverdaute Frühstück in seinem durchsichtigen Axolotl-Magen zum Vorschein oder
Schlimmeres! Sicherheitshalber würde ich bei meiner Rückkehr alle kontaminierten Unterhosen
und Unterhemden in die Antarktis schicken oder im Müll entsorgen. Ich sah, wie es meine Anzüge
anprobierte, sodass es auf den viel zu langen Hosenbeinen ausrutschte und aufs Parkett schlug.
Ich wünschte mir, dass es sich ordentlich wehgetan hätte. Auch die Sonnenbrille, meine
John-Lennon-Sonnenbrille, die ich in Paris auf dem Marché aux puces gekauft hatte, war nach
dem Sturz demoliert, aber es setzte sie wieder auf, denn andernfalls wäre ihm der Hut über die
Augen gerutscht. Danach riss es die Topfpflanze auf der Fensterbank mit der Wurzel aus, kippte
die Erde in meine Sneaker mit Sechsfach-Schnürung, leichter, fein profilierter Laufsohle und
bugatti-Logo-Prägung auf der Zunge, goss aus der Gießkanne reichlich Wasser nach, lupfte die
Hosenbeine und sprang mit beiden Füßen gleichzeitig hinein. Doch die Schuhe waren immer noch
zu groß und wollten nicht an seinen nackten Füßen hängen bleiben. Da gab es auf. Genüsslich
bohrte es seine nackten Zehen in den Morast, der bis zum Rand in den Schuhen stand, seufzte,
sah auf und platschte in die Küche, eine schlammige Spur von Fußabdrücken hinterlassend.
Ich sah, wie das Axolotl auf einen Stuhl kletterte, den es an der Stuhllehne aus der Küche ins
Badezimmer hinter sich herzog, sodass das Parkett aufjaulte, um sich im Badezimmerspiegel zu
betrachten. Da es noch immer nicht seine ganze Figur überblicken konnte, positionierte sich Otto
das Axolotl schließlich der Einfachheit halber aufrecht im Waschbecken. Verwundert blubberte es
vor sich hin, während es sein Spiegelbild keine Sekunde aus den Augen ließ und versuchte, den
Spiegel zu überlisten, indem es die überlangen Ärmel gegeneinander klatschte. Doch das
Spiegelbild tat es ebenso. Dann zog es den Arm aus dem Ärmel, streckte ihn aus dem Revers in
Halshöhe heraus, kratzte sich mit der nun nicht mehr durch den überhängenden Stoff behinderten
Hand an der Nase und schnitt Grimassen, dass die Sonnenbrille gefährlich schlenkerte. Aber das
Spiegelbild war nicht zu überlisten, so jedenfalls nicht. Das Axolotl sah sich suchend um, griff sich
den elektrischen Rasierapparat und rasierte die Vorderseite seines – meines Jacketts.
Anscheinend war die Rasur nicht zufriedenstellend ausgefallen, denn anschließend ging es zu
Nassrasur über. Es putzte sich mit der Zahnbürste die Zehen und zum Schluss schüttete es sich
eine ganze Flasche Eau d’Issey über den behüteten Kopf. Die ganze Zeit ließ es sein Spiegelbild
nicht aus den Augen. Wenn es gehofft hatte, sein Spiegelbild könne ihm diese Verrenkungen nicht
nachmachen, wurde es jedenfalls enttäuscht.
Schließlich fuhr es mit der fleischigen Zunge über den Spiegel. Ich zuckte zurück, denn ich war in
der Höhle auf der anderen Seite des Spiegels, direkt hinter dem Spiegelbild, das der
Badezimmerspiegel dem Axolotl entgegenhielt. Doch es sah mich nicht. Das einzige, was Otto das
Axolotl hätte bemerken können, war eine angelaufene Stelle auf dem Glas, was ihm jedoch völlig
schnurz war. So sah das Axolotl gar nichts.
Ich hingegen sah es genau. Ich sah, wie es sich später -es war wohl der Abend des Tages, an dem
ich zur Verbannung in der Eifel verurteilt wurde- in voller Montur samt Sonnenbrille und Hut zum
Schlafen in die wassergefüllte Badewanne legte und bis zur Nasenspitze eintauchte. Es konnte
problemlos die Beine in der Badewanne ausstrecken, während die leeren Enden der Hosenbeine
nach oben schwammen wie untergegangene Segel mit Nadelstreifen.
Ich sah Otto das Axolotl durch das schwarze Wasser um mich herum, durch die Wasserwand vor
mir, von der anderen Seite sämtlicher Spiegel, durch das Glas der Bilder in meiner Wohnung,
durch den Computerbildschirm, die schwarze Scheibe des Fernsehers. Aber Otto sah mich nicht.
Nachts betastete die Schnecke, die in meiner Wohnung lebte, mit ihren Fühlern lange und
schüchtern mein Gesicht hinter der Fensterscheibe, kroch dann eilig zur Kuckucksuhr, klammerte
sich an den Minutenzeiger und zog sich in ihr Häuschen zurück. Der Zeiger arbeitete sich, durch
das Schneckengewicht belastet, schneckig langsam bis zur Zwölf vor, bekam bei eine Minute nach
zwölf Übergewicht und stürzte, den Sekundenzeiger überholend, bis zur Sechs ab.
Die Wahrheit liegt auf dem Teller, lautete der Wahlspruch des Restaurants Légère, und dass es
diesem Wahlspruch mehr als gerecht wurde, konnte man schon am accent aigu und am accent
grave im Namen erkennen, die das Légère als Vertreterin der ungemein gehobenen Küche
auswiesen. Noch nicht genug: Das Légère besaß neunzehn Komma fünf Kochmützen im
Gault-Millau, mehrere Kochlöffel im Michelin und einen Chef Cuisine, der erfolgreich an der
Weltausscheidung der Commis Rotisseurs teilgenommen hatte. Der Name des Küchenchefs war
Jérôme. Böse Zungen behaupteten, dass Jérôme bei der Bewerbung um die Stelle des Chef Cuisine
erstens unfairen Wettbewerb betrieben habe und zweitens nur aufgrund des ô, also wegen des in der
langen Liste der Verdienste des Légère noch fehlenden circonflexe eingestellt worden sei. Dass
Jérôme nicht Jérôme hieß sondern Franz-Jürgen, konnte allerdings bis heute nicht bewiesen
werden.
Wirklich illustre Gäste waren ins Légère hinein und glücklich wieder hinausgegangen, Arnold
Schwarzenegger zum Beispiel. Dieser hatte zwar Grammelschmalz, Verhackert, Saumaise,
Käferbohnensalat und Grenadiermarsch verschmäht und stattdessen einen Hamburger triple XL
geordert, aber sein Foto mit Autogramm prangte im Empfang an der Wand. Neben dem
Ex-Gouverneur stand ein lachender Jérôme und hatte in seiner Würde als Chef Cuisine eine der
neunzehn Komma fünf Kochmützen aufgesetzt.
Die härteste Konkurrentin des Légère war das Restaurant Bastille, im des Französischen nicht
mächtigen Volksmund gemeinerhand die Bazille genannt. Glücklicherweise konnte der Volksmund
es sich nicht leisten, in der Bastille zu speisen. Die erbitterte Konkurrenz zwischen den beiden
Speiserestaurants führte letztendlich jedoch dazu, dass Otto das Axolotl im Restaurant Légère
eingelassen wurde. Mit einem Kenner-Blick schätzte Gaspard ohne circonflexe, der Chef de rang,
die beiden Gäste ab– es handelte sich um Otto in Begleitung von Clarissa Nashorn- und kam dann
aufgrund seiner beruflich erworbenen Menschenkenntnis zu der Schlussfolgerung: „Dieser Herr ist
entweder eine illustre Persönlichkeit, denn er trägt eine Sonnenbrille, um nicht erkannt zu werden
(Udo Lindenberg? Heino?) -und tatsächlich, man kann ihn auch nicht erkennen-, oder er hat sehr
viel Geld, so viel Geld, dass ihm sein Aussehen völlig gleichgültig ist (Hosenbeine mit
Wäscheklammern bis zum Knie hochgespängelt).“ Einen Moment erwog Gaspard die Möglichkeit,
dass es sich bei dem Gast mit den Wäscheklammer-Hosen um einen Modeschöpfer handeln könnte,
der eine neue Hosenform kreiert hatte, die Wäscheklammer-Hose. Aber der Herr trug keinen Mops
auf dem Arm und schleppte auch kein solches Tier hinter sich her, das, die brillantenbesetzen Leine
straffend und seine vier manikürten Pfoten in den Carera-Marmor stemmend, die selbstbestimmte
Fortbewegung blockierte. Also kein avantgardistischer Modeschöpfer! Blieb noch die dritte und
gefährlichste Möglichkeit: „Es handelt sich todsicher um einen verdeckt ermittelnden
Restauranttester, den uns die linke Bazille von Bastille auf den Hals gehetzt hat. Damit sind die
Wäscheklammern und die Dame im eleganten schwarzen Spitzenminirock und hochhackigen
Schuhen als Tarnung entlarvt.“ So Gaspards Gedankengänge, während er die Herrschaften zu einem
freien Tisch führen wollte. Aber der Herr, der übrigens mindestens zwanzig Zentimeter kleiner als
die gut aussehende Dame war, bestand darauf, am Tisch neben dem Aquarium Platz zu nehmen,
sodass die eiserne Hochzeit, die den Aquariumtisch reserviert hatte, umdisponiert werden musste.
Das Aquarium war mit Hechten, Plattfischen und krabbenähnlichem Getier vollgestopft, damit sich
jeder Gast in noch frischem lebendigen Zustand (was die Aquariuminsassen betrifft) aussuchen
konnte, wer eine halbe Stunde später auf seinem Teller liegen sollte, gemäß dem Motto Die
Wahrheit liegt auf dem Teller. Der betreffende Delinquent wurde dann von einem Commis Cuisine
aus dem Aquarium geschöpft und in der Küche seiner zukünftigen letzten Bestimmung zugeführt.
Es gab im Aquarium auch ein paar melancholische und vermutlich ungenießbar gewordene
Veteranen, die nie jemand haben wollte. Neugierig drängten sie sich hinter der Otto dem Axolotl
zugewandten Aquariumscheibe. Hinter Gaspards Rücken, der den Herrschaften zu ihrem Tisch
vorauseilte, griff Otto ungeachtet seines Jackettärmels ins Aquarium, schnappte sich eine verirrte
Posthornschnecke, die als blinder Passagier mit einem Steinkrebs ins Aquarium eingewandert war.
Der Krebs war schon lange verspeist und nun würde auch die Posthornschnecke keine Gelegenheit
mehr haben, die Schneckenpopulation im Aquarium zu vergrößern, denn Otto ließ sie umgehend in
seinem Maul verschwinden.
Inzwischen gab es am Restauranteingang ein großes Gedränge. Ein junger Herr in blumigem
Hawaii-Hemd führte vier reizende junge Damen zu Tisch. Kool hatte neuerdings einen gedrehten
Schnurrbart, dessen Enden wie Tentakel herabhingen, und er hatte alle Hände voll zu tun, Yara,
Dan, Cely und Teha die Garderobe abzunehmen. Gehorsam blieben die Damen an ihrem Platz
stehen, bis sie mit dem Stuhlunterschieben an die Reihe kamen.
Vic war dankenswerterweise für Sauvignon, den schwer erkrankten Barmann, eingesprungen, der
mit einer Migräne zu Bett lag. Das heißt, von der Migräne wusste er bisher noch nichts. Indi und
Fishy hatten am Abend zuvor, nachdem sie zwei Stunden vor der Tür des Restaurants auf ihn
gewartet hatten, zufällig Sauvignons Bekanntschaft gemacht, und da leider das Fahrrad des
Barmanns plattgestochen war, beide Reifen, das stelle man sich mal vor, wer macht denn sowas?,
schleppten sie Sauvi in die nächste Kneipe. Irgendwann fuhr Vic alle drei mit seinem Taxi zu
Sauvignon nach Hause, und da Fishy das für Sauvignon bestimmte Schlafmittel ohne Umstände in
die Wodka-Flasche schüttete, die Vic unterwegs noch schnell an der Tankstelle geholt hatte und
Sauvignon umweltfeindliches Geschirrspülen nach Möglichkeit vermied, ließen sie die Flasche
kreisen. Zum jetzigen Zeitpunkt lag deshalb Sauvignon schnarchend auf dem Sofa, Fishy darunter
und Indi saß aufrecht, aber schlafend am Tisch und hielt sich mit der rechten Hand an der leeren
Wodkaflasche fest.
Der Commis Cuisine kam heraus und fischte mit dem bereitliegenden Netz einen
zwei-Pfund-Steinbeißer aus dem Aquarium. Er, genauer gesagt seine Vertretung, nämlich Schatzi,
trug ein schwarzes Minikleid mit weißem Schürzchen und hochhackige Steptanzschuhe. Schatzi,
die schon ihren Hammer aus der Schürzentasche gezogen hatte, um dem Steinbeißer damit den
Garaus zu machen, überlegte es sich anders. Sie setzte den zappelnden Fisch zurück ins Aquarium,
band die Schürze ab und ging. Im Vorbeigehn wischte sie an der Tafel am Eingang, auf die Jérôme
mit Kreide das Tagesmenü aufgeschrieben hatte – kaukasischer Steinbeißer an pfrischen
Pfifferlingen – den Steinbeißer weg. Die pfrischen Pfifferlinge ließ sie, wo sie waren.
Plötzlich wurde es laut im Restaurant. Gaspard stand schräg hinter Otto und hielt ihm höflich von
rechts die Speisekarte vor die Nase, die dieser verständnislos betrachtete (konnte Otto überhaupt
lesen?). „Schnecken!“, schnarrte Otto.
„Die Schnecken sind leider ausgegangen, mein Herr“, flüsterte Gaspard entsetzt. So ein Pech aber
auch! Ein französisches Restaurant ohne Schnecken, das würde das Légère mindestens eine
Kochmütze kosten! Vielleicht konnte er den Herrn zu bretonischem Hummer auf Gemüseacker
überreden…. Gaspard legte sein Gesicht in bedauernde Dackelfalten, blätterte geflissentlich die
Speisekarte um und redete halblaut auf Otto ein. Als letzten Versuch klappte er die Speisekarte zu
und wies mit dem Finger auf die goldgeprägten neunzehn Komma fünf Kochmützen und die
Kochlöffel, die auf dem Deckblatt der Speisekarte prangten.
„Schlafmützen und Rotzlöffel?“, quäkte Otto. Seine Aussprache war wirklich sehr feucht. „Nein!
Schnecken!“ Er trommelte mit den in den überlangen Jackenärmeln steckenden Fäusten auf den
Tisch und verlangte erneut: „Schnecken! Schnecken! Schnecken!“ Damit war die Diskussion
beendet.
Der Kellner verneigte sich, band Otto, der ihn aber nicht beachtete, weil er wieder Clarissa
anglubschte, die Serviette um und rannte in die Küche.
Auch der Herr mit den Tentakeln war bei der Zusammenstellung des Menüs angelangt. Als
vollendeter Gentleman hatte er die Speisekarten der Damen eingesammelt, um ihnen die
unangenehme Aufgabe der Speiseauswahl abzunehmen. Der Ober nahm eben die Bestellung
entgegen. „Ich bin doch kein Chinese“, rief Kool mit erhobener Stimme. „Und selbst wenn… Wir
nehmen jedenfalls sechsmal Kuh Hawaii.“
Unauffällig zählte der Kellner die Damen durch. Er war sich nicht sicher, ob in China die
Vielweiberei erlaubt war. Vielleicht in bestimmten Gegenden? Jedenfalls musste der Chinese
vermögend sein, wenn er sich so viele Damen leisten konnte, dann fiel bestimmt auch ein
erkleckliches Trinkgeld für ihn selbst ab. „Sechsmal? Wird eine weitere Dame erwartet?“
„Wie kommen Sie darauf?“, fragte Kool erstaunt. „Können Sie nicht rechnen? In Ihrem Beruf ist
das aber nicht so gut. … . Schreiben können Sie aber doch? Viermal Kuh Hawaii für die Damen,
zweimal für mich.“
„Ich esse keine Kuh Hawaii“, sagte Yara beleidigt. „Ich bin Vegetarierin, das weißt du doch,
Koolicheen.“
„Oh, nicht mehr dran gedacht, Yaricheen.“ Kool wandte sich wieder an den Kellner: „Dann nehme
ich also für mich und die drei Damen sechsmal Kuh Hawaii, und dieser Dame bringen Sie ein
Schnitzel. Zum Nachtisch Mousse au Chocolat. Eine sehr große Schüssel!“ Dann raunte er dem
Kellner hinter vorgehaltener Hand zu: „Und der entzückenden Lady am Aquariumtisch bringen Sie
einen Mai Tai. Von einem glühenden Verehrer.“ Er wandte sich seinen Damen zu.
Ich sah Exodeon, Claire. und Drach, wie sie sich an der Bar über Fußball ereiferten, Claire.
schlecht gelaunt und Drach cholerisch aufbrausend, während Exodeons
Beschwichtigungsversuche im Sande verliefen, weil er die Vorzüge von Bayern München
aufzählte, was die anderen nur noch mehr auf die Palme brachte, sodass sie ihrerseits
gemeinschaftlich über Exodeon herfielen, und Vic ihnen die dritte Runde Pils spendierte. Ich sah
Aquila und Nelson, wie sie völlig vertieft die Baupläne von Luftschiffen studierten, mit denen der
Tisch zugelagert war, nirgendwo mehr Platz für die Gläser, und Luftschlösser bauten. Gaspard
servierte endlich die Schnecken, die Kronos und Saphir, die manchmal für das Légère kleine
Aushilfsarbeiten erledigten, eilig auf dem heimischen Salat gesammelt hatten. Es waren auch ein
paar Nacktschnecken dazwischen, was Otto das Axolotl aber nicht im Geringsten störte: Mit oder
ohne Schneckenhäuschen - Otto nahm die Augen von Clarissa und machte sich sofort über die
Schnecken her, kaute mit offenem Mund und die Knoblauchsoße lief ihm an den Mundwinkeln und
am Hals hinab, bis sie irgendwo unter seiner Oberbekleidung verschwand. „In gewisser Weise ist
alles faszinierend, also so wirklich alles alles.“, sagte Yara.
Ich sah Clarissa, die schöne Clarissa, wie sie gelangweilt und angeekelt von Otto und den
Salatschnecken in Ravioli-Teig an üppiger Kräutercreme auf Tomatenkompott über
Weißbrot-Croûtons an ihrem Mai Tai nippte. Ich sah sie im Spiegel hinter der Bar, in der
Glasscheibe des Aquariums, hundertfach gebrochen in den Facettenaugen des Kronleuchters.
Erst beim zweiten Versuch gelang es Gaspard und dessen Kollegen, der ganz frisch aus Paris
importiert war und noch nicht auf Deutsch bis drei zählen konnte, die Warmhalteglocke über den
Schnecken synchron abzuheben. Da leerte Clarissa ihr Glas und zündete sich trotz Rauchverbots
eine Zigarette an. Als Clarissa die Zigarette auf einer Salatschnecke in Ravioli-Teig an üppiger
Kräutercreme auf Tomatenkompott über Weißbrot-Croûtons ausdrückte, band Vic seine
Barmann-Fliege ab, denn seine Feuerwehr-Kollegen kündigten sich aus der Ferne bereits mit
Tatütata an. Er hielt Clarissa die Tür auf. Sobald die Sprinkler-Anlage losging, war sie draußen.
Ich sah Jside zu Hause vor dem Computer, wie er die folgende Beschreibung las:
Ein Lastabwurf ist die letzte noch mögliche Vorkehrung, um dem drohenden totalen
Zusammenbruch eines Verbundnetzes oder von Teilen desselben zuvorzukommen und dient dazu,
verbleibende Netzsegmente zu stabilisieren.,
- um sich dann in den dazugehörigen Schaltplan zu vertiefen.
Das war mal wieder komplett schiefgegangen, die Aktion im Restaurant. Dass niemand auf die
naheliegende Idee kam, Otto das Axolotl zu fragen, ob es Terminator war. Oder sie fragten deshalb
nicht, weil sie es wussten. Jedenfalls würden sie mich jetzt so schnell nicht mehr finden in dieser
Höhle in der Eifel. Dan hatte zwar gesagt, dass sie irgendwann zurückkommen würde, um nach
mir zu sehen und mir neue Schnecken zu bringen. Aber was, wenn sie mich vergaß und ich warten
musste, bis mich ein Höhlenforscher fand und die wissenschaftliche Sensation, ein europäisches
Axolotl, der erstaunten Fachwelt präsentierte. Alle würden im Fernsehen sehen, wie Carl Gustav
von Schweden mir beziehungsweise meinem Entdecker den Friedensnobelpreis für Biologie
überreichte. Nachbar Erich würde einen uninteressierten Blick auf mich, das nach seinem
Entdecker, dem berühmten Tiefseetaucher und Höhlenforscher, so benannte Axolotl
Krause-Wollboldiana, werfen, während Erich dem ausgestopften Waldi über den Rücken
streichelte und darauf wartete, dass die Nachrichten endlich vorbei waren und der Musikantenstadl
losging. Wenigstens würde der Nachbar noch minimales Interesse aufbringen. Clarissa nicht.
Clarissa beachtete andere Leute nur dann, wenn sie höhere Stöckel als sie selbst trugen. Dan
jedoch würde mich auf den ersten Blick erkennen „Das ist ja mein Otto, das Axolotl, das ich damals
so herzlos in der Eifel-Höhle ausgesetzt und dann aus niedrigen Motiven allein gelassen habe.“
Sie würde es bitterlich bereuen, dass sie mich vergessen hatte, und noch bitterlicher, dass nicht
sie es gewesen war, die mich, diese weltberühmte, mit dem Nobelpreis geadelte Sensation
entdeckt hatte. Obwohl ich in Nelsons Flugzeug schon im Marmeladenglas gefangen saß, war ihr
nicht aufgefallen, dass es sich bei dem Axolotl nicht um Otto, sondern um mich handelte. Selbst
dran schuld! Sollte sie sich die Augen ausweinen und alle ihre primitiven Tiere, deretwegen sie
mich so sträflich vernachlässigt hatte, die gewöhnlichen Schlangen alle aus dem Haus werfen,
dieses Gesocks, das mich –na ja, eigentlich Otto- schon immer hatte fressen wollen. Dans Herz
aber bliebe für immer gebrochen. Ja genau! Und ich und Krause-Wollbold dagegen lebten von
dem Nobelpreisgeld in Saus und Braus, Villa in Kalifornien, metallic-grüner Mercedes SL AMG,
chicks for free. Ich hoffte nur inständig, dass Krause-Wollbold nicht etwa auf die blöde Idee kam
-um sicherzustellen, dass es sich bei mir um eine noch völlig unerforschte Art handelte-, mich zu
sezieren. Dann wäre ich nämlich gleich wieder ausgestorben, was schon in Hinblick auf den
Nobelpreis nicht wünschenswert war.
Ich überlegte. Wie alt wurden denn Axolotl eigentlich? Musste ich meine Terminator-Lebenszeit auf
die Axolotl-Zeit anrechnen? Das wäre nämlich ziemlich unfair, weil ich doch erst seit kurzem ein
Axolotl war und noch mein ganzes Leben vor mir hatte. Wie lange war ich schon hier in Aquilas
Höhle und wie lang dauerte es also noch, bis Krause-Wollbold mich fand? Das Problem war: ich
hatte keine Ahnung, wie ich die Zeit messen sollte, so ganz ohne Uhr. Ich hätte vielleicht durch den
Spiegel in meiner Wohnung nachsehen können, wie spät es war, doch auf die Kuckucksuhr konnte
man sich nicht mehr verlassen. Sie wurde durch die Schnecke auf dem Minutenzeiger verfälscht.
Das Problem ließ sich jedoch lösen, alle Probleme ließen sich lösen, und zwar mathematisch. Man
musste es nur in einer passenden Formel darstellen.
E=mc²? Geniale Idee! Mir fiel eben keine andere Formel ein, aber E=mc² ging immer. Also, wie war
das? Bei der Schnecke auf der Kuckucksuhr handelte es sich um Schrödingers Katze, also ein
großes makroskopisches System, in dem Überlagerungszustände vorlagen, wodurch niemand
wissen kann, was und wer er ist, auch du selbst nicht. Auf die Katze bezogen hieß das: Es war
nicht klar, ob sie tot oder lebendig war, sie war nämlich beides gleichzeitig, und in Bezug auf die
Schnecke: niemand wusste, wie viel Uhr es wirklich war. Sofern man die Versuchsanordnung nicht
änderte und die Schnecke von der Uhr herunternahm, hatte man es also in jedem Fall mit einem
geschlossenen System zu tun: die Katze in der Kiste, die Schnecke auf der Uhr, das Axolotl in der
Eifelhöhle, Clarissa in Fishys Aqarium. Geschlossener ging’s ja wohl nicht, und damit galt der
Energieerhaltungssatz.
Wenn man die Versuchsanordnung in ein praktisches Beispiel aus dem Alltag transzendierte,
erhielt man folgende Textaufgabe: Die Uhr ist ein Sportplatz, die Zeiger sind die Läufer, eine halbe
Stunde entspricht 200 m. Wenn der eine Läufer in der ersten Runde von einer Sportskanone
überholt wird, wenn dem Angeber aber kurz darauf die Luft ausgeht und er wegen Seitenstechen
stehen bleibt, wie viele Runden legt dann der erste im Vergleich zum zweiten Läufer zurück?
So viel zur Versuchsanordnung.
Nun kam die Formel an die Reihe. Der solchermaßen mit der Schnecke beschwerte Zeiger legte
die Strecke von der Zwölf zur Sechs mit der Geschwindigkeit E=mxc² zurück. Wobei m für die
Schneckenmasse und xc² für die Schneckengeschwindigkeit stand. Damit war aber erst ein halber
Zifferblattumlauf von der Zwölf zur Sechs erfasst, die erste halbe Stunde. Den Weg von der Sechs
zur Zwölf nämlich erklomm der Zeiger in umgekehrter Geschwindigkeit -x, die in eineindeutiger
Abhängigkeit zur Schneckenmasse stand. Logisch: bergauf ging’s langsamer. Eineindeutig hieß in
der Mathematik eindeutig in zweifachem Sinn: egal, ob ich –xm rechnete oder m-x, es kam immer
dasselbe Ergebnis raus - vorausgesetzt, die Schnecke hatte annähernd immer dasselbe Gewicht.
Und das war dann genau das Problem. Was, wenn sie sich auf halber Strecke an einem Salat
überfraß? Das war zwar unwahrscheinlich, aber im Rahmen des Möglichen. Wenn die
Schneckenmasse sich änderte, war die erste halbe Stunde schneller vorbei als die halbe Stunde
den Berg rauf. Es musste also unbedingt verhindert werden, dass der Salat das geschlossene
System durchbrach! Deshalb bezog ich ihn einfach in die Formel mit ein, denn dann konnte man
ihn auflösen und rausrechnen. Unter Einbeziehung des Salatwerts y (immer in µ anzugegeben, da
Salat bekanntlich fast nur aus Wasser besteht und kaum Kalorien hat und außerdem wird man von
Salat nie richtig satt) erhielt ich die Gleichung
E-xm= mxc²+y
Was mir an dieser Gleichung noch nicht so gefiel, war c². Man durfte niemals voraussetzen, dass
eine Schnecke sich mit irgendeiner, egal welcher!, Geschwindigkeit im Quadrat bewegte. Es
widersprach den Naturgesetzen und jeder physikalisch-empirischen Erfahrung. Außerdem musste
ich die Gleichung noch umstellen, denn ich wollte ja nicht E rauskriegen, sondern die
Geschwindigkeit des Schneckenzeigers. Aber das war mit einer kleinen mathematischen
Operation im Handumdrehen erledigt: Das Geniale an Gleichungen war doch, dass die Gleichung
immer gleich blieb, egal, auf welche Seite vom Gleichheitszeichen man den Salat stellte. Quid erat
demonstrandum.
Zum Schluss blieb nur noch die Formel auszurechnen. Die leichteste Übung! Jedes Schulkind in
der siebten Klasse konnte das … Also, bestimmt konnte das jemand, oder der Lehrer, und dann
war es ganz einfach.
„Äh Flatschniggel, dähdschde mol uffpasse, allgebott laafe dir die Schnegge weg..
(Hallo Trampeltier, pass auf, ständig laufen dir die Schnecken weg)“,
sagte eine Stimme dicht neben mir. Ich schreckte aus meinen mathematischen Axiomen hoch und
riss die Augen auf, aber es war stockdunkel in der Höhle, man konnte gar nichts erkennen. Ich
lauschte. In der Höhle klimperte die Tropfenuhr, sonst nichts. War wohl Einbildung. Ich schloss die
Augen und ließ mich wieder treiben.
„Ach so, jedsd graadselääds? Du muschd da net enbille du wärschd unsischdbar, wenn de dei Aue
zumachschd. So ähnfach gehd das net.
(Ach so, jetzt grade? Du musst dir nicht einbilden, du wärst unsichtbar, wenn du die Augen zumachst. So
einfach geht das nicht.)“,
flötete mir dieselbe Stimme, nun von der anderen Seite, ins Ohr. Was war das denn?
„Du kannst die Schnecken haben, wenn du willst, nimm sie nur.“, sagte ich großzügig. Er sollte den
Mund halten. Da war so etwas wie das Echo der Stille, und ich hatte keine Lust zu reden.
„Dir is wohl alles ähn duhn, sonschd bischde doch net so schantee. Bischde lädisch?. Nä, isch mahn
dei Schnegge net. Domit kannschde misch jahn. Isch däd am liebschde mol wedder ä groß Pann
Kerschdscha un ä Ringel Lyoner esse, awwa ä Schmerworschdschmer däds ah duhn, odda s Kneisje
vom Flitt. Orwese werre net gemacht.
(Dir ist wohl alles egal, sonst bist du doch nicht so zimperlich. Bist du depressiv? Nein, ich will deine
Schnecken nicht. Damit kannst du mich jagen. Ich würde am liebsten mal wieder eine große Pfanne
Bratkartoffel mit Fleischwurst essen, aber ein Streichwurstbrot wäre auch recht oder das Endstück vom
Baguette. Reste werden keine gemacht.)“
Ich riss die Augen wieder auf. Das war ja entsetzlich, Hoffentlich hielt der bald den Mund.
„Bischd du so strack. Wenn de die Flemm haschd, dann gugg, dass de fordkommschd. Ich mahn
dich jo net driwweliere, awwa du muschd disch schon ä bissje dummele.
(Bist du so faul. Wenn du keine Lust hast, dann sieh zu, dass du hier wegkommst. Ich will dich ja nicht
drängen, aber du musst dich ein wenig beeilen.)“
„Wo soll ich denn hin?“
„Mennje mug, du gehschd ma uff de Jubbe mit deinem wo soll ich denn hin? Ei serigg nadierlisch,
bevor der ohschärische Otto doh noch meh Owerasch machd. Äm Aqui sei Ziehwähnsche steggt
schonn mit da Verrerrerrer dief im Puddel, wähschde. Awwa ens muss ma dem losse: das Clarissa
doh, dem Fisch seins, das is ä Drudschelsche! Schehne Bähn hat das Mahde un imma so schnatz mit
seine Schuch! Do falld mir nix mäh in. Du duschd das scheinbar gar net rischdisch eschdamiere.
(Mensch, du gehst mir auf den Senkel mit deinem… Natürlich zurück, bevor der mickrige Otto noch mehr
Unheil anrichtet. Aquis Bollerwagen steckt schon mit den Vorderrädern tief in der Jauche, weißt du. Aber
eins muss man ihnen lassen: Clarissa, Fishys Liebste, sie ist ein schönes Mädchen! Schöne Beine hat sie
und immer so schicke Schuhe! Alle Achtung! Du weißt das anscheinend gar nicht richtig zu schätzen.)“
„Warum gehst du nicht und lässt mich in Ruhe?“
„Hädschde wohl gehr? Mach, dass de furtkommschd un loss dich nimmi do bligge! Muss isch disch
erschd anstubbse? Jedsd awwa dabba, du alta Guzzekopp!
(Das hättest du wohl gern? Hopp, geh, und komm nur ja nicht zurück. Oder muss ich dich
erst anschieben? Jetzt aber los, du alte Kaulquappe.) “
Gehorsam setzte ich mich in der Dunkelheit in Bewegung, denn das hier konnte ich mir nicht
länger anhören. Unerträglich!