Leseprobe - bei der VAK Verlags GmbH
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31129 Superfaktor TB US lay_Layout 1 14.01.13 13:52 Seite 1 Wie herausragend sich Bewegung auf unsere Lernfähigkeit auswirkt, dafür gibt es beeindruckende Erfahrungen aus breit angelegten Studien: Schüler, die täglich an einer Extrastunde Sport teilnahmen, waren nicht nur emotional ausgeglichener und sozial besser integriert, sie erzielten in landesweiten Vergleichstests auch die besten Leistungen ihrer Altersgruppe! Eines lässt sich mit Gewissheit sagen: Bewegung ist in jedem Alter der wichtigste Faktor, um das Gehirn fit und leistungsfähig zu halten. Der bekannte Psychiater zeigt hier, wie und warum Bewegung die Entwicklung von Intelligenz fördert und gleichzeitig dabei hilft, Krankheiten zu vermeiden. Bewegung reduziert Ängste und Stress, fördert Konzentration und Gedächtnis und bewirkt auch bei Alzheimer, AD(H)S und Depressionen wahre Wunder. Ein Kapitel beleuchtet außerdem den weiblichen Hormonstoffwechsel und zeigt den besonderen Einfluss von Sport auf die Gesundheit von Frauen. Extra: Mit leicht umsetzbaren und praktischen Infos über geeignete Sportarten, Trainingsdauer und Intensität. www.vakverlag.de ISBN 978-3-86731-129-8 12,95 € (D) / 13,40 € (A) SUPERFAKTOR BEWEGUNG Und jeder weiß: Wenn wir uns bewegen, fühlen wir uns viel besser. Aber warum ist das so und warum fällt es uns so schwer, regelmäßig Sport zu treiben? Dr. Rateys provokante Antwort lautet: Muskelaufbau und Kondition sind eigentlich nur „Nebenwirkungen“ von Sport. Viel erstaunlicher ist, dass ein Mangel an Bewegung unserem Gehirn sogar schadet, denn es schrumpft dadurch! DR. JOHN J. RATEY ERIC HAGERMAN DR. JOHN J. RATEY ERIC HAGERMAN Wir brauchen Bewegung wie die Luft zum Atmen, unser Körper ist biologisch darauf programmiert: Unsere Vorfahren mussten gut zu Fuß zu sein, um sich vor Feinden in Sicherheit zu bringen und bei der Jagd erfolgreich zu sein. Heute – mit dem Supermarkt um die Ecke und dem Auto in der Garage – brauchen wir Bewegung zwar nicht mehr zum Überleben, aber doch in besonderem Maße, um gesund und leistungsfähig zu bleiben. Gelingt es uns nicht, mit unserem evolutionären Erbe in Einklang zu leben, werden wir krank. SUPERFAKTOR BEWEGUNG DAS BESTE FÜR IHR GEHIRN! 31129 Superfaktor TB US lay_Layout 1 14.01.13 13:52 Seite 1 Wie herausragend sich Bewegung auf unsere Lernfähigkeit auswirkt, dafür gibt es beeindruckende Erfahrungen aus breit angelegten Studien: Schüler, die täglich an einer Extrastunde Sport teilnahmen, waren nicht nur emotional ausgeglichener und sozial besser integriert, sie erzielten in landesweiten Vergleichstests auch die besten Leistungen ihrer Altersgruppe! Eines lässt sich mit Gewissheit sagen: Bewegung ist in jedem Alter der wichtigste Faktor, um das Gehirn fit und leistungsfähig zu halten. Der bekannte Psychiater zeigt hier, wie und warum Bewegung die Entwicklung von Intelligenz fördert und gleichzeitig dabei hilft, Krankheiten zu vermeiden. Bewegung reduziert Ängste und Stress, fördert Konzentration und Gedächtnis und bewirkt auch bei Alzheimer, AD(H)S und Depressionen wahre Wunder. Ein Kapitel beleuchtet außerdem den weiblichen Hormonstoffwechsel und zeigt den besonderen Einfluss von Sport auf die Gesundheit von Frauen. Extra: Mit leicht umsetzbaren und praktischen Infos über geeignete Sportarten, Trainingsdauer und Intensität. www.vakverlag.de ISBN 978-3-86731-129-8 12,95 € (D) / 13,40 € (A) SUPERFAKTOR BEWEGUNG Und jeder weiß: Wenn wir uns bewegen, fühlen wir uns viel besser. Aber warum ist das so und warum fällt es uns so schwer, regelmäßig Sport zu treiben? Dr. Rateys provokante Antwort lautet: Muskelaufbau und Kondition sind eigentlich nur „Nebenwirkungen“ von Sport. Viel erstaunlicher ist, dass ein Mangel an Bewegung unserem Gehirn sogar schadet, denn es schrumpft dadurch! DR. JOHN J. RATEY ERIC HAGERMAN DR. JOHN J. RATEY ERIC HAGERMAN Wir brauchen Bewegung wie die Luft zum Atmen, unser Körper ist biologisch darauf programmiert: Unsere Vorfahren mussten gut zu Fuß zu sein, um sich vor Feinden in Sicherheit zu bringen und bei der Jagd erfolgreich zu sein. Heute – mit dem Supermarkt um die Ecke und dem Auto in der Garage – brauchen wir Bewegung zwar nicht mehr zum Überleben, aber doch in besonderem Maße, um gesund und leistungsfähig zu bleiben. Gelingt es uns nicht, mit unserem evolutionären Erbe in Einklang zu leben, werden wir krank. SUPERFAKTOR BEWEGUNG DAS BESTE FÜR IHR GEHIRN! John J. Ratey Eric Hagerman Superfaktor Bewegung Dr. John J. Ratey Eric Hagerman Superfaktor Bewegung Das Beste für Ihr Gehirn! VAK Verlags GmbH Kirchzarten bei Freiburg Titel der englischen Originalausgabe: SPARK, The Revolutionary New Science of Exercise and The Brain SPARK © 2008 by John J. Ratey, MD Erschienen bei: Little, Brown and Company, Hachette Book Group USA, New York ISBN 978-0-316-11350-2 Published in Agreement with the author, c/o BAROR INTERNATIONAL, INC., Armonk, New York, U.S.A. Vorbemerkung des Verlags Dieses Buch dient der Information über Methoden der Gesundheitsvorsorge und Selbsthilfe. Wer sie anwendet, tut dies in eigener Verantwortung. Autor und Verlag beabsichtigen nicht, Diagnosen zu stellen oder Therapieempfehlungen zu geben. Die hier beschriebenen Verfahren sind nicht als Ersatz für professionelle medizinische Behandlung bei gesundheitlichen Beschwerden zu verstehen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. VAK Verlags GmbH Eschbachstraße 5 79199 Kirchzarten Deutschland www.vakverlag.de 1. Auflage 2013 Bisher erschienen als Paperback unter der ISBN 978-3-86731-043-7 © VAK Verlags GmbH, Kirchzarten bei Freiburg 2009 Umschlaggestaltung: Kathrin Steigerwald, Hamburg Übersetzung: Anni Pott, Aachen Lektorat: Nadine Britsch, VAK Layout: Karl-Heinz Mundinger, VAK Satz: Sebastian Carl, 83123 Amerang Druck und Bindung: C. H. Beck, Nördlingen Printed in Germany ISBN: 978-3-86731-129-8 Für Kenneth Cooper, Carl Cotman und Phil Lawler, drei Revolutionäre, ohne die dieses Buch nicht hätte geschrieben werden können. „Für diese beiden also … für das Muthafte und für die Weisheitsliebe, hat offenbar ein Gott den Menschen zwei Künste verliehen, die Musenkunst und die Gymnastik. Nicht für Seele und Leib, oder dann das nur nebenbei, sondern für jene beiden, damit sie, durch Anspannen und Lockerlassen bis zum richtigen Maße aufeinander abgestimmt werden.“ Platon, Der Staat Inhaltsverzeichnis inleitung: E Die Verbindung herstellen....................................................................9 1. Willkommen zur Revolution: Eine Fallstudie über körperliche Bewegung und das Gehirn....... 17 2. Lernen: Das Wachstum Ihrer Gehirnzellen fördern.................................49 3. Stress: Die größte Herausforderung......................................................... 75 4. A ngst: Kein Grund in Panik zu geraten................................................ 109 5. Depressionen: Bewegung verändert Ihre Stimmung......................................... 141 6. Aufmerksamkeitsdefizit: Der Ablenkung davonlaufen...................................................... 175 7. Abhängigkeit: Die Biologie der Selbstkontrolle mobilisieren............................205 8. Hormonelle Veränderungen: Der Einfluss auf die Gesundheit des weiblichen Gehirns.......... 233 9. A ltern: Der weise Weg............................................................................ 263 10. Das Übungsprogramm: Bauen Sie Ihr Gehirn auf........................................................... 297 Nachwort: Das Feuer entfachen......................................................................... 325 Danksagungen................................................................................. 327 Glossar.............................................................................................. 331 Stichwortverzeichnis....................................................................... 339 Über den Autor................................................................................349 Einleitung Die Verbindung herstellen W ir wissen alle, dass körperliche Bewegung dafür sorgt, dass wir uns besser fühlen. Die meisten von uns haben jedoch keine Ahnung, warum dies so ist. Wir nehmen an, dass es so ist, weil wir damit Stress abbauen oder die Muskelspannung reduzieren oder die Ausschüttung von Endorphinen fördern. Mit dieser Erklärung geben wir uns dann zufrieden und versuchen gar nicht erst, der Sache weiter auf den Grund zu gehen. Aber der eigentliche Grund, warum wir uns so gut fühlen, wenn wir unser Herz-Kreislauf-System in Schwung bringen, ist, dass das Gehirn dann am besten funktioniert. Dieser nutzbringende Effekt körperlicher Bewegung ist aus meiner Sicht weitaus wichtiger – und faszinierender – als all das, was sie für den Körper tut. Dass dabei Muskeln aufgebaut und etwas für die Konditionierung des Herzens und der Lungen getan wird, sind im Grunde Nebenwirkungen. Meinen Patienten erkläre ich oft, der eigentliche Punkt bei körperlicher Bewegung sei, dass wir damit etwas für den Aufbau und die Kondition des Gehirns tun. In der heutigen technologiegetriebenen, von Plasmabildschirmen beherrschten Welt wird leicht vergessen, dass wir dazu geboren sind, uns zu bewegen – Lebewesen, im wahrsten Sinne des Wortes –, da wir bei allem technischem Fortschritt die Bewegung regelrecht aus unserem Leben verbannt haben. Ironischerweise ist die menschliche 9 Einleitung Fähigkeit, ebendiese Welt zu träumen, zu planen und zu schaffen, die uns von der biologisch bedingten Notwendigkeit, uns zu bewegen, abschirmt, in jenen Hirnregionen verwurzelt, welche die Bewegung steuern. So wie wir uns seit über einer halben Million Jahren einer sich ständig verändernden Umwelt angepasst haben, hat unser denkendes Gehirn sich im Zuge der Evolution aus der Notwendigkeit heraus weiterentwickelt, motorische Fertigkeiten zu verbessern. Unsere Vorfahren, die Jäger und Sammler waren, stellen wir uns als wenig feinsinnig, sondern vornehmlich als Personen vor, die sich vor allem von ihren physischen Fähigkeiten leiten ließen. Damit sie überleben konnten, waren sie auf lange Sicht jedoch auch auf ihre Intelligenz angewiesen, um Nahrung zu finden und zu horten. Die Beziehung zwischen Nahrung, körperlicher Bewegung und Lernen ist in den Schaltkreisen im Gehirn fest verdrahtet. Wir jagen und sammeln jedoch nicht mehr. Und das ist das Pro blem. Die bewegungsarme Lebensweise unseres modernen Lebens bricht mit unserer Natur und stellt eine der größten Gefahren für unser langfristiges Überleben dar. Belege dafür sind überall zu finden: 65 Prozent der US-amerikanischen erwachsenen Bevölkerung sind übergew ichtig oder fettleibig, und 10 Prozent haben Typ-2Diabetes, eine vermeidbare und zerstörerische Krankheit, die auf Bewegungsarmut und falsche Ernährung zurückzuführen ist. Während von dieser Krankheit einst fast ausschließlich Erwachsene mittleren Alters betroffen waren, nimmt sie inzwischen bereits epidemische Ausmaße bei Kindern an. Wir bringen uns im wahrsten Sinne des Wortes selbst um. Und dies ist ein Problem in der ganzen entwickelten Welt – und nicht nur ein Merkmal des überdimen sionierten Lebensstils in den Vereinigten Staaten. Noch beunruhigender ist, und dies ist ein Punkt, der buchstäblich von niemandem erkannt wird, dass diese Bewegungsarmut auch unser Gehirn umbringt – da sie das Gehirn physisch schrumpfen lässt. Unsere Kultur behandelt Geist und Körper wie zwei Dinge, die getrennt voneinander existieren. Und ich möchte beide wieder miteinan der verbinden. Diese „Body-Mind-Verbindung“ fasziniert mich seit Jahren. Meine allererste Vorlesung, die ich 1984 vor Medizinerkollegen an der Universität von Harvard hielt, hatte den Titel: „Der Körper und die Psychiatrie“. Sie konzentrierte sich auf eine neue medikamentöse 10 Die Verbindung herstellen Behandlung gegen Aggression, die sowohl Einfluss auf den Körper als auch auf das Gehirn nahm, auf die ich als Assistenzarzt bei meiner Arbeit an staatlichen Kliniken in Massachusetts gestoßen war. Die Erfahrungen, die ich bei meiner Arbeit mit den kompliziertesten Patienten in der Psychiatrie machte, veranlassten mich, der Frage nachzugehen, inwieweit eine Behandlung des Körpers auch den Geist transformieren kann. Es war ein spannender Weg, und auch wenn er noch nicht zu Ende ist, so ist es doch an der Zeit, die Botschaft meiner Erkenntnisse, die ich bisher gewonnen habe, öffentlich zu machen. Alleine das, was Neurowissenschaftlicher in den letzten fünf Jahren entdeckt haben, ergibt bereits ein fesselndes Bild von der biologischen Beziehung zwischen Körper, Gehirn und Geist. Um unser Gehirn auf einem Spitzenleistungsniveau zu halten, muss unser Körper hart arbeiten. In diesem Buch werde ich aufzeigen, wieso und warum körperliche Bewegung entscheidend dafür ist, wie wir denken und wie wir uns fühlen. Ich erkläre die Wissenschaft, wie körperliche Bewegung die Bausteine des Lernens im Gehirn anregt, wie sie unsere Stimmung, Ängste und Konzentrationsfähigkeit beein flusst, wie sie uns vor Stress schützt und einige Folgen des Alterns im Gehirn umzukehren vermag, und wie sie bei Frauen helfen kann, die mitunter turbulenten Auswirkungen hormoneller Veränderungen zu kontrollieren. Ich spreche nicht von dem verschwommenen Begriff des „Runner’s High“ (ein euphorischer Gemütszustand, der z.B. bei Langstreckenläufern auftritt). Ich spreche überhaupt nicht von einem Begriff oder einer Vorstellung. Ich spreche nur von greifbaren physischen Veränderungen, die bei Laborratten messbar und beim Menschen klar zu erkennen sind. Es ist bereits bekannt, dass körperliche Bewegung oder Sport den Serotonin-, Noradrenalin- und Dopaminspiegel erhöht – wichtige Neurotransmitter, die bei unseren Gedanken und Emotionen eine Rolle spielen. Von Serotonin haben Sie wahrscheinlich schon gehört und wissen vielleicht auch, dass ein Mangel an Serotonin mit De pressionen assoziiert wird. Aber mehr wissen auch viele Psychiater nicht darüber, denen ich begegne. Sie wissen nicht, dass toxische Stresspegel die Verbindungen zwischen Milliarden von Nervenzellen im Gehirn erodieren, oder dass bestimmte Hirnregionen durch eine chronische Depression schrumpfen. 11 Einleitung Und sie wissen umgekehrt nicht, dass durch körperliche Bewegung oder sportliche Betätigung eine Kaskade von Neurochemikalien und Wachstumsfaktoren freigesetzt werden, die diesen Prozess um kehren und die Infrastruktur des Gehirns physisch stärken können. Das Gehirn reagiert im Grunde genau wie Muskeln: Sie wachsen durch Beanspruchung und schwinden durch Bewegungsarmut. Die Neuronen im Gehirn sind durch „Blätter“ an baumähnlichen Verästelungen miteinander verbunden, und körperliche Bewegung sorgt dafür, dass diese Verästelungen wachsen und gedeihen und neue Knospen treiben. Dadurch wird die Gehirnfunktion grundlegend verbessert. Neurowissenschaftler haben gerade erst begonnen, die nachhaltigen Auswirkungen körperlicher Bewegung in den Gehirnzellen zu untersuchen – auf der Ebene der Gene selbst. Selbst dort, an der Wurzel unserer Biologie, haben sie Anzeichen für den Einfluss des Körpers auf den Geist gefunden. Wenn wir unsere Muskeln bewegen, werden Proteine produziert, die in die Blutbahn und ins Gehirn gelangen, wo sie eine zentrale Rolle in den Mechanismen unserer höchsten Denkprozesse spielen. Sie haben Namen wie „insulinähnlicher Wachstumsfaktor“ (IGF-1) und „vaskulärer endothelialer Wachstumsfaktor“ (VEGF) und gewähren einen beispiellosen Einblick in die Verbindung zwischen Körper und Geist. Erst in den letzten Jahren haben Neurowissenschaftler angefangen, diese Faktoren zu beschreiben und zu erklären, wie sie funk tionieren. Jede neue Entdeckung vertieft das Bild auf beeindruckende Weise. Es gibt noch vieles, was wir nicht verstehen von dem, was in der Mikroumwelt des Gehirns geschieht. Aber ich denke, dass das, was wir wissen, das Leben von Menschen verändern kann. Und vielleicht sogar die Gesellschaft insgesamt. Warum sollte es Sie interessieren, wie Ihr Gehirn funktioniert? Nun, weil alles davon abhängt. Denn jetzt, in diesem Augenblick, werden in der vorderen Region Ihres Gehirn Signale dazu abgefeuert, was Sie hier gerade lesen. Und wie viel davon bei Ihnen hängen bleibt, hat sehr viel damit zu tun, ob es ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen den Neurochemikalien und den Wachstumsfaktoren gibt, um die Neuronen miteinander zu verbinden. Körperliche Bewegung 12 Die Verbindung herstellen hat nachweislich einen ungeheuren Einfluss auf diese lebenswichtigen Komponenten. Sie bereitet die Bühne, und wenn Sie sich hinsetzen, um etwas Neues zu lernen, werden die entsprechenden Verbin dungen durch diese Stimulation gestärkt. Mit zunehmender Praxis entwickelt sich der Schaltkreis immer präziser heraus, etwa so, als würde durch den Wald ein Pfad festgetreten. Wie wichtig es ist, diese Verbindungen herzustellen, zeigt sich bei allen Problemen, die ich in diesem Buch behandeln werde. Um beispielsweise Ängstlichkeit zu bewältigen, müssen Sie bestimmte, gut ausgetretene Pfade zuwachsen lassen und gleichzeitig alternative Wege bahnen. Wenn Sie diese Interaktionen zwischen Körper und Gehirn verstehen, können Sie den Prozess steuern, mit Problemen besser umgehen und dafür sorgen, dass Ihr Geist und Ihre Psyche problemlos über die Runden kommen. Wenn Sie heute Morgen eine halbe Stunde Sport gemacht haben, sind Ihr Gehirn und Gemüt in der richtigen Verfassung, um still zu sitzen und sich auf diesen Abschnitt konzentrieren zu können, und Ihr Gehirn ist weitaus besser gerüstet, um den Inhalt aufzunehmen und zu behalten. Alles, was ich in den letzten 15 Jahren geschrieben habe, zielte darauf ab, Menschen über ihr Gehirn aufzuklären. Ihr Leben verändert sich, wenn Sie über aktives Wissen über Ihr Gehirn verfügen. Wenn Sie erkennen, dass bestimmte emotionale Dinge eine biologische Grundlage haben, erübrigt sich die Schuldfrage ganz von selbst. Und wenn Sie sehen, wie Sie diese Biologie beeinflussen können, werden Sie sich nicht hilflos fühlen. Dies ist ein Punkt, auf den ich mit meinen Patienten immer wieder zurückkomme. Denn viele neigen dazu, sich das Gehirn als einen Kommandeur vorzustellen, der aus einem Elfenbeinturm heraus, unangreifbar von außen, mysteriöse Befehle erteilt. Dem ist jedoch überhaupt nicht so. Körperliche Bewegung reißt diese vermeintliche Barriere nieder. Meine Hoffnung ist, wenn Sie erst verstehen, wie körperliche Bewegung die Gehirnfunktion verbessert, dass Sie dann motiviert sind, sie in einem positiven Sinne aktiv in Ihr Leben zu integrieren, statt sie als etwas zu sehen, das Sie tun sollten. Natürlich sollten Sie sich körperlich bewegen oder Sport treiben, aber ich möchte hier nicht predigen. (Es würde wahrscheinlich nichts nützen: Experimente mit Laborratten legen den Schluss 13 Einleitung nahe, dass erzwungene körperliche Bewegung nicht annähernd das erreicht, was sie auf freiwilliger Basis erreicht.) Wenn Sie an den Punkt kommen, an dem Sie sich immer wieder sagen, dass körperliche Bewegung oder Sport etwas ist, was Sie tun möchten, dann schlagen Sie einen Kurs in eine andere Zukunft ein – eine Zukunft, in der viel weniger das Überleben eine Rolle spielt, sondern die einfache Tatsache, dass es Ihnen richtig gut geht. Im Oktober 2000 schafften es Forscher der Duke University mit einer Studie in die New York Times, die belegte, dass körperliche Be wegung bei der Behandlung von Depressionen besser ist als Sertralin (Zoloft). Was für eine Nachricht! Leider wurde sie auf Seite 14 im Ge sundheits- und Fitnessteil versteckt. Würde körperliche Bewegung in Pillenform angeboten, wäre ihr die dicke Schlagzeile auf der Titelseite sicher, um als das Wundermittel des Jahrhunderts schlechthin gepriesen zu werden. Andere Fragmente der Geschichte, die ich hier vorstellen möchte, steigen wie Luftblasen kurz an die Oberfläche, nur um dann wieder in der Versenkung zu verschwinden. So wurde etwa in den ABC World News berichtet, dass körperliche Bewegung bei Ratten möglicherweise die Alzheimer-Krankheit abwehren kann; CNN veröffentlicht immer wieder Statistiken über die stetig zunehmende Fettleibigkeit; die New York Times untersucht die gängige Praxis, Kinder, die an bipolarer Störung leiden, mit teuren Medikamenten zu behandeln, die nur marginal wirksam, zugleich aber mit verheerenden Nebenwirkungen verbunden sind. Was dabei verloren geht, ist, dass diese scheinbar nicht zusammenhängenden Themenfäden auf einer grundlegenden Ebene der Biologie miteinander verbunden sind. Ich werde erklären, wie sie miteinander zusammenhängen, indem ich die Ergebnisse umfangreicher neuer Forschungen darlege, die noch nirgends für die breite Öffentlichkeit publiziert worden sind. Mein Ziel ist, in einfachen Worten, die Ergebnisse einer inspirierenden Wissenschaft zu erklären, die körperliche Bewegung und das Gehirn miteinander verbindet, und aufzuzeigen, wie diese Verbindung im realen Leben der Menschen zum Tragen kommt. Ich möchte die Idee untermauern, dass körperliche Bewegung einen tief greifenden Einfluss auf kognitive Fähigkeiten und die mentale 14 Die Verbindung herstellen Gesundheit hat. Sie ist einfach eine der besten Behandlungen, die wir für die meisten psychiatrischen Probleme haben. Ich habe dies sowohl bei meinen Patienten als auch bei meinen Freunden erlebt, von denen mir einige die Erlaubnis gaben, ihre Ge schichten hier zu erzählen. Aber auf die mustergültige Fallstudie schlechthin bin ich weit außerhalb der Wände meiner Praxis, in einem Schulbezirk eines Vorortes von Chicago gestoßen. In dieser Ge schichte von einem revolutionären Programm im Rahmen des Sport unterrichts verschmelzen die Implikationen der spannendsten neuesten Forschungen. In Naperville, Illinois, hat der Sportunterricht rund 19.000 Schüler und Studenten in die vielleicht Fittesten der Nation verwandelt. Von allen Studenten eines Semesters im zweiten Studien jahr waren nur drei Prozent übergewichtig, während es im nationalen Durchschnitt in den USA 30 Prozent waren. Noch überraschen der und erstaunlicher ist, dass das Programm diese Schüler und Studenten auch zu den Klügsten der Nation gemacht hat. 1999 beteiligten sich Schüler der achten Klasse aus Naperville an einer internationalen Schulleistungsuntersuchung, dem sogenannten TIMSSTest (Trends in International Mathematics and Science Study), an dem rund 230.000 Schüler aus der ganzen Welt teilnahmen, und im Rahmen dessen das Wissen in Mathematik und Naturwissenschaft bewertet wurde. In den letzten Jahren haben die Schüler aus China, Japan und Singapur die US-amerikanischen Kinder in diesen wichtigen Fächern weit hinter sich gelassen; eine auffällige Ausnahme sind jedoch die Schüler aus Naperville: Als sie am TIMSS teilnahmen, belegten sie den sechsten Platz in Mathematik und waren die Weltbesten in Naturwissenschaften. Während Politiker und Experten Alarm schlagen und den mangelhaften Bildungsstand in den Vereinigten Staaten und die Tatsache beklagen, dass unsere Schüler schlecht gerüstet seien, um in der heutigen technologieorientierten Wirtschaft erfolgreich zu sein, fällt Naperville als außergewöhnlich gutes Beispiel aus dem Rahmen. Ich habe seit Jahrzehnten nichts gesehen, was so ermutigend und inspirierend war, wie das Programm in Naperville. In einer Zeit, in der wir mit traurigen Nachrichten über übergewichtige, unmotivierte Jugendliche, die den Leistungsanforderungen nicht gerecht werden, bombardiert werden, ist dies ein Beispiel wirklicher Hoffnung. 15 Einleitung Im ersten Kapitel nehme ich Sie mit nach Naperville. Dort sprang der Funke über, der mich inspiriert hat, dieses Buch zu schreiben. 16 1. Willkommen zur Revolution Eine Fallstudie über körperliche Bewegung und das Gehirn A uf einer kleinen Landzunge westlich von Chicago steht ein Backsteingebäude, die Naperville Central Highschool, in deren Keller sich ein niedriger, fensterloser Raum voller Laufbänder und Hometrainer befindet. Die alte Cafeteria, die angesichts der Zahl der Schüler von der Größe her längst nicht mehr ausreichte, dient jetzt als Fitnessraum der Schule. Es ist 7:10 Uhr am Morgen, und für die kleine Gruppe von Anfängern an der Highschool, die halb verschlafen auf den Sportgeräten herumsitzen, ist es nun Zeit für ein bisschen Training im Fitnessraum. Ein durchtrainierter junger Sportlehrer namens Neil Duncan erklärt die Aufgabe für diesen Morgen: „Okay, sobald Ihr euch aufgewärmt habt, gehen wir raus auf die Aschenbahn und laufen die Meile“, sagt er und hält einen schwarzen Rucksack voller Brustbänder und Digitaluhren hoch – zur Überwachung der Herzfrequenz; es sind die gleichen Pulsuhren, wie sie von Athleten genutzt werden, um ihre physische Belastung oder Kraftanstrengung zu messen. „Jedes Mal, wenn ihr eine neue Runde beginnt, drückt ihr auf den roten Knopf. Was das soll? So erhaltet ihr eine Zwischenzeit. Die sagt euch, wie schnell ihr in der ersten Runde, der zweiten Runde, der dritten Runde gewesen seid. Nach der vierten und letzten Runde, die genauso schnell sein 17 Kapitel 1: Willkommen zur Revolution wird, wenn ihr es richtig macht“, sagt er und hält einen Augenblick inne, während er sich die schläfrige Truppe anschaut, „drückt ihr den blauen Knopf, okay? Dann wird eure Uhr gestoppt. Versucht eure schnellste Meile zu laufen, das ist euer Ziel. Und vergesst nicht, eure Herzfrequenz sollte im Durchschnitt höher als 185 liegen.“ Nachdem sie sich hinter Neil Duncan aufgestellt haben, stapfen die Neulinge die Treppe hoch, schieben sich durch eine Reihe schwerer Metalltüren und laufen an diesem frischen Oktobermorgen unter einem durchwachsenen Himmel in einzelnen Gruppen auf die Aschenbahn. Perfekte Bedingungen für eine Revolution. Wir haben es hier nicht etwa mit einer Klasse beim guten alten Sportunterricht zu tun, sondern mit „Sport in der Stunde Null“, der sogenannten „Zero Hour PE“ (PE steht für Practical Exercise, also körperliche Betätigung). Dabei handelt es sich um das letzte Experiment in einer langen Reihe von Versuchen, die von einer Gruppe eigenwilliger Sportlehrer durchgeführt wurden, wodurch aus den 19.000 Schülern im Schulbezirk 203 in Naperville die Fittesten – und zum Teil auch die Klügsten – der Nation wurden. (Die Bezeichnung des Unterrichts „Zero Hour PE“ bezieht sich auf die Zeit im Stundenplan, es ist die Stunde Null vor der ersten regulären Unterrichtsstunde.) Das Ziel der „Stunde Null“ ist, festzustellen, ob Sport vor dem regulären Schulunterricht dabei hilft, die Lese- und Aufnahmefähigkeit der Kinder sowie ihre sonstigen Leistungen in allen anderen Fächern zu verbessern. Die Vorstellung, dass dies so sein könnte, wird durch neuere Forschungen unterstützt, die zeigen, dass körperliche Bewegung biologische Veränderungen auslöst, welche die Gehirnzellen dazu anregen, sich miteinander zu verbinden. Um etwas lernen zu können, müssen diese Verbindungen im Gehirn hergestellt werden; sie spiegeln die grundlegende Fähigkeit des Gehirns wider, sich auf Herausforderungen einzustellen und sich entsprechend anzupassen. Je mehr Erkenntnisse Neurow issenschaftler über diesen Prozess gewinnen, desto klarer wird, dass körperliche Bewegung oder Sport ein unvergleichbarer Stimulus sind, um im Gehirn eine Umwelt zu schaffen, in der es bereit, willens und in der Lage ist, zu lernen. Aerobe Übungen haben starken Einfluss auf das Anpassungs vermögen des Gehirns; sie regulieren Systeme, die möglicherweise 18 Eine Fallstudie über körperliche Bewegung und das Gehirn aus dem Gleichgewicht geraten sind, und optimieren jene, die zwar nicht aus dem Gleichgewicht geraten, aber eben auch nicht optimal eingestellt sind. Aerobe Übungen sind ein unverzichtbares Instru ment für jeden, der sein volles Potenzial erreichen möchte. Draußen auf der Aschenbahn beaufsichtigt Neil Duncan derweil seine Schüler, wie sie ihre Runden drehen. „Meine Uhr zeigt nichts an“, sagt einer der Jungen, während er vorbeiläuft. „Roter Knopf“, ruft Duncan ihm hinterher. „Drück den roten Knopf! Und zum Schluss den blauen Knopf.“ Zwei Mädchen namens Michelle und Krissy kommen vorbei, Seite an Seite, in gemächlichem Tempo. Ein Kind mit ungeschnürten Skateboardschuhen beendet seine Runden und kommt zu Duncan, um seine Uhr abzugeben. Seine Zeit wird mit acht Minuten, dreißig Sekunden angegeben. Als Nächster kommt ein kräftiger Junge mit sackartigen Shorts. „Lass mal schauen, Dough“, sagt Duncan. „Was bringst du?“ „Neun Minuten.“ „Glatt?“ „Ja.“ „Gut gemacht.“ Als Michelle und Krissy schließlich heranschlendern, fragt Dun can nach ihren Zeiten, aber Michelles Uhr läuft immer noch. Offen sichtlich hat sie den blauen Knopf nicht gedrückt. Krissy aber wohl, und ihre Zeiten sind gleich. Sie hält Duncan ihr Handgelenk hin. „Zehn zwölf“, sagt er und notiert die Zeit auf seinem Klemmbrett. Was er nicht sagt, ist: „Es sah so aus, als würdet ihr beide da draußen nur herumbummeln!“ Tatsache ist, das haben sie nicht gemacht. Als Duncan Michelles Pulsuhr abruft, stellt er fest, dass sie während ihrer zehnminütigen Meile eine durchschnittliche Herzfrequenz von 191 hatte, was selbst bei einem trainierten Athleten ein Indiz für ein ordentliches Trai ningspensum ist. Sie bekommt ein A für den Tag (entspricht in etwa der Note „Sehr gut“). Die Kids der „Stunde Null“, die sich freiwillig für dieses Pro gramm aus einer Gruppe von Schulanfängern gemeldet haben und außerdem zusätzlichen Lese- und Schreibunterricht erhalten, um 19 Kapitel 1: Willkommen zur Revolution mit den anderen mithalten zu können, trainieren intensiver als die übrigen Schüler, die nur am normalen Sportunterricht der Central Highschool teilnehmen. Die Aufgabe bei ihrem Zusatztraining besteht darin, in puncto Kraftanstrengung bei dem Training möglichst die ganze Zeit zwischen 80 und 90 Prozent ihrer maximalen Herzfrequenz zu bleiben. „Was wir in Wirklichkeit versuchen, ist, durch anstrengende sportliche Aktiv itäten bei den Kindern die besten Voraussetzungen zum Lernen zu schaffen“, sagt Duncan. „Im Grunde versetzen wir sie in einen Zustand erhöhten Bewusstseins und schicken sie dann in den Unterricht.“ Wie finden sie es, Mr. Duncans Versuchskaninchen zu sein? „Ich denke, es ist okay“, sagt Michelle. „Abgesehen vom frühen Aufstehen und davon, dass ich hinterher ganz verschwitzt bin und alles klebt, bin ich den ganzen Tag über wacher. Im Unterschied dazu war ich im letzten Jahr einfach die ganze Zeit immer nur griesgrämig.“ Abgesehen von der Verbesserung ihrer Stimmung wird sich bald zeigen, dass Michelle sich auch im Lesen sehr verbessert. Und das Gleiche ist ebenso bei ihren Klassenkameraden der „Stunde Null“ zu beobachten: Am Ende des Schulhalbjahres zeigen sie in den Bereichen Lesen und Auffassungsvermögen eine Verbesserung von 17 Prozent, im Vergleich zu einer Verbesserung von nur 10,7 bei den anderen Schülern, die es vorzogen, länger zu schlafen und sich mit dem normalen Sportunterricht zu begnügen. Die Schulverwaltung ist so beeindruckt, dass sie die „Stunde Null“ in den Lehrplan der Highschool zur Förderung der Lernbereit schaft im Rahmen des Lese- und Schreibunterrichts als sogenannten Sportunterricht in der ersten Stunde aufnimmt. Und das Experi ment wird fortgeführt. Die Schüler des regulären Lese- und Schreib unterrichts werden in zwei Klassen aufgeteilt: eine Klasse, in der dieser Unterricht in der zweiten Stunde erfolgt, wenn die Wirkung des Sports noch richtig spürbar ist; und eine Klasse, in der dieser Unterricht in der achten Stunde erfolgt. Wie erwartet, schneidet die Klasse, in der der Unterricht in der zweiten Stunde stattfindet, am besten ab. Die Ambitionen der Verfechter dieses Programms gehen jedoch über die Anfängerklassen hinaus, deren Leseleistungen verbesserungs bedürftig sind. Von Beratern kommt der Vorschlag, dass bei allen 20 Eine Fallstudie über körperliche Bewegung und das Gehirn Schülern die Fächer, die ihnen am schwersten fallen, unmittelbar nach der Sportstunde stattfinden sollten, um einen möglichst großen Nutzen aus den vorteilhaften Effekten des Sports zu ziehen. Es ist ein wahrlich revolutionäres Konzept, von dem wir alle lernen können. Erstklassige Leistungen Die „Stunde Null“ ist aus dem einzigartigen Ansatz im Sport unterricht von Naperville entstanden, der landesweit Aufmerksam keit erregt hat und zum Vorzeigemodell für eine Art von Sportunter richt wurde, den ein Erwachsener als solchen vermutlich nicht erkennen würde. Hier wird niemand abgeschossen wie beim Völkerball, hier fällt niemand durch, weil er nicht geduscht hat, hier gibt es keine Angst, als letztes Kind in eine Mannschaft gewählt zu werden. Den Sportunterricht in Naperville zeichnet aus, dass hier Fitness statt Sport gelehrt wird. Dahinter steht die Philosophie, dass sie ein Leben lang davon profitieren werden, wenn es nur gelingt, den Kindern über den Sportunterricht beizubringen, wie sie gesund und fit werden und auch bleiben. Und überdies werden sie wahrscheinlich auch noch ein längeres und glücklicheres Leben haben. Was den Kindern beigebracht wird, ist also in Wirklichkeit ein Lebensstil. Die Schüler entwickeln nicht nur gesunde Gewohnheiten, Fertigkeiten und ein Gefühl von Spaß, sondern lernen auch, wie ihr Körper funktioniert. Die Sportlehrer von Naperville eröffnen ihren Schülern neue Perspektiven, indem sie ihnen eine breite Palette von Aktivitäten bieten, bei denen sie gar nicht anders können, als festzustellen, dass sie ihnen Spaß machen. Sie schaffen es, dass die Kinder regelrecht süchtig danach werden, sich zu bewegen, statt vor dem Fernseher zu sitzen. Wie wichtig dies ist, zeigen allein die Statistiken, aus denen hervorgeht, dass Kinder, die Sport treiben und sich körperlich bewegen, dies wahrscheinlich als Erwachsene ebenso tun. Was mich anfänglich fasziniert hat, ist jedoch der Einfluss, den der fitnessorientierte Ansatz auf die Kinder hat, während sie noch in der Schule sind. Den neuen Sportunterrichtslehrplan gibt es jetzt 21 Kapitel 1: Willkommen zur Revolution seit 17 Jahren, und seine Effekte haben sich zum Teil an unerwarteten Stellen gezeigt, nämlich im Klassenzimmer. Es ist kein Zufall, dass, schulisch betrachtet, der Bezirk durch weg unter den zehn Besten des Bundesstaates rangiert, obwohl der Betrag, der finanziell für jeden Schüler ausgegeben wird – was aus Sicht der Erzieher in der Regel ein klarer Indikator für Erfolg ist –, merklich niedriger ist als bei anderen öffentlichen Schulen aus der Top-Ten-Liste in Illinois. Zum Schulbezirk 203 in Naperville gehören 14 Grundschulen, fünf Junior Highschools und zwei Highschools. Zum Vergleich soll die Naperville Central Highschool herhalten, wo die „Stunde Null“ als Erstes eingeführt wurde. Dort lagen 2005 die laufenden Ausgaben pro Schüler bei 8.939 US-Dollar im Vergleich zu 15.403 US-Dollar an der New Trier Highschool in Evanston. Die Schüler der New Trier Highschool schnitten im Durchschnitt bei ihrer Aufnahmeprüfung am College zwar zwei Punkte besser ab (26,8), bei staatlichen Pflichttests, die von jedem Schüler absolviert werden müssen und nicht nur von jenen, die sich fürs College bewerben, jedoch insgesamt schlechter als die Schüler der Central Highschool. Die Gesamtpunktzahl der Abschlussklasse der Central Highschool lag 2005 mit 24,8 deutlich über dem für den ganzen Bundesstaat ermittelten Durchschnitt von 20,1. Diese Prüfungen sind jedoch nicht annähernd so aussagekräftig wie die Schulleistungsuntersuchung TIMSS, ein Test, bei dem der Wissensstand von Schülern aus verschiedenen Ländern in zwei Schlüsselfächerbereichen verglichen wird. Es ist die Prüfung, die der Kommentator der New York Times, Thomas Friedman, Autor von Die Welt ist flach, zitierte, als er beklagte, dass Schüler an Orten wie Singapur „uns die Butter vom Brot nehmen“. Die Bildungslücke zwischen den Vereinigten Staaten und Asien werde größer, erklärte er. Während in manchen asiatischen Ländern fast die Hälfte der Schüler so abschnitten, dass sie auf den oberen Plätzen rangierten, schafften dies nur sieben Prozent der US-amerikanischen Schüler. Seit 1995 wird die TIMSS-Studie alle vier Jahre durchgeführt. 1999 wurden 230.000 Schüler aus 38 Ländern in die Studie einbezogen, wovon 59.000 aus den Vereinigten Staaten kamen. (Deutschland, Österreich und die Schweiz haben sich nur 1995 an der Studie beteiligt.) Während die New Trier Highschool und 18 weitere Schulen 22 Eine Fallstudie über körperliche Bewegung und das Gehirn sich zusammen mit der reichen North Shore School in Chicago bei der TIMSS-Studie zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammenschlossen (wodurch die Leistungen der einzelnen Schulen nicht mehr zu unterscheiden waren), trat die Central Highschool aus Naperville alleine an, um zu sehen, wo ihre Schüler mit ihren Leistungen im internationalen Verg leich standen. Rund 97 Prozent ihrer Achtklässler machten den Test – nicht nur die Besten und Klügsten. Wie schnitten sie ab? Im naturwissenschaftlichen Teil der TIMSS-Studie schnitten die Schüler aus Naperv ille als Beste ab, knapp vor denen aus Singapur, gefolgt von der Arbeitsgemeinschaft North Shore an dritter Stelle. Die Nummer Eins der Welt! Im mathematischen Teil erreichte Naperville Platz sechs, hinter Singapur, Korea, Taiwan, Hongkong und Japan. Insgesamt erreichten die US-amerikanischen Schüler in den Na turw issenschaften den 18. Platz und in Mathematik den 19. Platz, wobei Bezirke aus Jersey City und Miami jeweils den letzten Platz in den Naturwissenschaften bzw. in Mathematik belegten. „Wir haben riesige Diskrepanzen zwischen unseren Schulbezirken in den Vereinigten Staaten“, sagt Ina Mullis, stellvertretende Leiterin der TIMSS-Studie. „Es ist gut, dass wenigstens einige aus Naperville dabei waren – das zeigt, dass es zu schaffen ist.“ Ich würde nicht so weit gehen zu sagen, der einzige Grund, warum die Schüler aus Naperville so hervorragend abschneiden, sei ihre Teilnahme an einem außergewöhnlichen Sportunterrichts programm. Es gibt viele Faktoren, die zu schulischen Leistungen beitragen. Der Schulbezirk 203 ist demografisch gesehen zweifellos ein begünstigter Schulbezirk. 83 Prozent Weiße und davon gehören wiederum nur 2,6 Prozent zu den sogenannten einkommensschwachen Familien, im Vergleich zu einem Anteil von 40 Prozent einkommensschwacher Familien in ganz Illinois. Die beiden Highschools in Naperville glänzen mit einer Quote von 97 Prozent der Schüler, die den Abschluss schaffen. Und bei den wichtigsten Arbeitgebern in der Stadt handelt es sich um naturwissenschaftlich orientierte Unternehmen, was den Schluss nahe legt, dass die Eltern vieler Naperville-Schüler hochgebildet sind. Sowohl was die Umwelt als auch was die genetischen Voraussetzungen angeht, sind die Karten also zugunsten von Naperville gemischt. 23 Kapitel 1: Willkommen zur Revolution Wenn wir uns Naperville anschauen, gibt es auf der anderen Seite aber zwei Faktoren, die tatsächlich auffällig sind: die ungewöhnliche Art des Sportunterrichts und die Testergebnisse. Die Korrelation ist einfach zu verblüffend, um sie zu übersehen, und ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, selbst nach Naperville zu fahren, um mir anzusehen, was dort geschieht. Die TIMSS-Studie ist mir seit Langem bekannt, und wie sie die Versäumnisse der öffentlichen Bildung und Erziehung in diesem Land verdeutlicht. Aber die Schüler aus dem Schulbezirk 2003 haben den Test mit Bravour bestanden. Warum? Es ist ja nicht so, als sei Naperville der einzige wohlhabende Vorort in diesem Land mit intelligenten, gebildeten Eltern. Auch in ärmeren Bezirken, wo die Art des Sportunterrichts von Naperville Wurzeln geschlagen hat, wie in Titusville, Pennsylvania (worauf ich später noch eingehen werde), haben sich die Testergebnisse messbar verbessert. Es ist meine Überzeugung, und das ist es auch, was mich an Naperville fasziniert, dass der Schwerpunkt, der dort auf Fitness gelegt wird, eine ausschlaggebende Rolle bei den schulischen Leistungen der Schüler spielt. Der neue Sportunterricht Die Revolution in Naperville begann, wie dies oft bei solchen Dingen der Fall ist, mit einer Mischung aus Idealismus und Selbst erhaltungstrieb, zwei Punkte, die dabei gleichermaßen eine Rolle spielten. Phil Lawler, ein damals junger, visionärer Sportlehrer an der Junior Highschool, brachte die Bewegung in Gang, nachdem er 1990 auf einen Zeitungsartikel gestoßen war, der über die sich verschlechternde gesundheitliche Verfassung von Kindern in den USA berichtete. „Der Artikel besagte nichts anderes, als dass der Grund, warum sie nicht gesund waren, darin zu suchen war, dass sie nicht sehr aktiv waren“, erinnert sich Lawler, ein groß gewachsener Mann in den Fünfzigern, mit randloser Brille, der vorzugsweise leichte Baumwoll hosen und weiße Turnschuhe trägt. „Heutzutage weiß jeder, dass wir 24 Eine Fallstudie über körperliche Bewegung und das Gehirn eine Fettleibigkeitsepidemie haben“, fährt er fort. „Aber wenn Sie vor 17 Jahren eine Zeitung in die Hand nahmen, dann war ein Artikel dieser Art etwas Außergewöhnliches. Wir sagten uns: ’Wir sehen diese Kinder jeden Tag; sollten wir nicht in der Lage sein, Einfluss auf ihre Gesundheit zu nehmen?’ Denn wenn das unser Geschäft ist, dachte ich, gehen wir bankrott.“ Er hatte sowieso das Gefühl, dass Sportlehrern insgesamt nicht gerade viel Respekt entgegengebracht wurde; in den Schulen hatte man angefangen, den Sportunterricht im Stundenplan zu kürzen, und jetzt auch noch das. Lawler, ein ehemaliger Werfer seines College-Baseballteams, der es nicht in die Majors League (Bundesliga) geschafft hatte, ist ein echter „Verkäufer“ und von Natur aus eine Führungspersönlichkeit. Er entschied sich, Sportlehrer zu werden, weil er dem Sport nahe bleiben wollte. Neben seiner Arbeit als Sportlehrer an der Madison Junior Highschool im Schulbezirk 203, trainierte er das Baseballteam der Central Highschool von Naperville und hatte die Funktion des Bezirkskoordinators für Sportunterricht inne. Aber selbst nachdem er diese respektablen Funktionen vorzuweisen hatte, war es ihm manchmal peinlich, zuzugeben, womit er seinen Lebensunterhalt verdiente. Der Artikel hatte etwas, das er instinktiv als Chance begriff – als Chance zu zeigen, dass die Arbeit, die er und seine Sportlehrerkollegen mach ten, wichtig war. Als Lawler und seine Kollegen an der Madison Highschool sich dann einmal eingehender anschauten, was im Sportunterricht eigentlich im Einzelnen gemacht wurde, sahen sie eine Menge Inaktivität. Das liegt in der Natur von Mannschaftssportarten: Warten, bis man an der Reihe ist, bis der Ball in die eigene Richtung kommt usw. Die meiste Zeit standen die meisten Spieler also einfach nur herum. Somit beschloss Lawler, den Fokus auf kardiovaskuläre Fitness, also des Herz-Kreislauf-Systems, zu verlagern und führte eine radikale Besonderheit im Lehrplan ein. Einmal in der Woche sollten die Kinder im Sportunterricht eine Meile laufen. Jede Woche! Seine Entscheidung wurde von den Schülern mit Stöhnen begrüßt, von den Eltern mit Be schwerden und von den Ärzten mit kritischen Anmerkungen. Er ließ sich jedoch nicht beirren. Dennoch erkannte er schnell, dass die langsamsten Läufer durch das Benotungssystem entmutigt 25 Kapitel 1: Willkommen zur Revolution wurden. Um den ungeübten Sportlern die Möglichkeit zu geben, etwas für gute Noten zu tun, kaufte der Fachbereich einige FahrradHeimtrainer und ermöglichte es so den Schülern, zusätzliche Punkte zu sammeln. Beim Laufen konnten sie in ihrer eigenen Zeit ankommen und dann noch acht Kilometer Rad fahren, um ihre Noten zu verbessern. „So konnte jedes Kind, dass ein A bekommen wollte, auch ein A bekommen, wenn etwas dafür tat“, erklärt Lawler. „Irgendwie kamen wir durch diese Verfahrensweise dann dahin, dass es persönliche Bestleistungen gab. Jedes Mal, wenn man eine persönliche Bestleistung erzielt hatte, egal, was es war, verbesserte man sich um eine Note.“ Und dies führte zum Grundprinzip des Ansatzes, den er als den neuen Sportunterricht bezeichnete: Die Schüler wurden nach ihren Bemühungen, nicht nach ihren Fertigkeiten beurteilt. Man musste kein Naturtalent sein, um gute Noten in Sport zu bekommen. Aber wie beurteilt man die jeweils individuelle Bemühung von 40 Kindern gleichzeitig? Lawler fand die Antwort bei einer Konferenz über Sportunterricht, die er jedes Frühjahr organisierte. Er bemühte sich sehr, die Konferenz zu einer Veranstaltung des Austauschs über neue Ideen und Techniken zu machen, und um die Teilnahme zu fördern, überredete er die Anbieter von Sportartikeln, Preise für eine Tombola zu spenden. Jedes Jahr zu Beginn der Konferenz ging er mit einem kleinen Wagen durch die Reihen und sammelte Schläger und Bälle und andere Sportartikel ein. Was ihm dabei in einem Jahr in den Wagen geworfen wurde, war eine hypermoderne Pulsuhr, die zu der Zeit Hunderte Dollar wert war. Er konnte nicht anders, er stahl ihn für die Revolution. „Ich sah dieses Superteil“, bekennt er freimütig, „und ich sagte mir: Das ist ein Tombola-Preis für die Madison Junior Highschool!“ Bei dem wöchentlichen Meilenlauf testete er das Gerät bei einem Mädchen aus der sechsten Klasse, das schlank, aber nicht im Mindesten sportlich war. Wenn Lawler ihre Werte abrief, konnte er nicht glauben, was er sah. „Ihre Herzfrequenz lag im Durchschnitt bei 187!“ erklärt er. Da sie erst elf Jahre alt war, hätte ihre maximale Herzfrequenz etwa bei 209 liegen dürfen, dies bedeutete, sie rackerte sich also schon an der Grenze ihrer Höchstleistung ab. „Als sie die Ziellinie überquerte, stieg ihr Wert auf 207 an“, fährt 26 Eine Fallstudie über körperliche Bewegung und das Gehirn Lawler fort. ‚ „Oh Mann, oh Mann!“ sagte ich, „du veräppelst mich!’ Normalerweise wäre ich zu dem Mädchen hingegangen und hätte gesagt: Du musst deinen Arsch in Bewegung setzen, kleine Dame! Es war dieser eine Moment, der zu drastischen Änderungen in unserem ganzen Programm geführt hat. Die Pulsuhren waren das Sprungbrett für alles. Ich dachte an all die Kinder, die wir in der Vergangenheit vom Sport abgeschreckt haben mussten, weil wir nicht in der Lage waren, ihre Leistungen anzuerkennen. Ich hatte keinen Sportler in der Klasse dieses Mädchens, der es geschafft hätte, sich so hart anzustrengen wie sie.“ Lawler war klar geworden, dass Schnelligkeit nicht unbedingt etwas damit zu tun hatte, wie körperlich fit jemand war. Eine von Lawlers Lieblingsstatistiken besagt, dass weniger als drei Prozent der Erwachsenen im Alter von über 25 Jahren in Form bleiben, indem sie Mannschaftssportarten betreiben. Dies unterstreicht die Versäumnisse des traditionellen Sportunterrichts. Aber er wusste, dass er die Schüler nicht jeden Tag eine Meile laufen lassen konnte. Somit erstellte er ein Programm, das bei herkömmlichen Mannschaftssportarten wie Basketball oder Fußball vorsah, die jeweilige Spieleranzahl zu verringern – etwa drei gegen drei beim Basketball oder vier gegen vier beim Fußball –, sodass die Schüler ständig in Bewegung waren. „Das heißt, wir betreiben diese Mannschaftssportarten nach wie vor“, sagt Lawler. „Aber wir tun dies im Rahmen eines Fitnessmodells.“ Statt die Schüler auf der Grundlage so banaler Kriterien wie der regulären Größe eines Volleyball-Spielfeldes zu beurteilen, werden sie im Sportunterricht in Naperville danach beurteilt, wie lange sie bei einer Aktivität in ihrer anvisierten Herzf requenzzone bleiben. „Wir haben das Programm entwickelt, ohne im Grunde zu wissen, was wir da genau tun“, sagt Lawler. Dennoch ist es mit diesem neuen Sportunterricht gelungen, Prinzipien in die Praxis umzusetzen, die den aktuellen Forschungen über körperliche Bewegung, Sport und Gehirn entsprechen. 27 Kapitel 1: Willkommen zur Revolution Ein leuchtendes Vorbild Jeder Revolutionsführer braucht jemanden, der federführend für die praktische Umsetzung seiner Ideen sorgt. Lawler hätte keinen fähigeren Mann als Paul Zientarski finden können, Koordinator des Sportunterrichts an der Central Highschool in Naperville und ehemaliger Football-Trainer. Für Schüler und Kollegen ist Zientarski einfach Mr. Z, ein Schrank von einem Mann, grauhaarig, mit ruhigem Blick, jemand, bei dem man es gewohnt ist, dass er Tacheles redet. Er hat die eindringliche Präsenz eines Mike Ditka und Bill Parcells (zwei berühmte, ehemalige Football-Spieler und Trainer von bekannten US-Mannschaften) und ist von Natur aus eine Autoritätsfigur – eine ausgezeichnete Mischung und ideal für den Job. „Am längsten habe ich gebraucht, um ihn zu überzeugen“, sagt Lawler von seinem Freund und Verbündeten. „Aber sobald er an eine Sache glaubt, kommt ihm besser niemand mehr in die Quere. Weil er es notfalls in dich hineinstopft, wenn es sein muss.“ Als ihre Bewegung immer größere Kreise zog, übernahm Law ler die Führungsrolle beim Missionieren der Außenwelt mit der Botschaft „Fitness, nicht Sport“, sprach mit Newsweek und trat vor dem US-Senat auf. Und Zientarski setzte die Mission standhaft zu Hause durch und verwandelte das Sportunterrichtsprogramm an der Central Highschool in Naperville in ein gut funktionierendes Arbeitsmodell für den neuen Sportunterricht. Lawler wurde 2004 als Lehrer früh pensioniert, nachdem bei ihm Darmkrebs diagnostiziert worden war; er warb aber weiterhin für den täglichen Sportunterricht, selbst während seines ständigen Kampfes mit der Krankheit, der von einem ständigen Auf und Ab geprägt war. Sie haben sich beide zu Experten für „Körperliche Bewegung, Sport und Gehirn“ entwickelt. Was sie wussten, hatten sie sich angeeignet, indem sie den Rednern bei Konferenzen auf den Zahn fühlten. Lawler organisierte Konferenzen, nahm an sportphysiologischen Seminaren teil, las Aufsätze über neurowissenschaftliche Forschungen, und was sie dabei an Erkenntnissen gewannen, tauschten sie über E-Mails ständig miteinander aus. Damit nicht genug. Sie taten auch alles, um ihre Kollegen über die Zusammenhänge 28 Eine Fallstudie über körperliche Bewegung und das Gehirn zwischen körperlicher Bewegung und dem Gehirn aufzuklären. Bei Zientarski hatte es nichts Außergewöhnliches an sich, wenn er auf dem Flur eine Englischlehrerin in ein Gespräch verwickelte und ihr einen Stapel Papiere über die neueste Gehirnforschung in die Hand drückte – Hausaufgaben vom Sportlehrer sozusagen. Es war ihrem unnachgiebigen Forschungsdrang zu verdanken, dass ich diese beiden Männer kennen lernen durfte. Lawler hörte ein Interview mit mir in der Sendung The Infinite Mind im öffentlichen Radio, bei dem ich auf ein Protein zu sprechen kam, das bei sportlichen Aktivitäten einen erhöhten Spiegel aufweist und wie ein „Wundermittel fürs Gehirn“ wirkt. Lawler, mir bis dahin unbekannt, begann, diese Formulierung in seinen eigenen Interviews zu verwenden, darunter auch eines mit dem US-Regisseur Morgan Spurlock des Dokumentarfi lms über Fettleibigkeit Super Size Me (2004). Ich hatte nach einer konkreten Möglichkeit gesucht, die Auswir kungen von körperlicher Bewegung oder Sport auf das Lernvermö gen in diesem Buch zu veranschaulichen, und es war nur logisch, sich dabei auf einen Schulbezirk zu konzentrieren. Ich denke jedoch, dass es schon allein die Größe des Experimentes in Naperville war, die ihm zu einer breiteren Resonanz verhalf. In der Geschichte selbst geht es um Schüler, aber die Lektionen gelten auch für Erwachsene. Was Naperville liefert, ist eine aussagekräftige Fallstudie darüber, wie aerobe Aktivitäten nicht nur den Körper, sondern auch den Geist verwandeln können. Und diese Fallstudie ist zugleich auch eine wunderbare Vorlage für eine Neubesinnung und grundlegende Änderungen in unserer Gesellschaft. So unternahm ich die Reise nach Illinois, und als ich mit Lawler und Zientarski im Atrium des Holiday-Inn-Hotels in Naperville zu sammensaß, hörte ich sie Dinge sagen, die ich von einem Trainer nie zu hören erwartet hätte. „In unserem Fachbereich schaffen wir die Hirnzellen“, sagte Zientarski. „Sie zu füllen, ist dann Sache der anderen Lehrer.“ 29 Kapitel 1: Willkommen zur Revolution Ein neues Stereotyp: Der intelligente Sportler Lawler steuert mit seinem Kurs gegen den Trend, der derzeit an USamerikanischen öffentlichen Schulen vorherrscht und darin besteht, dass der Sportunterricht zugunsten einer erhöhten Stundenzahl der Lernfächer Mathematik, Naturwissenschaften und Englisch reduziert wird. Mit dieser neuen Schwerpunktsetzung soll Schülern geholfen werde, gängige Prüfungen zu bestehen. Die Befürworter dieses Trends berufen sich dabei nicht zuletzt auf die gesetzlichen Vorgaben, wonach der Staat dafür zu sorgen hat, dass kein Kind zurückbleibt. So bieten in den USA heute nur noch sechs Prozent der Highschools täglich Sportunterricht an. Gleichzeitig verbringen Kinder im Durchschnitt 5,5 Stunden am Tag vor einem Bildschirm – sei es vor dem Fernseher, Computer oder einer tragbaren Spielekonsole. Somit überrascht es nicht, dass US-amerikanische Kinder heute weniger aktiv sind als jemals zuvor. Darum fand ich das, was in Naperville geschah, so inspirierend. Das erste Mal war ich dort unmittelbar, bevor die Schüler in die Sommerferien entlassen wurden. Aber wenn man der Klasse beim Sportunterricht an der Madison Junior Highschool zusah, so hätte man das nicht geahnt. Etwa 30 Kinder sprangen mit einer solchen Energie und Begeisterung herum, wie man es nur zu Beginn eines Schuljahres erwartet hätte: Sie drängelten sich fast, um sich möglichst schnell in der Reihe aufzustellen, um an die Kletterwand zu kommen, führten hitzige Diskussionen, wer als Erster auf den neuen Hometrainer sitzen durfte, der an einen Videospiel-Monitor angeschlossen war, liefen wild auf Laufbändern herum, spielten mit Begeisterung ein Videospiel namens Dance Dance Revolution, bei dem man auf einem an die Konsole angeschlossenem „Fitnessbrett“ tanzt. Sie trugen alle Pulsuhren, und – das Wichtigste – sie waren alle engagiert und voll bei der Sache. Etwa 30 Prozent der Schulkinder in den USA sind heute übergewichtig – sechs Mal so viele wie 1980 –, und weitere 30 Prozent stehen an der Kippe dazu. In Lawlers Bezirk hatten hingegen erstaunliche 30 Eine Fallstudie über körperliche Bewegung und das Gehirn 97 Prozent der Sechstklässler im Jahr 2001 und ebenso im Jahr 2002 nach den BMI-Richtlinien der Zentren für Gesundheitskontrolle ein gesundes Gewicht (BMI = Body Mass Index). Bei einer unabhängigen Bewertung der körperlichen Fitness der Schüler des Schulbezirks 203, die im Frühjahr 2005 durchgeführt wurde, waren die Ergebnisse sogar noch besser. Der Sportphysiologe Craig Broeder untersuchte zusammen mit einem Team seiner Studenten der Benedictine University, die ein Aufbaustudium machten, nach einer Stichprobenerhebung 270 Schüler an Highschools, von Sechstklässlern bis zu den höheren Semestern. „Ich kann Ihnen versichern, dass das Schulsystem von Naperville dem landesweiten Standard in Sachen körperlicher Fitness um Meilen voraus ist“, so Broeder, ehemaliger Regionalvorsitzender des American College of Sports Medicine. „Sie sind nicht annähernd miteinander zu vergleichen. In Naperville gab es unter rund 130 Kindern nur einen Jungen, der fettleibig war. Es ist erstaunlich. Nach den Größe- und Gew ichtsmaßstäben der Zentren für Gesundheitskontrolle lagen die Prozentsätze in Naperville unter den landesweiten Normen. Bei anderen Fitnessmerkmalen, die gemessen wurden, erfüllten rund 98 Prozent der Schüler die Kriterien.“ Broeder ist die demografische Situation in Naperville sehr wohl bewusst, aber er ist dennoch beeindruckt. „Die Zahlen sind einfach zu gut, um sich nur darauf zurückzuführen zu lassen“, sagt er. „Das Sportunterrichtsprogramm verstärkte die positiven Ergebnisse in puncto körperliche Fitness, die ohne dieses Programm weitaus schwächer ausgefallen wären. Ich möchte es mal so sagen: Man kann nicht mit Sicherheit sagen, dass allein das Sportunterrichtsprogramm ausschlaggebend ist, aber die Fitness dieser Schüler liegt so weit über dem Durchschnitt, dass es nicht einfach nur an Naperville liegen kann.“ Aber was wissen wir genau über die Auswirkung von Sport auf den Notendurchschnitt? Nur wenige Forscher haben sich mit dieser Frage befasst. Allerdings hat eine Studie der Technischen Hochschule von Virginia gezeigt, dass die Reduzierung des Sportunterrichts und eine entsprechende Erhöhung der Stundenzahl in Mathematik, Na turw issenschaften und Lesen die Prüfungsergebnisse nicht verbess ern konnten, wie dies so viele in der Schulverwaltung angenommen 31 Kapitel 1: Willkommen zur Revolution hatten. Da Sportunterricht so vieles bedeuten kann, hat sich die For schung in diesem Bereich auf die Korrelation zwischen körperlicher Fitness und schulischen Leistungen konzentriert. Die aufschlussreichsten Studien kommen von der Schulbehörde in Kalifornien (CDE, California Department of Education). In den letzten fünf Jahren hat das CDE durchgehend und schlüssig gezeigt, dass Schüler mit besseren Fitnesswerten auch höhere Prüfungswerte erzielen. Das CDE stellte einen Zusammenhang zwischen den Werten her, die bei Standardleistungstests erzielt wurden, und jenen Werten, die beim sogenannten „FitnessGram“, einem sportmotorischen Test, erzielt wurden, und zwar bei über einer Million Schüler. Beim FitnessGram-Test werden sechs Bereiche gemessen: Aerobe Kapazität, Kör perfettanteil, Kraft und Ausdauer in Unterkörper und Beinen, Kraft und Flexibilität im Bereich des Rumpfes, Kraft des Oberkörpers und Flexibilität insgesamt. Die Schüler erhalten für jeden Bereich einen Punkt, wenn sie die Mindestanforderungen erfüllen, sodass die Höchstpunktzahl bei sechs Punkten liegt. Wichtig zu erwähnen ist, dass bei diesem Test nicht gemessen wird, wie fit ein Schüler ist, sondern nur ob er in jedem Bereich sich in einem akzeptablen Rahmen bewegt. Mit anderen Worten, es gibt nur ein Ergebnis: bestanden oder durchgefallen. 2001 erzielten körperlich fitte Schüler doppelt so gute Werte bei schulischen Tests als ihre weniger fitten Mitschüler. Von 279.000 Neuntk lässlern in Kalifornien lagen beispielsweise diejenigen, die beim FitnessGram-Test sechs Punkte erzielten, im Durchschnitt beim Stanford-Achievement-Leistungstest auf der 67. Perzentile in Mathematik und auf der 45. Perzentile im Lesen. Wem diese Werte nicht als überragend erscheinen, der bedenke, dass die Schüler, die nur in einem der sechs Bereiche des FitnessGram-Tests bestanden, nur auf der 35. und 21. Perzentile lagen. Als das CDE die Studie 2002 wiederholte, wurde der sozioöko nomische Hintergrund berücksichtigt. Wie erwartet schnitten Schüler, die einen höheren Lebensstandard hatten, bei den schulischen Leistungstests besser ab; die Ergebnisse zeigten jedoch auch, dass von den einkommensschwächeren Schülern körperlich fittere Kinder besser abschnitten. Dies ist eine aussagekräftige Statistik. Sie legt den Schluss nahe, dass, auch wenn Eltern ihre finanzielle 32 Eine Fallstudie über körperliche Bewegung und das Gehirn Situation nicht unmittelbar selbst kontrollieren können, sie jedoch gleichwohl die Chancen ihrer Kinder, gute Leistungen zu erzielen, verbessern können, indem sie sie dazu anhalten, etwas für ihre Kondition zu tun. Körperliche Bewegung oder Sport könnten den Teufelskreis durchbrechen. Die kalifornischen Studien stehen nicht alleine. Im Jahr 2004 führte ein Gremium von 13 angesehenen Forschern aus unterschied lichen Bereichen, von Kinesiologie bis Kinderheilkunde, eine enorm umfangreiche Überprüfung von mehr als 850 Studien über die Aus wirkungen körperlicher Aktivität auf Kinder im Schulalter durch. Bei den meisten der Studien wurden die Effekte von 30 bis 45 Minuten moderater bis anstrengender körperlicher Aktivität an drei bis fünf Tagen in der Woche gemessen. Dabei wurde ein breites Spektrum von Fragen berücksichtigt: Fettleibigkeit, Herz-Kreislauf-Fitness, Blutdruck, Depression, Ängste, Selbstkonzept, Knochendichte und schulische Leistungen. Auf der Grundlage einer eindrucksvollen Beweislage bei einer Reihe dieser Kategorien gab das Gremium eine Empfehlung heraus, dass Schulkinder pro Tag eine Stunde (oder mehr) an moderaten bis anstrengenden körperlichen Aktivitäten teilnehmen sollten. Bei der Untersuchung der schulischen Leistungen fand das Gremium genügend Belege, die die Ergebnisse der kalifornischen Studien unterstützten; und es berichtete auch, dass körperliche Aktivität einen positiven Einfluss auf das Erinnerungsvermögen, die Konzentrationsfähigkeit und das Verhalten im Klassenraum hatte. Zum Sportunterricht wurden keine näheren Angaben gemacht, es ist jedoch offensichtlich, wie den Schülern in Naperville zusätzlich eine gesunde Starthilfe ermöglicht wird. Ein ganz neues Ballspiel „Ich bin kein Forscher, ich bin Sportlehrer“, sagt Zientarski zu einem Dutzend Erzieher, die sich in seinem Büro in der Central Highschool von Naperv ille drängeln, während er Kopien der CDE-Studien an sie verteilt. Die Erzieher kommen aus einem benachbarten Vorort, einer Schule in South Side Chicago, sowie aus einem ländlichen Bezirk 33 Kapitel 1: Willkommen zur Revolution in Tulsa, Oklahoma, und sie sind gekommen, weil der Schulbezirk 203 von Naperville als Schulungsakademie für eine gemeinnützige Einrichtung dient, die sogenannte PE4life („Sport fürs Leben), die sich die neue Philosophie des Sportunterrichts zu eigen gemacht hat. Illinois ist der einzige Bundesstaat in den USA, in dem täglich eine Stunde Sportunterricht verlangt wird. Und PE4life setzt sich dafür ein, dass dies geändert wird – und ebenso die Art und Weise, wie Sport unterrichtet wird. Zientarksi steht auf und verkündet: „Jetzt machen wir einen Rundgang.“ Er zeigt, wo es lang geht, indem er mit dem zügigen Schritt eines erfahrenen U-Boot-Kommandeurs durch die Flure vorangeht. Beim ersten Stopp, den sie einlegen, sehen sie, wie drei Schülerhelfer einer Gruppe von Siebtklässlern computerisierte Diagnosegeräte anlegen, die an ein Computersystem namens TriFit angeschlossen sind. Den Kindern Zielwerte für Herzfrequenz, Blutdruck, Körperfett und alles andere vorzugeben, erklärt er, ist eine bewährte Motivation dafür, fit zu bleiben. Studien legen tatsächlich den Schluss nahe, dass die Wahrscheinlichkeit abzunehmen tatsächlich steigt, wenn jemand, der übergewichtig ist, sich einfach jeden Morgen auf die Waage stellt. Die Ambitionen von Lawler und Zientarski gehen jedoch weit über die Frage des Body-Mass-Index ihrer Schüler hinaus. „Ich sage den Leuten, dass es nicht meine Aufgabe als Sportlehrer ist, die Kinder körperlich fit zu machen“, sagt Zientarski. „Meine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass sie all die Dinge wissen, die sie wissen müssen, um sich selbst fit zu halten. Sport als solches ist kein Vergnügen. Es ist Arbeit. Das heißt, wenn man es ihnen verständlich machen kann und ihnen die nutzbringenden Effekte zeigt – dann ist das eine radikale Veränderung. Insbesondere für uns Trainer. Wir sind Kontrollfreaks. Wenn ich ’Achtung’ rufe, stehen 56 Kinder auf einer weißen Linie, nichts anderes haben wir jahrelang gemacht.“ Im Schulbezirk 203 nutzten die Schüler Pulsuhren, lange bevor sie einen Internetzugang an der Schule hatten. Wenn man heute in die Turnhalle irgendeiner Schule des Bezirks geht, könnte man meinen, man sei in einem hypermodernen Fitnessklub für Erwachsene. In jeder Halle gibt es ein TriFit-Bewertungsgerät und Gewichtsmaschinen, die an den Junior Highschools speziell auf das junge Alter der Schüler abgestimmt sind. Es gibt Kletterwände und 34 Eine Fallstudie über körperliche Bewegung und das Gehirn an Spielekonsolen angeschlossene Aerobic-Geräte. (Dank Lawlers unermüdlicher Lobby-Arbeit und Zientarskis Hartnäckigkeit wurden die meisten Geräte gespendet.) Der Lehrplan ist so konzipiert, dass den Kindern die Prinzipien, Praxis und Bedeutung von körperlicher Fitness beigebracht werden. Wenn sie auf die Highschool kommen, können sie aus einer breiten Palette an Möglichkeiten wählen – von Kajakfahren über Tanzen bis hin zu Bergsteigen und typischen Mannschaftssportarten wie Volley ball und Basketball. Und es wird ihnen gezeigt, wie sie ihren eigenen Fitnessplan aufstellen können. Im Kern des Sportprogramms stehen die TriFit-Bewertungen, die alle Schüler zu Beginn der fünften Klasse absolvieren. Sie stellen ihre Pläne als Fünftklässler auf und verfolgen ihre Verbesserungen, bis sie die Highschool abschließen, wobei ihnen dann eine 14-seitige Gesundheitsbewertung ausgehändigt wird. Darin enthalten sind Fitnesswerte, die Faktoren wie Blutdruck und Choles terinspiegel sowie einen Überblick über den Lebensstil und die fami liäre Geschichte berücksichtigen, um das Krankheitsrisiko zu prog nostizieren und entsprechende präventive Maßnahmen vorzuschla gen. Es ist ein erstaunlich umfassendes Dokument, gemessen an jedem professionellen Gesundheitsstandard, und erst recht daran, was ein 18-Jähriger in Händen halten kann, wenn er an der Schwelle zum Erwachsenenleben steht. Wenn es das doch nur für alle gäbe. Der Sportphysiologe Craig Broeder, der die Fitnessstudie in Na perville durchführte, merkt an, dass die Schüler beim Sportunterricht aus 18 verschiedenen Aktivitäten wählen können. „Was viele Leute vergessen, ist, dass jeder Schüler etwas finden muss, das es ihm erlaubt, sich gut dabei zu fühlen, wenn er Spitzenleistungen erbringt“, sagt er. „Damit die Schüler das Gefühl haben, es sei wirklich ihr Ding, wenn sie es tun. Lässt man dem Kind keine Wahl und es kann zum Beispiel nur Basketball spielen, erscheint das Ganze wie eine Strafe oder hat etwas von einem Erziehungslager. Dann steht von vorne herein fest, dass es damit nicht weiter machen wird. In Naperville bietet man den Kindern Wahlmöglichkeiten an, sodass sie in ihrer Lieblingsaktivität hervorragende Leistungen erbringen können; sie entwickeln Fitnessaktivitäten, die sie wahrscheinlich ein Leben lang gut finden.“ Auch Erwachsene sollten sich dies vor Augen halten, wenn sie überlegen, wie sie etwas für ihre Fitness tun können. 35 Kapitel 1: Willkommen zur Revolution Zientarski führt seine Gruppe in die alte Mädchenturnhalle, um dort das Prunkstück des Sportunterrichtsprogramms der Central High school vorzuführen: eine knapp siebeneinhalb Meter hohe und 27,5 Meter breite Kletterwand sowie einen Hochseilparcours, den sie seit einiger Zeit in einem Sportleistungskurs nutzen. Er führt als Beispiel eine Übung vor, die den Schülern Vertrauen und Kommunikation vermitteln soll: Dem Kletterer werden die Augen verbunden und er muss sich auf die Anweisungen seines Partners verlassen, um den nächsten Halt an der Wand zu finden. Der neueste Teil der Wand ist in einem leichteren Schwierigkeitsgrad gestaltet, damit er von Schülern mit körperlichen und geistigen Behinderungen genutzt werden kann. Bedenken wegen Haftungsfragen, die in dem Fall auf der Hand liegen, beantwortet Zientarksi mit dem Hinweis, dass es bisher nur sehr wenige Verletzungen gegeben habe, da die Kinder kooperieren und nicht konkurrieren, und dies ist eine der wichtigsten Lektionen, die er und seine Kollegen ihnen beibringen. „Wenn man die Leute fragt: ‘Was sollten unsere Schulabsolventen Ihres Erachtens wissen und tun, wenn sie schließlich die Highschool verlassen?’“, erklärt Zientarski, „dann sagen sie: ‘Wir möchten, dass sie mit anderen kommunizieren können. Wir möchten, dass sie in kleinen Gruppen zusammenarbeiten können. Wir möchten, dass sie Probleme lösen können. Wir möchten, dass sie bereit sind, Risiken einzugehen.’ Und wo gibt es das und findet das statt?“ fragt er und mustert seine Gäste von oben bis unten, „im naturwissenschaftlichen Unterricht? Ich glaube nicht.“ Gut für den Körper, gut fürs Gehirn Etwa 220 Kilometer südlich von Naperville führte der Psychophy siologe Charles Hillman an der University of Illinois in UrbanaChampaign seine eigene Version der CDE-Studie mit einer Gruppe von 216 Dritt- und Fünftklässlern durch und stellte den gleichen Zusammenhang zwischen körperlicher Fitness und schulischen 36 Eine Fallstudie über körperliche Bewegung und das Gehirn Leistungen fest. Dabei stellte er zusammen mit seiner Co-Autorin Darla Castelli etwas Interessantes fest: Von den sechs Bereichen, die bei dem FitnessGram-Test untersucht werden, scheinen zwei für die schulische Leistungsfähigkeit besonders wichtig zu sein. „Der Body-Mass-Index und die aerobische Fitness stachen bei unserer Regressionsgleichung wirklich hervor“, sagt Castelli. „Diese beiden Faktoren haben den wichtigsten Beitrag geleistet. Ich war wirklich überrascht, dass es so eindeutig war.“ Hillman begnügte sich jedoch nicht damit, Daten zu korrelieren, sondern ging darüber hinaus. Er wollte dem neurowissenschaftlichen Aspekt dieser Erkenntnisse auf den Grund gehen. So nahm er eine Gruppe von 40 Kindern – die eine Hälfte fit, die andere nicht fit – und maß ihre Aufmerksamkeit, ihr Kurzzeitgedächtnis und die Ver arbeitungsgeschwindigkeit ihres Gehirns. Bei den kognitiven Tests trugen die Kinder eine bademützenähnliche Kopfbedeckung, an die Elektroden zur Messung der elektrischen Aktivität des Gehirns angeschlossen waren. Das Elektroenzephalogramm (EEG) zeigte im Gehirn der körperlich fitten Kinder mehr Aktivität, was darauf hinweist, dass bei der Bewältigung einer Aufgabe mehr Neuronen aktiviert werden, die bei der Aufmerksamkeit eine Rolle spielen. „Wir sehen dort eine bessere Integrität“, erklärt Hillman. Mit anderen Worten: Bessere körperliche Fitness heißt bessere Aufmerksamkeit und damit bessere Ergebnisse. Hillman entdeckte auch eine aufschlussreiche Erkenntnis bei der Frage, wie seine Versuchspersonen darauf reagierten, wenn sie einen Fehler gemacht hatten. Bei der Messung ihrer Hirnaktivität nutzte er den sogenannten Eriksen-Flanker-Test, bei dem eine fünfstellige Buchstabenreihe aus den Großbuchstaben H und S jeweils blitzschnell auf einem Bildschirm aufleuchten. Der einzige interessante Buchstabe ist jedoch der in der Mitte; die Versuchsperson drückt auf den einen Knopf, wenn es ein H ist, und auf einen anderen, wenn es ein S ist. Wenn zum Beispiel HHSHH oder andere Kombinationen in Sekundengeschwindigkeit erscheinen, kann man leicht einen Fehler machen, und das merkt man, sobald man ihn gemacht hat. Hillman stellte nun fest, dass „körperlich fitte Kinder sich anschließend mehr Zeit lassen, um sicher zu gehen, dass die nächste Antwort richtig ist“, sagt er. 37 Kapitel 1: Willkommen zur Revolution Die Fähigkeit innezuhalten und über eine Antwort oder Reaktion nachzudenken, sich die Erfahrung aus einer falschen Entscheidung zunutze zu machen und sich daran bei der nächsten Entscheidung zu orientieren, hängt mit der Exekutiven Funktion zusammen, die von einer Hirnregion, dem sogenannten präfrontalen Cortex, kontrolliert wird. (Auf die Exekutive Funktion werde ich in späteren Kapiteln noch ausf ührlicher eingehen, insbesondere im Zusammenhang mit der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS), die zum Teil durch einen Fehler im präfrontalen Cortex verursacht wird. Würde ein Kind mit ADHS den Flanker-Test machen, würde es den falschen Knopf drücken, bevor es sich selbst davon abhalten könnte, oder es würde zu lange zögern, den richtigen Knopf zu drücken. Sie können sich jedoch bestimmt vorstellen, wie sehr wir alle auf die Exekutive Funktion angewiesen sind.) Aus unseren Fehlern zu lernen, ist im Alltagsleben überaus wichtig. Und Hillmans Studie zeigt, dass körperliche Bewegung oder Sport – oder zumindest das daraus resultierende Fitnessniveau – starken Einfluss auf diese grundlegende Fertigkeit haben können. Den Führenden folgen Es gibt vielleicht niemanden, der den in Naperville vorherrschenden Glauben an die transformierende Kraft körperlicher Bewegung besser verkörpert als Jessie Wolfrum. In der Zeit, als sie an der Central Highschool war, bezeichnete sie sich selbst als Streberin und EinserSchülerin; 2003 machte sie dort ihren Abschluss und schrieb sich an der Embry-Riddle-Universität für Luft- und Raumfahrt in Daytona Beach, Florida, ein, wo sie derzeit im Hauptfach Engineering Physics (Angewandte Physik und Ingenieurswissenschaften) studiert. Als Zwilling, der dazu neigte, sich auf die enge Beziehung zu ihrer Schwester zu verlassen, statt sich mit anderen Kindern einzulassen, war Jessie ein Leben lang schüchtern. „In der dritten Klasse stellte meine Mutter mich vor die Wahl, entweder Klavier oder Fußball zu spielen“, erinnert sie sich lachend. „Die Vorstellung, mit einer Gruppe von Mädchen etwas zusammen zu machen, worin ich 38 Eine Fallstudie über körperliche Bewegung und das Gehirn wahrscheinlich nicht gut sein würde, flößte mir solche Furcht ein, dass ich etwas wählte, was mir nicht einmal gefiel, geschweige denn Spaß machte. Acht Jahre lang habe ich Klavier gespielt!“ Phil Lawler bot ihr natürlich nicht die Möglichkeit an, Klavier zu spielen, als sie als Schülerin an die Madison Junior Highschool kam. Jesse musste einfach mitmachen, wie alle anderen auch. Auch wenn sie sich nicht sonderlich für den Sportunterricht begeistern konnte, war er nicht wirklich furchtbar, und erst recht nicht traumatisierend. Jedenfalls lernte sie Lektionen über ihren Körper, von denen sie noch viele Jahre profitieren sollte. Als Jessie und ihre Schwester Becky zur Central Highschool wechselten, waren ihre Stundenpläne so unterschiedlich, dass sie nicht mehr ständig zusammenhängen konnten, sodass Jessie gezwungen war, öfter mit anderen Kindern zu reden, als ihr eigentlich lieb war. Sie schrieb sich in den Kurs „Freies Reden“ ein, um ihre Sozialangst zu bewältigen. Aber sie sagt, was ihr wirklich geholfen habe, sich frei zu entwickeln und aufzublühen, sei das Kajakfahren gewesen. Jessie fuhr sofort auf diesen geschicklichkeitsintensiven Sport ab, und zu entdecken, dass sie gut in etwas anderem als einem akademischen Lehrfach war, half ihr bei der Wandlung. „Wenn andere merken, dass man etwas macht, was sie nicht können, bekommt man eine gewisse Aufmerksamkeit“, sagt Jessie. „Beim Kajakfahren fingen andere an, von mir Notiz zu nehmen, und so war ich mit einem Mal nicht mehr so unscheinbar. Ich wurde abenteuerlustiger. Selbst wenn man schüchtern ist und es kommt jemand auf einen zu, der fragt: ‘Wie machst du das?’, dann vergisst man, dass man schüchtern ist und erklärt es einfach nur: ‘Du musst deinen Kopf so halten oder das und das mit dem Paddel machen.’“ Das Wasserbecken sorgte auch in anderer Hinsicht für mehr Gleichheit. „Sobald alle ihre Schwimmkleidung tragen, kann man nicht mehr sagen, wer zur Gruppe der Beliebten gehört“, sagt sie. „Die Klasse hat diese sozialen Statusgrenzen völlig gesprengt und überwunden. Ich hatte viele Probleme damit, bis ich mit dem Kajak fahren anfing.“ Ermutigt durch ihre Erfahrungen im Kajakunterricht meldete Jessie sich für den von Zientarski geleiteten Leistungskurs an. Das Erste, was er machte, war Jessie von ihrer Zwillingsschwester zu 39 Kapitel 1: Willkommen zur Revolution trennen – und ebenso alle anderen unzertrennlichen Cliquen. Im Leistungskurs lernen die Schüler Bergsteigen und dieser Sport faszinierte Jessie ganz besonders. Sie schloss sich dem Abenteuer-Club an, eine Art spontane „Stunde Null“ für Kinder, die bereits um 6:30 Uhr morgens kommen wollten, um mehr Zeit an der Kletterwand oder im Becken für das Kajakfahren zu verbringen. An dem Morgen, an dem der schulische Leistungstest anstand, die „Prairie Stat Achievement Examination“, die im US-Bundesstaat Illinois übliche Version des „Scholastic Aptitude Test“ (SAT)1, beschlossen Jessie und ihre Schwester tatsächlich, Paddeln zu gehen. Sie waren so zuversichtlich, dass sie sich gut vorbereitet hatten, und so daran gewöhnt, dass Sport ihnen half, sich besser konzentrieren zu können, dass sie sich wohl dabei fühlten, unmittelbar vor einer wichtigen Prüfung in einem kalten Becken herumzuplanschen. Wie viele Schüler kennen Sie, die das tun würden? Wie viele Erwachsene kennen Sie, die das tun würden? „Als wir zur Prüfung antraten, war uns kalt und wir waren nass“, erinnert sich Jessie. „Wir gingen ins Klassenzimmer und waren die Einzigen, die wach waren. Wir haben am Ende ziemlich gut abge schnitten.“ Beide erreichten 1.400 von 1.600 möglichen Punkten – ein Spitzenergebnis. Als Jessie aufs College kam, trieb sie sich weiter an, sowohl was schulische Leistungen als auch was den gesellschaftlichen Umgang mit anderen anging. Sie ist eine sehr gute Studentin und, was wohl am meisten überrascht, betreut eine Gruppe von Erstsemester-Stu denten, die in ihrem Studentenheim auf demselben Flur wohnen. Sie kümmert sich darum, dass die jungen Studenten sich wohl fühlen, sie sorgt für Ordnung und sie berät sie. Sie ist kein Mauerblümchen mehr. Beim Wechsel von der Highschool zum College ist es schwer, sportlich bei der Stange zu bleiben, aber Jessie hat ihr Übungspro gramm nie wirklich fallen gelassen. In ihrem ersten College-Jahr lief 1 Das Schulsystem in den USA ist sehr uneinheitlich und die Abschlussnoten verschiedener Highschools sind in der Regel nicht miteinander vergleichbar. Der SAT-Test wird hauptsächlich von Studienplatz-Bewerbern an amerikanischen Universitäten gefordert und ermöglicht so eine vergleichbare Bewertung aller Schulabgänger. 40 Eine Fallstudie über körperliche Bewegung und das Gehirn sie mit ihrer Mitbewohnerin immer, wenn es irgendwie stressig wurde, ein paar Runden im Treppenhaus in ihrem Studentenwohnheim. Das ist etwas, das sie schon in Naperville gelernt hatte – wie sie ihr Gehirn mit körperlicher Bewegung oder Sport steuern und kontrollieren konnte. Und das ist die Botschaft, die ich mit diesem Buch zu vermitteln hoffe. „Im Moment geht jede Stunde einfach für irgendetwas anderes drauf – Beaufsichtigen der Heimbewohner, Kurse …“ sagt Jessie. „Wenn ich keine Zeit habe, mich sportlich zu betätigen und etwas zu tun, dann vermisse ich es. Jedes Mal, wenn ich weiß, dass eine Reihe von Prüfungen bevorsteht – wenn ich richtig gestresst bin –, denke ich: ‘Okay, du weißt ja, wie damit umzugehen ist.’ Es ist zweifellos eine Er leichterung zu wissen, dass ich etwas habe, worauf ich mich verlassen und zurückgreifen kann. Hätte ich das nicht, würde ich wahrscheinlich einfach anfangen zu essen oder irgend so etwas tun. Aber ich weiß, dass körperliche Bewegung oder Sport meine Gehirnaktivität optimal auf Vordermann bringen, und dann denke ich: ‘Mach es einfach.’ Ohne meinen Sportunterricht wüsste ich das nicht.“ Mehr als nur Fitness Wie viele andere fand ich als Kind, dass unser Sportunterricht ein Witz war. Ja, wir hatten Spaß dabei, aber soweit ich mich erinnere, war der Sportunterricht nicht besonders lehrreich. Als ich als Erwachsener anfing, Lehrern und Ärzten Vorträge über die positiven Ausw irkungen körperlicher Aktivitäten auf die Stimmung, das Konzentrationsvermögen, das Selbstwertgefühl und die sozialen Fertigkeiten zu halten, hielt ich den Sportunterricht mit Sicherheit nicht für ein Heilmittel. Nach meiner eigenen Erfahrung ging es beim Sportunterricht nicht wirklich um Bewegung oder Leibesübungen. Im Gegenteil – er war diesbezüglich demotivierend. Die grausame Ironie war, dass die schüchternen, unbeholfenen, körperlich nicht so fitten Kinder – also genau diejenigen, die am meisten davon hätten profitieren können –, beiseitegeschoben und ins Abseits gestellt wurden, um von 41 Kapitel 1: Willkommen zur Revolution den Zuschauerplätzen aus zuzuschauen. Jemand wie Jessie Wolfrum wäre an den Rand gedrängt und sich selbst in ihrer Scham überlassen worden. Im Laufe der Jahre haben mir eine ganze Reihe von Patienten Geschichten von Demütigungen im Sportunterricht erzählt. Die Seitenlinien eines Sportfeldes sind ein fruchtbarer Boden, um genau die Probleme zu entwickeln, die körperliche Bewegung oder Sport eigent lich verbessern. Zur Zauberformel von Naperville gehört, dass Lawler und Zien tarski sich hervorragend auf diese Dynamik eingestellt haben. „Früher wurden bei uns Klimmzüge gemacht“, erklärt Zientarski abfälligem Tonfall. „Ich schätze, etwa 65 Prozent unserer Jungs konnten nicht einmal einen Klimmzug machen. Das heißt, sie kommen nur in den Sportunterricht, um als Versager dazustehen!“ Was mich an Zientarskis Wandel von jemandem, der auf Drill stand, zu jemandem, der Körper, Gehirn, Geist und Psyche formen hilft, verblüfft, ist, wie weit er bei der Neudefinition des Sport unterrichts zu gehen bereit ist. Eine der innovativsten Änderungen, die er zum Beispiel an der Central Highschool vorgenommen hat, war die Einführung eines Squaredance-Kurses als Pflichtstunde für Schulanfänger. Das mag nicht innovativ klingen, aber der Kurs ist so konzipiert, dass Bewegung als Rahmen genutzt wird, um den Kindern soziale Fertigkeiten beizubringen – eine auf vielen Ebenen wunderbare Idee. In den ersten Wochen erhalten alle Schüler in dem Kurs ein Manuskript, das sie als Konversationshilfe mit ihren Partnern verwenden können, und nach jedem Tanz wechseln die Partner. Mit fortschreitendem Kurs wird den Schülern dann Gelegenheit gegeben, ohne die Manuskripte miteinander umzugehen, wobei ihnen zunächst 30 Sekunden für eine kurze Konversation eingeräumt werden, später dann mehr. Eine wichtige Frage bei der Abschlussprüfung ist, wie genau sich die Schüler an zehn Fakten bei einem Partner erinnern können, nachdem sie sich 15 Minuten mit ihm unterhalten haben. Manche Kinder, die im sozialen Umgang schüchtern sind, erhalten nie die Chance zu lernen, wie man sich mit anderen unterhält und Freundschaften schließt, sodass sie sich zurückziehen, insbesondere vom jeweils anderen Geschlecht. Zientarskis SquaredanceSchüler können üben, wie man sich unterhält und in einer nicht 42 Eine Fallstudie über körperliche Bewegung und das Gehirn aufgeladenen Atmosphäre miteinander umgeht, ohne in einen Son derkurs für soziale Fertigkeiten ausgesondert oder degradiert zu werden. Der Squaredance-Kurs dient sowohl als Ablenkung als auch als vertrauensbildende Maßnahme. Einige beherrschen die Übung, während andere nur den Teufelskreis ihrer Ängste durchbrechen, da jedoch alle die Übung machen, ist es weniger peinlich. Wenn ich mit Kollegen über die Revolution von Naperville rede und ihnen erzähle, dass die Kinder im Sportunterricht solche sozialen Fertigkeiten lernen, besteht die Reaktion meist aus verblüfftem Schweigen – sie sind beeindruckt, genau, wie ich es war. Bei meiner ganzen Arbeit habe ich sehr viel Zeit darauf verwendet, die Probleme des, wie ich es nenne, sozialen Gehirns zu identifizieren und zu behandeln, und Zientarski hat das perfekte Rezept gefunden, um die heutzutage zunehmende Isolation und Vereinsamung in unserem Leben überwinden zu helfen. Und zwar im Sportunterricht! Durch die Struktur und Gelegenheit, die ihnen gegeben wird, und die Erwartung, die an sie gestellt wird, erinnern sich sozial ängstliche Schüler positiv daran, wie man auf jemanden zugeht, welchen Abstand man zu jemandem zu halten hat und wann man die andere Person reden lässt. Die Übung dient sozusagen als soziales Schmiermittel, und sie ist entscheidend für diese Art des Lernens, da sie Ängste abbaut. Ihr Gehirn wird durch die Bewegung geschärft, und es entstehen Schaltkreise, die jene Erfahrungen aufzeichnen, die am Anfang vielleicht schmerzlich sind, dies jedoch zunehmend weniger sein werden, da diese Erfahrung von allen Schülern im Kurs geteilt wird. Es ist ein intuitiv brillanter Weg, die Kinder aus ihrem Schne ckenhaus zu locken, und zwar in einem entscheidenden Alter, in dem jeder sich gehemmt fühlt. Zientarski steckt sie alle in dasselbe Boot und gibt ihnen das Handwerkszeug und die Unterstützung, um ihr Selbstvertrauen aufzubauen. Durch das Tanzen funktioniert die ganze Lektion. Ich glaube, es sind Angebote wie diese, die erklären, warum so viele Eltern in Naperville berichten, der Sportunterricht sei das Lieblingsfach ihrer Kinder. „Es sind nicht nur die Leibesübungen als solche“, sagt Olfat El-Mallak, Mutter von zwei Töchtern, die von der Madison Highschool zur Central Highschool wechselten, „es 43 Kapitel 1: Willkommen zur Revolution ist noch etwas anderes, was in ihnen geschieht. Es ist fast wie ein Motivationsprogramm. Meine Mädchen glauben an sich. Sie sind beide sehr selbstsicher, und das war am Anfang ganz anders. Es liegt am Sportunterricht im Schulbezirk 203.“ Die frohe Botschaft verbreiten 52 Millionen Kinder, vom Kindergarten bis zur zwölften Klasse, besuchen in den Vereinigten Staaten öffentliche und private Schu len. Kämen sie alle in den Genuss des Sportunterrichts, wie er in Naperville praktiziert wird, wäre unsere nächste Generation gesünder, glücklicher und klüger. Dies ist das ultimative Ziel von PE4life, jener Gruppe, die Lawler engagierte, um anderen Lehrern die Philosophie und Methodologie von „Fitness, nicht Sport“ zu vermitteln. 350 Schulen haben bisher an der Schulung teilgenommen, und viele haben inzwischen ihre eigenen Versionen des Programms eingeführt. Einer der Teilnehmer ist Tim McCord. Er ist der Koordinator für Sportunterricht im Schulbezirk von Titusville, Pennsylvania, einer einst blühenden, aber inzwischen erloschenen Industriestadt von 6.000 Einwohnern, die, in einem hügeligen Landstrich zwischen Pittsburgh und dem Eriesee gelegen, für tot gehalten wurde. Hier wurde 1859 zum ersten Mal auf der Welt erfolgreich nach Öl gebohrt und die erste Ölquelle erschlossen. Aber das Öl kam und ging und mit ihm die Wirtschaft: Das Durchschnittseinkommen liegt heute bei 25.000 US-Dollar jährlich; 16 Prozent der Bevölkerung von Titusville leben unterhalb der Armutsgrenze, und vor einigen Jahren erhielten rund 75 Prozent der Kinder, die einen Kindergarten besuchten, staatliche Zuschüsse für das Mittagessen. Es ist keine wohlhabende Gegend. 1999 besuchte McCord Naperville und verwandelte nach seiner Rückkehr fast über Nacht den Sportunterricht in Titusville. Die 2.600 Schüler des Bezirks besuchen eine Highschool, eine Mittelschule, vier Grundschulen und in eine Vorschule. Titusville richtete in den höheren Schulen Fitnesscenter ein, kaufte Pulsuhren 44 Eine Fallstudie über körperliche Bewegung und das Gehirn und überzeugte das örtliche Krankenhaus davon, die Finanzierung der TriFit-Diagnostik zu unterstützen. Sogar der Schultag wurde umstrukturiert, wobei der Stundenplan zusätzlich um zehn Minuten verlängert und die theoretischen Schulfächer leicht gekürzt wurde, um Zeit für eine tägliche Sportstunde zu gewinnen. „Es hat uns keinen Cent gekostet, das zu machen“, sagt McCord, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass dies auf Vorschlag eines Verwaltungsbeamten veranlasst wurde. „Und es ist ein gewaltiger Fortschritt, nicht zuletzt auch bezüglich der gesetzlichen Vorgabe, wonach kein Kind zurückbleiben soll – wobei alle anderen derzeit genau in die andere Richtung gehen.“ Jetzt gibt es an den höheren Schulen in Titusville Kletterwände, und die Turnhallen sind voll mit den neuesten Trainingsgeräten, die den jüngsten technologischen Errungenschaften entsprechen, und die meisten davon sind gespendet. Der Cybex Trazer, zum Beispiel, ist ein brandneues Gerät, das wie eine aufrecht stehende Computerstation aussieht, an dem Schüler aufblitzende Lichter jagen. Es gibt auch Fahrradtrainer, auf denen Kinder dank Video bildschirmen miteinander um die Wette fahren oder Strecken der Tour de France nachfahren und mit virtuellen Lance Armstrongs konkurrieren können. McCord hat die Fitnesscenter der Schulen auch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und sie für Mitglieder anderer Fitness-Klubs geöffnet. In den Schulen hat er Lehrer anderer Fächer animiert, ebenfalls mitzumachen: Englischschüler nutzen die Pulsuhren jetzt beim öffentlichen Sprechen, und die Mathematikschüler nutzen die Daten, um zu lernen, wie man etwas grafisch darstellt. Seit Beginn des Programms im Jahr 2000 sind die Ergebnisse der Schüler in Titusville in den Standardtests von einem unterdurch schnittlichen bundesstaatlichen Niveau im Lesen auf 17 Prozent über dem Durchschnitt und in Mathematik auf 18 Prozent über dem Durchschnitt gestiegen. Gleichermaßen wichtig sind die psychosozialen Effekte, die McCord aufgefallen sind: keine einzige Schlägerei unter den 550 Kindern der Junior Highschool seit dem Jahr 2000. Die Selbsthilfe-Initiative des Bezirks hat zu Besuchen von staatlichen Vertretern und sogar des Präsidenten der Zentren für Gesundheitskontrolle geführt. Bei einem dieser Besuche, bei denen 45 Kapitel 1: Willkommen zur Revolution das Projekt vorgeführt und erklärt wird, bemerkte McCord, als er gerade eine Gruppe hinter der Kletterwand der Junior Highschool vorbeiführte, dass ein Mädchen namens Stephanie auf halber Höhe stecken geblieben war. Ein etwas korpulentes Mädchen, das eher zu denjenigen gehörte, die als Bücherwurm galten. Jetzt befand sie sich auf dem Präsentierteller, alle konnten zusehen, wie sie versagte. Als ihre Klassenkameraden jedoch bemerkten, wie sie zu kämpfen hatte, begannen sie, sie anzufeuern: „Los, Stephanie, du schaffst es!“ Sie schaffte es tatsächlich, nach oben zu kommen, und McCord sprach später mit ihr. „Sie fing an zu weinen, und konnte nicht glauben, dass die anderen Kinder sie anfeuerten“, erinnert sich McCord. „Sie sagte, es half ihr dabei, sich buchstäblich hochzuziehen.“ Die Nachricht über die weit reichenden Auswirkungen von Sport bei Schülern verbreitet sich auch in anderen offiziellen staatlichen Kreisen. Senator Tom Harkin aus Iowa hielt vor Kurzem Anhörungen zur Wiedereinführung des Sportunterrichts an Schulen ab, und zwar aufgrund von Meldungen, wonach eine PE4Life-Schule in einer Innenstadt ihre Disziplinprobleme um 67 Prozent reduziert hatte. An der Woodland-Grundschule in Kansas City, Missouri, erhalten fast alle Schüler staatliche Zuschüsse zum Mittagessen. 2005 erweiterten die Sportlehrer den Sportunterricht von einer Stunde pro Woche auf 45 Minuten am Tag, wobei sie sich fast ausschließlich auf Herz-Kreislauf-Aktivitäten konzentrierten. Innerhalb von nur einem Schuljahr verbesserte sich das körperliche Fitnessniveau der Schüler enorm, und die Beiräte berichteten, dass Vorfälle, bei denen Gewalt im Spiel gewesen sei, an der Woodland-Schule von 228 auf 95 im Jahr zurückgegangen waren. Bei einer Schule im Innenstadtbereich ist ein derart schneller Wandel bemerkenswert, genauso wie das Aufblühen in einer wirtschaftlich so geschwächten Stadt wie Titusville. Leute wie McCord kümmern sich um die Stephanies dieser Welt statt nur um das Foot ball-Team. Und in dem Zuge, wie die Schulkinder erwachsen werden, wird es ein größerer Prozentsatz sein, der weiterhin etwas für seine Bewegung tut und aktiv ist. Sie werden sich weiterhin ihr Kajak oder Fahrrad schnappen, statt sich hinter ihrem Gameboy zu verkriechen, und ihr Geist und ihre Stimmung werden entsprechend geschärft sein. 46 Eine Fallstudie über körperliche Bewegung und das Gehirn Revolutionen bauen auf die Jugend. Aber wie wir bei Lawler, Zien tarski und McCord gesehen haben, können auch Erwachsene eine wesentliche Wende herbeiführen und erkennen, wie körperliche Aktivität das Gehirn beeinflusst. Wenn Titusville den Funken finden und entzünden konnte, dann können wir alle dies auch. Meine Hoffnung ist, dass wir diese Beispiele als neues kulturelles Modell nutzen und am Ende die Verbindung zwischen Körper und Gehirn wieder herstellen können. Denn beides gehört zusammen, wie Sie gleich sehen werden. 47 2. Lernen Das Wachstum Ihrer Gehirnzellen fördern W enn die Schüler in Titusville oder Naperville im Sport unterricht ihre Meile laufen, sind sie anschließend in den anderen Unterrichtsfächern aufnahmebereiter und können besser lernen: Ihre Sinne sind geschärft; ihr Konzentrationsvermögen und ihre Stimmung sind besser; sie sind weniger unruhig, zappelig und angespannt, und sie fühlen sich motivierter und stärker. Das Gleiche gilt für Erwachsene in der Schule des Lebens. Das, was uns ermöglicht, all die Informationen und Dinge aufzunehmen, die auf uns einströmen, ist genau der Punkt, an dem die revolutionäre neue Wissenschaft ins Spiel kommt. Körperliche Bewegung oder Sport fördern nicht nur unsere geistige und psychische Verfassung, sondern haben auch direkten Einfluss auf das Lernen, und zwar auf der zellularen Ebene, indem sie das Potenzial des Gehirns verbessern, Dinge aufzunehmen und neue Informationen zu verarbeiten. Darwin lehrte uns, das Lernen der Überlebensmechanismus ist, den wir nutzen, um uns der sich ständig verändernden Umwelt anzupassen. In der Mikroumwelt des Gehirns bedeutet dies, dass neue Verbindungen zwischen den Zellen hergestellt werden müssen, um Informationen weiterzuleiten. Wenn wir etwas lernen, egal, ob es ein französisches Wort oder ein Salsaschritt ist, verwandeln sich Zellen, um diese Informationen zu verschlüsseln; die gespeicherten 49 Kapitel 2: Lernen Daten werden ein physischer Teil des Gehirns. Als Theorie gibt es diese Idee schon seit mehr als einem Jahrhundert, praktisch bestätigt im Labor wurde sie jedoch erst kürzlich. Was wir inzwischen wissen, ist, dass das Gehirn flexibel oder plastisch ist, wie Neurowissenschaftler es formulieren – eher vergleichbar mit Knete als mit Porzellan. Es ist ein anpassungsfähiges Organ, das durch Input ebenso geformt werden kann, wie ein Muskel durch Hanteltraining. Je mehr Sie dieses Organ oder den Muskel benutzen, desto stärker und flexibler wird das Organ bzw. der Muskel. Das Konzept der Plastizität ist von grundlegender Bedeutung, um zu verstehen, wie das Gehirn funktioniert und wie körperliche Bewegung die Gehirnfunktion optimiert, indem sie diese Plastizität unterstützt. Alles, was wir tun, denken und fühlen, wird dadurch gesteuert, wie unsere Gehirnzellen oder Neuronen sich miteinander verbinden. Was die meisten Menschen sich als psychologischen Hintergrund vorstellen, wurzelt in Wahrheit in der Biologie dieser Verbindungen. Ebenso werden unsere Gedanken und unser Verhalten und unsere Umwelt auf unsere Neuronen reflektiert und beeinflussen damit das Muster der Verbindungen. Entgegen den ursprünglichen Vorstellungen der Wissenschaftler ist das Gehirn alles andere als fest verdrahtet, es verdrahtet sich vielmehr ständig neu. Ich möchte Ihnen im Folgenden zeigen, wie Sie Ihr eigener „Elektriker“ sein können. Das Medium ist der Botschafter Das Ganze ist eine Frage der Kommunikation. Das Gehirn besteht aus einhundert Milliarden Neuronen verschiedenster Art, die mittels Hunderter verschiedener Chemikalien miteinander kommunizieren, um jeden unserer Gedanken und jede unsere Handlungen zu steuern. Jede Gehirnzelle könnte von einhunderttausend anderen Zellen einen Input erhalten, bevor sie ihr eigenes Signal abfeuert. Die Verbindungsstelle zwischen den Zellen ist die Synapse, und das ist der Punkt, auf den es ankommt. Synapsen berühren sich in 50 Das Wachstum Ihrer Gehirnzellen fördern Wirklichkeit nicht, was etwas irritierend ist, da Neurowissenschaftler davon sprechen, dass Synapsen sich „miteinander verschalten“, wenn sie eine Verbindung herstellen. Es funktioniert so, dass ein elektrisches Signal durch das Axon läuft, den Fortsatz der Nervenzelle, bis es die Synapse erreicht, wo ein Neurotransmitter die Botschaft in chemischer Form aufnimmt und über den sogenannten synaptischen Spalt übermittelt. Auf der anderen Seite, am Dendrit bzw. an der empfangenden Verästelung, bindet der Neurotransmitter sich an einen Rezeptor – wie ein Schlüssel in einem Schloss –, sodass Ionenkanäle in der Zellmembran geöffnet werden und das Signal wiederum in Elektrizität umgewandelt wird. Übersteigt die elektrische Ladung einen bestimmten Schwellenwert, feuert die Nervenzelle ein Signal durch ihr eigenes Axon, und der ganze Prozess wiederholt sich. Rund 80 Prozent der Signalübertragung im Gehirn erfolgt durch zwei Neurotransmitter, die ihre Effekte gegenseitig im Gleichgew icht halten: Glutamat regt die Aktivität an, mit der die Kaskade der Sig nalübertragung ausgelöst wird, und Gamma-Aminobuttersäure (GABA) hemmt die Aktivität. Wenn Glutamat ein Signal zwischen zwei Neuronen überträgt, die vorher noch nicht miteinander „gesprochen“ haben, wird durch diese Aktivität eine Verbindung angekurbelt. Je häufiger die Verbindung aktiviert wird, desto stärker wird die Anziehungsk raft. Das ist es, was Neurowissenschaftler meinen, wenn sie über Bindung sprechen. Neuronen, die zusammen feuern, verschalten sich miteinander. Das heißt, dass Glutamat ein wichtiger Wirkstoff im Zusammenhang mit dem Lernen ist. Glutamat ist ein Arbeitspferd, wobei die Psychiatrie sich jedoch mehr auf eine Gruppe von regulierenden Neurotransmittern konzentriert, die den Signalübertragungsprozess und alles andere, was das Gehirn tut, steuern. Dabei handelt es sich um Serotonin, Noradrenalin und Dopamin. Und obwohl die Neuronen, die diese Neurotransmitter produzieren, nur ein Prozent der einhundert Milliarden Zellen des Gehirns ausmachen, üben sie einen starken Einfluss aus. Sie können ein Neuron anweisen, mehr Glutamat zu produzieren, oder dafür sorgen, dass das Neuron effizienter ist, oder die Sensitivität seiner Rezeptoren verändern. Sie können andere Signale überschreiben, die in der Synapse ankommen, und 51 Kapitel 2: Lernen somit das „Rauschen“ im Gehirn reduzieren, oder umgekehrt diese Signale verstärken. Wie Glutamat und GABA können sie Signale direkt übertragen, ihre Hauptrolle besteht jedoch darin, den Fluss an Informationen anzupassen, um die Neurochemikalien im Sinne einer Feinabstimmung insgesamt im Gleichgewicht zu halten. Serotonin, wovon Sie in späteren Kapiteln noch sehr viel mehr lesen werden, wird oft als die Polizei des Gehirns bezeichnet, da es hilft, die Hirnaktivität unter Kontrolle zu halten. Serotonin hat Einfluss auf die Stimmung, auf Impulsivität, Wut und Aggressivität. Wir verwenden serotoninhaltige Medikamente wie Fluoxetin (bekannt unter dem Markennamen Prozac in den USA bzw. als Fluctin in Deutschland), da sie helfen, eine außer Kontrolle geratene Hirn aktivität zu modifizieren, die zu Depression, Ängsten und Zwangs störungen führen können. Noradrenalin, der erste Neurotransmitter, der von Wissenschaft lern untersucht wurde, um Stimmungen zu verstehen, verstärkt vielfach Signale, die Einfluss auf die Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Motivation und Aktivierung haben. Dopamin, der Neurotransmitter, der mit Lernen, Belohnung (Be friedigung), Aufmerksamkeit und Bewegung assoziiert wird, übernimmt in verschiedenen Teilen des Gehirns manchmal widersprüch liche Rollen. Methylphenidat (bekannt als Ritalin) hat durch die Erhöhung des Dopaminspiegels einen lindernden Effekt auf das Auf merksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS), da der Geist beruhigt wird. Die meisten Medikamente, die wir zur Verbesserung der geistigen und psychischen Gesundheit verwenden, zielen auf einen oder mehrere dieser Neurotransmitter ab. Ich hoffe jedoch, überdeutlich klarzustellen, dass durch einfaches Erhöhen oder Senken des Spiegels eines Neurotransmitters kein klares Ergebnis im Verhältnis 1:1 erzielt wird, da das System so komplex ist. Durch die einfache Manipulation eines Neurotransmitters entsteht ein wellenförmiger Effekt, der in unterschiedlichen Gehirnen unterschiedliche Wege geht und somit individuell unterschiedliche Auswirkungen hat. Ich sage den Leuten: Joggen zu gehen, ist vergleichbar mit der Einnahme einer geringen Dosis Prozac und Ritalin, da diese Neuro transmitter durch die sportliche Betätigung genauso erhöht werden 52 Das Wachstum Ihrer Gehirnzellen fördern wie durch die Medikamente. Es ist eine griffige Metapher, um den Punkt zu verdeutlichen, auf den es ankommt. Wichtiger ist jedoch noch, dass die sportliche Betätigung für ein Gleichgewicht der Neurotransmitter – und der übrigen Neurochemikalien im Gehirn – sorgt. Und Ihr Gehirn im Gleichgew icht zu halten, kann Ihr Leben verändern, wie Sie noch sehen werden. Lernen heißt Wachsen Als Neurowissenschaftler in den 1990ern anfingen, den zellularen Mechanismus des Gedächtnisses zu analysieren, geriet BDNF in den Mittelpunkt eines ganzen neuen Forschungsfeldes. Vor 1990, dem Jahr, in dem Wissenschaftler entdeckten, dass BDNF im Gehirn vorkommt und Neuronen wie Dünger nährt, waren rund ein Dutzend Papiere über BDNF veröffentlicht worden. Danach stürzten sich „tsunamiartig Labors und Pharmaunternehmen“ darauf, sagt Eero Castrén, ein Neurow issenschaftler, der am Karolinska-Institut in Schweden an den frühen Arbeiten über BDNF beteiligt war. Heute findet man in der Forschungsliteratur mehr als 5.400 Papiere über BDNF. Sobald klar war, dass BDNF im Hippocampus vorkommt, einer Hirnregion, die mit dem Erinnerungs- und Lernvermögen verbunden ist, machten Forscher sich daran zu testen, ob BDNF ein notwendiger Wirkstoff im Rahmen des Prozesses ist. Lernen setzt eine Stärkung der Affinität zwischen Neuronen durch einen dynamischen Mechanismus voraus, die sogenannte LangzeitPotenzierung (LTP). Wenn vom Gehirn verlangt wird, Informationen aufzunehmen, führt diese Forderung natürlich zu Aktivitäten zwischen Neuronen. Je mehr Aktivität, desto stärker die Anziehungskraft, und desto einfacher kann das Signal gefeuert und die Verbindung hergestellt werden. Die ursprüngliche, auslösende Aktivität greift auf vorhandene Glutamatbestände im Axon zurück, die über die Synapse gesendet werden, und konfiguriert die Rezeptoren auf der empfangenden Seite neu, sodass diese das Signal annehmen. Die Spannung auf der empfangenden Seite der Synapse wird im Ruhezustand stärker, wodurch das Glutamatsignal wie ein Magnet angezogen wird. Hält 53 Kapitel 2: Lernen das Feuern an, werden die Gene im Zellkern des Neurons eingeschaltet, um mehr „Baumaterial“ für die Synapsen zu produzieren. Und diese Verstärkung der Infrastruktur ermöglicht es, dass die neuen Informationen als Erinnerung haften bleiben. Sagen wir, Sie lernen ein französisches Wort. Wenn Sie es zum ersten Mal hören, feuern Nervenzellen, die für einen neuen Schaltkreis rekrutiert wurden, ein Glutamatsignal untereinander ab. Sofern Sie das Wort nie wieder gebrauchen und üben, schwindet die Anziehungskraft zwischen den beteiligten Synapsen natürlich, wodurch das Signal geschwächt wird. Sie vergessen es. Was Gedächtnisforscher erstaunte – und dazu beitrug, dass Eric Kandel, Neurowissenschaftler an der Columbia University, zusammen mit anderen der Nobelpreis 2000 verliehen wurde, – war die Entdeckung, dass die wiederholte Aktivierung oder Übung dazu führt, dass die Synapsen wachsen und die Verbindungen stärker werden. Ein Neuron ist wie ein Baum, der anstelle von Blättern Synapsen an seinen dendritischen Verästelungen hat; schließlich wachsen neue Verästelungen, mit denen noch mehr Synapsen entstehen, welche die Verbindungen weiter festigen. Diese Veränderungen sind eine Form der zellularen Anpassung, die als synaptische Plastizität bezeichnet wird, und dabei steht BDNF im Mittelpunkt. Die Forscher entdeckten bereits früh, dass Neuronen, die in einer Laborschale mit BDNF besprenkelt wurden, automatisch neue Ver ästelungen hervorbrachten und genau das strukturelle Wachstum produzierten, das für das Lernen erforderlich ist, sodass ich BDNF am Ende für eine Art „Wunderdünger“ für das Gehirn hielt. BDNF bindet sich auch an Rezeptoren an der Synapse und setzt dabei den Fluss von Ionen frei, was zu einer Erhöhung der Spannung und einer sofortigen Verbesserung der Signalstärke führt. Im Inneren der Zelle aktiviert BDNF Gene, welche die Produktion von mehr BDNF und Serotonin sowie Proteinen verlangen, aus denen die Synapsen aufgebaut werden. BDNF lenkt sozusagen den Verkehr und baut auch die Straßen. Insgesamt verbessert BDNF die Funktion von Neuronen, fördert ihr Wachstum und stärkt und schützt sie gegen den natürlichen Prozess des Zelltodes. Und BDNF ist – wie ich in diesem Buch zu verdeutlichen hoffe –, ein entscheidendes biologisches Bindeglied zwischen Gedanken, Emotionen und Bewegung. 54 Das Wachstum Ihrer Gehirnzellen fördern Die Verbindung von Geist und Körper Nur ein bewegliches, mobiles Wesen braucht ein Gehirn, erklärt der Neurophysiologe Rodolfo Llinás von der New York University in seinem 2002 erschienenen Buch I of the Vortex: From Neurons to Self. Um dies zu veranschaulichen, nutzt er das Beispiel eines winzigen quallenähnlichen Tieres, die sogenannte Seescheide: Die Larve kommt mit einem einfachen Rückenmark und einem aus dreihundert Neuronen bestehenden „Gehirn“ zur Welt und schwimmt in den Tiefen des Meeres herum, bis sie eine nette Koralle findet, auf der sie sich niederlassen und sozusagen Wurzeln schlagen kann. Dafür hat sie etwa zwölf Stunden Zeit, sonst stirbt sie. Sobald sie sich sicher niedergelassen hat, isst die Seescheide jedoch einfach ihr Gehirn. Den Großteil ihres Lebens ähnelt sie mehr einer Pflanze als einem Tier, und da sie sich nicht bewegt, hat sie auch keine Verwendung für ihr Gehirn. Llinás’ Interpretation: „Was wir Denken nennen, ist die evolutionäre Internalisierung von Bewegung.“ Mit der Evolution unserer Spezies haben sich unsere physischen Fertigkeiten in abstrakte Fertigkeiten entwickelt, wir haben gelernt Dinge vorherzusagen, Abläufe oder Reihenfolgen festzulegen, zu schätzen, zu planen, zu proben, uns selbst zu beobachten, zu beurteilen, Fehler zu korrigieren, Taktiken zu ändern, und uns an alles, was wir gemacht haben, zu erinnern, um zu überleben. Die Schaltkreise des Gehirns, die unsere frühen Vorfahren nutzten, um Signale zu feuern, waren die gleichen, die wir heute nutzen, um Französisch zu lernen. Nehmen wir einmal das Kleinhirn (Zerebellum), das motorische Bewegungen koordiniert und es uns ermöglicht, alles Mögliche zu tun, angefangen vom Zurückschlagen eines ankommenden Tennisballs bis hin zum Widerstand, den wir gegen den Sog der Anziehungskraft leisten. Dem Nachweis zufolge, dass der Stamm von Nervenzellen, die das Kleinhirn mit dem präfrontalen Cortex verbinden, bei Menschen proportional dicker ist als bei Affen, sieht es jetzt so aus, als ob dieses motorische Zentrum auch Gedanken, 55 Kapitel 2: Lernen Aufmerksamkeit, Emotionen und sogar soziale Fertigkeiten koordiniert. Ich bezeichne es gerne als das Rhythm & Blues-Zentrum. Wenn wir uns körperlich betätigen, insbesondere wenn diese körperliche Betätigung komplexe motorische Bewegungen verlangt, aktivieren wir auch die Regionen des Gehirns, die bei dem ganzen Spektrum der kognitiven Funktionen involviert sind. Wir veranlassen das Gehirn dann, Signale durch das Netz von Zellen zu feuern, was ihre Verbindungen festigt. Wenn wir etwas lernen, wird eine ganze Reihe von Hirnregionen aktiviert, die miteinander verbunden sind. Der Hippocampus macht nicht viel ohne die Aufsicht des präfrontalen Cortex. Man könnte auch sagen, der präfrontale Cortex organisiert Aktivitäten, sowohl psychische als auch physische, empfängt Input und gibt durch das am weitesten reichende Netz von Verbindungen im Gehirn Anweisungen heraus. Der präfrontale Cortex ist der Boss. Als solcher ist er unter anderem dafür zuständig, unsere gegenwärtige Situation durch das sogenannte Kurzzeitgedächtnis zu kontrollieren, Reize zu hemmen und Handlungen zu initiieren, zu beurteilen, zu planen und vorherzusagen – das heißt, er ist verantwortlich für alle exekutiven Funktionen. Als Generaldirektor des Gehirns muss der präfrontale Cortex in engem Kontakt mit dem leitenden Geschäftsführer – dem motorischen Cortex – sowie vielen anderen Regionen bleiben. Der Hippocampus ist so etwas wie der Kartograf, der neuen Input vom Kurzzeitgedächtnis erhält, diese Informationen mit bereits vorhandenen Erinnerungen sowohl zu Vergleichszwecken abgleicht als auch, um neue Assoziationen herzustellen, und das Ergebnis dem Boss berichtet. Nach Überzeugung von Wissenschaftlern handelt es sich beim Gedächtnis um eine Sammlung von Informations fragmenten, die im ganzen Gehirn verstreut sind. Der Hippocampus dient als Streckenstation, welche die Fragmente vom Cortex empfängt, diese bündelt und als Karte mit einem einmaligen neuen Muster von Verbindungen wieder zurücksendet. Aufnahmen des Gehirns zeigen, dass der präfrontale Cortex aufleuchtet, wenn wir zum Beispiel ein neues Wort lernen, ein Zeichen, dass er aktiv ist (ebenso wie der Hippocampus und andere dazugehörigen Regionen wie beispielsweise der auditive Cortex, die 56 Das Wachstum Ihrer Gehirnzellen fördern sogenannte Hörrinde. Sobald der Schaltkreis durch das Feuern des Glutamats eingerichtet und das Wort gelernt worden ist, wird der präfrontale Cortex dunkel. Er hat die Anfangsphasen des Projektes überwacht, und jetzt kann er die Verantwortung sozusagen einem Team fähiger Mitarbeiter überlassen, derweil er sich neuen Herausforderungen zuwendet. So kommt es, dass wir Dinge wissen und dass Aktivitäten wie Radfahren uns zur zweiten Natur werden. Denk- und Bewegungs muster, die automatisch sind, werden in den Basalganglien, im Kleinhirn und im Hirnstamm gespeichert – in primitiven Hirn regionen, von denen Wissenschaftler bis vor Kurzem annahmen, dass sie nur mit der Bewegung zu tun hätten. Wenn grundlegendes Wissen und grundlegende Fertigkeiten an diese unterbewussten Regionen übertragen und delegiert werden, steht es dem Rest des Gehirns frei, sich der weiteren Anpassung zu widmen, was eine wichtige Regelung im Sinne der Rollenverteilung ist. Stellen Sie sich vor, wie es wäre, wenn wir innehalten und erst nachdenken müssten, um einen Gedanken zu verarbeiten und um uns in Erinnerung zu rufen, wie eine Handlung auszuführen ist. Wir würden vor Erschöpfung zusammenbrechen, bevor wir uns auch nur unsere erste Tasse Kaffee am Morgen eingießen könnten. Deshalb ist ein morgendlicher Lauf so wichtig. Der erste Funke Bei der Recherche für mein Buch Das menschliche Gehirn stieß ich 1995 in der Zeitschrift Nature auf einen kurzen Artikel, der sich mit körperlicher Bewegung und BDNF bei Mäusen befasste. Der Artikel bestand kaum mehr als aus einer Textspalte, aber sie sagte alles aus. Nämlich, dass körperliche Bewegung oder Sport den Spiegel des „Wunderdüngers“ im ganzen Gehirn erhöht. „Ich erwartete, dass sich große Veränderungen in den motorischsensorischen Regionen des Gehirns einstellen würden – im motorischen Cortex, Kleinhirn, sensorischen Cortex, vielleicht sogar in den Basalganglien –, weil sie alle an der Bewegung beteiligt sind“, 57 Kapitel 2: Lernen erinnert sich Carl Cotman, Direktor des Institute for Brain Aging and Dementia (zu Deutsch etwa: Gehirnalterung und Demenz) an der University of California in Irvine, der die Studie entworfen hat. „Wir entwickelten die ersten Filme und konnten es kaum glauben, alles konzentrierte sich auf den Hippocampus. Nun, das ist deswegen von besonderer Bedeutung, da der Hippocampus eine Region des Gehirns ist, die extrem anfällig für degenerative Krankheiten ist und die für das Lernen benötigt wird. Spontan sagte ich: ‘Das ändert das ganze Spiel.’“ Diese Nachricht kam für mich völlig unerwartet. Seit Jahren hatte ich mich zwar für körperliche Bewegung oder Sport bei ADHS und vielen anderen psychischen Problemen auf der Grundlage dessen ausgesprochen, was ich bei meinen eigenen Patienten erlebt hatte und was ich über die Auswirkungen von körperlicher Bewegung auf Neurotransmitter wusste. Dies hier war jedoch etwas anderes. Indem aufgezeigt wurde, dass körperliche Bewegung das Meistermolekül des Lernprozesses zündet, hatte Cotman einen direkten biologischen Zusammenhang zwischen Bewegung und kognitiver Funktion hergestellt. Damit hatte er den Weg für die wissenschaftliche Untersuchung körperlicher Bewegung in den Neurowissenschaften freigemacht. Cotman führte dieses Experiment durch, nicht lange, nachdem BDNF im Gehirn entdeckt worden war, und nichts ließ darauf schließen, dass körperliche Bewegung irgendetwas damit zu tun hätte; seine Hypothese war ein Akt reiner Kreativität. Er hatte gerade die Arbeit an einer Langzeitstudie über das Altern abgeschlossen, mit der untersucht werden sollte, ob diejenigen, deren Geist am längsten intakt bleibt, irgendetwas gemeinsam haben. Bei denjenigen, bei denen über einen Zeitraum von vier Jahren der geringste Rückgang im Rahmen der kognitiven Fähigkeiten festzustellen war, kristallisierten sich drei Faktoren heraus: Bildung, Selbstvertrauen und körperliche Bewegung. Die ersten beiden überraschten nicht so sehr, der letzte Punkt machte Cotman jedoch besonders neugierig. „Ich fragte mich, was da wirklich vor sich ging“, sagt er. „Es wurde allgemein angenommen, dass körperliche Bewegung keinen Einfluss auf das Gehirn hat, meine Ergebnisse zeigten jedoch, dass es irgendwie mit dem Gehirn zusammenhängen musste.“ 58 Das Wachstum Ihrer Gehirnzellen fördern Hätte man gefragt, welche Variable der Gehirngesundheit insgesamt zugrunde liegt, hätten die meisten Wissenschaftler gleichzeitig gesagt, es seien neurotrophe (auf Nerven einwirkende) Faktoren, weil sie damals „irgendwie in“ waren, sagt Cotman, und jeder wusste, dass BDNF den Neuronen half, in-vitro zu überleben. Es war ein gewisser Sprung, aber wenn es Cotman gelang, die Verbindung zwischen körperlicher Bewegung und BDNF herzustellen, hatte er zumindest eine plausible Erk lärung dafür, warum BDNF in der Studie über das Altern auftauchte. Er baute einen Versuch auf, um den Spiegel von BDNF im Gehirn von Mäusen zu messen, die sich körperlich betätigen. Wichtig war, dass sie sich freiwillig körperlich betätigten, denn hätte er die Mäuse gezwungen, in Tretmühlen zu laufen, dann, so seine Befürchtung, hätten seine Kollegen sagen können, der Effekt sei auf den so verursachten Stress zurückzuführen. Kein Problem: Er nutzte Laufräder. Wie neu dieses Terrain war, mag allein schon die Tatsache zeigen, dass es gar nicht so einfach war, Geräte für Nagetiere zu finden, die zur Nutzung im Labor von der Universität genehmigt wurden – Cotman musste 1.000 US-Dollar für jedes der Edelstahllaufräder zahlen, das den Anforderungen des Protokolls entsprach. „Ich erinnere mich noch, wie ich die Bestellung unterschrieben und gedacht habe: Das tut weh. Ich hoffe nur, dass es jetzt wenigstens funktioniert“, bemerkt er scherzhaft. Hinzu kam, dass keiner seiner promovierten wissenschaftlichen Mitarbeiter etwas mit diesem Forschungsprojekt zu tun haben wollte, und er musste lange unter seinen Studenten im Aufbaustudium suchen, bis er einen fand, der im Hauptfach Physiotherapie studierte und dem die Idee gefiel. Im Unterschied zu Menschen scheinen Nagetiere von Natur aus Spaß an körperlicher Aktivität zu haben. Cotmans Mäuse liefen mehrere Kilometer pro Nacht. Sie wurden in vier Gruppen unterteilt: Mäuse, die zwei, vier oder sieben Nächte liefen, und eine Kon trollgruppe, die kein Laufrad hatte. Als in ihr Gehirn ein Molekül injiziert wurde, das sich an BDNF anbindet, zeigten die Aufnahmen der Gehirne der lauffreudigen Nagetiere nicht nur eine Erhöhung des BDNF-Spiegels gegenüber der Kontrollgruppe, sondern auch, dass der Spiegel sich noch erhöhte, je weiter eine Maus lief. Als Cotman die Ergebnisse sah, glaubte er es selbst nicht: Sie zeigten, dass der Impuls 59 Kapitel 2: Lernen im Hippocampus stattfand. „Ich sagte: ‘Nein, Jungs, wir haben etwas falsch gemacht; der verdammte Hippocampus leuchtet auf.’ Wir mussten das Experiment wiederholen, es war einfach zu abwegig. Und das machten wir dann, und wir bekamen die gleichen Ergebnisse.“ Da die Geschichten von BDNF und körperlicher Bewegung sich parallel entwickelten, wurde klar, dass BDNF nicht nur für das Überleben von Neuronen, sondern auch für ihr Wachstum wichtig war (indem BDNF neue Verästelungen wachsen ließ) und somit für das Lernen. Eero Castrén und Susan Patterson vom Kandel-Labor an der Columbia University stellten fest, dass der BDNF-Spiegel sich erhöhte, wenn man bei Mäusen die Langzeit-Potenzierung (LPT) stimulierte, indem man sie etwas lernen ließ. Als sie in ihr Gehirn schauten, stellten die Forscher fest, dass Mäuse ohne BDNF ihre Fähigkeit für LPT verlieren, und umgekehrt wurde die LangzeitPotenzierung (LPT) unterstützt, wenn man den Ratten BDNF direkt ins Gehirn injizierte. Dann wies der Neurochirurg Fernando Gomez-Pinilla, einer von Cotmans ehemaligen promovierten wissenschaftlichen Mitarbeitern, nach, dass Mäuse, in deren Gehirn BDNF neutralisiert wurde, nur langsam ihren Weg auf sicheres Terrain aus einem Pool fanden, in dem man eine Plattform versteckt hatte. All dies summiert sich zu dem soliden Nachweis, wie körperliche Bewegung dem Gehirn beim Lernen hilft. „Eines der herausragendsten Merkmale von körperlicher Bewe gung, das in Studien manchmal nicht gewürdigt wird, ist eine Ver besserung der Geschwindigkeit des Lernens, und ich denke, das ist wirklich eine tolle Nachricht“, sagt Cotman. „Denn sie legt den Schluss nahe, dass man, wenn man in guter Verfassung ist, effizienter lernen und funktionieren kann.“ Deutsche Forscher stellten 2007 bei einer Studie mit Menschen fest, dass Personen nach sportlicher Betätigung Vokabeln 20 Prozent schneller lernen als vorher, und dass ein direkter Zusammenhang zwischen der Geschwindigkeit des Lernens und dem BDNF-Spiegel bestand. Entsprechend ist es bei Personen, bei denen eine genetische Variation vorliegt, die ihnen BDNF vorenthält, wahrscheinlicher, dass sie unter Lerndefiziten leiden. Ohne den „Wunderdünger“ schottet sich das Gehirn von der Welt ab. 60 Das Wachstum Ihrer Gehirnzellen fördern Widerwillig hat die Psychiatrie die Idee akzeptiert, dass sportliche Betätigung bei der Verbesserung unserer geistigen und psychischen Verfassung hilfreich sein könnte, indem eine fürs Lernen förderliche Umwelt geschaffen wird. Cotmans Arbeit hat jedoch die Grundlage für den Nachweis geliefert, dass körperliche Bewegung die zellulare Maschinerie des Lernens stärkt. BDNF liefert den Synapsen das Werkzeug, das sie benötigen, um Informationen aufzunehmen, sie zu verarbeiten, zu assoziieren, zu erinnern und in einen Zusammenhang zu stellen. Was nicht heißen soll, dass gleich ein Genie aus Ihnen wird, wenn Sie joggen gehen. „Man kann nicht einfach BDNF injizieren und dann klüger sein“, erklärt Cotman. „Beim Lernen geht es darum, dass man in einer anderen Weise auf etwas reagieren muss. Aber dieses Etwas muss da sein.“ Und was dieses Etwas ist, ist ohne jede Frage entscheidend. Die Art der Umwelt All die Jahre gingen Wissenschaftler von der Theorie aus, dass Ler nen mit Veränderungen an den Synapsen verbunden sei – angefangen von Ramón y Cajal, der 1906 den Nobelpreis für die These erhielt, das zentrale Nervensystem bestehe aus einzelnen Neuronen, die an, wie er es nannte, polarisierten Verbindungen miteinander kommunizieren. Trotz der hohen Auszeichnung teilten die meisten Wissenschaftler diese Auffassung nicht. Erst 1945 stieß Donald Hebb, ein Psychologe an der McGill Uni versit y, auf einen Hinweis, der die These belegen sollte. In jenen Tagen waren die Laborregeln noch ziemlich locker. Jedenfalls hielt Hebb es offensichtlich für eine gute Idee, einige Laborratten vorübergehend als Haustiere für seine Kinder mit nach Hause zu nehmen. Die Idee erwies sich für beide Seite als nützlich: Als er die Ratten wieder ins Labor zurückbrachte, stellte Hebb fest, dass sie im Vergleich zu ihren Artgenossen, die die ganze Zeit in ihren Käfigen gefangen gehalten worden waren, ausgezeichnet bei Lerntests abschnitten. Die neue Erfahrung, dass sich jemand mit ihnen beschäftigte und spielte, hatte ihre Lernfähigkeit verbessert, und das interpretierte Hebb 61 Kapitel 2: Lernen so, dass dies ihr Gehirn verändert hatte. In seinem viel gepriesenen Lehrbuch The Organization of Behaviour: A Neuropsychological Theory beschrieb er das Phänomen als „gebrauchsabhängige Plas tizität“. Seine Theorie war, dass Synapsen sich unter dem Einfluss der Stimulation des Lernens selbst neu anordnen. Hebbs Arbeit ist in Zusammenhang mit körperlicher Bewegung zu sehen, da jede körperliche Aktivität eine neue Erfahrung darstellt, zumindest was das Gehirn angeht. In den 1960er-Jahren führte eine Gruppe von Psychologen einen Modellversuch zur sogenannten „Bereicherung der Umwelt“ durch, um die gebrauchsabhängige Plastizität zu testen. Statt die Nagetiere mit nach Hause zu nehmen, statteten die Forscher ihre Käfige mit Spielzeugen, Hindernissen, verstecktem Futter und Laufrädern aus. Sie brachten die Tiere auch gruppenweise zusammen, sodass sie Kontakt miteinander haben und spielen konnten. Es ging allerdings nicht nur friedlich und liebevoll zu, und am Ende wurde das Gehirn der Tiere seziert. Die Untersuchungen zeigten, dass die Struktur und Funktion des Gehirns durch das Leben in einer Umwelt mit mehr sensorischen und sozialen Reizen verändert wurde. Die Ratten kamen nicht nur besser mit Lernaufgaben zurecht, ihr Gehirn wog auch mehr im Vergleich zu dem der Ratten, die allein in nackten Käfigen untergebracht waren. Hebbs Definition von Plastizität hatte die Frage des Wachstums nicht berücksichtigt. „Dies war zu einer Zeit, in der es nahezu an Häresie gegrenzt hätte, zu sagen, dass das Gehirn sich durch Erfahrung tatsächlich verändern könnte, insbesondere physisch“, sagt der Neurow issen schaft ler William Greenough, der damals als junger Student im Auf baustudium sehr an der Arbeit in Berkeley interessiert war. Greenough wollte den Aspekt der Bereicherung der Umwelt eigentlich untersuchen, ließ sich durch die Warnungen anderer jedoch abschrecken. „Mein Berater sagte mir im Prinzip: ‘Wenn du das für deine Diplomarbeit wählst, landest du mit Sicherheit in Vietnam’“, erinnert sich Greenough. Da die Ergebnisse von Berkeley jedoch re pliziert wurden, setzte sich die Vorstellung zunehmend durch, dass Erfahrungen Einfluss auf das Gehirn haben konnten. Bei einem parallelen Forschungsansatz wies eine Gruppe von Harvard-Wissen schaftlern zudem das Gegenteil nach, nämlich, dass das Gehirn 62 Das Wachstum Ihrer Gehirnzellen fördern durch Umweltdeprivation schrumpfen konnte. Bei der Untersuchung von Ratten, die mit einem zugenähten Auge großgezogen worden waren, stellten sie fest, dass der visuelle Cortex (Sehrinde) wesentlich kleiner war. All diese Arbeiten führten zu der Metapher, dass das Gehirn ein Muskel sei und man es gebrauchen muss oder es sonst verliert. Abgesehen von der Herausforderung, die dies für die langjährige Trennung zwischen Biologie und Psychologie darstellte, waren die Implikationen radikal, die mit der Frage einer anregenden Umwelt verbunden waren. Die Berkeley-Studien führten dazu, dass ein Bundesbildungsprogramm namens Head Start geschaffen wurde, im Rahmen dessen Mittel bereitgestellt wurden, um benachteiligte Kinder in die Vorschule zu schicken. Warum sollten arme Kinder in nackten Käfigen sitzen gelassen werden? Der Forschungsansatz war ins Rollen gekommen, und Neurow issenschaftler begannen, verschiedene Wege und Möglichkeiten zu untersuchen, wie das Wachs tum des Gehirns stimuliert werden kann. Nachdem Greenough als Fakultätsmitglied an der University of Illinois untergekommen war, wendete er sich wieder diesem For schungsbereich zu. In einer wegweisenden Studie Anfang der 1970erJahre verwendete er ein Elektronenmikroskop, um zu zeigen, dass eine anregende Umwelt bewirkte, dass die Neuronen neue Den driten hervorbrachten. Die neuen Verästelungen, die der stimulierenden Umwelt aus Lernen, körperlicher Bewegung und sozialen Kontakten zu verdanken waren, bewirkten, dass die Synapsen mehr Verbindungen herstellten, und diese Verbindungen hatten dickere Myelinschichten, die es ihnen wiederum ermöglichten, Signale effizienter zu feuern. Heute wissen wir, dass BDNF für dieses Wachstum erforderlich ist. Diese Umstrukturierung der Synapsen hat einen gewaltigen Einfluss auf die Fähigkeit der Schaltkreise, Informationen zu verarbeiten – was eine äußerst gute Nachricht ist. Denn das bedeutet, dass es in Ihrer Macht steht, Ihr Gehirn zu verändern. Sie brauchen nichts weiter zu tun, als Ihre Laufschuhe anzuziehen. 63 Kapitel 2: Lernen Die Plastizität erweitern Als sich das Konzept der synaptischen Plastizität in den Neurow is senschaften durchsetzte, gewann eine noch radikalere Vorstellung von Wachstum an Glaubwürdigkeit. Im 20. Jahrhundert wurde in weiten Teilen das wissenschaftliche Dogma hochgehalten, wonach das Gehirn, nachdem es in der Adoleszenz voll entwickelt ist, vollständig verdrahtet sei. Die Annahme war, dass wir mit allen Neuronen geboren wurden, die wir bekommen sollten. Wir konnten Synapsen umstrukturieren, wie es uns gefiel, aber Neuronen konnten wir nur verlieren. Den Rückgang konnten wir zweifellos beschleunigen, was so manch ein Biologielehrer vielleicht auch angesprochen hat, um Sie als Minderjährige vom Trinken abzuschrecken. „Denkt daran: Alkohol tötet Gehirnzellen, und die wachsen nie wieder nach.“ Ist das wirklich so? Nein, denn sie wachsen nach, und zwar zu Tausenden. Aber erst, nachdem Wissenschaftler moderne Bildgebungsinstrumente nutzen konnten, die es ihnen ermöglichten, einen Blick ins Gehirn zu werfen, fanden sie stichhaltige Belege dafür, die 1998 in einem bahnbrechenden Papier veröffentlicht wurden. Sie kamen aus einer Quelle, bei der man sicher nicht unbedingt vermutet hätte, auf solche neurow issenschaftlichen Er kenntnisse zu stoßen. Krebspatienten wird manchmal ein Kon trastmittel zur Sichtbarmachung von Zellvermehrungen injiziert, um die Ausbreitung der Krankheit erkennen zu können. Forscher schauten sich das Gehirn todkranker Patienten an, die ihren Körper der Wissenschaft gespendet hatten, und stellten fest, dass deren Hippocampus voller Kontrastmittel war. So konnte nachgewiesen werden, dass Neuronen sich teilten und vermehrten – im Rahmen eines Prozesses, der als Neurogenese bezeichnet wird –, genau wie alle anderen Zellen im Körper. Das war die offizielle Bestätigung für eine der größten Entdeckungen in den Neurowissenschaften. Seither bemühen sich Neurowissenschaftler von Stockholm über Südkalifornien bis Princeton, New Jersey, dahinter zu kommen, was unsere neuen Gehirnzellen tatsächlich tun. Die Implikationen sind weit reichend angesichts der Tatsache, dass die grundlegende Ursache 64 Das Wachstum Ihrer Gehirnzellen fördern degenerativer Krankheiten wie Parkinson und Alzheimer sterbende und beschädigte Zellen sind. Das Altern selbst ist eine Frage sterbender Zellen. Und plötzlich stellten wir fest, dass das Gehirn eine eingebaute Gegenmaßnahme hat, zumindest in bestimmten Bereichen. Somit galt es herauszufinden, wie die Neurogenese angestoßen wird, um vielleicht Ersatzteile für das Gehirn schaffen zu können. Und was bedeutet all das für ein gesundes Gehirn? Einer der ersten Hinweise auf die Neurogenese kam aus Studien über Meisen, die in jedem Frühjahr neue Lieder lernen und in deren Hippocampus auch ein erhebliches Wachstum neuer Zellen zu verzeichnen war. Zufall? Die neuen Zellen wiesen darauf hin, dass hier ein gewisser Zusammenhang zum Lernen bestand, es war jedoch schwierig, eindeutige Belege dafür zu finden. Genau wie die synaptische Plastizität, „ist die Neurogenese eindeutig in unsere Interaktionen mit unserer Umwelt sowohl emotional als auch kognitiv involviert“, sagt der Neurowissenschaftler Fred Gage vom Salk Institute in La Jolla, Kalifornien. Gage war einer der Forscher, zusammen mit Peter Eriksson aus Schweden, der die wegweisende Studie 1998 durchgeführt hatte. „Herauszufinden, was [bei der Neurogenese] genau passiert, ist ein wirklich interessantes Problem.“ Neuronen werden als unbeschriebene Stammzellen geboren und durchlaufen einen Entwicklungsprozess, bei dem sie, um zu überleben, etwas finden müssen, das sie tun. Den meisten gelingt dies nicht. Es dauert etwa 28 Tage, bis eine neu gebildete Zelle sich in ein Netzwerk integriert, und genau wie bei bereits vorhandenen Neuronen, würde Hebbs Konzept vom gebrauchsabhängigen Lernen hier gelten: Wenn wir die neugeborenen Neuronen nicht nutzen, verlieren wir sie. Gage griff auf das Modell der anregenden Umwelt zurück, um diese Idee bei Nagetieren zu testen. „Als wir mit unseren Versuchen begannen, haben wir alles Mögliche ausprobiert“, erklärt Gage. „Wir mussten experimentieren und versuchen, es herauszukitzeln. Und zu unserer Überraschung stellten wir fest, dass die Anbringung eines einfachen Laufrades im Käfig einen weit reichenden Effekt auf die Anzahl der Zellen hatte, die geboren wurden. Ironischerweise starb jedoch unabhängig vom Laufen in beiden Gruppen der gleiche Prozentsatz an Zellen – bei den laufenden Tieren hat man jedoch einen größeren Ausgangspool. Damit 65 Kapitel 2: Lernen eine Zelle jedoch überleben und sich integrieren kann, muss sie ihr Axon feuern.“ Sportliche Betätigung bewirkt, dass Neuronen sich vermehren, und eine stimulierende Umwelt hilft, dass diese Zellen überleben. Die erste solide Verbindung zwischen Neurogenese und Lernen wurde von einer Kollegin von Gage, Henrietta van Praag, hergestellt. Bei ihrem Experiment nutzten die Forscher einen nagetiergroßen, mit trübem Wasser gefüllten runden Pool und versteckten unmittelbar unter der Oberfläche in einem Viertelkreis eine Plattform. Mäuse mögen kein Wasser, sodass mit dem Experiment getestet werden sollte, wie gut sie sich beim zweiten Eintauchen an den Standort der Plattform erinnern können – ihren Fluchtweg. Verglich man inaktive Mäuse mit anderen, die in einer Nacht vier bis fünf Kilometer im Laufrad zurücklegten, zeigten die Ergebnisse, dass die Läufer sich schneller daran erinnerten, wo Sicherheit zu finden war. In beiden Gruppen schwammen die Mäuse gleich schnell, aber die „trainierten“ Tiere suchten schnurstracks die Plattform auf, während ihre bewegungsärmeren Artgenossen lange herumplanschten, bevor sie auf die Lösung kamen. Als die Mäuse seziert wurden, stellte man fest, dass sich im Hippocampus der aktiven Mäuse im Vergleich zu ihren inaktiven Artgenossen doppelt so viele neue Stammzellen befanden. „Es gibt einen signifikanten Zusammenhang zwischen der Gesamtzahl der Zellen und der Fähigkeit [einer Maus], eine komplexe Aufgabe zu erfüllen“, stellte Gage zu diesen Erkenntnissen fest. „Und wenn man die Neurogenese blockiert, können Mäuse sich an Informationen nicht erinnern.“ Auch wenn alle diese Forschungen sich auf Nagetiere beziehen, kann man doch sehen, welche Rückschlüsse sich daraus möglicherweise für die Kinder in Naperville ergeben: Der Sportunterricht liefert dem Gehirn die richtigen Werkzeuge, um zu lernen, und die Stimulation im Unterricht fördert und unterstützt diese neu in der Entwicklung begriffenen Zellen, sich ins Netzwerk zu integrieren, wo sie wertvolle Mitglieder der Signal gebenden Gemeinschaft werden. Die Neuronen haben eine Aufgabe. Und es scheint, dass Zellen, die sich bei sportlicher Betätigung vermehrt haben, besser gerüstet sind, die sogenannte Langzeit-Potenzierung (LTP) auszulösen. Sie sind plastische Phänomene, die die Neurowissenschaftlerin an 66 Das Wachstum Ihrer Gehirnzellen fördern der Princeton University, Elizabeth Gould, zu dem Schluss gelangen ließen, dass unsere neuen Neuronen vielleicht eine Rolle spielen, wenn wir bewussten Gedanken nachhängen, während der präfrontale Cortex darüber entscheidet, ob sie im Langzeitgedächtnis verankert werden sollen. Gould war die Forscherin, die als Erste zeigte, dass bei Primaten neue Neuronen gebildet werden, und sie ebnete damit den Weg für Experimente über die Neurogenese im menschlichen Gehirn. Gould und alle, die auf dem Gebiet der Neurowissenschaften arbeiten, sind nach wie vor dabei, die Beziehung zwischen Neurogenese und Lernen zu entschlüsseln. Und körperliche Bewegung oder Sport sind dabei ein wichtiges Laborinstrument. Interessant finde ich allerdings, dass relativ wenige Wissenschaftler körperliche Bewegung oder Sport untersuchen, weil sie sich für die Frage der körperlichen Bewegung interessieren. Sie lassen die Mäuse vielmehr laufen, weil dadurch „die Neurogenese massiv erhöht“ wird, wie der Titel einer 2006 in der Zeitschrift Hippocampus veröffentlichten Studie verhieß, und dies den Forschern ermöglicht, die dem Prozess zugrunde liegende Signalkette zu zerlegen und zu analysieren. Denn diese Informationen benötigen die Pharmaunternehmen, um neue Medikamente herzustellen. Sie träumen von einer Anti-Alzheimer-Pille, die Neuronen regeneriert, sodass das Gedächtnis intakt bleibt. „Es muss eine chemische Substanz im [Hippocampus] geben, die sportliche Betätigung wahrnimmt und sagt: ‘Okay, kurbeln wir die Produktion neuer Zellen an’“, sagt der Neurologe Scott Small von der Columbia University, der kürzlich eine neuartige Magnetresonanztechnologie nutzte, um die Neurogenese bei lebenden Versuchspersonen zu verfolgen. „Wenn wir diese molekularen Pfade identifizieren können, könnten wir vielleicht clevere Wege und Möglichkeiten finden, um die Neurogenese biochemisch anzustoßen.“ Stellen Sie sich vor, sie könnten körperliche Betätigung einfach in eine Flasche stecken. 67 Kapitel 2: Lernen Die Verbindung von Körper und Geist Wenn sich neue Zellen entwickeln, brauchen wir „Dünger“ für sie, und die neurogenetische Forschung hat diesbezüglich von Anfang an auf den neurotrophen Faktor (BDNF) gesetzt. Den Forschern war klar, dass unser Gehirn ohne „Wunderdünger“ keine neuen Informationen aufnehmen kann. Und jetzt haben sie festgestellt, dass BDNF auch ein notwendiger Bestandteil für die Herstellung neuer Zellen ist. BDNF sammelt sich in Reservepools in der Nähe der Synapsen und wird freigesetzt, wenn sich die Herzfrequenz erhöht und der Blutk reislauf in Schwung kommt. Bei diesem Vorgang tritt eine Reihe von Hormonen im Körper in Aktion, womit wir zu weiteren Buchstabenkürzeln kommen: IGF-1 (insulinähnlicher Wachs tumsfaktor), VEGF (vaskulärer endothelialer Wachstumsfaktor) und FGF-2 (Fibroblasten-Wachstumsfaktor-2). Bei sportlicher Betätigung durchstoßen diese Faktoren die Blut-Hirn-Schranke, ein Netz von Kapillaren mit dicht beieinanderliegenden Zellen, die Masseneindringlinge wie Bakterien aussieben. Erst unlängst haben Wissenschaftler festgestellt, dass diese Faktoren, sobald sie im Gehirn ankommen, mit BDNF zusammenarbeiten, um die molekulare Maschinerie des Lernens anzukurbeln. Sie werden auch im Gehirn produziert und fördern die Stammzellteilung, insbesondere bei sportlicher Betätigung. Die weiter reichende Bedeutung ist, dass diese Faktoren einer direkten Verbindung vom Körper zum Gehirn folgen. Nehmen wir den insulinähnlichen Wachstumsfaktor IGF-1, ein Hormon, das von den Muskeln freigesetzt wird, wenn diese spüren, dass ein Mehrbedarf an Brennstoff bei einer Aktivität besteht. Glu kose ist die Hauptenergiequelle für unsere Muskeln und die einzige Energiequelle fürs Gehirn, und IGF-1 arbeitet mit Insulin, um Glukose zu den Zellen zu transportieren. Interessant ist, dass die Rolle von IGF-1 im Gehirn sich nicht auf die Brennstoffverwaltung bezieht, sondern auf das Lernen – vermutlich, damit wir uns daran 68 Das Wachstum Ihrer Gehirnzellen fördern erinnern können, wo wir Nahrung in der Umwelt finden. Bei körperlicher Bewegung hilft BDNF dem Gehirn, die Aufnahme von IGF-1 zu erhöhen, und es aktiviert Neuronen zur Produktion der Signal sendenden Neurotransmitter Serotonin und Glutamat. Dann regt es die Produktion weiterer BDNF-Rezeptoren an und stärkt die Verbindungen zur Festigung des Gedächtnisses. BDNF scheint ins besondere wichtig für das Langzeitgedächtnis zu sein. Das erscheint im Licht der Evolution absolut einleuchtend: Wenn wir alles andere einmal weglassen, dann brauchen wir deshalb eine Fähigkeit zum Lernen, weil sie uns hilft, Nahrung zu finden, zu beschaffen und zu lagern. Wir benötigen Brennstoff, um zu lernen, und wir müssen lernen, um eine Brennstoffquelle zu finden – und all diese Botschafter im Körper halten den Prozess am Laufen und sorgen dafür, dass wir uns anpassen und überleben. Um neue Zellen mit Brennstoff zu versorgen, benötigen wir neue Blutgefäße. Wenn in den Zellen unseres Körpers der Sauerstoff knapp wird, was der Fall sein kann, wenn sich unsere Muskeln bei körperlicher Bewegung zusammenziehen, dann wird der vaskuläre endotheliale Wachstumsfaktor (VEGF) auf den Plan gerufen, um mehr Kapillare in Körper und Gehirn entstehen zu lassen. Ein Grund, warum VEGF bei der Neurogenese von entscheidender Bedeutung ist, so vermuten die Forscher, spielt seine Rolle bei der Veränderung der Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke, und zwar indem VEGF den „Zaun umlegt“, um andere Faktoren bei sportlicher Betätigung durchzulassen. Ein weiteres wichtiges Element, das seinen Weg vom Körper ins Gehirn sucht, ist der Fibroblasten-Wachstumsfaktor-2 (FGF-2), der, genau wie IGF-1 und VEGF, sich bei sportlicher Betätigung erhöht und notwendig für die Neurogenese ist. Im Körper unterstützt FGF-2 das Gewebewachstum und im Gehirn ist es für den Prozess der Langzeit-Potenzierung (LTP) wichtig. Mit dem Alterungsprozess wird die Produktion dieser drei Fak toren und auch von BDNF natürlich gedrosselt und damit auch die Neurogenese reduziert. Aber sogar bevor wir alt werden, kann ein Rückgang dieser Faktoren und der Neurogenese bei Stress und Depressionen zum Tragen kommen, wie wir später noch sehen werden. Für mich sind dies in Wirklichkeit jedoch ermutigende 69 Kapitel 2: Lernen Nachrichten, denn wenn körperliche Bewegung die Spiegel von BDNF, IGF-1, VEGF und FGF-2 erhöht, bedeutet dies, dass wir eine gewisse Kontrolle über die Situation haben. Es geht um Wachstum versus Verfall, Aktivität versus Inaktivität. Der Körper ist dazu angelegt, angetrieben zu werden, und indem wir unseren Körper antreiben, treiben wir auch unser Gehirn an. Unser Lern- und Erinnerungsvermögen hat sich gemeinsam mit den motorischen Funktionen entwickelt, die es unseren Vorfahren ermöglichten, Nahrung zu finden. Und für unser Gehirn bedeutet dies: Wenn wir uns nicht bewegen, besteht auch nicht wirklich eine Notwendigkeit, etwas zu lernen. Bewegen Sie sich im Rahmen Ihrer Möglichkeiten Sie wissen nun, wie körperliche Betätigung das Lernvermögen auf drei Ebenen verbessert: Erstens optimiert sie Ihre geistige Haltung durch Verbesserung der Wachsamkeit, Aufmerksamkeit und Motivation. Zweitens bereitet sie Nervenzellen darauf vor und unterstützt sie, sich miteinander zu verbinden, was die zellulare Grundlage für die Aufnahme neuer Informationen ist. Drittens fördert sie im Hippocampus die Entwicklung neuer Nervenzellen aus Stammzellen. So weit so gut, aber nun möchten Sie sicher wissen, wie der beste Übungsplan für Sie aussieht. Ich wünschte, es gäbe die ideale Art und Menge an Aktivitäten, die ich Ihnen für den Aufbau Ihres Gehirns vorschlagen könnte. Wissenschaftler haben jedoch gerade erst damit begonnen, diese Fragen aufzugreifen. „Solche Forschungen sind noch von niemandem durchgeführt worden“, sagt William Greenough. „Ich vermute jedoch, dass wir in fünf Jahren weitaus mehr wissen.“ Dennoch können wir aus den bereits vorliegenden Forschungs ergebnissen gewisse Schlussfolgerungen ziehen. Etwas, was die Wis senschaftler bereits mit Sicherheit wissen, ist jedoch, dass man keinen 70 Das Wachstum Ihrer Gehirnzellen fördern schwierigen Stoff lernen kann, während man sich mit hoher Intensität sportlich betätigt, da dabei das Blut aus dem präfrontalen Cortex verdrängt wird, was die exekutive Funktion behindert. Während Col lege-Studenten zum Beispiel 20 Minuten auf dem Laufband oder dem Heimtrainer mit hoher Intensität trainierten, sodass sie zwischen 70 und 80 Prozent ihrer maximalen Herzfrequenz lagen, schnitten sie schlecht bei Tests ab, die mit komplexen Lerninhalten verbunden waren. (Lernen Sie also nicht für die Aufnahmeprüfungen fürs Jura studium, während Sie auf dem elliptischen Kreuztrainer alles zu geben versuchen.) Praktisch unmittelbar nachdem Sie die sportliche Übung beendet haben, normalisiert sich der Blutfluss jedoch wieder, und dies ist der perfekte Zeitpunkt, sich auf ein Projekt zu konzentrieren, das scharfes Denken und komplexe Analyse verlangt. Ein bemerkenswertes Experiment aus dem Jahr 2007 zeigte, dass die kognitive Flexibilität sich nach nur einer 35-minütigen Übungs runde auf dem Laufband, bei der die maximale Herzfrequenz bei 80 bis 70 Prozent lag, verbesserte. Die 40 Erwachsenen (im Alter zwischen 50 und 64) wurden im Rahmen der Studie gebeten, in schnellem Tempo gewöhnliche Gegenstände anders als gewohnt zu gebrauchen, beispielsweise eine Zeitung – sie ist normalerweise zum Lesen gedacht, kann aber auch zum Einwickeln von Fisch, Auslegen eines Vogelkäfigs, Einpacken von Geschirr und so weiter genutzt werden. Die Hälfte der Probanden schaute sich einen Film an, die andere Hälfte war sportlich aktiv; beide Gruppen wurden vor der Sitzung, unmittelbar danach und nochmals 20 Minuten später getestet. Bei denjenigen, die sich einen Film angesehen hatten, zeigte sich keine Veränderung, bei den Läufern war indes nach nur einem Training eine Verbesserung ihrer Verarbeitungsgeschwindigkeit und der kognitiven Flexibilität zu erkennen. Die kognitive Flexibilität ist eine wichtige exekutive Funktion, die unsere Fähigkeit widerspiegelt, unser Denken zu verändern und einen steten Fluss kreativer Gedanken und Antworten zu produzieren, im Unterschied zum Wiederkäuen der Standardantworten. Diese Eigenschaft korreliert mit einem Hochleistungsniveau intellektuell anspruchsvoller Berufe. Wenn also bei Ihnen am Nachmittag eine wichtige BrainstormingSitzung angesetzt ist, wäre es eine gute Idee, die Mittagspause für einen kurzen, intensiven Lauf zu nutzen. 71 Kapitel 2: Lernen Viele der Forschungen, die ich in diesem Kapitel erwähnt habe, drehen sich um die Auswirkungen sportlicher Aktivitäten auf den Hippocampus, da er aufgrund seiner Rolle bei der Bildung von Erinnerungen so überaus wichtig für das Lernvermögen ist. Es ist dem Hippocampus jedoch nicht selbst überlassen, neue Schaltkreise nach seinem eigenen Daf ürhalten auszubilden. Beim Lernprozess werden viele Hirnregionen unter der Regie des präfrontalen Cortex eingeschaltet. Das Gehirn muss sich des ankommenden Reizes bewusst sein, ihn im Kurzzeitgedächtnis behalten, ihm emotionales Gewicht beimessen, ihn mit vergangenen Erfahrungen assoziieren und all dies an den Hippocampus berichten. Der präfrontale Cortex analysiert die Informationen, bringt sie in eine Reihenfolge und verbindet alles miteinander. Er arbeitet mit dem Kleinhirn und den Basalganglien zusammen, die diese Funktionen auf Spur halten, indem sie den Rhythmus für das Hin und Her von Informationen auf rechterhalten. Durch die Verbesserung der Plastizität im Hippocam pus wird eine entscheidende Verbindung in der Kette gestärkt, aber durch das Lernen entstehen im ganzen Gehirn „buschigere“ und gesündere Neuronen, die besser miteinander verbunden sind. Je stärker wir diese Netzwerke ausbauen und unserem Vorrat an Erinnerungen und Erfahrungen anreichern, desto leichter ist es zu lernen, weil das, was wir bereits wissen, als Grundlage für die Bildung zunehmend komplexer Gedanken dient. Was die Frage angeht, welche Menge an aeroben Übungen Sie benötigen, um geistig „auf der Höhe“ zu bleiben, so wurde bei einer kleinen, aber wissenschaftlich fundierten Studie in Japan festgestellt, dass 30-minütiges Joggen, zwei- bis dreimal pro Woche, über einen Zeitraum von zwölf Wochen die exekutive Funktion verbesserte. Wichtig ist jedoch, eine Aktivität mit etwas zu kombinieren, was zusätzliche Koordination verlangt, statt einfach nur einen Fuß vor den anderen zu setzen. Greenough arbeitete vor einigen Jahren an einem Experiment, bei dem im Laufrad rennende Ratten mit Artgenossen verglichen wurden, denen komplexe motorische Fertigkeiten beigebracht wurden, wie über einen Schwebebalken, instabile Gegenstände und elastische Strickleitern zu laufen. Nach zwei Wochen Training war bei den akrobatischen Ratten eine 35-prozentige Zunahme von BDNF im Kleinhirn festzustellen, während bei 72 Das Wachstum Ihrer Gehirnzellen fördern den Tieren, die nur im Laufrad liefen, keine Zunahme von BDNF in diesem Bereich festzustellen war. Dies erweitert die Erkenntnisse, die uns die neurogenetische Forschung liefert: dass nämlich aerobe Übungen und komplexe Aktivitäten unterschiedliche nutzbringende Effekte auf das Gehirn haben. Die gute Nachricht ist, dass sie komplementär sind. „Es ist wichtig, beides zu berücksichtigen“, sagt Greenough. „Der Nachweis ist noch nicht perfekt, fest steht jedoch, dass ein Trainingsprogramm sowohl den Erwerb von Fertigkeiten als auch aerobe Übungen mit einbeziehen muss.“ Ich würde somit vorschlagen, entweder eine Sportart zu wählen, die gleichzeitig das Herz-Kreislauf-System und das Gehirn in Anspruch nimmt – beispielsweise Tennis – oder eine zehnminütige aerobe Aufwärmübung zu machen, bevor Sie sich einer nicht aeroben und fertigkeitsorientierten Aktivität zuwenden, wie Bergsteigen oder einem Balancetraining. Während aerobe Übungen den Spiegel an Neurotransmittern erhöhen, neue Blutgefäße entstehen lassen, die Wachstumsfaktoren einleiten und zur Zellvermehrung beitragen, sorgen komplexe Aktivitäten dafür, dass all diese Dinge durch eine Stärkung und Erweiterung der Netzwerke aktiv genutzt werden. Je komplexer die Bewegungen, desto komplexer die synaptischen Verbindungen. Auch wenn diese Schaltkreise durch Bewegung entstehen, können sie von anderen Regionen rekrutiert und zum Denken genutzt werden. Dies ist der Grund, warum es Kindern, die Klavier spielen lernen, leichter fällt, mathematische Aufgaben zu lösen. Der präfrontale Cortex bezieht die mentale Kraft der körperlichen Fertigkeiten mit ein und wendet sie bei anderen Situationen an. Ob es darum geht, die Asanas beim Yoga zu lernen oder Posi tionen im Ballett, einzelne Gymnastikübungen, Elemente aus dem Eiskunstlauf, Pilates-Stellungen oder Karatetechniken, fest steht, dass bei all diesen Übungen die Nervenzellen im ganzen Gehirn in Anspruch genommen werden. Studien mit Tänzern zeigen beispielsweise, dass ein unregelmäßiger Rhythmus im Vergleich zu einem regelmäßigen die Plastizität des Gehirns verbessert. Da es sich bei den Fertigkeiten, die bei diesen Aktivitäten im Spiel sind, um unnatürliche Formen der Bewegung handelt, haben sie die Funktion eines aktivitätsabhängigen Lernens von der Art, die dafür sorgte, 73 Kapitel 2: Lernen dass Hebbs Ratten klüger wurden, und bei denen Greenough nachwies, dass Synapsen „buschiger“ wurden. Jede motorische Fertigkeit, die komplizierter als Gehen ist, muss erlernt werden und stellt somit eine Herausforderung für das Gehirn dar. Zuerst ist man etwas unbeholfen und linkisch, aber dann, nachdem die Schaltkreise, die das Kleinhirn, die Basalganglien und den präfrontalen Cortex miteinander verbinden, in Gang kommen, werden unsere Bewegungen präziser. Mit der Wiederholung sorgen wir auch dafür, dass eine dickere Myelin-Schicht um die Nervenfasern herum entsteht, die zur Verbesserung der Qualität und Geschwindigkeit der Signale und damit zur Effizienz des Schaltkreises beiträgt. Um das Beispiel Karate zu nehmen: In dem Zuge, wie man bestimmte Techniken perfektioniert, kann man sie in kompliziertere Bewegungen einbauen, und alsbald hat man dann neue Antworten auf neue Situationen parat. Das Gleiche würde gelten, wenn man Tango lernen wollte. Die Tatsache, dass man auf eine andere Person reagieren muss, stellt weitere Anforderungen an unsere Aufmerksamkeit, unser Urteilsvermögen und die Präzision der Bewegung, womit sich die Komplexität der Situation exponentiell erhöht. Nimmt man noch den Faktor Spaß und den sozialen Aspekt mit hinzu, dann werden das Gehirn und die Muskeln im ganzen System aktiviert. Damit sind Sie für die nächste Herausforderung gerüstet, und das ist es, worum es bei alledem geht. 74 3. Stress Die größte Herausforderung S usan war total gestresst. Es war nun mehr als ein Jahr her, dass der Bauunternehmer, der ihre Küche umbauen sollte, diese in Beschlag genommen hatte. Aber mehr noch als den Baulärm fürchtete sie inzwischen die Ruhephasen. Denn Ruhe bedeutete, dass die Arbeit ruhte, aus welchem Grund auch immer, und dies bedeutete, dass das Ganze noch länger dauern würde. Sie hatte keine Ahnung, wann sich der Zustand in der Küche wieder normalisieren würde, ganz zu schweigen von einem normalen Leben. Es war fürchterlich aufreibend, wie jeder bescheinigen kann, der schon einmal einen Umbau überlebt hat: Fremde spazieren den ganzen Tag über rein und raus, man hat keine Kontrolle mehr über die eigene Zeit, und überall Staub und Dreck – einfach nur Chaos. Der Bauunternehmer selbst scheint sich bei alledem jedoch absolut zu Hause zu fühlen, wenn er denn auftaucht. Susan war seit jeher ein aktiver und aufgeschlossener Mensch. Mitte vierzig, Mutter von drei schulpflichtigen Jungen, Elternbeirats vorsitzende, Reiterin und ehrenamtlich mit einem vollen Terminka lender engagiert. Aber mit einem Mal war sie gezwungen, den ganzen Tag zu Hause zu bleiben und darauf zu warten, dass die Arbeiter kamen, oft nur, um den Anruf ihrer Absage entgegenzunehmen. Jeder wäre hier verrückt geworden. Sie war in ihrem eigenen Haus 75 Kapitel 3: Stress eingesperrt, das einer Baustelle glich, und wusste nichts mit sich anzufangen. Um das Ganze zu ertragen, fing sie an, sich ein Glas Wein zu genehmigen. Dann ein weiteres. Und es dauerte nicht lange, bis sie merkte, dass sie einen schönen Chardonnay entkorkte, bevor es Mittag war. „Immer Chardonnay“, sagt sie. „Das ist das Einzige, was ich trinke.“ Susans Welt schrumpfte und damit, wie ich gleich noch erklären werde, auch ihr Gehirn. Sie kam zu mir, weil sie sich sorgte, dass ihr Bewältigungsmechanismus zur Sucht werden könnte. Als sie in meiner Praxis saß, diskutierten wir Wege und Möglichkeiten, wie sie den Teufelsk reis durchbrechen konnte, damit sie nicht mehr nach Wein griff, wann immer sie sich gestresst fühlte. Ich wollte ihr helfen, etwas zu finden, das sie sofort, direkt zu Hause tun konnte, zunächst um sich abzulenken, aber auch um das Stressgefühl zu lindern. Für ein Fitnessstudio konnte sie sich nicht so recht erwärmen, sie war jedoch recht sportlich, und irgendwie stellte sich heraus, dass sie Seilspringen mochte. Perfekt. Ich schlug ihr vor, jedes Mal, wenn sie merkte, dass Stress im Anmarsch war, sich einfach das Seil zu nehmen und anzufangen zu springen. Als ich sie das nächste Mal sah, erzählte sie mir, sie habe überall im Haus Sprungseile deponiert und es geschafft, zur Bewältigung ihres Stresses nicht mehr automatisch zum Wein zu greifen. Selbst diese kurzen Aktivitäten genügten, dass sie sofort das Gefühl hatte, sich besser unter Kontrolle zu haben und Herrin über ihr eigenes Schicksal zu sein. Zudem empfand sie durch die Übungen eine echte Erleichterung – ihre Muskeln waren weniger verspannt, und ihr Geist war weniger abgelenkt. Sie erklärt es so: „Ich habe dann das Gefühl, als würde mein Gehirn irgendwie neu gestartet.“ Stress neu definieren Jeder kennt Stress. Aber kennen wir ihn wirklich? Stress zeigt sich in vielen Formen und Ausmaßen, akut und chronisch – sozialer Stress, physischer Stress, metabolischer Stress, um nur einige zu nennen. Die meisten Menschen verwenden das Wort unterschiedslos sowohl für 76 Die größte Herausforderung die Ursache als auch für die Wirkung. Das heißt, sowohl für den Stress, den die Welt auf uns ausübt – „Bei der Arbeit gibt es im Moment sehr viel Stress“ –, als auch für das Gefühl, das in unserem Innern ausgelöst wird, wenn alles zu viel erscheint: „Ich bin so gestresst, ich kann nicht mehr klar denken.“ Nicht einmal Wissenschaftler unterscheiden immer zwischen dem psychischen Zustand von Stress und der physiologischen Reaktion auf Stress. Stress ist ein so dehnbarer Begriff, weil das Gefühl eine große emotionale Bandbreite haben kann, von einem leichten Zustand der Erregung bis zu dem Gefühl, von den Unbillen des Lebens völlig überwältigt zu sein. Am Ende des Spektrums ist das, was Sie als „total gestresst“ kennen – ein einsamer Ort, an dem Probleme, die gewöhnlicherweise wie Herausforderungen erscheinen, plötzlich die Ausmaße unüberwindlicher Probleme annehmen. Bleibt man zu lange dort, dann reden wir von chronischem Stress, der psychische Belastungen in körperliche Belastungen übersetzt. Dies ist der Punkt, an dem die aufreibenden Effekte der Stressreaktion des Körpers zu mentalen Vollbildstörungen wie Ängsten und Depressionen sowie Bluthochdruck, Herzprobleme und Krebs führen können. Chronischer Stress kann selbst an der Architektur des Gehirns nagen. Aber wie soll man einen so verschwommenen Begriff wie Stress verstehen? Indem man sich seine biologische Definition vor Augen hält. Stress ist in erster Linie eine Bedrohung für das Gleichgewicht des Körpers. Er stellt eine Herausforderung dar zu reagieren, eine Forderung zur Anpassung. Im Gehirn stellt alles, was eine zellulare Aktiv ität hervorruft, eine Form von Stress dar. Damit ein Neuron feuern kann, braucht es Energie, und der Prozess der Brennstoff verbrennung bringt einen Verschleiß der Zelle mit sich. Das Gefühl von Stress ist im Wesentlichen ein emotionales Echo des dahinter stehenden Stresses für Ihre Gehirnzellen. Sie würden es wahrscheinlich nicht als stressig empfinden, von einem Stuhl aufzustehen – biologisch betrachtet, ist es dies jedoch definitiv. Es ist natürlich nicht vergleichbar mit dem Verlust des Arbeitsplatzes zum Beispiel, aber der Punkt ist, dass bei beiden Ereignissen Teile derselben Nervenbahnen im Körper und im Gehirn aktiviert werden. Beim Aufstehen werden Neuronen aktiviert, die 77 Kapitel 3: Stress erforderlich sind, um die Bewegung zu koordinieren, und die Furcht vor Arbeitslosigkeit erzeugt jede Menge Aktivitäten, da Emotionen ein Produkt von Neuronen sind, die sich gegenseitig Signale zusenden. Ebenso werden Anforderungen an Ihr Gehirn gestellt, wenn Sie Französisch lernen, neue Leute treffen und Ihre Muskeln bewegen; all diese Anforderungen sind Formen von Stress. Stress ist Stress, was Ihr Gehirn betrifft – der Unterschied ist nur marginal. Sich selbst impfen Wie der Körper und das Gehirn auf Stress reagieren, hängt von vielen Faktoren ab, wobei Ihre genetischen Anlagen und persönlichen Erfahrungen nicht gerade die Unwichtigsten sind. Die Kluft zwischen der Evolution unserer Biologie und der Entwicklung unserer Gesellschaft wird heute stetig tiefer. Wir müssen nicht mehr vor irgendwelchen Löwen weglaufen, aber der Instinkt ist nach wie vor vorhanden, wobei die Kampf-oder-Flucht-Reaktion im Sitzungssaal nicht unbedingt der Hit ist. Wenn Sie an Ihrem Arbeitsplatz gestresst werden, würden Sie Ihren Chef ohrfeigen? Oder sich umdrehen und weglaufen? Entscheidend ist, wie Sie reagieren. Die Art und Weise, wie Sie mit Stress umgehen, kann nicht nur etwas daran ändern, wie Sie sich fühlen, sondern auch daran, wie das Gehirn umgeformt wird. Wenn Sie passiv reagieren, oder wenn es einfach keinen Ausweg gibt, kann Stress schädlich sein. Wie die meisten psychiatrischen Probleme ist auch chronischer Stress das Ergebnis eines in ein und demselben Muster festgefahrenen Gehirns, und zwar in der Regel in einem, das von Pessimismus, Furcht und Rückzug geprägt ist. Mit einer aktiven Bewältigung können Sie aus diesem Teufelskreis ausbrechen. Jenseits von Instinkten haben Sie eine gewisse Kontrolle darüber, wie Stress sich bei Ihnen auswirkt. Der Schlüssel ist, da würde Susan zustimmen, eine Frage der Kontrolle. Körperliche Bewegung oder Sport kontrollieren die emotionalen und physischen Gefühle von Stress, und dies kommt auch auf der zellularen Ebene zum Tragen. Aber wie kann dies sein, wenn körperliche Bewegung als solche eine Form von Stress darstellt? Die durch 78 Die größte Herausforderung körperliche Bewegung ausgelöste Hirnaktivität erzeugt molekulare Nebenprodukte, die Zellen schädigen können, unter normalen Um ständen sorgen Reparaturmechanismen jedoch dafür, dass die Zellen für künftige Herausforderungen abgehärtet werden. Neuronen werden ab- und aufgebaut, genau wie Muskeln – durch Belastungen werden sie widerstandsfähiger. Auf diese Weise werden Körper und Geist durch körperliche Bewegung gezwungen, sich anzupassen. Stress und Regeneration. Dies ist ein grundlegendes Paradigma der Biologie, das zu starken und mitunter überraschenden Ergeb nissen führt. In den 1980er-Jahren gab das US-Energieministerium eine Studie über die gesundheitlichen Auswirkungen einer anhaltenden Strah lenexposition in Auftrag. Dabei wurden zwei Gruppen von Arbei tern einer Atomschiffwerft aus Baltimore verglichen, die ähnliche Arbeiten verrichteten, nur mit einem wichtigen Unterschied: Eine Gruppe war einem sehr geringen Strahlungsniveau durch das Material ausgesetzt, mit dem sie zu tun hatte; bei der anderen Gruppe war dies nicht so. Das Energieministerium beobachtete die Arbeiter von 1980 bis 1988, und was dabei festgestellt wurde, schockierte alle Beteiligten. Die Strahlung machte sie gesünder. Bei den 28.000 Arbeitern, die Strahlung ausgesetzt waren, lag die Sterblichkeitsrate 24 Prozent niedriger als bei ihren 32.000 Kollegen der Kontrollgruppe, die keiner Strahlung ausgesetzt waren. Die Giftstoffe, die, wie alle annahmen und bef ürchteten, die Gesundheit der Arbeiter ruinieren würden, bewirkten irgendwie genau das Gegenteil. Strahlung bedeutet Stress, indem sie Zellen schädigt und sie bei einem hohen Strahlungsniveau tötet und zur Entwicklung von Krankheiten wie Krebs führen kann. In diesem Fall war die Strahlendosis jedoch offenbar gering genug, sodass die Zellen der Arbeiter, die ihr ausgesetzt waren, nicht getötet, sondern stärker und abgehärtet wurden. Vielleicht ist Stress letzten Endes doch nicht so schlecht. Da die Studie jedoch nicht das erwünschte Ergebnis gebracht hatte – sie zeigte nicht den erwarteten bösartigen Effekt von Strahlung –, wurde sie nie veröffentlicht. Nach dem, was wir seither über die Biologie von Stress und Regeneration gelernt haben, scheint Stress einen ähnlichen Effekt auf das Gehirn wie Impfstoffe auf das Immunsystem 79 Kapitel 3: Stress zu haben. In begrenzten Dosen bewirkt er, dass die Gehirnzellen überkompensieren und sich somit für künftige Anforderungen wappnen. Neurow issenschaftler bezeichnen dieses Phänomen als Stressimpfung. Was bei all den Ratschlägen, wie der Stress des modernen Lebens reduziert werden kann, auf der Strecke geblieben ist, sind die He rausforderungen, die es uns erst ermöglichen, uns überhaupt anzu strengen und zu wachsen und zu lernen. Die Parallele auf zellularer Ebene ist, dass Stress das Wachstum des Gehirns anstößt. Unter der Voraussetzung, dass der Stress nicht zu gravierend ist und den Neu ronen genügend Zeit gegeben wird, um sich zu regenerieren, werden die Verbindungen stärker und unsere mentale Maschinerie funktioniert besser. Stress ist keine Frage von gut oder schlecht – sondern eine Frage der Notwendigkeit. Das Alarmsystem Die Stressreaktion des Körpers, die vom Urtrieb zu überleben ausgelöst wird, ist ein eingebautes Geschenk der Evolution, ohne das wir heute nicht hier wären. Die Reaktion reicht von schwach bis intensiv, abhängig von der Ursache. Gravierender Stress aktiviert die Notrufphase, gemeinhin als die Kampf-oder-Flucht-Reaktion bekannt. Dabei handelt es sich um eine komplexe physiologische Reaktion, die Ressourcen mobilisiert, um Körper und Gehirn zu aktivieren, und in einer Erinnerung das abspeichert, was geschehen ist, damit wir die Situation das nächste Mal vermeiden können. Wo war der Löwe genau? Die Bedrohung muss ziemlich stark sein, damit der Körper einbezogen wird. Aber jedes Maß an Stress aktiviert grundlegende Gehirnsysteme – jene, die die Aufmerksamkeit, die Energie und das Gedächtnis steuern. Wenn wir alles andere beiseitelassen, besteht die uns innewohnende Reaktion auf Stress darin, uns auf die Gefahr zu konzentrieren, die Reaktion voranzutreiben und die Erfahrung zu speichern, um künftig darauf zurückgreifen zu können. Letzteres würde ich dann als Weisheit bezeichnen. Erst in den letzten Jahren haben 80 Die größte Herausforderung Wissenschaftler angefangen, die Rolle von Stress bei der Bildung und dem Abrufen von Erinnerungen zu erkennen und zu beschreiben. Die Entwicklung dieses Verständnisses ist spannend, weil sie ein Licht darauf wirft, warum – (und wie) – Stress einen so weit reichenden Effekt darauf haben kann, wie wir die Welt wahrnehmen. Die Kampf-oder-Flucht-Reaktion ruft einige der wirkungsvoll sten Hormone und eine große Anzahl von Neurochemikalien im Gehirn auf den Plan. Der Alarmknopf des Gehirns, die sogenannte Amygdala, setzt diese Kettenreaktion in Gang, sobald sie den sensorischen Input über eine mögliche Bedrohung des natürlichen Gleichgewichts des Körpers erhält. Gejagt zu werden, würde die Situation sicher richtig beschreiben, aber ebenso würde es auch die Situation des Jägers selbst. Die Aufgabe der Amygdala besteht darin, den ankommenden Informationen, die möglicherweise für das Überleben relevant sein können oder auch nicht, eine Intensität zuzuordnen. Es geht nicht nur um Furcht, sondern um jeden intensiven emotionalen Zustand, einschließlich zum Beispiel Euphorie oder sexuelle Erregung. In der Lotterie zu gew innen oder mit einem Supermodel zu speisen, kann die Amygdala aktiv ieren. Diese Ereignisse mögen nicht stressintensiv erscheinen, aber vergessen Sie nicht, unser Gehirn unterscheidet nicht zwischen „guten“ und „schlechten“ Anforderungen an das System. Und im evolutionären Licht betrachtet, sind finanzielle Segnungen oder ein gutes Date im Sinne des Prosperierens und Fortpflanzens durchaus relevant für das Überleben. Die Amygdala ist mit vielen Teilen des Gehirns verbunden und erhält somit eine große Bandbreite an Input – von dem ein Teil durch das auf höchster Ebene angesiedelte Verarbeitungszentrum des prä frontalen Cortex geleitet wird, und ein Teil indirekt übertragen wird, unter Umgehung des Cortex. Das erklärt, warum selbst eine unterbewusste Wahrnehmung oder Erinnerung eine Stressreaktion auslösen kann. Innerhalb von zehn Millisekunden, nachdem der Alarm ausgelöst wurde, feuert die Amygdala Botschaften ab, die bewirken, dass die Nebenniere in verschiedenen Phasen verschiedene Hormone freisetzt. Zuerst werden durch Noradrenalin blitzartige elektrische Impulse ausgelöst, die durch das sympathische Nervensystem 81 Kapitel 3: Stress gehen und die Nebenniere aktivieren, das Hormon Noradrenalin oder Adrenalin in den Blutkreislauf auszuschütten. Die Folge ist eine Erhöhung des Herzschlags, Blutdrucks und der Atmung, was zum Zustand der physischen Erregung beiträgt, die wir unter Stress empfinden. Gleichzeitig werden die von Noradrenalin und dem Corticotropin-freisetzenden Faktor (CRF) transportierten Sig nale von der Amygdala zum Hypot halamus gesendet, wo sie Bot schaftern übergeben werden, die dann den langsamen „Zug“ durch den Blutkreislauf nehmen. Diese Botschafter veranlassen die Hirn anhangdrüse (Hypophyse), einen anderen Teil der Nebenniere zu aktivieren, die das zweite wichtige Hormon der Stressreaktion freisetzt: Cortisol. Dieses Relais vom Hypothalamus über die Hirn anhangdrüse zur Nebenniere wird als die HPA-Achse bezeichnet, und durch die Rolle, die sie bei der Aktivierung von Cortisol und dem Abschalten der Reaktion spielt, ist sie ein Hauptakteur in der Geschichte des Stresses. In der Zwischenzeit hat die Amygdala dem Hippocampus signalisiert, dass dieser beginnen soll, Erinnerungen aufzuzeichnen, und weitere Signale sind an den präfrontalen Cortex gesendet worden, der dann entscheidet, ob die Bedrohung wirklich eine Reaktion verdient. Den Menschen unterscheidet vom Tier, dass die Gefahr nicht klar und gegenwärtig sein muss, um eine Reaktion auszulösen – wir können sie antizipieren, wir können sie erinnern, und wir können sie begrifflich erfassen. Und diese Fähigkeit kompliziert unser Leben erheblich. „Der Geist ist so stark, dass wir die [Stress-] Reaktion auslösen können, indem wir uns einfach eine bedrohliche Situation vorstellen“, schreibt der Neurowissenschaftler Bruce McEwen von der Rockefeller University in seinem Buch The End of Stress as We Know It. Mit anderen Worten, wir können uns selbst in den Wahnsinn denken. McEwens Aussage verdeutlicht jedoch auch eine wichtige Kehr seite der Medaille: Wir können diesem Wahnsinn im wahrsten Sinne des Wortes davonlaufen. Denn ebenso, wie der Geist den Körper beeinflussen kann, kann der Körper den Geist beeinflussen. Aber die Vorstellung, dass wir unseren mentalen Zustand durch körperliche Bewegung verändern können, muss von den meisten Ärzten erst noch akzeptiert werden, ganz zu schweigen von der breiteren 82 Die größte Herausforderung Bevölkerung. Dies ist das Grundthema meiner Arbeit, und im Zu sammenhang mit Stress ist es besonders relevant. Schließlich besteht der Sinn und Zweck der Kampf-oder-Flucht-Reaktion darin, uns zum Handeln zu mobilisieren. Das heißt, dass körperliche Aktivität der natürliche Weg ist, um die negativen Folgen von Stress zu verhindern. Wenn wir uns als Reaktion auf Stress körperlich oder sportlich betätigen, tun wir genau das, was der Mensch als Ergebnis seiner evolutionären Entwicklung von mehreren Millionen Jahren im Grunde tun muss. Auf einer Ebene ist das ganz einfach. Aber natürlich gibt es viele Ebenen, die zu untersuchen sind. Fokussieren Das allumfassende Prinzip der Kampf-oder-Flucht-Reaktion ist, Ressourcen für unmittelbare Notwendigkeiten zu mobilisieren, statt für die Zukunft zu bauen – nach dem Motto: Handle jetzt, frage später. Der durch Stress ausgelöste Hormonschub an Adrenalin fokussiert den Körper, erhöht die Herzfrequenz und den Blutdruck und erweitert die Bronchien, sodass die Lungen mehr Sauerstoff zu den Muskeln transportieren können. Adrenalin bindet sich an Muskelspindeln an, und dies erhöht die Ruhespannung der Muskeln, sodass sie gerüstet sind, diese Spannung in Handeln zu entladen. Im Falle einer Wunde verengen sich die Blutgefäße in der Haut, um das Bluten einzudämmen. Endorphine werden im Körper freigesetzt, um den Schmerz zu dämpfen. Bei diesem Szenario werden biologische Notwendigkeiten wie Essen und Fortpflanzung auf Eis gelegt. Das Verdauungssystem wird abgeschaltet; die Muskeln, die genutzt werden, um die Blase zusammenzuziehen, entspannen sich, um keine Glukose zu verschwenden; und der Speichelfluss wird eingestellt. Wenn Sie jemals in der nervenaufreibenden Situation waren, eine Rede in der Öffentlichkeit halten zu müssen, dann haben Sie diese Veränderung in Form von Herzrasen und trockenem Mund erlebt. Ihre Muskeln und Ihr Gehirn werden angespannt, und Sie verlieren 83 Kapitel 3: Stress jede Hoffnung, flexibel und einnehmend zu sein. Oder wenn das vom Cortex an die Amygdala weitergegebene Signal abbricht, können Sie nicht mehr denken und erstarren. Genau genommen müsste die ausgewachsene Stressreaktion eigentlich „Erstarrung oder Kampf oder Flucht“ heißen. Aber nichts davon ist sonderlich hilfreich, wenn Sie da oben auf dem Podium stehen. Der Körper reagiert jedoch im Wesentlichen gleich, egal, ob Sie auf einen hungrigen Löwen hinunter starren oder auf ein unruhiges Publikum. Zwei Neurotransmitter versetzen das Gehirn in einen Alarmzu stand: Noradrenalin erregt die Aufmerksamkeit, die von Dopamin dann geschärft und fokussiert wird. Warum manche Personen mit dem Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) als Stress-Junkies erscheinen, ist auf ein Ungleichgewicht dieser Neurotransmitter zurückzuführen. Sie müssen gestresst sein, um sich konzentrieren zu können. Dies ist einer der Hauptfaktoren bei der Verzögerung oder dem Hinausschieben von Dingen. Die Betroffenen lernen, so lange zu warten, bis das Damoklesschwert dabei ist, zu fallen – erst dann werden durch Stress Noradrenalin und Dopamin freigesetzt, sodass sie sich hinsetzen und die Arbeit tun können. Die Notwendigkeit von Stress erklärt auch, warum ADHS-Patienten sich manchmal selbst ein Schnippchen zu schlagen scheinen. Wenn alles gut läuft, müssen sie die Situation aufmischen und finden unbewusst einen Weg, eine Krise heraufzubeschwören. Ich habe eine Patientin, die nach einer Reihe dysfunktionaler Beziehungen endlich einen Mann gefunden hat, den sie wirklich bewundert und der sie gut behandelt. Aber jedes Mal, wenn alles gut läuft, bricht sie einen Streit vom Zaun. Sich das Muster des Stress-Junkies vor Augen zu halten, hilft ihr, sich ihre Neigung bewusst zu machen und, so hoffe ich, sich zu fangen, bevor sie wieder Schwierigkeiten lostritt. 84 Die größte Herausforderung Brennstoff Um die antizipierte Aktivität der Muskeln und des Gehirns voranzutreiben, wird Adrenalin umgehend in Glykogen und Fettsäuren werden in Glukose umgewandelt. Cortisol, das durch das Blut transportiert wird, arbeitet langsamer als Adrenalin, aber seine Wirkungen sind unglaublich weit reichend. Bei der Stressreaktion spielt Cortisol unterschiedliche Rollen, eine davon ist die des Verkehrspolizisten für den Stoffwechsel. Cortisol übernimmt die Rolle des Adrenalins und signalisiert der Leber, dem Blutkreislauf mehr Glukose zur Verfügung zu stellen, während gleichzeitig die Insulinrezeptoren an unwesentlichen Geweben und Organen blockiert und bestimmte Kreuzungen gesperrt werden, sodass der Brennstoff nur zu den Bereichen fließt, die wichtig für „Kampf-oder-Flucht“ sind. Dahinter steht die Strategie, den Körper insulinresistent zu machen, damit dem Gehirn genügend Glukose zur Verfügung steht. Das Cortisol beginnt auch, sozusagen, die „Regale wieder aufzufüllen“, also Energievorräte anzulegen, die durch die Aktion des Adrenalins erschöpft wurden. Es wandelt Eiweiß in Glykogen um und startet so den Prozess der Fettspeicherung. Wird dieser Prozess ungehindert fortgesetzt, wie bei chronischem Stress, sammelt sich durch die Aktion des Cortisols ein Überschuss an Brennstoff im Bauchbereich an, und zwar in Form von Bauchfett. (Dauerhaft ausgeschüttetes Cortisol erklärt auch, warum manche Marathonläufer trotz all ihres Trainings einen kleinen Bauch haben – ihr Körper bekommt nie die Chance, sich ausreichend zu erholen.) Das Problem mit unserer ererbten Stressreaktion ist, dass sie Energievorräte mobilisiert, die nicht gebraucht werden. Mehr dazu später. In der Anfangsphase der Stressreaktion fördert Cortisol auch die Freisetzung des insulinähnlichen Wachstumsfaktors (IGF-1), der ein wichtiges Bindeglied bei der Versorgung der Zellen mit Brennstoff ist. Das Gehirn ist ein starker Verbraucher von Glukose, auf das etwa 20 Prozent des verfügbaren Brennstoffes entfallen, auch wenn es nur etwa drei Prozent unseres Körpergewichtes ausmacht. Das Gehirn verfügt jedoch nicht über die Fähigkeit, Brennstoff zu lagern, sodass 85 Kapitel 3: Stress die Rolle des Cortisols, einen steten Fluss von Glukose zu gewährleisten, entscheidend für eine ordnungsgemäße Hirnfunktion ist. Da das Gehirn auf der Grundlage eines stabilen Brennstoffhaushaltes arbeiten muss, hat es sich so entwickelt, dass Energieressourcen je nach Bedarf verlagert werden, das heißt, dass die mentale Verarbeitung wettbewerbsorientiert ist. Es ist einfach nicht möglich, dass alle unsere Neuronen gleichzeitig feuern, sodass, wenn eine Struktur aktiv ist, dies auf Kosten einer anderen gehen muss. Eines der Probleme bei chronischem Stress ist, dass den denkenden Teilen des Gehirns Energie entzogen wird, wenn die HPA-Achse den ganzen Brennstoff verschlingt, um das System in Alarmbereitschaft zu halten. Weisheit Das Aufzeichnen von Erinnerungen stressreicher Situationen ist ein adaptives Verhalten von offensichtlichem evolutionärem Nutzen. Es ist die Weisheit unserer kollektiven Erfahrung, die es uns ermöglicht hat, zu überleben, und Cortisol hat dabei eine entscheidende Rolle gespielt. Der Neuroendokrinologe Bruce McEwen entdeckte als Erster in den 1960ern Cortisolrezeptoren im Hippocampus des Gehirns von Ratten und später bei Rhesusaffen. Inzwischen wissen wir, dass sie auch beim Menschen vorkommen. Diese Erkenntnis alarmierte anfänglich die Wissenschaftler, da das Stresshormon toxisch für Gehirnzellen war, wie dies in einer Petrischale im Labor nachgewiesen werden konnte. „Was tut Cortisol tatsächlich, um diese Erinnerungen festzuhalten?“ fragt er. „Alles, was wir sagen können, ist Folgendes: Wenn man nicht zu dem Zeitpunkt, in dem diese Erinnerungen gebildet werden, genügend Cortisolrezeptoren im Hippocampus hat, dann ist der Lernprozess weniger effizient. An den Details wird noch gearbeitet.“ Genau wie der Stress selbst scheint Cortisol nicht einfach gut oder schlecht zu sein. Ein wenig Cortisol ist hilfreich, um Erinnerungen festzuhalten; zu viel unterdrückt sie; und eine Überlastung kann die Verbindungen zwischen Neuronen und Erinnerungen gar zerstören. 86 Die größte Herausforderung Der Hippocampus liefert den Zusammenhang für die Erinnerung – das Was, Wie, Wo und Wann. Und die Amygdala liefert die emotionalen Inhalte – Angst oder Aufregung. Auf Anweisung des prä frontalen Cortex kann der Hippocampus Erinnerungen vergleichen und sagen: „Keine Sorge, das ist ein Stock, keine Schlange“, und hat damit die Möglichkeit, die HPA-Achse direkt abzuschalten und die Stressreaktion zu beenden. Solange sie nicht überreizt ist. Innerhalb von Minuten, nachdem die Alarmglocke geläutet wurde, binden sich Cortisol, der Corticotropin-freisetzende Faktor und Noradrenalin – die Hauptstressagenzien im Gehirn – an Zellrezepto ren an, die den Glutamatspiegel erhöhen. Glutamat ist der stimulierende Neurotransmitter, der für die gesamte Signalgebung im Hip pocampus verantwortlich ist. Die Erhöhung der Glutamataktivität beschleunigt den Informationsfluss im Hippocampus und verändert die Dynamik an den Synapsen, sodass jedes Mal, wenn eine Botschaft gesendet wird, das Signal leichter gefeuert wird und weniger Glutamat erforderlich ist. Anfänglich verbessert die Stress reaktion dann die Langzeit-Potenzierung (LTP), den grundlegenden Mechanismus des Erinnerungsvermögens. Die Kurzzeiterinnerung ist wahrscheinlich das Ergebnis dieser anfänglichen Erhöhung der Erregbarkeit der Neuronen im Hippo campus. Wenn der Cortisolspiegel einen Höchststand erreicht, stimuliert Cortisol die Gene in den Zellen, mehr Protein herzustellen, das als Baumaterial für die Zellen genutzt wird: mehr Dendriten, mehr Rezeptoren und „buschigere“ Synapsen. Ab jetzt wird es dann kurios. Die gestärkten Zellen zementieren die überlebenswichtige Erinnerung und schirmen die Neuronen in diesem Schaltkreis gegenüber weiteren Anforderungen ab. Ein Neuron kann Teil einer beliebigen Anzahl von Erinnerungen sein. Aber wenn eine potenzielle Erinnerung bei Stress anrollt, hat sie mehr Schwierigkeiten, Neuronen für ihren eigenen neuen Schaltk reis zu rekrutieren. Die Erinnerung muss eine bestimmte Schwelle überschreiten, um Ein druck zu machen. Dies erklärt wahrscheinlich, warum Erinnerungen, die sich nicht auf den Stressor beziehen, bei der Stressreaktion blockiert werden. Es hilft auch erklären, warum ein permanent hoher Cortisolspiegel – aufgrund von chronischem Stress – es schwer macht, etwas Neues 87 Kapitel 3: Stress zu lernen, und warum Menschen, die depressiv sind, Schwierigkeiten haben, zu lernen. Es ist nicht nur die mangelnde Motivation, sondern auch damit zu erklären, dass die Neuronen im Hippocampus ihre Glutamatmaschinerie verstärkt und weniger wichtige Reize ausgeschlossen haben. Der Stress hat sie voll in Beschlag genommen. Studien mit Menschen haben auch gezeigt, dass ein Überfluss an Cortisol den Zugang zu bestehenden Erinnerungen blockieren kann. Dies erklärt, wieso Menschen vergessen können, wo der Notausgang ist, wenn tatsächlich ein Feuer ausbricht – die Leitungen sind sozusagen gekappt. Bei zu viel Stress verlieren wir die Fähigkeit, Erinnerungen zu bilden, die nichts miteinander zu tun haben, und sind vielleicht auch nicht in der Lage, diejenigen abzurufen, die wir haben. Das nächste Mal, wenn Sie gezwungen sind, an einer Brandschutzübung teilzunehmen, bedenken Sie, dass der neurologische Punkt der Übung darin besteht, diese Schaltkreise stärker zu machen, die Erinnerung einzubrennen. Bei einem Übermaß an Stress stellt sich bei Ihnen, wie ich später noch erklären werde, der Petrischalen-Effekt ein – Cortisol untergräbt die Neuronen. Unsere Instinkte bekämpfen Die Stressreaktion ist ein absolut adaptives Verhalten; da man in der heutigen Welt damit jedoch nicht sehr weit kommt, gibt es nichts, worüber man all diese aufgestaute Energie kanalisieren könnte. Man muss eine bewusste Anstrengung unternehmen, um die physische Komponente von Kampf oder Flucht ins Spiel zu bringen und zu aktivieren. Der menschliche Körper ist für regelmäßige körperliche Aktiv i täten gebaut, aber für wie viel? In einem Artikel, der 2002 im Journal of Applied Physiology erschien, gingen Forscher genau dieser Frage nach, indem sie sich das Muster körperlicher Bewegung bei unseren Vorfahren anschauten, das sie als den paläolithischen Rhythmus bezeichnen. Von der Zeit, in der der Homo Sapiens vor zwei Millionen Jahren entstand, bis zum revolutionären Übergang zu Ackerbau und Viehzucht vor zehntausend Jahren, waren alle Menschen Jäger und 88 Die größte Herausforderung Sammler, und das Leben war geprägt von Perioden intensiver körperlicher Aktivitäten, gefolgt von Tagen der Ruhe. Entweder war Schlemmen oder Hungern angesagt. Wenn man die Menge an „körperlicher Bewegung“ unserer Vor fahren berechnet und sie mit den Zahlen vergleicht, die man heutzutage erhält, sieht man problemlos, wo das Problem liegt: Unser durchschnittlicher Energieverbrauch pro Body-Mass-Einheit beläuft sich auf weniger als 38 Prozent des Energieverbrauchs unserer Steinzeit-Vorfahren. Und ich glaube, man kann durchaus sagen, dass sich unsere Kalorienaufnahme im Vergleich zu damals deutlich erhöht hat. Der entscheidende Punkt ist, selbst wenn wir uns an die strengsten staatlichen Empfehlungen für körperliche Bewegung hielten und 30 Minuten jeden Tag absolvieren würden, dass unser Energieverbrauch immer noch weniger als die Hälfte dessen ausmachen würde, was in unseren Genen verschlüsselt ist. Im paläolithischen Zeitalter musste der Mensch an einem Tag im Durchschnitt acht bis 15 Kilometer zurücklegen, nur um Essen zu finden und sich zu versorgen. Heute müssen wir nicht viel Energie dafür aufwenden, um Nah rung zu finden, und wir müssen mit Sicherheit auch nicht unser Gehirn anstrengen, um herauszufinden, wie wir an unsere nächste Mahlzeit kommen. Diese Situation hat sich erst etwa im letzten Jahrhundert ergeben, unsere Biologie braucht jedoch Zehntausende von Jahren um sich an die völlig neuen Gegebenheiten anzupassen – insofern gibt es eine Diskrepanz zwischen unserem Lebensstil und unseren Genen. Die menschlichen Gene sind von Natur aus sparsam, sodass wir letzten Endes Kalorien horten, während wir an unseren Schreibtischen sitzen. Im Zusammenhang mit Stress besteht das größte Paradoxon der modernen Ära möglicherweise darin, dass es nicht mehr genug Müh sale gibt, sondern nur mehr Nachrichten – und auch noch zu viele davon. Die rund um die Uhr von unterschiedlichsten digitalen Displays auf uns einströmende Flut an Tragödien und Anforderungen lässt die Amygdala auf Hochtouren laufen. Das Negative und das Hektische und das Hoffnungslose häufen sich zu Stress auf, wobei wir jedoch davon ausgehen, dass wir alles bewältigen können, weil wir es immer geschafft haben. Bis zu einem bestimmten Punkt. Dann möchten 89 Kapitel 3: Stress wir uns einfach nur noch entspannen und eine Pause machen, also greifen wir zu einem Drink und lassen uns vor dem Fernseher in den Sessel fallen oder machen uns auf, um uns irgendwo an einen Strand zu setzen. Es ist kein Wunder, dass Fettleibigkeit sich in den letzten 20 Jahren verdoppelt hat – unser heutiger Lebensstil ist sowohl stressreicher als auch bewegungsärmer. Vielleicht haben Sie schon Werbeanzeigen für Diätpillen gesehen, die, indem sie Cortisol blockieren, schlank machen und den Bauch verschwinden lassen. Dabei macht der Bauch nur seine Arbeit, indem er Energievorräte als Sicherung gegen die nächste Hungersnot hortet. Bei chronischem Stress sammelt sich dieser Vorrat um den mittleren Teil des Bauches herum in Form eines Ersatzreifens an. Dies ist nicht nur für Ihren Körperbau, sondern auch für Ihre Gesundheit schädlich, da Fettpolster sich leicht ihren Weg in die Herzarterien bahnen und einen Gefäßverschluss auslösen können. Jedem, der skeptisch gegenüber der Vorstellung ist, dass Stress töten kann, sei gesagt, dass genau hier eine der physischen Verbindungen zwischen Stress und Herzinfarkt liegt. Die Anreicherung von Fett wird nach einem stressintensiven Ereignis noch dadurch verschärft, dass wir dann oft einen Drang nach Trostessen haben. Unser Körper verlangt nach mehr Glukose, und einfache Kohlehydrate und Fett – wie sie uns zum Beispiel aus einer Schachtel Donuts anlachen – sind schnell in Brennstoff umgewandelt. Im modernen Leben kommt hinzu, dass die Menschen in der Regel weniger Freunde und weniger Unterstützung haben, da es keinen Stamm mehr gibt. Alleinsein ist jedoch nicht gut fürs Gehirn. Um bei Ratten eine physiologische Stressreaktion auszulösen, greifen Wissenschaftler zu dem verbreiteten Mittel, sie aus ihrer gewohnten sozialen Umgebung herauszunehmen; allein dadurch, dass sie isoliert werden, werden ihre Stresshormone aktiviert. Das Gleiche gilt für den Menschen: Es ist stressig, gemieden zu werden oder isoliert zu sein. Einsamkeit ist eine Bedrohung für das Überleben. So ist es denn auch kein Zufall, dass, je weniger wir körperlich aktiv sind, desto geringer die Wahrscheinlichkeit ist, dass wir aus uns herausgehen und jemanden berühren. Studien zeigen, dass wir gesellschaftlich aktiver werden, wenn wir unserem Leben körperliche 90 Die größte Herausforderung Aktivitäten hinzufügen – sie fördern unser Selbstvertrauen und bieten Gelegenheit, Menschen zu begegnen und kennen zu lernen. Die Vitalität und Motivation, die körperliche Aktivitäten mit sich bringen, helfen uns, soziale Verbindungen aufzubauen und aufrechtzuerhalten. An Ihrem Wunsch, eine Pause einzulegen, ist nichts auszusetzen. Die Frage ist, wie sie sich entscheiden, diese Zeit zu verbringen. Das Trostessen, das schnelle Fett und der schnelle Zucker, der Alkohol, um das Ganze zu ertragen, oder bei einigen Menschen die Tabletten oder andere Suchtmittel, das sind die Dinge, die zu Problemen führen. Wenn Sie sich indes für körperliche Bewegung oder Sport oder auch nur für gesellschaftlichen Umgang entscheiden, entscheiden Sie sich für das evolutionäre Gegenmittel zu Stress. Manchmal ist es einfach eine Frage des Ersatzes, wie meine Pa tientin Susan bezeugen kann. Sie hält sich nicht immer an ihr Seil springen, aber wenn sie es ausfallen lässt, hält sie sich vor Augen, wie sie sich in der Regel nach dieser Übung fühlt. „Wenn ich eine gute Übungseinheit schaffe, liefert sie mir als Ersatz jenes beschwingte Gefühl des Wohlbefindens, das ich bekomme, wenn ich Wein trinke oder etwas esse oder sonst etwas“, sagt sie. „Was auch immer dieses Verlangen oder der Drang ist, diese Sache im Gehirn, es ist der Ersatz dafür. Und es ist wie eine Befreiung für mich, dass ich darüber hinausdenken und in die Zukunft sehen kann.“ Was dich nicht umbringt … Muskeln werden bekanntlich aufgebaut, indem man bis zum Mus kelversagen trainiert, und sie dann ruhen lässt. Das gleiche Muster gilt für Nervenzellen, die eingebaute Reparatur- und Erholungsme chanismen haben, die durch leichten Stress aktiviert werden. Das Großartige an sportlicher Betätigung ist, dass sie den Genesungs prozess in unseren Muskeln und Neuronen anstößt, sodass unser Körper und unser Geist stärker und widerstandsfähiger werden und besser in der Lage sind, mit künftigen Herausforderungen fertig zu werden, schnell zu reagieren und sich problemloser anzupassen. 91 Kapitel 3: Stress Regelmäßige aerobe Übungen beruhigen den Körper, sodass er mehr Stress bewältigen kann, bevor eine heftige Reaktion mit erhöhter Herzfrequenz und erhöhten Stresshormonspiegeln einsetzt. Sie verschieben den Auslösepunkt der physischen Reaktion weiter nach hinten. Im Gehirn festigt der leichte Stress der Übungen die Infrastruktur unserer Nervenzellen, da Gene aktiviert werden, bestimmte Proteine zu produzieren, die die Zellen vor Schädigung und Krankheiten schützen. Somit erhöhen aerobe Übungen auch die Stressschwelle unserer Neuronen. Die zellulare Stress- und Regenerationsdynamik findet an drei Fronten statt: Oxidation, Stoffwechsel und Erregung. Wenn eine Nervenzelle aktiviert wird, wird ihre Stoffwechsel maschinerie wie die Warnleuchte an einem Hochofen eingeschaltet. Die von der Zelle aufgenommene Glukose wird von den Mito chondrien in Adenosintriphosphat (ATP) umgewandelt – die Haupt brennstoffart, die eine Zelle verbrennen kann –, und genau wie bei einem Energieumwandlungsprozess fallen dabei Abfallprodukte an. Dies ist oxidativer Stress. Unter normalen Umständen produziert die Zelle auch Enzyme, deren Aufgabe es ist, Abfallprodukte wie freie Radikale – Moleküle mit einem Defektelektron, die die Zellstruktur schädigen – „aufzuwischen“, indem sie herumnavigieren und versuchen, das Elektron zu neutralisieren. Diese schützenden Enzyme sind unsere inneren Antioxidanzien. Metabolischer Stress tritt auf, wenn die Zellen nicht ausreichend ATP produzieren können, weil Glukose entweder nicht in die Zelle gelangen kann oder weil die Menge nicht ausreicht, um alle Zellen zu versorgen. Exzitotoxischer Stress tritt auf, wenn die Glutamat-Aktivität so hoch ist, dass es nicht genügend ATP gibt, um dem Energiebedarf des erhöhten Informationsflusses gerecht zu werden. Hält dieser Zustand zu lange an, ohne eine Erholungsphase, gibt es ein Problem. Dann befindet sich die Zelle auf dem Todesmarsch, da sie gezwungen ist, ohne Nahrung oder Ressourcen zu arbeiten, um den Schaden zu reparieren. Die Dendriten schrumpfen, und dies führt schließlich zum Zelltod. Dieser Mechanismus, der Krankheiten wie Alzheimer oder Parkinson und selbst dem Alterungsprozess zugrunde liegt, wird als Neurodegeneration bezeichnet. Es ist weitestgehend auf intensive 92 Die größte Herausforderung Untersuchungen dieser Krankheiten zurückzuführen, dass Wissen schaftler die natürlichen Gegenmaßnahmen des Körpers bei zellularem Stress entdeckt haben. Und dies erklärt, warum Mark Mattson, Leiter des neurowissenschaftlichen Labors am National Institute on Aging so geizig mit der Nahrung für seine Laborratten umgeht. Bei vielen seiner Expe rimente nutzt Mattson die diätetische Beschränkung, um leichten zellularen Stress zu verursachen – es gibt nicht genügend Glukose, um ausreichende Mengen ATP zu produzieren –, und er hat festgestellt, dass Mäuse und Ratten, die nur ein Drittel ihrer normalen Kalorienmenge erhalten, im Durchschnitt bis zu 40 Prozent länger leben. Seine Arbeit hat dazu beigetragen, schützende Moleküle zu identifizieren, die bei verschiedenen Arten von Stress freigesetzt werden, auch bei aeroben Übungen. Zu den wirksamsten Bestandteilen der Kaskade von Reparatur molekülen gehören diese Wachstumsfaktoren: neurotropher Faktor BDNF (Brain-Derived Neurotrophic Factor), insulinähnlicher Wachstumsfaktor (IGF-1), Fibroblasten-Wachstumsfaktor (FGF-2) und der vaskuläre endotheliale Wachstumsfaktor (VEGF), auf die ich in Kapitel 2 eingegangen bin. BDNF ist aufgrund seiner dualen Rolle beim Energiestoffwechsel und bei der synaptischen Plastizität für die Stressforscher von besonderem Interesse. BDNF wird indirekt durch Glutamat aktiviert und erhöht die Produktion von Antioxidanzien in der Zelle sowie von schützenden Proteinen. Und wie ich erwähnt habe, stimuliert BDNF auch die Langzeit-Potenzierung (LTP) sowie das Wachstum neuer Nervenzellen und stärkt somit das Gehirn gegen Stress. Körperliche Bewegung oder Sport zu nutzen, um das Gehirn gegen Stress zu impfen, bietet den Vorteil, dass dadurch mehr Wachstumsfaktoren als durch andere Reize produziert werden. Sie werden nicht nur vom Gehirn produziert, sondern FGF-2 und VEGF werden zusätzlich auch durch Muskelkontraktionen erzeugt und gelangen dann durch den Blutkreislauf ins Gehirn, um die Neuronen weiter zu unterstützen. Dieser Prozess ist ein erstklassiges Beispiel dafür, wie der Körper Einfluss auf den Geist hat. Die Wachstumsfaktoren stellen ein wichtiges Bindeglied zwischen Stress, Stoffwechsel und Gedächtnis dar. „Die Komplexität unseres Gehirns hat sich hauptsächlich so entwickelt, damit wir um 93 Kapitel 3: Stress begrenzte Ressourcen konkurrieren können“, sagt Mattson. „Das ergibt auch Sinn, denn bei der Evolution mussten Organismen intellektuell miteinander konkurrieren, um herauszufinden, wie sie Nahrung finden konnten.“ Mattsons neueste Arbeit wird die Art und Weise verändern, wie wir einige unserer gesündesten Nahrungsmittel sehen. Inzwischen ist eine gewaltige Industrie entstanden, die bei ihrer Verkaufsförderung die krebsbekämpfenden Eigenschaften von Nahrungsmitteln und Produkten, die Antioxidanzien enthalten, in den Vordergrund stellen. Essen Sie mehr antioxidanzienhaltigen Brokkoli, heißt es, und Sie haben ein längeres und gesünderes Leben. Das stimmt vielleicht, aber nicht aus den Gründen, die die Marketingleute Ihnen weismachen wollen. Wie sich herausstellt, sind diese Nahrungsmittel nicht nur besonders nutzbringend, weil sie Antioxidanzien enthalten, sondern auch, weil sie Toxine enthalten. „Viele der nutzbringenden Chemikalien in Pflanzen – Gemüse und Obst –, haben sich als Toxine entwi ckelt, um Insekten fernzuhalten und andere Tiere davon abzuhalten, sie zu essen“, erklärt Mattson. „Ihre Wirkungsweise beruht auf einer leichten, adaptiven Stressreaktion, die in den Zellen ausgelöst wird. Brokkoli enthält beispielsweise eine Chemikalie namens Sulforaphan; diese aktiviert nachweislich Stressreaktionspfade in den Zellen, die antioxidative Enzyme hochregulieren. Brokkoli enthält zwar Antioxidanzien, die aber auf dem Niveau, auf dem Sie sie über Ihre Ernährung beziehen können, nicht als Antioxidanzien wirken.“ Genau wie bei den Arbeitern der Atomschiffwerft erzeugt ein mildes Gift eine adaptive Stressreaktion, die die Zellen stärkt. Es ist der gleiche Prozess, der durch diätetische Beschränkung und körperliche Bewegung erzeugt wird. Die Überschrift eines Zeitschriftenartikels von Mattson sagt eigentlich alles: „Neuroprotective signaling and the aging brain: Take away my food and let me run“ (Neuroprotektive Signalgebung und das alternde Gehirn: Nimm mir mein Essen weg und lass mich laufen). Widerstandsfähigkeit wird von diesen Abfall entsorgenden Enz y men, neuroprotektiven Faktoren und Proteinen aufgebaut, die den natürlichen, programmierten Zelltod verhindern. Ich stelle mir diese 94 Die größte Herausforderung Elemente gerne als Armeen vor, die immer in Bereitschaft stehen, um es mit dem nächsten Stress aufzunehmen. Der beste Weg, Wider standsfähigkeit aufzubauen, ist selbst für leichten Stress zu sorgen: Indem Sie das Gehirn nutzen, um zu lernen, indem Sie Kalorien einschränken, sich körperlich bewegen oder sportlich betätigen und, wie Mattson und Ihre Mutter Sie ermahnen würden, Ihr Gemüse essen. All diese Aktivitäten sind Herausforderungen für die Zellen, bei denen Abfallprodukte entstehen, die genügend stressreich sein können. Das Paradoxon ist, dass unsere wunderbare Fähigkeit, uns anzupassen und zu wachsen, nicht ohne Stress vonstattengeht – wir können das Gute nicht haben, ohne auch etwas Schlechtes in Kauf zu nehmen. Genug ist genug Wie alles im Gehirn hängt auch die Stressreaktion von einem delikaten Gleichgewicht aller Bestandteile ab, die ich erwähnt habe (und vieler, vieler, die ich nicht genannt habe). Wenn leichter Stress chronisch wird, löst die unermüdliche Kaskade von Cortisol genetische Aktionen aus, die sodann synaptische Verbindungen durchtrennen und Dendriten schrumpfen und Zellen sterben zu lassen; am Ende kann der Hippocampus wie eine Rosine physisch schrumpeln. Es gibt eine Reihe von Szenarien, bei denen der Körper den Strom an Stresshormonen nicht abschaltet. Das offensichtlichste Szenario ist einfach ununterbrochener Stress. Wenn wir nie eine Pause bekommen, wird der Erholungsprozess nie einsetzen, die Amygdala unentwegt feuern, und die Cortisol-Produktion ein gesundes Maß übersteigen. Manchmal ist der Kampf-oder-Flucht-Schalter dauerhaft eingeschaltet, so, als würde er klemmen. Nach epidemiologischen Erhebungen kann dies genetisch bedingt sein: Wenn man eine stichprobenartig zusammengesetzte Gruppe von Personen in eine stressige Situation des Redens in der Öffentlichkeit bringt, zeigen diejenigen, deren Eltern unter Bluthochdruck litten, noch 24 Stunden nach der Rede erhöhte Cortisol-Spiegel. Oder es kann umweltbedingt sein: Ratten, deren Mütter vor der Geburt wiederholtem 95 Kapitel 3: Stress Stress ausgesetzt waren, hatten später, als sie heranwuchsen, geringere Stresstoleranzschwellen als Ratten aus einer normalen Vergleichsgruppe. Das heißt, dass sie leichter gestresst sind, sowohl physisch als auch psychisch. Personen mit einem geringen Selbstwertgefühl haben auch eine niedrigere Stresstoleranzschwelle, auch wenn Wissenschaftler sich nicht sicher sind, was von beidem zuerst da war. Im Übrigen wird jeder, unabhängig von seiner Natur und der Umwelt, in der er aufwächst, die nachteiligen Effekte chronischen Stresses zeigen, wenn es kein Ventil für Frustration, kein Gefühl der Kontrolle und keine soziale Unterstützung gibt. Wenn es keine Hoffnung gibt, schaltet unser Gehirn die Reaktion tatsächlich nicht ab. Die Toleranzschwelle für Stress ist individuell verschieden, und dieser Punkt kann sich infolge von Einflüssen aus der Umwelt oder unseren Genen oder unserem Verhalten oder einer Kombination dessen verändern. Ebenso wie die Neurochemie des Gehirns verändert sich unsere Stressschwelle ständig. Die Schwelle wird naturgemäß durch den Alterungsprozess zwar gesenkt, durch aerobe Übungen können wir sie jedoch um einiges erhöhen. Es gibt keinen konkreten Punkt, von dem Wissenschaftler sagen können, dass sich ab hier das Aufbauen in Abbauen verkehrt. Aber sie kennen mit Sicherheit die Auswirkungen, wenn sie sie sehen. Die zersetzenden Effekte von Stress Stress prägt zwar Erinnerungen, die für das Überleben wichtig sind, aber ein Zuviel davon schlachtet genau die Struktur aus, die jenes Prägen vornimmt. Während Cortisol zunächst die Langzeit-Potenzie rung (LTP) durch Erhöhung der Glutamat-Übertragung im Hippo campus sowie den Fluss von BDNF, Serotonin, IGF-1 und ähnlicher Substanzen unterstützt, aktiviert es auch Gene, die letzten Endes In formationen unterdrücken und verhindern, dass sie ebendiese Schalt kreise erreichen. Ein gewichtiger Kontext sticht eine Vielzahl von weniger wichtigen aus. Das System verliert seine Flexibilität und setzt die Prioritäten nach zunehmend starren Kriterien. 96 Die größte Herausforderung Ein Überschuss an Glutamat führt auch zu einer physischen Schä digung des Hippocampus. Der Neurotransmitter wirkt, indem er Calcium-Ionen, die begierig darauf sind, sich an Elektronen zu binden, in die Zelle lässt, sodass freie Radikale entstehen. Ohne genügend patrouillierende Antioxidanzien schlagen die freien Radi kalen Löcher in die Zellwände, sodass die Zelle zerreißen und sterben kann. Probleme gibt es auch draußen an den Dendriten. Wenn die Ver ästelungen zu lange in der Brühe des chronischen Stresses schmoren, ziehen sie sich zurück, um ein Sterben der Zelle zu verhindern, „wie eine Schildkröte, die ihren Kopf einzieht“, erklärt McEwen. Und da Wachstumsfaktoren und Serotonin nicht fließen, wird der Prozess der Neurogenese unterbrochen. Die neuen Stammzellen, die jeden Tag geboren werden, verwandeln sich nicht in neue Neuronen, sodass es zu einem Mangel an Baumaterial kommt, das man benötigt, um die Signale über neue Wege umzuleiten und den Teufelskreis zu unterbrechen. Monica Starkman von der University of Michigan untersucht das Cushing-Syndrom, eine endokrine Dysfunktion, bei der der Körper kontinuierlich mit Cortisol überschwemmt wird. Die wissenschaftliche Bezeichnung dieser Störung spricht Bände: Hypercortisolismus. Ihre Symptome haben eine unglaubliche Ähnlichkeit mit denen chronischen Stresses: Gewichtszunahme im mittleren Körperbereich; Zersetzung von Muskelgewebe, um unnötige Glukose und dann Fett zu produzieren; Insulinresistenz und möglicherweise Diabetes; Panikattacken, Ängste, Depression und ein erhöhtes Risiko von Herzk rankheiten. Eine der vielen Korrelationen, die Starkman aufgezeigt hat, ist das direkte proportionale Verhältnis zwischen schrumpfendem Hippocampus sowie nachlassendem Erinnerungsvermögen und erhöhtem Cortisol-Spiegel. Während chronischer Stress dem Hippocampus zusetzt – seine Dendriten stutzt, seine Neuronen tötet und eine Neurogenese verhindert –, hat die Amygdala ihren großen Tag. Durch das Übermaß an Stress werden weitere Verbindungen in der Amygdala geschaffen, die unablässig feuern und nach Cortisol verlangen, obwohl jede Menge davon verfügbar ist, und die negative Situation verselbstständigt sich. Je mehr die Amygdala feuert, desto stärker wird sie. Am 97 Kapitel 3: Stress Ende übernimmt die Amygdala die Kontrolle in ihrer Partnerschaft mit dem Hippocampus, unterdrückt den Kontext von Informationen – und damit die Verbindung zur Realität – und drückt dem Gedächtnis den Stempel der Furcht auf. Der Stress wird verallgemeinert, verbunden mit einem frei flottierenden Gefühl der Furcht, das sich in Ängste verwandelt. Alles scheint ein Stressor zu sein, und das färbt die Wahrnehmung und führt zu noch mehr Stress. „Das Tier wird ängstlicher, derweil seine kognitiven Fertigkeiten untergraben werden“, sagt McEwen. Wenn Sie unter chronischem Stress leiden, verlieren Sie die Fä higkeit, die Situation mit anderen Erinnerungen zu vergleichen, oder sich zu erinnern, dass Sie nach einem Sprungseil greifen und den Stress sofort lindern können, oder dass Sie Freunde haben, mit denen Sie sprechen können, oder dass dies nicht das Ende der Welt bedeutet. Positive und realistische Gedanken werden weniger zugänglich, und am Ende kann sich die Hirnchemie zu „Gunsten“ von Ängsten oder Depressionen verlagern. Chronischer Stress ist nicht die einzige Ursache für Ängste und Depressionen und führt auch nicht unbedingt zu einer dieser beiden Störungen. Er ist jedoch eindeutig die Ursache vieler unserer Nöte, sowohl physisch als auch psychisch, und in den kommenden Kapiteln werde ich immer wieder auf die Biologie von chronischem Stress zurückkommen. In einer gewissen Weise ist die Tatsache, dass chronischer Stress hinter vielen unserer Probleme steht, eine sehr gute Nachricht, da wir wissen, dass die Art und Weise, wie wir auf Stress reagieren, großen Einfluss darauf hat, welche Konsequenzen er für unseren Körper und unseren Geist hat. Der Großteil unserer Evolution fand in Zeiten statt, in denen wir Jäger und Sammler waren. Daran können wir zwar nichts ändern, dieses Wissen können wir uns jedoch sehr wohl zunutze machen. Denn: „Es ist keineswegs unvermeidlich oder normal, dass genau das System, das uns schützen soll, selbst zu einer Bedrohung für uns wird“, wie McEwen in seinem Buch The End of Stress as We Know It schreibt. 98 Die größte Herausforderung Die Wissenschaft, es zu verbrennen Sie wissen inzwischen, dass die Funktion des Gehirns darin besteht, Informationen von einer Synapse zur anderen weiterzuleiten, und dass dazu Energie erforderlich ist. Da körperliche Bewegung oder Sport den Stoffwechsel beeinflussen, sind sie ein wirksamer Weg, um die synaptische Funktion zu verändern und damit die Art und Weise, wie wir denken und fühlen. Körperliche Bewegung oder Sport erhöhen im ganzen Körper die Durchblutung und damit die Verfügbarkeit von Glukose, jenem lebenswichtigen Element für das Leben der Zellen. Mehr Blut bedeutet, dass mehr Sauerstoff transportiert wird, den die Zellen benötigen, um Glukose in ATP umzuwandeln und sich selbst zu ernähren. Das Gehirn verlagert den Blutfluss vom frontalen Cortex zum Mittelhirn, wo jene Strukturen lokalisiert sind, über die wir so viel gesprochen haben: Amygdala und Hippocampus. Diese Prioritätensetzung könnte erklären, warum Forscher festgestellt haben, dass höhere kognitive Funktionen bei intensiver sportlicher Betätigung beeinträchtigt sind. Es geht darum, was nach körperlicher Bewegung oder Sport ge schieht, wodurch die Gehirnfunktion optimiert wird. Zusätzlich zur Erhöhung der Kampf-oder-Flucht-Schwelle wird der zellulare Er holungsprozess in Gang gesetzt, den ich beschrieben habe. Körper liche Bewegung oder Sport erhöhen die Effizienz der interzellularen Energieproduktion, sodass die Neuronen den Energiebedarf decken können, ohne den toxischen oxidativen Stress zu erhöhen. Es werden zwar Abfallprodukte aufgebaut, aber es stehen auch die Enzyme zur Verfügung, die sie vertilgen, ganz zu schweigen von dem „Hausmeis terdienst“, der die Entsorgung von Teilchen der DNS und sonstigen Abfallprodukten übernimmt, die im Zuge des normalen zellularen Nutzungs- und Alterungsprozesses anfallen – wobei bei beiden davon ausgegangen wird, dass sie die Entwicklung von Krebs und Neurode generation verhindern helfen. Körperliche Bewegung oder Sport lösen zwar die Stressreaktion aus, sofern die Aktivität jedoch nicht extrem ist, dürfte das System nicht mit Cortisol überschwemmt werden. Körperliche Bewegung oder Sport optimieren die Energienutzung unter anderem, indem sie die Produktion von mehr Rezeptoren für 99 Kapitel 3: Stress Insulin auslösen. Mehr Rezeptoren zu haben, bedeutet für den Körper eine bessere Nutzung der Blutglukose und führt zu stärkeren Zellen. Und das Beste ist, die Rezeptoren bleiben auch an Ort und Stelle, was bedeutet, dass die neu entwickelte Effizienz eingebaut wird. Wenn Sie sich regelmäßig körperlich bewegen oder sportlich betätigen und der Bestand an Insulinrezeptoren sich erhöht, dann wird die Zelle dem Blut immer noch genügend Glukose entziehen können, um weiterhin zu funktionieren, auch wenn es zu einem Rückgang des Blutzuckers oder der Durchblutung kommt. Darüber hinaus wird durch körperliche Bewegung auch der IGF-1-Spiegel erhöht, was dem Insulin hilft, den Glukosespiegel zu kontrollieren. Im Gehirn hat IGF-1 nicht so viel damit zu tun, die Energie in die Zellen zu transportieren, als vielmehr damit, den Glukosespiegel im ganzen Körper zu regulieren. Faszinierend ist, dass IGF-1 im Hippo campus die Langzeit-Potenzierung (LTP), die Neuroplastizität und die Neurogenese erhöht. Dies ist ein weiterer Weg, wie körperliche Bewegung den Neuronen hilft, sich anzubinden. Durch Sport werden auch FGF-2 und VEGF produziert, wodurch im Gehirn neue Kapillare aufgebaut werden und das Gefäßsystem erweitert wird. Mehr Straßen und vor allem größere „Straßen“ bedeuten eine effizientere Durchblutung. Gleichzeitig erhöhen aerobe Übungen die BDNF-Produktion. Zusammengenommen stellen diese Faktoren eine Kombination von Kräften dar, die dafür sorgen, dass das Gehirn sich optimal entfal tet und die schädigenden Effekte von chronischem Stress nicht zum Tragen kommen. Darüber hinaus kurbeln sie nicht nur die zellula ren Reparaturmechanismen an, sondern halten auch das Cortisol unter Kontrolle und erhöhen darüber hinaus den Spiegel unserer regulierenden Neurotransmitter Serotonin, Noradrenalin und Do pamin. Auf der mechanischen Ebene entspannt körperliche Bewegung die Ruhespannung der Muskelspindeln, wodurch die Stress-FeedbackSchleife zum Gehirn unterbrochen wird. Wenn der Körper nicht gestresst ist, geht das Gehirn davon aus, dass es sich vielleicht auch entspannen kann. Mit der Zeit erhöht körperliche Bewegung auch die Effizienz des Herz-Kreislauf-Systems, indem der Blutdruck gesenkt wird. Kardiologen haben unlängst entdeckt, dass ein Hormon, 100 Die größte Herausforderung das sogenannte atriale natriuretrische Peptid (ANP), das vom Muskelgewebe im Herzen produziert wird, direkt die Stressreaktion des Körpers dämpft, indem die HPA-Achse gebremst und das Rauschen im Gehirn unterdrückt wird. Interessant an ANP ist, dass es sich in dem Zuge erhöht, wie sich die Herzfrequenz bei körperlicher Bewegung oder Sport erhöht, was somit einen weiteren Weg veranschaulicht, wie körperliche Aktivität sowohl das Stressgefühl als auch die Reaktion des Körpers darauf lindert. Der durch körperliche Bewegung oder sportliche Betätigung hervorgerufene Stress ist vorhersehbar und kontrollierbar, da Sie selbst der Initiator dessen sind. Und diese beiden Variablen der Vorhersehbarkeit und Kontrollierbarkeit sind für die Psychologie von entscheidender Bedeutung. Mit körperlicher Bewegung oder Sport gewinnen Sie ein Gefühl der Kontrolle und des Selbstvertrauens. In dem Zuge, wie Ihnen Ihre eigene Fähigkeit, mit Stress umzugehen, bewusst wird, und Sie merken, dass Sie nicht auf negative Bewältigungsmechanismen angewiesen sind, erhöhen Sie Ihre Fähigkeit, damit sozusagen „Schluss zu machen“. Sie lernen, darauf zu vertrauen, dass Sie damit umgehen können – was für meine Patientin Susan ein äußerst wichtiger Faktor war; mit Seilspringen hemmt sie das Gefühl des Stresses und die außer Kontrolle geratene Hirnaktivität, die damit einhergehen kann. „Meine Hirnchemie zu kennen, ist das Beste für mich“, sagt Susan. „Es ist meine Motivation, um da herauszukommen. Wenn ich in einer guten Verfassung bin, fällt mir diese Motivation leichter – Seilspringen ist fast zu einer Notwendigkeit geworden.“ Susan hat den Mechanismus verstanden, und ich hoffe, ihn allen Lesern dieses Buches vermitteln zu können. Körperliche Bewegung wehrt auf jeder Ebene, von der mikrozellularen bis zur psychologischen, nicht nur die krank machenden Effekte von chronischem Stress ab, sondern vermag sie auch umzukehren. Studien zeigen, wenn Forscher chronisch gestressten Ratten körperliche Bewegung verordnen, dass diese Aktivität den Hippocampus wieder bis zu dem Umfang wachsen lässt, den er vor seinem Schrumpfen hatte. Die Mechanismen, über die körperliche Bewegung die Art und Weise verändert, wie wir denken und fühlen, sind um so vieles effektiver als Donuts, Medikamente und Wein. Wenn Sie nach dem 101 Kapitel 3: Stress Schwimmen oder auch nach einem flotten Spaziergang sagen, dass Sie sich weniger vom Stress überwältigt fühlen, dann ist dies auch so. Was den Geist schützt, schützt den Körper Bob war total gestresst. Es war das Jahr 1969. Er hatte seine Zeit als Assistenzarzt beendet und war gerade aus der Navy entlassen worden, wo er unter Kriegsneurosen leidende Soldaten intensiv befragt hatte, die direkt aus Vietnam zu seinem Fliegerhorst in Boston gekommen waren. Die Arbeit war jedoch nicht das Problem – er war ein junger Psychoanalytiker und sehr kompetent. Es waren persönliche Dinge: Sowohl sein Vater als auch sein Schwiegervater waren kurz nacheinander gestorben, und alle Emotionen, die er als Teenager, als seine Mutter starb, ignoriert hatte, brachen jetzt über ihn herein und trafen ihn wie mit einem Vorschlaghammer. Auch körperlich war er ein Wrack. Er war so gestresst, dass er seltsame Erstickungsanfälle bekam, bei denen er kaum noch atmen konnte. Er hatte sich erst kürzlich von einem jahrelangen Kampf gegen eine virale Hirnhautentzündung erholt, einer außer Kontrolle geratenen Entzündung des Gehirns, die oft tödlich endet, und jetzt lag er schon wieder im Krankenhaus. Dieses Mal dachte er, er hätte Kehlkopfkrebs. Damals wies nichts darauf hin, dass er dereinst einmal Präsident der American Psychoanalytic Association oder Fakultätsmitglied an der Harvard University oder Berater eines Nachw uchs-Förderprogramms der Obersten Baseball-Liga werden würde. Fest steht, dass bei Dr. Robert Pyles im Alter von 33 Jahren nichts darauf hindeutete, dass er noch ein weiteres Jahr leben würde. Die Röntgenbilder zeigten ein „Schneegestöber“ in seinen Lun gen, wobei sich herausstellte, dass es sich um eine gestreute Sarkoidose handelte, eine krebsähnliche Krankheit des Lymphsystems, die in der Regel auf andere Organe übergreift und tödlich ist. „Ich sehe es fast 102 Die größte Herausforderung positiv, dass diese Dinge passiert sind, weil ich zu der Zeit unter gewaltigem Stress stand und unter einer Depression litt“, sagt Pyles. „Ich glaube, der Punkt war, dass mein Immunsystem so in Mitleidenschaft gezogen war, dass ich die zweite Krankheit bekam.“ Auf die Effekte von chronischem Stress auf das Gehirn bin ich bereits eingegangen, aber die Effekte auf den Körper sind genauso stark. Chronischer Stress hat mit einigen unserer tödlichsten Krankheiten zu tun. Wenn wiederholte Blutdruckspitzen die Blutgefäße schädigen, können sich Ablagerungen aufbauen, die zu Atherosklerose führen. Wie bereits an früherer Stelle erwähnt, kann eine unkontrollierte Stressreaktion zur Ansammlung von Fettvorräten im mittleren Körperbereich führen, wobei Studien gezeigt haben, dass diese gefährlicher sind als Fett, das anderswo gespeichert wird. Die durch chronischen Stress bedingte Überlastung mit Cortisol führt zu einer Senkung des IGF-1-Spiegels, wobei der Glukosespiegel im Blut gleichzeitig aufrechterhalten wird; so entsteht ein metabolisches Ungleichgewicht, das zu Diabetes führen kann. Allgemeiner gesagt greift ein unaufhörlicher Cortisolfluss das Immunsystem an, womit der Körper überaus anfällig für eine Reihe von Krankheiten wird. Das Ergebnis kann tödlich sein. Pyles hatte keine Hoffnung. In jener Zeit gab es keine Behand lung für eine gestreute Sarkoidose, geschweige denn eine Heilung. An einem Tag war er noch der junge Arzt mit einer Harvard-Aus bildung, der eine Familie gründete und beim Anbruch eines neuen Jahrzehnts eine Praxis eröffnete, und am nächsten wurde ihm ein Todesurteil überreicht. „Ich wusste nicht, was ich tun sollte“, sagt er. „Ich geriet noch mehr in Panik und unter Stress. Also fing ich an zu laufen.“ In seiner Schulzeit war er recht sportlich gewesen, hatte sich dann aber gehen lassen – bis zu dem Punkt, dass er 86 Kilo bei einer Körpergröße von 1,75 Meter vorzuweisen hatte. „Nachdem ich vom College abgegangen war, ging es mir so wie allen anderen. Ich machte keinen Sport mehr“, sagt er. „Ich konnte nur etwa 400 oder 800 Meter laufen. Aber immerhin sagte ich mir dann: Wenn ich so weit laufen kann, dann werde ich heute vermutlich erstmal nicht sterben. Nach einer Weile hatte ich mich auf anderthalb Kilometer hochgearbeitet, dann wurden daraus fünf Kilometer, dann acht und dann 13. Ich 103 Kapitel 3: Stress stellte fest, wenn ich einen bestimmten Punkt überschritt, an dem es wirklich unangenehm war, dass es dann irgendwie in meiner Psyche „klick“ machte und ich noch lange weiterlaufen konnte.“ Pyles lief weiter. Er lief nicht um sein Leben, aber um seiner geis tigen Gesundheit willen. Das Einzige, was ein Patient mit gestreuter Sarkoidose tun konnte, war, etwa alle drei Monate zum Röntgen zu gehen und die Ärzte die „Schneebälle“ zählen zu lassen. Bei Pyles schien die Krankheit sich jedoch nicht zu verschlimmern, sondern zu stagnieren. Aus den Monaten wurden Jahre, aus seinem Laufpensum wurde ein Marathon, und dann zeigte sich auf den Röntgenbildern, dass die „Schneebälle“ zurückgingen. Nach etwa fünf Jahren war die Krankheit verschwunden. Dies war zu einer Zeit, in der ein Arzt einem Patienten erst einmal Ruhe empfahl. Dr. Kenneth Cooper hatte den Begriff Aerobic gerade erst geprägt, und wir hatten den gesundheitlichen Nutzen kardiovaskulärer Fitness noch nicht akzeptieren gelernt. Trotz seiner medizinischen Ausbildung hatte Pyles nicht erkannt, dass der Stress sich in eine Depression verwandelt hatte, und sein Analytiker auch nicht. „Was das Laufen mir gegeben hat, war, glaube ich, ein gewisses Gefühl der Kontrolle – das heißt, ich konnte etwas tun“, sagt Pyles. „Das Entscheidende bei der Depression und der Krankheit ist, dass ich mich völlig hilflos fühlte, so als ob ich nichts tun könnte. Es gab damals nicht einmal die Möglichkeit, sie zu bekämpfen.“ Sein Arzt hielt seinen Fall in der medizinischen Literatur fest und seine Genesung für eine Wunderheilung. Als Pyles meinte, seine Genesung habe etwas mit dem Laufen zu tun, dachte sein Arzt, das sei „einfach absoluter Unsinn“, sagt Pyles. Pyles hatte sich nie vorgestellt, dass Laufen in seinem Leben eine so zentrale Rolle spielen würde. Er gab sein Pfeifenrauchen auf, und ebenso hörte er auf, Fleisch zu essen, weil er sich dadurch schwer fühlte. Er verband seine zunehmenden persönlichen Interessen mit seinem Beruf und praktizierte als Sportpsychiater für verletzte Sportler, die in eine Depression fielen, weil sie keinen Sport mehr treiben konnten. Natürlich hatte er sich auch selbst Verletzungen zugezogen, aber abgesehen von einer Pause, die er wegen eines gebrochenen Beines einlegen musste, läuft er jedes Jahr zwei Marathons, seit er mit dem Laufen angefangen hat. Das waren bisher insgesamt 47. 104 Die größte Herausforderung „Damals fehlte den Ärzten noch jedes Verständnis, dass Sport in ir gendeiner Hinsicht nützlich sein könnte“, erklärt Pyles. „Ich denke noch immer, dass dieser Punkt wahnsinnig unterschätzt wird. Ins besondere in der Psychiatrie. Menschen, die als Intellektuelle aufgewachsen sind, haben fast eine Aversion dagegen.“ Pyles führt dies zum Teil auf die Grundprinzipien der Freud’ schen Psychoanalyse zurück. Etwas zu tun, um nicht über unsere Emotionen sprechen zu müssen, wird als „Ausagieren“ betrachtet. Das ist der Ursprung der Psychiater-Couch – dahinter steht die Idee, dafür zu sorgen, dass der Patient sich nicht bewegt, und die Emotionen zu zwingen, sich verbal zu manifestieren. Aus dieser Sicht ist Sport ein klassisches Beispiel für Ausagieren – mit unseren Emotionen physisch statt verbal umzugehen. Bei Pyles, der inzwischen 72 Jahre alt ist, hat sich das genaue Ge genteil als richtig erwiesen. Sein aktiver Bewältigungsmechanismus hat sowohl sein Leben als auch seine berufliche Laufbahn verändert. „Sport hat mir das Leben gerettet“, sagt er. „Ich glaube, das Laufen hat mich wirklich wieder dahin gebracht, Körper und Geist als Einheit zu sehen, denn es ist eine Einheit. Wir bestehen nicht aus Einzelteilen.“ Sport treiben und trainieren Da das Büro für viele Menschen eine Hauptquelle für Stress ist, ist es der richtige Ort, den Nutzen körperlicher Bewegung zu suchen. Mehr und mehr Unternehmen ermuntern ihre Mitarbeiter, die Vorteile eines firmeneigenen Fitnessraums oder die Mitgliedschaft in einem Fitnessk lub zu nutzen. Einige Krankenversicherungsunternehmen erstatten ihren Kunden sogar die Klubgebühren. Ihre Großzügigkeit beruht auf Studien, die zeigen, dass körperliche Bewegung Stress reduziert und die Produktivität der Mitarbeiter erhöht. 2004 stellten Forscher an der Leeds Metropolitan University in England fest, dass Arbeiter, die den Fitnessraum ihres Unternehmens nutzten, produktiver waren und sich eher in der Lage fühlten, mit ihrer Arbeitsbelastung fertig zu werden. Die meisten der 210 105 Kapitel 3: Stress Teilnehmer der Studie nahmen zur Mittagszeit 45 Minuten bis eine Stunde an einem Aerobic-Kurs teil, während andere 30 bis 60 Mi nuten Gewichte hoben oder Yoga praktizierten. Am Ende jedes Ar beitstages füllten sie Fragebögen aus, wie gut sie mit ihren Kolle gen, ihrer Zeitplanung und dem Einhalten von Terminen zurechtkamen. Etwa 65 Prozent schnitten in allen drei Kategorien besser ab an Tagen, an denen sie sich sportlich betätigt hatten. Insgesamt fühlten sie sich, wenn sie Sport getrieben hatten, weniger gestresst und besser, was ihre Arbeit anging. Und am Nachmittag fühlten sie sich weniger erschöpft, obwohl sie in der Mittagspause Energie verbraucht hatten. Andere Studien zeigen, dass bei Mitarbeitern, die sich regelmäßig sportlich betätigen, weniger Krankheitstage zu verzeichnen sind. Bei der Northern Gas Company gingen bei Mitarbeitern, die an einem Trainingsprogramm des Unternehmens teilnehmen, die Krankheits tage um 80 Prozent zurück. Die Flugzeugsparte von General Electric führte eine Studie durch, bei der festgestellt wurde, dass die medizinischen Beschwerden von Mitarbeitern, die Mitglied im firmeneigenen Fitnesszentrum waren, um 27 Prozent zurückgingen, während die von Nichtmitgliedern um 17 Prozent stiegen. Und laut einem Ende der 1990er-Jahre von Coca-Cola veröffentlichten Bericht waren die krankheitsbedingten Kosten im Durchschnitt 500 US-Dollar geringer bei Mitarbeitern, die das firmeneigene Fitnessprogramm mitmachten, im Vergleich zu denjenigen, die sich nicht daran beteiligten. Aber auch allgemeinere Forschungsergebnisse unterstützen die Auffassung, dass sportliche Betätigung stressbedingte Krankheiten bekämpft, die für Arbeitsausfälle sorgen können. Sowohl Stress als auch Inaktivität – die beiden Zwillingsmerkmale des modernen Lebens – spielen eine große Rolle bei der Entwicklung von Arthritis, dem chronischen Erschöpfungssyndrom, dem Fibromyalgie-Syn drom und anderen Autoimmunkrankheiten. Mit irgendwelchen Mitteln Stress zu reduzieren, und insbesondere durch körperliche Bewegung oder Sport, hilft Patienten bei der Genesung von diesen Krankheiten. Die Krankheiten sind das Ergebnis eines geschwächten Immunsystems, und wie das Beispiel von Robert Pyles anschaulich gezeigt hat, kann Sport die Immunfunktion enorm verbessern. In 106 Die größte Herausforderung den letzten Jahren haben Ärzte angefangen, Krebspatienten sportliche Betätigung zu empfehlen, sowohl um ihre Immunreaktion zu fördern als auch um Stress und Depressionen abzuwehren. Niemand behauptet, Sport würde Krebs heilen, die Forschung lässt jedoch darauf schließen, dass Aktivität bei manchen Formen der Krankheit eindeutig ein Faktor ist: 23 von 35 Studien zeigen, dass Frauen, die inaktiv sind, einem erhöhten Brustk rebsrisiko ausgesetzt sind; bei körperlich aktiven Personen ist die Wahrscheinlichkeit, Darmkrebs zu entwickeln, um 50 Prozent geringer; und bei aktiven Männern von über 65 ist die Wahrscheinlichkeit, die fortgeschrittene, in der Regel tödliche Form von Prostatakrebs zu entw ickeln, um 70 Prozent geringer. Damit sind wir wieder bei dem evolutionären Paradoxon, dass wir, auch wenn es wesentlich einfacher ist, in der modernen Welt zu überleben, mehr Stress erleben. Die Tatsache, dass wir weitaus weniger aktiv sind, als unsere Vorfahren es waren, verschlimmert das Ganze nur noch. Halten Sie sich einfach vor Augen: Je mehr Stress Sie haben, desto mehr muss Ihr Körper sich bewegen, damit Ihr Gehirn weiterhin reibungslos funktioniert. 107 4. Angst Kein Grund in Panik zu geraten D ie Befragung begann denkbar harmlos. Der Anwalt befragte mich nach meinem Hintergrund, nach den Büchern, die ich geschrieben hatte, und nach meinen Fachgebieten. Der Gerichtssaal war düster und die Stimmung gelangweilt, im krassen Gegensatz zu dem Drama, um das es hier ging. Jenseits von den üblichen finanziellen Erwägungen stand für die Angeklagte das Sorgerecht für mehrere Kinder auf dem Spiel; sie war eine Patientin von mir – ich nenne sie Amy – und wurde gerade von ihrem Mann geschieden. Auf Geheiß ihrer Anwälte hatte ich im Zeugenstand Platz genommen, um eine Aussage zu ihrer psychischen Verfassung zu machen, und jetzt wurde ich ins Kreuzverhör genommen. Amy ist intelligent und attraktiv, aber schüchtern und ängstlich. Sie sorgte sich immerzu, wegen allem. Nachdem ihr von einem Jet set-Ereignis zum nächsten eilender Ehemann zunehmend weniger daran interessiert war, ihr Ehemann zu sein, und seine unablässige Kritik immer heftiger wurde, befürchtete sie das Schlimmste – eine Wiederholung ihrer Kindheit. Ein Auseinanderbrechen ihrer Familie war genau das, was sie nicht wollte. Als klar wurde, dass eine Scheidung unvermeidlich war, sah sie nicht, wie sie mit der Situation fertig werden sollte, und drohte in einem Anflug von Panik, sich selbst umzubringen und floh 5.000 Kilometer weit. Ihre überstürzte 109 Kapitel 4: Angst Reaktion war ihr rechtliches Verderben. Das Gericht räumte ihrem Ehemann das volle Sorgerecht für die Kinder ein, vorbehaltlich des Ausgangs des schwebenden Gerichtsverfahrens, mit der Auflage für sie, dass sie die Kinder nur zweimal in der Woche sehen durfte. Schlimmer noch, aufgrund des Verdachts, dass sie psychisch instabil sein könnte, mussten ihre Besuche unter der Aufsicht eines vom Gericht bestellten Beobachters stattfinden. Die Anwältin ihres Ehemanns schoss sich auf Amys Behandlung ein. „Nimmt die Angeklagte irgendwelche Medikamente?“ fragte sie, wobei sie die Antwort sehr genau kannte. „Nein, im Moment nicht“, antwortete ich. „Haben Sie der Angeklagten jemals Medikamente verschrieben?“ „Ja. Prozac.“ „Das ist ein Antidepressivum.“ „Ja. Und es ist sehr wirksam bei der Behandlung generalisierter Angststörungen.“ „Und Ihre Patientin hat eine generalisierte Angststörung?“ „Ja.“ „Ich verstehe. Und sie nimmt im Moment kein Prozac. Haben Sie ihr gesagt, dass sie es absetzen soll?“ „Nein. Sie hat um Erlaubnis gebeten, und ich habe ihr gesagt, es sei okay.“ Ich sah, worauf dies hinauslief: Die Anwältin wollte Amy als jemanden darstellen, der gar nicht gesund werden wollte. In den Augen des Gerichtes bedeutet eine Behandlung, Medikamente zu nehmen – und die Weigerung, sie zu nehmen, bedeutete somit, dass sie kein Interesse daran haben konnte, dass es ihr besser ging. Wie konnte man jemanden die Aufsicht über seine Kinder anvertrauen, wenn er sich nicht einmal um sich selbst kümmerte? „Aber sie treibt Sport“, warf ich ein. „Und sie macht sich großartig!“ „Sport? Das ist keine anerkannte Behandlung, oder, Doktor?“ „Absolut. Sport wirkt im Wesentlichen wie Prozac und unsere anderen Antidepressiva und angstlösenden Medikamente …“ „Das ist Ihre Meinung“, unterbrach mich die Anwältin, „aber was bewirkt er genau?“ „Möchten Sie das wirklich wissen?“ fragte ich lächelnd. „Ich schreibe gerade ein Buch über dieses Thema.“ 110 Kein Grund in Panik zu geraten „Ja, das möchte ich.“ Vielleicht erwartete sie irgendeine verschwommene Erklärung zum Runner’s High. Stattdessen zitierte ich jedoch einige der klinischen Versuche, die zeigen, dass körperliche Bewegung oder Sport genauso wirksam wie bestimmte Medikamente bei der Behandlung von Ängsten und Depressionen sind. Ich hielt dann einen 20-minütigen Monolog darüber, was sportliche Betätigung für das Gehirn tut, wie sie konkret Amys Ängste gezähmt hatte und es ihr ermöglicht hatte, ihre chaotischen Gefühle in den neun Monaten zu bewältigen, in denen sie meine Patientin war. Wenn diese Anwältin körperliche Bewegung oder Sport vor Gericht stellen wollte, so war ich ganz dafür. Der Fall Angst ist eine natürliche Reaktion auf eine Bedrohung. Sie tritt dann bei der Stressreaktion ein, wenn das sympathische Nervensystem und die HPA-Achse (Hypothalamus über die Hirnanhangdrüse zur Nebenniere) in den Schnellgang schalten. Wenn Sie kurz vor einer Rede stehen, die Sie halten sollen, oder wenn sich eine Konfrontation mit Ihrem Chef zusammenbraut, schärft die Angst Ihre Aufmerksamkeit, damit Sie den Herausforderungen gerecht werden können. Die physischen Symptome reichen von einem Gefühl der Anspannung, Nervosität und Kurzatmigkeit bis hin zu rasendem Herzschlag, Schwitzen und, im Falle voll ausgewachsener Panikattacken, zu schweren Brustschmerzen. Was Sie auf emotionaler Ebene empfinden, ist Furcht. Wenn Sie in einem Flugzeug sitzen, das plötzlich mehrere hundert Meter abfällt, werden Sie wie jeder andere an Bord nervös und akut besorgt sein – werden wir es schaffen? Das Nervensystem bleibt noch eine Weile alarmiert, hypersensibilisiert für jede weitere Turbulenz. Das ist normal. Sofern Sie sich jedoch sorgen, wenn es keine reale Bedrohung gibt, und zwar bis zu einem Punkt, an dem Sie nicht mehr normal funktionieren können, dann handelt es sich um eine Angststörung. Die Symptome drängen sich in Ihr Bewusstsein, Ihr Gehirn verliert die Perspektive, und Sie können nicht mehr klar denken. Etwa 111 Kapitel 4: Angst 40 Millionen US-Amerikaner leiden unter klinischen Ängsten, das heißt, 18 Prozent der Bevölkerung, und zwar in jedem Jahr, und diese Ängste können sich in verschiedenster Hinsicht manifestieren. Dazu gehören generalisierte Angststörungen, Panikstörungen, bestimmte Phobien und soziale Angststörungen. Sie alle haben die gleichen physischen Symptome der schweren Stressreaktion sowie eine ähnliche Dysfunktion im Gehirn, nämlich eine kognitive Fehlinterpretation der Situation. Der gemeinsame Nenner ist eine irrationale Furcht. Die Unterschiede sind meist eine Frage des Kontextes. Jemand mit einer generalisierten Angststörung neigt dazu, auf normale Situationen so zu reagieren, als ob er bedroht würde – der Flattermann, der Angst vor seinem eigenen Schatten hat, oder der ewig von Sorgen Geplagte, der überall Belastungsfaktoren sieht. Personen, die unter einer Panikstörung leiden, scheinen die meiste Zeit absolut entspannt zu sein, werden dann wie aus heiterem Himmel jedoch von einer lähmenden Furcht und physischen Schmer zen befallen, die irrtümlicherweise für eine Herzattacke gehalten werden können. Panik ist die intensivste Form der Angst und die Wurzel aller Phobien – eine paralysierende Furcht vor einem bestimmten Objekt oder einer Situation, die einen starken und oft unangemessenen Zwang auslöst, diese Quelle zu meiden (Spinnen bei dem Arachnophobiker, offene Plätze bei dem Agoraphobiker). Die verbreitetste Phobie ist wahrscheinlich die soziale Angststö rung, die ich für eine Leistungsangst im alltäglichen Umgang mit anderen Menschen halte. Die meisten von uns erleben an irgendeinem Punkt oder in bestimmten Situationen Sozialängste, die Störung ist jedoch intensiver, als dass man nur gelegentlich scheu oder schüchtern wäre. Es ist eine verzehrende Furcht vor jeder sozialen Situation, bei der es um die Begegnung oder das Sprechen mit Personen gehen könnte, oder auch nur darum, von anderen gesehen zu werden. Und diese Furcht ist verbreiteter, als die meisten Menschen sich vorstellen. Allein 15 Millionen US-Amerikaner sind davon betroffen. Eine soziale Angststörung fordert einen schweren Tribut, was die Lebensqualität angeht. All diese Formen von Ängsten können ineinander übergehen oder sich gegenseitig verstärken, und sie säen oft die Saat für andere Störungen, wie eine Depression. Man kann unter einer Panikstörung 112 Kein Grund in Panik zu geraten leiden, ohne eine generalisierte Angststörung zu haben, und umgekehrt. Aufgrund der Furcht vor der nächsten Attacke verkehrt sich eine Panikstörung jedoch oft in eine generalisierte Angststörung. Manche Personen haben auch eine Angstsensitivität, die jede Form der Störung kompliziert. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund erhöht sich vielleicht Ihr Herzschlag oder Ihre Atemfrequenz, und wenn Sie diese physische Erregung spüren, reicht allein dieses Bewusstsein, um einen Zustand der Angst oder Panik auszulösen. Sie verlieren die Kontrolle, weil Sie das Gefühl haben, dass Sie die Kontrolle verlieren werden. Wenn Sie anfangen, Angst vor der Angst zu haben – egal, ob diese mental oder physisch ist –, kann die Angst schnell außer Kontrolle geraten. Amy ist ein Lehrbuchfall einer generalisierten Angststörung, mit Anzeichen einer Panikstörung und einer sozialen Angststörung. Sie offenbart sowohl den Zustand – hyperwachsam, angespannt, das Schlimmste erwartend –, als auch den Wesenszug, wobei es sich um die tiefere, stärker verinnerlichte Neigung handelt, in den Zustand zu verfallen. Ihr Leben lang hatte sie eine Angstsensitivität, und in dem Zuge, wie ihre Ehe zerbrach, wurde sie nur stärker. Sie begann auf jeden Belastungsfaktor zu reagieren, egal, ob es sich dabei um etwas wirklich Bedrohliches handelte oder nicht, als ob es eine Frage des Überlebens wäre, wobei sie überreagierte und sich bei alledem selbst und ihren Beziehungen eine Menge Schaden zufügte. Sie könnten sich keine angstanfälligere Situation vorstellen als die, in die Amy schlitterte. Ihr Ehemann hatte de facto die Kontrolle über die Zeit, die sie mit ihren Kindern verbringen durfte; sie musste einen Psychologen aufsuchen, der wiederum dem Gericht Bericht erstattete; und jeder in der Stadt wusste, was los war. Ihre Sozialangst war bei den beaufsichtigten Besuchen ihrer Kinder jedes Mal voll entbrannt – sie musste im Wesentlichen für den vom Gericht ernannten Beobachter ordnungsgemäß funktionieren. Und sie hatte Angst, Fehler zu machen und ihrem Mann irgendwie noch mehr rechtliche Munition zu liefern. Sie wurde nach ihrer mentalen Gesundheit beurteilt, und je mehr sie sich sorgte, welchen Eindruck sie machen würde, desto schlimmer wurden ihre Symptome. In diesem Umfeld begann Amy, an ihren eigenen Fähigkeiten als Mutter zu zweifeln, obwohl sie absolut kompetent war. Sie wünschte 113 Kapitel 4: Angst sich nichts sehnlicher, als sich selbst zu retten und ihre Kinder zurückzubekommen. Sie war jedoch nicht in der Lage, einen Kampf auszufechten, fühlte sich wie ein einziges Nervenwrack, ohne irgendeine Kontrolle über ihre Ängste zu haben. Es war ein krank machender Teufelskreis: Ständig am Rande der Panik hatte sie das Gefühl, dass sie nicht für sich eintreten oder irgendetwas erreichen konnte. Wenn wir in diesem Zustand sind, beginnen wir davon auszugehen, dass alles in eine Katastrophe mündet, und somit versuchen wir, alles zu meiden, und damit beginnt unsere Welt zu schrumpfen. Seit ihre Ehe zerbrochen war, hatte sich Amy in ihre neue Wohnung und auch völlig von ihren Freunden und ihrer Familie zurückgezogen. Die Verteidigung Im Gegensatz zur Darstellung der Anwältin hatte Amy ein großes Interesse daran, dass es ihr besser ging. Es ist weder kriminell noch etwas Außergewöhnliches, dass ihr die Vorstellung, Medikamente zu nehmen, nicht behagte, aber sie hatte es mit Prozac in jedem Fall eine Zeit lang versucht. Es beruhigte zwar ihre Nerven, führte aber dazu, dass sie sich unmotiviert fühlte, und somit setzte sie das Mittel ab. Sie hatte Kripalu-Yoga praktiziert, das auch eine beruhigende Wirkung auf sie hatte; sie litt aber noch immer und so ermunterte ich sie, den Yoga-Übungen auch einige aerobe Übungen hinzuzufügen. Sie kaufte sich einen elliptischen Kreuztrainer für ihre Wohnung, was für sie eine mit Abstand angenehmere Option war, als ihre Sicherheitszone zu verlassen und nach draußen gehen zu müssen. Mit der Zeit entwickelte sie eine Routine und trainierte jeden Morgen 30 Minuten auf dem Kreuztrainer. Es gab in jener Zeit insgesamt in ihrem Leben sehr wenig, worüber sie sich freuen konnte, aber diese sportliche Betätigung fing an, ihr Spaß zu machen. Sie beschrieb, wie sie in die Trainingseinheiten auf dem Trainer Drehungen des Oberkörpers einbaute, und nach ihrem aeroben Training machte sie eine Stunde Yoga (das nachweislich Ängste reduziert). Sie erlangte ein Gefühl der Kontrolle über ihren Angstzustand, was ein 114 Kein Grund in Panik zu geraten entscheidender Schritt zur Überwindung des Wesenszuges war. Sie lernte schnell, wenn sie zu Hause ängstlich wurde oder in Panik geriet, dann konnte sie für 10 oder 15 Minuten auf den elliptischen Trainer steigen, um die Gefühle auf der Stelle zu bezwingen (genauso wie meine Patientin Susan ihr Springseil zur Stressbewältigung benutzte). Durch die Bewegung entdeckte Amy ihre Motivation wieder. Sie hörte nicht nur auf, sich ständig zu sorgen, sondern begann auch, sich selbst als aktiv statt als passiv zu sehen. Sie fühlte sich nicht mehr erstarrt und engagierte sich auch in anderen Bereichen ihres Lebens wieder. Sie nahm ihre Hobbys wieder auf und ebenso den Kontakt zu ihren Freunden, sodass sie mit den guten Dingen, die es an ihr gab, wieder in Verbindung kommen konnte. Jetzt fühlt sie sich nicht mehr wie eine Ratte in der Ecke, die sich bei jeder Störung zusammenkauert oder alarmiert ist. Ein beiläufiger Beobachter würde vielleicht sagen, Amy sei aus ihrem Schneckenhaus gekommen, aber die Effekte der sportlichen Betätigung auf ihre Persönlichkeit sind weitaus tief greifender. Sie verhält sich, als hätte sie festen Boden unter den Füßen. Die Wahrheit ist, dass sich ihre Situation kaum verändert hat – nur ihre Reaktion darauf und damit ihre Haltung. Sie sagt, sie nutzt körperliche Bewegung genauso, wie jemand anderes vielleicht zu einem Glas Whiskey oder zu Alprazolam (bekannt unter dem Markennamen Xanax oder Tafil) greift, um seine Nerven zu beruhigen. Ihre Strategie hat ihre Angstsensitivität merklich gesenkt, was es ihrem Gehirn ermöglicht zu lernen, einen eigenen Weg aus der Falle zu finden. Der Beweis Joshua Broman-Fulks, ein Forscher der University of Southern Mis sissippi, untersuchte 2004, ob sportliche Betätigung die Angstsensi tivität reduzierte. Er fand 54 College-Studenten mit einer generali sierten Angststörung, die erhöhte Angstsensitivitätswerte aufw ie sen und weniger als einmal die Woche etwas für ihre körperliche 115 Kapitel 4: Angst Bewegung taten. Willkürlich teilte er seine bis dahin inaktiven Ver suchspersonen in zwei Gruppen auf; beiden wurden sechs wöchentliche Trainingseinheiten von jeweils 20 Minuten für die Dauer von zwei Wochen aufgetragen. Die erste Gruppe lief auf Laufbändern und zwar mit einem Intensitätsniveau von 60 bis 90 Prozent ihrer maximalen Herzfrequenz. Die zweite Gruppe ging auf Laufbändern mit einer Geschwindigkeit von rund 1,6 Kilometern pro Stunde, was etwa 50 Prozent ihrer maximalen Herzf requenz entsprach. Beide Übungen halfen dabei, die Angstsensitivität zu reduzieren, wobei die sportlichere Übung jedoch schneller und effektiver griff. Nur die intensiv trainierende Gruppe hatte vor den physischen Symptomen der Angst weniger Angst, und dieser Unterschied zeigte sich bereits nach der zweiten Trainingseinheit. Die Theorie ist, dass wir lernen, wenn wir unsere Herz- und Atemfrequenz im Rahmen der sportlichen Betätigung erhöhen, dass diese physischen Anzeichen nicht unbedingt zu einer Angstattacke führen. Wir lernen gelassener mit dem Gefühl umzugehen, dass unser Körper erregt ist, und gehen nicht automatisch davon aus, dass diese Erregung schädlich ist. Dies ist eine wichtige Erkenntnis angesichts der Auffassung, dass Angst eine kognitive Fehlinterpretation ist. Indem Sie körperliche Bewegung nutzen, um die Symptome der Angst zu bekämpfen, können Sie den Zustand behandeln. Und in dem Zuge, wie sich Ihr Fitnessniveau verbessert, können Sie den Wesenszug ablegen. Mit der Zeit bringen Sie dem Gehirn bei, dass die Symptome nicht immer gleich bedeutend mit Untergang sind und dass Sie überleben können – das heißt, Sie programmieren die kognitive Fehlinterpretation um. Die Tatsache, dass aerobe Übungen zur Abwehr von Angstzustän den sofort greifen, ist seit vielen, vielen Jahren erwiesen. Allerdings haben Forscher erst in den letzten Jahren begonnen, genau zu entschlüsseln, wie dies funktioniert. Körperliche Aktivität senkt die Ruhespannung der Muskeln und unterbricht somit die Feedback-Schleife der Angst zum Gehirn. Wenn der Körper in Ruhe ist, ist das Gehirn weniger empfänglich dafür, sich zu sorgen. Körperliche Bewegung führt darüber hinaus auch beruhigende chemische Veränderungen herbei. Wenn unsere Muskeln zu arbeiten beginnen, baut der Körper Fettmoleküle ab, um sie zu verbrennen, wodurch Fettsäuren im Blut freigesetzt werden. 116 Kein Grund in Panik zu geraten Diese freien Fettsäuren konkurrieren mit Tryptophan, einer der acht essenziellen Aminosäuren, um die Bindung an Eiweißbausteine zum Transport, wodurch sich die Konzentration von Tryptophan im Blut erhöht. Sobald das Tryptophan die Blut-Hirn-Schranke überwunden hat, um den Spiegel auszugleichen, wird es im Gehirn sofort als Baustein für unseren alten Freund Serotonin verwendet. Zusätzlich sorgt auch der durch die sportliche Betätigung erhöhte BDNF-Spiegel (Brain-Derived Neurotrophic Factor) dafür, dass der Serotonin-Spiegel hochschnellt, was beruhigend auf uns wirkt und unser Gefühl der Sicherheit erhöht. Körperliche Bewegung löst auch die Freisetzung von GammaAminobuttersäure (GABA) aus, dem wichtigsten hemmenden Neu rotransmitter des Gehirns (und Hauptzielscheibe der meisten angst lösenden Medikamente). Ein normaler GABA-Spiegel ist von ent scheidender Bedeutung, um auf der zellularen Ebene der selbster füllenden Prophezeiung der Angst einen Riegel vorzuschieben – er unterbricht die zwanghafte Feedback-Schleife im Gehirn. Und wenn das Herz heftig zu schlagen beginnt, produzieren seine Muskelzellen ein Molekül, das sogenannte atriale natriuretische Peptid (ANP), das den Zustand der Hypererregung bremst. ANP ist ein weiteres Werkzeug, das der Körper nutzt, um die Stressreaktion zu regulieren, worauf ich später noch näher eingehen werde. Was den Wesenszug angeht, so zeigt die Mehrzahl der Studien, dass aerobe Übungen die Symptome einer Angststörung erheblich lindern. Körperliche Bewegung hilft aber auch der Durchschnitts person, normale Gefühle der Ängstlichkeit zu reduzieren. Im Rah men einer interessanten Studie wurden 2005 die physischen und mentalen Effekte sportlicher Betätigung bei einer Gruppe chilenischer Highschool-Studenten über den Zeitraum von neun Monaten gemessen. Die Forscher teilten die 198 Fünfzehnjährigen in zwei Gruppen auf: Die Kontrollgruppe blieb weiterhin bei ihrem 90minütigen Sportunterricht einmal in der Woche, die andere Gruppe ließ sich auf ein Programm ein, das sie selbst entwickelte, wonach sie während des ganzen Schuljahres dreimal pro Woche ein intensives Trainingspensum von jeweils 90 Minuten absolvierte. Mit der Studie sollten allgemeine Stimmungsveränderungen bei gesunden Personen bewertet werden, wobei die Werte, die sich auf Ängste 117 Kapitel 4: Angst bezogen, bei den psychologischen Tests der Studenten wirklich aus dem Rahmen fielen. Die Angstwerte der Versuchsgruppe fielen um 14 Prozent im Vergleich zu statistisch unbedeutenden drei Prozent bei der Kontrollgruppe (eine Verbesserung, die durch den PlaceboEffekt erklärt werden könnte). Kein Zufall war sicherlich, dass sich das Fitness-Niveau der Versuchsgruppe um 8,5 Prozent verbesserte, im Vergleich zu 1,8 Prozent bei der Kontrollgruppe. Natürlich besteht ein Zusammenhang dazwischen, wie viel man Sport treibt und wie ängstlich man ist. Furcht als solche Angst ist Furcht, aber was ist Furcht? Im neurologischen Sinne ist Furcht die Erinnerung an Gefahr. Wenn wir an einer Angststörung leiden, spielt das Gehirn fortwährend diese Erinnerung ab und zwingt uns, in dieser Furcht zu leben. Alles beginnt damit, dass die Amygdala den „Überlebensruf“ ertönen lässt, aber im Unterschied zur normalen Stressreaktion funktioniert das überaus klare Signal bei Ängsten nicht ordnungsgemäß. Unsere kognitiven Prozessoren versäumen es, uns mitzuteilen, dass es kein Problem gibt, oder dass es bereits vorbei ist und wir uns entspannen können. Durch den sensorischen Input der physischen und mentalen Spannung herrscht so viel Rauschen im Gehirn, dass unsere Fähigkeit zu einer klaren Bewertung der Situation getrübt ist. Die Fehlinterpretation ist zum Teil auf die Amygdala zurückzuführen, da diese nicht ausreichend vom präfrontalen Cortex kontrolliert wird. Eine der Korrelationen, die Wissenschaftler bei Personen mit generalisierter Angststörung festgestellt haben, ist Folgende: Ge hirnaufnahmen zeigen, dass die Region des präfrontalen Cortex, die dafür verantwortlich ist, Abbruch- und Unterlassungssignale an die Amygdala zu senden, kleiner ist, als sie sein sollte. Bleibt dies unentdeckt, markiert die Amygdala zu viele Situationen als Herausforderungen fürs Überleben und brennt sie ins Gedächtnis ein. Diese Furchterinnerungen verbinden sich miteinander, und es entsteht ein angstbesetzter Schneeballeffekt. Am Ende erstickt die 118 Kein Grund in Panik zu geraten Amygdala jegliche Versuche des Hippocampus, die Kampf-oderFlucht-Reaktion zu drosseln, indem die Furcht stets als Kontext in Erscheinung tritt. Je weiter der Schneeballeffekt zunimmt und mehr und mehr Erinnerungen mit Furcht assoziiert werden, desto stärker schrumpft Ihre Welt. Eine meiner Patientinnen, die unter einer sozialen Angststörung leidet, ist ein gutes Beispiel dafür, wie die Furcht einen Schneeball effekt entwickeln kann, und wie wir sie im Zaum halten können. Sie ist eine Büroleiterin von Ende zwanzig. Sie fürchtete sich sehr vor gesellschaftlichen Zusammenkünften, davor, neue Menschen kennen zu lernen, ja, selbst vor einem Plausch mit jemandem, den sie bereits kannte. Ellen, wie ich sie hier nenne, wurde ganz nervös und bekam einen trockenen Mund, wenn sie nur daran dachte, zu einer Cocktailparty zu gehen, und sobald sie dort war, konnte sie es nicht abwarten, bis sie den ersten Drink gekippt hatte. Wie die meisten, die unter Sozialängsten leiden, fühlte sie sich wie auf dem Präsentierteller, und hatte panische Angst davor, sie könnte etwas Peinliches oder Beschämendes tun. Am Ende ging sie nach Hause und beschimpfte sich wegen ihres „Auftritts“. Dadurch war es extrem schwierig für Ellen, ihrer Führungsauf gabe bei ihren sieben Mitarbeitern gerecht zu werden. Sie wünschte sich, sie könnte aufhören, sich ständig dafür zu entschuldigen, dass sie Aufgaben delegierte, aber ihre Angst hielt sie davon ab, sich wie eine Chefin zu benehmen. Sie wusste selbst, dass es Unsinn war, sich dafür zu entschuldigen, dass die Leute ihre Arbeit zu tun hatten. Aber sie fühlte sich entsetzlich schuldig, wenn sie sie um irgendetwas bat, und sorgte sich dann, dass sie zu viel von ihnen verlangte. Da ihr Autoritätsgefühl zunehmend untergraben wurde, wurde sie immer ängstlicher und begann den Kontakt zu allen im Büro zu meiden, aus Angst, jemand würde ihre Schwächen erkennen. Die Behandlung von Ängsten ist deshalb so schwierig, weil überlebensbezogene Erinnerungen stärker sind als vorhandene Erinne rungen. Sagen wir, Sie gehen jeden Abend auf dem Nachhauseweg von der Arbeit an einem bestimmten Haus vorbei, und dann kommt eines Abends ein Hund herausgestürmt und greift Sie an. Von diesem Moment an machen Sie einen großen Bogen um dieses Haus, da die Erinnerung an den Angriff gegenüber all den unzähligen Malen, 119 Kapitel 4: Angst die Sie sicher und unbehelligt an dem Haus vorbeigegangen sind, überwiegt. Selbst wenn ein Zaun errichtet wird und Sie der am logischsten denkende Mensch auf Erden sind, werden Sie dennoch weiterhin ein mulmiges Gefühl haben, wenn Sie daran vorbeigehen. Sobald die Furchterinnerung fest verdrahtet ist, bleibt dieser Schaltkreis bestehen. Das heißt, die Furcht ist dauerhaft. Entgegen der ursprünglichen Annahme von Wissenschaftlern zeigten Studien, in denen MRT-Aufnahmen von der Hirnaktivität Erwachsener mit und ohne Angststörungen verglichen wurden, keinen Unterschied in Bezug auf die Frage, wie die Amygdala auf einen legitimen, Angst einflößenden Reiz reagiert (beispielsweise Bilder von erschreckten Gesichtern, die eine starke Wirkung haben, da der Mensch darauf programmiert ist, Gesichtsausdrücke als Überlebenshinweise zu interpretieren). Der Unterschied besteht darin, wie sie auf einen nicht bedrohlichen Reiz reagiert. Während sich bei den meisten Menschen eine prägnante Reduzierung der Amygdala-Aktivität zeigt, wenn ihnen ein liebevoll anmutendes Bild gezeigt wird, zeigt sich bei Personen mit Angststörungen fast das gleiche Aktivitätsniveau, als wären sie mit Furcht konfrontiert – sie können nicht zwischen Gefahr und Sicherheit unterscheiden. Daniel Pine, Psychiater und Forscher und gleichzeitig Leiter des Fachbereichs Entwicklungs- und Affektive Neurow issenschaften am National Institute of Mental Health, meint dazu: „Patienten mit Angststörungen haben ein Lerndefizit.“ Die Dysfunktion der Lernschaltkreise kann bei Ängsten mögli cherweise auf genetischen Faktoren beruhen. Forscher haben unlängst eine genetische Variation untersucht, die verhindert, dass BDNF Ner venverbindungen unterstützt, was zu einer Beeinträchtigung des Ge dächtnisses führt. Bei einem Experiment blieb bei Mäusen mit dem mutierten BDNF-Gen, die in eine Angst auslösende Situation gebracht wurden, die lindernde Wirkung aus, die sich durch die Verabreichung von Prozac hätte einstellen sollen. Bei normalen Mäusen wirkte das Antidepressivum unter den gleichen Umständen hingegen gut. Dies legt die Schlussfolgerung nahe, dass BDNF ein wesentliches Element bei der Bekämpfung von Ängsten sein könnte, wahrscheinlich, weil es bei der Verdrahtung positiver Erinnerungen hilfreich ist, die die Möglichkeit schaffen, die Furcht zu umgehen. 120 Kein Grund in Panik zu geraten Ich glaube, dies ist ein wichtiger Grund, warum körperliche Bewe gung oder Sport so effektiv sind, nicht nur bei der Behandlung des Zustands der Angst – indem sie die Muskelspannung abbauen und den Serotonin- und GABA-Spiegel erhöhen –, sondern auch beim Wesenszug der Angst. Durch körperliche Bewegung oder Sport erhalten Neuronen all das, was sie benötigen, um sich zu verbinden, und wenn wir diesen Prozess selbst steuern, können wir einen enormen Einfluss darauf haben, dass das Gehirn lernt, die Furcht zu bewältigen. Meine Patientin Ellen nahm ein Standard-Antidepressivum aus der Reihe der selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI), als sie zu mir kam. Das Medikament half ihr zwar, löste aber das Grundproblem nicht. Natürlich sprach ich mit ihr über die Mög lichkeit sportlicher Betätigung. Sie bestätigte, dass sie sich nach dem Laufen weniger ängstlich fühlte, meinte jedoch, sie habe zu viel zu tun, um ihm eine Priorität einzuräumen. Ich erklärte ihr, das Ironische dabei sei, dass sie sich weniger gequält fühlen würde, wenn sie sich die Zeit nähme, und dass sie sich weniger ängstlich und gestresst fühlen könnte, wenn sie etwas Sport treiben würde. Nachdem ich sie noch etwas angestachelt (und ihre Medikation neu eingestellt) hatte, dauerte es nicht einmal eine Woche, bis sie anfing, einen Fit nessk lub zu besuchen. Es stellte sich schnell heraus, dass sie sich an den Tagen, an denen sie ihr Training ausfallen ließ, nervöser fühlte und weniger bereit war, mit irgendjemandem im Büro zu sprechen, wozu auch neue Kunden gehörten. Dann legte sie einen Gang zu und beschloss, jeden Morgen zu laufen. Wenn sie ihren Lieblingskurs, die Aerobic-Gruppe, verpasste, dann lief sie 20 Minuten auf dem Lauf band. Und das macht sie seit etwa einem Jahr. Ellen hat inzwischen das Gefühl, durchsetzungsfähiger und geradliniger ihren Mitarbeitern gegenüber zu sein, und je mehr sie mit ihnen umgeht, desto mutiger wird sie. Ein Großteil des Problems bei Sozialängsten ist, egal, ob sie sich auf der Ebene von Ellens Phobie oder einer leichteren sozialen Ängstlichkeit bewegen, dass wir, je mehr wir uns zurückziehen, umso weniger Übung im Umgang mit anderen bekommen, und die Aussicht umso erschreckender wird. Es mag albern klingen, dass manche etwas üben müssen, was für viele ganz natürlich, es ist jedoch überhaupt nicht albern. Es ist das 121 Kapitel 4: Angst Geniale an Paul Zientarskis Anfängerkurs im Square Dance an der Central Highschool in Naperville, dass alle Kinder hier in der gleichen Situation „Small Talk“ üben, und zwar Schritt für Schritt im Laufe des Schulhalbjahres, womit jede Furcht, die sie vielleicht haben, neutralisiert wird. Für Ellen war der Sport ein Instrument, das ihre Nerven ausreichend beruhigte, um das Terrain zu sondieren. Genau wie die Angst sich selbst bestärken kann, so kann es auch der Mut. Wenn Panik Pein bereitet Panik ist die schmerzhafteste Form der Angst, und sie verdeutlicht im Extrem, wie paralysierend eine Störung dieser Art sein kann. Als ich zum ersten Mal mit dem Fall einer Panikstörung konfrontiert wurde, war ich schockiert, wie lähmend sie war. Ich war Assistenzarzt im dritten Jahr in der Psychiatrie im Massachusetts Mental Health Center und kümmerte mich auch außerhalb der Klinik um Patienten von Sozialen Diensten. Eine Frau wurde von ihrem Ehemann in die Klinik gezerrt, weil sie depressiv war, sich aber weigerte, das Haus zu verlassen. Sie war mehr als nur einmal in der Notaufnahme gewesen, weil sie glaubte, einen Herzanfall erlitten zu haben, und sie beschrieb in anschaulichen Einzelheiten, wie sie sicher gewesen war, sie würde sterben. Jedes Mal, wenn der Arzt ihr erklärte, dass ihr Herz in Ordnung war, fragte sie sich, ob sie wohl verrückt sei. Panik führt nicht zu Herzversagen, aber es fühlt sich sicher so an. Muskelspannung und Hyperventilation verursachen starke Brust schmerzen. Und da bei der schnellen, flachen Atmung zu viel Koh lendioxid ausgestoßen wird, fällt der pH-Wert des Blutes, wodurch ein Alarm seitens des Hirnstamms ausgelöst wird, der bewirkt, dass sich die Muskeln noch stärker zusammenziehen. (Dies erklärt auch, warum wir verhindern, dass jemand hyperventiliert, wenn wir ihn in eine Papiertüte atmen lassen: Auf diese Weise ist er gezwungen, das Kohlendioxid wieder einzuatmen.) Mit Panik zu leben, heißt alles zu vermeiden, was eine weitere erschreckende Episode auslösen könnte. Man zieht sich in eine 122 Kein Grund in Panik zu geraten emotionale Embryonalhaltung zurück, und die Furcht führt zu einem verzweifelten Kontrollbedürfnis – was auch immer für die Aufrechterhaltung einer stabilen und sicheren Umwelt notwendig ist. Dies manifestiert sich in verschiedener Hinsicht: passive Ag gressivität, die ein Versuch ist, andere zu kontrollieren; Zwanghaf tigkeit, um die Auslöser der Furcht im Zaum zu halten; sowie eine umfassende Inflexibilität. Meine Patientin wusste, dass etwas nicht in Ordnung war, die Panik hatte jedoch so weit die Kontrolle über sie übernommen, dass die Konstellation der Symptome das Bild des eigentlichen Problems verzerrte. Die Hauptform der Behandlung von Ängsten und Depressionen war in jener Zeit, Ende der 1970er-Jahre, die Psychotherapie. Damals setzten wir noch nicht so sehr auf Medikamente. Dann setzte jedoch ein Wandel zu einer biologischen Interpretation psychischer Probleme ein, und plötzlich tauchten zunehmend Studien über die Behandlung von Ängsten mit Imipramin, ein trizyklisches Antide pressivum, auf, das es seit etwa 20 Jahren gab. Es manipuliert das Zusammenwirken von Noradrenalin und Serotonin in einem Teil des Hirnstamms, dem sogenannten Locus Caeruleus, der lebenswichtige Grundfunktionen wie Atmung, Wachsein, Herzf requenz und Blutdruck reguliert. In diesem Sinne überwacht diese Region auch den pH-Wert des Blutes und löst die Alarmsignale aus, die bewirken, dass die Amygdala eine Panikattacke auslöst. Das Medikament stabilisiert das Erregungssystem, sodass der Alarmk nopf nicht so leicht betätigt wird. Bei meiner Patientin wirkte es fast sofort, und nachdem sie tage- und wochenlang nicht ängstlich gewesen war, ließ sie langsam ihre Schutzvorrichtungen fallen. Durch die Kontrolle der Furcht konnten wir dann auch in der Therapie weiterkommen. Imipramin gab ihr ihre Freiheit zurück. Eine andere Medikamentengruppe, die etwa zur gleichen Zeit für die Behandlung verschiedener Formen von Ängsten beliebt wurde, waren Betablocker, die das sympathische Nervensystem beruhigen. Sie blockieren die Adrenalin-Rezeptoren im Gehirn und Körper und verhindern somit, dass Adrenalin den Blutdruck, die Herzf requenz und die Atmung in Stress- oder Angstzeiten erhöht. Betablocker, oft bei Herzpatienten zur Reduzierung des Blutdrucks verabreicht, unterbrechen die Feedback-Schleife der Angst zum 123 Kapitel 4: Angst Gehirn, die ansonsten dafür sorgt, dass die Amygdala alarmiert bleibt. Indem sie die körperlichen Symptome der Angst unterdrücken, zerstreuen Betablocker Panikattacken, bevor sie explodieren. Sie sind auch hilfreich für Personen mit Sozialängsten oder Lampenfieber. Unter klassischen Musikern ist es äußerst verbreitet, vor einem Auftritt Betablocker zu nehmen, da sie Schweißausbrüche und Verspannungen verhindern, die ihre Fähigkeit zu spielen ernsthaft behindern können. (Es dürfte schwierig sein, mit steifen Lippen Trompete zu spielen!) Personen, die unter Panikstörungen leiden, werden mitunter sowohl mit Imipramin als auch mit Betablockern behandelt – Imipramin, um die Angst zu unterdrücken, und Betablocker, um den Körper zu entspannen. Entscheidend für uns ist der Punkt, wie diese Medikamente eigentlich wirken, denn sie liefern eine Erklärung dafür, wie körperliche Bewegung im Gehirn wirkt. Körperliche Bewegung beeinflusst nämlich dieselben Pfade wie diese Medikationen – bei beiden Auslösern wird ein Sicherheitsriegel vorgeschoben. Durch den Schmerz hindurch gehen Jahrzehnte lang sollten Patienten, die unter Panik litten, einer verbreiteten medizinischen Weisheit zufolge Sport meiden. Denn, so das Credo, es könnte gefährlich sein! Oder zumindest dachten wir dies aufgrund der Forschungen, die Ende der 1960er-Jahre durchgeführt wurden. Manche Patienten berichteten, dass physische Mani festationen sportlicher Betätigungen – erhöhte Herzfrequenz, erhöhter Blutdruck und schnelle Atmung – ihre Angst verstärkten, vermutlich weil diese Manifestationen sich genauso wie die Symptome der Angst anfühlten. Es stellte sich heraus, dass manche Personen mit Angststörungen im Vergleich zu nicht ängstlichen Personen, die Sport trieben, einen erhöhten Milchsäurespiegel im Blut hatten. Und die Forscher fanden heraus, dass bei Angstpatienten Panikattacken ausgelöst wurden, wenn ihnen Milchsäure zugeführt wurde. Die Folge war, dass Ärzte Patienten, die unter Ängsten litten, rieten, 124 Kein Grund in Panik zu geraten Sport zu meiden, um keine Panikattacke auszulösen. Demnach war es also besser, sich nicht zu bewegen. Diese Meinung hielt sich lange, trotz einer Reihe von Nachfolge studien, die diese Hypothese widerlegten. Auch wenn die medizini sche Literatur uns erzählt, dass eine Handvoll Patienten bei sportli cher Betätigung Panikanfälle erlebten, steht fest, dass es der großen Mehrzahl genau gegenteilig erging. Tatsache ist, dass 104 Studien über Sport und Ängste, die zwischen 1960 und 1989 veröffentlicht wurden, zeigten, dass Sport Ängste lindert. Die meisten dieser Studien erfüllten jedoch nicht die Versuchskriterien der willkürlichen Auswahl, des Doppelblindversuchs und des Placebo-kontrollierten Versuchs, die notwendig sind, damit Wissenschaftler den Versuch als medizinische Tatsache zählen und werten können. Während analytische Forscher sagen können, dass es nicht genügend Daten gebe, um zu belegen, dass Sport Ängste reduziert, werden andere Ihnen sagen, dass sie sich nicht darum kümmern, diese Frage zu untersuchen, weil es einfach eine Frage des gesunden Menschenverstandes sei. Die Folge war, dass die erste randomisierte, Placebo-kontrollierte Studie über einen Vergleich von Sport und Medikamenten bei der Behandlung einer klinisch diagnostizierten Panikstörung erst 1997 durchgeführt wurde. Der deutsche Psychiater Andreas Broocks führte einen zehnwöchigen Versuch durch, bei dem er 46 Patienten, die zumindest unter einer leichten Panikstörung litten, in drei Gruppen unterteilte: Die erste trieb regelmäßig Sport, die zweite erhielt täglich eine Dosis Clomipramin (eng verwandt mit Imipramin) und die dritte täglich eine Placebo-Pille. Alle drei Behandlungen führten dazu, dass sich die Symptome in den ersten beiden Wochen verbesserten, auch bei der PlaceboGruppe! Das Clomipramin wirkte am schnellsten und deutlichsten und linderte sofort und zuverlässig die Symptome. In der sportlichen Gruppe pendelten sich die Angstwerte nach einer anfänglichen Linderung bis zu den letzten vier Wochen ein, bis sie dann rapide zurückgingen. (Die Placebo-Gruppe erlebte im weiteren Verlauf des Versuchs eine Rückkehr der Symptome.) Nach den zehn Wochen wurde bei der Clomipramin-Gruppe und der sportlichen Gruppe in einer Reihe von Tests das gleiche Verbesserungsniveau festgestellt. Beide Gruppen waren in Remission. 125 Kapitel 4: Angst Warum dauerte es bei der sportlichen Aktivität länger, bis sie eine Wirkung zeigte? Einer anderen Studie zufolge, die Andreas Ströhle 2005 ebenfalls nach streng wissenschaftlichen Kriterien durchführte, dürfte dies eigentlich nicht so sein. Ströhle zeigte, dass Panikattacken durch 30-minütiges Laufen auf dem Laufband im Vergleich zu inaktivem Ausruhen erheblich reduziert wurden (und zwar in einem Verhältnis von 2:1), was darauf hinweist, dass sie in manchen Fällen auch sofortige Wirkung zeigen kann. Die zeitliche Verzögerung bei der sportlich induzierten Linderung in Brooks’ Studie hatte wahrscheinlich etwas damit zu tun, wie die Studie konzipiert war. In der sportlichen Gruppe litten bis auf eine Person alle an Agoraphobie, einige von ihnen ziemlich schwer wiegend; andere hielten sportliche Aktivitäten geradewegs für „gefährlich“, das heißt, sie waren der Überzeugung, dass gerade der Akt des Gehens oder Laufens draußen schwierig sei. Sie wurden mit ihrer Angst konfrontiert und mussten sich ihr stellen, um die Anweisungen der Studie zu befolgen. Man kann nicht einfach einem Agoraphobiker sagen, er solle nach draußen gehen und fünf Kilometer laufen, sodass Brooks einen Weg finden musste, um ihnen die Übung etwas zu erleichtern. Sie wurden also gebeten, sich in der Nähe ihrer Wohnung eine Strecke von fünf Kilometern auszusuchen und diese erst einmal nur in drei oder vier Teiletappen in der Woche zurückzulegen – gegebenenfalls am Anfang mit Gehen. Dann wurden sie ermuntert, kurze Lauf phasen einzulegen und die Länge dieser Phasen allmählich zu erhöhen. Die ganze Strecke zu laufen, wurde erst nach der sechsten Woche von ihnen erwartet. Zwei der Patienten hatten tatsächlich Panikattacken beim Laufen, aber sie hielten durch, und die Attacken ließen schließlich nach. Bei Brooks’ Experiment blieben in der Clomipramin-Gruppe während der ganzen Studie alle bei der Stange, trotz erheblicher Nebenwirkungen wie Mundtrockenheit, Schwitzen, Schwindelge fühle, Zittern, Erektionsstörungen und Erbrechen. Die sportliche Gruppe, in der ebenso wie in der Placebo-Gruppe einige Patienten ausfielen, berichtete über geringfügige Nebenwirkungen der Art, wie sie bei jemandem zu erwarten sind, der gerade mit einem neuen Sportprogramm beginnt, beispielsweise vorübergehende Muskelund Gelenkbeschwerden. 126 Kein Grund in Panik zu geraten Bei einer Nachfolgeuntersuchung sechs Wochen später zeigten die sportlich aktiven Patienten, die am fittesten waren, die niedrigsten Angstwerte. Am Ende landete die sportliche Gruppe auf dem gleichen gesundheitlichen Niveau wie die Clomipramin-Gruppe, und sie schaffte dies aus eigenem Antrieb. Es ist sicherlich nichts falsch daran, Medikamente zu nehmen, aber wenn man die gleichen Ergebnisse durch sportliche Aktivitäten erzielen kann, baut man gleichzeitig sein Selbstvertrauen in die eigene Fähigkeit auf, die Dinge zu bewältigen. Dies ist ein bemerkenswerter Vorteil, nicht nur für Patienten mit ausgeprägten Angststörungen, sondern für jeden. Wir alle werden im Alltagsleben mit Situationen konfrontiert, die Furcht und Ängste auslösen. Das Entscheidende ist, das hat meine Patientin Amy verdeutlicht, wie Sie darauf reagieren. Die fehlende Verbindung Die Einstellung, dass jede vernünftige Behandlung von Ängsten Me dikamente einbeziehen muss, ist nicht auf Scheidungsverfahren vor Gericht beschränkt. 2004 veröffentlichte das New England Journal of Medicine (NEJM) einen Überblick über Behandlungen generalisierter Angststörungen, worin körperliche Bewegung oder sportliche Betätigung nicht einmal erwähnt wurde. Es war hauptsächlich eine Abhandlung über die bei uns am häufigsten verabreichten angstlösenden Medikamente, wobei Psychotherapie und Entspannung auch noch Zustimmung fanden. Von den 13 Pharmaprodukten, die in dem Überblick aufgeführt waren, waren alle mit einer Furcht erregenden Liste möglicher Nebenwirkungen verbunden. Keines der Medikamente war von der US-Bundesbehörde zur Überwachung von Nahrungs- und Arzneimitteln für ausdrücklich unbedenklich während der Schwangerschaft deklariert worden – nicht einmal beiläufig wurde erwähnt, dass die Wahrscheinlichkeit, an Ängsten und Depressionen zu leiden, bei Frauen doppelt so hoch ist wie Männern. Der Artikel war als Rat für Ärzte gedacht, aber wie kann es sein, dass eine Zusammenfassung der Behandlungen für allgemeine 127 Kapitel 4: Angst Angststörungen in der „Bibel“ der medizinischen Forschung körperliche Bewegung oder Sport einfach auslässt? Es ist ein Fall von klinischer Blindheit, wie ich es bezeichnen möchte. Die wachsenden wissenschaftlichen Belege über den neurologischen und psychologischen Nutzen von körperlicher Bewegung oder Sport scheinen einfach übersehen zu werden. Interessanterweise waren es die Kardiologen, die sich zu Wort meldeten. Das NEJM veröffentlichte einen Brief der Ärzte Carl Lavie und Richard Milani von der Ochsner Clinic Foundation in New Or leans. Darin hieß es unter anderem, der Autor „erläutert generalisierte Angststörungen und ihre Behandlung mit pharmakologischen Mitteln und Psychotherapie. Wir sind allerdings erstaunt, dass körperliche Bewegung oder Sport als zusätzliche Mittel zur Behandlung von Ängsten keinerlei Erwähnung finden“. Sie wiesen darauf hin, dass für Kardiologen Ängste als Risikofaktor für Herzprobleme von besonderem Interesse seien, und erklärten: „Sportliches Training führt nachweislich zu Reduzierungen von mehr als 50 Prozent der vorherrschenden Angstsymptome. Dies unterstützt die These, dass sportliches Training eine zusätzliche Methode zur Reduzierung chronischer Ängste ist.“ Diese Hinweise waren ein höflicher Weg, um zu sagen, dass der Originalartikel den Anschluss an den aktuellen Stand der medizinischen Forschung verpasst hatte. Lavie hat mehr als 70 Beiträge über körperliche Bewegung oder Sport und das Herz geschrieben, wovon elf sich auf Ängste konzentrieren. Jede einzelne seiner Studien hat eine deutliche Verbesserung bei Ängsten und Depressionen gezeigt. Die Bedeutung dieses Meinungsaustausches liegt darin, dass dies ein Fall ist, bei dem Kardiologen („echte“ Ärzte) Psychiatern eine Lektion erteilen, wie der Patient ganzheitlich zu behandeln ist. Wenn wir bis zu Hippokrates zurückgehen, so besagte eine Weis heit damals, dass Gefühle vom Herzen kommen und dass dort die Behandlung von Stimmungskrankheiten ansetzen sollte. Die moderne Medizin hat Geist und Körper getrennt, dabei zeigt sich jedoch, und zwar sehr konkret, dass Hippokrates von Anfang an Recht hatte. Erst in den letzten zehn Jahren haben Wissenschaftler angefangen zu verstehen, wie ein Molekül, das im Herzen erzeugt wird, bei unseren Emotionen eine Rolle spielt. 128 Kein Grund in Panik zu geraten ANP, das sogenannte atriale natriuretrische Peptid, wird von den Herzmuskeln abgesondert, wenn wir uns körperlich betätigen, und es bahnt sich seinen Weg durch die Blut-Hirn-Schranke. Sobald es im Gehirn angekommen ist, bindet es sich an Rezeptoren im Hypot halamus, um die Aktivität der HPA-Achse zu modulieren. (ANP wird auch direkt im Gehirn produziert, und zwar von Neu ronen im Locus Caeruleus, einem Teil des Hirnstamms, und in der Amygdala – beides wichtige Akteure bei Stress und Ängsten). Sowohl in Studien mit Tieren als auch mit Versuchspersonen wurde nachgewiesen, dass ANP einen beruhigenden Effekt hat, und die Forscher vermuten, dass es eine wichtige Verbindung zwischen körperlicher Bewegung bzw. Sport und Ängsten gibt. In einer der ersten Studien zur Verifizierung der Rolle von ANP bei Ängsten wurden im Jahr 2001 Patienten, die unter Panikstörungen litten, mit Personen verglichen, bei denen solche Störungen nicht vorlagen. Ihnen wurde stichprobenartig eine Dosis ANP injiziert oder ein Placebo verabreicht, anschließend erhielten sie eine Dosis eines von der Bauchspeicheldrüse produzierten Hormons, des sogenannten Cholecystokinin Tetrapeptids (CCK-4), das Ängste und Panik induziert. In beiden Gruppen wurden die Panikattacken erheblich durch ANP reduziert, während bei den Placebo-Empfängern keine Reduzierung feststellbar war. Bei einer Panikattacke wird CRF (Corticotropin-freisetzender Faktor, engl. Corticotropin Releasing Factor) ausgestoßen, der als solcher Ängste induziert, aber auch das Nervensystem mit Cortisol überschwemmt. Das ANP scheint den Bemühungen des CRF, uns in helle Aufregung zu versetzen, entgegen zu arbeiten, wie eine Bremse auf der HPA-Achse. Darüber hinaus haben Studien bei Frauen gezeigt, dass sich der ANP-Spiegel während der Schwangerschaft verdreifacht, was auf eine eingebaute Überlebensstrategie schließen lässt, um das sich entwickelnde Gehirn des Babys vor den potenziell toxischen Effekten von Stress und Ängsten zu schützen. In einer Studie mit Patienten, die an einer schweren Herzinsuffi zienz litten, waren diejenigen mit dem höchsten ANP-Spiegel am wenigsten ängstlich. Keiner von ihnen litt unter Angststörungen; die Ärzte interessierten sich jedoch für ihre Ängste, da diese wesentlichen Einfluss darauf haben, wie gut Herzpatienten sich von einer 129 Kapitel 4: Angst Operation erholen. Das ANP dämpft direkt die Reaktion des sympathischen Nervensystems, indem es den Adrenalin-Fluss hemmt und die Herzfrequenz senkt, und es scheint auch das Gefühl von Ängstlichkeit zu reduzieren, das so allüberragend ist. Und wir wissen von Patienten, die unter Panikstörungen leiden und häufig Attacken erleben, dass bei ihnen ein ANP-Defizit im Blut vorliegt. 2006 untersuchte eine Gruppe von Neuropsychiatern aus Berlin unter der Leitung von Andreas Ströhle, ob ANP ein entscheidendes Element bei dem beruhigenden Effekt von aeroben Übungen sei. Bei zehn gesunden Patienten, die eingewilligt hatten, dass ihnen eine Panik induzierende CCK-4-Injektion verabreicht wurde, wurde festgestellt, nachdem sie 30 Minuten lang (bei mäßiger Geschwindigkeit) auf dem Laufband gegangen waren, dass sich die ANP-Konzentration erheblich erhöhte, während gleichzeitig Gefühle der Angst und Panik reduziert wurden. Ströhle wies darauf hin, dass Korrelationen nicht mit Kausalität gleichzusetzen seien, fügte jedoch hinzu: „ANP kann eine physiologisch wichtige Verbindung zwischen dem Herzen und angstbezogenem Verhalten sein.“ Sich der Angst stellen Wenn die Furcht dauerhaft ist, wie können wir dann hoffen, Ängste auszulöschen? Die Antwort liegt in einem neurologischen Prozess, der sogenannten Auslöschung konditionierter Furcht. Wir können zwar nicht das ursprüngliche Furchtgedächtnis löschen, wir können es jedoch in wesentlichen Teilen „austrocknen“, indem wir ein neues Gedächtnis schaffen und dieses verstärken. Durch den Aufbau eines Parallelschaltkreises zum Furchtgedächtnis schafft das Gehirn eine neutrale Alternative zur erwarteten Angst und lernt, dass alles in Ordnung ist. Indem der Auslöser mit der richtigen Interpretation verlinkt und die Verbindung zur typischen Reaktion gekappt wird, wird die Assoziation zwischen beispielsweise dem Sehen einer Spinne und dem Erleben von Schrecken und Herzrasen geschwächt. Wissenschaftler sprechen hier von einer Reattribuierung. Wir können das Gehirn dazu zwingen, Angsterinnerungen gegen 130 Kein Grund in Panik zu geraten neutrale oder positive Erinnerungen einzutauschen, und zwar über den psychologischen Ansatz, der sogenannten kognitiven Verhal tenstherapie. Studien zeigen, dass die kognitive Verhaltenst herapie bei der Behandlung von Ängsten in etwa so effektiv ist, wie selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) es sind, wenngleich verschiedene Ergebnisse den Schluss nahe legen, dass die Qualität der Therapie entscheidend ist. Der Ansatz besteht darin, den Patienten in Anwesenheit des Therapeuten in kleinen Dosierungen der Quelle seiner Angst auszusetzen. Wenn wir die Symptome ohne Panik erleben, nimmt das Gehirn eine kognitive Umstrukturierung vor. Im präfrontalen Cortex werden Verbindungen aufgebaut, die helfen, die Amygdala zu beruhigen, sodass wir uns sicher fühlen, und damit zeichnet dann das Gehirn eine Erinnerung an dieses Gefühl auf. Wenn wir uns zusätzlich sportlich betätigen, sorgen wir dafür, dass die Schaltkreise zwischen dem präf rontalen Cortex und der Amygdala durch Neurotransmitter und neurotrophe Faktoren unterstützt werden, was eine weitere Kontrolle gewährleistet und einen positiven Schneeballeffekt erzeugt. Der Psychologe und Langstreckenläufer Keith Johnsgard stellte fest, dass eine kognitive Verhaltenstherapie in Verbindung mit sportlicher Betätigung besonders wirksame Ergebnisse erzielt. In seinem Buch Conquering Depression and Anxiety through Exercise erklärt er, wie er das Laufen als Mittel der kognitiven Umstrukturierung zur Behandlung einer Agoraphobie nutzt. Nach mehreren Sitzungen, in denen er eine Beziehung zu den Patienten aufgebaut, einen Rapport hergestellt hat, begleitet er seine Patienten am frühen Morgen auf den leeren Parkplatz eines Einkaufszentrums und lässt sie dort einige Sprints machen. Sonst ist niemand dort, und in seiner Gegenwart fühlen sie sich sicher. Er hat vorher festgelegt, wie weit sie sprinten können, bevor sie erschöpft sind, und – das ist der Clou – er markiert die Strecke vom Haupteingang des Einkaufszentrums aus und lässt sie dann von seiner Seite aus zum Einkaufszentrum hin laufen. Die Idee dahinter ist, dass sie den Höhepunkt ihrer Angst in einem Zustand voller physischer Erregung erreichen, aber ohne Panik. Wenn sie spüren, dass eine Panikattacke kommt, haben sie die Anweisung, aufzuhören, umzukehren und zu ihm zurückzugehen. Sie laufen Richtung Angst und gehen Richtung Sicherheit. 131 Kapitel 4: Angst Am Ende sollten sie die Angst überwinden, das Einkaufszentrum zu betreten, und sich innen zunehmend weiter vorwagen. Er sagt, dass er oft erst nach einem halben Dutzend Sitzungen eine Verbesserung sieht. „Im Wesentlichen“, schreibt er, gehe es bei seinem Ansatz da rum, „wieder auf das Pferd zu steigen, das einen abgeworfen hat“. Dem Gehirn beizubringen, dass wir überleben können, ist entscheidend, um die Angst zu überwinden. Dieser Ansatz passt zu einem breiteren Konzept, das der Neuro wissenschaftler und bekannte Angstexperte Joseph LeDoux von der New York University hervorgehoben hat. Kurz nach den Terroran griffen vom 11. September 2001 veröffentlichte LeDoux zusammen mit dem Co-Autor Jack Gorman einen Artikel im American Journal of Psychiatry unter der Überschrift „A Call to Action: Overcoming Anxiety through Active Coping“ (Ein Aufruf zum Handeln: Ängste durch aktive Bewältigung überwinden). Aktive Bewältigung heißt im Prinzip, etwas zu tun als Reaktion auf eine Angst auslösende Gefahr oder ein Problem, worin diese oder dieses auch immer bestehen mag, statt sich passiv deswegen zu sorgen oder zu beunruhigen. Es geht nicht in jedem Fall um physische Aktivitäten, wobei körperliche Bewegung jedoch eine qualifizierte Form der aktiven Bewältigung ist. Und wie sich herausstellt, ist Bewegung vielleicht kein zufälliger Aspekt der aktiven Bewältigung. LeDoux veranschaulicht, wie im wahrsten Sinne des Wortes sich der Informationsfluss im Gehirn verlagert, indem neue Informa tionskanäle gebahnt werden, wenn wir angesichts von Angst uns zum Handeln entscheiden. Eine Region der Amygdala, der sogenannte zentrale Nucleus, ist für das Entstehen des negativen Schnee balleffektes verantwortlich – indem er nicht bedrohliche Reize mit zu Recht bedrohlichen Reizen verknüpft. Die so entstehende Angst erinnerung stellt die Verbindung zwischen dem Auslöser und der Angst dar. LeDoux hat bei Ratten gezeigt, dass die Signale umgeleitet wer den können, sodass sie, statt durch den zentralen Nucleus der Amyg dala, durch den Basalkern (Nucleus basalis) gehen, der mit den motorischen Schaltkreisen des Körpers verbunden ist. Wenn das Gleiche für den Menschen gilt, dann genügt es, einfach aktiv zu werden, um den Mechanismus für die Angsterinnerung umzuleiten. Der 132 Kein Grund in Panik zu geraten Basalkern ist der Weg des aktiven Handelns, und wir können ihn durch Gedanken aktivieren. Einem meiner Patienten, der sowohl durch den Verlust seiner Arbeit als auch seiner Freundin traumatisiert war, machte ich den Vorschlag, jeden Tag damit zu beginnen, dass er zuerst ins Sport studio ging, um zu verhindern, dass er unentwegt nur in seinem Trauma schmorte. Den Signalfluss von den Angstschaltkreisen zu den Schaltkreisen des aktiven Handelns konnte er auch dadurch verlagern, dass er eine Liste potenzieller Arbeitgeber anfertigte, die er anrufen konnte – ein klassischeres Beispiel aktiver Bewältigung, wodurch das Gehirn jedoch nicht so weit reichend beeinflusst wird. Indem wir etwas tun, statt einfach nur herumzusitzen und uns zu sorgen, leiten wir unseren Gedankenprozess um das passive Reak tionszentrum herum und zerstreuen die Angst, wobei das Gehirn gleichzeitig optimiert wird, um ein neues Szenario zu erlernen. An gesichts von Angst neigt jeder instinktiv dazu, die Situation zu meiden, wie eine Ratte, die in ihrem Käfig erstarrt. Aber indem wir genau das Gegenteil tun, sorgen wir für eine kognitive Umstrukturierung und nutzen unseren Körper, um unser Gehirn zu heilen. Die Angst hinter sich lassen Das Besondere an körperlicher Bewegung als Form der Angstbewäl tigung ist, sowohl bei Ängsten im Alltag als auch in Form einer Stö rung, dass sie sowohl auf den Körper als auch auf das Gehirn wirkt. Wie dies geschieht, sei nachstehend erläutert: 1. Sie bringt Abwechslung. Wenn Sie sich bewegen, wird Ihr Geist im wahrsten Sinne des Wortes auf etwas anderes gelenkt. So, wie der elliptische Kreuztrainer meiner Patientin Amy geholfen hat, ihren akuten Angstzustand zu durchbrechen und sich auf etwas anderes als die Furcht vor ihrer nächsten Panikattacke zu konzentrieren. Studien haben gezeigt, dass ängstliche Personen gut auf gezielte Ablenkung ansprechen – still sitzen, meditieren, in der Gruppe Mittag essen, eine Zeitschrift lesen. Die 133 Kapitel 4: Angst angstlösenden Effekte körperlicher Bewegung halten jedoch länger vor und bringen auch die anderen hier aufgeführten nutzbringenden Nebenwirkungen mit sich. 2. Sie reduziert Muskelverspannung. Genau wie Betablocker unterbricht körperliche Bewegung den Schaltkreis der negativen Feedback-Schleife vom Körper zum Gehirn, die Ängste steigert. 1982 führte ein Forscher namens Herbert de Vries eine Studie durch, die zeigte, dass die Muskelspindeln von Personen mit Ängsten von überaktiven elektrischen Mustern geprägt sind, und dass diese Spannung durch körperliche Bewegung reduziert wurde (genau wie durch Betablocker). Er sprach vom „beruhigenden Effekt körperlicher Bewegung“. Eine Reduzierung der Muskelspannung reduziert, wie er feststellte, das Gefühl der Angst, was, wie ich erklärt habe, wichtig ist, um nicht nur den Zustand, sondern den Wesenszug der Angst verschwinden zu lassen. 3. Sie baut Gehirnressourcen auf. Sie wissen inzwischen, dass körperliche Bewegung den Serotonin- und Noradrenalin-Spiegel erhöht, sowohl kurz- als auch langfristig. Serotonin wirkt fast an jeder Verbindungsstelle des Angst-Schaltkreises, reguliert Signale im Hirnstamm, verbessert die Funktionsfähigkeit des präfrontalen Cortex zur Hemmung von Ängsten und beruhigt die Amygdala. Noradrenalin ist der Erregungsneurotransmitter, sodass die Abstimmung seiner Aktivität von entscheidender Bedeutung ist, um den Angstkreislauf zu durchbrechen. Kör perliche Aktivität erhöht auch den hemmenden Neurotrans mitter GABA sowie BDNF, was wichtig für die Zementierung alternativer Erinnerungen ist. 4. Sie lehrt ein anderes Ergebnis. Ein Aspekt der Angst, der sie so sehr von anderen Störungen unterscheidet, sind die physischen Symptome. Da die Angst das sympathische Nervensystem ins Spiel bringt, wenn man seinen Herzschlag spürt und der Atem schneller wird, kann das Bewusstsein nur durch diese Symptome Ängste oder eine Panikattacke auslösen. Ebenjene 134 Kein Grund in Panik zu geraten Symptome sind jedoch auch typisch für aerobe Übungen – und dies ist eine gute Sache. Wenn man beginnt, die physischen Symptome der Angst mit etwas Positivem zu assoziieren, mit etwas, das man selbst initiiert hat und kontrollieren kann, verblasst die Angsterinnerung angesichts der neuen Vorstellung, die gerade Form annimmt. Stellen Sie es sich wie eine biologische Lockvogeltaktik vor: Ihr Geist erwartet eine Panikattacke, endet stattdessen jedoch bei einer positiven Assoziation der Symptome. 5. Sie leitet Ihre Schaltkreise um. Indem Sie das sympathische Nervensystem durch körperliche Bewegung aktivieren, befreien Sie sich aus der Falle des passiven Wartens und Sorgens und verhindern so, dass die Amygdala Amok läuft und die angsterfüllte Sicht verstärkt, wonach das Leben voller Gefahren ist. Wenn Sie stattdessen mit aktivem Handeln reagieren, senden Sie der Amygdala Informationen über einen anderen Informa tionskanal, der den Weg für eine sichere Umleitung bahnt und in eine positive Richtung weist. Sie verbessern damit alternative Verbindungen und lernen eine alternative Realität kennen. 6. Sie verbessert die Widerstandsfähigkeit. Sie lernen, dass Sie Ängste effektiv kontrollieren können, ohne in Panik zu geraten. In der Psychologie spricht man von Selbstkontrolle oder Selbst wirksamkeit. Diese zu entwickeln, ist ein wirksames prophylaktisches Instrument gegen Angstsensitivität und Depression, die aus Ängsten entstehen kann. Mit der bewussten Entscheidung, etwas für sich selbst zu tun, beginnen Sie, sich bewusst zu machen, dass Sie etwas für sich selbst tun können. Es ist eine sehr nützliche Tautologie. 7. Sie macht Sie frei. Forscher immobilisieren Ratten, um Stress zu studieren. Auch Menschen sind ängstlicher, wenn sie im wahrsten Sinne des Wortes oder im übertragenen Sinne lahmgelegt oder eingesperrt sind. Personen, die ängstlich sind, neigen dazu, sich selbst zu immobilisieren – sie verkriechen sich in eine fötale Stellung oder suchen einfach einen sicheren Platz, 135 Kapitel 4: Angst um sich vor der Welt zu verstecken. Agoraphobiker fühlen sich in ihren Wohnungen gefangen, aber in einem gewissen Sinne ist jede Form der Angst eine Art Falle. Das Gegenteil und auch die Behandlung davon ist, aktiv zu handeln, aus sich heraus und nach draußen zu gehen, die Umwelt zu erforschen und sich in der Umwelt zu bewegen. Sich also einfach sportlich zu betätigen. Einen Gegenangriff planen Ein großer Unterschied zwischen einer kombinierten Nutzung körperlicher Bewegung und Angst lösender Medikamente und der alleinigen Nutzung von Medikamenten ist, dass Wirkstoffe wie Benzo diazepin – und Alkohol bei Personen, die sich selbst „behandeln“ – Ängste zwar schnell ersticken, aber nicht garantieren, dass man lernt, anders auf seine Ängste zu reagieren. Personen mit Ängsten fällt es oft sehr schwer, zu wissen oder zu entscheiden, was sie vom Leben wollen. Alles, was in höchstem Maße chronisch ängstliche Personen sich wünschen, ist in Wirklichkeit, nicht ängstlich zu sein. Aktivitäten oder körperliche Bewegung können ihnen helfen, sich auf etwas hin zu bewegen. Körperliche Bewegung und Medikamente folgen meines Erach tens nicht dem Entweder-oder-Prinzip. Körperliche Bewegung ist ein anderes Instrument, das Ihnen zur Verfügung steht und griffbereit ist, da Sie es sich selbst verordnen können, ob Sie nun eine definierbare Störung haben oder sich einfach manchmal ängstlich fühlen. So wie es den meisten Menschen geht. Ich bin mit Sicherheit kein pharmakologischer Calvinist – ich erzähle niemandem, er müsse sich selbst an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen, oder es sei eine Sünde oder Schwäche, sich auf Medikamente zu verlassen. Vor Kurzem habe ich einen Patienten mit Panikstörung angenom men, der die letzte Klasse einer Highschool besucht. Seinen ersten Anfall hatte er mit sechs, was bedeutet, dass er eine Prädisposition dafür hat, und in letzter Zeit hat sich die Situation durch den Druck der Vorbereitung aufs College verschlimmert. Wann immer er einen Lauf macht, sobald sein Herz stärker zu schlagen anfängt, empfindet 136 Kein Grund in Panik zu geraten er Angst wegen der Möglichkeit, in Panik zu geraten, und er hat die Sorge, er könnte wegen eines Herzanfalls tot umfallen und niemand würde ihn finden. Manchmal bleibt er dann stehen und fängt einfach an zu weinen. Rational weiß er aber auch, wenn er durch seine Sensitivität hindurchgeht und die körperliche Erregung zulässt, dann verschwindet das Gefühl. Würde ich ihm unter diesen Umständen empfehlen, Zoloft nicht weiter einzunehmen? Absolut nicht. Zunächst einmal hat er eine geradezu phobische Angst vor einer Panikattacke. Und da eine Panikstörung so beängstigend ist, beginne ich für gewöhnlich mit einer Medikation. Eine Pille einzunehmen, erfordert nicht viel Mühe, und in manchen Fällen funktioniert es, als würde man einen Schalter umlegen, der den Auslöser verflüchtigt. Aber, wie gesagt, dies führt nicht unbedingt zu einer dauerhaften Veränderung, und für eine langfristige Linderung muss ein Umlernen stattfinden. Warum also nicht beide Geschütze in Stellung bringen? Medizin und körperliche Bewegung miteinander zu kombinieren, kann meines Erachtens ein großartiger Ansatz sein. Die Medizin liefert sofortige Sicherheit, und die körperliche Bewegung setzt an der Wurzel des Übels der Angst an. Dies ist insbesondere im Zusammenhang mit Kindern wichtig, da es bei Kindern, die Angst haben, im Vergleich zu gleichaltri gen Kindern wahrscheinlicher ist, dass sie später in ihrem Leben Depressionen entwickeln. Eine Langzeitstudie verfolgte die Ent wicklung von 700 Kindern bis in ihr Erwachsenenleben. Diejeni gen, die als Kinder unter Ängsten gelitten hatten, sind größten teils aus der Angst herausgewachsen. Aber von denjenigen, die eine Stimmungsstörung entwickelten, hatte in zwei Dritteln der Fälle das Problem seinen Ursprung in als präadoleszenten Ängsten. Das Tragische hier ist, dass Angst zwar relativ einfach zu behandeln ist, sie bei Kindern aber oft undiagnostiziert bleibt – die ängstlichen Kinder sitzen still ganz hinten in der Klasse, verängstigt. Nieman dem fällt auf, dass mit diesen Kindern etwas nicht stimmt, da sie keine Verhaltensauffälligkeiten zeigen und sich gut benehmen. Unter dessen hinterlässt die Angst in ihrem Gehirn jedoch negative Muster, die sich festsetzen können, sodass Probleme bei diesen Kindern vorprogrammiert sind. 137 Kapitel 4: Angst Dem jungen Mann erklärte ich, das Erste und Wichtigste, was er tun müsste, sei, mit jemandem zusammen seinen Sport zu treiben. Dies gilt für jeden, der leicht in Panik gerät. Denn die Gegenwart einer anderen Person gibt ein Gefühl der Sicherheit und führt darüber hinaus aber auch unmittelbar zu einer Erhöhung des SerotoninSpiegels, einfach durch das Zusammensein mit einer anderen Person. In seinem Fall schlug ich vor, dass er entweder zu Hause oder in der Nähe seiner Wohnung einer sportlichen Betätigung nachging, bis er seinen erhöhten Herzschlag mit einer positiven Erfahrung assoziieren konnte. Er musste eine Sport- oder Übungsart finden, die ihm Spaß machte, und da seine Panik einen starken genetischen Anteil zu haben schien, erklärte ich ihm, dass er wirklich daran arbeiten musste. Er musste mit mindestens 15 Minuten anstrengender aerober Übung am Tag beginnen – Laufen, Schwimmen, Radfahren, Rudern oder was auch immer sein Herz zum Schlagen bringen würde. Intensität war in seinem Fall besonders wichtig, denn es ist belegt, dass nur durch harte körperliche Betätigung die Sensitivität gegenüber dem physischen Erregungszustand der Angst reduziert und abgebaut wird. Wie fast jeder Jugendliche, den ich behandelt habe, wollte auch dieser junge Mann keine Medikamente nehmen. Er fragte, ob er sie absetzen könnte, und ich sagte ihm, mit der Zeit, wenn er sein Übungsprogramm durchzog und vielleicht eine kognitive Verhal tenst herapie machte, würde er sicher seine Angstsensitivität verringern können. Vermutlich, sagte ich, würde er am Ende seine Medi kation reduzieren oder vielleicht sogar ganz absetzen können. Nie mand weiß jedoch wirklich, ob körperliche Bewegung oder Sport eine Medikation ganz ersetzen können. Unser Gehirn ist einfach zu komplex. Sehr viele Menschen, die wegen einer Panikstörung behandelt werden, können fortan ein völlig anderes Leben führen. Je weiter ihre letzte Panikattacke zurückliegt, desto geringer ist die Wahrschein lichkeit, dass es zu einer weiteren Attacke kommt. Das Gleiche gilt für jede Form der Angst. Je mehr sich Ihr Leben verändert, je mehr Sie sich in der Welt engagieren und auf die Welt einlassen, desto wahrscheinlicher ist es, dass Sie die Angst hinter sich lassen. Bei leichteren Ängsten, die nicht so schlimm sind, dass eine Medikation 138 Kein Grund in Panik zu geraten erforderlich wäre, die aber dennoch Probleme bereiten, kann die Wirkung von körperlicher Bewegung noch stärker sein. Mein Highschool-Patient brauchte das volle, sich gegenseitig er gänzende Behandlungsprogramm: Medikament, sportliche Betäti gung und Gesprächstherapie. Bei meiner Patientin Amy half allein die körperliche Aktivität jedoch schon gewaltig, sowohl im Augen blick als auch von Tag zu Tag, und sie machte den Weg frei für eine Gesprächst herapie, um den dahinter liegenden Problemen auf den Grund zu gehen. Aerobe Übungen ergänzten ihr Yoga und gaben ihr die Ruhe, die notwendig war, um den Blick nach innen zu richten und sich selbst zu beobachten, statt ihre ganze psychische Energie für die Aufgabe zu verwenden, sich nicht überwältigen zu lassen. Sie wurde sich ihrer eigenen Psychologie und ihres Verhaltens bewusster denn je. Sie erkannte, dass ihre Herausforderungen und negativen Gefühle einem natürlichen Muster aus Ebbe und Flut glichen, und ebenso, dass sie die Wellen reiten musste – und dass sie dies konnte. Gleichermaßen wichtig war, dass sie die Verbesserung bei sich selbst bemerkte und sie treffend beschrieb: Die Scheidung war wie ein Erdbeben, durch das ihr Leben nahezu ganz in Trümmer zerbrochen war, aber die sportlichen Übungen hatten ihr Fundament wieder gefestigt; sie wusste, es würde Nachbeben geben, sie fühlte sich aber stark genug, ihnen standzuhalten. Es ist erstaunlich, wie sehr Amy sich verändert hat. Ihr Anwalt, ihre Eltern, ihr Familientherapeut – bis zu einem gewissen Grad sogar ihr Ehemann – meinten alle, sie scheine ein anderer Mensch zu sein. Sie hat sich selbst und ihre Situation besser unter Kontrolle, ist erfrischend selbstsicher und realistisch optimistisch. Der Kampf vor Gericht wird vielleicht noch Jahre andauern, er überwältigt sie aber nicht mehr, und die sportliche Betätigung war ihre beste Ver teidigung. 139 5. Depressionen Bewegung verändert Ihre Stimmung B ill wusste nicht, dass ihm etwas fehlte. Als er fünfzig wurde, fiel ihm auf, dass er fast zehn Kilo Übergewicht hatte, und er beschloss eine Diät zu machen und mit Laufen anzufangen. Es dauerte nicht lange, bis er abnahm, und ihm fielen einige nicht unerhebliche Nebeneffekte auf: Er wurde weniger kritisch – sich selbst und anderen gegenüber –, und weniger nörglerisch. Seine Frau und seine Kinder sprangen auf den Wandel an und wollten mehr Zeit mit ihm verbringen, was ihm gut tat und seine Stimmung weiter verbesserte. Bill hatte in dem Sinne nie eine Depression gehabt, es gab aber keinen Zweifel, dass er eine leidenschaftlichere Einstellung zum Leben bekam, nachdem er mit seinem Übungsprogramm begonnen hatte. Er entdeckte durch reinen Zufall, dass er glücklicher sein konnte. Unser Verständnis von Depression folgte einem ähnlichen Pfad. Der reine Zufall führte zu unseren ersten Antidepressiva, als in den 1950er-Jahren entdeckt wurde, dass ein experimentell getestetes Tuberkulosemedikament die betreffenden Personen „ungewöhnlich glücklich“ machte. Wenige Jahre später zeigte ein neues Antihis tamin-Präparat ähnliche stimmungsaufhellende Effekte und brachte eine Medikamentenk lasse hervor, die als trizyklische Antidepressiva bezeichnet wurden. Plötzlich gab es medizinische Behandlungen, die die Symptome von Depressionen lindern konnten. Es war der 141 Kapitel 5: Depressionen erste reale Hinweis auf die radikale Vorstellung, dass es eine biologische Erklärung für etwas geben könnte, was als rein psychologisches Problem angesehen worden war. Dies führte zu der Forschung, wie das Gehirn den Geist und die Psyche kontrolliert, und damit veränderte sich die gesamte Landschaft auf diesem Gebiet. In den 50 Jahren, die seither vergangen sind, sind Stimmungs störungen der Schwerpunkt der psychiatrischen Forschung gewesen. Wir wissen noch immer nicht, was Depressionen verursacht, wir haben jedoch große Fortschritte gemacht, was die Beschreibung der Emotionen angeht, die den Gehirnaktivitäten zugrunde liegen. Und je mehr wir über die Biologie von Stimmungen erfuhren, desto besser haben wir verstanden, wie aerobe Übungen sie verändern. Letzten Endes verdanken wir unser Wissen über den Nutzen körperlicher Bewegung für das Gehirn den Forschungen über Depressionen. In Großbritannien nutzen Ärzte körperliche Bewegung oder sportliche Betätigung inzwischen als Behandlung erster Wahl bei Depressionen, während in den Vereinigten Staaten jedoch kaum davon Gebrauch gemacht wird, und das ist eine Schande. Der Weltge sundheitsorganisation zufolge sind Depressionen in den Vereinigten Staaten und in Kanada die führende Ursache für Arbeitsunfähigkeit, noch vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs und AIDS. Etwa 17 Prozent der US-amerikanischen erwachsenen Bevölkerung erleben zu irgendeinem Zeitpunkt in ihrem Leben eine Depression, was 26,1 Milliarden US-Dollar Gesundheitskosten pro Jahr bedeutet. Es ist unbekannt, wie viele Menschen versuchen, Selbstmord zu begehen; fest steht jedoch, dass dies in den Vereinigten Staaten tragischerweise fast alle 17 Minuten jemandem gelingt. Aus diesem Grund, und auch weil 74 Prozent der depressiven Patienten gleichzeitig an einer anderen Störung leiden – darunter Ängste, Drogenmissbrauch und Demenz –, ist es ein dringendes Problem. Und dieses Problem wird leider nicht besser. Eine der Hürden bei der Überwindung von Depressionen ist das breite Spektrum an Symptomen, die wir alle an irgendeinem Punkt erleben. Wer ist nicht einmal gelegentlich griesgrämig, gereizt, pessimistisch, lethargisch, apathisch, selbstkritisch oder melancholisch? Traurigkeit ist zum Beispiel ein normaler Aspekt des menschlichen Lebens – eine Reaktion auf einen Verlust. Traurig 142 Bewegung verändert Ihre Stimmung zu sein ist jedoch nicht das Gleiche wie depressiv zu sein, es sei denn, das Gefühl bleibt bestehen oder ist mit einer Reihe anderer Symptome verbunden. Und was ist der Unterschied zwischen einem Symptom und einem Wesenszug der Persönlichkeit? Mein Patient Bill hatte zeit seines Lebens eine kritische und negative Einstellung. Er war nicht krank, „technisch“ betrachtet, er hatte jedoch, wie ich es nennen würde, ein Schattensyndrom der Depression und war ein perfekter Kandidat für eine Veränderung seines Lebensstils, wovon seine gemeinhin von leichter Traurigkeit oder Melancholie geprägte Lebenseinstellung profitieren sollte. Die Verschreibung von Me dikamenten, damit es Patienten „besser als gut“ geht, ist das Thema einer langjährigen ethischen Debatte; und dies ist ein Gebiet, auf dem körperliche Bewegung einen immensen Vorteil gegenüber An tidepressiva hat. Dass Sie nicht alle Symptome einer Depression haben, bedeutet nicht, dass es Ihnen nicht besser gehen könnte. Bill ist ein glücklicherer Mensch, weil er angefangen hat, zu laufen. Das Gleiche träfe wahrscheinlich auch zu, wie ich noch erklären werde, wenn er klinisch depressiv wäre. Aerobe Übungen haben einen positiven Effekt auf das ganze Spektrum depressiver Symptome, egal, ob sie einzeln auftreten, in Form eines leichten Anfalls oder sich zu einer Form der Störung verdichten. Bei einer Depression handelt es sich meines Erachtens insgesamt um eine Erosion von Verbindungen – sowohl in Ihrem Leben als auch zwischen Ihren Hirnzellen. Körperliche Bewegung stellt diese Verbindungen wieder her. Innerhalb des Spektrums an Symptomen ist klar zwischen verschiedenen Arten der Depression zu unterscheiden. Ich hatte Patien ten, die nichts aßen und nicht schlafen konnten, und andere, die zu viel aßen und ständig so müde waren, dass sie glaubten, morgens nicht aus dem Bett zu kommen. Manche können nicht einmal die einfachste Entscheidung treffen, und sie ziehen sich still aus der Welt in eine von Hilflosigkeit geprägte Haltung zurück, während andere schreien und alles und jeden herausfordern. Solche Widersprüche machen eine Behandlung schwierig. Wenn Sie Brustkrebs haben, kann mithilfe einer Biopsie die beste Behandlung ermittelt werden. Wenn Sie eine Depression haben, können Sie einen psychologischen 143 Kapitel 5: Depressionen Test machen, und dann hoffen Sie nach dem „Versuch und Irrtum“Prinzip ein geeignetes Medikament zu finden; für Depressionen gibt es keinen Bluttest. Damit kommen wir wieder zur Suche nach dem biologischen Schuldigen zurück. Durch genaue technische und chemische Analyse unserer ursprünglichen, zufällig entdeckten Antidepressiva, stellten wir fest, dass sie die Aktivität der sogenannten Monoamin-Neuro transmitter erhöhen: Noradrenalin, Dopamin und Serotonin. Als Joseph Schildkraut, Psychiater und Forscher am Massachusetts Mental Health Center, 1965 feststellte, dass ein Zerfallsprodukt von Noradrenalin, das sogenannte Methoxyhydroxyphenylglykol (MHPG), bei depressiven Patienten reduziert war, begeisterte ihn die Idee, dass es etwas gab, was gemessen werden konnte. Wenn wir das Ungleichgewicht quantifizieren konnten, wären wir wohl in der Lage, die Krankheit zu diagnostizieren und an der Wurzel, der Biologie, dagegen anzugehen. Seine Pionierarbeit führte zur Monoamin-Hypothese, wonach Depression durch ein Defizit dieser drei Neurotransmitter verursacht wird. Die meisten unserer Behandlungen und Forschungen, die seither durchgeführt wurden, zielten entsprechend auf eine Behebung dieses Defizits ab. Die neue Begeisterung 1970 bekam ich, frisch vom College, eine Stelle am Massachusetts Mental Health Center und geriet geradewegs in diesen Umbruch, der sich in der Psychiatrie vollzog. Schildkraut war für mich ein Men tor, und ich hatte das Glück, aus erster Hand die wissenschaftliche Forschung über die biologische Theorie von Stimmungsstörungen erfahren zu können. Zwei Jahre später ging ich an die Medizinische Fakultät der University of Pittsburgh, wo ich meine eigene tägliche Psychoanalyse begann und mich in die aufkommende Hirn forschung vertiefte. In Pittsburgh arbeitete bereits jeder an MHPG, sodass ich mich entschloss, die Lithium-Aufnahme roter Blutkör perchen als möglichen Weg der Identifizierung verschiedener Stim mungsprobleme zu messen. Ich fror auch Urinproben von Patienten 144 Bewegung verändert Ihre Stimmung mit Schizophrenie ein, die dann zu Linus Pauling an die Stanford University geschickt wurden. Ich lernte, wie man Computer programmiert, um Datenanalysen durchzuführen, und stellte Ergeb nisse bei einer Psychophysiologie-Konferenz vor. Durch meine For schungen war ich in der Leidenschaft gefangen, die Psychiatrie zu einer „wirklichen“ Wissenschaft machen zu wollen. Etwa zur gleichen Zeit stieß ich auf einen Artikel über eine Klinik in Norwegen, die depressiven Patienten die Option einer Behand lung mit Antidepressiva oder täglichem Sport anbot. Dies war ein Schock: Diese Medikamente wurden gerade erst eingeführt, und die Ergebnisse zwangen uns, unseren Denkansatz bei der Behandlung zu ändern, und dennoch gab es hier eine Klinik, die Patienten mit schweren Depressionen sportliche Betätigung anbot. Und es funktionierte! Aber die Ergebnisse gingen völlig unter. Zu einer Zeit, in der wir gerade in die Tiefen des Gehirns vordrangen, war pure Wissenschaft gefragt. Als ich nach Boston zog, wo ich meine Assistenzarztzeit am Massachusetts Mental Health Center absolvierte, landete ich in einem weiteren Epizentrum – das Lauffieber „erschütterte“ zu dieser Zeit alle Welt. Es gab den Olympia-Goldmedaillengewinner Frank Shorter, der es in seiner Disziplin, dem Marathon, mit den besten Läufern der Welt aufnahm; es gab Bill Rogers, der jeden aufforderte, nach draußen zu gehen, um zu laufen; und es gab ein neues Phäno men, den sogenannten „Endorphinrausch“. Candance Pert, Postdoktorandin und Neurowissenschaftlerin an der Johns Hopkins University, hatte kurz zuvor entdeckt, dass es Opiatrezeptoren im Gehirn gab, was bedeutete, dass der Körper eine „eingebaute“ Methode zur Schmerzbekämpfung mit Molekülen hatte, die wie Morphium wirkten. Endorphine, wie sie genannt wurden, dämpften den Schmerz im Körper und erzeugten Euphorie im Geist. Als in den Blutproben einer Gruppe von Läufern erhöhte Endorphin-Spiegel festgestellt wurden, schien alles zu passen. Die Theorie, dass sportliche Betätigung für eine Zunahme dieser morphiumähnlichen Substanz im Gehirn sorgte, passte zu dem guten Gefühl, das sich bei einem Läufer nach entsprechenden Aktivitäten einstellte. So kamen wir auf den Ausdruck „Runner’s High“, einer extremen Version des Effektes. Dies war für mich das erste Mal, dass 145 Kapitel 5: Depressionen eine Verbindung zwischen körperlicher Bewegung und Stimmungen hergestellt wurde. Endorphine werden als Stresshormone betrachtet – und davon gibt es 40 Arten, mit Rezeptoren in Gehirn und Körper –, die das Ge hirn beruhigen und bei anstrengender sportlicher Betätigung Mus kelschmerzen lindern. Sie sind das Elixier des Heldentums und helfen uns, bei körperlicher Überanstrengung Schmerzen zu ignorieren, sodass wir die anstehende Aufgabe zu Ende führen können. Robert Pyles, der Psychiater, den ich in Kapitel 3 erwähnte, liefert ein gutes Beispiel. Als Marathonläufer brüstete er sich damit, stets bis zum Ende zu laufen, aber genau das wurde in einem Jahr in Boston für ihn zu einer gewaltigen Herausforderung. Er verfing sich mit dem Fuß in einem Plastikmüllsack, den jemand nahe der Startlinie als Aufwärmjacke genutzt hatte, und fiel mit dem Knie voraus auf das Pflaster. Er rappelte sich auf und lief weiter, und zwar ziemlich geschockt. Aber nachdem er etliche Meilen zurückgelegt hatte, stellte sich ein komisches Gefühl ein, und bei Meile 18 kündigte sein geschwollenes Knie den Dienst auf. Er musste aufhören. Er hatte sich seinen Oberschenkelknochen gebrochen. Jedes Mal, wenn er seinen Fuß aufsetzte, müsste er unerträgliche Schmerzen verspürt haben, aber Pyles sagt, er habe sie nicht gemerkt. Es mussten die Endorphine gewesen sein. Es gibt einen Zusammenhang zwischen Schmerz und Depression, und nach Perts Entdeckung führten auch andere Experimente durch, um zu sehen, ob Endorphine tatsächlich die Verbindung zwischen sportlicher Betätigung und erhöhter Stimmung waren. Sie erwarteten dabei festzustellen, dass Medikamente mit einer endorphinhemmenden Wirkung ein Runner’s High verhindern würden. Die Ergebnisse waren jedoch widersprüchlich. Dann stellten wir fest, dass Endorphine, die im Körper produziert wurden – jene, die bei Läufern festgestellt werden –, nicht ins Gehirn gelangen konnten, und die wissenschaftliche Begeisterung für den Endorphinrausch schwand dahin. Endorphine waren für sich allein genommen offenkundig nicht die Antwort auf unsere Fragen, und somit wurden sie im Labor fallen gelassen. Heute kommen wir wieder auf sie zurück. Studien legen den Schluss nahe, dass Endorphine, die direkt im Gehirn produziert werden, zum allgemeinen Gefühl des 146 Bewegung verändert Ihre Stimmung Wohlbefindens beitragen, das sich für gewöhnlich bei sportlicher Betätigung einstellt. Die Wahrheit ist, dass es ungewiss ist, wie viel sie tatsächlich zu dem Wunder beitragen. Das Problem bei der streng biologischen Auslegung der Psycho logie ist, dass wir manchmal die Tatsache aus den Augen verlieren, dass Psyche, Geist, Gehirn und Körper sich gegenseitig beeinflussen. Wenn Sie sich sportlich betätigen, fühlen Sie sich nicht nur gut, sondern Sie fühlen sich auch gut in Bezug auf sich selbst. Und dies hat einen positiven Effekt, der nicht auf eine bestimmte Chemikalie oder Hirnregion zurückgeführt werden kann. Wenn Sie sich niedergeschlagen fühlen und beginnen, sich zu bewegen oder sich sportlich zu betätigen und sich dann besser zu fühlen, verändert das Gefühl, dass es Ihnen gut geht und Sie sich auf sich verlassen können, Ihre ganze Einstellung. Die Stabilität der Routine allein genommen kann Ihre Stimmung schon drastisch verbessern. Klar ist, dass da etwas geschieht. Eines der besten Beispiele ist ein wegweisendes Forschungsprojekt des Human Population Laboratory in Berkeley, die sogenannte Ala meda County-Studie. Im Rahmen dieser Studie verfolgten Forscher 26 Jahre lang die Entwicklung von 8.023 Personen ab dem Jahr 1965, wobei eine Reihe von Faktoren im Zusammenhang mit lebensstil bedingten Gewohnheiten und der Gesundheit beobachtet wurden. Sie kontrollierten die Teilnehmer 1974 und 1983. Bei allen, die zu Beginn der Studie keine Anzeichen von Depression gezeigt hatten und im Laufe der nächsten neun Jahre inaktiv geworden waren, war die Wahrscheinlichkeit 1,5 Mal höher, im Jahr 1983 unter einer Depression zu leiden, als bei den aktiven Vergleichspersonen. Auf der anderen Seite war bei denjenigen, die zu Beginn inaktiv gewesen waren, ihr Aktivitätsniveau aber bis zur ersten Zwischenerhebung gesteigert hatten, die Wahrscheinlichkeit, 1983 an einer Depression zu leiden, nicht höher als bei denjenigen, die schon zu Beginn aktiv waren. Mit anderen Worten: Eine Änderung Ihrer Gewohnheiten in puncto körperliche Bewegung verändert Ihr Risiko, an einer De pression zu erkranken. Im Rahmen weiterer umfassender Studien wurde die Korrelation aus etwas anderen Blickwinkeln betrachtet, und alle gelangten zu der gleichen Schlussfolgerung. Eine große niederländische Studie mit 147 Kapitel 5: Depressionen 19.288 Zwillingen und ihre Familien, die 2006 veröffentlicht wurde, zeigte, dass Personen, die sich sportlich betätigen, weniger ängstlich, weniger depressiv, weniger neurotisch und sozial aufgeschlossener sind. Eine finnische Studie mit 3.403 Personen zeigte 1999, dass diejenigen, die sich mindestens zwei bis drei Mal wöchentlich sportlich betätigen, erheblich weniger von Depression, Wut, Stress und „zynischem Misstrauen“ belastet sind als Personen, die sich weniger oder gar nicht sportlich betätigen. Dabei handelte es sich um eine Erhebung über den kardiovaskulären Risikofaktor, die Fragen zu Stimmungen mit einschloss, das heißt, dass sie ein breiteres Spektrum von Symptomen als nur bei einer klinischen Depression einbezog. In einer weiteren Studie der Fakultät für Epidemiologie an der Columbia University, die im Jahr 2003 veröffentlicht wurde, untersuchte man 8.098 Personen und stellte die gleiche Umkehr beziehung zwischen sportlicher Betätigung und Depression fest. Viele Wege führen nach Rom Mit der Markteinführung des Blockbuster-Medikaments Prozac stand das erste Antidepressivum zur Verfügung, welches das chemische Gleichgewicht nur eines der mutmaßlichen Neurotransmitter korrigierte. Prozac ist die Mutter einer Klasse von Medikamenten, den sogenannten selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI), die verhindern, dass Serotonin aus dem synaptischen Spalt heraus zu schnell wieder abgebaut wird und dadurch länger verfügbar bleibt, sodass theoretisch die normale Weiterleitung ins Gehirn wiederherge stellt wird. Prozac war faszinierend, weil es bei sehr vielen Personen funktionierte und auf ein einzelnes Problem hinwies, das gelöst werden konnte. Das Medikament hatte eine gewaltige Wirkung, da es nicht nur Negativität erstickte, sondern auch das Selbstwertgefühl erhöhte, was eine andere Dimension der Krankheit ist. 20 Jahre später ist klar, dass Prozac und seine SSRI-Töchter nicht bei jedem funktionieren, und ebenso wenig Antidepressiva, die No radrenalin, Dopamin oder eine Kombination der drei im Visier haben. Eines der Probleme sind die Nebenwirkungen. Nur ein Beispiel: 148 Bewegung verändert Ihre Stimmung Ein großer Teil meiner Patienten, die selektive Serotonin-Wieder aufnahmehemmer (SSRI) einnehmen, entwickeln nach einigen Monaten Probleme mit ihrem Sexleben. Manchen Schätzungen zufolge klagen mehr 50 Prozent über sexuelle Nebenwirkungen, von einem mangelnden Interesse an Sex bis hin zu Funktionsstörungen. (Dies sagt etwas darüber aus, dass SSRI häufig zur Behandlung bei vorzeitiger Ejakulation und bei Sexualstraftätern genutzt werden.) Sexuelle Probleme werden von den Betroffenen leicht übersehen oder abgetan, insbesondere wenn sie sich ansonsten gut fühlen. Diese Probleme können sich jedoch verdichten und zu weiteren Schwierig keiten führen. Sexuelle Gefühle und Leidenschaften sind Grund triebe in uns allen, und sie zu ersticken, kann zu einem allgemeinen Mangel an Lebensfreude oder einem Mangel an Intimität oder möglicherweise einer Liste von verpassten Chancen führen. Unter dem Strich werden die Nebenwirkungen sicherlich durch die schlimmsten Konsequenzen einer Depression aufgewogen, aber dennoch machen sie sehr vielen Menschen das Leben schwer. Inzwi schen sind SSRI mit dem Warnhinweis versehen worden, dass sie das Risiko suizidaler Gedanken und Handlungen bei Kindern und Jugendlichen erhöhen können, ein Ergebnis, das nach wie in Frage gestellt wird. Und man hört immer öfter, dass es schwierig sei, diese Klasse von Medikamenten wieder abzusetzen, dies ist insbesondere bei Venlafaxin (Effexor, Trevilor) der Fall. Vor einiger Zeit habe ich begonnen, einen erfolgreichen Unter nehmer zu behandeln, dessen Leben ein einziges Chaos war. Er und seine Frau hatten sich getrennt, weil er eine Affäre gehabt hatte, sein Unternehmen hatte er ebenfalls verloren. Er kam zu mir, weil er mehr über ein Problem in Erfahrung bringen wollte, das während einer Paart herapie aufgetaucht war, als klar wurde, dass er an ADHS litt. Da er absolut dagegen war, seinem Körper irgendetwas „Unna türliches“ zuzuführen, lehnte er jede Medikation ab. Am Ende willigte er jedoch ein, versuchsweise ein Stimulans zu nehmen, da seine Frau ihn unter Druck setzte und er unter entsetzlichen Schuld gefühlen litt, weil er sie betrogen hatte. Wir probierten verschiedene Medikamente aus, setzten alle jedoch schnell wieder ab. Er bekam Kopfschmerzen, Magenschmerzen, Muskelschmerzen. 149 Kapitel 5: Depressionen Jenseits seiner Aufmerksamkeitsprobleme war das Hauptproblem, wie ich ihm erklärte, dass er depressiv war. Er war inaktiv, unmotiviert und fühlte sich hoffnungslos. Er hatte nichts unternommen, um seine berufliche Situation zu regeln oder in den Griff zu bekommen. Er leugnete, dass es ein Problem gab, obwohl es sich jetzt schon seit Monaten hinschleppte. Dann, eines Tages, kam er herein, und ich sah ihm an, dass sich sein Zustand verschlechtert hatte. Nor malerweise war er sehr gepflegt, jetzt war er unrasiert und ungekämmt und erklärte mir, dass es ihm sehr schwer fiele, überhaupt aufzustehen. Ich bestand darauf, dass er ein Antidepressivum ausprobierte, und ich verschrieb ihm den selektiven Serotonin-Wiederaufnahme hemmer (SSRI) Escitalopram (Lexapro, Cipralex). Er zeigte starke Reaktionen – er litt unter Brechreiz und musste sich übergeben – und sagte, er wollte kein weiteres Mittel probieren. In der Vergangenheit war er körperlich aktiv gewesen, und ich riet ihm, sich jeden Tag sportlich zu betätigen. Ich hatte die ganze Zeit schon darüber gesprochen, aber nach dem letzten gescheiterten Medikamenten-Versuch erklärte ich ihm, welche enormen Ausw ir kungen körperliche Bewegung oder Sport auf das Gehirn haben. Und an seine professionelle Sensibilität appellierend, gab ich ihm einige relevante Studien zu lesen. Zwei Wochen später sah er wie ein anderer Mensch aus. Er lächelte und war zuversichtlich und fühlte sich gut angesichts der Tatsache, dass er fast jeden Tag gelaufen war. Im Laufe des nächsten Monats sah ich, dass er ernsthaft seine Arbeitssuche wieder aufnahm und Schritte zur Versöhnung mit seiner Frau unternahm. Und zum ersten Mal sagte er, er sei hoffnungsvoll, dass sie vielleicht wieder zusammenkämen. Mehr als alles andere erstaunte ihn, dass er sich so anders fühlte und dieses Gefühl auch aufrechterhalten konnte. Abgesehen von der Erhöhung des Endorphin-Spiegels, reguliert körperliche Bewegung all die Neurotransmitter, die das Ziel von Anti depressiva sind. Bei Anfängern führt eine sportliche Betätigung zu einer sofortigen Erhöhung von Schildkrauts Lieblings-Neurotrans mitter, Noradrenalin, in bestimmten Hirnregionen. Noradrenalin „weckt“ das Gehirn und sorgt dafür, dass es angeregt bleibt, und es ver bessert das Selbstwertgefühl, was eine Komponente der Depression ist. 150 Bewegung verändert Ihre Stimmung Sportliche Aktivitäten erhöhen auch den Dopamin-Spiegel, was die Stimmung und das Wohlbefinden verbessert und das Aufmerk samkeitssystem ankurbelt. Dopamin spielt bei der Frage von Moti vation und Aufmerksamkeit eine maßgebende Rolle. Studien haben gezeigt, dass eine ebenso regelmäßige wie dauerhafte sportliche Betätigung den Dopamin-Vorrat im Gehirn erhöht und ebenso die Produktion von Enzymen auslöst, die Dopamin-Rezeptoren im Belohnungszentrum des Gehirns entstehen lassen; und dies sorgt für ein Gefühl der Zufriedenheit, wenn wir etwas geschafft haben. Wenn Nachfrage besteht, werden die Dopamin-Gene aktiviert, mehr zu produzieren, und dies hat insgesamt den Effekt, dass diese Pfade, die wichtig für die Kontrolle von Abhängigkeiten sind, stabiler reguliert werden. Serotonin, das von wesentlicher Bedeutung für die Stimmung, die Impulskontrolle und das Selbstwertgefühl ist, wird ebenso durch körperliche Bewegung beeinflusst. Es hilft auch bei der Abwehr von Stress, indem es Cortisol entgegenwirkt, und es schärft die zellularen Verbindungen in Cortex und Hippocampus, die wichtig für das Lernen sind. Der eigentliche Test Wir wussten zwar schon eine Weile, dass sportliche Betätigung die gleichen Chemikalien beeinflusst, wie Antidepressiva es tun. Aber niemand hatte einen wissenschaftlich fundierten, direkten Vergleich gemacht, bis 1999 endlich Forscher der Duke University diese Auf gabe in Angriff nahmen. Im Rahmen einer wegweisenden Studie, liebevoll SMILE (Standard Medical Intervention and Long-term Exercise) genannt, stellten James Blumenthal und seine Kollegen in einem 16-wöchigen Versuch sportliche Aktivitäten dem selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) Sertralin (Zoloft) gegenüber. Nach dem Zufallsprinzip teilten sie 156 Patienten in drei Gruppen ein, die entweder mit Zoloft, sportlichen Aktivitäten oder einer Kombination aus beidem behandelt wurden. Die „sportliche“ Gruppe erhielt die Aufgabe, drei Mal in der Woche unter Aufsicht 151 Kapitel 5: Depressionen jeweils 30 Minuten (ohne zehnminütiges Aufwärmen und fünfminütiges Abkühlen) zu gehen oder zu joggen, und zwar bei 70 bis 85 Prozent ihrer aerobischen Kapazität. Die Ergebnisse? In allen drei Gruppen zeigte sich ein erheblicher Rückgang der Depression, und etwa die Hälfte jeder Gruppe war vollständig über den Berg – also in Remission. Weitere 13 Prozent der Teilnehmer litten unter weniger gravierenden Symptomen, ohne jedoch voll zu genesen. Blumenthal folgerte daraus, dass sportliche Aktivitäten ebenso wirksam wie Medikamente waren. Diese Studie kopiere ich für meine skeptischen Patienten, die kaum glauben wollen, dass körperliche Bewegung ihre Hirnchemie so verändern kann, um aus ihrer Depres sion herauszufinden, da die Ergebnisse der Studie genauso schwarzweiß sind wie die, die die Psychiatrie zu liefern hoffen kann, zumindest nach dem derzeitigen Stand der Dinge. Die Ergebnisse sollten an der Medizinischen Fakultät gelehrt, von Krankenversicherungen bei ihren Versicherungsnehmern bekannt gemacht und in jedem Pflege- oder Altersheim am schwarzen Brett in einem Land ausgehängt werden, denn fast ein Fünftel der Bevölkerung leidet an Depressionen. Wenn jeder wüsste, dass körperliche Bewegung genauso gut wie Zoloft wirkt, glaube ich, könnten wir der Krankheit wirklich zu Leibe rücken. Wenn man zwischen den Zeilen der SMILE-Studie liest, stößt man auf die komplexen Probleme, die verhindert haben, dass körperliche Bewegung als medizinische Behandlung akzeptiert wurde. Genau wie bei dem Vergleich, den Andreas Broocks 1997 zwischen körperlicher Bewegung und dem angstlösenden Medikament Clomipramin durchführte, stellte sich bei den Patienten, die Medikamente einnahmen, zwar eher eine sofortige Linderung ein – dennoch darf man nicht vergessen, dass bei beiden Gruppen am Ende das gleiche Maß an Verbesserung festgestellt wurde. Auf den ersten Blick schien dies den Warnungen der Pharmaunternehmen zu widersprechen, die darauf hinwiesen, dass es bei Antidepressiva bis zu drei Wochen dauern könnte, bis sie eine Wirkung zeigten. Solche Schätzungen basieren jedoch auf Statistiken; ich behandelte im Laufe der Jahre jede Menge Patienten, die innerhalb weniger Tage darauf ansprachen. Was ist umgekehrt mit den Studien, die zeigen, dass eine einzige sportliche Übung die Stimmung verbessern kann? Professor 152 Bewegung verändert Ihre Stimmung Cheryl Hansen, Psychologin an der Northern Arizona University zeigte 2001 beispielsweise, dass bei gesunden Versuchspersonen bereits zehn Minuten Sport zu einer sofortigen Verbesserung des Elans und der Stimmung führen können. Hätte Hansen die Stimmung jedoch einige Stunden später nochmals untersucht, hätte sie wahrscheinlich festgestellt, dass die Stimmungsaufhellung nicht von Dauer war. Das heißt, es ist zwar wichtig, uns bewusst zu machen, dass wir mit nur einer sportlichen Übungsrunde unsere Stimmung kurzfristig heben können, aber ebenso wichtig ist es, uns vor Augen zu halten, dass es ein wenig dauert, um unsere Stimmung auf lange Sicht zu verändern. Im Rahmen seiner Studie bewertete Blumenthal die Stimmung einmal wöchentlich, immer vor der sportlichen Aktivität. Bei manchen Patienten stellte er eine sofortige Verbesserung fest, die jedoch nicht so deutlich ausfiel wie bei der Verabreichung von Medikamen ten. Ein entscheidender Aspekt bei der Genesung von einer Depres sion ist, dass man vorhersehen kann, dass es einem auch in fünf Minuten noch gut geht, und dann, dass es einem auch in fünf Stun den noch gut geht. Am Ende hat man die Zuversicht, dass es einem auch morgen früh noch gut geht. Bei regelmäßigen sportlichen Akti vitäten kann dies vielleicht etwas länger dauern. Sechs Monate nach Ende der Studie untersuchten Blumenthal und seine Kollegen die Patienten nochmals, um zu sehen, wie es ihnen ging, und stellten dabei fest, dass die sportlichen Aktivitäten lang fristig sogar besser als die Medikamente wirkten. Von der Gruppe, die sich sportlich betätigte, blieben etwa 30 Prozent depressiv, verglichen mit 52 Prozent der Gruppenteilnehmer, die Medikamente einnahmen, und 55 Prozent der Probanden, in deren Gruppe beide Behandlungen kombiniert wurden. (Blumenthal hatte einige interessante Theorien darüber, was in der kombinierten Gruppe geschah, worauf ich etwas später noch eingehen werde.) Und von allen Patienten, die nach Beendigung der ursprünglichen Studie in Remission waren, kam es bei nur acht Prozent der Teilnehmer aus der sportlichen Gruppe zu einem Rückfall, während es in der Medikationsgruppe 38 Prozent waren – ein ziemlich deutlicher Unterschied. Nach dem ursprünglichen viermonatigen Versuch wurde es den Versuchspersonen freigestellt, selbst ihre Behandlung zu wählen 153 Kapitel 5: Depressionen (oder auch nicht), was die Ergebnisse komplizierte. Einige meldeten sich für eine Psychotherapie an, einige in der Medikationsgruppe begannen mit sportlichen Aktivitäten, und einige in der sportlichen Gruppe begannen mit der Einnahme von Medikamenten, wodurch eine Menge Variablen ins Spiel kamen. Blumenthals Team stellte jedoch fest, dass der wichtigste Indi kator, um vorherzusagen, ob es jemandem besser ergehen würde, die Frage war, wie viel sich der Einzelne sportlich betätigte. Konkret wurde festgestellt, dass jede 50-minütige sportliche Aktivität pro Woche mit einem Rückgang von 50 Prozent der Beschwerden korrelierte. Blumenthal ging nicht so weit, daraus zu folgern, dass sportliche Aktivitäten die Remission verursacht hatten. Vielleicht stimmte das Gegenteil: Patienten, die sich weiterhin sportlich betätigten, machten dies, weil sie weniger depressiv waren. Es ist das klassische Problem mit dem Huhn und dem Ei, mit dem Wissenschaftler bei der Korrelation von körperlicher Aktivität und Stimmung konfrontiert sind. Spielt es wirklich eine Rolle, ob man weniger depressiv ist, weil man sich sportlich betätigt, oder ob man sich sportlich betätigt, weil man weniger depressiv ist? Wie auch immer, es geht einem besser. Aber wie waren die erstaunlichen Ergebnisse der Gruppe zu bewerten, deren Teilnehmer sowohl Sport trieben als auch Medika mente einnahmen? Blumenthal hatte angenommen, dass genau diese Probanden die besten Ergebnisse zeigen würden. Bei ihnen waren jedoch die schlimmsten Rückfallquoten zu verzeichnen. Er spekulierte, dass einigen Teilnehmern die Idee, Antidepressiva zu nehmen, nicht gefiel, insbesondere nachdem sie darüber nachgedacht hatten, dass sie sich ausdrücklich für eine Studie angemeldet hatten, bei der die Effekte sportlicher Aktivitäten auf Depressionen getestet werden sollten. Einige waren enttäuscht, als sie feststellten, dass sie zusätzlich Medikamente einnehmen sollten. Und während des Versuchs erklärten einige Teilnehmer, sie glaubten, dass die Medikamente die nutzbringenden Effekte sportlicher Aktivitäten beeinträchtigen würden. Aus physiologischer Sicht ist dies unwahrscheinlich, es kann jedoch sein, dass die Einnahme von Medikamenten das Gefühl der Selbstkontrolle oder Selbstw irksamkeit untergräbt, das durch sportliche Betätigung vermittelt wird. „Statt sich zu sagen, 154 Bewegung verändert Ihre Stimmung ‚Ich war engagiert und habe mich bei dem Übungsprogramm sehr angestrengt; es war nicht leicht, aber ich habe die Depression bekämpft’, könnten Patienten auch die Überzeugung gewinnen, ‚Ich habe ein Antidepressivum genommen, und es wurde besser’“, erklärte Blumenthal in der Studie. Die beste Abhilfe Wenn wir über Depressionen sprechen, gebrauchen wir nicht das Wort Heilung, da wir nur subjektive Maßstäbe für Verhalten und Emotionen anlegen können. Etwa ein Drittel der Patienten mit Depressionen erreicht eine volle Remission ihrer Symptome mit Antidepressiva. Einem weiteren Drittel geht es mit Medikamenten weitaus besser, hat aber möglicherweise weiterhin Probleme mit Motivation, Lethargie und Müdigkeit. Die schlimmen Gedanken sind verschwunden, aber auch wenn sie imstande sind, aufzustehen, sind sie noch nicht auf Arbeitssuche oder tun, was sie tun sollten. Es geht ihnen nicht wirklich gut, sie leben vielmehr weiter im Schatten der Depression. Das aktuelle Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders listet neun Symptome für Depression auf, und davon müssen sechs auf einen Patienten zutreffen, um eine Depression diagnostiziert zu bekommen. Sagen wir, Sie können sich nicht konzentrieren, nicht schlafen, fühlen sich wertlos und interessieren sich für nichts. Das sind vier. Technisch gesehen sind Sie nicht depressiv. Was sind Sie dann? Geht es Ihnen einfach elend? Entscheidend aus meiner Sicht ist, dass jedes Maß an Depression vollständig verschwinden muss. Und wie es aussieht, hat man angefangen, sportliche Aktivitäten in dieser Hinsicht sehr ernst zu nehmen. Madhukar Trivedi, klinischer Psychiater und Direktor des Mood Disorders Research Program an der Southwestern Medical School der University of Texas, hat die Wirksamkeit sportlicher Aktivitäten zur Erhöhung der Wirksamkeit von Antidepressiva untersucht. 2006 veröffentlichte er eine Pilotstudie, die zeigte, dass Patienten, die nicht auf Antidepressiva ansprachen, ihre Werte bei einem allgemeinen 155 Kapitel 5: Depressionen Depressionstest nach einem 12-wöchigen Übungsprogramm um 10,4 Punkte auf einer 17-Punkte-Skala verringert hatten – eine gewaltige Reduzierung. Alle 17 Patienten litten an einer schweren Depression und hatten mindestens vier Monate lang Antidepressiva genommen. Die Medikamente wirkten nicht, wegen des Experiments nahmen sie sie jedoch weiterhin ein. Trivedi ließ das Übungsprogramm vom bekannten Cooper Insti tute erstellen. Die Wissenschaftler ließen die Patienten, die zu Be ginn des Experimentes inaktiv waren, das Aktivitätsprogramm zu Hause absolvieren. Sie sollten so oft und so intensiv sie wollten, gehen oder auf einem Heimtrainer Rad fahren. Die einzige Auflage war, dass sie pro Woche eine gewisse Energie verbrauchen sollten. Die meisten entschieden sich dafür, drei Mal in der Woche im Durchschnitt 55 Minuten zu gehen. Neun Personen gaben auf und fielen aus, was nicht außergewöhnlich ist. Aber von den acht, die das Übungsprogramm voll absolvierten, erreichten fünf eine vollständige Remission. Selbst die Patienten, die nur einige Wochen teilnahmen, zeigten eine Verbesserung bei den Symptomen. Die Zahlen waren klein, aber Trivedis Ergebnisse enorm. Zu mindest bei manchen Personen hilft körperliche Bewegung, wenn Medikamente es nicht tun. Dabei drängt sich die Frage auf, warum sollte man körperliche Bewegung nicht gleich von Anfang an einbeziehen? Insbesondere wenn man zahlreiche Medikamente nach dem „Versuch und Irrtum“-Prinzip auswählt? Die Faszination einer Wunderpille ist jedoch stark, und es dauert lange, um Einstellungen ins Wanken zu bringen. Fragen Sie T. Byram Karasu, der in der Arbeitsgruppe der American Psychiatric Association für schwere depressive Störungen verantwortlich war. Er bemühte sich, die APA dazu zu bewegen, körperliche Bewegung oder sportliche Betätigung formal in ihre Behandlungsrichtlinien für Depressionen aufzunehmen, und schlug vor, dass Psychiater jeden Patienten dazu anhalten sollten, fünf bis acht Kilometer täglich zu gehen oder irgendeiner anderen Form einer intensiven sportlichen Aktivität nachzugehen. Die APA sperrte sich, vermutlich, weil die meisten Ärzte zwar die anekdotischen Belege bestätigen, dass körperliche Bewegung die Stimmung verbessert, gleichzeitig aber sagen, es lägen nicht genügend wissenschaftliche Beweise vor. In der heutigen Zeit, in der das 156 Bewegung verändert Ihre Stimmung Gehirn analysiert wird und die Geheimnisse von Leben und Zelltod entschlüsselt werden, fällt es Psychiatern schwer, eine so ganzheit liche Strategie wie körperliche Bewegung als Behandlung zu berück sichtigen. Jeder Arzt wird Ihnen sagen, Ärzte seien die schlimmsten Pa tienten. Stellen Sie sich vor, wie schwierig es dann ist, eine depressive Patientin mit medizinischem Abschluss davon zu überzeugen, sich sportlich zu betätigen. Grace, eine meiner Patientinnen, deren Krankengeschichte Episoden leichter Depressionen umfasste, ist zufällig auch Psychiaterin und verfügt über ein fundiertes medizinisches Wissen. Gleichwohl war es uns nicht möglich, ein Antidepressivum ohne Nebenwirkungen zu finden. Sie schien am besten auf selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) anzusprechen, aber wenn sie ein Medikament testete, setzte sie es gleich wieder ab, da alle bewirkten, dass sie sehr schnell zunahm. Sie ist brillant und sich der Biologie körperlicher Bewegung bewusst (oder zumindest zum Teil), aber sie hat es einfach nicht gemacht. Letzten Sommer zog sie sich eine Rückenverletzung zu und war somit eine Zeit lang ans Bett gefesselt. Nur um ihrer körperlichen Rehabilitation willen fing sie an zu schwimmen. Es war das Ein zige, was sie machen konnte, und es tat ihr gut, da das Wasser ihren Körper unterstützte und ihre Schmerzen linderte. Es machte ihr Spaß, und sie begann, ihr tägliches Schwimmprogramm von drei Stunden zu absolvieren. Nicht nur, dass ihre Schmerzen nachließen, mit der Zeit fand sie auch einen lange verlorenen Muskeltonus zurück, und sie fühlte sich wohl in ihrer Haut. Dann schloss das Schwimmbad über den Winter, ihre Rücken schmerzen kehrten zurück, und ihre Stimmung fiel erneut in ein Tief. Diesmal wurde sie auch wütend. Flach auf dem Rücken liegend, mit nur wenig Übungen zur Auswahl, fing sie an Gewichte zu heben. Es waren nur 1,5-Kilo-Hanteln, die sie jedoch schnell genug hintereinander hochstemmte, sodass ihr Herzschlag sich mehrmals am Tag beschleunigte. Selbst diese kleine Aktivität half, und wichtiger noch, diese Erfahrung zündete den Funken für eine Wende in ihrem Gehirn und ihrer Psyche. Ich habe Grace jahrelang behandelt, aber erst in dieser Situation erkannte sie, dass körperliche Betätigung tatsächlich eine Perspektive sein konnte. 157 Kapitel 5: Depressionen Sie hat ihre Rückenprobleme durch körperliches Training bewältigt und hält auch beständig an ihrem Schwimmprogramm fest. Sie sagt, sie sei im Denken und Schreiben jetzt kreativer und fühlt sich durch einen völlig neuen Elan gestärkt, der auch ihrer Familie und ihren Freunden nicht verborgen geblieben ist. Es war keine Überraschung, als sie sich daran erinnerte, dass sie, als sie noch jeden Tag mit ihrem Taekwondo-Team am College trainierte, einige ihrer besten Arbeiten schrieb. Als junge Ärztin in Boston hatte sie angefangen, Marathons zu laufen. Erst als sie eine Familie gründete, blieben ihre sportlichen Aktivitäten auf der Strecke, wie dies bei so vielen der Fall ist. „Ich hatte einfach zu viel zu tun und vergessen, wie gut es tut, etwas für sich zu tun“, sagte sie. „Jetzt fühle ich mich so, als ob ich mein Gehirn zurückbekommen hätte.“ Löcher in der Theorie Erst als wir in der Lage waren, gute Aufnahmen vom Gehirn zu machen, begannen wir, wirklich zu verstehen, wie die verschiedenen medizinischen Behandlungen und körperlichen Aktivitäten uns aus den Fesseln der Depression befreien. Mithilfe der Magnetresonanz tomografie (MRT) fielen uns bei Aufnahmen des Gehirns Anfang der 1990er-Jahre helle Stellen bei bestimmten Patienten mit Depressionen auf. Die sogenannten Hyperintensitäten tauchten in der weißen Substanz auf, einer Ansammlung dicht gebündelter Axone, die Neuronen in der grauen Substanz des Cortex miteinander verbinden. Mit einem stärkeren Zoom stellten wir Unterschiede im Volumen des Cortex fest – die graue Substanz war physisch geschrumpft. Die graue Substanz ist die dünne Schicht, die die Oberfläche des Gehirns überzieht und aus Zellen besteht, die alle unsere komplexen Funktionen wie Aufmerksamkeit, Emotionen, Gedächtnis und Bewusstsein steuern. Die MRT-Aufnahmen deuteten eine radikale Vorstellung an: dass nämlich eine chronische Depression zu strukturellen Veränderungen im denkenden Hirn führen konnte. Verwandte Forschungen zeigten, dass bei depressiven Pa tienten auch messbare Veränderungen in der Amygdala und im 158 Bewegung verändert Ihre Stimmung Hippocampus festzustellen waren, die beide entscheidende Akteu re bei der Stressreaktion sind. Wir wussten, dass die Amygdala eine zentrale Rolle in unserem emotionalen Leben spielt, aber nun entdeckten wir, dass auch das Erinnerungszentrum bei Stress und Depression involviert war. 1996 verglich Yvette Sheline an der Washington University in St. Louis zehn Patienten mit Depressionen mit zehn gesunden Kontrollpersonen; alle hatten die gleiche Körper statur und den gleichem Bildungshintergrund; und sie stellte fest, dass der Hippocampus von depressiven Patienten bis zu 15 Prozent kleiner war als der der Kontrollpersonen. Sie fand auch Belege dafür, dass das Ausmaß des Schrumpfens in direktem Zusammenhang mit der Dauer der Depression stand, und dies war eine Neuigkeit. Es erklärt vielleicht, warum so viele Patienten mit Depressionen über Lern- und Erinnerungsprobleme klagen und warum die Stimmung sich bei der Alzheimer-Krankheit verschlechtert, dieser neurodegenerativen Krankheit, die mit einer Schrumpfung des Hippocampus beginnt. Ein hoher Spiegel des Stresshormons Cortisol tötet Neuronen im Hippocampus ab. Gibt man ein Neuron in eine Laborschale und überschwemmt es mit Cortisol, werden seine lebenswichtigen Ver bindungen zu anderen Zellen eingezogen. Die Folge: Es entwickeln sich weniger Synapsen und die Dendriten schwinden. Dies führt zu einem Zusammenbruch der Kommunikation, der im Hippocampus eines depressiven Gehirns zum Teil erklären könnte, warum es sich in negativen Denkmustern verfängt – hier wird immer wieder eine negative Erinnerung abgerufen, vielleicht weil keine Abzweigung zu alternativen Verbindungen entstehen kann. Die Neurobildgebung hat eine völlig neue Sicht der Biologie der Depression ermöglicht. Das Bild, das wir davon hatten und immer noch haben, ist ungenau und verschwommen. Aber mit der jetzigen Positronenemissionstomografie (PET) und der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) haben Wissenschaftler, jenseits von Schnappschüssen, mehr Möglichkeiten und können zuschauen, wie das Gehirn funktioniert. Gleichzeitig haben wir gelernt, dass jeden Tag im Hippocampus neue Nervenzellen geboren werden, und möglicherweise auch im präfrontalen Cortex – zwei Regionen, bei denen im Falle einer Depression Schrumpfungen festzustellen 159 Kapitel 5: Depressionen waren. Die neuen Instrumente und Entdeckungen haben zu einer Umformulierung der Neurotransmitter-Theorie geführt. Unser neues Verständnis hat die alte Theorie indes nicht ad ab surdum geführt, es hat sie nur erweitert. Heute sehen wir die Depres sion als eine physische Veränderung des emotionalen Schaltk reises des Gehirns. Noradrenalin, Dopamin und Serotonin sind wesentliche Botenstoffe, die Informationen über die Synapsen befördern; wenn jedoch nicht genügend Verbindungen vorhanden sind, ist der Spielraum dieser Neurotransmitter begrenzt. Was das Gehirn angeht, so besteht seine Aufgabe darin, Informationen weiterzuleiten und sich fortwährend neu zu „verdrahten“, um uns zu helfen, uns immer wieder neu anzupassen und zu überleben. Bei Depressionen scheint diese Anpassungsfähigkeit des Gehirns in bestimmten Regio nen zum Erliegen gekommen zu sein. Diese Stilllegung bei Depres sionen ist eine Stilllegung des Lernens auf zellularer Ebene. Das Ge hirn ist nicht nur in einer negativen Schleife des Selbsthasses ge fangen, es verliert auch die Flexibilität, sich selbst aus dem Loch herauszuarbeiten. Depressionen als Problem der Verbindungsfähigkeit neu zu defi nieren, hilft, das breite Spektrum an Symptomen zu erklären, die Personen erfahren. Es beschränkt sich nicht nur darauf, dass sie sich leer, hilflos und hoffnungslos fühlen. Es betrifft auch das Lernen, die Aufmerksamkeit, die Energie und die Motivation – unterschiedliche Systeme, die verschiedene Teile des denkenden Gehirns betreffen. Depressionen haben auch Einfluss auf den Körper, indem sie den Trieb zu schlafen, zu essen, Sex zu haben und generell für sich selbst zu sorgen auf einer primitiven Ebene zum Erliegen bringen. Der Psychiater Alexander Niculescu sieht Depressionen als Überlebensinstinkt zum Erhalt von Ressourcen in einer Umwelt, die bar jeder Hoffnung ist – „um stillzuhalten und sich vor Schaden zu bewahren“, schrieb er 2005 in einem Artikel in Genome Biology. Es ist eine Form von Winterschlaf: Wenn die emotionale Landschaft „winterlich“ wird, hält unsere Neurobiologie uns dazu an, drinnen zu bleiben. Mit dem einzigen Unterschied, dass dieser Zustand wesentlich länger als eine Jahreszeit dauern kann. Es ist, als hätte unser ganzes Sein uns gesagt, dass da draußen nichts für uns zu holen ist, und wir somit ebenso gut aufgeben können. Deshalb die Atrophie, 160 Bewegung verändert Ihre Stimmung der Stillstand der Neuroplastizität, der Neurogenese und der Mangel an Verbundenheit insgesamt. Kein Wunder, dass wir Depression nicht als ein einzelnes Problem definieren konnten. Die grundlegende Verbindung Wenn es sich bei Depressionen hauptsächlich um einen Zusammen bruch der Kommunikation oder des Verlustes der Anpassungsfä higkeit des Gehirns handelt, so ist dies für den Wert körperlicher Bewegung eine sehr gute Nachricht. Anfang der 1990er-Jahre haben wir gelernt, dass der neurotrophe Faktor BDNF (Brain-Derived Neurotrophic Factor) in Regionen, die die Stimmung kontrollieren, einschließlich dem Hippocampus, Neuronen vor den Auswirkungen von Cortisol schützt. Der neurotrophe Faktor BDNF ist der „Dünger“, der Neuronen unterstützt, sich miteinander zu verbinden und zu wachsen, was ihn für die Neuroplastizität und die Neurogenese le bensw ichtig macht. Während extreme hohe Cortisol-Spiegel BDNF reduzieren können, bewirken Antidepressiva und körperliche Bewegung das genaue Gegenteil. BDNF ist bei dem „Tauziehen“ zwi schen chronischem Stress und der Anpassungsfähigkeit sozusagen das Seil. Das „Wunderdünger“-Molekül lief Serotonin den Rang ab, und wir begannen es zu messen, zu blockieren, zu erhöhen und in jeder nur vorstellbaren Hinsicht daran herumzubasteln, um zu sehen, wie es die Stimmung bei Mäusen und Menschen beeinflusst. Wir können ein Nagetier nicht fragen, ob es depressiv ist, wir können jedoch sehen, wie es auf unausweichlichen Stress reagiert. Aber wenn ihm an den Füßen ein Elektroschock versetzt wird, versucht es dann, zu fliehen oder erstarrt es? Dies ist das experimentelle Modell für erlernte Hilflosigkeit, ein beliebter Weg, die menschliche Depression zu beschreiben, die mit der Unfähigkeit einhergeht, Widrigkeiten zu bewältigen und Maßnahmen zu ergreifen, die notwendig sind, um zu überleben und zu gedeihen. Gibt das Versuchstier auf, wird es als depressiv betrachtet. Bei einem solchen Experiment, bei dem Mäusen BDNF direkt in den Hippocampus injiziert wurde, flüchteten sie wesentlich schneller 161 Kapitel 5: Depressionen als die nicht behandelten Mäuse der Vergleichsgruppe. Die Injektion schien den gleichen Effekt wie körperliche Bewegung und Antide pressiva auf das Verhalten der Tiere zu haben. Umgekehrt haben Wissenschafter Mäuse mit Genen gezüchtet, die 50 Prozent weniger BDNF produzieren, und festgestellt, dass sie auf Antidepressiva nicht gut ansprechen, was darauf schließen lässt, dass BDNF ein notwendiger Bestandteil ist, damit die Medikamente überhaupt greifen und wirken können. Diese Mäuse waren wesentlich langsamer bei ihren Versuchen, dem Stress zu entfliehen, als die der Vergleichsgruppe mit normaler BDNF-Funktion. Bei der Messung von BDNF im Blut von Menschen sind den Wissenschaftlern Grenzen gesetzt, sodass bestenfalls eine grobe Schätzung des BDNF-Spiegels im Gehirn möglich wäre. Eine Studie über 30 depressive Patienten zeigte, dass bei jedem von ihnen ein geringerer BDNF-Spiegel im Vergleich zum Normalniveau vorlag. Bei einer anderen Studie wurde bei depressiven Patienten der BDNFSpiegel mittels Antidepressiva wieder auf Normalniveau gebracht. Und eine weitere Studie zeigte, dass höhere BDNF-Spiegel mit geringeren Symptomen korrelierten. In Postmortem-Studien über Personen mit Depressionen, die Selbstmord begangen hatten, wurde in ihrem Gehirn ein erheblich reduzierter BDNF-Spiegel festgestellt. Sogar bei gesunden Personen ist ein Zusammenhang zwischen BNDF-Spiegel und Persönlichkeitszügen wie Neurotizismus und Feindseligkeit hergestellt worden, die sie anfälliger für Depressionen machen. Im Hippocamus von Ratten erhöht körperliche Bewegung den BDNF-Spiegel mindestens ebenso sehr wie Antidepressiva, manchmal sogar mehr. Eine Studie zeigte, dass der BDNF-Spiegel durch eine Kombination aus körperlicher Bewegung und Antidepressiva um 250 Prozent hochschnellte. Und beim Menschen wissen wir, dass körperliche Bewegung den BDNF-Spiegel zumindest im Blut ebenso sehr erhöht, wie Antidepressiva es tun. Genau wie Noradrenalin in den 60er-Jahren kann der neurotro phe Faktor BDNF aktuell die Spitze des Eisbergs sein. Heute konzen triert sich die Forschung auf BDNF sowie auf den vaskulären endo thelialen Wachstumsfaktor (VEGF), den FGF-2 (Fibroblasten-Wachs tumsfaktor-2) und den insulinähnlichen Wachstumsfaktor (IGF-1) 162 Bewegung verändert Ihre Stimmung sowie auf alle dazugehörigen Chemikalien, die bei der Förderung der Neuroplastizität und Neurogenese eine Rolle spielen. Gleichzeitig finanzieren Pharmaunternehmen die Forschung zur Markierung und Messung all dieser Faktoren und zur Kartierung der Gene, die davon betroffen sind, um herauszufinden, wie sie ihre Aktivitäten nachahmen können. Der neurotrophe Faktor BDNF und seine neurotrophen Brüder sind in der neurochemischen Kaskade wesentlich weiter vorgelagert als Serotonin und somit näher an der Quelle. Letzten Endes müssen die Gene den Fluss in Gang setzen. Der Wechsel von der Neurotransmitter-Theorie zur Konnekti vitätstheorie ist der Schritt von außen ins Innere der Nervenzelle. Zusätzlich zu seinen Funktionen an der Synapse, die Serotonin auch hat, aktiviert BDNF Gene, damit sie mehr Neurotransmitter und Neurotrophine produzieren, bremst die selbstzerstörerische zellulare Aktivität, setzt Antioxidanzien frei und liefert die Proteine, die als Baumaterial für Axone und Dendriten verwendet werden. Diese genregulierten Anpassungen von BDNF können vielleicht die verzögerte Wirkung von Antidepressiva erklären. Es kann oft drei Wochen dauern, bis Antidepressiva wirken. Ist es nur ein Zufall, dass der Prozess der Neurogenese ungefähr genauso lange dauert – von dem Zeitpunkt, an dem eine Stammzelle im Hippocampus geboren wird, bis sie sich ans Netzwerk anschließt? Viele Forscher meinen, es sei kein Zufall. Laut neuester Wendung in der Konnektivitätstheorie könnte eine Stilllegung der Neurogenese ein Faktor bei Depressionen sein. Einige Wissenschaftler haben gezeigt, dass ein Blockieren der Neurogenese bei Ratten die Wirkung von Antidepressiva zunichtemacht. Das ist also eine Möglichkeit. Dies könnte noch eine stärkere Verbindung zwischen körperlicher Bewegung und ihrem antidepressiven Effekt aufzeigen, angesichts dessen, dass körperliche Bewegung klar den BDNF-Spiegel und den der anderen Wachstumsfaktoren erhöht, und angesichts dessen, dass diese wesentlich für den Prozess der Neurogenese sind. Niemand konnte nachweisen, dass ein BDNF-Defizit Depressionen verursacht, aber nicht, weil es an Versuchen gemangelt hätte. 1997 veröffentlichte der Yale-Psychiater Ronald Duman den Artikel „A Molecular and Cellular Theory of Depression“ in den Archives of General Psychiatry, und seither haben er und andere sich bemüht, 163 Kapitel 5: Depressionen die Geschichte von BDNF zu entschlüsseln. 2006 zeigte er auf, wie verschiedene Behandlungen, den BDNF-Spiegel beeinflussen, einschließlich aller verfügbaren Antidepressiva sowie wenig verbreiteten Behandlungsformen wie Elektrokonvulsive Therapie (EKT) und Transkranielle Magnetstimulation (TMS). Sie alle erhöhen den BDNF-Spiegel im Hippocampus und Duman zeigte auf, dass EKT die wirksamste Behandlung war und ihn um 250 Prozent ansteigen ließ. Aber wie kommt es, dass eine schlichte physische Manipulation, wie es bei der Elektrokonvulsiven Therapie (EKT) der Fall ist – bei der ein Stromstoß durch das Gehirn gesendet wird, um einen Krampf zu induzieren – genauso wie Medikamente, eine Therapie und körperliche Bewegung wirken kann? Ich glaube, die EKT liefert eine hilfreiche Metapher. Wenn wir die Depression als eine Art Gehirnsperre betrachten, dann können wir den gemeinsamen Faden zwischen diesen Ansätzen sehen: Es wird in allen Fällen mit einer Art Schock gearbeitet. Es werden immer Funken ausgesendet, um die Dynamik im Gehirn zu verändern. Einige Teile sind in einem unablässigen Wirbel gefangen, und andere sind regelrecht eingerastet. Die Lösung liegt darin, denke ich, das Gehirn und den Körper zu wecken, damit Sie sich selbst aus der Abwärtsspirale ziehen können. Aerobe Übungen sind deshalb solch ein wirksames Instrument, weil es die von der Evolution vorgegebene Methode ist, um jenen Funken in uns zu erzeugen. Er entzündet auf jeder Ebene Ihres Gehirns ein Feuer, angefangen von den Stoffwechsel-Öfen der Neuronen, die angefacht werden, bis hin zum Schmieden genau der Strukturen, die Informationen von einer Synapse zur nächsten weiterleiten. 164 Bewegung verändert Ihre Stimmung Die Fesseln durchbrechen Während Molekularwissenschaftler mit Instrumenten in der Ge hirnsperre herumstochern, möchte die Neurologin Helen Mayberg von der Emory University sie zerschlagen und weit aufreißen. Vor einigen Jahren testete sie eine radikale Therapie, die sogenannte Tiefe Gehirnstimulation (DBS). Dabei führte sie bei einem halben Dutzend schwer depressiver Patienten, bei denen jede andere Form der medizinischen Behandlung fehlgeschlagen war, eine Elektrode in den subgenualen Cortex ein. „Diese Personen sind festgefahren“, sagt Mayberg. „Sie sind unfähig, einen Gedanken in Handeln umzusetzen, weil sie nicht auf Spur sind und nicht in die Gänge kommen. Wir müssen einen Weg finden, um sie, im übertragenen Sinne, loszumachen und aus der Klemme zu befreien.“ Sie nutzte dazu Strom, und die Ergebnisse waren tief greifend: Alle sechs Patienten beschrieben spontan Empfindungen wie das „Verschwinden der Leere“ unmittelbar auf dem Operationstisch, in der Sekunde, als die Elektroden eingeschaltet wurden. Vier der Patienten erreichten am Ende eine volle Remission. Die Hirnregion, die Mayberg ins Visier nahm, ist die Spitze des anterioren Cingulums, das die Hauptdurchgangsstation für Infor mationen ist, die vom präfrontalen Cortex herunter und vom limbischen System hoch kommen – sozusagen das Podest zwischen den Stufen in Ihrem emotionalen Treppenhaus. Als Sitz der Exekutiven Funktion räumt es den Dingen Priorität ein, denen Sie Ihre Aufmerk samkeit schenken, und reguliert indirekt das limbische System, wobei die kognitiven und emotionalen Signale integriert werden. Versäumt es, die Aufmerksamkeit vom Negativen abzulenken, wie im Falle einer Depression, können Sie an nichts anderes denken. „Keine Initiative ergreifen zu können, nicht klar denken zu können, sich nicht um seine Familien kümmern zu können – all dies ist sekundär demgegenüber, worauf ihre Aufmerksamkeit innerlich gerichtet ist, doch das ist ein falsches Signal“, erklärt Mayberg. „Es lässt sich korrigieren und dadurch werden andere Probleme vielleicht zugänglicher.“ Das eigentliche Ziel der Tiefen Gehirnstimulation (DBS) ist, den präf rontalen Cortex wieder „online“ zu bringen, damit die 165 Kapitel 5: Depressionen Patienten die Exekutive Funktion nutzen können, um sich den Kernproblemen zuzuwenden. Sie befreit den Menschen aus den Fängen, sodass er das Problem rational angehen kann: Ich bin kein schlechter Mensch; meine Kinder lieben mich; und mein Leben kann ich wieder in den Griff bekommen. Dies ist auch einer der Effekte körperlicher Bewegung. 2003 führte eine Gruppe deutscher Neurowissenschaftler mit 24 Personen, die unter einer leichten Depression litten und mit Medi kamenten behandelt wurden, sowie mit 10 gesunden Kontrollperso nen ein Experiment durch. Alle Probanden nahmen an einer Fülle neuropsychologischer Tests teil, mit denen die Exekutive Funktion gemessen werden sollte. Sie wiederholten die Tests, nachdem jeder von ihnen jeweils 30 Minuten auf einem Heimtrainer Rad gefahren und dabei bei 40 Prozent seiner maximalen Herzfrequenz geblieben war, dann nochmals bei 60 Prozent – niedrig genug also, dass der Milchsäurespiegel in der Gleichung keine Rolle spielte. Die depres siven Patienten verbesserten sich bei zwei der vier Tests bei beiden Intensitätsgraden erheblich; dies verdeutlichte, dass körperliche Be wegung zu einer sofortigen Verbesserung der höchsten Form des Denkens führt. Bereits eine Übung genügte, um den präfrontalen Cortex zu beeinflussen. Bei den nicht depressiven Versuchspersonen zeigte sich keine wesentliche Verbesserung, aber das heißt, dass es hier auch nichts zu korrigieren gab. Mayberg stellte als Erste die These auf, dass die Exekutive Funk tion nur ein Teil der Geschichte ist. Bei einem Vergleich von PETAufnahmen von Patienten, die auf Antidepressiva ansprachen, mit anderen, die auf eine kognitive Verhaltenstherapie ansprachen, stellte sie fest, dass die beiden Ansätze das Aktivitätsniveau des lim bischen Systems aus entgegengesetzten Richtungen verändern. Anti depressiva scheinen durch eine von unten nach oben verlaufende Ereigniskette zu wirken, das heißt, dass die Aktivität im Hirnstamm beginnt, dann durch das limbische System geht, bis sie schließlich den präfrontalen Cortex erreicht. Dies könnte erklären, warum Anti depressiva zuerst die physischen Effekte lindern – wir fühlen uns tatkräftiger, bevor wir fühlen, dass wir weniger traurig sind. Bei der kognitiven Verhaltenstherapie und der Psychotherapie fühlen wir uns wohler in unserer Haut, bevor wir uns körperlich besser 166 Bewegung verändert Ihre Stimmung fühlen. Die Therapie wirkt vom präfrontalen Cortex nach unten, um unser Denken zu ändern, sodass wir die erlernte Hilflosigkeit in Frage stellen und uns selbst aus der Spirale der Hoffnungslosigkeit befreien können. Das Schöne an körperlicher Bewegung ist, dass sie das Problem aus beiden Richtungen gleichzeitig angeht. Sie bringt uns auf natürliche Weise in Bewegung, wodurch der Hirnstamm stimuliert wird und wir über mehr Energie, Leidenschaft, Interesse und Motivation verfügen. Wir fühlen uns tatkräftiger. Von oben, im präfrontalen Cortex, verändert körperliche Bewegung unser Selbstkonzept, indem alle genannten Chemikalien angepasst werden, einschließlich Serotonin, Dopamin, Noradrenalin, BDNF, VEGF und so weiter. Und im Unterschied zu vielen Antidepressiva wird bei körperlicher Bewegung nichts selektiv beeinflusst – sie passt die Chemie des ganzen Gehirns an, um die normale Signalübertragung wiederherzustellen. Sie befreit den präfrontalen Cortex aus seinen Fesseln, sodass wir die guten Dinge erinnern und die pessimistischen Muster der Depression durchbrechen können. Sie ist auch ein Beweis dafür, dass wir die Initiative ergreifen können, um etwas zu verändern. Die ses Paradigma gilt für die Wirkung körperlicher Bewegung auf die Stimmung im Allgemeinen, unabhängig davon, ob wir depressiv sind oder irgendwelche quälenden Probleme zu bewältigen haben. Oder auch, wenn wir einfach einmal einen schlechten Tag haben. Der Idee, eine Depression aus beiden Richtungen anzugehen, kann nicht genug Gewicht beigemessen werden. „Auch für die Pa tienten, bei denen eine Hirnstimulation vorgenommen wurde, gilt, nachdem das System wieder ‘online’ ist, dass sie eine mentale Reha bilitation brauchen“, sagt Mayberg. „Die erste Rehabilitation besteht einfach darin, sie dazu zu bewegen, etwas zu tun. Die beste Art der Verhaltenstherapie ist, einfach nach draußen zu gehen, einen Spaziergang zu machen. Etwas zu tun. Dazu braucht man keine großartige Planung. Dadurch gerät man in keine negative Spirale. Wenn man sich körperlich betätigt, wirkt das sehr schnell bestärkend, denn vorher konnte man sich nicht dazu aufraffen, etwas zu tun.“ Wenn Ihr präfrontaler Cortex eine Zeit lang „offline“ war, müssen Sie ihn neu programmieren, und körperliche Bewegung ist dazu 167 Kapitel 5: Depressionen das perfekte Werkzeug. Sie beginnen, die Welt anders zu sehen, Sie sehen Bäume statt Ödland. Wenn Sie sehen, wie Sie sich bewegen, ist dies allein schon eine Leistung – und ein Beweis dafür, dass Sie sich selbst helfen können. Am Ende des Tunnels Die Wissenschaft hat einen weiten Weg zurückgelegt, seit wir mit unserer Suche nach dem Übeltäter begannen. Und aus den jahr zehntelangen Forschungen, die durch die Monoamin-Hypothese hervorgebracht wurden, haben wir sehr viel über die Biologie von Emotionen gelernt. Je näher wir an die Ursache von Depressionen herankommen, desto komplexer erscheint sie. Als wir anfingen, war jeder ziemlich sicher, dass das Problem ein Ungleichgewicht der Neurotransmitter an den Synapsen war. Inzwischen wissen wir mit Sicherheit, dass es so einfach nicht ist. Das ist, meine ich, ironischerweise genau der Grund, warum körperliche Bewegung als medizinische Behandlung erst noch akzeptiert werden muss. Sie erhöht nicht einfach den Serotonin- oder Dopamin- oder Noradrenalin-Spiegel. Sie passt sie alle an, und zwar auf einem Niveau, das, wie wir nur vermuten können, durch die Evolution optimal vorprogrammiert worden ist. Das Gleiche gilt für die Wirkung körperlicher Bewegung auf BDNF, IGF-1, VEGF und FGF-2, die das Baumaterial für und die Aufsicht über den „Bau“ neuer Verbindungen und Neuronen liefern. Kurz: Körperliche Bewegung beeinflusst so viele Variablen im Gehirn, dass es nahezu unmöglich ist, ihre Wirkung so zu isolieren, wie wir es gerne im Namen der harten Wissenschaft möchten. Aber die Nachweise sind da, von den Aktivitäten mikroskopischer Moleküle bis hin zu umfangreichen Studien über Zehntausende von Personen im Laufe der Jahre. Ja, körperliche Bewegung ist ein Antidepressivum. Aber sie ist auch wesentlich mehr. Dennoch überrascht es nicht, dass etwa die Hälfte der Patienten in Studien über körperliche Bewegung und Depression zwischendurch aufgegeben und das Programm abgebrochen hat. Vielleicht 168 Bewegung verändert Ihre Stimmung weil die meisten von ihnen inaktiv waren, als sie in das Programm einstiegen; umso schwieriger ist es dann, mit sportlichen Aktivitäten zu beginnen. Dies ist ein wichtiger Punkt, den Ärzte sich vor Augen halten müssen, wenn sie solche Aktivitäten empfehlen. Bei Personen, die sich bereits hoffnungslos fühlen, ist es wichtig, die Erwartungen in einem angemessenen Rahmen zu halten, damit das Negative nicht noch verstärkt wird. Auf der anderen Seite haben Studien gezeigt, dass selbst Personen, die sportliche Aktivitäten per se eher unangenehm finden, einen positiven Stimmungsumschwung in dem Moment erleben, in dem die Übung beendet ist. Wenn man weiß, was einen auf der anderen Seite erwartet, ist es leichter, die Schwierigkeiten in Kauf zu nehmen und sie durchzustehen. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Wenn Sie also depressiv sind, wäre es ideal, eine Form der körperlichen Bewegung oder sportlichen Aktivität zu wählen, die dazu anhält, Beziehungen zu anderen zu knüpfen, und die draußen oder in einer Umgebung stattfinden kann, welche die Sinne stimuliert. Wenn Sie jemanden bitten, sich Ihnen bei Ihrem Übungsprogramm anzuschließen, und sich dabei in ein neues Setting begeben, bekommen die neu entwickelten Neuronen einen wirksamen Grund für ihr Dasein; um die sensorische Stimulation darstellen zu können, müssen neue Verbindungen gebildet werden. Aus der Leere auszubrechen, in die das Gehirn eingesperrt war, gibt uns ein Gefühl von Sinn und Zweck sowie ein Selbstwertgefühl, wodurch eine positive Zukunft heraufbeschworen wird. Sobald Sie das positive Gefühl entwickelt haben, müssen Sie es auf etwas konzentrieren. Dann erhalten Sie Motivation und physischen Auftrieb sozusagen „von unten“, während „von oben“ die Neubewertung Ihrer selbst kommt. Wenn Sie den Körper motivieren, sich zu bewegen, ermuntern Sie die Psyche, das Leben zu umarmen. 169 Kapitel 5: Depressionen Das Rezept Die erste Frage, die Patienten mir stellen, wenn ich ihnen körperliche Bewegung oder sportliche Aktivitäten als Therapie vorschlage, ist: „Wie viel müsste ich denn tun?“ Es gibt keine allgemein gültige Antwort darauf – insbesondere nicht angesichts des breiten Spektrums von Symptomen und des Schweregrads einer Depression. Madhukar Trivedi hat jedoch einige Schlussfolgerungen zur Frage des Umfangs an Aktivitäten gezogen, die notwendig sind, um effektiv zu sein. Durch die Quantifizierung körperlicher Bewegung als Dosis hofft er, die Behandlung so zu präsentieren, dass sie von den Medizinern akzeptiert werden könnte. Dies ist überaus wichtig, da Ärzte Zeit mit ihren Patienten aufwenden müssen, um herauszufinden, welche Art von Übungsprogramm am ehesten dazu angetan ist, dass sie sich bewegen und auf Dauer daran festhalten. Im Rahmen einer Studie teilten Trivedi und Andrea Dunn 80 depressive Patienten in fünf Gruppen ein. Vier Gruppen sollten mit Trainingsprotokollen mit unterschiedlicher Intensität und Häufigkeit arbeiten, und eine Kontrollgruppe sollte nur unter Aufsicht StretchingÜbungen machen (um zu sehen, ob die soziale Interaktion mit den Aufsichtspersonen irgendeinen Effekt hatte). Als „Dosis“-Maß wurde der Kalorienverbrauch pro Kilogramm Körpergewicht herangezogen. Die intensiv trainierenden Gruppen verbrauchten im Durchschnitt 1.400 Kalorien (16 Kalorien pro Kilogramm) im Laufe von entweder drei oder fünf Sitzungen pro Woche. Am Ende der drei Monate hatten die intensiv trainierenden Gruppen, unabhängig von der Häufigkeit des Trainings, ihre Depressionswerte um die Hälfte reduziert. Das heißt, ihre Symptome waren erheblich zurückgegangen. Die weniger intensiv trainierenden Gruppen verbrauchten im Durchschnitt 560 Kalorien (6 Kalorien pro Kilogramm) und reduzierten ihre Werte um ein Drittel, etwa genauso sehr wie die Stretching-Gruppe – und das war in etwa so effektiv wie ein Placebo. Was dies für uns bedeutet, ist genau das, was ich immer sage: Ein wenig sportliche Aktivität ist gut, mehr ist aber besser (bis zu einem gewissen Punkt). Beim Intensivprogramm waren Trivedi und Dunn von den Empfehlungen der Gesundheitsbehörden für sportliche Aktivitäten 170 Bewegung verändert Ihre Stimmung ausgegangen, wonach 30 Minuten moderate aerobe Aktivitäten an den meisten Tagen empfohlen werden. Wenn Sie 75 Kilo wiegen, wären dies etwa drei Stunden bei moderater Intensität pro Woche. Die niedrige Dosis entspräche 80 Minuten pro Woche. Multiplizieren Sie Ihr Körpergewicht einfach mit acht, um zu errechnen, wie viele Kalorien Sie für die hohe Dosis verbrauchen sollten. Dann gehen Sie ins Fitnessstudio, um zu sehen, wie viele Kalorien Sie bei irgendeinem Training verbrauchen (bei den meisten aeroben Geräten wird dies angezeigt). Wenn Sie 75 Kilo wiegen und in 30 Minuten auf dem elliptischen Kreuztrainer 200 Kalorien verbrennen, bräuchten Sie sechs Sitzungen pro Woche, um die gleiche „Dosis“ zu erreichen wie die intensiv trainierende Gruppe. Das ist die Menge an Trainingsprogramm, die ich mindestens jedem empfehlen würde, der wie mein Patient Bill unter einem Schat tensyndrom der Depression leidet. Personen wie er sind nicht klinisch depressiv, neigen jedoch dazu, das Leben hauptsächlich pessi mistisch zu sehen, oder haben den Eindruck, dass niemand in der Welt, sie selbst eingeschlossen, ihren hohen Maßstäben gerecht wird. Nachdem Bill angefangen hatte, zu laufen und Gewichte zu heben, traf er sich jeden Morgen mit einer Gruppe, die ebenso regelmäßig in dem Fitnessstudio trainierte, zum Fitnesstraining und Kaffee. Seine Leistungen und Beziehungen an seinem Arbeitsplatz verbesserten sich, und er hatte das Gefühl, dass er nun nicht mehr jedes neue Projekt automatisch mit Widerwillen betrachtete. Er begrüßte geradezu neue Herausforderungen, was dazu führte, dass seine Frau ihn nun mit völlig anderen Augen sah. Dann gibt es noch jene Personen, die einfach launisch oder mürrisch sind. Sie haben in der Regel ein geringes Selbstwertgefühl, zum Teil, weil sie so unsicher sind, wie sie sich von einem Tag zum nächsten fühlen – griesgrämig oder heiter. Auf eine meiner Patientinnen, Jillian, passte diese Beschreibung. Wir begannen, dieses Problem näher zu untersuchen, nachdem sie eine Beziehung mit dem Mann ihrer Träume angefangen hatte und merkte, dass sie dennoch meist deprimiert und reizbar war. Natürlich hatte ich sie gedrängt, ein Übungsprogramm zu beginnen, und schließlich hatte sie sich in einem Fitnessstudio in der Nähe ihres Büros angemeldet. Klugerweise tat sie sich mit einer Kollegin zusammen, die sowieso bereits dorthin 171 Kapitel 5: Depressionen ging, sodass sie sich gegenseitig darin unterstützten, jeden Tag in der Mittagspause ihr Training zu absolvieren. Nach einigen Monaten war sie ausgesprochen zufrieden mit sich und erklärte, wie stabilisierend die tägliche Aktivität für war. Sie half ihr, einen Rhythmus in ihrem Leben aufrechtzuerhalten, was ihr ein zusätzliches Gefühl der Stabilität gab. Manche Personen, die unter Stimmungsumschwüngen leiden, beschreiben sich selbst vielleicht als manisch-depressiv oder bipolar, aber dies ist ein Problem ganz anderer Größenordnung. Das Thema „bipolare Störung“ habe ich nicht angesprochen, hauptsächlich, weil es so wenig Forschungen über die diesbezüglichen Auswirkungen körperlicher Bewegung gibt. Vor einiger Zeit zeigte allerdings eine vorläufige Studie, dass stationär in einer Klinik untergebrachte Patienten mit bipolarer Störung, die an einem Walking-Programm teilgenommen hatten, unter weniger depressiven Symptomen und weniger Ängsten litten im Vergleich zu denjenigen, die zu einer Teilnahme an dem Programm nicht bereit oder fähig gewesen waren. Bei bipolaren Patienten hat sich gezeigt, dass eine stabile soziale Routine bei ihnen zu einer langfristigen Verbesserung führt. Gerade erst hat körperliche Bewegung Eingang in die Behandlungsprotokolle für bipolare Patienten gefunden. In gewisser Hinsicht ist körperliche Bewegung für die Prävention sogar noch wichtiger als für die Behandlung. Eines der ersten Symp tome einer Depression, noch bevor die Stimmung auf ein neues Tief fällt, sind Schlafstörungen. Entweder kommt man nicht aus dem Bett oder man kann nicht einschlafen oder beides ist der Fall. Ich bezeichne dies gerne als Schlafträgheit – das Problem liegt darin, dass Sie nicht anfangen oder aufhören können. Zuerst verlieren Sie Ihre Energie, dann Ihr Interesse an den Dingen. Der Schlüssel ist, sich aufzuraffen und sich sofort zu bewegen. Und nicht aufzuhören. Machen Sie sich einen Plan, um täglich zu gehen, zu laufen, zu joggen, Rad zu fahren oder zu tanzen. Wenn Sie nicht schlafen können, machen Sie einen Spaziergang in der Dämmerung, und tun Sie dies jeden Tag. Führen Sie den Hund aus, ändern Sie Ihren Terminkalender – laufen Sie der Depression davon. Verbrennen Sie diese 1.400 Kalorien, als ob Ihr Leben davon abhinge, und ersticken Sie Ihre Depression im Keim. 172 Bewegung verändert Ihre Stimmung Bei einer schweren Depression haben Sie vielleicht das Gefühl, ganz unten in einer Grube zu stecken, in einem Zustand des langsamen Todes, und dass es fast unmöglich ist, herauszukommen oder ins Fit nessstudio zu gehen oder auch nur an Bewegung zu denken. Suchen Sie als Erstes Ihren Arzt wegen einer Medikation auf, dann besorgen Sie sich einige Omega-3-Ergänzungen, die nachweislich eine antidepressive Wirkung haben. Dies wird, so hoffe ich, die Gehirn sperre für Sie zumindest so weit lockern, dass Sie wenigstens einen Spaziergang machen können. Bitten Sie einen Freund oder einen Angehörigen, jeden Tag vorbeizukommen, wenn möglich zur gleichen Zeit, um Sie nach draußen zu begleiten und einmal mit Ihnen um den Block zu gehen. In England und Australien erfreuen sich Walking-Gruppen für Patienten mit Depressionen seit Jahren großer Beliebtheit, und nun finden Sie allmählich auch ihren Weg in die Vereinigten Staaten. Schauen Sie im Internet nach, um zu sehen, ob es an Ihrem Wohnort eine solche Gruppe gibt. Wenn es diese Möglichkeit nicht gibt und Sie die Mittel dazu haben, vereinbaren Sie einen regelmäßigen Zeitplan mit einem persönlichen Trainer. Ich weiß, dies mag verrückt klingen, wenn Sie das Gefühl haben, nicht einmal von der Couch aufstehen zu können; aber gerade dann ist Aktivität um so dringlicher. Körperliche Bewegung ist keine sofort wirksame Heilmethode. Aber Sie müssen dafür sorgen, dass Ihr Gehirn wieder zu arbeiten beginnt, und wenn Sie Ihren Körper bewegen, hat Ihr Gehirn keine andere Wahl. Es ist ein Prozess, und die beste Strategie ist, jeweils einen Schritt nach dem anderen zu machen. Langsam beginnen und dann darauf aufbauen. Im Kern wird eine Depression als die Abwesenheit des Sich-auf-etwas-Zubewegens definiert. Und körperliche Bewegung ist der Weg, uns von diesen negativen Signalen abzulenken und das Gehirn zu überlisten, damit es aus dem Winterschlaf aufwachen kann. 173 6. Aufmerksamkeitsdefizit Der Ablenkung davonlaufen „D ass ich nicht so war wie gleichaltrige Kinder, habe ich vermutlich zum ersten Mal im frühen Alter von drei Jahren gemerkt, als ich feststellte, dass sonst niemand in meiner Familie oder in der Nachbarschaft gezwungen war, eine Kinderleine zu tra gen“, schrieb Sam, ein 36-jähriger Wagniskapitalist. Er kam in der Hoffnung zu mir, die Störung, die er zeit seines Lebens hatte, verstehen zu lernen, und die sich nun langsam auch bei seinem kleinen Sohn manifestierte. „In der Familie bin ich seit jeher als Unruhe stifter bekannt und den Großteil meiner Kindheit habe ich in der Hundehütte oder in der „Eselsecke“ verbracht. Meine Lehrer meinten, ich hätte zwar die Fähigkeit, ein guter Schüler zu sein, hätte mich aber selbst nie ganz eingebracht. Ich kann mich gut ausdrücken und meine Gedanken ordnen, ich schiebe Dinge jedoch oft auf die lange Bank.“ Sam ist kein Esel, aber wie bei so vielen, die unter dem Aufmerk samkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) leiden, hat sein sprunghaftes oder unstetes Verhalten in seiner Umgebung jeden dazu gebracht, ihn als dumm, eigensinnig oder verzogen zu bezeichnen. Er wollte nicht, dass sein Sohn unter der gleichen Schmach zu leiden hat; ermutigt durch seinen Geschäftspartner und seine Frau suchte er nun Hilfe. „Keiner von ihnen versteht, wie ich bei so viel 175 Kapitel 6: Aufmerksamkeitsdefizit Chaos in meinem Leben überhaupt funktionieren kann“, erklärte er mir. Chaos, Anspannung, Termindruck – akuter Stress jeder Art wirkt wie eine Droge auf Sams Gehirn. In seinem Schreiben an mich bestätigt er, dass er disziplinarische Probleme hatte, weil er mit Auto ritätsfiguren nicht zurechtkam, und dass er im Alter von 14 Jah ren Drogen nahm. Ein Straftäter war er genau genommen dennoch nicht. Als er 16 wurde, verboten ihm seine Eltern, den Führerschein zu machen, bis er gelernt hatte sich zusammenzureißen, und fast über Nacht verbesserte er seinen Notendurchschnitt von 1,5 auf 3,5. Was bewies, würden viele sagen, dass seine Lehrer Recht hatten: Er musste es einfach nur versuchen. Das Problem bei Sam war jedoch nicht seine Einstellung. ADHS ist auf eine Fehlfunktion im Aufmerksamkeitssystem des Gehirns zurückzuführen. Dabei handelt es sich um eine diffuse Verbindung von Neuronen, die Regionen miteinander verknüpfen, die wiederum Funktionen wie Erregung, Motivation, Belohnung, Exekutive Funktion und Bewegung kontrollieren. Greifen wir beispielsweise ein Element des Aufmerksamkeitssys tems heraus: die Motivation. Es stimmt zwar, dass Personen mit ADHS „nur motiviert werden müssen“, es stimmt aber ebenso, dass Motivation, wie jeder andere Aspekt unserer Psychologie, eine Frage der Biologie ist. Was ist mit dem Kind, das im Unterricht nicht aufpassen, aber stundenlang problemlos still sitzen und ein Videospiel spielen kann? Oder mit der Frau, die abschaltet, wenn ihr Mann redet, aber kein Problem damit hat, sich auf den neuesten Klatsch in einer Zeitschrift zu konzentrieren? Wenn sie möchten, können sie also aufmerksam sein und sich konzentrieren? Nicht unbedingt. Wenn wir uns fMRT-Aufnahmen (funktionelle Magnetresonanztomografie) vom Gehirn dieser Personen anschauen – wie Wissenschaftler es getan haben –, würden wir, je nach Situation, klare Unterschiede in den Aktivitäten im Belohnungszentrum sehen. Im Belohnungszentrum findet sich eine Anhäufung von Dopamin-Neuronen, der sogenannte Nucleus accumbens, der dafür verantwortlich ist, Freude- oder Zufriedenheitssignale an den präfrontalen Cortex auszusenden und somit für den nötigen Antrieb oder die Motivation zu sorgen, damit wir uns konzentrieren können. 176 Der Ablenkung davonlaufen Die Art des Reizes, der das Belohnungszentrum ausreichend akti viert, um die Aufmerksamkeit des Gehirns zu bekommen, ist von Person zu Person verschieden. Was Sam den nötigen Antrieb gab und bei ihm funktionierte, waren feste Strukturen und anstrengende körperliche Aktivitäten als Sportler am College – und der Wunsch, jedem zu Hause zu beweisen, dass er kein Dummkopf war. Er absolvierte die Schule deshalb erfolgreich, weil er Football und Lacrosse spielte und es einige Male auf die Dekansliste der Besten schaffte. „Ich glaube, die Teilnahme an einem Trainingsprogramm, bei dem man fünf Mal morgens zum Training antreten musste“, schrieb er, „war der Wendepunkt, der es mir ermöglichte zu sehen, dass ich in all meinen Bemühungen besser funktionieren konnte.“ Jetzt joggt er jeden Morgen mehrere Kilometer und ist Partner in einem Wagniskapitalunternehmen, das Unternehmer mit großen Geldgebern oder Investoren zusammenbringt. In der Sprache dieses exklusiven Kreises ist Sam so etwas wie ein großer Macher – eine hochdynamische Persönlichkeit mit sozialen Fertigkeiten und dem Köpfchen, um gute Geschäfte zu machen. Wenn ein großer „Fisch“ auf dem Tisch liegt, hat er kein Problem damit, sich darauf zu konzentrieren. Der intensive Druck ermöglicht es ihm, sich voll darauf einzulassen und jeden Aspekt zu verfolgen, oft bis zu 16 Stunden täglich. Die Fähigkeit dieser Hyperkonzentration ist paradoxerweise ein Zug, der bei ADHS sehr verbreitet ist, sodass die Diagnose oft übersehen wird, weil sie nicht zu passen scheint. Neue Patienten erzählen mir, dass sie unmöglich ADHS haben können, da sie von dem, was sie gerade lesen oder tun, oft völlig absorbiert werden. Die Störung im Aufmerksamkeitssystem ist jedoch genau genommen kein Defizit, sondern eher die Unfähigkeit, auf Kommando die Aufmerksamkeit auf etwas zu lenken oder sich zu konzentrieren. Meinen Patienten sage ich, es sei hilfreicher, sich ADHS als eine Auf merksamkeitsvariabilitätsstörung vorzustellen; das Defizit ist also ein Defizit an Beständigkeit. Sam hat das verstanden. Wichtige Arbeiten und Sitzungstermine plant er früh am Tag ein, wenn er die beruhigende Wirkung seines morgendlichen Laufes noch spüren kann, wohl wissend, dass er zunehmend zerstreuter wird, je weiter der Tag fortschreitet. Und 177 Kapitel 6: Aufmerksamkeitsdefizit gäbe es seine Sekretärin nicht, würde er wohl nie irgendjemanden zurückrufen. Er hat noch immer mit den meisten grundlegenden Verhaltenssymptomen zu kämpfen, die ihn in der Schule als Problemk ind haben dastehen lassen. Er hat jedoch gelernt, damit umzugehen und sich seine Hypera ktivität in einem gewissen Maße zunutze zu machen, ja, sie sogar als Vorteil zu nutzen. Indem er seine Schwierigkeiten erkannte, war er in der Lage, seinen Tag und sein Leben so zu planen und einzurichten, dass er erfolgreich sein kann. Massenablenkung Mit meinem Freund und Kollegen Ned Hallowell habe ich drei gemeinsame Bücher über ADHS geschrieben. Das erste, Zwanghaft zerstreut, erschien 1994 in den USA, und als es zu einem Bestseller wurde und das breitere Publikum mit den allgemeinen Symptomen von ADHS vertraut wurde, kam zeitgleich der größte kulturelle Paradigmenwechsel des Jahrhunderts – das World Wide Web. Der endlose Strom an Ablenkungen durch das Internet würde die Aufmerksamkeitsspanne eines jeden herausfordern. In der heutigen Welt wird man so leicht abgelenkt. Sie ist voller In formationen, Lärm und Unterbrechungen, sodass wir uns alle bisweilen überwältigt und unkonzentriert fühlen. Die Datenmenge in der Welt verdoppelt sich alle paar Jahre, unser Aufmerksamkeitssystem wurde jedoch ebenso wie der Rest des Gehirns so „gebaut“, dass es der uns umgebenden Umwelt, so wie sie vor Zehntausenden von Jahren existierte, einen Sinn beimisst und sie versteht. In unserer cyberzentrierten Welt haben wir jedoch oft die Erwartung, dass Dinge sofort geschehen, und wenn dem nicht so ist, sind wir frustriert. Wenn unser Mobiltelefon länger nicht läutet oder unsere Mailbox leer bleibt, fragen wir uns, was wohl los ist. Wer hat die Zeit oder Geduld, Dinge der Reihe nach durchzudenken und ihre Konsequenzen abzuschätzen? Warum sollten wir uns die Mühe machen, wenn es doch so einfach ist, schnell weiterzuklicken? Kein Wunder, dass körperliche Bewegung auf der Prioritätenliste immer wieder ganz nach unten rutscht – denn sie setzt Planung und Arbeit voraus. 178 Der Ablenkung davonlaufen Experten schätzen, dass etwas mehr als vier Prozent der Erwach senen in den USA – das sind 13 Millionen Menschen – ADHS haben, was jedoch nicht heißt, dass die restlichen 96 Prozent der Bevölkerung völlig frei von Aufmerksamkeitsproblemen wären. Bis zu einem gewissen Grad leidet jeder an einer flüchtigen Aufmerksamkeit. Und bei vielen mentalen Störungen gibt es, wie gesagt, unterschiedliche Schweregrade – Schattensyndrome, Persön lichkeitszüge, die nicht unbedingt der ganzen Checkliste an Symp tomen entsprechen, auf die Ärzte sich bei ihrer Diagnose verlassen. Personen mit Schatten von ADHS können beispielsweise ständig Probleme in Liebesbeziehungen haben. Oder sie können in intensiven, sehr dynamischen Bereichen erfolgreich sein. Oder beides. Sie werden oft Unternehmer, Aktienhändler, Verkäufer, Notaufnahme ärzte, Feuerwehrmänner, Anwälte, Filmmogule oder Werbefach leute. Es sind Jobs, in denen die Neigung zu Hypera ktivität, nicht linearem Denken und Risikofreudigkeit zu großartigen Leistun gen führen kann. Sporadische Aufmerksamkeit kann in einem frenetischen Setting eine wahre Stärke sein. Personen mit Schatten von ADHS haben vielleicht dauerhaft Probleme mit Organisation, Vergesslichkeit und persönlichen Beziehungen, sie können jedoch alles zusammen auf den Punkt bringen, wenn nur genügend Druck vorhanden ist. Es gibt natürlich noch immer jene, die so denken wie Sams Leh rer. Da wir alle unter Aufmerksamkeitslücken leiden, wird leicht angenommen, dass nur ein wenig Mühe erforderlich ist, um sich zu konzentrieren. Ich begegne nach wie vor Menschen, die glauben, ADHS sei eine Frage der Bequemlichkeit, der Dummheit oder des Eigensinns, des Rowdytums oder gar von schlechter Erziehung. Eine derartige Skepsis hat ironischerweise ihre Wurzeln in Mediziner kreisen, die jahrzehntelang glaubten, Kinder würden in der Ado leszenz wie durch ein Wunder aus ADHS herauswachsen. Zu der Arbeit, die mich mit dem größten Stolz erfüllt, gehört, dass ich diese konventionelle Sicht in Frage gestellt und aufgezeigt habe, dass ADHS auch bei Erwachsenen vorkommt. Derzeit ist ADHS in der Medizin die am meisten untersuchte Störung und ADHS ist eindeutig kein Problem der Einstellung – denn ansonsten wäre es ja nicht erblich. Eine Studie mit fast 2.000 179 Kapitel 6: Aufmerksamkeitsdefizit australischen eineiigen Zwillingen zeigte jedoch, wenn ein Zwilling unter ADHS litt, lag die Wahrscheinlichkeit bei 91 Prozent, dass sein Geschwister es auch hatte. Die wegweisende Studie, die den Nachweis erbrachte, dass ADHS auf eine biologische Abweichung zurückzuführen ist, wurde 1990 von Alan Zametkin und seinen Kollegen vom National Institute of Mental Health veröffentlicht. Anhand von PET-Aufnahmen zur Messung der Hirnaktivität zeigte die Studie, dass das Gehirn von Erwachsenen mit ADHS bei einem Aufmerksamkeitstest anders arbeitete als das von Personen ohne ADHS. Zametkin und seine Kollegen stellten fest, dass die Gruppe mit ADHS im Vergleich zur Kontrollgruppe zehn Prozent weniger Hirnaktivität zeigte. Das größte Defizit war im präfrontalen Cortex festzustellen, der maßgeblich für die Regulierung des Verhaltens ist. Er ist auch empfänglich für positive Verstärkung durch körperliche Bewegung. Zeichen von Problemen Die Bezeichnung „Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom“ gab es nicht, bis sie 1980 in der dritten Auflage des Klassifikationssystems Diagnostic and Statistical Manual eingeführt wurde. Seither diskutieren wir darüber, ob nicht separate Diagnosen für die beiden Hauptkategorien von Symptomen – Unaufmerksamkeit und Hyperaktivität – eingeführt werden sollten. Unaufmerksamkeit ist immer Teil der Störung, und manchmal gehört Hyperaktivität auch dazu. Hyperaktivität kommt bei Kindern häufiger als bei Erwachsenen vor und insbesondere, wenn auch nicht ausschließlich, bei Jungen. Jahrelang waren Kinder mit der wilden und ungestümen Ausprägung von ADHS die einzigen Fälle, die diagnostiziert wurden. Niemand verband das Verhalten hyperaktiver Kinder mit dem von Tagträumern. Die Behandlung ist in beiden Fällen jedoch die gleiche, und jetzt bezeichnen wir die Störung als ADHS, unabhängig davon, ob Hyperaktivität Teil des Bildes ist. Hyperaktive Kinder sind die, die man nicht übersehen kann: Sie sind wie Dennis, die Nervensäge, gehen an die Decke, schaukeln 180 Der Ablenkung davonlaufen auf ihren Stühlen, sind ständig in Bewegung – zupfen an sich herum, zappeln mit den Beinen, kritzeln und fummeln überall herum. Wegen ihrer Ungeduld drängen sie sich dazwischen und unterbrechen andere, schwadronieren drauf los, ohne nachzudenken. Sie haben das Gefühl, sie würden ständig rennen und sie beenden unsere Sätze, weil sie zu wissen glauben, was wir sagen werden und sie dessen überdrüssig sind. Im Allgemeinen fällt es ihnen sehr schwer, bei einer Aufgabe zu bleiben. Sie können es nicht ausstehen, allein zu spielen, und übernehmen oft die Rolle des Klassenclowns, wenn sie Probleme in der Schule haben. Viele von ihnen sind sozial geschickt, auch wenn sie sich ungeschickt verhalten können, weil ihnen soziale Hinweise entgehen. Und wie Sam bekommen sie oft von früher Kindheit an zu hören, dass sie nur Blödsinn im Kopf haben. Aber bei vielen dieser Kinder ist ganz offensichtlich, dass sie in Bewegung sein müssen, und sie engagieren sich am Ende sportlich, und das mit Erfolg. Impulsivität passt hier ins Bild als Unterpunkt der Hyperaktivität. Kinder und Erwachsene können automatisch überreagieren, negativ oder positiv, sodass sie leidenschaftlich und schnell wütend werden. Verkehrsrowdytum ist im Grunde ein Wutanfall und ein Warnzeichen für besonders hyperaktive Formen von ADHS. Auf Biegen und Brechen durch den Verkehr zu meiner Praxis zu kommen, ist für einige meiner Patienten eine echte Versuchung: „Ich wünschte, ich hätte Haubitzen in meinen Frontscheinwerfern!“, erklärte mir eine Frau, „ich würde jeden aus dem Weg schießen!“ Ungeduld nährt diese Reaktion zusätzlich. Personen mit ADHS tun alles, um nicht in einer Schlange zu stehen und können explodieren, wenn sie warten müssen. Unaufmerksamkeit oder Ablenkbarkeit ist die Konstante unter den ADHS-Symptomen. Ein Paar kam zu mir, da die Unfähigkeit der Ehefrau, Dingen ihre Aufmerksamkeit zu schenken, an der Be ziehung zehrte. Während sie geniale Qualitäten an den Tag legte, wenn es darum ging, wie sie die Intensivstation leitete – dabei blühte sie regelrecht auf –, war sie nicht imstande, ihrer eigenen Familie Aufmerksamkeit zu schenken. Selbst als ihr Mann dies in meiner Praxis erzählte, sagte er plötzlich: „Schauen Sie!“ Und tatsächlich, sie starrte aus dem Fenster. Personen mit ADHS kommen vom Thema ab und vergessen Ideen und Ziele und Dinge. Eines der klassischen 181 Kapitel 6: Aufmerksamkeitsdefizit Anzeichen ist die Pirouette: Die ADHS-Patientin geht aus der Tür und macht nach einer Weile auf dem Absatz wieder kehrt, um nochmals die Treppe hochzugehen und etwas zu holen, was sie vergessen hat. Das kann jedem passieren, natürlich, aber bei einigen meiner Patienten kommt es täglich vor. Wenn der ADHS-Schüler ein einziges Mal seine Hausaufgaben gemacht hat, dann vergisst er sie garantiert zu Hause. Das ADHS-Gehirn ist mit einer monumentalen Herausforderung konfrontiert, wenn eine Aufgabe in Angriff genommen werden soll, und es ist ein Meister im Hinausschieben und Verschleppen. Die an ADHS leidende Person setzt sich hin, um etwas zu tun, das sie wirklich tun möchte, und räumt stattdessen ihren Schreibtisch auf. Oft schafft sie es nicht, etwas fertig zu machen, bis das Damoklesschwert über ihr hängt. Es fällt ihr entsetzlich schwer, Dinge zu organisieren, sodass ihr Zimmer und Büro chaotisch sind. Und sie unterhält eine Hass-Liebe zu Strukturen. Mein Patient Sam rebellierte nicht per se gegen Autoritäten – er handelte aus Frustration aus seiner Unfähigkeit heraus, innerhalb von oder durch Strukturen zu navigieren und damit zurechtzukommen. Eine der besten Behandlungsstrategien für ADHS ist paradoxer weise, extrem feste Strukturen zu errichten. Im Laufe der Jahre habe ich zahllose Eltern gehört, die die gleiche Beobachtung bei ihren ADHS-Kindern gemacht haben: Johnny geht es so viel besser, wenn er Taekwondo macht. Er hatte nie Hausaufgaben gemacht, war wütend, schwierig und problematisch; jetzt kamen seine besten Qualitäten zum Vorschein. Taekwondo könnte man durch jede Kampfsportart oder sehr strukturierte Form sportlicher Betätigung wie Ballett, Eiskunstlauf oder Gymnastik ersetzen. Weniger traditionelle Sportarten wie Berg steigen, Mountainbiken, Wildwasserpaddeln und – tut mir leid, Mama, wenn ich das sagen muss – Skateboardfahren sind ebenfalls in dem Sinne effektiv, da sie komplexe Bewegungen bei schwerer Anstrengung verlangen. Die Kombination der Herausforderung sowohl für das Gehirn als auch für den Körper hat eine größere positive Wirkung als aerobe Übungen für sich genommen. Eine kleine Studie eines Studenten im Aufbaustudium an der Hofstra University brachte diesen Punkt auf den Prüfstand. Er stellte fest, 182 Der Ablenkung davonlaufen dass Jungen im Alter von acht bis elf Jahren, die zweimal wöchentlich an Kampfsportarten teilnahmen, nach einer Reihe von Maßstäben ihr Verhalten und ihre Leistung verbesserten, im Verg leich zu denen, die an einem typischen aeroben Übungsprogramm teilnahmen (wobei beide Aktivitätsformen zu einer drastischen Verbesserung im Vergleich zu nicht aktiven Kindern einer Kontrollgruppe führten). Die Kinder, die Kampfsportarten machten, erledigten ihre Hausauf gaben häufiger vollständig, waren besser auf den Unterricht vorbereitet, verbesserten ihre Noten, verletzten weniger Regeln und sprangen weniger häufig von ihren Plätzen auf. Kurz: Sie waren besser in der Lage, an einer Aufgabe dranzubleiben. Die technischen Bewegungen, die mit allen diesen Sportarten verbunden sind, aktivieren ein breites Spektrum von Hirnregionen, die Gleichgewicht, zeitliche Koordination, Reihenfolge der Abläufe, Bewertung von Konsequenzen, Umschalten, Fehlerkorrektur, fein motorische Abstimmung, Hemmung und natürlich intensive Fo kussierung und Konzentration kontrollieren. Im Extremfall sind diese Sportarten eine Frage des Überlebens – um zu vermeiden, durch Karate zu Boden gebracht zu werden, sich den Hals auf dem Schwe bebalken zu brechen oder auf einer Wildwasserbahn zu ertrinken –, und mobilisieren somit die fokussierende Kraft der Kampf-oderFlucht-Reaktion. Wenn der Geist sich in großer Alarmbereitschaft befindet, ist jede Menge Motivation vorhanden, die Fertigkeiten zu lernen, die für diese Aktivitäten notwendig sind. Was das Gehirn betrifft, heißt es schlicht: tun oder sterben. Und die meiste Zeit bewegen wir uns dabei im aeroben Bereich, was unsere kognitiven Fähigkeiten fördert und es leichter macht, neue Bewegungen und Strategien aufzunehmen. Durchkommen, laut und undeutlich Das Aufmerksamkeitssystem nimmt im Gehirn keine zentrale Adresse für sich in Anspruch. Dabei handelt es sich vielmehr um ein diffuses Netz wechselseitiger Pfade, das am Erregungszentrum Locus coeruleus, einem Teil des Hirnstamms, beginnt und durch das ganze Gehirn 183 Kapitel 6: Aufmerksamkeitsdefizit Signale sendet, um es aufzuwecken und unsere Aufmerksamkeit zu erregen. Das Netz nimmt Regionen wie das Belohnungszentrum, das limbische System und den Cortex in Anspruch; in jüngerer Zeit haben Wissenschaftler auch das Kleinhirn mit einbezogen, welches unser Gleichgewicht und die Koordinierung von Bewegungen steuert. Es zeigt sich, dass es viele Überschneidungen zwischen Aufmerksamkeit, Bewusstsein und Bewegung gibt. Die Aufmerksamkeitsschaltkreise werden gemeinsam von den Neurotransmittern Noradrenalin und Dopamin reguliert, die sich auf der molekularen Ebene so ähnlich sind, dass sie jeweils an den Rezeptoren des anderen andocken können. Dies sind die Chemi kalien, auf die ADHS-Medikamente abzielen. Und bei den vielen Genen, die mit der Störung zusammenhängen, konzentrieren Wissenschaftler sich auf jene, die diese beiden Neurotransmitter regulieren. Allgemein könnte man sagen, das Problem von Personen mit ADHS ist, dass ihr Aufmerksamkeitssystem lückenhaft und unausgewogen ist. Sie beschreiben es als unstet, bruchstückhaft und unkoordiniert – Probleme, die auf eine Dysfunktion einer dieser Neurotransmitter oder einer der Hirnregionen im Aufmerk samkeitssystem zurückzuführen sein kann. Dies hilft zu erklären, warum eine Störung so viele unterschiedliche Gesichter haben kann. Der Locus coeruleus dient beispielsweise als An- und Ausschalter für unseren Schlaf und ist somit eng an den Biorhythmus geknüpft. Zu den allgemeinen Symptomen von Personen mit ADHS gehören abnormale Schlafmuster: Sie haben oft Probleme, einzuschlafen oder durchzuschlafen, leiden unter Schlafstörungen wie Schlafwandeln oder Reden im Schlaf und habe Albträume. Frühe Theorien zur Hyperaktivität gingen davon aus, dass die Erregung das Haupt problem sei, dass Kinder, die „an die Decke gehen“, im Grunde versuchen, sich wach zu halten und aufmerksam zu bleiben. Der Locus coeruleus, der in den Tiefen des Hirnstamms fleißig Noradrenalin produziert, ist jedoch nur die erste mögliche Fehlerquelle. Die von dort ausgehenden Noradrenalin transportierenden Axone sowie die mit Dopamin ausgestatteten Axone aus dem ventralen tegmentalen Areal (VTA) binden an Neuronen in der Amygdala an. Wie in Kapitel 3 erwähnt, ist die Amygdala dafür zuständig, den ankommenden Reizen eine emotionale Intensität beizumessen, und 184 Der Ablenkung davonlaufen zwar noch bevor wir uns derer bewusst sind, und diese dann zur Verarbeitung an höhere Hirnregionen weiterzusenden. In Zusam menhang mit ADHS legt die Amygdala die „Wahrnehmbarkeit“ von Dingen fest. Es ist eine nicht regulierte Amygdala, die die Tobsuchts anfälle oder blinde Aggression bei Patienten mit ADHS nährt, und ihre Überempfindlichkeit gegenüber Erregung und Aufregung kann zu Panikattacken führen. Manchmal ist Erregbarkeit auch etwas Positives – Personen mit ADHS können sich so für etwas begeistern, dass sie damit einen Raum voller Menschen anstecken können. (Die Aufmerksamkeit anderer zu fesseln, ist für Personen mit ADHS kein Problem.) Dopamin befördert auch Signale zum Nucleus accumbens, dem Belohnungszentrum, also dorthin, wo Ritalin, Amphetamin, Dextro amphetamin (Adderall) und die aktiven Wirkstoffe anderer Stimu lanzien landen – von Kaffee über Schokolade bis hin zu Kokain. Das Belohnungszentrum muss ausreichend aktiviert werden, bevor es seine wichtige Aufgabe ausführt, nämlich dem präfrontalen Cortex zu sagen, dass es da etwas gibt, was es wert ist, ihm Aufmerksamkeit zu schenken. Hierfür bringt es den Aspekt der Prioritätensetzung durch die Exekutive Funktion mit ins Spiel, und dies ist eine zentrale Komponente der Motivation. Im Grunde macht das Gehirn nicht viel, solange das Belohnungszentrum nicht angesprochen worden ist und reagiert. In Laborstudien konnte gezeigt werden, dass Affen mit Läsionen im Nucleus accumbens ihre Aufmerksamkeit nicht aufrechterhalten und somit auch die Motivation nicht aufbringen können, Aufgaben zu erledigen, die nicht mit sofortigen Belohnungen verbunden sind. Das Gleiche gilt für Personen mit ADHS, die sofortige Belohnungen gegenüber eher profanen Aufgaben bevorzugen, die ihnen helfen würden, über die Runden zu kommen, zum Beispiel für eine Prüfung zu lernen, die ihnen hilft, am College aufgenommen zu werden. Ich bezeichne diese Menschen als Gefangene der Gegenwart. Sie können die Konzentration auf ein langfristiges Ziel nicht aufrechterhalten, und somit erwecken sie den Anschein, als würde es ihnen an Antrieb fehlen. Auch der präfrontale Cortex ist für ADHS mitverantwortlich. Unaufmerksamkeit können wir uns allgemein als eine Unfähigkeit zur Hemmung von Interesse an unwichtigen Reizen und motorischen 185 Kapitel 6: Aufmerksamkeitsdefizit Impulsen vorstellen. Mit anderen Worten: Wir können nicht aufhören, unsere Aufmerksamkeit auf etwa zu lenken, dem wir eigentlich gar keine Aufmerksamkeit schenken sollten. Im präfrontalen Cortex ist auch das Kurzzeitgedächtnis lokalisiert, das bei einer aufgeschobenen Belohnung die Aufmerksamkeit aufrechterhält und gleichzeitig zahlreiche Fragen im Sinn behält. Ist das Kurzzeitgedächtnis beeinträchtigt, schaffen wir es nicht, bei einer Aufgabe oder Arbeit zu verweilen, die ein langfristiges Ziel verfolgt. Der Grund hierfür ist, dass wir eine Idee nicht lange genug im Sinn behalten können, um daran zu arbeiten oder um darüber nachzudenken, sie zu verarbeiten, um eine Reihenfolge festzulegen, sie zu planen, durchzuspielen und Konsequenzen zu bewerten. Das Kurzzeitgedächtnis, das wie der RAM-Arbeitsspeicher eines Computers funktioniert, kann als das Rückgrat aller Exekutiven Funktionen gesehen werden. Warum Personen mit ADHS es so entsetzlich schwer fällt, die Zeit im Auge zu behalten und die somit zum Aufschieben und Verschleppen neigen, ist ebenfalls auf ein Versagen des Kurzzeitgedächtnisses zurückzuführen. Sie vergessen buchstäblich, sich über die verstreichende Zeit Gedanken zu machen, sodass sie einfach nie in die Gänge kommen, die anstehende Aufgabe in Angriff zu nehmen. Eine Person, die an ADHS leidet und gerade ihre Stelle zu verlieren droht, weil sie stets zu spät zur Arbeit kommt, geht vielleicht morgens zum Küchenschrank, um die Müslipackung zu holen, um dann jedoch kurzerhand zu beschließen, dass der Schrank umgeräumt werden muss, und vergisst dabei, dass sie zu einer bestimmten Zeit aus dem Haus gehen muss. Wenn es ihr dann wieder einfällt, gerät sie in Panik. Achtung, an alle Kontrolleinheiten Es ist nicht nur eine Frage, ob die Signale durchkommen, um unsere Aufmerksamkeit zu erregen, sondern auch wie fließend die In formationen durchkommen. An diesem Punkt wird die Verbindung zwischen dem Aufmerksamkeitssystem und Bewegung sowie sportlicher Aktivität hergestellt: Die Hirnregionen, die körperliche Bewegung kontrollieren, koordinieren ebenso den Informationsfluss. 186 Der Ablenkung davonlaufen Das Kleinhirn ist ein primitiver Teil des Gehirns, von dem jahrzehn telang angenommen wurde, er sei nur bei der Steuerung und Feinab stimmung von Bewegung involviert. Wenn wir lernen, wie wir kör perlich etwas tun sollen, ob es um einen Karate-Tritt oder um Fin gerschnipsen geht, hat das Kleinhirn hart zu arbeiten. Das Kleinhirn umfasst nur zehn Prozent des Gesamtvolumens des Gehirns, es enthält jedoch die Hälfte unserer Neuronen, das heißt es ist eine dicht bepackte, vor lauter Aktivitäten surrende Region. Es bestimmt jedoch den Rhythmus von mehr als nur den motorischen Bewegungen: Es reguliert bestimmte Hirnsysteme, sodass sie reibungslos funktionieren, wobei der Informationsfluss ständig aktualisiert und gesteuert wird, damit alles nahtlos abläuft. Bei Patienten mit ADHS sind Teile des Kleinhirns kleiner im Volumen und funktionieren nicht ordnungsgemäß, sodass es einleuchtend ist, wenn dies die Ursache für die lückenhafte Aufmerksamkeit wäre. Das Kleinhirn sendet Informationen an den präfrontalen und den motorischen Cortex – die für das Denken und die Bewegung zuständigen Zentren. Auf dieser Strecke befindet sich jedoch eine wichtige Ansammlung von Nervenzellen, die sogenannten Basalganglien, die eine Art automatische Weiterleitung übernehmen und unbewusst die Aufmerksamkeitsressourcen so verlagern, wie der Cortex dies verlangt. Sie werden durch Dopamin-Signale moduliert, die aus der schwarzen Substanz (Substantia nigra) stammen. Dopamin fungiert wie eine Übertragungsflüssigkeit: Mangelt es daran, wie im Falle von Personen mit ADHS, kann die Aufmerksamkeit entweder nicht so ohne Weiteres verlagert werden oder aber sie kann nur als Ganzes in einen schnelleren Gang verlagert werden. Vieles, was Wissenschaftler über die Basalganglien wissen, kommt aus der Parkinson-Forschung, eine Krankheit, die durch einen Mangel an Dopamin in dieser Region verursacht wird. Die Krankheit ruiniert die Fähigkeit des Patienten, nicht nur motorische Bewegungen, sondern auch komplexe kognitive Aufgaben zu koordinieren. In den Frühphasen der Parkinson-Krankheit treten diese Fehlfunktionen als ADHS bei Erwachsenen in Erscheinung. Diese Parallele ist wichtig, da Neurologen nunmehr aufgrund einer Reihe aussagekräftiger Studien in den Frühphasen der ParkinsonKrankheit zur Abwehr der Symptome tägliche körperliche Bewegung 187 Kapitel 6: Aufmerksamkeitsdefizit oder sportliche Aktivität empfehlen. Wissenschaftler haben die Par kinson-Krankheit bei Ratten induziert, indem sie die DopaminZellen in ihren Basalganglien abtöteten; dann „zwangen“ sie die Hälfte der Ratten in den zehn Tagen nach „Einsetzen“ der Krankheit zweimal täglich auf einem Laufband zu laufen. Das Ergebnis war unglaublich: Der Dopamin-Spiegel der Läufer blieb im normalen Bereich und ihre motorischen Fertigkeiten verschlechterten sich nicht. Bei einer Studie mit an Parkinson erkrankten Personen wurde festgestellt, dass intensive Aktivität sowohl die motorischen Fähig keiten als auch die Stimmung verbesserten, und die positiven Effekte hielten mindestens sechs Wochen vor, nachdem sie die Aktivitäten beendet hatten. Was ich so faszinierend finde, ist die starke Beziehung zwischen Bewegung und Aufmerksamkeit. Sie teilen sich Pfade miteinander, was wahrscheinlich erklärt, warum Aktivitäten wie Kampfsportarten bei Kindern mit ADHS so gut funktionieren – sie müssen aufmerksam sein beim Erlernen neuer Bewegungen, wodurch beide Systeme in Anspruch genommen und trainiert werden. Eine umstrittene Behandlung bei Legasthenie (Dyslexie), die etwa 30 Prozent der ADHS-Patienten betrifft, stützt sich voll und ganz auf körperliche Bewegung, um das Kleinhirn zu trainieren. Die Behandlung von Dyslexie, Dyspraxie und eines Aufmerksam keitsdefizits (DDAT, Dyslexia, Dyspraxia and Attention Treatment), geht von der Theorie aus, dass die gestörte Fähigkeit des Gehirns, Be wegung zu koordinieren, verantwortlich dafür sein könnte, wenn es jemandem Probleme bereitet, etwas mit den Augen zu verfolgen, und damit Schwierigkeiten beim Lesen- und Schreibenlernen verursacht. Die Forscher wissen auch, dass die meisten Kinder mit Legasthenie unterdurchschnittlich schlecht bei Tests der Kleinhirnfunktion abschneiden. Bei DDAT geht es darum, eine Reihe recht einfacher motorischer Fertigungsübungen zweimal täglich fünf Minuten lang zu machen. 2003 testeten britische Forscher die Wirksamkeit von DDAT bei 35 Kindern mit Legasthenie und erklärten, die Resultate seien „erstaunlich“. Im Vergleich zu Kindern, die nicht behandelt wurden, war bei den Schülern, die das DDAT-Programm sechs Monate lang absolvierten, eine erhebliche Verbesserung bei ihren Lese- und Schreibfertigkeiten, den Augenbewegungen, kognitiven Fertigkeiten 188 Der Ablenkung davonlaufen und physischen Maßstäben wie Geschicklichkeit und Gleichgewicht festzustellen. Mein Freund und Kollege Ned Hallowell nutzt diese Methode (unter anderem) in seinem ADHS-Behandlungszentrum und hat die positiven Wirkungen an seinem eigenen Sohn erlebt. Und prominente Wissenschaftler am Columbia University College of Physicians and Surgeons haben eine große Studie zur Bewertung der Brauchbarkeit der DDAT-Methode in der Behandlung von ADHS gestartet. Pharmakologische Studien haben gezeigt, dass ADHS-Medika mente helfen, die Aktivität des Kleinhirns sowie des Corpus striatum zu normalisieren, sodass klar ist, dass diese Regionen wichtig für Aufmerksamkeit und Bewegung sind. Wenn wir die Bewegungs zentren unseres Gehirns so trainieren, dass ihre höheren Funktionen verbessert werden, kommt vielleicht bald der Tag, an dem wir nicht mehr in diesem Maße auf Medikamente angewiesen sind. Frühe Hinweise Ich habe es nie geschafft, meine Steuererklärung vor Oktober abzugeben. Jedes Jahr das gleiche Spiel: Zu Beginn des Jahres bin ich fest entschlossen, den Abgabetermin der Steuerbehörde zu unterbieten. Anfang Januar trage ich ordentlich alle meine Unterlagen für den Steuerberater zusammen. Dann stelle ich unweigerlich fest, dass ein Monatsauszug fehlt. Ich muss mein Kreditkartenunternehmen anrufen und um Zusendung einer Kopie bitten, was ja eigentlich kein Problem sein dürfte, für meinen Tatendrang aber tödlich ist. All diese Kleinigkeiten, seien es nun die fehlenden Unterlagen herbeizuschaffen oder diese kleinen weißen Etiketten zu kaufen, um die Ordner zu beschriften, habe ich dann monatelang im Hinterkopf, und sie nagen an mir. Doch der erste Schwung ist weg und damit auch meine Motivation. Als Kind hatte ich dankenswerterweise strenge Nonnen als Lehr meister, und wenn ich nicht in der Schule war, betrieb ich unter Auf bietung von Höchstleistungen verschiedene Sportarten. Dennoch war mein Zimmer eine Katastrophe; ich vergaß ständig Dinge und 189 Kapitel 6: Aufmerksamkeitsdefizit mein Tennistrainer behauptete, ich sei der am beständigsten unbeständige Spieler, den er je erlebt habe. Ich habe offenkundig ADHS, aber ich wusste es nie. Den Begriff gab es in meiner Kindheit noch nicht. Wenn sich irgendjemand über Aufmerksamkeitsdefizite Gedanken machte, dann war von Hyper aktiv ität die Rede. Als Arzt hatte ich mit der Störung nie etwas zu tun, bis ich An fang der 1980er-Jahre am Massachusetts Mental Health Center lehrte. Meine Assistenzärzte präsentierten mir einen 22 Jahre alten Patienten, der immer wieder wegen Anfällen von Gewalttätigkeit in der Klinik gewesen war. Er erwähnte, dass er als hyperaktiver Teenager Ritalin genommen hatte, das Medikament aber schon vor Langem abgesetzt worden war. Man ging davon aus, dass Kinder nach der Adoleszenz einfach aus ihrer Hyperaktivität herauswuchsen, und dass es gefährlich sei, sie bis ins Erwachsenenalter ständig Stimulanzien nehmen zu lassen, aus Furcht, sie könnten abhängig werden. Ich schlug vor, dass wir es nochmals mit dem Ritalin versuchten, und es dämpfte tatsächlich seine gewalttätigen Ausbrüche. Er war sehr erleichtert; er sagte, er habe vergessen, dass er sich ruhig und konzentriert fühlen konnte. Etwa zur gleichen Zeit beschäftigte ich mich sehr intensiv mit der Frage schwerer Aggressionen. Ich forschte, behandelte und schrieb darüber, was Patienten aller Art so gewalttätig machte. Dabei stieß ich auf eine Studie von Frank Elliott, damals Vorsitzender der Neuro logischen Fakultät an der University of Pennsylvania. Bei einer großen Anzahl von Gefängnisinsassen stellte er fest, dass mehr als 80 Prozent als Kinder gravierende Lernprobleme gehabt hatten. Somit begann ich, in den schulischen Geschichten meiner Ag gressionspatienten zu graben, dabei kamen Geschichten zutage, die einiges gemeinsam hatten. Es war klar, dass sie ein Leben lang die Schwierigkeit teilten, ihre Gedanken, Verhaltensweisen und Hand lungen zu hemmen. Viele von ihnen hassten Autorität, hatten ein geringes Selbstwertgefühl, das aus chronischem Versagen geboren worden war, und wurden von Impulsen getrieben. Die Bekanntschaft mit Problemen machten sie früh in ihrem Leben, und sie schafften es nie, auf die positiven Aspekte ihrer Persönlichkeit zurückzugreifen. Viele von ihnen waren als Teenager drogenabhängig. Diese Neigung 190 Der Ablenkung davonlaufen ging vielfach mit einer leicht reizbaren Reaktion auf Frustrationen einher und mündete in gewalttätigen Ausbrüchen. Allmählich dämmerte mir, dass solche destruktiven Verhaltensweisen ihre Wurzeln im Aufmerksamkeitssystem haben könnten. So begann ich, meine ambulanten Patienten durch die Linse der Aufmerksamkeit zu betrachten. Was ich sah, war, dass einige Per sonen mit chronischen Problemen wie Depression, Ängsten, Dro genmissbrauch und Wut auch einen grundlegenden Zustand des Aufmerksamkeitssystems zu teilen schienen, was leicht übersehen werden konnte, wenn er nicht in eine Hyperaktivität verpackt war. Ich begann, sie mit ADHS-Medikamenten zu behandeln und erlebte eine großartige Verbesserung. Als ich mit Kollegen über meine Ideen sprach, wurde klar, dass es mildere Formen des Aufmerksam keitsdefizits gab, die jemanden nicht unbedingt ins Gefängnis, in die Klinik oder aufs Gleis der Arbeitslosigkeit brachten. Nachdem wir hinter die Kulissen des Stigmas geschaut hatten, erkannten mein Freund Ned und ich die Symptome schließlich bei uns selbst. Das erste Papier, das ich über ADHS bei Erwachsenen schrieb, wurde von den Kritikern rundweg zerrissen, die mir unterstellten, ich würde wohl irgendeine Form grundlegender Depression oder Angst fehldiagnostizieren oder versuchen, eine neue Störung einzuführen. Aber ich wusste, dass wir einer Sache auf der Spur waren, als Ned und ich 1989 unseren ersten Vortrag über das Thema bei einer kleinen Konferenz in Cambridge, Massachusetts, für eine Organisation hielten, die von Eltern von Kindern mit ADHS gegründet worden war. Der Titel unseres Vortrags war einfach „Erwachsene mit ADS“ (damals sprachen wir noch nicht von ADHS). Nach unserem Vortrag in dem Saal vor 200 Zuhörern waren wir davon ausgegangen, dass wir etwa 15 Minuten Fragen sammeln und beantworten würden. Es dauerte vier Stunden. Um das Mikrofon im Mittelgang gedrängt, erzählte einer nach dem anderen einen kleinen Ausschnitt aus seiner persönlichen Geschichte und fragte dann nach. Viele von ihnen hatten die gleiche Störung wie ihre Kinder, und sie wussten es. So war es auch bei einem Psychiaterkollegen, der zu mir in Be handlung kam, nachdem er bei einer Party eines Abends zufällig mitbekommen hatte, wie ich über eine Fallstudie sprach. „Ich glaube, Sie haben mich beschrieben“, sagte er und begann mit einer hoch 191 Kapitel 6: Aufmerksamkeitsdefizit intellektuellen Schilderung seiner eigenen Geschichte. Charles, wie ich ihn nennen möchte, war der klassische zerstreute Professor, mit Brille, ungekämmtem Haar und Tweedjacke. Und er wusste wesentlich mehr über Psychiatrie als ich zum damaligen Zeitpunkt – ich hatte mehrere seiner Bücher gelesen! Der Wendepunkt in Charles’ Geschichte war, dass er sich als Marat honläufer eine Knieverletzung zugezogen hatte und depressiv wurde, als er gezwungen war, seine Leidenschaft aufzugeben. Dies war auch der Zeitpunkt, an dem er die Symptome bemerkt hatte, bei denen wir uns darin einig waren, dass es sich um ADHS handelte. Er erklärte, dass er einen Wutanfall bekam, wenn seine Freundin ihn beim Schreiben unterbrach, oder dass er das Telefon aus der Wand riss, wenn es klingelte, während er versuchte, sich zu konzentrieren. Er verlor den Kontakt zu seinen Freunden. Er passte ins Profil und wir beschlossen, ihm ADHS-Medikamente zu geben, die ihm auch halfen. Als er das erste Mal zu mir kam, nahm er bereits Antidepressiva, aber nachdem er seine Physiotherapie beendet und das Training wieder aufgenommen hatte, setzte er sie ab, da es ihm so viel besser ging. Als er sein altes Fitnessniveau fast wieder erreicht hatte, war er der Überzeugung, dass die ADHS-Medikation seine Leistungsfähigkeit beschnitt. Charles kannte seine Kilometerzeiten bis auf die Sekunde, und er war zehn Sekunden langsamer als früher. Er beschloss, es ein paar Tage ohne die Medikamente zu versuchen, und stellte fest, dass er sich, so lange er trainierte, gut konzentrieren konnte. Rückblickend erkannten wir, dass seine Aufmerk samkeit ihn vorher, als er noch ständig trainierte, nicht behindert hatte, da er sein Laufen stets ernst genommen hatte. Ohne das stete Trainingsprogramm während seiner Verletzung war er jedoch außerstande gewesen, seine Aufmerksamkeit so zu kontrollieren, dass er zurechtkam. Sportliche Aktivität hatte einen starken Effekt, so viel war klar, und dies war eine tolle Nachricht für mich. 192 Der Ablenkung davonlaufen Auf körperliche Bewegung konzentrieren Etwa zu der Zeit, als Charles zu mir kam, begegnete ich noch einer Reihe anderer intelligenter Spezialisten auf unterschiedlichen Gebieten, die mit Höchstleistungen funktionierten, ADHS hatten und dies entsprechend kompensieren konnten. Sie passten nicht zum Stereotyp in der Literatur. Niemand hatte je über erfolgreiche Erwachsene mit Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom gesprochen, bis Ned und ich ihre Fallstudien in unserem Buch Zwanghaft zerstreut veröffentlichten. Einige dieser Patienten hatten selbst festgestellt, dass sie körperliche Bewegung oder Sport als Weg der Selbstmedikation nutzen konnten, der es ihnen ermöglichte, produktiver zu sein. Insbesondere erinnere ich mich an einen Mann, der inzwischen einen MilliardenDollar-Hedgefonds verwaltet: Morgens nimmt er ein Stimulans ein, und in der Mittagspause, etwa um die Zeit, in der das Medikament seine Wirkung verliert, spielt er jeden Tag Squash. Die meisten Menschen wissen instinktiv, dass körperliche Akti vität Energie verbrennt. Und jeder Lehrer, der je mit einem hyperaktiven Kind zu tun hatte, wird Ihnen sagen, dass Kinder nach der Pause wesentlich ruhiger sind. Ruhiger und konzentrierter zu sein, ist eine der ausgesprochen positiven Konsequenzen des „Stunde Null“-Programms in Naperville, auf das ich in Kapitel 1 eingegangen bin. Für ein Kind mit ADHS ist die Schule eine qualvolle Umgebung, angesichts der Notwendigkeit, still zu sitzen, das Gesicht nach vorne gerichtet zu halten und einem Lehrer fast eine Stunde lang intensiv zuzuhören. Für einige Kinder ist dies unmöglich und der Grund für ihr störendes Verhalten im Unterricht. Vor etwa zehn Jahren, bei einer Reise in das Indianerreservat San Carlos Apache in Arizona, wurde ich heftig daran erinnert. Im Rah men der Bemühungen des Stammes, die Gesundheitsprobleme in der Gemeinschaft in den Griff zu bekommen, hatte man mich eingeladen, vor Ärzten, medizinischem Personal, Eltern und Lehrern über 193 Kapitel 6: Aufmerksamkeitsdefizit ADHS zu sprechen. ADHS ist bei den Kindern im Reservat ein gewaltiges, aber weitgehend undiagnostiziertes Problem, da die Störung bei Apachen wesentlich verbreiteter zu sein scheint als in der allgemeinen Bevölkerung. Als ich vor einer Gruppe von Mittelschullehrern die Symptome und Behandlungen beschrieb, meinten mehrere von ihnen, dass ihre Kinder alle Probleme hätten, still zu sitzen. Ich erkundigte mich nach Pausen, und mir wurde erklärt, dass die Kinder drei am Tag hatten. „Wenn es regnet und sie nicht nach draußen können“, erklärte ein Lehrer, „bringen wir die Kinder mit dem Bus nach Hause. Sonst werden wir nicht mit ihnen fertig.“ Unglaublich. Es gibt nur wenige Studien, die gute Statistiken über das Vorkommen von ADHS liefern. Eine der Besten stammt von der Mayo Clinic. Die Forscher erfassten alle Kinder, die zwischen 1976 und 1982 in Rochester, Minnesota, geboren wurden, und verfolgten die Entwicklung der Kinder, die dort wohnen blieben, bis sie fünf Jahre alt waren. Dies waren insgesamt 5.718 Kinder. Im Alter von 19 Jahren, so die Studie, hatten mindestens 7,4 Prozent von ihnen ADHS, und man mutmaßte, dass die Verbreitung gar bei 16 Prozent liegen könnte. Andere Studien gehen davon aus, dass etwa 40 Prozent der Kinder mit ADHS aus der Störung „herauswachsen“, und wenn sie bis ins Erwachsenenalter fortbesteht, Symptome der Hyperaktivität oft abklingen. Es ist kein Zufall, dass der präfrontale Cortex, der für die Hemmung von Impulsen verantwortlich ist, sich erst voll entwickelt, wenn wir Anfang 20 sind. Dies ist die Biologie der Reife. Das Gehirn (heraus-) fordern Angesichts der führenden Rolle von Dopamin und Noradrenalin bei der Regulierung des Aufmerksamkeitssystems lautet die allgemeine wissenschaftliche Erklärung auf die Frage, wie Bewegung ADHS abmildert, dass dies durch Erhöhung dieser Neurotransmitter geschieht. Und die Wirkung zeigt sich in der Tat sofort. Durch regelmäßige körperliche Betätigung können wir den Grundspiegel von Dopamin und Noradrenalin erhöhen, indem das Wachstum neuer Rezeptoren in bestimmten Hirnregionen angeregt wird. 194 Der Ablenkung davonlaufen Im Hirnstamm ist ein Ausgleichen des Noradrenalin-Spiegels im Erregungszentrum ebenfalls hilfreich. „Chronische körperliche Betätigung verbessert den Tonus des Locus coeruleus“, sagt Amelia Russo-Neustadt, Neurowissenschaftlerin und Psychiaterin an der California State University. Das Ergebnis ist, dass wir weniger anfällig dafür sind, in irgendeiner Situation unverhältnismäßig zu erschrecken oder zu reagieren. Und wir sind weniger reizbar. Ähnlich sehe ich körperliche Bewegung sozusagen als „Verabrei chung“ der Übertragungsflüssigkeit für die Basalgang lien, die wiede rum für die reibungslose Verlagerung des Aufmerksamkeitssystems zuständig sind. Diese Region ist eine wichtige Anbindungsfläche für Ritalin, und Gehirnaufnahmen zeigen, dass sie bei Kindern mit ADHS abnormal ist. In der äquivalenten Region von Ratten erhöht körperliche Bewegung den Dopamin-Spiegel, indem neue DopaminRezeptoren geschaffen werden. Eine Gruppe von Forschern untersuchte zusammen mit Rodney Dishman von der University of Georgia die Effekte von Bewegung bei Kindern mit ADHS, indem sie motorische Funktionstests nutzten, die indirekt Messgrößen für die Dopamin-Aktivität lieferten. Die Ergebnisse verschlugen Dishman die Sprache, da die Jungen und Mädchen unterschiedlich reagierten. Bei Jungen verbesserten anstrengende körperliche Aktivitäten beispielsweise ihre Fähigkeit, geradeaus zu schauen und die Zunge herauszustrecken, was eine bessere motorische Reflexhemmung anzeigte, die bei Hyperaktivität fehlt. Mädchen zeigten diese Verbesserung nicht, was vielleicht daran liegt, dass Hyperaktivität bei Mädchen seltener vorkommt. Sowohl Mädchen als auch Jungen hatten sich außerdem bei einer weiteren Messgröße verbessert, die sich auf die Sensitivität der DopaminSynapsen bezog; dabei schnitten die Jungen besser nach einer maximalen Aktivität ab, die Mädchen hingegen nach einer submaximalen Aktivität (bei 65 bis 70 Prozent der maximalen Herzfrequenz). Ein überaktives Kleinhirn trägt ebenfalls zu Unruhe und Zappe ligkeit bei Kindern mit ADHS bei, und jüngste Studien haben gezeigt, dass ADHS-Medikamente, die den Dopamin- und NoradrenalinSpiegel erhöhen, diese Region wieder ins Gleichgewicht bringen. Körperliche Bewegung erhöht auch den Noradrenalin-Spiegel. Und je komplexer die Aktivität oder Übung ist, umso besser. Ratten 195 Kapitel 6: Aufmerksamkeitsdefizit machen kein Judo; Wissenschaftler haben sich jedoch die neurochemischen Veränderungen in ihrem Gehirn nach akrobatischen Übungen angeschaut, die einer Kampfsportart am nächsten kommen. Im Vergleich zu Ratten, die auf dem Laufband liefen, war bei denen, die komplexe motorische Fertigkeiten praktizierten, eine wesentlichere Verbesserung des Spiegels des neurotrophen Faktors BDNF festzustellen, was darauf schließen lässt, dass ein Wachstum im Kleinhirn stattfindet. Im limbischen System hilft körperliche Bewegung, wie ich erklärt habe, bei der Regulierung der Amygdala, die in Zusammenhang mit ADHS die leicht reizbare Ansprechbarkeit abstumpft, die viele Patienten erleben. Sie nivelliert die Reaktion auf einen neuen Reiz, damit wir beispielsweise in einem Anflug von Wut im Straßenverkehr nicht ausrasten und einen anderen Fahrer anschreien. Soweit es sich bei ADHS um einen Mangel an Kontrolle handelt – von Impulsen und Aufmerksamkeit –, ist die Leistung des prä frontalen Cortex von entscheidender Bedeutung. Die bahnbrechende Studie von Arthur Kramer von der University of Illinois, die 2006 veröffentlicht wurde, nutzte MRT-Aufnahmen, um zu zeigen, dass simples Gehen an nur drei Tagen in der Woche über den Zeitraum von sechs Monaten das Volumen des präfrontalen Cortex bei älteren Erwachsenen erhöhte. Und als er Aspekte ihrer Exekutiven Funktion untersuchte, zeigten sie Verbesserungen im Kurzzeitgedächtnis, wo bei sie reibungslos zwischen Aufgaben wechseln und irrelevante Reize ausblenden konnten. Kramer war nicht ADHS auf der Spur, aber seine Ergebnisse verdeutlichen einen anderen Weg, wie körperliche Bewegung hilfreich sein kann. Jeder pflichtet bei, dass körperliche Bewegung den Dopamin- und Noradrenalin-Spiegel erhöht. Und einer der intrazellularen Effek te dieser Neurotransmitter ist, wie die Neurobiologin Amy Arn sten von der Yale University erklärt, eine Verbesserung des Signal/ Rausch-Verhältnisses im präfrontalen Cortex. Sie hat festgestellt, dass Noradrenalin die Signalqualität der synaptischen Übertragung verbessert, während Dopamin das Rauschen oder die atmosphärische Störung durch den ziellosen Signalaustausch von Neuronen reduziert, indem die empfangende Zelle daran gehindert wird, irrelevante Signale zu verarbeiten. 196 Der Ablenkung davonlaufen Arnsten geht auch davon aus, dass die Spiegel der Aufmerksam keits-Neurotransmitter einem u-förmigen Muster von oben nach unten folgen. Eine Erhöhung ist also bis zu einem gewissen Punkt hilfreich, anschließend folgt dann aber ein negativer Effekt. Wie in jedem anderen Teil des Gehirns müssen die Spiegel des neurologischen Gemischs in einem optimalen Verhältnis zueinanderstehen. Körperliche Bewegung ist das beste Rezept dafür. Ein klassischer Fall Wenn Sie zufällig Jackson begegnen würden, so hätten Sie einen 21-Jährigen mit kompakter Statur vor sich, der sein Hemd über der Hose trägt und sich artikuliert über seine Pläne für die Zukunft äußert – ein typisches amerikanisches College-Kid, wenn nicht etwas klüger. Das Besondere an ihm ist nicht so sehr, wo er heute steht, sondern welch weiten Weg er zurückgelegt hat, um hierher zu kommen, und wie er dies erreicht hat. Jackson läuft fast jeden Tag; wenn er am selben Tag auch noch Gewichte hebt, dann läuft er rund fünf Kilometer, an den anderen Tagen etwa 6,5 Kilometer. „Wenn ich das nicht mache, ist es zwar nicht so, dass ich Schuldgefühle hätte“, sagt er. „Ich habe vielmehr das Gefühl, als ob ich an meinem Tag etwas verpasst hätte, und ich möchte los, um es nachzuholen. Denn ich weiß, wenn ich Sport treibe, habe ich keine Probleme, mich auf irgendetwas zu konzentrieren.“ Jackson war 15 Jahre alt, als er wegen Ängsten, die durch sein ADHS verschärft wurden, das erste Mal in meine Praxis kam. Seine Neigung, immerzu alles zu verschieben und zu verschleppen, brachte ihn in unmögliche Situationen. Auch wenn er sich damit brüstete, wie gerissen er seine Lehrer und schulische Fristen manipulierte, zehrte das permanente Herumlavieren an seinen Nerven. Am Ende der Highschool hatte er sich eine so tiefe Grube gegraben, dass nicht einmal er sicher war, ob er nicht doch hineinfallen würde. Seine Zukunft hing am Ende von einer Frage, einem Mathetest ab, den er bis unmittelbar vor dem Abschluss vor sich herschob. „Ich habe ihn so viele Tage vor mir hergeschoben, dass ich tatsächlich nicht 197 Kapitel 6: Aufmerksamkeitsdefizit wusste, ob ich den Abschluss schaffen würde“, erinnert er sich. „Ich war da draußen, in Talar und mit Barett, und ich wusste nicht, ob sie meinen Namen nennen würden.“ Er hält einen Augenblick inne, und fügt dann hinzu: „Ich fühlte mich so blöd.“ ADHS war früh bei Jackson diagnostiziert worden, nachdem sein Lehrer in der dritten Klasse aufgrund seines störenden Verhaltens und seiner Unfähigkeit, Klassenarbeiten fertig zu schreiben, etwas unternommen hatte. Er begann mit der Einnahme von Ritalin und nahm während seiner ganzen Schulzeit irgendeine Form von Stimulans. Er war intelligent, hatte aber eine Menge Probleme mit der Schule. Als Tagesschüler einer erstrangigen privaten Hochschule musste er einfach mehr tun, als er schaffen konnte. Schlafmangel war an der Tagesordnung, und wenn er schlafen konnte, wachte er oft mit Magenschmerzen auf und hatte fürchterliche Angst vor der Fahrt zur Schule. Nach einer Panikattacke ging er von der Schule ab – obwohl er einen guten Notendurchschnitt hatte, den er hauptsächlich seinem hervorragenden Abschneiden bei Prüfungen zu verdanken hatte –, und wechselte zu einer öffentlichen Highschool. Im Unterschied zu manchen Kindern mit ADHS war Jackson sehr gesellig, gründete Klubs, die sich nach der Schule trafen, und übernahm die Funktion des Schülerbeirats für gleichaltrige Schüler mit Problemen. Er meinte, dass er nach allem, was er durch seine eigenen Probleme gelernt hatte, von Psychologie durchaus etwas verstand. Alle diese außerschulischen Aktivitäten kaschierten, was sich in seinem Innern zu schweren Ängsten und einer Depression verdichtete, und irgendwann nahm er Adderall, Paroxetin (Paxil) und auch Clonazepam (Klonopin) ein, ein lang wirkender Arzneistoff gegen Ängste. Der Unterrichtsstoff war kein Problem, aber die Haus aufgaben waren eine derartige Quelle von Stress, dass er sie entweder gar nicht machte oder in den kurzen Pausen zwischen den Unterrichtsstunden hinhuschelte. Er hatte sich selbst überzeugt, dass er intelligent genug war, die Highschool zu schaffen, ohne wirklich etwas zu tun. Er sagt, er fühlte sich wie ein „Geheimagent“, der herumschlich, die Teilnahmeregeln unterlief und die Lehrer überlistete, wenn es darum ging, Aufgaben fertig zu machen, und dann den Unschuldsengel spielte. „Ich fand mich so cool“, sagt er. „Die 198 Der Ablenkung davonlaufen Krönung war, dass ich im Geschichtsunterricht, den ich eigentlich sogar mochte, diesen einen großen Aufsatz nicht geschrieben habe. Aber irgendwie schaffte ich es, den Lehrer auszutricksen, sodass er irgendwann glaubte, ich hätte ihn geschrieben – und ich bekam eine Eins dafür. In Wirklichkeit habe ich ihn nie abgegeben.“ Sie riefen Jacksons Namen bei der Abschlussfeier auf. Er rutschte eben noch so durch, seine Noten waren jedoch viel zu schlecht, trotz familiärer Beziehungen, um aufs College zu gehen, wie er es sich erhofft hatte. Ein kleines Junior College nahm ihn dennoch auf, und das war genau das Richtige für ihn. Der Triumph, den Schul abschluss geschafft zu haben, und das gute Gefühl, im nächsten Herbst ein Ziel vor Augen zu haben, machten ihn so glücklich, dass er die ganze Welt hätte umarmen können. Es ging ihm in jenem Sommer so gut, dass er beschloss, seine Medikamente abzusetzen – und zwar alle. (Ich brauche wohl nicht eigens zu sagen, dass ich zu der Zeit in seine Entscheidung nicht einbezogen war.) Es war das erste Mal seit der Grundschule, dass er länger als einen Tag oder zwei Tage keine Medikamente einnahm. „Ich merkte, dass viele der Kleinigkeiten, die mir zu schaffen machten, verschwanden“, berichtet er. Und auch einige der Dinge, die nicht ganz so banal waren: Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er einen ganz normalen Schlafrhythmus, und seine Ängste ließen nach. Er ging davon aus, dass es ihm einfach so unglaublich gut ging, weil er die Schule geschafft hatte, aber als er später einige ADHS-Medikamente einnahm, um eine Aufnahmeprüfung fürs College zu machen, kehrten die ärgerlichen Nebenwirkungen wieder zurück. Danach räumte er die Medikamente weg. Die Wende kam in jenem Sommer jedoch in Spanien, bei einer Reise mit seiner Freundin. Als er mit nacktem Oberkörper am Strand herumspazierte, inspirierte ihn das, angesichts der spanischen Adonisse, etwas gegen seinen Buddha-Bauch zu machen. „Ich fing einfach an zu laufen“, sagt er. „Und ich fühlte mich super dabei. Natürlich spielte dabei mit, dass ich in Spanien im Urlaub war. Alles war super in meinem Leben. Und ich würde aufs College gehen, das nicht so schwer sein würde, und deswegen glaubte ich: Ich kann das vielleicht einfach alles schaffen! Ich ging in dem Herbst aufs College, und ich hatte keine Sekunde zu kämpfen.“ 199 Kapitel 6: Aufmerksamkeitsdefizit Jacksons Geschichte gefällt mir zum Teil auch deshalb, weil er mit Sport etwas für seine Figur tun wollte, aber wegen des therapeutischen Effekts dabei geblieben ist. An seinem Körperbau änderte das Laufen zuerst keinen Deut (dank Pizza und Bier), aber er blieb dabei, weil es ihm half, sich zu konzentrieren. In seinem ersten Semester am Junior College schnitt er mit einem Notendurchschnitt von 1,3 ab, und nach einem Jahr wurde er von dem College, das er ursprünglich hatte besuchen wollen, nachträglich aufgenommen; er gehörte zu den wenigen Studenten, die wechseln durften. Es ist eine kleine, wettbewerbsfähige Institution in New England, wo er im zweiten Semester einen Notendurchschnitt von 1,5 erreichte. Sein Hauptfach? Psychologie. Er hatte sich ganz klar auf seine Verfassung eingestellt. Wenn er in seinem Trainingsprogramm nachlässt, machen sich Konzen trationsschwächen bemerkbar. „Ich kann genau sagen, was passiert, wenn ich nicht laufe“, erklärt er. „In der Mitte des Semesters kam ich jeweils an den Punkt, dass ich keine Zeit hatte. Aber wissen Sie was? Es ist so, ich muss einfach raus und laufen und einen freien Kopf bekommen. Ich muss es einfach tun.“ Er weiß, wie er sich danach fühlt, und diese Erkenntnis allein sorgt dafür, dass er daran festhält. „Ich habe immer eine Million Stimmen in meinem Kopf, die ganze Zeit“, erklärt er. „Als ich anfing Sport zu treiben, war es nicht so, dass ich nur an eine Sache dachte, da ich auch ein Problem mit dem Hyperkonzentrieren habe. Aber es war so, dass ich mich auf Dinge konzentrieren konnte, die wichtig für mich waren. Dann habe ich angefangen, darüber nachzudenken, und im Allgemeinen habe ich jetzt eigentlich kein Problem damit, mich zu konzentrieren. Und da ich die Medikamente abgesetzt habe, habe ich nicht annähernd so viele Schlafprobleme wie früher. Es war für mich nie eine Frage, dass es mit der körperlichen Bewegung zusammenhängt, weil es diese riesige Veränderung in mein Leben gebracht hat. Es ist einfach so klar.“ 200 Der Ablenkung davonlaufen Die Initiative ergreifen Nicht jeder, der ADHS hat, wird die umfassende Wirkung körperlicher Bewegung so erleben, wie es bei Jackson war. Und ich hätte nie vorgeschlagen, dass er seine Medikation so abrupt absetzt, insbesondere nicht das Antidepressivum. Seine Erfahrung wirft indes die Frage auf, ob Bewegung oder Sport Ritalin oder Adderall oder Bupropion (Wellbutrin) ersetzen können, und bei der überwiegenden Mehrzahl der Fälle würde ich sagen, die Antwort lautet nein. Zumindest nicht so, wie James Blumenthal und seine Kollegen von der Duke University es gezeigt haben: Dass nämlich körperliche Betätigung bei der Behandlung von Depressionen an die Stelle von Zoloft treten kann. Dennoch hat Jacksons Motivation, seine Medikation abzusetzen, auch etwas Lehrreiches. Ich denke, er hatte das Gefühl, keine Kontrolle mehr zu haben, wobei er wusste, dass er intelligent genug war, um erfolgreich zu sein, aber eben nicht in der Lage, es auch tatsächlich zu schaffen. Permanente Frustration kann demoralisierend wirken, und dies nährte in Jacksons Fall seine Depressionen und seine Ängste. Bei ihm verschärfte die Einnahme von Medikamenten jenes Gefühl, sodass ein Gefühl der Abhängigkeit entstand. Umgekehrt gab ihm die Routine des Laufens ein Gefühl der Kontrolle über sein inneres Selbst – seine Stimmung, seine Ängste, seine Konzentration. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er das Gefühl, dass er seine eigene Zukunft steuern konnte. Das Laufen war das Medikament seiner Wahl. Den meisten meiner Patienten empfehle ich Bewegung als Mittel, das ihnen zusammen mit ihrer Medikation bei der Bewältigung ihrer Symptome hilft. Die beste Strategie ist, sich morgens sportlich zu betätigen, und die Medikamente dann etwa eine Stunde später einzunehmen, wenn die sofortige Wirkung der körperlichen Aktivität auf das Konzentrationsvermögen abzuklingen beginnt. Bei einer Reihe von Patienten habe ich festgestellt, dass sie mit einer geringeren Dosis an Medikamenten zurechtkommen, wenn sie sich täglich körperlich bewegen. Ich will darauf hinaus, dass Sie Ihre eigene Behandlung federführend selbst in die Hand nehmen: Je mehr sie darüber wissen, wie 201 Kapitel 6: Aufmerksamkeitsdefizit ADHS sich im Einzelnen auswirkt, umso besser erkennen Sie Ihre Schwachstellen, und umso besser können Sie sich darauf einstellen. Ich erkläre meinen Patienten, dass sie äußerste Wachsamkeit bei ihrer Terminplanung und Struktur entwickeln müssen. Wenn Sie Ihre Umgebung entsprechend einrichten, können Sie Ihre Auf merksamkeit durch Ihr eigenes Handeln fokussieren und produktiver werden. Richten Sie Ihren Tag und Ihre Umgebung so ein, dass dies Ihrer Konzentration und Leistung förderlich ist – den Ball nach vorne bewegen, statt zuzulassen, dass er von den Wänden abprallt. Damit möchte ich nicht sagen, dass Symptome verschwinden, wenn Sie sich organisieren und sich eine Struktur geben, Sie können Ihre Aufmerk samkeit dadurch jedoch gezielt in die richtige Richtung lenken. Heutzutage nehmen viele Menschen ADHS-Trainer in Anspruch, die ihnen dabei zu helfen. Die Verlässlichkeit des äußeren Rahmens ist ein wirksamer Weg, der Ihnen hilft, eine Routine wie sportliche Betätigung aufrechtzuerhalten und Ihre Ziele zu erreichen. Jackson gibt sich seine Struktur durch seine täglichen Läufe, und dies funktioniert auf zwei Ebenen: Der regelmäßige Terminplan prägt seinen Zeitplan und gibt seinem Tagesablauf eine feste Struktur, sodass er sich weiter keine Gedanken darüber zu machen braucht, und die sportliche Betätigung als solche sorgt dafür, dass das Gehirn in jeder Hinsicht, wie ich dies beschrieben habe, fokussiert wird. Es stimmt, dass viele Kinder mit ADHS aktiver als gleichaltrige Kinder sind – Studien zeigen, dass sie im Durchschnitt weniger Körperfett haben –, und ich sehe viele Erwachsene mit ADHS, die sich bereits sportlich betätigen. Aber sie müssen mehr tun, und das regelmäßig. Ich bitte meine Patienten, alle Anstrengungen zu unternehmen, um täglichen körperlichen Aktivitäten einen festen Platz einzuräumen – oder zumindest an den fünf Wochentagen, an denen sie sich auf die Schule oder ihre Arbeit konzentrieren müssen. Dishmans Studie lässt darauf schließen, dass submaximale körperliche Bewegung, was 65 bis 75 Prozent der maximalen Herzfrequenz entspräche, bei Mädchen effektiver ist, während anstrengendere Aktivitäten (knapp unter der anaeroben Schwelle, worauf ich in Kapitel 10 noch eingehen werde) bei Jungen besser funktionieren. Für Erwachsene haben wir eigentlich keine Paralleldaten, aber nach 202 Der Ablenkung davonlaufen allem, was ich gesehen habe, ist es wichtig, dabei die Herzfrequenz 20 oder 30 Minuten lang zu steigern – vielleicht auf 75 Prozent Ihrer maximalen Herzfrequenz. Insbesondere bei ADHS sind komplexe, konzentrationsintensive Sportarten wie Kampfsportarten und Gymnastik ein großartiger Weg, um das Gehirn stark in Anspruch zu nehmen. Durch Einbeziehung jedes Elementes des Aufmerksamkeitssystems sorgen Sie dafür, dass Sie hellwach und hoch konzentriert bleiben. Diese Sportarten sind einfach interessanter als das Laufen auf einem Lauf band, und wenn Sie sich mit anderen zusammentun, um mit ihnen gemeinsam Sport zu treiben, so hat dies in der Regel einen sich selbst verstetigenden Effekt, sodass es leichter ist, dabei zu bleiben. Mein eigenes Training versuche ich morgens als Erstes zu absolvieren, sowohl wegen der Struktur, die dadurch entsteht, als auch um den richtigen Tonus für den Tag zu finden. Oftmals hält mich das auf Vordermann. Und sobald ich in die Intensität der Therapiesitzungen komme, fällt es mir nicht schwer, mich auf jeden Patienten richtig zu konzentrieren. Wie lange das Hoch bei Dopamin und Noradrenalin nach einer sportlichen Aktivität anhält, ist von Forschern noch nicht quantifiziert worden, anekdotische Belege gehen jedoch von einer Stunde oder vielleicht auch 90 Minuten aus, in denen die Ruhe und Klarheit anhält. Personen, die eine Medikation brauchen, empfehle ich, sie an dem Punkt zu nehmen, an dem die Effekte der körperlichen Aktivität nachlassen, um von beiden Ansätzen optimal zu profitieren. Die Wahrheit ist, dass das Ausmaß des Aufmerksamkeitsdefizits bei jedem Menschen unterschiedlich ist, und Sie müssen experimentieren, um herauszufinden, was am besten funktioniert. Meine Hoffnung ist, wenn Sie wissen, wie es funktioniert, dass Sie dann die beste Lösung für sich finden können. Wenn Sie es mit einem Minimum versuchen wollen, würde ich sagen, 30 Minuten aerobe Übungen täglich. Das ist nicht viel Zeit, insbesondere wenn Sie bedenken, dass es Ihnen helfen wird, sich genügend zu konzentrieren, um den Rest des Tages weitestgehend gut zu meistern. 203 7. Abhängigkeit Die Biologie der Selbstkontrolle mobilisieren U nter den 35.000 Läufern, die im November 2006 den New York City Marathon absolvierten, waren 16 ehemalige Drogenab hängige, von denen eine Reihe offen darüber scherzte, dass sie die meiste Zeit in ihrem Leben „vor den Bullen davon gelaufen“ waren. Als sie die Ziellinie überquerten, hatten sie weitaus mehr als „nur“ eine Strecke von 42 Kilometern zurückgelegt. Viele von ihnen waren im Gefängnis, obdachlos oder anderweitig hilflos gewesen, als sie von sich aus ins Odyssey House kamen, um sich aufnehmen zu lassen. Dabei handelt es sich um ein Reha-Programm in New York, im Rahmen dessen etwa 800 Personen stationär an einem halben Dutzend Standorten in der ganzen Stadt behandelt werden. Es sind die seltenen, schlimmsten Beispiele, was Menschen passieren kann, wenn sie die Kontrolle über ihr Verhalten völlig verlieren. Auch wenn das Leben derjenigen, die von harten Drogen wie Crack, Heroin oder Crystal Meth abhängig sind, erheblich anders aussieht als das Leben jener, die Drogen nehmen oder missbrauchen, ohne abhängig zu sein, gelten für ihr Gehirn jedoch die gleichen Grundsätze. Das heißt, dass die Lektionen des Odyssey House für jeden gelten, der mit Selbstkontrolle zu kämpfen hat, wozu auch diejenigen gehören, die meinen, sie hätten eine abhängige Persönlichkeit. Wissenschaftler 205 Kapitel 7: Abhängigkeit charakterisieren Verhaltensweisen wie Spielen, zwanghaftes Einkau fen oder selbst übermäßiges Essen mit den gleichen biologischen Begriffen, die sie verwenden, um Drogenmissbrauch zu erklären. Der gemeinsame Nenner ist ein außer Kontrolle geratenes Beloh nungssystem, mit dem manche Personen geboren werden und das andere im Laufe ihres Lebens entwickeln. Das Odyssey House gibt es seit etwa Ende der 1960er-Jahre, wobei die Hilfsangebote von Beratung bis zu beruflichen Ausbildungspro grammen, von Altenpflege bis zu Familienhilfe reichen. Im Frühjahr 2000 begann John Tavolacci, ein Mitarbeiter des Odyssey House, mit den Klienten in den Central Park zu gehen, um dort zu laufen, und zwar mit dem Ziel, für einen fünf Kilometer langen Wohl tätigkeitslauf zu trainieren, der jeden Herbst stattfand. „Wir laufen in Gruppen mit ihnen und reden darüber, was das Laufen alles bringt – Disziplin, Struktur, Teamwork“, sagt Tavolacci, der inzwischen Geschäftsführer des Odyssey House ist. „Abhängige isolieren sich in der Regel, aber hier motivieren sie sich gegenseitig, und sie sehen, was es heißt, sich Ziele zu setzen und sie zu erreichen.“ Viele seiner Schützlinge fangen mit einfachem Gehen an, und die erste Herausforderung ist, sich an die eine Regel zu halten, die Tavolacci ihnen vorgibt: Nicht Rauchen. Darauf bauen sie dann weiter auf, um als Nächstes die rund 2,5 Kilometer um das Central Park Reservoir zu laufen. Um die 100 Menschen beteiligen sich an dem Trainingsprogramm, das „Lauf um dein Leben“ heißt. Und jene, die sich zu ernsthaften Läufern entwickeln, bleiben etwa doppelt so lange in der Behandlung wie nicht aktive Klienten. „Es klingt logisch“, sagt Tavolacci, „aber das einzige, was wir über die Behandlung wissen, sind die zunehmenden Erfolgsaussichten, je länger ein Teilnehmer bei der Stange bleibt.“ Das Odyssey House hat seit jeher einen ganzheitlichen Behand lungsansatz genutzt und die Bedeutung der Gemeinschaft betont. Peter Provet zufolge, dem Direktor des Odyssey House, ist dies von entscheidender Bedeutung, da Abhängigkeit eine so allumfassende Störung ist, die jeden Aspekt des Lebens betrifft, von der Familie über die Stimmung bis zur Arbeit. „Die Droge ist für den Abhän gigen alles“, sagt Provet. Nimmt man sie ihm weg, dann ist in Körper und Geist plötzlich nur noch Leere. 206 Die Biologie der Selbstkontrolle mobilisieren „Gibt es einen besseren Weg, diese Leere zu füllen, als durch sport liche Betätigung?“ meint Provet. „Ich bin fest davon überzeugt, dass Sport als ein Gegenmittel und eine Art Schutzimpfung gegen Abhängigkeit dienen kann“, sagt er. „Im Sinne des Gegenmittels gibt man dem Einzelnen die Möglichkeit, eine Erfahrung in seinem Leben zu machen, die die meisten der Teilnehmer noch nicht gemacht haben – die Ziele des Trainings, das Gefühl der körperlichen Bewegung, die Herausforderung des Sports, die Freude und den Schmerz, die Leistung, das physische Wohlbefinden, das Selbst wertgefühl. All dies gibt der Sport uns, und damit gibt man dem Abhängigen eine sehr faszinierende Option.“ Die Schutzimpfung ist ähnlich wichtig, angesichts dessen, dass die meisten Abhängigen einen langen, manchmal lebenslänglichen Kampf mit dem Rückfallrisiko führen. Und für Provet ist Sport die beste Form der Schutzimpfung. „Sportliche Aktivitäten sind der direkte Gegensatz zu drogenabhängigem Verhalten. Man braucht Lun genk raft, Muskelk raft, mentale Klarheit, um physischen Aktiv itäten nachzugehen – viele Dinge, die Drogen einem entziehen. Wenn man nicht isst, sich nicht um seinen Körper kümmert, ihn dahinsiechen lässt, der Geist durch die ständige Betäubung verwirrt ist, kann man kein ernsthafter Sportler sein. Man kann keinen Sport machen.“ Die Neurologie ist gerade dabei, das nachzuholen, was 20 Jahre Erfahrung Peter Provet gelehrt haben. Wie er die Wirkung von sportlicher Aktivität auf den Abhängigen beschreibt, ist ein Spiegel dessen, worüber ich in Kapitel 5 in Zusammenhang mit Depressio nen gesprochen habe. Als Behandlung wirkt sportliche Aktivität im Gehirn von oben nach unten, indem Abhängige gezwungen werden, sich auf einen neuen Reiz einzustellen und sich ihm anzupassen, was es ihnen ermöglicht, alternative und gesunde Szenarien zu erlernen und auch schätzen zu lernen. Es ist ein aktivitätsabhängiges Training. Auch wenn es vielleicht nicht zu dem sofortigen Rausch wie bei einer Dosis Kokain führt, so führt es dennoch zu einem diffusen Gefühl des Wohlbefindens, das mit der Zeit als solches zur Sucht werden kann. Die Impfung wirkt hingegen von unten nach oben, indem physisch der Drang gedämpft wird, durch Einschalten der primitiveren Elemente des Gehirns zu handeln. Durch sportliche Betätigung werden synaptische Umleitungen um die alten, 207 Kapitel 7: Abhängigkeit eingefahrenen Verbindungen herumgebaut, die automatisch die nächstliegende Abhilfe suchen. „Nicht jeder wird ein Marathonläufer, aber immer mehr entwi ckeln sich vom Abhängigen zum Athleten“, sagt Provet. „Ist es für jeden geeignet? Wahrscheinlich nicht. Für die meisten? Wahrschein lich ja.“ Ungute und ungerechtfertigte Belohnungen Wie bei so vielen Entdeckungen darüber, wie das Gehirn funktioniert, stießen Wissenschaftler durch Zufall auf erste Hinweise zu Abhängigkeiten. 1954 führten der Psychologe James Olds und ein Student im Aufbaustudium namens Peter Milner an der McGill University in Montreal Untersuchungen zum Verhalten durch, indem sie Elektroden in das Gehirn lebender Ratten einführten. Sie wollten eine Region, die sich auf das Lernen bezog, genau lokalisieren; bei einem der Tiere landete die Elektrode jedoch an der falschen Stelle. Das Ergebnis war sogar noch interessanter als das, wonach sie eigentlich gesucht hatten: Die Ratte kehrte immer wieder in die Ecke ihres Käfigs zurück, in der sie ihren ersten elektrischen Schock erhalten hatte. Zu ihrem Erstaunen stellten die Forscher fest, dass sie das Nagetier wie ein ferngesteuertes Spielzeug durch Verabreichen von Stromstößen steuern konnten. Am nächsten Tag suchte die Ratte dieselbe Ecke auf. Klar war, die Ratte wünschte sich die Stimulation so sehr, dass sie das Futter, das in der anderen Ecke stand, ignorierte, um sich den elektrischen Schock in „ihrer“ Ecke abzuholen. Bei dem berühmtesten ihrer Experimente bastelten Olds und Milner einen Hebel zusammen, mit dem sich die Ratte ihre eigene Gehirnstimulation verabreichen konnte. Nachdem sie entdeckt hatte, dass sie einen Stromstoß erhielt, wenn sie den Hebel drückte, drückte sie ihn etwa alle fünf Sekunden, bis der Strom abgeschaltet wurde. Die Ratte versuchte den Hebel noch einige Male ergebnislos zu betätigen und schlief dann postwendend ein. 208 Die Biologie der Selbstkontrolle mobilisieren Die Hirnregion, die Olds und Milner mit der Elektrode trafen, ist eng mit dem Nucleus accumbens, dem Belohnungszentrum, verknüpft und steht seither im Mittelpunkt der Suchtforschung. Das Belohnungszentrum ist ein entscheidender Knotenpunkt des Auf merksamkeitssystems, wie ich im letzten Kapitel beschrieben habe, und es spielt auch bei der Abhängigkeit eine wichtige Rolle. Es liefert dem Gehirn die notwendige Motivation, ein Verhalten zu erlernen, das uns Dinge bringt, die wir mögen oder uns wünschen oder brauchen. Alle die Dinge, nach denen Menschen süchtig werden – Alkohol, Koffein, Nikotin, Drogen, Sex, Kohlenhydrate, Glücksspiel, Videospiele, Einkaufen, gefährlich leben –, erhöhen den DopaminSpiegel im Nucleus accumbens. Unabhängig von den unterschiedlichen psychischen Effekten, die verschiedene Drogen auf den Geist haben, erhöhen sie alle den Dopamin-Spiegel im Belohnungszen trum. Die Macht von Drogen wird sicher deutlich, wenn man bedenkt, dass der Dopamin-Spiegel beim Sex um 50 bis 100 Prozent erhöht wird, durch Kokain jedoch um 300 bis 800 Prozent über den Normalspiegel hinausschießt. Der Nucleus accumbens wurde früher gemeinhin als das Freu dezentrum bezeichnet, was die Vorstellung nährte, dass Abhängige vor allem darauf aus waren, es sich gut gehen zu lassen. Auch wenn Freude oder Vergnügen sicher auslösende Faktoren sein mögen, der Menschen dazu verleitet, Drogen oder ihr Glück am Spieltisch zu versuchen, ist es nicht ganz richtig, Abhängige schlechterdings nur für Hedonisten zu halten. Niemand genießt es, abhängig zu sein. Aufgrund ihrer Untersuchungen, wie Dopamin als wichtiger Bot schafter im Belohnungssystem funktioniert, sind Wissenschaftler inzwischen dazu übergegangen, klar zu unterscheiden, ob man etwas mag oder es sich wünscht. „Mögen bezieht sich auf die tatsächliche Erfahrung der Freude, im Unterschied zu dem motivationsbedingten Zustand des Wünschens, der die Bereitschaft bedingt, für Belohnung zu arbeiten“, sagte Terry Robinson, Verhaltensneurow issenschaftler an der University of Michigan. „Dopamin ist bei diesem Wünschen involviert, beim Mögen jedoch nicht.“ Das Belohnungszentrum ist der Punkt, an dem ADHS und Ab hängigkeit zusammentreffen und ineinander übergehen, was erklärt, warum beide Probleme sowohl Motivation, als auch Selbstkontrolle 209 Kapitel 7: Abhängigkeit und Erinnerungsvermögen untergraben. Es ist kein Zufall, dass etwa die Hälfte aller ADHS-Betroffenen auch mit irgendeiner Art von Drogenmissbrauch zu kämpfen haben. Die Implikationen haben dazu geführt, dass Wissenschaftler ihren früheren Ansatz zur Beschreibung von Abhängigkeit geändert haben. Die ausschlaggebenden Punkte scheinen Salienz und Motivation statt Freude oder Vergnügen zu sein. In diesem Zusammenhang bedeutet Salienz, dass etwas aus dem gewöhnlichen Rahmen des Lebens hervorgehoben wird und gegenüber allen anderen Reizen dominiert. Hinweise sowohl auf Freude als auch auf Schmerz sorgen dafür, dass Dopamin im Nucleus accumbens umherjagt, um unsere Aufmerk samkeit zu erregen, damit wir handeln können, um zu überleben. Wer im Begriff ist, durch Drogenmissbrauch eine Abhängigkeit zu entwickeln, in dessen Gehirn verleitet die Überfrachtung mit Dopamin ihn zu glauben, es sei eine Frage von Leben oder Tod, der Droge Aufmerksamkeit zu schenken. „Drogen zapfen genau die Kernsysteme an, die evolutionsbedingt von entscheidender Bedeutung für die Frage des Überlebens sind“, sagt Robinson. „Sie aktivieren das System in einer Weise, wie es eigentlich nie vorgesehen war.“ Das National Institute on Drug Abuse definiert Abhängigkeit nunmehr als Zwang, der trotz negativer gesundheitlicher und sozialer Konsequenzen fortbesteht. Sehr viele Menschen nutzen oder missbrauchen Drogen, aber nur relativ wenige werden abhängig. Warum? Das Dopamin im Belohnungszentrum lässt zwar das anfängliche Interesse an einer Droge oder Verhaltensweise entstehen und liefert die Motivation, sie zu bekommen. Was die Abhängigkeit jedoch zu einem so überaus hartnäckigen Problem macht, sind die strukturellen Veränderungen, die sie im Gehirn verursacht. Wissenschaftler betrachten Abhängigkeit als eine chronische Krankheit, weil sie mit einer Erinnerung verdrahtet ist, die reflexives Verhalten auslöst. Im Gehirn treten die gleichen Veränderungen auf, egal, ob es bei der Abhängigkeit um Drogen oder Spielen oder Essen geht. Sobald die Belohnung die Aufmerksamkeit des Gehirns erregt hat, weist der präfrontale Cortex den Hippocampus an, sich an das Szenario und die Sinnesempfindungen in lebhaften Details zu erinnern. Wenn es das fettige Essen ist, dem Sie nicht widerstehen können, verbindet das Gehirn den Geruch von Brathähnchen mit 210 Die Biologie der Selbstkontrolle mobilisieren dem verführerisch duftenden Imbissstand an der Ecke. Solche Hin weise treten in den Vordergrund (Salienz) und werden mit einem Netz von Assoziationen verknüpft. Jedes Mal, wenn Sie also an dem Imbissstand vorbeikommen, werden die synaptischen Verbindun gen, die alles miteinander verknüpfen, verstärkt und nehmen zusätzlich neue Hinweise auf. So entstehen Gewohnheiten. Wenn wir etwas lernen, stabilisieren sich die Verbindungen in der Regel, und der Dopamin-Spiegel flaut mit der Zeit ab. Bei Abhängig keit, insbesondere bei Drogenabhängigkeit, überschwemmt Dopa min das System bei jeder Einnahme von Drogen, was die Erinnerung verstärkt und andere Reize weiter in den Hintergrund rücken lässt. Tierstudien zeigen, dass Drogen wie Kokain und Amphetamin die Dendriten im Nucleus accumbens wachsen und gedeihen lassen und somit ihre synaptischen Verbindungen erhöhen. Die Veränderungen können Monate, vielleicht sogar Jahre bestehen bleiben, nachdem die Drogen abgesetzt wurden. Dies erklärt, warum die Betroffenen so leicht rückfällig werden. Bei einer Abhängigkeit könnte man auch sagen, dass das Gehirn etwas zu gut gelernt hat. Diese Anpassungen führen zu einem Teufelskreis, bei dem die Basalganglien auf Autopilot gestellt werden, wann immer Sie Brathähnchen riechen, und zugleich kann sich der präfrontale Cortex bei dem, was Sie tun, partout nicht durchsetzen, auch wenn Sie es vielleicht besser wissen. Eine der Verantwortlichkeiten des präfrontalen Cortex ist, Risiko versus Belohnung einzuschätzen und zu entscheiden, ob ein Ver halten gehemmt werden soll, das Schaden verursachen kann. Bei Abhängigen geht es nicht so sehr darum, dass sie schlechte Entschei dungen treffen, sondern dass es ihnen nicht gelingt, ein Verhalten zu hemmen, das zum Reflex geworden ist. Aus Studien über Tiere und Menschen wissen wir, dass Kokain beispielsweise Nervenzellen im präfrontalen Cortex schädigt und sogar die graue Substanz reduziert. Und Untersuchungen von Aufnahmen des Gehirns haben in den letzten Jahren gezeigt, dass der präfrontale Cortex sich erst voll entwickelt, wenn wir weit in den Zwanzigern sind. Dies könnte erklären, warum die meisten Personen, die mit Drogen experimentieren und abhängig werden, dies als Teenager oder im frühen Erwachsenenalter tun, wenn diese Hemmung noch nicht voll entwickelt ist. „Sie haben schlussendlich ein hypersensibles System, das sich Drogen wünscht, 211 Kapitel 7: Abhängigkeit und sie treffen sehr schlechte Entscheidungen“, sagt Robinson. „Es ist die schlimmste von zwei möglichen Varianten.“ Wieder auf die Füße kommen Es gibt nichts, was die Entwicklung der Hemmung eines TeenagerGehirns so beschleunigt, wie wenn er vor einem Richter zu erscheinen hat. Rusty, einer meiner Patienten, wäre vielleicht als Drogen abhängiger geendet, aber die Aussicht auf drei Jahre im Gefängnis schreckte ihn dermaßen ab, dass er sein Verhalten änderte. Und die Routine sportlicher Aktivitäten, die er in dem Zuge entwickelte, ist der Grund, warum er heute wieder auf dem richtigen Weg ist. Ich begann Rusty im Sommer nach seinem zweiten Jahr auf der Highschool zu behandeln, wenige Monate, nachdem er wegen eines Suizidversuchs in eine Klinik eingewiesen worden war. Er fühlte sich einsam und ausgestoßen und hatte jede Menge heimlich gesammelter Pillen mit einem großen Glas Pfirsichschnapps geschluckt. In der Schule schnitt er bei schriftlichen Tests gut ab, hatte aber dennoch aufgrund verschiedener Defizite in seinen mündlichen Leistungen und anderen Bereichen schlechte Noten, und er konnte auf eine Reihe von Wutanfällen zurückblicken –, aber er hatte überhaupt keine Freunde. Mir war klar, dass er an einem Aufmerksamkeitsdefizit litt, in Kombination mit ziemlich schweren Symptomen einer sozialen Legasthenie, wie ich sie bezeichne, das heißt, er wusste nicht, wie er mit anderen reden oder im Gespräch entspannt oder flexibel sein konnte. Rustys Strategie cool zu sein und Freunde zu finden, bestand darin, sich ganz in Schwarz zu kleiden und Marihuana zu verkaufen, das er selbst züchtete. Ich verordnete ihm ein lang wirkendes Stimulans – ein Medika ment, das er nicht missbrauchen konnte – gegen ADHS. Er verbesserte seine Noten etwas und schnitt im Frühjahr seines dritten Jahres an der Highschool bei den Schuleignungstests sehr gut ab. Dennoch, wann immer er sich gelangweilt oder verloren fühlte, nahm er alles, was er in die Hände bekommen konnte, von Kokain bis hin zu Hustensaft. Als er in seinem dritten Highschool-Jahr eines 212 Die Biologie der Selbstkontrolle mobilisieren Nachmittags allein zu Hause war, verursachte eine Überdosis Kokain eine Panikattacke und er wählte den Notruf. Der Rettungswagen kam sofort – zusammen mit der Polizei, die in seinem Zimmer Drogen fand. Wegen des Besitzes und beabsichtigten Vertriebs von Drogen wurde er verhaftet und verbrachte die Nacht im Gefängnis. Ein Gerichtstermin wurde angesetzt, der vier Monate später stattfinden sollte. Rustys Anwalt und ich arbeiteten einen Behand lungsplan für ihn aus – er musste jede Woche zwei Drogentests machen und an einem Treffen der Anonymen Alkoholiker und der Anonymen Drogensüchtigen teilnehmen. Er wusste, zumindest bis zu seinem Erscheinen vor Gericht musste er clean bleiben. Es dauerte jedoch nicht lange, bis bei ihm ein heftiges Verlangen nach Ko kain einsetzte. Sein Anwalt erklärte ihm, er würde wahrscheinlich die Höchststrafe von drei Jahren Gefängnis bekommen, und Rusty wünschte sich verzweifelt Hilfe. Unsere vordringlichste Aufgabe war also zunächst, seinem heftigen Verlangen nach Kokain etwas entgegenzusetzen. Ich erklärte Rusty, dass sportliche Aktivitäten eine enorme Wirkung haben konnten. Er mochte jedoch weder Laufen noch sonstige Sportarten, und abgesehen von etwas Fußballspielen als Kind, war er im Grunde inaktiv. Ich war gerade von meinem ersten Besuch in Naperville zurückge kehrt und vielleicht lag es an der Art, wie er sich anzog, dass ich an ein Mädchen denken musste, das auch auf diesen Grufti-Stil stand und sich durch Dance Dance Revolution wirklich verwandelt hatte. Dabei handelt es sich um jenes interaktive Videospiel, bei dem der Spieler die Handlung auf dem Bildschirm kontrolliert, indem er auf einer Matte tanzt, die mit dem Bildschirm verbunden ist. Die Fußarbeit, die dazu erforderlich ist, ist schon beim Zuschauen anstrengend und ähnelt dem strapaziösen Drill, den Fußballspieler zu absolvieren haben, nur, dass das Spiel mit jeder Stufe schneller wird. Rusty willigte ein, es zu versuchen. Obwohl er sich am Anfang etwas unbeholfen fühlte, fing er doch an, es zu genießen. Es dämpfte seine Suchterscheinungen fast sofort, wie er sagte. Da er in jenem Sommer nicht viel zu tun hatte, außer sich zu sorgen, ob er im Gefängnis landen würde, nutzte er das Spiel, um sich zu beschäftigen und sich selbst „medizinisch zu behandeln“. Sich vor Langeweile zu schützen, ist von entscheidender Bedeutung, da jeder Leerlauf 213 Kapitel 7: Abhängigkeit oder jede Phase, in der man nichts mit sich anzufangen weiß, für jemanden, der gegen die Gewohnheit des Drogenkonsum kämpft, gefährlich ist. Rusty gelangte an den Punkt, dass er jeweils morgens und abends mehrere Stunden Dance Dance Revolution spielte. Ich sah, dass sein Energiepegel und sein Optimismus zunahmen. Ich schrieb einen Brief an den Richter und Rusty erhielt eine Bewährungsstrafe statt einer Haftstrafe, mit der Auflage, dass er sich weiterhin Drogentests unterzog, zu den Anonymen Drogensüchtigen und zur Beratung am College ging. Er nahm seine Dance Dance Revolution-Anlage mit und spielte weiterhin jeden Tag für eine gewisse Zeit. Dann schloss er sich einer Fußballmannschaft an der Highschool an und begann regelmäßig in die Turnhalle zu gehen. Sport war für Rusty ein Kanal, um seinen Fokus auf ein produktiveres Leben zu verlagern. Meines Erachtens sind sportliche Aktivitäten ein Weg, um Gefühle der Hoffnungslosigkeit und Nutz losigkeit zu bekämpfen, die viele Drogenkonsumenten haben, und dies war mit Sicherheit ein Punkt bei Rusty. Durch die Routine und die körperliche Aktivität wird das Gehirn in Anspruch genommen und der Geist bewegt sich in eine andere Richtung. Dadurch denkt er nicht mehr nur an die Droge, sodass die Basalganglien umprogrammiert und mit einem alternativen reflexiven Verhalten „verkabelt“ werden können. Viele ziehen sich einfach auf die Couch zurück und geben auf. Wenn man jedoch in Bewegung ist, so stärkt dies das Gefühl, dass man etwas erreichen kann. Der Arzt Gene-Jack Wang, einer der führenden Suchtforscher in den Vereinigten Staaten und Vorsitzender der Medizinischen Fakultät des Brookhaven National Laboratory, hat einen philosophischen An satz. „In der chinesischen Sprache ist das Subjekt ein Lebewesen, und ein Objekt ist eine Pflanze“, sagt er. „Man kann eine Pflanze nicht auf fordern, von hier nach dort zu springen. Wenn man sich nicht bewegt, ist man kein Lebewesen mehr – man wird zur Pflanze!“ Bei den Marathonläufern des Odyssey House ist dies mit Sicher heit ein Punkt. Aber selbst bei einem weniger schwer wiegenden Fall, wie bei Rusty, war es so, dass die Dance-Dance-Revolution-Übung die Trostlosigkeit aus seiner Sicht der Zukunft verjagt hatte. Auch wenn die meisten Erfahrungen im Vergleich zu dem Hochgefühl 214 Die Biologie der Selbstkontrolle mobilisieren beim Kokain-Schnupfen verblassen, kann die Aussicht auf ein reiches, mehrdimensionales Leben helfen, diese Erinnerung nicht aus den Augen zu verlieren. Inzwischen ist Rusty in seinem zweiten Jahr auf dem College. Er hat gute Noten und ist mit einem Mädchen zusammen, das ebenfalls fest entschlossen ist, clean zu bleiben. In seinem Studentenwohnheim hat er eine Führungsrolle übernommen, hat mit Bergsteigen angefangen und spielt auch weiterhin Fußball. Er hat sogar das Sporttauchen begonnen, eine Familienaktivität, die er in der Vergangenheit gemieden hatte. Nach einem kürzlichen Tauchurlaub erzählte er mir, dass es ihn immer wieder erstaunt zu sehen, wie reich und bunt das natürliche Leben sein kann. Süchtig nach einem Schuss Dopamin Was Rusty schließlich sieht, nämlich dass er ohne Drogen Freude finden kann, ist entscheidend, um dem Drang zu widerstehen. Wenn man mit Schwerstabhängigen spricht, bekommt man oft zu hören, dass sie den meisten Dingen gegenüber abgestumpft sind. Natürlich befriedigende Formen der Stimulation wie Liebe, Essen und soziale Interaktion verblassen angesichts der eindringlichen Erfahrung mit der Droge. Das normale Leben hat dies nicht zu bieten – und deshalb können sie es nicht fühlen. Bei manchen Personen ist dies einfach angeboren. Eine bahnbre chende Studie offenbarte 1990 beispielsweise, dass viele Alkoholiker eine Gen-Variation haben (D2R2-Allel), wodurch Dopamin-Rezep toren in ihrem Belohnungszentrum abgebaut und so der Spiegel dieses Neurotransmitters sinkt. Das Vorhandensein des D2R2Allels bedeutet zwar nicht unbedingt, dass Sie suchtkrank werden, aber die Wahrscheinlichkeit ist größer. Während 25 Prozent der allgemeinen Bevölkerung mit dieser Gen-Variation leben, haben Forscher sie in einer Studie mit Alkoholikern bei 70 Prozent der Teilnehmer nachgewiesen, die eine Zirrhose hatten – vermut lich also Schwerstabhängige, da sie trotz der lebensbedrohlichen Leberschädigung weiter tranken. Bei einer anschließenden Studie 215 Kapitel 7: Abhängigkeit über Kokainabhängige wurde das D2R2-Allel bei der Hälfte der Betroffenen nachgewiesen, und bei 80 Prozent derjenigen, die auch andere Drogen konsumierten, wurde es ebenfalls gefunden. Die Untersuchungsergebnisse von Spielern und krankhaft Übergew ich tigen erzählen eine ähnliche Geschichte: Bei etwa der Hälfte wurde die Gen-Variation nachgewiesen, aber wenn noch andere sucht artige Verhaltensweisen mit ins Spiel kamen, lag die „Trefferquote“ eher bei 80 Prozent. Forscher prägten für dieses Problem den Begriff „Belohnungsdefizitsyndrom“, und die Medien erklärten, Wissen schaftler hätten das „Alkoholiker-Gen“ gefunden. So einfach ist es leider nicht. Es steht jedoch außer Frage: Wenn das Belohnungszentrum nicht genügend Input erhält, sind Sie genetisch prädisponiert, ständig heftig nach etwas zu verlangen, unentwegt nach einer Möglichkeit zu suchen, um dieses Defizit zu kompensieren. Ein Belohnungsdefizit untergräbt auch das Aufmerksamkeitsund das Stresssystem: Wenn Dopamin aus dem Gleichgewicht gerät, kommt die Amygdala ins Spiel, weil sie denkt, das Überleben sei gefährdet, und dies verstärkt wiederum das Streben, das Gehirn zurück ins Gleichgewicht zu bringen. Dies erklärt auch, warum so viele Personen mit ADHS als „Stress-Junkies“ angesehen werden – das Cortisol erhöht den Dopamin-Spiegel schnell, sodass die Auf merksamkeit sich verbessert. Es ist verständlich, dass dieses nagende Gefühl – die Betroffenen sagen, sie fühlen sich innerlich hohl –, jemanden anfällig für suchtartige Verhaltensweisen macht, angefangen vom Drogenkonsum über das Verschlingen von Schokolade bis hin zum Spielen von Videospielen an 40 Stunden pro Woche. Aber nur weil Sie ein Belohnungsdefizitsyndrom haben, bedeutet dies nicht, dass Ihr Schicksal das Odyssey House ist. Es gibt Hun derte, wenn nicht Tausende von Faktoren, die eine Abhängigkeit beeinflussen, und der Trieb, etwas Neues und Aufregendes zu finden, kann ebenso gut dazu führen, dass Menschen kühne Forscher, bilderstürmerische Künstler oder selbstständige Unternehmer werden. Oder sie beschreiten Wege, wo es sehr geschätzt wird, sich über die Grenzen der Konventionen hinwegzusetzen und die Welt mit völlig anderen Augen zu sehen. Es überrascht sicher nicht, dass Sportler, die risikoreiche Sportar ten wie Fallschirmspringen betreiben, weniger Hemmung und eher 216 Die Biologie der Selbstkontrolle mobilisieren Verhaltensweisen zeigen, die von der Suche nach Nervenkitzel geprägt sind, als beispielsweise Ruderer. Eine Studie jüngeren Datums aus den Niederlanden zeigte auch, dass viele Fallschirmspringer, genau wie Schwerstabhängige, aus dem typischen Alltagsleben keine Freude beziehen. Sowohl bei Fallschirmspringern als auch bei Abhängigen ist die Erregungsschwelle höher als im Normalfall, aber ist dies die Ursache oder das Ergebnis des Dopamin fördernden Verhaltens? Andere Forschungen zeigen, dass Drogen wie Kokain die D2-Re zeptoren schädigen, jene Rezeptoren, an die der Neurotransmitter anbindet, um Salienz zu signalisieren. Wenn Sie Ihr Gehirn kontinuierlich mit Dopamin überfrachten, schrumpft die Anzahl der Rezeptoren. Das heißt, egal wie Ihr Gehirn zum Zeitpunkt Ihrer Geburt einmal aussah, je mehr Drogen Sie nehmen, desto mehr Drogen brauchen Sie auch, um den gleichen Rausch zu empfinden. Das Gleiche gilt für Personen, die übermäßig viel essen: „Sie brauchen mehr, mehr und immer mehr, damit sie sich gut fühlen“, sagt Gene-Jack Wang vom Brookhaven National Laboratory. Den Drang bekämpfen, die Gewohnheit abschütteln Eine 2004 in London veröffentlichte Studie zeigte, dass bereits eine zehnminütige sportliche Aktivität das heftige Verlangen eines Al koholikers abschwächen könnten. Die Forscher teilten 40 Klinik patienten, die gerade ein Entgiftungsprogramm hinter sich hatten, in zwei Gruppen ein: Eine Gruppe wurde angewiesen, mit mäßiger Intensität auf dem Heimtrainer Rad zu fahren, und die andere sollte das Gleiche mit leichter Intensität tun. Am nächsten Tag tauschten sie die Gruppen aus und stellten fest, dass intensive körperliche Bewegung den Drang nach einem Schluck erheblich reduzierte. Genau das erlebte auch meine Patientin Susan aus Kapitel 3, die ihr Sprungseil nutzte, um den stressbedingten Drang abzuwehren, mitten am Tag Wein zu trinken. 217 Kapitel 7: Abhängigkeit Die Biologie von Stress ist insofern mit der Abhängigkeit verknüpft, als dass der Körper bei Entzug auf den Überlebensmodus umschaltet. Wenn Sie zum Beispiel plötzlich mit dem Trinken aufhören, drehen Sie das Dopamin-Ventil zu, und die HPA-Achse (Hypothalamus über die Hirnanhangdrüse zur Nebenniere) gerät aus dem Gleichgewicht. Die starken Entzugsbeschwerden dauern nur wenige Tage an, Ihr System bleibt jedoch wesentlich länger sensibel. Wenn Sie in diesem prekären Zustand sind und unter zusätzlichen Stress geraten, interpretiert Ihr Gehirn die Situation als Notfall und lässt Sie nach Alkohol suchen. Das ist der Grund, warum ein Problem bei der Arbeit oder ein Streit mit einem Freund einen Rückfall verursachen kann. Für jemanden, der drogenabhängig (gewesen) ist und sein Dopamin-System verändert hat, ist die effektivste Lösung für eine stressige Situation – und die Einzige, die er kennt – die Droge. Bewegung ist jedoch eine weitere Lösung. Bei Rauchern können bereits fünf Minuten intensive sportliche Aktivität nutzbringend sein. Nikotin fällt bei den suchterzeugenden Substanzen insofern aus dem Rahmen, als dass es gleichzeitig sowohl anregend als auch entspannend wirkt. Sportliche Aktivität bekämpft den Drang zu rauchen, da sie nicht nur den DopaminSpiegel leicht erhöht, sondern auch Ängste, Spannungen und den Stresspegel reduziert – die Gereiztheit, die Personen so grantig sein lässt, wenn sie versuchen, mit dem Rauchen aufzuhören. Sportliche Aktivitäten können Suchterscheinungen für 50 Minuten abwehren und den Abstand bis zur nächsten Zigarette verdoppeln oder verdreifachen. Und hier kommt der Umstand ins Spiel, dass körperliche Bewegung das Denken schärft, da zu den Entzugssymptomen von Nikotin eine Beeinträchtigung des Konzentrationsvermögens gehört. Als Beleg dafür stellte eine Studie fest, dass es an dem jährlich in den USA ausgerufenen Nichtrauchertag („Great American Smokeout“) mehr Arbeitsunfälle gibt als an jedem anderen Tag des Jahres. Viele meiner ADHS-Patienten nutzen Zigaretten als Mittel, das ihnen hilft, sich zu konzentrieren, wenn sie eine wichtigere Aufgabe vor sich haben, und ohne Nikotin fühlen sie sich verloren. Manche Drogen lassen das Gehirn natürlich zunächst einmal abstumpfen. Im Rahmen einer neuen Studie von iranischen Forschern wurde kürzlich untersucht, welche Auswirkungen körperliche 218 Die Biologie der Selbstkontrolle mobilisieren Bewegung bei Ratten hat, denen Morphium verabreicht wurde. Sie gingen dabei von der Hypothese aus, dass körperliche Bewegung, da sie den Dopamin-Spiegel und die Plastizität in denselben Hirn regionen beeinflusst, die bei Abhängigkeit und Lernen involviert sind, vielleicht dem Gedächtnisverlust entgegenwirken würde, der mit dem High-Sein einhergeht. Die Wissenschaftler konditionierten die Ratten, indem sie sie in eine dunkle Kiste steckten, in der ihre Füße durch den Boden Stromstöße erhielten. Dann führten sie Nachfolgetests durch, um zu messen, wie lange die Ratten brauchten, um zu einer anderen Kiste zu gehen, die harmlos, aber hell erleuchtet war (Nagetiere bevorzugen die Dunkelheit). Die Ratten wurden in vier Gruppen unterteilt: Eine Gruppe lief auf einem Laufband und erhielt vor jedem Versuch eine Morphium gabe; eine andere lief ebenfalls auf dem Laufband und erhielt eine salzhaltige Placebo-Injektion; eine weitere erhielt Morphium, musste sich jedoch nicht körperlich betätigen; und eine Kontrollgruppe erhielt weder eine Injektion noch bewegte sie sich. Die Ratten der beiden Gruppen, die sich körperlich betätigten, erinnerten sich, dass die dunkle Kiste böse Überraschungen bereithielt: Sie zögerten am längsten, sie zu betreten, und verließen sie am schnellsten, wenn sie die Stromstöße erhielten. Erstaunlich war, dass die Gruppe, die sich sowohl körperlich betätigte als auch Morphium erhielt, besser ab schnitt als die Kontrollgruppe, was darauf hinweist, dass die körper liche Betätigung die den Geist abstumpfenden Effekte der Droge kompensierte. In derselben Studie stellten die Forscher fest, dass die körperliche Betätigung in der Gruppe, die sich sowohl bewegte als auch Morphium erhielt, die Entzugssymptome drastisch reduzierte, wenn die Droge abgesetzt wurde – bei Ratten zeigt sich der Entzug in der Form, dass sie sich wie ein nasser Hund schütteln, sich um die eigene Achse drehen, sich winden und Durchfall bekommen. Diese Tatsache allein sollte genügen, um einen genesenden Abhängigen zu überzeugen, sich die Laufschuhe anzuziehen, und sie untermauert wissenschaftlich den Behandlungsansatz des Odyssey House. 219 Kapitel 7: Abhängigkeit Das Märchen von der Abhängigkeit Ich habe im Laufe der Jahre viele Personen mit dem Belohnungsdefi zitsyndrom gesehen. Das dramatischste Beispiel ist eine Holländerin, die ich Zoe nenne, die an schwerem ADHS leidet und eine turbulente Geschichte von Depression, Aggression und Drogenmissbrauch unterschiedlichster Art hat. Anzumerken ist vor allem, dass sie 20 Jahre lang chronische Marihuana-Raucherin und der Überzeugung war, dass die Selbstmedikation der einzige Weg für sie sein konnte, ruhig und konzentriert zu sein. In Wirklichkeit versuchte sie, die Frustration und Wut aus ihrem Leben zu verbannen. Als Kind, erzählte Zoe mir, sei sie streitsüchtig gewesen und habe gravierende Lernprobleme gehabt. Inzwischen ist sie 40 und immer noch anfällig für Wutanfälle und Ängste. Einmal, als sie für einen Besuch nach Boston fliegen wollte, hatte sie in eine Panikattacke und zwang das Flugzeug, nach Amsterdam zurückzukehren. Zoe brauchte 13 Jahre, um das College zu absolvieren, was selbst für ihr Fach, die Veterinärmedizin, sehr lang war. Dies lag zum Teil auch daran, dass bei ihr erst im Alter von 27 Jahren ADHS diagnostiziert wurde. Ihr wurde Ritalin verschrieben, erst musste sie jedoch noch in eine Entzugsklinik gehen, um von dem Marihuana wegzukommen. „Ich rauchte zehn bis 20 Joints am Tag“, erinnert sie sich. „Als ich dort war, fühlte ich mich wie ein wildes Tier in einem Käfig.“ Etwa ein Jahr lang hörte sie auf, Marihuana zu rauchen, wurde dann jedoch wieder rückfällig und fiel bald in ihre alte Gewohnheit zurück und war den ganzen Tag über high (während sie auch Ritalin und Antidepressiva nahm). Obwohl sie in ihrem Beruf eine gute Stelle in einer hohen Position fand, hing sie in den ersten zehn Jahren nach dem College durch und hörte in vielerlei Hinsicht auf, sich weiter zu entwickeln. Da sie ständig so getrieben davon war, eine sofortige Belohnung zu finden, setzte sie sich keine Ziele und entwickelte keine Strategien, um im Leben vorwärtszukommen. Sie klagte oft, dass sie das Gefühl habe, das Leben sei nicht lebenswert. Marihuana zu rauchen, sagt sie, hielt sie davon ab, über die Tatsache nachzudenken, dass sie eigentlich unglücklich und unzufrieden war. 220 Die Biologie der Selbstkontrolle mobilisieren Sie hatte immer sporadisch Sport getrieben – Radfahren, Segeln und Reiten. Ich sprach jedoch das Thema an, dass es gut wäre, regelmäßig etwas zu tun. Ich appellierte an ihre medizinischen Kenntnisse und erklärte, wie sportliche Aktivitäten ihre Hirnchemie verändern und die Verbindungen neu verdrahten konnten, die ihre Stimmung, Aggression und Aufmerksamkeit sowie ihre Sucht kontrollierten. Nachdem sie einige der Studien gelesen hatte, über die ich in diesem Buch schreibe, nahm sie sich fest vor, täglich Sport zu treiben, und sie gab ihr Marihuana-Rauchen erneut auf. „Es gab keine Alternative“, sagt sie. „Ich musste etwas tun.“ Was sie machte, war sich einen Indoor-Radtrainer von der Sorte zu besorgen, wie Radsportler ihn nutzen, um ihr Gleichgewicht und ihre Ausdauer zu verbessern – während man in die Pedale tritt, laufen die Räder auf freidrehenden Rollen, sodass man sich der Mög lichkeit nur zu bewusst ist, dass man abrutschen und quer durch den Raum segeln kann. Ich bin nicht sicher, wie Zoe mit dieser höchst anspruchsvollen Form sportlicher Aktivität zurechtkam, aber sie funktionierte in jedem Fall ausgesprochen gut. Durch das Gleich gewicht und die Präzision, die erforderlich sind, um auf den Rollen zu bleiben, wird das ganze Aufmerksamkeitssystem in Anspruch genommen, von den motorischen Zentren des Kleinhirns und der Basalganglien bis hin zum Belohnungszentrum und zum präfrontalen Cortex. „Zuerst hasste ich es, weil man damit nicht vom Fleck kommt“, sagt sie. „Aber jetzt bin ich sehr geschickt darin, und ich spüre den nutzbringenden Effekt, weil ich mich dabei konzentrieren muss und mich auch sportlich betätige. Es ist aufregend, weil man natürlich nicht herunterfallen möchte.“ Als ob es für sie noch nicht schwierig genug gewesen wäre, sich das Marihuana-Rauchen abzugewöhnen, verließ ihr Mann sie auch noch, als sie mitten in ihren Abgewöhnungskämpfen steckte, und das unmittelbar vor Weihnachten. Ich machte mir Sorgen um sie und sie sich selbst auch. „Im Winter wird es in Holland kalt und sehr dunkel“, schrieb sie in einer E-Mail. „Ich hatte solche Angst, dass ich wieder eine Depression bekommen und mit dem Marihuana anfangen würde, aber ich bin weder rückfällig noch depressiv geworden. Die Veränderung kommt durch den Unterschied, sich wie ein Verlierer (Rauchen) oder wie ein Gewinner (Sport) zu fühlen.“ 221 Kapitel 7: Abhängigkeit Zoes Genesung ist anstrengend, wie bei jedem Langzeit-Drogenkon sumenten. Aber sie ist mit Sicherheit auf dem richtigen Weg. Sie hält mich regelmäßig auf dem Laufenden, was ihre Versuche angeht, ihren eigenen Streckenrekord auf dem Radtrainer zu brechen, und sie hat auch mit dem Seilspringen angefangen. Hier ist ein Schnipsel aus ihren für gewöhnlich sehr lebendigen Mitteilungen: „Ich bin gerade zehn Minuten Seil gesprungen, Herzfrequenz 140, anstrengend, aber ich musste es tun. Es tut so GUT, weil man sich nach zehn Minuten so fühlt wie nach einer halben Stunde Radfahren! Vielleicht mache ich damit weiter – es ist eine SCHNELLE BELOHNUNG!!! Es ist der Sport, nach dem ich heute süchtig bin.“ Ein natürliches Hochgefühl Mancher würde sicher gerne darüber diskutieren, ob Zoe überhaupt süchtig nach Marihuana war, in jedem Fall steht jedoch fest, dass sie abhängig davon war. Sie hatte alle Anzeichen einer chemischen Abhängigkeit, einschließlich der physischen und psychischen entzugsbedingten Gereiztheit. Aus Studien über Ratten geht hervor, dass sie sich an eine ständig verabreichte Dosis Tetrahydrocannabinol (THC), den aktiven Wirk stoff in Marihuana, gewöhnen. Wenn er ihnen dann wieder entzogen wird, überschwemmt das Gehirn das System mit dem Corticotro pin-freisetzenden Faktor (CRF), der die Amygdala und somit das ganze Stresssystem aktiviert. Die Folgen äußern sich in Form von Schütteln, Zittern und unruhigen, nervösen Bewegungen, die etwa 48 Stunden nach der letzten Dosis ihren Höhepunkt erreichen. Zoe fühlte sich wie eine Ratte im Käfig, als sie den Entzug durchmachte: Neben den physischen Symptomen bewirkte das Abschal ten des Dopamin-Systems, dass sie unter starken Gefühlen der De pression und Angst zu leiden hatte. Sportliche Aktivitäten schwächen die Entzugssymptome ab, indem sie die Amygdala beruhigen und den Dopamin-Spiegel erhöhen. Unabhängig davon, ob es so etwas wie eine Marihuana-Abhän gigkeit gibt, haben Untersuchungen über die Wirkung von THC auf 222 Die Biologie der Selbstkontrolle mobilisieren das Gehirn jedenfalls neue Hinweise geliefert, wie sportliche Akti vitäten Abhängigkeiten jedweder Art entgegenwirken. Das Gefühl, das sich oft nach der Aktivität einstellt, kann zunächst einmal als harmloser Ersatz für das Drogen-High dienen. In einer kürzlich im British Journal of Sports Medicine veröffentlichten Studie schrieb der Forscher Arne Dietrich, dass die Art und Weise, wie das „Run ner’s High“ von Läufern beschrieben wird, „vergleichbar sei mit den Schilderungen einer verzerrten Wahrnehmung, atypischer Gedan kenmuster, eines getrübten Bewusstseins von der eigenen Umge bung, eines verstärkten introspektiven Verständnisses des eigenen Identitätsgef ühls und eines psychischen Status von Personen, die Drogen- oder Trance-Zustände beschreiben.“ Mit dem „Runner’s High“ beschäftigen wir uns seit drei Jahr zehnten, und in den letzten Jahren haben wir den Fokus über die Endorphine hinaus erweitert, wonach nunmehr auch Endocanna binoide, eine Klasse von Neurotransmittern, in den Mittelpunkt des Interesses gerückt sind. Das Verhältnis zwischen Endocannabinoi den und THC ist verg leichbar mit dem zwischen Endorphinen und Morphium. Es handelt sich dabei um Substanzen, die im Körper produziert werden und den gleichen Effekt wie eine Droge hervorrufen. Gleichermaßen dämpfen beide Schmerzen. Anfang der 1990er-Jahre haben Wissenschaftler die Endocanna binoide entdeckt, nachdem sie festgestellt hatten, dass THC an spezialisierte Rezeptoren im Gehirn anbindet. Diese Rezeptoren wurden im Zuge der Evolution ganz offensichtlich nicht dafür entwickelt, um Marihuana zu rauchen, sodass es eine natürliche Substanz geben musste, die der Körper für sie produziert. Was sie fanden, waren die Neurotransmitter Anandamid und 2-Arachidonylethanolamid (2-AG). Wie sich herausstellte, werden die gleichen Rezeptoren im Gehirn durch Marihuana, körperliche Aktivitäten und Schokolade aktiviert. Diese beiden Endocannabinoide werden im Körper und im Gehirn produziert, wenn wir uns sportlich betätigen. Sie werden über das Blut transportiert und gelangen so zu den Rezeptoren im Rückenmark, die sie aktivieren. Die Folge ist, dass Schmerzsignale blockiert werden und so verhindert wird, dass diese zum Gehirn gelangen (ähnlich wie bei Morphium). Sie sind auch im gesamten Belohnungssystem und 223 Kapitel 7: Abhängigkeit im präfrontalen Cortex zu finden, wo sie direkten Einfluss auf Dopa min haben. Wenn die Endocannabinoid-Rezeptoren stark aktiviert werden, produzieren sie all die euphorischen Gefühle, die Marihuana hervorruft, und zusammen mit Endorphinen wirken sie wie ein extra starkes, körpereigenes Aspirin. Ärzte beginnen inzwischen, Anandamid zur Behandlung von Schmerzsyndromen zu verwenden, wie chronische Müdigkeit und Fibromyalgie; eine Reihe von Studien hat gezeigt, dass eine allmäh liche Erhöhung sportlicher Aktivitäten den Schmerz und die Müdig keit lindern können, die mit diesen Syndromen einhergehen. Die Verbindung zwischen sportlichen Aktivitäten und diesen natürlichen Schmerzmitteln ist absolut einleuchtend: Sie wurden im Zuge der Evolution entwickelt, um uns zu helfen, mit dem unausweichlichen Schmerz der Muskel- und Gelenkbelastungen bei der Jagd fertig zu werden. Im Gegensatz zu Endorphinen können Endocannabinoide die Blut-Hirn-Schranke problemlos überqueren, wodurch sie für manche Forscher eine plausiblere Erklärung für das „Runner’s High“ sind. 2003 wies eine Forschergruppe unter der Leitung des Psychologen Philip Sparling von der Georgia Tech University zum ersten Mal nach, dass sportliche Aktivitäten das Endocannabinoid-System aktivieren. Bei körperlich fitten, männlichen College-Studenten, die entweder 50 Minuten bei 70 bis 80 Prozent ihrer maximalen Herz frequenz auf Laufbändern liefen oder auf Heimtrainern Rad fuhren, maßen die Forscher, wie die körperliche Anstrengung den Blutspiegel von Anandamid beeinflusste. Das Ergebnis? Die Anandomid-Werte verdoppelten sich nahezu. Es ist schwierig, das „Runner’s High“ selbst zu untersuchen, da es so unvorhersehbar ist. Nicht einmal Marathonläufer erleben das Gefühl jedes Mal, wenn sie trainieren. Und warum gibt es dann nicht auch so etwas wie ein Schwimmer-High? Eine faszinierende Theorie geht von der relativ neuen Erkenntnis aus, dass es EndocannabinoidRezeptoren in der Haut gibt, die vielleicht nur durch das heftige Auftreten und die Erschütterungen beim Laufen aktiviert werden. Ungeachtet dessen, ob jenes leichte Delirium des „Runner’s High“ eintritt, besagt Sparlings Arbeit klar, dass der Anstieg des Ananda mid-Spiegels zumindest ein Grund ist, warum wir uns nach einer 224 Die Biologie der Selbstkontrolle mobilisieren mäßig intensiven sportlichen Aktivität entspannt und zufrieden fühlen. Die Wissenschaftler diskutieren allerdings noch, ob auch Endorphine mit im Spiel sind; und es sieht so aus, als ob es sich bei dem Gesamteffekt wahrscheinlich um eine Kombination dieser Faktoren handelt. Süchtig nach dem guten Zeug Wenn sportliche Aktivitäten die gleiche Wirkung wie bestimmte Drogen im Gehirn haben, fragen Sie sich vielleicht, ob sie auch süchtig machen können. Diese Frage wird mir immer wieder gestellt, und die Antwort ist kurz und knapp: Ja. Aber deswegen müssen Sie sich keine Sorgen machen. Wissenschaftler haben die Sucht nach körperlicher Bewegung bei Ratten untersucht und festgestellt, dass sie etwa zehn Kilometer am Tag zurücklegen und sich schließlich zu Tode laufen, wenn sie unein geschränkten Zugang zu einem Laufrad haben und nur eine Stunde am Tag Futter bekommen. Sie lernen nicht, dass sie ihre ganze Nah rung während der einstündigen Fütterung aufnehmen müssen. Je mehr sie laufen, desto weniger essen sie, und ihre Kalorienaufnahme bleibt hinter dem Verbrauch durch ihre Leistung zurück. Das Laufen macht sie genauso süchtig wie dies beispielsweise bei Kokain der Fall wäre. Seltsamerweise funktioniert das Experiment nicht, wenn das Laufrad durch ein Laufband ersetzt wird; vielleicht hat das „immerzu-der-nächsten-Sprosse-hinterjagen“ etwas, was die Ratten süch tig macht. Wie auch immer, das Laufrad ist jedenfalls eine perfekte Metapher für Sucht. Die Gefahr, von sportlichen Aktivitäten abhängig zu werden, betrifft einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung, vor allem Mädchen mit Magersucht oder Personen mit einer Körperdysmorphen Störung (KDS), einer psychischen Störung, bei der eine übermäßige Beschäf tigung mit einem vermeintlichen Makel im Aussehen vorliegt. Sie essen zunehmend weniger, und wenn sie sich dann sportlich betätigen, setzt bei ihnen ein Gefühl der Benommenheit und Erregtheit ein, ein High, das den Teufelsk reis weiter verstärkt. Für eine kurze Zeit 225 Kapitel 7: Abhängigkeit fühlen sie sich großartig, und sie glauben, auf dem besten Weg zu sein, bald toll auszusehen. Mit ihrem Ansatz werden sie dies jedoch nie erreichen. Für die überwiegende Mehrzahl der Bevölkerung ist diese Falle jedoch keine große Gefahr. Selbst wenn Sport zur Sucht wird – wie es beispielsweise bei Zoe der Fall sein könnte –, braucht man sich keine großen Sorgen zu machen. Ich könnte mir kein besseres Beispiel für jemanden mit einer Sportabhängigkeit vorstellen als den Ultra-Marathonläufer Dean Karnazes, den 44-jährigen Kalifornier, der wegen seiner unvorstellbaren Leistung, an 50 Tagen 50 Marathons (in 50 verschiedenen Bundesstaaten) zu laufen, in US-amerikanischen Fernsehsendungen wie 60 Minutes und The Tonight Show aufgetreten und auf der Titel seite zahlloser Zeitschriften erschienen ist. Er lief auch mehr als 560 Kilometer ohne anzuhalten. Kaum weniger beeindruckend für mich ist, dass in den letzten 15 Jahren der längste Zeitraum, in dem er keinen Sport getrieben hat, drei Tage waren. „Ich hatte die Grippe“, erinnert sich Karnazes. „Ich war immer noch krank. Aber dann sagte ich schließlich: Scheiß drauf, ich muss einfach einen Lauf machen.“ Anfängern sei gesagt, dass seine Leistungsfähigkeit etwas über die ausgezeichnete Stärke seines Immunsystems aussagt. Karnazes saß an seinem 30. Geburtstag betrunken in einer Bar, als er beschloss, in seinem Leben etwas zu ändern – und zwar sofort. Er stolperte nach Hause, schnappte sich seine alten Laufschuhe und lief rund 50 Kilometer in der Nacht. Er war kein Alkoholiker und hatte nie etwas mit Drogen zu tun. Aber dennoch bleibt die Frage: Hat dieser Mann ein Problem? „Zehn bis zwanzig Prozent der Zeit denke ich, dass das Laufen eine Sucht ist“, sagt er. „Wonach ich mich wirklich sehne, ist das Glücks- oder Sattheitsgefühl, das ich nach einem Lauf bekomme. Es gibt mir das Gefühl, ganz und vollständig zu sein. Am meisten denke ich daran, wenn ich keinen Sport treiben kann. Wenn ich im Auto, Zug oder Flugzeug unterwegs bin oder den ganzen Tag in Besprechungen sitze, spüre ich, wie es an mir zerrt. Ich frage mich: Warum implodiere ich gleich? Ich will raus aus meiner Haut hier. Dann wird mir klar, dass mein Körper sich bewegen muss. Es ist fast ein Gefühl, wie in der Falle zu sitzen.“ Für Karnazes gibt es keine typische Woche. Aber er sagt, dass er durchschnittlich 110 bis 140 Kilometer läuft, etwa drei bis vier 226 Die Biologie der Selbstkontrolle mobilisieren Stunden täglich. Mit anderen Worten, er bewegt sich an nur einem Tag mehr als die meisten US-Amerikaner in einer Woche. Dies erschreckt die Leute. Von Karnazes könnte man leicht das Bild eines Monstrums zeichnen, und viele haben das getan. Wenn man sich jedoch mit ihm unterhält, hat man den Eindruck, dass er trotz des immensen Zeitaufwandes, den das Training verlangt, ein ausgeglichenes Leben führt. Er war mehr als zehn Jahre bei einigen der 500 größten Unternehmen des Landes angestellt, die jährlich von der Zeitschrift Fortune vorgestellt werden, und wurde dann Präsident eines Naturkost-Unternehmens, wobei er diesen Job vor einiger Zeit jedoch an den Nagel gehängt hat, um Profisportler und Autor zu werden (sein Buch Ultramarathon Man. Aus dem Leben eines 24-Stunden-Läufers ist ein Bestseller). Er hat zwei Kinder im Alter von elf und neun Jahren, die er meistens abends zu Bett bringt und jeden Tag zur Schule fährt und wieder abholt. In der Regel steht er etwa um drei Uhr nachts auf, nachdem er vier oder fünf Stunden geschlafen hat, um sein Training zu absolvieren, bevor er die Kinder zur Schule bringt. „Ich habe mein Leben um das Laufen herum so eingerichtet, dass ich dieses Aktivitätsniveau halten kann“, sagt Karnazes. „Vielleicht ist es eine Sucht – ich weiß es nicht; ich habe nie eine Psychoanalyse gemacht. Ich höre einfach auf das, was mein Kopf und mein Körper mir sagen. Ich spritze mir nichts in die Venen und springe auch nicht jeden Abend nach der Arbeit in der Bar vorbei. Sport ist die ultimative Droge, oder? Welche Droge funktioniert schon immer und hat keine ungesunden Nebenwirkungen?“ Die Leere füllen Meine Patienten Rusty und Zoe sind inspirierende Beispiele von Personen, die Sucht durch körperliche Aktivität ersetzt und einem Übungsprogramm in ihrem Leben einen festen Platz eingeräumt haben, das eine gesunde Alternative zu der Vollzeitjagd nach Drogen ist. Das Gehirn des Abhängigen passt sich, wie gesagt, auf jeder Stufe so an, dass sich die ganze Aufmerksamkeit und Mühe darauf 227 Kapitel 7: Abhängigkeit konzentriert, die Belohnung zu bekommen. Das Gehirn funktioniert immer gleich, ob es um die Sucht nach Alkohol, Drogen, Essen, Spielen oder einer anderen Substanz oder um ein anderes Verhalten geht. Je weiter die Sucht fortschreitet, um so weniger Raum bleibt für irgendetwas anderes im Leben. Was bleibt, wenn ein Abhängiger sein Suchtverhalten aufgibt, ist Leere. In dieser Hinsicht ist der Umgang mit Abhängigkeit vergleichbar mit der Bekämpfung von Ängsten und Depressionen: Die Sucht aufzugeben, ist nur der erste Schritt. Sobald die Sucht oder die negativen Emotionen verschwunden sind, muss die Leere mit einem positiven Verhalten gefüllt werden, damit die Veränderung Wurzeln schlagen kann. Dazu gibt es kaum eine bessere Option als körperliche Bewegung. Nicht zuletzt ist es genau das, was wir von Natur aus tun sollen – uns in der Welt zu bewegen. Die Tatsache, dass körperliche Bewegung Ängsten und Depres sionen direkt entgegenwirkt, kann gewaltigen Einfluss auf jede Form der Abhängigkeit haben, da beide Stimmungszustände eine Behandlung untergraben. Ein Abhängiger, der seine Sucht aufgegeben hat und versucht, wieder auf die Beine zu kommen, sich dabei aber ängstlich oder hoffnungslos fühlt, läuft eher Gefahr, in seiner Entschlossenheit und Fähigkeit, damit aufzuhören, rückfällig zu werden. Personen sind impulsiver, wenn sie sich elend fühlen. Sowohl Krafttraining als auch aerobe Übungen reduzieren Symp tome der Depression bei Alkoholikern und Rauchern, die ihre Sucht aufgegeben haben. Und, wie ich in Kapitel 3 aufgezeigt habe, je fitter Sie sind, desto widerstandsfähiger sind Sie. Wenn Sie flexibel im Umgang mit Stress sind, ist es unwahrscheinlicher, dass Sie nach einer Flasche Likör oder einem Beutel Chips oder einer Packung Zigaretten greifen. Das Stresssystem unter Kontrolle zu halten, ist im praktischen Sinne auch wichtig, um die physischen Symptome des Entzugs zu verbessern, um diese ersten albtraumähnlichen Tage zu überstehen. Körperliche Bewegung wirkt auch den direkteren toxischen Effek ten der Abhängigkeit auf das Gehirn entgegen. Forscher, die das fötale Alkoholsyndrom untersucht haben, haben beispielsweise gezeigt, dass die Entstehung neuer Hirnzellen im Hippocampus drastisch reduziert wird, wenn ungeborene Ratten einem hohen Alkoholpegel 228 Die Biologie der Selbstkontrolle mobilisieren ausgesetzt werden. Ebenso wird die Langzeit-Potenzierung (LTP) zum Erliegen gebracht, der zellulare Mechanismus des Lernens und der Erinnerung. Studien über erwachsene Ratten, die vor der Ge burt Alkohol ausgesetzt wurden, weisen darauf hin, dass diese Lern schwierigkeiten haben. Die spannende Nachricht an dieser Front ist, dass sowohl körperliche Bewegung als auch Alkoholabstinenz die Schädigung nicht nur stoppen, sondern auch umkehren – und so die Neurogenese erhöhen und den Hippocampus erwachsener Ratten wieder wachsen lassen. Das Gleiche gilt sogar für ungeborene Ratten, wenn bei ihren Müttern das Ethanol abgesetzt und ihnen die Möglichkeit gegeben wird, zu laufen. Bei Menschen haben Forscher vor einiger Zeit nachgewiesen, dass bei Abstinenz ein Teil der neuronalen Schädigung, die durch die pränatale Exposition gegenüber Alkohol verursacht wurde, wieder rückgängig gemacht wird, und wir wissen bereits, dass sportliche Betätigung das Gehirn des Alkoholikers durch eine Erhöhung der Neurogenese wieder aufbaut. Eine der Verbindungen, die ich hier sehe, ist jene zwischen Lernen und mentaler Stärke insgesamt. Wenn das Gehirn flexibel ist, ist der Geist stärker, und damit kommen wir zu einem Konzept, das als Selbstw irksamkeit bezeichnet wird. Selbstwirksamkeit ist schwierig zu messen, aber sie hängt mit dem Vertrauen in unsere Fähigkeit zusammen, uns selbst zu verändern. Bei den meisten Abhängigen ist es so, dass sie plötzlich das Gefühl haben, nichts mehr im Griff zu haben, geschweige denn ihre Selbstkontrolle über ihre Abhängigkeit, wenn sie aufhören, darüber nachzudenken, wie sie ihr Leben zerstören. Körperliche Bewegung kann indes starken Einfluss darauf haben, wie ein Abhängiger sich in Bezug auf sich selbst fühlt. Wenn er etwas Neues hat, wie etwa sportliche Aktivitäten, wonach er strebt, was Arbeit und Engagement verlangt, und er schafft es, dies umzusetzen und beharrlich durchzuziehen, dann greift dieses Gefühl der Selbstkontrolle auch auf andere Lebensbereiche über. Eine Gruppe australischer Forscher brachte diese These unlängst auf den Prüfstand. Bei 24 Studenten, die als Versuchspersonen dien ten, maßen sie den Effekt eines zweimonatigen sportlichen Aktiv i tätsprogramms auf die Selbstregulierung – hierbei handelt es sich um eine etwas andere Beschreibung der Selbstwirksamkeit. Die 229 Kapitel 7: Abhängigkeit Studenten mussten alle zwei Wochen zwei psychologische Tests absolvieren und führten Tagebuch über ihre täglichen Gewohnheiten. Die Ergebnisse der Studie, die 2006 im British Journal of Health and Psychology veröffentlicht wurden, waren tief greifend. Abgesehen vom besseren Abschneiden bei den beiden Tests, bei denen die intellektuelle Hemmung (Kontrolle) gemessen wurde, berichteten die Teilnehmer, dass eine ganze Reihe von Verhaltensweisen, die mit der Selbstregulierung zusammenhingen, sich zum Besseren gewendet hatten. Sie erhöhten nicht nur stetig ihre Besuche im Fitnessraum, sie berichteten auch, dass sie weniger rauchten, weniger Koffein und Alkohol tranken, gesünderes Essen und weniger minderwertige Fertigkost zu sich nahmen, impulsive und übermäßige Geldausga ben drosselten und weniger häufig die Beherrschung verloren. Sie schoben weniger Dinge auf die lange Bank und hielten mehr Ver abredungen und Termine ein. Und sie ließen das Geschirr nicht im Spülbecken stehen – na ja, wenigstens nicht mehr so oft. Die Forscher charakterisierten die Selbstregulierung als eine Res source, die wie ein Muskel dezimiert, aber auch wieder aufgeladen werden kann. Je mehr man diese Ressource gebraucht, desto stärker wird sie. Und körperliche Bewegung ist mit Abstand die beste Form der Selbstregulierung, die wir haben. Die Kontrolle wiedergewinnen Ich würde Ihnen nicht vorschlagen, sich das Trainingsprogramm von Dean Karnazes zum Vorbild zu nehmen. Wenn Sie jedoch eine Neigung zu suchtähnlichem Verhalten haben, ist es wichtig, irgendeine Form von beständiger sportlicher Gewohnheit zu entwickeln. Wie viel sportliche Aktivität Sie brauchen, hängt natürlich davon ab, wie ernsthaft Ihr Suchtverhalten ist. Ich würde jedoch sagen, 30 Minuten anstrengende aerobe Übungen an fünf Tagen pro Woche sind das nackte Minimum, wenn Sie eine Abhängigkeit besiegen möchten. Am Anfang ist es jedoch am besten, wenn Sie jeden Tag etwas tun können, da die sportliche Aktivität dafür sorgt, 230 Die Biologie der Selbstkontrolle mobilisieren dass Sie beschäftigt sind und sich auf etwas Positives konzentrieren. Ich kenne sehr viele Menschen, die, wenn sie ihre Arbeit verlieren, sich in Suchtverhalten vergraben. Das heißt, wenn Sie arbeitslos sind, ist es von entscheidender Bedeutung, dass Sie stattdessen Ihr Übungsprogramm haben. Ich empfehle zwar oft, sich morgens sportlich zu betätigen, sofern es jedoch Ihr Ziel ist, mit einer Gewohnheit zu brechen, wie etwa jeden Abend etwas zu trinken, wenn Sie nach Hause kommen, dann ist das Übungsprogramm am Abend wahrscheinlich die bessere Strategie. Sie können den aeroben „Schuss“ für eine Art Rausch nutzen. Gleichzeitig müssen Sie darauf achten, nicht zu übertreiben und etwas zu finden, das Sie auch langfristig beibehalten können. Die Pa tienten, von denen ich Ihnen erzählt habe, haben alle die Erfahrung gemacht, dass aerobe Übungen eine starke Belohnung liefern, und sie konnten jenes Gefühl der Befriedigung bei einer Vielzahl von Akti vitäten finden. Rusty konnte nicht die ganze Zeit sein Dance Dance Revolution-Spiel machen, so fing er wieder mit dem Fußballspielen und überdies auch mit dem Bergsteigen an. Zoe fing mit dem Radeln auf dem Indoor-Trainer an, aber sobald das Frühjahr kommt, geht sie mit ihrem Rad nach draußen und fährt durch den Wald. Je mehr Optionen Sie haben, desto eher sind Sie in der Lage, Ihr ganzes Leben in irgendeiner Form weiterhin Sport zu treiben. Wenn Sie es nicht gewohnt sind, sich sportlich zu betätigen, kann es hilfreich sein, sich in einem Fitnessstudio anzumelden oder einen persönlichen Trainer zu engagieren, da das Geld, das Sie dafür ausgeben, ein starker Motivator ist. Sofern Sie esssüchtig sind, versuchen Sie es mit schnellem Gehen um den Block oder mit einigen Minuten Seilspringen oder mit 30 Mal hintereinander den Hampelmann zu machen – irgendetwas, das Ihren Geist aus dem Teufelskreis des ständigen Denkens an die Belohnung ausbrechen lässt. Es mag mehr als selbstverständlich klingen, körperliche Bewe gung als Weg zur Kontrolle Ihrer Essgewohnheiten vorzuschlagen. Ihr Gew icht ist schließlich die Summe einer einfachen Formel: die Anzahl der Kalorien, die Sie zu sich nehmen, abzüglich der Anzahl, die Sie verbrennen. Es ist jedoch wichtig, sich vor Augen zu halten, dass die nutzbringenden Effekte körperlicher Bewegung weit über den physikalischen Aspekt des Kalorienverbrauchs 231 Kapitel 7: Abhängigkeit hinausgehen. Das bei sportlicher Betätigung produzierte Dopamin bindet an Rezeptoren an und dämpft somit die Sucht. Und mit der Zeit werden durch die Aktivität mehr D2-Rezeptoren produziert, die das Gleichgewicht im Belohnungssystem wiederherstellen. Jemandem mit einem negativen Körperbild kann die Verlagerung der Schwerpunktsetzung vom Körper auf das Gehirn ein starkes neues Motivationsgefühl liefern. Viele Menschen gehen davon aus, dass das eigentliche Problem eines Abhängigen nur der Mangel an Motivation sei. Auf einer Ebene stimmt dies. Was aber nur sehr wenige Menschen erkennen, ist die Tatsache, dass Motivation eine Funktion von Gehirnsignalen ist, und dass diese Signale von zuverlässigen Botenstoffen und intakten Nervenbahnen abhängig sind. Wenn wir Abhängigkeit als neurologische Fehlfunktion und nicht als moralisches Versagen sehen, haben wir es plötzlich mit etwas zu tun, das „repariert“ werden kann. Es ist sicher keine einfache Aufgabe, sie wird jedoch viel leichter, wenn wir körperliche Bewegung als Instrument nutzen, das sehr vielseitig ist. Körperliche Bewegung ist nicht unbedingt ein Heilmittel, sie ist jedoch die einzige Behandlung, die ich kenne, die sowohl von oben nach unten als auch von unten nach oben wirkt und dabei das Ge hirn so neu verdrahtet, dass das Muster der Abhängigkeit umgangen und die Sucht gedrosselt wird. Versuchen Sie es. Vielleicht werden Sie süchtig danach. 232 8. Hormonelle Veränderungen Der Einfluss auf die Gesundheit des weiblichen Gehirns H ormone haben zeit unseres Lebens einen starken Einfluss darauf, wie unser Gehirn sich entwickelt, und ebenso auf unsere Gefühle, Verhaltensweisen und Persönlichkeitszüge. Nach der Adoleszenz bleiben die Hormonspiegel bei Männern relativ beständig, während sie bei Frauen jedoch ständig schwanken. Jede Frau reagiert anders auf diese permanenten Veränderungen, und dies muss bei jeder Diskussion über die Gesundheit des Gehirns berück sichtigt werden. Körperliche Bewegung ist für Frauen besonders wichtig, da sie bei manchen die negativen Konsequenzen hormoneller Veränderungen dämpft und bei anderen das Positive fördert. Körperliche Bewegung sorgt insgesamt dafür, dass das System im Gleichgewicht ist, sowohl von einem Monat zum anderen, als auch in jeder einzelnen Lebensphase, einschließlich Schwangerschaft und Menopause. Eine Frau erlebt im Durchschnitt in ihrem Leben 400 bis 500 Menstruationszyklen mit Blutungen, die jeweils vier bis sieben Tage dauern. Addiert man diese zusammen, kommt man auf über neun Jahre – eine lange Zeit für Frauen, die unter dem prämenstruellen Syndrom (PMS) leiden. „Man kann nicht zickig, gereizt und aufbrausend sein und gleichzeitig ein vernünftiges Leben führen“, 233 Kapitel 8: Hormonelle Veränderungen sagt eine 38-jährige Kollegin, die ich Patty nenne. „Ich weiß, die Feministinnen hassen es, wenn man das sagt, aber einige von uns werden dann fast verrückt.“ Von Verrücktwerden würde ich zwar nicht sprechen, es erfasst jedoch durchaus treffend die Frustration, die viele Frauen empfinden, wenn ihre Hormone die Kontrolle übernehmen. Etwa 75 Prozent der Frauen erleben irgendeine Form prämenstrueller Beschwerden, physisch oder psychisch oder beides, und Patty gehört zu denjenigen, bei denen die Symptome so gravierend sein können, dass ihr normaler Lebensrhythmus unterbrochen wird (14 Prozent können wegen PMS an irgendeinem Punkt nicht zur Schule oder zur Arbeit gehen). Seit ihrem 16. Lebensjahr ist Patty jeden Monat an den Tagen unmittelbar vor ihrer Periode müde, gereizt, missmutig, nervös, angespannt und aggressiv. Sie hat Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren; nachts wälzt sie sich immer wieder unruhig im Bett; und sie ist süchtig nach Kohlenhydraten. Ihre Knöchel und ihr Bauch werden dicker, ihr Gesicht ist von roten Flecken überzogen, sie leidet an Verstopfung, und ihre Brüste schmerzen. „In dieser Zeit muss ich mich wirklich zusammenreißen“, sagt sie. „In der Woche, bevor ich meine Periode bekomme, muss ich an vier Tagen eine Stunde ein Herz-KreislaufTraining machen, oder ich kann mich selbst nicht ausstehen.“ Sie lernte von früh an, dass aerobe Übungen ihre Symptome drastisch lindern. Patty, 1,78 Meter groß, mit auffallend rotem Haar und einem strahlenden, breiten Lächeln, arbeitete seit ihrer Kindheit bis sie Anfang zwanzig war für die Modelagentur Elite. Sie stand im Grunde nicht auf Sport, absolvierte aber geradezu manisch seit ihrer Jugendzeit ihr Übungsprogramm, manchmal drei Stunden am Tag, um ihr Gewicht bei rund 50 Kilo zu halten. Wenn sie keinen Sport machte, fand ihre Mutter es unmöglich, mit ihr umzugehen, sie war dann einfach unerträglich. Die Absurdität, dieses niedrige Gewicht um jeden Preis zu halten, brachte sie schließlich zu der Überzeugung, dass es besser war, mit dem Modeln aufzuhören, und inzwischen hat sie ihren Master-Abschluss in Sozialarbeit gemacht. Es gab Zeiten, sogar Jahre, in denen sie ihr routinemäßiges Übungsprogramm zwischendurch auch einmal ausfallen ließ, sie ist jedoch immer wieder darauf zurückgekommen. „Es hilft am besten bei den Stimmungsumschwüngen“, sagt sie. „Es macht das Ganze 234 Der Einfluss auf die Gesundheit des weiblichen Gehirns erträglicher und nimmt die Aggression weg, die mit den Hormonen kommt.“ Patty, normalerweise tolerant und gelassen, sagt, dass sie „bissig“ ist und ihr leicht die Sicherungen durchbrennen, wenn sie ihrer Periode hat. „Ihr Radar ist dann überempfindlich“, sagt ihr Mann Amon, ein Architekt. „Ihr Geruchs- und Geräuschsinn, ihr Licht empfinden, ihr Ordnungssinn. Das ist dann alles schon sehr speziell. Sie möchte dann zum Beispiel, dass ich um sie herum bin, aber ich muss in einer sehr speziellen Weise um sie herum sein.“ „Er sitzt dann neben mir auf der Couch“, sagt sie. „Ich höre ihn beispielsweise atmen und frage mich, ob er eine Nasennebenhöhlen entzündung oder so etwas hat.“ „Genau!“ sagt er und lacht. „Und sie fragt dann möglicherweise, ob mein Vater Probleme mit den Nebenhöhlen hatte, und dann artet das Ganze in eine Diskussion über die Krankengeschichte meiner Familie mit nasalen Problemen aus.“ Patty und Amon leben normalerweise sehr bewusst, kommunizieren gut miteinander und unterstützen sich gegenseitig, was für Frauen, die hormonelle Veränderungen durchmachen, äußerst wichtig ist. Amon schlägt vor, dass sie an den Tagen, an denen sie ihr Programm lieber ausfallen lassen würde, zusammen ins Fitness studio gehen. „Patty gehört zu den Menschen, bei denen man sehen kann, wie die Gew itterwolken sich zusammenbrauen, bevor sie tatsächlich kommen“, sagt er. Der Begriff PMS wurde in den 1970er-Jahren politisiert, da manche der Meinung waren, dass er einen natürlichen Aspekt des Lebens von Frauen als medizinisches Problem etikettierte und den Eindruck entstehen ließ, als würden alle Frauen einmal im Monat unter einer psychiatrischen Störung leiden. Das Thema wurde von jenen medizinischen Experten heftig diskutiert, die darüber entscheiden, was im Einzelnen in das Klassifikationssystem Diagnostic and Statistical Manual aufgenommen und wie jede Beschwerde bezeichnet werden soll. PMS ist in verschiedenen Ausgaben des DSM neu benannt worden, und 1994 wurde der Eintrag von dem unverständlichen Begriff „Dysphorische Störung in der späten lutealen Phase“ („late luteal phase dysphoric disorder“, LLPDD) in „Prämenstruelle dysphorische Störung“ (PMDD) geändert. Die Anforderungen für 235 Kapitel 8: Hormonelle Veränderungen eine medizinische Diagnose von PMDD sind jedoch so streng, dass die Mehrzahl der Frauen, die darunter leiden, was wir uns unter PMS vorstellen, nicht dazugehören. Nennen Sie es, wie Sie mögen, entscheidend für mich ist in jedem Fall, ob irgendwelche der 150 Symptome, die im DSM aufgeführt sind, die Qualität Ihres Lebens beeinträchtigen. PMS: Natürliche Höhen und Tiefen Wissenschaftler wissen nicht genau, was PMS verursacht; Verände rungen der Hormonspiegel sind jedoch ein Punkt, der sich anbietet, um nach weiteren Hinweisen zu suchen. Die Sexualhormone sind wirkungsvolle Botschafter, die durch das Blut transportiert werden und die, abgesehen davon, dass sie maßgebend für die Entwicklung der Geschlechtsmerkmale sind, das Gehirn in vieler Hinsicht beeinflussen. Der Zyklus beginnt mit Signalen aus dem Hypothalamus, die dafür sorgen, dass die Hirnanhangsdrüse (Hypophyse) Hormone ausschüttet, die sogenannten Gonadotropine, die zu den Eierstöcken weitergeleitet werden und die Massenproduktion von Östrogen und Progesteron auszulösen. Der Östrogenspiegel ist unmittelbar vor dem Eisprung fünfmal höher als normal und folgt danach in den etwa zwei Wochen bis zur Periode einem Auf- und Ab-Muster, bis er wieder ausgeglichen ist. Der Progesteronspiegel steigt nach dem Eisprung sprunghaft an (etwa um das Zehnfache des niedrigsten Spiegels) und erreicht unmittelbar vor der Menstruation seinen Höhepunkt. In einer Schwangerschaft schießt der Östrogenspiegel regelrecht in die Höhe – bis um das Fünfzigfache des Normalniveaus –, und der Progesteronspiegel erhöht sich um das Zehnfache. Mit Beginn der Menopause sinken dann beide Hormonspiegel, bis sie schließlich nahezu verschwinden. Bei dem, was Frauen, die unter PMS, einer Wochenbettdepression oder einer aufreibenden Menopause leiden, von jenen unterscheidet, bei denen dies nicht der Fall ist, scheint der Spiegel dieser Hormone keine Rolle zu spielen, sondern vielmehr die Sensitivität des Körpers 236 Der Einfluss auf die Gesundheit des weiblichen Gehirns gegenüber anderen neurochemischen Veränderungen, die dadurch ausgelöst werden. In Zusammenhang mit der Stimmung sowie der gesamten Ge hirnfunktion spielen Hormone beispielsweise eine wichtige Rolle bei der Regulierung von Neurotransmittern. Sowohl Östrogen als auch Progesteron lassen im ganzen limbischen System mehr Rezeptoren für Serotonin und Dopamin entstehen und erhöhen somit die Wirk samkeit dieser Neurotransmitter. Erst in den letzten Jahren haben Wissenschaftler entdeckt, dass Östrogen die Produktion des neurotrophen Faktors BDNF signalisiert, der wiederum mehr Serotonin entstehen lässt. Es gibt noch vieles, was wir über das komplexe Zusammenspiel zwischen einer Veränderung der Hormonspiegel und der Hirnfunktion nicht wissen, diese Verbindung zu dem Neurotrans mittersystem hat sich jedoch als entscheidend herauskristallisiert. In einer Studie, die 2004 durchgeführt wurde, nutzten Forscher PET-Scans, um die Neurotransmitteraktivität bei Frauen mit und ohne PMDD zu vergleichen. Sie stellten fest, dass im Gehirn von Frauen, bei denen man PMDD diagnostiziert hatte, die Fähigkeit beeinträchtigt war, im präfrontalen Cortex Tryptophan „einzufangen“, wodurch die Produktion von Serotonin eingeschränkt war, das bei der Regulierung von Stimmungen und Verhalten wie Wut ausbrüchen hilft. Bei einer anderen Studie dezimierten Psychiater des Kings Col lege in London absichtlich bei einer Gruppe von Frauen in der prämenstruellen Phase den Tryptophanspiegel und stellten fest, dass dies zu vermehrt aggressivem Verhalten führte, wenn sie provoziert wurden. Es handelte sich dabei um gesunde Frauen, die zu dieser Zeit weder PMS-Symptome noch Stimmungsprobleme hatten. Jeder Frau war gesagt worden, dass sie, wenn sie auf einen Computerhinweis schneller als eine Konkurrentin reagierte, die sich in einem anderen Raum befand, dann die Lautstärke eines nervtötenden Tons anpassen konnte, der die andere Frau bestrafen würde. Verlor sie jedoch, dann würde es bei ihr summen. In Wirklichkeit gab es keine Gegnerin. Alle Teilnehmerinnen waren die Hälfte der Zeit dem Lärm ausgesetzt, der zunehmend lauter wurde. Mit zunehmender Lautstärke drehten die Frauen, bei denen das Trytophan dezimiert worden war, die Lautstärke aggressiv 237 Kapitel 8: Hormonelle Veränderungen noch höher, um ihrer imaginären Gegnerin eins auszuwischen. Die Studie kam zu dem Schluss, dass eine Reduzierung des chemischen Vorläufers von Serotonin bei gesunden Frauen die Neigung zu Aggressivität erhöht. „Bei ihnen ist es weitaus wahrscheinlicher, dass sie sich rächen oder Vergeltung üben, als bei Frauen mit normalem Serotonin-Spiegel“, sagt Alyson Bond, die die Studie durchführte. „Sie verhielten sich ähnlich wie gewohnheitsmäßig aggressive Personen.“ Aggression ist nur ein Symptom und die Geschichte von PMS ist – genau wie die der Depression, – mehr als nur ein Ein-Neuro transmitter-Drama. Eine lange Kette von Ereignissen verbindet die Produktion eines Hormons mit dem Signal, das sich als Gefühl oder Verhaltensweise manifestiert. Und jede unterbrochene oder geschädigte Verbindung kann dafür sorgen, dass das Ergebnis in eine andere Richtung geht. Dies ist nur ein Grund, warum jede Frau anders auf PMS, Schwangerschaft und Menopause reagiert. Man kann unmöglich sagen, wo beispielsweise in Pattys Gehirn chemie die Lücke ist, es steht jedoch außer Frage, dass körperliche Bewegung hilft, sie zu schließen. „Vor meiner Periode ist es fast, als ob ich mich in einem Nebel befände“, sagt sie. „Ich könnte meine ADHS-Medikation nehmen und sie würde nichts, aber auch gar nichts bewirken. Körperliche Bewegung hilft mir, einen klaren Kopf zu bekommen.“ Das Gleichgewicht wiederherstellen Körperliche Bewegung ist nicht unbedingt die einzige Hilfe, wenn Sie unter PMS leiden, sie kann die Symptome jedoch drastisch reduzieren und Ihnen für einen Bereich Ihres Lebens eine Kontroll möglichkeit geben, von dem Sie normalerweise das Gefühl haben, dass er sich Ihrer Kontrolle entzieht. Und mit einer Veränderung Ihres Lebensstils ist eine Medikation dann möglicherweise gar nicht mehr erforderlich. Viele Frauen wissen dies bereits: Bei einer Umfrage unter mehr als 1.800 Frauen wurde festgestellt, dass mindestens die Hälfte 238 Der Einfluss auf die Gesundheit des weiblichen Gehirns von ihnen Bewegung zur Linderung der PMS-Symptome nutzte. Die Frauen, die sich sportlich betätigten, klagten nicht nur weniger über körperliche Schmerzen, sondern schnitten auch besser bei der Bewertung des Konzentrationsvermögens, der Stimmung und sprunghafter Verhaltensweisen ab. Die Vorstellung, dass körperliche Betätigung oder Sport physische Symptome sowohl vor als auch während der Menstruation lindern, wird weit mehr akzeptiert als die genannten Effekte auf Stimmungen und Ängste. Offen gestanden gibt es wenig experimentelle Nachweise, um konkret zu belegen, dass körperliche Bewegung bei den mentalen Symptomen von PMS hilft. Die vielleicht beste Studie zu dem Thema kommt aus dem Labor von James Blumenthal an der Duke Univer sity, der bereits 1992 bei vielen der Forschungen über körperliche Bewegung und Depression Pionierleistungen erbracht hat. Bei einer kleinen Gruppe Frauen mittleren Alters (vor der Menopause) verglich Blumenthal, wie aerobe Übungen und Krafttraining PMS-Symptome beeinflussten. Jede Gruppe trainierte dreimal wöchentlich jeweils eine Stunde. Die zwölf Frauen, die aerobe Übungen machten, liefen jeweils 30 Minuten bei 70 bis 80 Prozent ihrer aeroben Kapazität, jeweils in Kombination mit einem 15-minütigen Aufwärmen und Abkühlen. Die anderen elf Frauen nutzten Gewichtsmaschinen für ein überwachtes Krafttraining. Bei beiden Gruppen verbesserten sich die physischen Symptome, bei den Läuferinnen waren die Verbesserungen auf der mentalen Seite jedoch deutlicher. Bei 18 von 23 Kriterien, die gemessen wurden, ging es ihnen besser; die Wichtigsten davon waren Depression, Reizbarkeit und Konzentration. Der deutlichste Unterschied war, dass die aerobe Gruppe eine weniger pessimistische Einstellung und mehr Interesse an der Welt hatte. Eine Erklärung ist sicherlich, dass physische Aktivität den Tryptophan-Spiegel im Blut erhöht und damit auch die Serotonin-Kon zentration im Gehirn. Sie sorgt auch für ein Gleichgewicht von Dopamin, Noradrenalin und synaptischer Mediatoren wie BDNF. Durch die Stabilisierung einer so großen Anzahl von Variablen hilft körperliche Bewegung, die aufreibenden Effekte hormoneller Veränderungen zu dämpfen. Körperliche Bewegung passt auch zu einer nuancierteren Theorie von PMS, die derzeit entwickelt wird. Östrogen und Progesteron 239 Kapitel 8: Hormonelle Veränderungen werden beide in Dutzende hormoneller Derivate umgewandelt, von denen einige von großem Interesse für Neurowissenschaftler sind, da sie die wichtigsten erregenden und hemmenden Neurotransmitter des Gehirns regulieren – Glutamat und Gamma-Aminobuttersäure (GABA). Bei den hormonellen Schwankungen in der prämenstruellen Phase geraten die Spiegel dieser Derivate im Verhältnis zueinander aus dem Gleichgewicht, was dazu führen kann, dass die Nervenzellen im emotionalen Schaltkreis des Gehirns zu sehr erregt werden. Dies kann darauf zurückzuführen sein, dass zu viel Glutamat oder zu wenig GABA produziert wird; in jedem der beiden Fälle kann die außer Kontrolle geratene Aktivität zu Stimmungs veränderungen, Angstattacken, Aggressionen und sogar zu Anfällen führen. In einer Studie wurde kürzlich festgestellt, dass die Hormonspie gel bei Frauen sowohl mit als auch ohne PMS-Symptomen zwar identisch, ihre GABA-Spiegel jedoch unterschiedlich hoch waren. Körperliche Bewegung hat weit reichende Auswirkungen auf das GABA-System, das eine exzessive zellulare Aktivität bremst, genau wie das Medikament Xanax dies tut. Studien über Ratten haben gezeigt, dass nur eine sportliche Übungsrunde genügt, um die Gene einzuschalten, die beispielsweise GABA produzieren. Körperliche Bewegung stellt im Gehirn das Gleichgewicht zwischen den entgegengesetzt wirkenden Kräften der Aktiv ität zu einem Zeitpunkt wieder her, der für einige Frauen aufreibend und turbulent ist. Sie sorgt auch für eine Feinabstimmung der HPA-Achse (vom Hypothalamus über die Hirnanhangdrüse zur Nebenniere), die, wie Sie sich vielleicht erinnern, unsere Fähigkeit zur Bewältigung von Stress verbessert. Und, nicht zu vergessen, körperliche Bewegung sorgt auch für mehr Energie und Elan, was wiederum Einfluss auf alle anderen Symptome hat. 240 Der Einfluss auf die Gesundheit des weiblichen Gehirns Schwangerschaft: Bewegen oder nicht bewegen? Kein Mythos über die Gesundheit von Frauen hat sich so lange gehalten wie der Glaube, Frauen sollten in der Schwangerschaft aufhören, sich sportlich zu betätigen. Vielleicht, weil die Geburt eines Kindes, bevor es die moderne Medizin gab, ein lebensbedrohliches Ereignis war, wurde eine Schwangerschaft als eine Phase betrachtet, in der man sich einschränken und ruhig verhalten sollte – als eine Zeit, in der man zu Hause blieb, Aktivitäten reduzierte und sich im Bett ausruhte. Es könnte ja gefährlich sein, das ungeborene Kind zu beunruhigen oder durcheinanderzubringen. Körperliche Bewegung oder Sport? Ein Tabu. Erst in jüngerer Zeit haben Ärzte angefangen, ihr Denken diesbezüglich zu ändern. 2002 begann das American College of Obste tricians and Gynecologists (ACOG), mindestens 30 Minuten mäßig intensive aerobe Übungen pro Tag für Schwangere und für Müt ter nach der Geburt zu empfehlen. Es ist eine potenziell wirksame Richtlinie, angesichts der Tatsache, dass 23 Prozent der vormals sportlich aktiven Frauen aufhören, sich sportlich zu betätigen, sobald sie schwanger werden. Gleichermaßen wichtig ist jedoch, dass das ACOG erstmals auch empfahl, dass Frauen, die bisher nicht aktiv waren, mit sportlicher Betätigung beginnen sollten, wenn sie schwanger werden, und zwar hauptsächlich, um Risiken wie Diabetes, Blut hochdruck und Präeklampsie entgegenzuwirken, die sich in der Schwangerschaft entwickeln können und sowohl der Mutter als auch dem Kind schaden. Es gibt sicher Komplikationen, bei denen Bettruhe das Beste ist; deshalb ist es wichtig, mit Ihrem Arzt zu sprechen, bevor Sie mit einem Übungsprogramm beginnen. Vergessen Sie Eishockey, Racketball, Basketball und andere Kontaktsportarten. Das Gleiche gilt für Reiten, Mountainbiken, Übungen auf dem Schwebebalken oder irgendetwas, bei dem Hinfallen Teil des Spiels ist. Dies gilt auch für Sporttauchen. Vergessen Sie jedoch nicht, dass Ärzte in der Regel konservativ sind. In seinen Empfehlungen von 2002 warnt das 241 Kapitel 8: Hormonelle Veränderungen ACOG indes vor einer sportlichen Betätigung schwangerer Frauen, die übergewichtig, Diabetikerinnen oder starke Raucherinnen sind, oder die hohen Blutdruck haben – also genau die Frauen, die eigentlich körperliche Bewegung brauchen. In diesen Fällen ist eine sportliche Betätigung aber vielleicht dennoch kein völliges Tabu; wichtig ist nur, dass die betroffenen Frauen sehr langsam beginnen und dabei mit ihren Ärzten zusammenarbeiten sollten. Viele werdende Mütter haben keine klare Vorstellung davon, was sie tun können, und denken eher daran, Aktivitäten möglichst zu meiden, als daran, wirklich etwas zu tun. Wenn sie die nutzbringenden Effekte körperlicher Bewegung oder sportlicher Betätigung verstanden hätten – nicht nur, was die Reduzierung der Risiken in der Schwangerschaft angeht, sondern auch in Bezug auf eine Verbesserung ihrer physischen und mentalen Gesundheit und der ihrer Babys –, dann wäre ihnen bei dem Gedanken, körperlich aktiv zu sein, wesentlich wohler. Die Wahrheit ist, dass wir nicht alles wissen über die Auswirkungen sportlicher Betätigungen auf die Schwangerschaft haben, aber einige gute Antworten haben wir sehr wohl. In der Schwangerschaft bleiben die Östrogen- und ProgesteronSpiegel auf einem exponentiell höheren Niveau als normal, was in manchen Fällen die Stimmung stabilisiert und Ängste sowie De pressionen lindert. Eine Schwangerschaft kann in der Tat eine Reihe unterschiedlicher Systeme zum Besseren verändern. Einige Frauen, die unter ADHS leiden, können erstaunlicherweise zum Beispiel still sitzen und lesen, wenn sie schwanger sind. Die Reaktion des Körpers auf Hormone ist jedoch individuell verschieden, sodass manche Frauen auch unter neuen Problemen zu leiden haben. Wie der Körper auch immer reagieren mag, fest steht, dass körperliche Aktivitäten Stress und Ängste reduzieren und die Stimmung sowie die gesamte psychische Gesundheit während der Schwangerschaft verbessern. Eine Studie, die 2007 in England durchgeführt wurde, bewertete die Effekte einer einzigen sportlichen Übungsrunde auf die Stimmung von 66 gesunden schwangeren Frauen, die in vier Gruppen unterteilt wurden. Bei der ersten Gruppe stand Gehen auf einem Laufband, bei der zweiten Schwimmen auf dem Programm, die dritte machte einen kunsthandwerklichen Kurs und die vierte machte nichts Zusätzliches. Bei den Frauen in den beiden Gruppen, 242 Der Einfluss auf die Gesundheit des weiblichen Gehirns die sich körperlich betätigten, verbesserte sich ihre Stimmung, auch wenn diese von vorneherein nicht unbedingt problematisch war. Es ist auch hinreichend gesichert, dass die Gemütsverfassung einer werdenden Mutter die Entwicklung ihres Babys verändern kann. Stress, Angst und Depression können einen erschreckend starken Einfluss auf die Schwangerschaft haben und im Extremfall zu einer Fehlgeburt, einem geringen Geburtsgewicht, Geburtsfehlern oder dem Tod des Babys führen. Babys, die von unglücklichen Müttern geboren werden, können schwieriger, weniger ansprechbar und schwerer zu beruhigen sein und unvorhersehbare Schlafmuster haben. Und bei Nachfolgeuntersuchungen ist es wahrscheinlicher, dass diese Babys hyperaktiv sind und unter kognitiven Beeinträchtigungen leiden. Bei Nagetieren sind die Jungen von Müttern, die während der Schwangerschaft Stress ausgesetzt worden (durch Verabreichung von Stromschocks an den Füßen), launisch, ungeschickt und weniger abenteuerlustig. Und ihre Stressregulierungssysteme sind für immer verändert, sodass sie anfälliger für künftige Probleme sind. Die Psychiaterin Catherine Monk von der Columbia University hat diese Veränderungen auf menschliche Versuchspersonen übertragen. Sie stellte fest, dass bei schwangeren Müttern mit klinischen Ängsten, wenn sie gebeten wurden, an einem stressintensiven Ereignis teilzunehmen, wie beispielsweise eine kurze Rede vor einer Gruppe zu halten, die Herzfrequenz des Fötus übermäßig reaktiv war und sich nicht so schnell beruhigte wie bei den Föten von Müttern, bei denen keine klinischen Ängste vorlagen. Dies ist ein sicheres Zeichen dafür, dass die HPA-Achse sich selbst nicht richtig reguliert, das heißt, dass Cortisol ungehindert ausgeschüttet werden kann. Auch eine unruhige, nervöse HPA-Achse ist ein Risikofaktor für künftige psychiatrische Probleme. Trotz der Tatsache, dass körperliche Bewegung eine Fülle unnötiger Komplikationen verhindern kann, sind viele Frauen nach wie vor misstrauisch gegenüber sportlichen Betätigungen in der Schwangerschaft: Erhebungen zufolge bleiben bis zu 60 Prozent aller Schwangeren inaktiv. Studien zufolge vermögen körperliche Aktivitäten im Allgemei nen Beschwerden wie Brechreiz, Müdigkeit, Gelenk- und Muskel schmerzen sowie Fettansammlungen zu reduzieren. Körperliche 243 Kapitel 8: Hormonelle Veränderungen Aktivitäten halbieren das Risiko, abnormal hohe Glukosespiegel zu entwickeln, was zu Schwangerschaftsdiabetes führen kann – und das wiederum zu übergewichtigen Babys und vor der Geburt zu länger andauernden Wehen. Ein hoher Glukosespiegel ist auch ein Risikofaktor für Fettleibigkeit und Typ-2-Diabetes sowohl bei der Mutter als auch bei dem Baby, und diese physischen Bedingungen sind schlecht fürs Gehirn. Körperliche Bewegung hilft glücklicherweise immer, egal, wie aktiv eine Frau vor der Schwangerschaft war. Eine Studie zeigte, dass das Risiko einer Schwangerschaftsdiabetes durch strammes Gehen von wöchentlich fünf Stunden um 75 Pro zent reduziert wird. Vor einigen Jahren beschloss eine Gruppe deutscher Forscher zu untersuchen, ob sportliche Aktivitäten einen Einfluss auf den schmerzhaften Prozess der Wehen haben können. Sie brachten einen Heimtrainer in den Kreißsaal. Irgendwie fanden sie 50 Frauen, die damit einverstanden waren, jeweils 20 Minuten Rad zu fahren, die Intensität ihrer Schmerzen zu bewerten und ihr Blut bis unmittelbar vor der Geburt auf Endorphine untersuchen zu lassen. Die meisten der Frauen (84 Prozent) sagten, die Kontraktionen (Wehen) seien während der sportlichen Betätigung weniger schmerzhaft als im Ruhezustand gewesen, und ihre Bewertungen entsprachen spiegelbildlich den Endorphin-Spiegeln. Die Forscher schlussfolgerten, dass „körperliche Bewegung auf einem Radergometer bei den Wehen unbedenklich für den Fötus, ein Stimulus für die Kontraktionen der Gebärmutter und eine schmerzlindernde Quelle zu sein scheint.“ Vergessen Sie das Baby nicht James Clapp, Geburtshelfer und Professor für Fortpflanzungsbiolo gie an der Case Western Reserve University, hat untersucht, wie sportliche Aktivitäten mehr als 20 Jahre lang Einfluss auf das Kind haben. Sein Buch Exercising through Your Pregnancy, das 2002 erschien, kommt einem weit gehenden Zuspruch gleich und baut auf Langzeitstudien auf, die er mit Hunderten von Frauen durchführte. Zunächst einmal räumt er darin mit dem Mythos auf, dass 244 Der Einfluss auf die Gesundheit des weiblichen Gehirns sportliche Aktivitäten gefährlich seien, und merkt an, dass bei seinen Forschungen keine Unterschiede im Gewicht oder bei der Schä delgröße zwischen den Babys festgestellt wurden, die von aktiven oder inaktiven Müttern zur Welt gebracht wurden. Mit sportlichen Aktivitäten wächst die Brennstoffversorgungslinie zwischen Mutter und Kind, wodurch sichergestellt wird, dass der Fötus die Nährstoffe und den Sauerstoff erhält, den er braucht. Studien von Clapp und anderen haben gezeigt, dass die Neugeborenen aktiver Frauen schlanker sind, was Sie vielleicht für bedenklich halten, wobei die physischen Unterschiede sich jedoch innerhalb des ersten Lebensjahres ausgleichen. Körperliche Bewegung scheint allerdings mehr als nur nicht schädlich zu sein. Im Rahmen einer Studie verglich Clapp fünf Tage nach der Geburt 34 Neugeborene von sportlich aktiven Frauen mit 31 Neugeborenen von inaktiven Müttern. Es gibt nicht soviel, was man in dieser frühen Phase zur Messung des Verhaltens tun kann, aber die Babys der sportlich aktiven Mütter schnitten in jedem Fall bei zwei von sechs Tests besser ab: Sie waren ansprechbarer auf Reize und konnten sich besser selbst beruhigen, nachdem sie durch Geräusche oder Licht gestört worden waren. Aus der Sicht von Clapp ist dies wesentlich, da es die Schlussfolgerung zulässt, dass die Säuglinge von körperlich aktiven Müttern neurologisch entwickelter sind als die von inaktiven Müttern. Seine Theorie ist, dass die körperliche Aktivität dem Baby im Mutterleib sozusagen einen Schubs und damit eine Stimulation gibt, die nicht unähnlich den Effekten des Berührens und Haltens von Neugeborenen ist, die klar die Entwicklung des Gehirns verbessern. Bei einem anderen Vergleich von fünfjährigen Kindern stellte er keine Unterschiede beim Verhalten und den meisten kognitiven Maßstäben fest, es gab jedoch statistisch signifikante Unterschiede beim IQ und bei den mündlichen Sprachfertigkeiten. Die Kinder sportlich aktiver Mütter schnitten besser ab, und seine unveröffentlichten Beobachtungen lassen darauf schließen, dass ihre schulischen Leistungen später besser sind als die von Kindern, deren Mütter inaktiv waren, was erstaunlich ist. Es gibt noch keine Möglichkeit festzustellen, warum dies beim Menschen so ist, verlockende Hinweise finden sich jedoch in Studien 245 Kapitel 8: Hormonelle Veränderungen über Laborratten. Am faszinierendsten ist eine Studie von 2003, die zeigt, dass Rattenjunge, die von sportlich aktiven Müttern geboren worden, sofort nach der Geburt und ebenso 14 und 28 Tage nach der Geburt höhere BDNF-Spiegel aufwiesen. Gleichzeitig schnitten sie besser als die Rattenjungen der Kontrollgruppe bei Lernaufgaben ab, die sich auf den Hippocampus bezogen. Sie lernten vor allem besser und schneller als Ratten, die von inaktiven Müttern geboren worden. Eine Studie zeigte, dass Rattenjunge von Müttern, die viel liefen, aus irgendeinem Grund bei der Geburt weniger Neuronen im Hippocampus hatten; dieses Defizit wurde jedoch schnell wieder wettgemacht und am Ende übertrafen sie sogar die Rattenjungen aus der Vergleichsgruppe. Nach den ersten sechs Wochen verfügte die körperlich aktive Gruppe über 40 Prozent mehr Zellen im Hippocampus. Bei einer 2006 durchgeführten Studie wurde fest gestellt, dass es bei den Jungtieren zu mehr BDNF, einer verstärkten Neurogenese und einer Verbesserung des Kurzzeitgedächtnisses führte, wenn man schwangere Ratten zwang, zehn Minuten am Tag zu schwimmen. Kurz: Wenn schwangere Ratten sich sportlich betätigen, sind die Neuronen im Gehirn ihrer Föten besser in der Lage, sich aneinander anzubinden. Auch wenn diese Ergebnisse nicht direkt auf den Menschen über tragen werden können, so entsprechen Sie doch dem Rahmen dessen, was wir über körperliche Aktivitäten und das Gehirn in den vergangenen zehn Jahren gelernt haben. Wir können nicht sagen, dass ihre Tochter es aufs beste College schaffen wird, wenn Sie in der Schwangerschaft laufen, aber andererseits legen diese Ergebnisse jedoch den Schluss nahe, dass es die neurotrophe Unterstützung für die Gehirnzellen des Babys verbessert, wenn man körperlich aktiv bleibt. Und diese Verbesserungen optimieren das Lernvermögen, das Erinnerungsvermögen und die gesamte geistige Verfassung, wie Sie sich aus früheren Kapiteln erinnern werden. Die Vorstellung, dass sportliche Aktivitäten während Ihrer Schwangerschaft Einfluss auf die Zukunft des Gehirns Ihres Baby haben könnten, finde ich überwältigend. Bei einer anderen faszinierenden Untersuchungsreihe haben For scher die Wirkungen sportlicher Aktivitäten zur Bekämpfung des fötalen Alkoholsyndroms untersucht, einer verheerenden Störung, 246 Der Einfluss auf die Gesundheit des weiblichen Gehirns die zu gehemmtem Wachstum, einer Entwicklungsverzögerung und zu Entstellungen im Gesicht führt. Sie ist die führende, vermeidbare Ursache von Geburtsfehlern in den Vereinigten Staaten, und einige Studien haben gezeigt, dass selbst mäßiger Alkoholkonsum in der Schwangerschaft Lern-, Verhaltens- und soziale Probleme für das Baby zur Folge haben kann. Im Gehirn von Ratten, die von Müttern geboren worden, denen während der Schwangerschaft Ethanol verabreicht wurde, wurde ein niedrigerer BDNF-Spiegel sowie eine geringere Neurogenese und Neuroplastizität nachgewiesen. Der Hippocampus war geschrumpft, was zur Folge hatte, dass die Jungen nicht sehr gut lernen oder erinnern konnten. Abgesehen vom Hippocampus schädigt Alkohol auch die Glutamat-Synapsen, und dies hat weit reichende Folgen für das Gehirn. Im Jahr 2006 untersuchten Forscher aus dem Labor des Neuro wissenschaftlers Brian Christie an der University of British Colum bia die neurologischen Auswirkungen einer pränatalen Exposition gegenüber Ethanol bei Ratten und überprüften dann die Effekte sportlicher Aktiv itäten auf diese Veränderungen. Wie erwartet, hatten die Jungen, deren Mütter Ethanol verabreicht worden war, eine deutlich geringere Neurogenese und Neuroplastizität. Nachdem die Jungen geboren und in der Lage waren, sich selbst sportlich zu betätigen, wurde die Gehirnschädigung durch diese Aktivität allerdings wieder in den Normalzustand umgekehrt, was verblüffend war. Diese Erkenntnisse hatten bereits Einfluss darauf, was Ärzte zum Umgang mit Babys mit fötalem Alkoholsyndrom empfehlen. Früher riet man den Eltern, dafür zu sorgen, dass die Umwelt der Babys ruhig und dunkel war, um sie nicht übermäßig zu stimulieren. Inzwischen scheint es jedoch besser zu sein, für physische Stimula tion und Aktivität zu sorgen, um dem Gehirn des Babys eine Chance zu geben, den neurologischen Defiziten entgegenzuwirken. Es erstaunt mich immer wieder, wie unser Gehirn sich selbst reparieren kann, wenn wir unseren Körper nur so bewegen, wie es die Evolution vorgesehen hat. 247 Kapitel 8: Hormonelle Veränderungen Wochenbettdepression: Ein Stachel der Schwermütigkeit Tony und Stacy waren verzweifelt. Es war ein regnerischer Freitag nachmittag, als das Paar beschloss, dass sie jetzt sofort einen elliptischen Kreuztrainer brauchten. Das kleine Sportgeschäft in der Mall hatte jedoch keinen mehr vorrätig. Sie mussten zu einem schäbi gen Lagerhaus in Boston fahren, um ihn abzuholen, und dann ließen sich auch noch die Sitze in ihrem Wagen nicht flach umlegen, sodass der Trainer aus dem Heck herausragte, derweil es auf dem Nachhauseweg in Strömen regnete. Das völlig durchnässte Paket muss 100 Kilos gewogen haben, und es ins Haus zu schleppen, war erst der Anfang von Tonys Arbeit an diesem Abend. „Wir kamen nach Hause und ich musste ihn sofort zusammenbauen“, sagt er. „Das ist nicht gerade meine Stärke, aber an dem Punkt wünschte ich mir einfach nur, dass sie diejenige wäre, die besser in solchen Dingen ist.“ Sie mussten etwas gegen Stacys Wochenbettdepression tun, die nach der Geburt ihres ersten Kindes, einem Sohn namens Carter, wie aus dem Nichts gekommen war. Seit fünf Monaten war sie jetzt erschöpft, dabei aber gleichzeitig unfähig, vernünftig zu schlafen; sie hatte Schuldgefühle, wenn sie ihren Säugling allein ließ, sie hasste ihren Körper, hatte das Interesse an der Welt verloren und brach ohne Vorwarnung ständig in Tränen aus. Diese Symptome haben nichts mit der vorübergehenden Schwermut zu tun, die die meisten Frauen in den ersten Wochen nach der Geburt erleben, und sie sind verbreiteter, als den meisten Menschen bewusst ist. Bei zehn bis 15 Prozent der jungen Mütter wie Stacy scheint zunächst alles in Ordnung zu sein, aber dann schlägt die Wochenbettdepression zu, und sie kann ein Jahr oder länger andauern. Wenn ich gegenüber meinen Mediziner- und Psychiaterkollegen erwähne, dass eine so große Anzahl junger Mütter an einer Wochenbettdepression leidet – eine Tatsache, die ich auch jetzt erst durch meine Recherchen für dieses Buch erfahren habe –, sind sie genauso schockiert, wie ich es war. 248 Der Einfluss auf die Gesundheit des weiblichen Gehirns Solche Depressionen werden in der Regel mit Antidepressiva behandelt, aber das Lexapro, das Stacy versuchsweise einnahm, hatte nur bewirkt, dass sie sich wie betäubt allem gegenüber fühlte. Sie nahm es nur wenige Tage und wehrte sich dagegen, ein anderes Medikament zu versuchen. Als sie und Tony an jenem regnerischer Nachmittag in meiner Praxis saßen, erklärte ich ihnen, dass aerobe Übungen bei manchen Personen mit Depressionen genauso gut oder sogar besser als Medikamente wirken. Ich wünschte mir nur, alle meine Patienten würden so auf meine Ratschläge ansprechen: Als sie die Praxis verließen, fuhren sie auf dem kürzesten Weg zur Mall, um den Trainer zu kaufen. Später an jenem Abend hatte Tony ihn schließlich fertig zusammengesetzt und Stacy sprang sofort darauf, um ein 20-minütiges Training zu absolvieren. „Das ist wirklich hart, wenn man damit anfängt!“ erinnert sie sich. „Ich wusste, dabei passiert etwas – man bekommt dieses Bren nen.“ „Ich glaube, das ist es, was sie zuerst gepackt hat“, sagt Tony. „Das Brennen und das Gefühl, dass es bei ihren Figurproblemen helfen würde. Ich glaube nicht, dass sie sofort verstanden hat, dass es ihr auch mental und ihrem Schlaf half.“ „Nein, das habe ich wirklich nicht.“ „Ich sagte zu ihr: ‘Stacy, es ist ein Unterschied wie Tag und Nacht.’ Es war wirklich so. Das Erste, was sich änderte, war die Qua lität ihres Schlafes …“ „Was natürlich zur Folge hatte, dass ich mich tagsüber besser fühlte.“ „Und als Nächstes verbesserte sich ihre Stimmung.“ „Ich hatte viel mehr Energie. Ich fühlte mich besser, wenn ich von dem Trainer abstieg, als wenn ich mich daraufsetzte. Selbst jetzt noch, nachdem ich den ganzen Tag mit Carter gespielt habe, fühle ich mich zwar erschöpft, aber ich nutze den Trainer dennoch. Und ich bin dann in besserer Stimmung, bin glücklicher und fühle mich energiegeladener.“ Was Stacys Geschichte so erstaunlich macht, ist, dass sie vor der Geburt ihres Kindes, im Alter von 29 Jahren, durchaus treffend als temperamentvoll beschrieben werden konnte. Sie hatte nie unter 249 Kapitel 8: Hormonelle Veränderungen Depressionen gelitten und war „der glücklichste Mensch“, dem Tony je begegnet war. Sie sind ein unglaublich liebenswertes Paar, jung und dennoch altmodisch, und vor allem hatten sie immer sehr viel Spaß miteinander. Aber nach ihrer Schwangerschaft, sagt sie, „hat sich alles verändert“. Stacy ist groß, blond, hat eine sportliche Figur und wog zwei Wochen nach der Geburt nur fünf Pfund mehr als ihr Normalge wicht. Sie sah fantastisch aus, was hier nur insofern relevant ist, als sie es selbst nicht so sah. Bei den seltenen Anlässen, wenn sie, nachdem Carter auf der Welt war, einmal ausgingen, probierte Stacy ein Dutzend verschiedener Kleidungsstücke an. „Ich dachte, ich sähe fürchterlich aus“, sagt sie. „Egal, was sonst jemand sagte, tief in meinem Herzen glaubte ich es nicht.“ „Ohne Quatsch, sie probierte neun oder zehn verschiedene Paar Schuhe und Shirts sowie Hosen an“, sagt Tony. „Sie sah im Spiegel eine andere Person.“ Da war jedoch mehr als nur dieses negative Selbstbild im Spiel. Nach der ersten freudigen Aufregung, als sie endlich mit Carter nach Hause fahren durften, setzte Müdigkeit ein, und damit kam eine Fülle unguter Gefühle. Stacy hörte auf, zu irgendetwas ihre Meinung zu sagen oder sich für irgendetwas zu interessieren. Sie schob das Kinder bettchen in ihr Schlafzimmer und wachte alle paar Stunden auf, um nach dem Baby zu sehen. „Ich wollte Carter nie allein lassen“, sagt sie. „Und ich hatte immer Schuldgefühle, wenn ich es tat.“ Junge Mütter, die von einer Depression überwältigt werden, fangen an, sich selbst infrage zu stellen, und sie fragen sich, ob mit ihnen etwas nicht in Ordnung ist. Wenn sie Probleme haben, gehen sie davon aus, dass sie schreckliche Mütter sein müssen. Instinktiv ziehen sie sich von der Welt zurück, insbesondere auch das Baby, und dies führt zu inneren Konflikten und zur Selbstgeißelung. Hier ist der biologische Zweck unseres Dasein und Sie schämen sich, dass nicht alles die reine Glückseligkeit ist, und sind überzeugt, dass Sie die einzige Mutter auf der Welt sind, die solche Gefühle hat. Dabei lässt dieses Ereignis, das vermeintlich so wunderbar lebenserfüllend ist, schwarze Wolken heraufzuziehen. Es dauerte mehrere Monate, in denen Tony das Thema immer wieder vorsichtig anzusprechen versuchte, bis Stacy erkannte, dass 250 Der Einfluss auf die Gesundheit des weiblichen Gehirns etwas nicht in Ordnung war. „Ich hatte das Gefühl, nicht mehr ich selbst zu sein“, sagt sie. „Ich hatte keine Ahnung, wie ich wieder dahin kommen sollte.“ Sie hatte gelegentlich Gewichte gehoben, ich erklärte ihr und Tony jedoch, dass aerobe Übungen anders – und entscheidend für die Stimmung – waren. Jetzt verbringt sie fast jeden Abend 45 Minuten auf ihrem elliptischen Kreuztrainer. Wenn sie es mehr als einige Tage ausfallen lässt, bekommt sie Schlafprobleme und verspürt einen Energie- und Stimmungsabfall. Bedeutet dies, dass sie nach wie vor depressiv ist und dies nur mit sportlichen Aktivitäten maskiert? Nicht unbedingt. Lediglich wenn die Symptome aufflackern, wie dies manchmal der Fall ist, dann steigt sie auf den Kreuztrainer, um sicherzustellen, dass daraus kein Schneeballeffekt wird, der sich zu etwas Schlimmerem verschärft. In jedem Fall weiß sie, dass sie damit fertig werden kann. „Wenn ich meine Übungen mache, geht es mir gut“, sagt sie. „Ich fühle mich wieder normal.“ Den Weg nach draußen wieder finden Wissenschaftler wissen sehr viel darüber, wie aerobe Aktivitäten die Symptome einer allgemeinen Depression (siehe Kapitel 5) eindämmen, junge Mütter bedürfen jedoch besonderer Überlegungen. Es seien nicht so sehr die Erhöhung der Hormone, die eine Wochen bettdepression verursachen, mutmaßt die Forschung, sondern vielmehr die Effekte des Rückzugs, wenn sie nach der Geburt ihres Kin des in ein Tief stürzten. Im Jahr 2000 veröffentlichte Miki Bloch vom National Institute of Mental Health eine Studie im American Journal of Psychiatry, bei der ihr Labor bei zwei Gruppen von Müttern im Alter von etwas über 30 Jahren die hormonellen Bedingungen einer Schwangerschaft wieder herstellte: Die Mütter der einen Gruppe hatten bereits unter Wochen bettdepressionen gelitten, die anderen nicht. (Keine der Gruppen von jeweils acht Frauen hatte während der Studie Symptome einer De pression gezeigt.) Um die Östrogen- und Progesteronproduktion anzuregen, wurden allen Frauen Pillen verabreicht, und nach acht 251 Kapitel 8: Hormonelle Veränderungen Wochen wurden die Hormone insgeheim durch ein Placebo ersetzt. Der Effekt war dramatisch. Während des Östrogenentzugs war bei fünf der acht Frauen, die in der Vergangenheit bereits eine Wochenbettdepression erlebt hatten, eine Rückkehr der Symptome festzustellen; die andere Gruppe bemerkte keine Veränderung. Angesichts dessen, wie stark Hormone Einfluss auf Neurotrans mitter nehmen, ging Bloch davon aus, dass das Gehirn mancher Frauen die plötzlichen Veränderungen einfach nicht kompensieren kann, oder dass die normalen Signale so verstärkt werden, dass die Stimmung gestört wird. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, könnten sportliche Aktivitäten für junge Mütter, die eine Depression erleben, sogar noch wirksamer sein als für die allgemeine Bevölkerung, da Bewegung die Spiegel der Neurotransmitter normalisiert. Die beste Studie zu diesem Thema wurde vor mehreren Jahren in Australien mit 20 Frauen durchgeführt, die unter einer Wochen bettdepression litten und innerhalb der letzten zwölf Monate ein Kind zur Welt gebracht hatten. Die Hälfte von ihnen nahm Antide pressiva. Die Forscher wählten eine Form der körperlichen Betäti gung, die überaus bequem für junge Mütter ist: Gehen mit einem Kinderwagen. Eine Gruppe von zehn Frauen ging 40 bis 60 Minu ten bei 75 Prozent ihrer maximalen Herzfrequenz mit dem Kinder wagen dreimal wöchentlich spazieren und nahm an einem sozialen Unterstützungstreffen teil, während die anderen zehn Frauen in der Kontrollgruppe an ihrem routinemäßigen Tagesablauf festhielten. Bei ihnen allen wurde anhand der Edinburgh Postnatal Depression Scale (EPDS), der Skala zur Ermittlung der Intensität einer Wo chenbettdepression, ein Grundwert ermittelt; anschließend wurden sie erneut nach sechs Wochen und dann nochmals nach zwölf Wochen überprüft, als der Versuch endete. Jede Frau, die anhand dieser Skala einen Wert von über zwölf Punkten erreicht, wird als klinisch depressiv angesehen. Bei den Kinderwagenschieberinnen wurde in beiden Untersuchungen festgestellt, dass sich ihre Fitness erhöht hatte und ihre EPGS-Werte sich erheblich reduziert hatten. Bei dieser Gruppe hatte der Wert anfänglich bei durchschnittlich 17,4 gelegen, und er fiel auf 7,2 und dann auf 4,6. Die Kontrollgruppe begann mit einem Durchschnittswert von 18,4, der zunächst auf 13,5 fiel, um dann jedoch wieder auf 14,8 zu steigen. 252 Der Einfluss auf die Gesundheit des weiblichen Gehirns Statistisch gesehen kommt eine Depression bei fitten Müttern seltener vor. Bei einer Umfrage unter 1.000 Frauen im Süden Englands sechs Wochen nach der Geburt ihres Kindes hatten die 35 Prozent, die angaben, dreimal wöchentlich intensiv Sport zu treiben, erheblich weniger Stimmungsprobleme. Sie hatten auch mehr Gewicht abgenommen, blieben sozial aktiver, waren selbstsicherer und mit ihrem Muttersein zuf riedener. Ein regelmäßiges Übungsprogramm kann jungen Müttern helfen, wieder die Kontrolle über ihr Leben zu gewinnen und zu verhindern, dass sie sich überwältigt fühlen. Überdies bietet es ihnen auch eine gute Gelegenheit, sich Zeit für sich selbst zu nehmen, was wichtig ist, um Aversionen abzuwehren. Etwa 70 Prozent der Frauen sind, genau wie Stacy, sechs Monate nach der Geburt mit ihrem Körper unzufrieden, und es liegt auf der Hand, dass sportliche Betätigung sie wieder in Form bringen und ihr Selbstbild fördern kann. Die Botschaft, dass körperliche Bewegung sich ein wenig mehr als nur physisch auszahlt, hat die Ärzte und ihre Patienten leider nur langsam erreicht. „Bei körperlicher Bewegung oder Sport denken die Leute an körperliche Gesundheit, nicht aber an mentale“, sagt Jennifer Shaw, Geburtshelferin und Gynäkologin in Brookline, Mas sachusetts, die auch an der Harvard Medical School lehrt. „Als Arzt oder Ärztin ist es schwierig, Menschen davon zu überzeugen, sportliche Betätigung ernst zu nehmen, und zwar als eine Behandlung, die tatsächlich medizinisch nutzbringende Effekte hat, einmal abgesehen davon, dass die Pfunde dabei verschwinden.“ In den Bereich der Geburtshilfe fällt eigentlich weder die Diagno se noch die Behandlung psychischer Gesundheitsprobleme in Zu sammenhang mit Schwangerschaften. Shaw spricht das Thema körperliche Bewegung oder Sport als Lösung für ein Problem an, sie sagt jedoch, dass es für einen Arzt oder eine Ärztin schwierig sei, die Zeit zu finden, um über präventive Medizin zu sprechen. Es kann auch etwas heikel sein, meint sie, einer Frau körperliche Bewegung vorzuschlagen, die mit so vielen neuen Verantwortlichkeiten fertig werden muss und sich in ihrem Körper vielleicht nicht so wohl fühlt. „Das Erste, was Frauen von der Liste streichen, wenn das Leben komplizierter wird, ist Sport“, sagt Shaw. „Ich glaube nicht, dass wir wirklich verstanden haben, was körperliche Bewegung bewirkt, 253 Kapitel 8: Hormonelle Veränderungen ich glaube jedoch, dass sie eine stabilisierende Wirkung auf die Stimmung hat.“ Der schlimmste Rat, den man niedergeschlagenen jungen Müt tern geben kann, ist zu sagen, dass sie es leicht nehmen sollten. Ruhe ist wichtig, sicherlich, aber nicht so wichtig wie Aktivität. Junge Mütter brauchen die Unterstützung von ihren Ehemännern, um sich die Zeit nehmen zu können, um sobald wie möglich an ihrem Körper – und ihrem Gehirn – zu arbeiten. Menopause: Die große Veränderung Genau genommen ist die Menopause ein eintägiges Ereignis, welches das Ende des zwölften Monats nach der letzten Periode einer Frau markiert. In der Praxis stellt sie die Zeitspanne der hormonellen Ver änderungen dar. Da die Eierstöcke mit zunehmendem Alter weniger zuverlässig arbeiten, erfolgt die Produktion von Östrogen und Progesteron eher sporadisch und schwindet schließlich. Wenn diese Hormone nicht mehr regelmäßig verfügbar sind, gerät das delikate Gleichgewicht der Neurochemikalien im Gehirn durcheinander. Die ersten Symptome treten in der Regel mehrere Jahre vor der Menopause auf, etwa zwischen Mitte 40 und Mitte 50 (das Durch schnittsa lter für die Menopause liegt bei 51), und kann danach mehrere Jahre andauern. Zu den Symptomen gehören die sogenannten vasomotorischen Symptome wie Hitzewallungen und nächtliches Schwitzen sowie Gereiztheit und Stimmungsschwankungen. Und genau wie bei den anderen hormonellen Veränderungen, über die ich gesprochen habe, ist nicht vorhersehbar, wie eine Frau darauf reagiert – einige überstehen die Menopause, ohne sie wirklich wahrzunehmen, während sie für andere dies reinste Qual ist. Die meisten Frauen spüren zumindest einige der Symptome, und viele derjenigen, die sich sportlich betätigen, finden, dass Bewegung hilft. Der große Wert sportlicher Betätigung für Frauen jenseits der Menopause besteht darin, dass sie die Auswirkungen geringerer Hormonspiegel ausgleichen kann und – wie Sie im nächsten Kapitel noch sehen werden –, vor einem Rückgang der kognitiven Fähigkeiten schützt. 254 Der Einfluss auf die Gesundheit des weiblichen Gehirns Aus dem Blickwinkel der Evolution betrachtet, überlistet körperliche Bewegung das Gehirn sozusagen, sodass dieses versucht, sich trotz der hormonellen Hinweise auf seine Alterung aufrechtzuerhalten, um zu überleben. Angesichts der Ebbe der natürlichen Hormonspiegel bietet körperliche Bewegung auch Schutz vor Gesundheitsproblemen wie Herzk rankheiten, Brustkrebs und Schlaganfall. Es ist selten, dass Frauen vor der Menopause einen Herzinfarkt bekommen, sofern bei ihnen keine genetische Prädisposition oder keine Komplikationen wie Fettleibigkeit oder Diabetes vorliegen. Dies war immer die rationale Begründung für eine Hormonersatz-Therapie: Östrogen und Progesteron schützen Frauen vor chronischen Krankheiten, sodass diese Hormone nach der Menopause ersetzt werden müssen. Diese Annahme ist in den letzten Jahren jedoch über Bord geworfen worden und viele Ärzte verschreiben inzwischen keine HormonersatzTherapie mehr. Die Kontroverse explodierte 2002 regelrecht, als Forscher am National Institute of Health auf alarmierende statistische Daten von einer Gruppe von Frauen stießen, die die Menopause bereits hinter sich hatten und an einer Studie der Women’s Health Initiative (WHI) teilgenommen hatten. Bei den Frauen, die sich einer HormonersatzTherapie unterzogen, lag das Brustkrebsrisiko 26 Prozent höher, das Risiko, einen Schlaganfall zu bekommen, lag 41 Prozent höher und das Risiko eines Herzinfarkts lag 29 Prozent höher. Nach dieser beunruhigenden Nachricht hörten in der Folge Mil lionen von Frauen auf, Hormone zu nehmen, und das New England Journal of Medicine veröffentlichte eine Umfrage in der Bevölke rung, die zeigte, dass die Brustkrebsraten 2004 um 9 Prozent gefallen waren. Dann berichtete eine prominente britische Studie, dass bei Frauen, die eine Hormonersatz-Therapie durchführten, das Risiko, eine Demenz zu entwickeln, doppelt so hoch ist – eine Hauptsorge von jedem, der die Lebensmitte überschritten hat. Es gibt jedoch Studien, die eine kurzfristige Anwendung einer HormonersatzTherapie in der Menopause unterstützen. Der einzige allgemein gültige Rat für Frauen in der Menopause ist, ihren Arzt zu fragen. Wie auch immer die Antwort ausfällt, die Widersprüche bedeuten für viele Frauen eine schmerzhafte Zwickmühle. 255 Kapitel 8: Hormonelle Veränderungen Die Symptome beachten Der häufigste Grund, warum Frauen sich für eine HormonersatzTherapie entscheiden, ist die Linderung der physischen Symptome der Menopause, insbesondere die Hitzewallungen, und niemand bestreitet, dass sie diesbezüglich Wunder vollbringt. Körperliche Bewegung ist eine Alternative, auch wenn die Belege über ihre Wir kung auf Hitzewallungen und nächtliches Schwitzen nicht beweiskräftig sind. Mehrere große Beobachtungsstudien, darunter eine, die 66.000 italienische Frauen in der Menopause einbezog, zeigten, dass ein geringeres Maß an körperlicher Bewegung oder sportlicher Betätigung mit verstärkten vasomotorischen Symptomen korreliert, in anderen Studien wurde eine solche Verbindung jedoch nicht nachgewiesen. Einige Geburtshelfer oder Gynäkologen werden Ihnen sagen, dass Hitzewallungen in Wirklichkeit durch sportliche Betätigung ausgelöst werden. Fest steht jedoch, dass Sie bei einer solchen Betätigung zumindest ohne Angst vor langfristigen Nebenwirkungen bedenkenlos Ihre eigenen Experimente durchführen können. Entweder hilft sie Ihre Symptome zu lindern, oder sie hilft nicht, Sie müssen sich aber in jedem Fall keine Gedanken darüber machen, ob Sie Ihrer Gesundheit damit schaden. Was bei der Frage, ob sportliche Betätigung Frauen in der Menopause bei der Linderung von Hitze wallungen hilft, auf der Strecke bleibt, ist das große Bild, nämlich dass Bewegung generell vor Herzk rankheiten, Diabetes, Brustkrebs und einem Rückgang der kognitiven Fähigkeiten schützt. Die physischen Symptome der Menopause verschlimmern die Stimmungssymptome, und es steht außer Frage, dass körperliche Bewegung diesbezüglich hilfreich ist. Eine Frau erklärte mir, das Frustrierendste am Altern sei für sie, dass sie das Gefühl habe, ihr Körper sei außer Kontrolle geraten. Sie nahm zu, litt unter Hitzewal lungen und hohem Blutdruck und ihre Sehschärfe verschlechterte sich. Außerdem ist sie bisweilen nervös, ängstlich und depressiv. Was körperliche Bewegung liefert, ist ein Gefühl der Kontrolle über die physischen Veränderungen, aber mehr noch über die emotionalen Veränderungen. „Ich weiß, dass körperliche Bewegung hilft, viele 256 Der Einfluss auf die Gesundheit des weiblichen Gehirns dieser Symptome im Zaum zu halten“, sagt sie. „Sie hilft mir, damit ich so proaktiv wie möglich beim Umgang mit einigen dieser Dinge sein kann, die so sehr außer Kontrolle geraten sind.“ Wie bei PMS scheinen es in der Menopause die Schwankungen der Hormone, nicht die Hormonspiegel als solche zu sein, die manche Frauen anfällig für Ängste und Depressionen machen. Bei Frauen ist die Wahrscheinlichkeit generell doppelt so hoch wie bei Männern, unter Ängsten und Depressionen zu leiden, und dieses Risiko erhöht sich weiter, wenn sie in die Wechseljahre kommen. Dies ist das Ergebnis einer Studie, die der Psychiater Lee Cohen durchführte, Spezialist für Frauenkrankheiten am Massachusetts General Hospital. Im Rahmen einer großen Studie, der sogenannten Harvard Study of Moods and Cycles, verfolgte er sechs Jahre lang die Entwicklung von 460 Frauen im Alter zwischen 36 und 45 Jahren, um eventuelle Stimmungsveränderungen zu vergleichen, wenn sie in die Menopause kamen. Keine dieser Frauen hatte in der Vergangenheit an Depressionen gelitten, ihr Risiko, eine Depression zu entwickeln, verdoppelte sich in der Menopause jedoch. Bei einer kürzlich durchgeführten Erhebung unter 883 Frauen (im Alter von 45 bis 60 Jahren) stellten Forscher der University of Queensland in Australien eine starke Korrelation zwischen sportlicher Betätigung und Symptomen der Menopause fest. Erstaunliche 84 Prozent der Frauen berichteten, dass sie zweimal oder mehrmals pro Woche Sport trieben, und sie hatten erheblich weniger physische und psychische Symptome einer Depression als Frauen, die sich nicht sportlich betätigten. Im Einzelnen fühlten sie sich weniger verspannt, müde und erschöpft. Sie klagten weniger über Kopfschmerzen und weniger über Enge oder Druck in ihrem Körper. Insgesamt können sportliche Aktivitäten, so das Fazit der Studie, enormen Einfluss auf das Wohlbefinden und die Lebensqualität einer Frau haben. 257 Kapitel 8: Hormonelle Veränderungen Sportliche Ersatztherapie Es ist hinreichend gesichert, dass mehr Frauen an der AlzheimerKrankheit leiden als Männer, dies gilt auch dann, wenn die Statistiken hinsichtlich der längeren Lebenserwartung von Frauen bereinigt worden sind. Auf der anderen Seite scheint die schützende Wirkung sportlicher Betätigung beim Rückgang kognitiver Fähigkeiten bei Frauen herausgestellt zu werden. In einer 2001 in den Archives of Neurology veröffentlichten Studie analysierte Danielle Laurin von der Laval Uni versity im kanadischen Quebec die Beziehung zwischen sportlichen Betätigungen und physischen Aktivitäten bei einer Gruppe von 4.615 älteren Männern und Frauen über einen Zeitraum von fünf Jahren. Laurin stellte fest, dass bei Frauen im Alter von über 65, die ein höheres Maß an physischen Aktivitäten hatten, die Wahrscheinlichkeit, eine Form von Demenz zu entwickeln, um 50 Prozent geringer war als bei ihren inaktiven Altersgenossen und -genossinnen. Bis zur Veröffentlichung der WHI-Studien waren Wissenschaftler der Überzeugung, dass eine Hormonersatz-Therapie vor dem Ver fall kognitiver Fähigkeiten schützt, die Belege unterstützen diese Annahme jedoch nicht. Eine der Fragen, die Forscher inzwischen aufgegriffen haben, ist, ob sportliche Aktivitäten und Hormone intera ktive Effekte auf den Rückgang kognitiver Fähigkeiten nach der Menopause haben. Forschungen von Carl Cotmans Labor an der University of California, Irvine, legen den Schluss nahe, dass Östrogen notwendig ist, damit sportliche Aktivitäten den BDNFSpiegel im präfrontalen Cortex weiblicher Raten erhöhen können. Die Studie war jedoch so angelegt, dass sie sich nicht unbedingt auf die Bedingungen der Menopause beim Menschen übertragen lässt; bei den Ratten waren die Eierstöcke im Alter von drei Monaten entfernt worden, was vom Alter her jungen, gesunden Frauen entsprechen würde. Die ersten Berichte über Untersuchungen beim Menschen zu dieser Frage lassen darauf schließen, dass Östrogen kein wesentlicher Bestandteil ist, damit sportliche Betätigung vor dem Verfall kognitiver Fähigkeiten schützen kann. Im Rahmen einer Studie untersuchte die Physiologin Jennifer Etnier, die jetzt an der University of North Carolina in Greensboro ist, mittels Tests die 258 Der Einfluss auf die Gesundheit des weiblichen Gehirns geistige Verarbeitungsgeschwindigkeit und die Exekutive Funktion bei 101 Frauen nach der Menopause und verglich die Ergebnisse mit dem von ihnen berichteten Niveau regelmäßiger aerober Übungen. Diejenigen, die körperlich aktiver waren, hatten höhere Werte, ungeachtet dessen, ob sie eine Hormonersatz-Therapie gemacht hatten oder nicht. Die aufschlussreichste Studie zu diesem Thema kommt aus dem Labor des Psychologen Arthur Kramer an der University of Illinois in Urbana-Champaign, die als eine der Ersten einen Zusammenhang zwischen bestimmten kognitiven Fähigkeiten und Veränderungen in der Hirnstruktur herstellte, was durch MRI-Scans festgestellt worden war. Kramer wollte sehen, ob sportliche Aktivitäten und eine Hormonersatz-Therapie in ihrem Einfluss auf die Exekutive Funktion und das Volumen des präfrontalen Cortex zusammenwirkten. Im Rahmen einer kompliziert angelegten Untersuchung rekrutierte er 54 Frauen, die die Menopause bereits hinter sich hatten und sich jeweils damit einverstanden erklärten, einen MRI-Scan, mentale Tests der Exekutiven Funktion und einen Test auf dem Laufband zur Feststellung ihres maximalen Sauerstoffverbrauchs (VO2) zur Messung ihrer Fitness zu machen. Die Daten wurden in vier Kategorien unterteilt, je nach Dauer der Hormonersatz-Thera pie. Die erste Gruppe hatte sich nie einer Hormonbehandlung unter zogen, und bei den übrigen drei Gruppen wurde zwischen einer kurzfristigen (zehn Jahre oder weniger), einer mittelfristigen (elf bis 15 Jahre) und einer langfristigen (16 Jahre oder mehr) Behandlung unterschieden. Die 2005 veröffentlichten Ergebnisse zeigten, dass die Frauen mit der kurzfristigen Hormonersatz-Therapie bei den Tests besser abschnitten und ein größeres Gehirnvolumen hatten als Frauen, die nie eine Therapie gemacht hatten oder die eine Therapie von mehr als zehn Jahren gemacht hatten. Dies legt den Schluss nahe, dass eine Hormonersatz-Therapie in der Tat kurzfristig eine schützende Wir kung haben kann. Als aerobe Fitness einbezogen wurde, hatte dieser Umstand einen erheblichen Einfluss auf die Leistungswerte und das Gehirnvolumen. Bessere Fitness scheint die Verschlechterung oder den Verfall bei Frauen auszugleichen, die beziehungsweise den sie ansonsten erleben würden, wenn sie nie eine Hormonersatz-Therapie 259 Kapitel 8: Hormonelle Veränderungen gemacht hätten, oder wenn sie daran mehr als zehn Jahre teilgenommen hätten. Eine der Theorien aus der Nagetierforschung besagt, dass bei einer langfristigen Hormonersatz-Therapie die Östrogen-Rezeptoren im Hypothalamus langsam abgebaut werden, also in jener Region, die die Immunreaktion aktiviert. Und dass Frauen, wenn der Hy pothalamus nicht richtig arbeitet, anfälliger für Krankheiten wie Krebs sein würden. Ebenso wichtig ist, dass eine langfristige Östro genbehandlung bei Nagetieren auch Zellentzündungen verursachen kann, die ein Risikofaktor für Alzheimer sind und mit einer Beein trächtigung des Erinnerungsvermögens assoziiert werden. Kramers These ist, dass sportliche Betätigung die positiven Effek te einer kurzzeitigen Hormonersatz-Therapie zu fördern scheint, und dies entspricht den neuroprotektiven Mechanismen, die ich beschrieben habe. Körperliche Bewegung zündet den Funken für die Produktion von Neurotransmittern und Neurotrophinen, lässt mehr Rezeptoren für sie in Schlüsselregionen des Gehirns entstehen und schaltet Gene ein, die dafür sorgen, dass der positive Kreislauf sich immer weiter dreht. Diese Eigendynamik ist für Frauen generell sehr wichtig, aber insbesondere nach der Menopause. Eine Routine entwickeln Mein Vorschlag ist, sich an mindestens vier Tagen pro Woche aufzuraffen und nach draußen zu gehen, um schnell zu gehen, zu joggen, Tennis zu spielen oder einer anderen Aktivität nachzugehen, die dafür sorgt, dass Ihr Puls auf 60 bis 65 Prozent Ihrer maximalen Herzfrequenz steigt. Auf diesem Niveau sollten Sie ihn eine Stunde lang halten. Jeder möchte immer gerne wissen, welche aeroben Übungen am besten sind, und die Antwort ist: Was immer Sie in Ihren Lebensstil einbauen können. Entscheidend ist, dass Sie daran festhalten und sicherstellen, dass ihre Herzfrequenz dabei hoch genug ist, um die nutzbringenden Effekte zu erzielen. Ebenso wichtig ist, an einigen Tagen in der Woche ein Krafttraining einzubauen, um ihre Knochen vor Osteoporose zu schützen. 260 Der Einfluss auf die Gesundheit des weiblichen Gehirns Für jüngere Frauen, die an PMS leiden, schlage ich aerobe Übun gen auf dem gleichen Niveau an fünf Tagen in der Woche vor, wobei es jedoch eine gute Idee sein könnte, kurze, intensivere Teile wie Sprints an zwei der Tage mit einzubauen, allerdings nicht unmittel bar hintereinander. Einige der Studien weisen darauf hin, dass Aktivitäten mit einer höheren Intensität einen deutlicheren Effekt auf Symptome wie Reizbarkeit, Ängste, Depressionen und Stim mungsschwankungen haben. Und wenn Ihre Symptome besonders schlimm sind und Sie nicht durch Krämpfe völlig lahmgelegt sind, ist es wahrscheinlich eine gute Idee, in der prämenstruellen Phase Ihres Zyklus jeden Tag etwas zu tun. Der Rat, der meines Erachtens alle am meisten überrascht, ist, sich auch während einer Schwangerschaft weiterhin sportlich zu betätigen – eine Empfehlung, die schließlich auch vom American College of Obstetricians and Gynecologists abgesegnet wurde. Nach den Richt linien des American College werden täglich 30 Minuten mäßig intensive, aerobe Aktivität während der Schwangerschaft für gesunde Frauen empfohlen. Natürlich ist es wichtig, diesbezüglich auch die Zustimmung ihres Arztes einzuholen, für die meisten Frauen sind solche sportlichen Aktivitäten jedoch unbedenklich. Ebenso kann ich nicht genug betonen, wie wichtig es ist, ihr routinemäßiges Übungs programm so bald wie möglich nach der Geburt des Babys wieder aufzunehmen, am besten bereits nach einigen Wochen. Auch wenn es widersinnig erscheinen mag, aber Bewegung sorgt tatsächlich dafür, dass Sie weniger müde sind. Und bei Frauen wie meiner Patientin Stacy vertreibt sie außerdem Ängste und Depressionen. Wenn Frauen jünger sind, ist eine der großen Motivationen, um Sport zu treiben, dass sie schlank bleiben möchten, und dies ist absolut in Ordnung. Nutzen Sie alles, welcher Beweggrund auch immer Sie dazu bringt, etwas zu tun. Die Botschaft, die ich Ihnen jedoch geben möchte, ist Folgende: Sportliche Betätigung verändert nicht nur Ihren Körper, sondern sorgt auch dafür, dass Ihr Geist fit und aufnahmefähig bleibt. Und mit dieser mentalen Fitness werden Sie gerüstet sein, um mit den hormonellen Schwankungen umzugehen, die jede Frau zeit ihres Lebens erfährt. Ganz zu schweigen von den Schwankungen des Lebens selbst. 261 9. Altern Der weise Weg M eine Mutter war als schnelle Geherin bekannt. Mit ihrer Kör pergröße von 1,70 Metern beherrschte sie die Gehwege in unserer Stadt im Westen Pennsylvanias, und die Leute fragten meine Geschwister und mich immer, wo sie denn hinliefe. Mit schnellem Schritt ging sie jeden Morgen in die Kirche zur Frühmesse, außer an Sonntagen, wenn mein Vater mit uns allen, herausgeputzt in unserem Sonntagsstaat, dorthin fuhr. Es waren etwa zweieinhalb Kilometer bis zur Kirche, was bei dem Tempo, das meine Mutter an den Tag legte, ein ziemlich gutes Training war, sie ging jedoch nicht, um in Form zu bleiben. Sie ging, weil sie gerne ging (und um die Preise in den Lebensmittelgeschäften zu vergleichen, die anderthalb Kilometer auseinander lagen). In Anbetracht dessen, was Wissenschaftler über die „nährenden“ Effekte körperlicher Bewegung auf das Gehirn gelernt haben, bin ich mir sicher, dass es das Ausmaß an körperlichen Aktivitäten meiner Mutter war, das dafür sorgte, dass sie auch geistig so lange so fit war. Mit weit über 80 Jahren führte Vern Ratey noch ein volles, beschwingtes Leben. Es war einfach ein Teil ihrer Persönlichkeit, dass sie immer irgendetwas tun musste. Ich erinnere mich, dass wir einmal eine Couch kauften, nachdem sie sich wochenlang endlos Gedanken über Farbe und Größe gemacht und immer wieder 263 Kapitel 9: Altern gemessen und nachgemessen hatte. Als ich an dem Tag, an dem sie geliefert wurde, aus der Schule nach Hause kam, überraschte ich meine Mutter dabei, wie sie gerade die gepolsterten Armlehnen absägte, damit unser neues Möbelstück auch so passte, wie sie es sich wünschte. Mit ebendiesem ungebrochenen Eifer kümmerte sie sich um alles, egal, ob es um das Pflanzen von Tomaten in einem unwegsamen Stückchen Land neben dem Haus oder um Schneeschaufeln ging. Sie war sozusagen eine professionelle Ehrenamtlerin (mein Vater wollte nicht, dass sie arbeiten ging) und unser Keller war voll von Kleider spenden für den Kirchenbasar, was hieß, dass wir Kinder immer die erste Wahl hatten. Als Kind einer Familie der Arbeiterklasse einst tschechoslowakischer Einwanderer war sie eine Amerikanerin in der zweiten Generation und sicher ein Produkt der Großen Depression: Sparsam und ernst, rau, aber liebevoll. Mein Vater Stephen war vier Jahre älter als sie und starb, als meine Mutter 59 war. Auch wenn sie einige Jahre brauchte, um darüber hinwegzukommen, so war sie doch eine widerstandsfähige Frau, die sehr viele Freunde hatte. Schließlich lernte sie dann einen anderen Mann kennen und heiratete mit Mitte 60 noch einmal. Die beiden verbrachten den Winter jeweils in Vero Beach, Florida, wo er ihr beibrachte, wie man Golf spielte, und sie lernte sogar schwimmen. Im Sommer zog sie gleich nach dem Aufstehen ihren Badeanzug unter die normale Kleidung an, sodass sie bei ihren diversen Besorgungen gleich noch im Schwimmbad vorbeigehen konnte. Die einzige Schwimmtechnik, die sie beherrschte, war herumzupaddeln wie ein Hund, das heißt, sich in Brustlage durch leichtes Kreisen der Hände und Füße über Wasser zu halten, und dies machte sie dann jeweils eine Stunde lang im kalten Wasser. Und Gehen stand weiterhin auf der Tagesordnung; sie ging sehr viel: zur Kirche, zum Lebensmittelgeschäft, zum Tanzen oder zum Bowlen oder dreimal wöchentlich zum Bridgespielen ins Seniorenzentrum. Abgesehen von einer Osteoporose, ging es ihr gesundheitlich sehr gut. Und sie hatte einen scharfen Verstand. Wann immer ich sie anrief, erzählte sie mir detailliert, wie viele Punkte sie beim Bridge gewonnen hatte, oder wir unterhielten uns darüber, wie sie ihr Geld anlegen sollte. Ihr zweiter Ehemann starb, als sie Anfang 70 war, 264 Der weise Weg aber sie ließ sich nicht unterkriegen und war weiterhin ständig in Bewegung. Als meine Mutter 86 war, stolperte sie und brach sich eine Hüft seite – es war genau die Art von Unfall, durch die rund 1,8 Mil lionen Senioren jährlich in der Notaufnahme landen. Auch wenn Herzkrankheiten, Krebs, Schlaganfall und Diabetes bei US-Ame rikanern im Alter von über 65 Jahren die führenden Todesursachen sind, leben viele von ihnen in der Furcht, zu fallen und sich ihre spröden Knochen zu brechen. Hüftf rakturen sind besonders problematisch, da sie eine monatelange Rehabilitation erfordern; und die Beweglichkeit in einem so wichtigen Gelenk zu verlieren, das nahezu das ganze Körpergewicht trägt, bedeutet in der Regel eine drastische Beschränkung der eigenen Bewegungs- und Aktivitätsmöglichkeiten. Etwa 20 Prozent der älteren Menschen, die einen Hüftbruch erleiden, sterben innerhalb eines Jahres. Was meine Mutter angeht, so war sie nach etwa sechs Monaten wieder so weit auf den Beinen, dass sie mit einer Gehhilfe zurechtkam. So kamen wir umhin, sie in einem Pflegeheim unterzubringen, und konnten die Situation damit lösen, dass wir eine Pflegekraft engagierten, die bei ihr im Haushalt lebte. Der Unfall hatte sie in ihrer Mobilität jedoch eingeschränkt – sie schlurfte, statt zu gehen. Und ihre Osteoporose schritt nun schneller voran, sie krümmte ihr Rückgrat und das zwang sie in eine gebeugte Haltung. Als ihr Körper langsamer wurde, verlangsamte sich auch ihr Geist: Sie hörte auf, Bridge zu spielen, und fing an, sich Seifenopern anzuschauen. Eine Freundin nahm sie an Sonntagen mit zur Kirche, ansonsten kam sie jedoch nicht mehr viel nach draußen. Sie baute geistig ab, hatte aber noch keine Demenz – sie wusste genau, wer ich war, bei unseren Gesprächen wusste sie jedoch immer weniger zu sagen. Im darauf folgenden Jahr fiel sie dann erneut hin und brach sich die andere Hüftseite. Es war erschütternd für mich, sie völlig immobilisiert zu sehen, und dies war der Punkt, an dem sie dann wirklich aufhörte, sie selbst zu sein. Sie konnte nicht mehr unterscheiden zwischen dem, was real war und was nicht. Die Darsteller aus den Seifenopern wurden Teil ihres Lebens und sie sprach mit ihnen, als wären sie unmittelbar bei ihr im Zimmer. Sie starb eines natürlichen Todes im Alter von 88 Jahren. 265 Kapitel 9: Altern Alles zusammenhalten Ich habe in diesem Buch sehr viel über die biologischen Verbin dungen zwischen Körper und Gehirn gesprochen, und diese Verbin dungen sind bei keinem anderen Thema wichtiger als beim Altern. Schließlich hilft einem ein gesunder Geist nicht sonderlich viel, wenn der Körper nicht mehr mitmacht. Im Jahr 1900 lag die Lebenserwartung der US-Amerikaner im Durchschnitt bei 47 Jahren. Heute liegt die Lebenserwartung bei über 76 Jahren, und wenn ältere Menschen sterben, ist die Ursache eher eine chronische Krankheit als eine akute Erkrankung. Aller dings werden diejenigen, die diese Widrigkeiten überleben, mit anderen erschreckenden Statistiken konfrontiert: Den Erhebungen der Zentren für Krankheitskontrolle (CDC, Centers for Disease Control) zufolge leidet ein 75-Jähriger im Durchschnitt unter drei chronischen medizinischen Beschwerden und nimmt fünf verschriebene Medikamente ein. Von den über 65-Jährigen leiden die meisten unter Bluthochdruck, mehr als zwei Drittel sind übergewichtig, und fast 20 Prozent haben Diabetes (sodass das Risiko, Herzkrankheiten zu entwickeln, dreimal so hoch ist). Die führenden Todesursachen sind Herzkrankheiten, Krebs und Schlaganfälle; insgesamt gehen 61 Prozent aller Todesfälle in dieser Altersgruppe auf ihr Konto. Wir wissen bereits, dass Rauchen, Bewegungsarmut und schlechte Ernährung die eigentliche Ursache dieser körperlichen Krank heiten sind. Ebenso lassen die neuesten Forschungen keinen Zweifel daran, wie der Lebensstil Einfluss auf die Krankheitsrisiken auf mentaler Ebene hat, die mit dem Alterungsprozess verbunden sind. Die gleichen Dinge, die den Körper umbringen, bringen auch das Gehirn um, was der Neurowissenschaftler Mark Mattson vom Na tional Institute on Aging indes als etwas Positives sieht. „Wenn wir dies ernst nehmen, dann ist die gute Nachricht meines Erachtens, dass viele der Faktoren, die das Risiko reduzieren können, an einer Herz- und Gefäßkrankheit sowie an Diabetes zu erkranken, auch das Risiko für altersbedingte neurodegenerative Störungen reduzieren“, sagt er. Die Maßnahmen, die wir ergreifen würden, um uns beispielsweise vor Diabetes zu schützen, halten auch den Insulinspiegel 266 Der weise Weg im Gehirn im Gleichgewicht und unterstützen die Neuronen bei der Bewältigung von metabolischem Stress. Laufen, um unseren Blutdruck zu senken und unser Herz zu stärken, verhindert auch, dass die Kapillare im Gehirn zusammenbrechen oder angegriffen werden und einen Schlaganfall verursachen. Gewichte heben, um zu verhindern, dass unsere Knochen durch Osteoporose zersetzt werden, sorgt auch dafür, dass Wachstumsfaktoren ausgeschüttet werden, die wiederum die Dendriten wachsen und gedeihen lassen. Umgekehrt stärkt die Einnahme von Omega-3-Fettsäuren zur Förderung der geistigen Fitness auch unsere Knochen. Die mentalen und physischen Krankheiten, mit denen wir mit zunehmendem Alter konfrontiert sind, sind durch das Herz- und Gefäßsystem und das Stoffwechselsystem miteinander verknüpft. Ein Versagen dieser grundlegenden Verbindungen erklärt, warum bei fettleibigen Personen die Wahrscheinlichkeit, eine Demenz zu erleiden, doppelt so hoch ist, und warum bei denjenigen, die Herz krankheiten haben, das Risiko weitaus größer ist, Alzheimer zu entwickeln, die am meisten verbreitete Form von Demenz. Wenn Sie Diabetes haben, liegt das Risiko, eine Demenz zu entwickeln, statistisch gesehen 65 Prozent höher, und ein hoher Cholesterinspiegel erhöht das Risiko um 43 Prozent. Wir haben über die medizinischen Belege gesprochen, dass körperliche Bewegung jahrzehntelang vor diesen Krankheiten schützt; den Zentren für Krankheitskontrolle (CDC) zufolge gibt jedoch ein Drittel der Bevölkerung im Alter von über 65 Jahren an, keiner Freizeitaktivität mehr nachzugehen. Meine Hoffnung ist, dass Sie, wenn Sie verstehen, wie körperliche Bewegung auch ihren Geist schützt, sich dies zu Herzen nehmen. Einige der überzeugendsten Nachweise über den Effekt körperlicher Bewegung auf das alternde Gehirn stammen aus einem bahnbrechenden Forschungsprojekt, der sogenannten Nurses’ Health Study, bei dem Mitte der 1970er-Jahre die gesundheitlichen Gewohnheiten von mehr als 122.000 Krankenschwestern alle zwei Jahre erfasst wurden. 1995 begannen Forscher mit kognitiven Tests, die sie mit einigen der Krankenschwestern durchführten. Diese ermöglichten es der Epidemiologin Jennifer Weuve an der Harvard University, bei 18.766 Frauen im Alter zwischen 70 und 81 Jahren die Beziehung zwischen dem Ausmaß an körperlicher Bewegung 267 Kapitel 9: Altern und ihren kognitiven Fähigkeiten zu analysieren. Weuve nutzte den Datenbestand, um der Frage nachzugehen, ob es einen direkten Zusammenhang zwischen regelmäßigen körperlichen Aktivitäten während des ganzen Erwachsenenlebens und geschärfteren geistigen Funktionen gibt, wenn wir älter werden. Die im Journal of the American Medical Association veröffentlichten Ergebnisse unterstreichen eindrucksvoll, was sie im Vorfeld bereits ahnte: Bei Frauen, die das höchste Maß an Energie auf körperliche Aktivitäten verwendeten, lag das Risiko kognitiver Beeinträchtigungen bei Tests über das Auffassungsvermögen und die allgemeine Intelligenz 20 Prozent niedriger. In dieser Gruppe bestand das Durchschnittsniveau der Aktivitäten darin, dass diese Frauen zwölf Stunden in der Woche gingen oder insgesamt knapp vier Stunden joggten, im Vergleich knapp einer Stunde Gehen bei der am wenigsten aktiven Gruppe (von insgesamt fünf). Man muss jedoch keine „Supersportlerin“ sein, meint Weuve, um einen nutzbringenden Effekt zu erzielen. „Das Schöne ist wirklich, dass wir bereits bei einem bescheidenen Maß an Aktivitäten Effekte sehen konnten – wir sprechen hier von anderthalb Stunden Gehen pro Woche“, sagt sie. Selbst auf diesem relativ niedrigen Niveau „sieht man bereits einen nutzbringenden Effekt, der im Vergleich zu den am wenigsten aktiven Frauen wesentlich höher liegt.“ Wie wir altern Dass wir älter werden, lässt sich nicht vermeiden, dabei zu verfallen, jedoch sehr wohl. Aber wie kommt es, dass manche Leute mit relativ wenig gesundheitlichen Problemen 100 Jahre alt werden, während andere an chronischen Krankheiten leiden, die sie jeder normalen mentalen und physischen Funktionsfähigkeit berauben? Um zu verstehen, wieso das Alter so unterschiedliche Wege gehen kann, ist es hilfreich, sich das Leben und den Tod auf zellularer Ebene anzuschauen. In dem Zuge, wie wir altern, verlieren die Zellen im ganzen Kör per allmählich ihre Fähigkeit, sich Stress anzupassen. Warum dies 268 Der weise Weg so ist, muss die Wissenschaft erst noch klären; fest steht jedoch, dass die Schwelle zur Bekämpfung molekularen Stresses, der durch freie Radikale, außerordentlichem Energiebedarf und übermäßige Erregbarkeit ausgelöst wird, bei älteren Zellen niedriger ist. Und die Gene, die für die Produktion von Proteinen verantwortlich sind, die schädliche Abfallprodukte beseitigen, hören auf, ihrer Aufgabe nachzukommen, was zu einer zellularen Todesspirale führen kann, die von Neurow issenschaftlern als Apoptose (programmierter Zelltod) bezeichnet wird. Mit zunehmender Schädigung wird das Immun system aktiviert, sodass weiße Blutkörperchen und andere Faktoren ausgesandt werden, um die toten Zellen „aufzuwischen“, wodurch eine Entzündung entsteht; wird die Schwellung chronisch, entstehen noch mehr schädigende Proteine. Und diese Proteine werden unmittelbar mit der Alzheimer-Krankheit assoziiert. Wenn bei den Neuronen im Gehirn aufgrund von zellularem Stress Verschleißerscheinungen eintreten, zehrt dies an den Synap sen, was am Ende zu einer Unterbrechung der Verbindungen führt. Mit nachlassender Aktivität schrumpfen schließlich die Dendri ten physisch und schwinden. Wenn hier und da ein Signal verloren geht, so stellt dies zunächst kein großes Problem dar, da das Gehirn so konzipiert ist, dass es solche Schwächen durch Umleiten von Informationen um derartige toten Flecken im Netzwerk dadurch ausgleicht, dass andere Regionen für die Weiterleitung der Informationen rekrutiert werden. Das System hat gewissermaßen eine eingebaute Sicherheitskapazität. Vergessen Sie nicht, dass wir von mehr als rund 100 Milliarden Neuronen sprechen, von denen jede bis zu 100.000 Inputs haben kann. Es ist ein sehr soziales Netzwerk, das dadurch wächst und gedeiht, dass neue Verbindungen hergestellt werden, und das sich, wie gesagt, ständig neu verdrahtet und anpasst – vorausgesetzt, es gibt genügend Stimulation, um das Wachstum neuer Verbindungen anzukurbeln. Mit zunehmendem Alter ist mehr Fläche erforderlich, um irgendeine Funktion auszuführen. Weisheit ist, glaube ich, ein Spiegel dessen, wie geschickt und versiert das Gehirn darin ist, diesen Effizienzverlust auszugleichen. Erfolgt der synaptische Verfall schneller als die Bildung neuer Sy napsen, bemerkt man allmählich, dass es Probleme mit der mentalen oder physischen Funktionsfähigkeit gibt, angefangen von Alzheimer 269 Kapitel 9: Altern bis hin zur Parkinson-Krankheit (je nachdem, wo die Degeneration auftritt). Im Grunde sind kognitive Verfallserscheinungen und neurodegenerative Krankheiten auf dysfunktionale und sterbende Neuronen zurückzuführen; es handelt sich dabei um einen Zusam menbruch der Kommunikation. Bei der Forschung über das Altern geht es hauptsächlich um Bemühungen, „die Fähigkeit der Nerven zellen, zu kommunizieren und am Leben zu bleiben, wiederherzustellen“, erklärt Mattson. „Wenn man dies kann, dann kann man ihre Degeneration und damit die Krankheit verhindern.“ In dem Zuge, wie die synaptische Aktivität nachlässt und die Dendriten sich zurückziehen, schrumpfen auch die Kapillare, die das Gehirn versorgen, sodass die Durchblutung eingeschränkt wird. Der Prozess kann jedoch auch umgekehrt verlaufen: Schrumpfen die Kapillare, weil nicht genügend Blut durch sie gepumpt wird, folgen die Dendriten diesem Prozess. So oder so, es ist tödlich. Ohne Sauerstoff, Brennstoff, Nährstoff und Reparaturmoleküle, die allesamt durch das Blut transportiert werden, sterben die Zellen. Die Spiegel nährender Neurotrophine – wie der neurotrophe Faktor BDNF und der vaskuläre endot heliale Wachstumsfaktor (VEGF) – schwinden mit zunehmendem Alter auch, und die Produktion des Neurotransmitters Dopamin verlangsamt sich, was sowohl die motorische Funktion als auch die Motivation untergräbt. Unterdessen erhält der Hippocampus zunehmend weniger neue Neuronen, mit denen er arbeiten kann. Studien über Ratten weisen darauf hin, dass die Neurogenese sich mit zunehmendem Alter drastisch verlangsamt – nicht weil weniger Stammzellen geboren werden, sondern weil sich aus dem Anfangspool weniger Stammzellen teilen und sich zu voll funktionierenden Neuronen entwickeln (wahrscheinlich aufgrund von weniger VEGF). Die meisten neuronalen Stammzellen sterben sowieso, aber die Anzahl derjenigen, die am Ende genutzt werden, fällt bei Nagetieren mittleren Alters von 25 Prozent auf acht Prozent (was bei uns etwa dem Alter von 50 Jahren entspricht), und schließlich, wenn sie alt sind, auf vier Prozent (d. h. im menschlichen Alter von mehr als 65). Dies sagt jedoch nichts über die großen Anteile des Gehirns aus, die nicht von der Neurogenese profitieren. Ab einem Alter von etwa 40 Jahren verlieren wir pro Jahrzehnt im Durchschnitt fünf 270 Der weise Weg Prozent unserer Gehirnmasse, bis wir etwa 70 sind, wobei der Pro zess ab diesem Punkt dann durch eine Reihe von Faktoren beschleunigt werden kann. Personen wie meine Mutter, die auch mit zunehmendem Alter engagiert und aktiv bleiben, können die Degeneration verlangsamen. Bei einer Studie über Personen, die vor einiger Zeit in den Ruhestand gegangen waren, stellten Forscher fest, dass bei denjenigen, die körperlich oder sportlich aktiv waren, die Durchblutung des Gehirns nach vier Jahren auf nahezu gleich bleibendem Niveau war, während bei der inaktiven Gruppe ein erheblicher Rückgang zu verzeichnen war. Wenn Ihr Gehirn nicht aktiv wächst, dann stirbt es. Körperliche Bewegung ist eine der wenigen Möglichkeiten, dem Alterungsprozess entgegenzuwirken, sodass sich der natürliche Rückgang der Stressschwelle verlangsamt. „Paradoxerweise“, sagt Mattson, „ist es gut, wenn Zellen in periodischen Abständen leichtem Stress ausgesetzt werden, weil dies ihre Fähigkeit verbessert, mit schlimmerem Stress umzugehen.“ Darüber hinaus sorgt körperliche Bewegung für neue Verbindun gen und Wachstum in den Zellennetzwerken Ihres Gehirns genau so, wie ich dies in früheren Kapiteln beschrieben habe: Bewegung erhöht die Blutmenge, reguliert die Brennstoffversorgung und fördert die neuronale Aktivität und Neurogenese. Da das alternde Gehirn anfälliger für Schädigungen ist, hat alles, was Sie tun, um es zu stärken, einen nachhaltigeren Effekt, als dies bei einem jungen Erwachsenen der Fall wäre. Das heißt jedoch nicht, dass es nicht wichtig wäre, früh damit anzufangen – wenn Sie ein besseres, stärkeres Gehirn mit mehr Verbindungen haben, das fit ist, ist es mit Sicherheit widerstandsfähiger und wird einem neuronalen Zusammenbruch wesentlich länger standhalten. Körperliche Bewegung ist sowohl präventive Medizin als auch ein Gegenmittel. Altern ist ein ebenso unweigerlicher wie natürlicher Prozess. Es gibt nichts, was Sie an dem Warum ausrichten könnten, definitiv tun können Sie jedoch etwas für das Wie und Wann. 271 Kapitel 9: Altern Rückgang kognitiver Fähigkeiten Dass kognitive Fähigkeiten nachlassen, zeigt sich zuerst an den kleinen Dingen. Wenn die Verbindungen im Gehirn zusammenbrechen, fällt es Ihnen schwerer, sich an Personen und Orte zu erinnern, die Sie kennen. Jeder erlebt dies an irgendeinem Punkt – es liegt einem förmlich auf der Zunge, aber irgendwie will es einem partout nicht einfallen. Der präfrontale Cortex, der die Suchmaschine Ihres Gedächtnisses ist, kann es nicht abrufen. Der Hippocampus liefert weitere Assoziationen, um Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen; es ist aber in jedem Fall frustrierend, dass Sie sich bei etwas, das einmal unbewusst, sozusagen automatisch erfolgte, so sehr anstrengen müssen. Dies passiert den meisten von uns, wenn wir älter werden, wobei jedoch das Ausmaß, in dem sich eine sogenannte leichte kognitive Beeinträchtigung bei Einzelnen äußert, sehr verschieden ist. Ein solcher Rückgang kognitiver Fähigkeiten verläuft nicht unbedingt immer fortschreitend. Sofern eine leichte kognitive Beein trächtigung unkontrolliert fortbesteht und sich weiter fortsetzt, kann sie jedoch zur Demenz werden. Es beginnt damit, dass Sie die Ereignisse einfach nicht mehr „auf die Reihe bekommen“ die Sie geprägt und zu der Person gemacht haben, die Sie sind, ein schrecklich bedrohliches Gef ühl, das an Ihrem Selbstwertgefühl nagt. Sehr viele Menschen, die merken, dass sie in dieser Situation sind, neigen dazu sich zurückzuziehen, was unwissentlich ein Spiegelbild ihrer Dendriten ist. Sie gehen nicht mehr aus sich heraus und stellen keine neuen Verbindungen mehr her, aus Furcht, nicht zu wissen, wie sie reagieren sollen. So ziehen sie sich aus der Welt zurück, entweder aus Beschämung oder einfach, weil sie sich außerhalb der Vertrautheit der eigenen vier Wände unwohl fühlen. So oder so, das Ergebnis ist, dass sie von Beziehungen abgeschnitten werden, die ihnen etwas bedeuten und eine wichtige Form der Stimulation für das Gehirn sind. Isolation und Inaktivität nähren die zellulare Todesspirale, und dies lässt das Gehirn schrumpfen und verkümmern. Die Erosion hinterlässt die deutlichsten Spuren im Frontallappen, der sowohl die graue Substanz des präfrontalen Cortex als auch die weiße Substanz seiner Axone sowie den Schläfenlappen 272 Der weise Weg (Temporallappen) mit einschließt, der Worte und Namen katalogisiert und durch seine enge Verbindung mit dem Hippocampus bei der Bildung des Langzeitgedächtnisses hilft. Wenn der prä frontale Cortex nicht mehr funktioniert, kommen auch höhere kognitive Funktionen zum Erliegen, und dies ist der Punkt, an dem grundlegende Aspekte des Alltagslebens beschwerlich werden. Iro nischerweise hängen die Fähigkeiten, die wir für selbstverständlich nehmen – die Schuhe schnüren, eine Tür aufschließen oder zum Supermarkt fahren –, von den höchstrangigen Hirnfunktionen wie dem Kurzzeitgedächtnis sowie der Fähigkeit ab, zwischen Aufgaben zu wechseln und irrelevante Informationen auszublenden. Das ist der Grund, warum selbst ein trainierter Affe Schwierigkeiten hat, ein Hemd richtig zuzuknöpfen, und wahrscheinlich auch, warum einer meiner Patienten immer vergisst, den Reißverschluss an seiner Hose zu schließen. Mit 78 Jahren macht er ständig den gleichen Fehler, obwohl seine Frau ihm immerzu Predigten hält, weil sein Kurzzeitgedächtnis sich einfach nicht merken kann, dass er gerade die Toilette benutzt hat. Der Schläfenlappen, unser mentales Wörterbuch, ist eine der Hirnregionen, die bei der Alzheimer-Krankheit verkümmern. Ein einfacher Test zum Nachweis der Krankheit ist, jemandem eine Liste von Worten zu zeigen und nach einer halben Stunde zu fragen, woran er sich noch erinnern kann. Wie im ersten Kapitel erwähnt, haben Forscher an der University of Illinois eine Reihe von Studien durchgeführt, bei denen ein starker Zusammenhang zwischen dem Fitnessniveau und besseren Leistungen in Tests nachgewiesen werden konnte, bei denen diese Hirnregionen angesprochen wurden. Einer Studie zufolge war das Gehirn von älteren Erwachsenen, die, eigenen Angaben zufolge, in der Vergangenheit konsequent aerobe Übungen gemacht hatten, eindeutig besser erhalten, das zeigten die MRT-Aufnahmen. Ein Zusammenhang ist jedoch nur für Laborwissenschaftler interessant. Sie wollten sehen, ob körperliche Bewegung zu strukturellen Veränderungen in diesen Hirnregionen führt. Ein Team unter der Leitung des Neurowissenschaftlers Arthur Kra mer teilte 59 inaktive Personen im Alter von 60 bis 79 Jahren in zwei Gruppen ein, die im Laufe von sechs Monaten dreimal wöchentlich 273 Kapitel 9: Altern jeweils für eine Stunde ins Fitnessstudio gehen sollten. Diejenigen, die zur Kontrollgruppe gehörten, machten ein Dehnübungsprogramm, die anderen gingen auf Laufbändern, wobei sie bei 40 Prozent ihrer maximalen Herzfrequenz begannen, diese dann jedoch auf 60 bis 70 Prozent steigerten. Die einzige Variable war die Fitness, und tatsächlich war nach sechs Monaten bei der Walking-Gruppe eine Verbesserung von durchschnittlich 16 Prozent bei ihrem maximalen Sauerstoffverbrauch (VO2 max.) festzustellen, der ein Maßstab für die Kapazität der Lungen ist, Sauerstoff zu verarbeiten. Die eigentliche bahnbrechende Erkenntnis offenbarten jedoch die vorher und nachher gemachten MRT-Aufnahmen: Bei denjenigen, bei denen sich die Fitness verbessert hatte, war eine Erhöhung des Gehirnvolumens im Frontal- und Schläfenlappen festzustellen. Den Wissenschaftlern war zwar bekannt, dass dies im Hippocampus möglich war, aber die These, dass das Gehirnvolumen sich auch im Cortex erhöhte, lag nach Schätzung des Neurowissenschaftlers Carl Cotman, der die Verbindung zwischen körperlicher Bewegung und BDNF aufgezeigt hatte, „damit auf dem Tisch“. „Ich bin sicher, dass er Recht hat“, sagt Cotman von Kramer. „Er ist ein sehr ehrlicher, gewissenhafter Mensch. Aber die Ergebnisse sind mit Sicherheit grenzwertig. Ich meine, soviel ich weiß, hat bisher niemand in Tierstudien aufgezeigt, dass eine Hirnregion bei einem älteren Tier durch eine sehr kurze Phase physischer Aktivität größer wird.“ Es wird sich zeigen, ob Kramers Ergebnisse replizierbar sind, aber die Idee, dass diese wichtigen Regionen des Gehirns durch körperliche Betätigung in nur sechs Monaten verbessert oder neu gestaltet werden können, ist ermutigend. Auf den MRT-Aufnahmen sah das Gehirn derjenigen, die sich körperlich betätigt hatten, so aus, als sei es zwei oder drei Jahre jünger, als es tatsächlich war. Anhand der Bildauflösung war nicht ersichtlich, worin das Wachstum bestand, aber demzufolge, was wir aus Tierstudien wissen, hat Cramer einen Verdacht. „Es könnte eine neue Gefäßstruktur sein oder neue Neuronen oder neue neuronale Verbindungen“, sagt er. „Womöglich kommen, denke ich, alle diese Punkte zusammen.“ Die wichtigste logische Schlussfolgerung ist, dass körperliche Bewegung nicht nur den Verfall des Gehirns verhindert, sondern auch den Verfall der Zellen umkehrt, der mit dem Altern einhergeht. 274 Der weise Weg Was Kramers Aufnahmen höchstwahrscheinlich zeigen, ist die Kom pensierung von Defiziten des Gehirns durch körperliche Bewegung. „Nehmen wir beispielsweise an, der präfrontale Cortex funktioniert nicht ordnungsgemäß“, erklärt er. „Vielleicht kann man dann andere Regionen des Cortex rekrutieren, um die jeweils anstehende Aufgabe auf eine andere Art und Weise zu erledigen. Eine mögliche Ursache für das erhöhte Gehirnvolumen könnte sein, dass dadurch die Uhr zurückgedreht wird im Hinblick auf die optimale Funktionsweise von Schaltk reisen, die es uns ermöglichen, verschiedene Dinge zu tun.“ Unser Gehirn kann in jedem Fall mit zwei oder drei zusätzlichen Jahren unendlich viel anfangen. Psychische Verschlechterung Es ist kein Wunder, dass manche Personen im hohen Alter griesgrämig werden. Es ist eine Zeit, die oft durch Verluste gekennzeichnet ist – Verlust der Berufstätigkeit, von Beziehungen, Möglichkeiten, von Sinn und Zweck, der Widerstandskräfte, des Mutes und der Vitalität. Wie aus dem Nichts kann eine Depression zum Vorschein kommen, und dies ist ein wichtiges Thema für ältere Menschen, weil sie das Risiko erhöht, an einer Demenz zu erkranken. Die Hormone Östrogen (bei Frauen) und Testosteron (bei Männern) nehmen mit dem Alter ab, und dies kann zu einer Veränderung der Stimmung oder zu einem Verlust von Elan und Interesse führen. Einer der Gründe, warum eine Depression ein Risikofaktor für Demenz ist, ist auch, dass sie eine zersetzende Wirkung auf den Hippocampus hat: Wenn wir ständig unter Stress stehen und das Hormon Cortisol erhöht bleibt, zersetzt es unsere Synapsen. Da alternde Neuronen zunächst einmal weniger widerstandsfähig gegenüber den Effekten von Stress sind, ist dies wirklich etwas, wovor man sich schützen oder, besser noch, wogegen man proaktiv angehen sollte. Wenn wir älter und unsere Körper schwächer werden und unsere Energiepegel nachlassen, sind wir möglicherweise wenig geneigt, Herausforderungen der Art anzunehmen, uns einem Treck in Nepal 275 Kapitel 9: Altern anzuschließen oder gar am örtlichen Bridgeturnier teilzunehmen. Herausforderungen sind jedoch wichtig, da sie unsere Widerstands kräfte fördern. Ich komme noch einmal auf meine Mutter zurück, die förmlich vor Leben strotzte und engagiert war, bis sie sich die Hüfte brach. Man hatte den Eindruck, dass sie mit zunehmendem Alter sogar noch wagemutiger wurde, statt etwas langsamer zu treten, was neue Erfahrungen anging. Wagte man in dieser Richtung einen Kommentar, dann meinte sie für gewöhnlich: „Warum nicht!?“ Ein kleines Beispiel: Eines Abends, als sie bei uns zu Besuch war, machte ich spontan den Vorschlag, an dem Abend in ein ausgefallenes neues Thai-Restaurant zum Essen zu gehen; dabei tat ich die Idee dann jedoch genauso schnell wieder ab, wie ich sie angesprochen hatte, in der Annahme, dass es meiner Mutter nicht gefallen würde. Sie muss damals etwa 80 Jahre alt gewesen sein, und ich konnte mir nicht vorstellen, wie sie sich auf einem Teller mit exotischer Küche vorarbeitete, der so angerichtet war, dass es wie kunstvolle Architektur aussah. Sie meinte jedoch: „Lasst uns gehen. Ich möchte es ausprobieren.“ Ich muss heute immer noch in mich hineinlachen, wenn ich an ihr Gesicht denke, als sie mein Currygericht probierte, das schärfste Essen, das sie je gekostet hatte. Sie liebte allerdings ihre Kokosnuss suppe, und wir lachten die ganze Zeit während des Essens. Körperliche Bewegung ist natürlich ein wunderbarer Weg, um sich selbst und Ihr Gehirn herauszufordern – umso besser, wenn Sie auf diese Weise in Kontakt mit anderen Menschen und nach draußen kommen. Ich denke da nur an eine Studie, die unlängst vom Rush Alzheimer’s Disease Center durchgeführt wurde. Sie zeigte, dass bei Menschen, die sich einsam fühlen – jene, die sich mit Aussagen identifizieren wie: „Ich vermisse es, Menschen um mich herumzuhaben“ und „Ich empfinde ein allgemeines Gefühl der Leere“ –, die Wahrscheinlichkeit doppelt so hoch ist, Alzheimer zu entwickeln. Und Studien der Duke University zufolge ist klar, dass körperliche Bewe gung Depressionen reduziert und, was die Vermeidung von Rückfällen angeht, sogar noch besser als das Medikament Zoloft ist. Ein besonders wichtiger Effekt körperlicher Bewegung für ältere Erwachsene ist die Förderung des Dopamin-Spiegels, der mit zunehmendem Alter nachlässt. Dies ist ein entscheidender 276 Der weise Weg Neurotransmitter im Zusammenhang mit dem Altern, da er der Haupttransporteur von Signalen des Belohnungs- und Motivations systems ist. Apathie kann ein bezeichnendes Charakteristikum älterer Menschen werden, und es ist besonders wichtig, darauf zu achten, wenn ältere Menschen in Senioren-Wohngemeinschaften, Alten heime oder Pflegeheime ziehen. Selbst in den besten und schönsten Einrichtungen können Depression und ein Mangel an Motivation um sich greifen, wenn Menschen das Gefühl haben, dass sie nur noch auf ihren Tod warten. Ich kenne ein Altenheim, das etwas gegen dieses Problem tut, indem es versucht, die Bewohner zu engagieren und für körperliche Bewegung zu interessieren. Das University Living in Ann Arbor, Michigan, verfügt über ein Fitnesscenter mit aeroben Fitnessgeräten und Krafttrainingsgeräten, die auf ältere Personen abgestimmt sind, die nicht mehr so agil sind, und selbst für jene geeignet sind, die Gehhilfen benutzen, um sich fortzubewegen. Und sie haben eine Sportphysiologin engagiert, die sich auf das Thema Altern spezialisiert hat und für die Nichtbehinderten unter den 70 Bewohnern Kurse gibt und als persönliche Trainerin dient. Was June Smedley in ihrer Rolle als Fitnessleiterin tut, besteht in weiten Teilen darin, an Türen zu klopfen und die Bewohner eindringlich zu bitten, zum Training zu kommen. „Mann! Manchmal werden sie richtig sauer auf mich!“ sagt Smedley. „Sie jagen mich dann aus ihrem Zimmer.“ Die meisten ihrer Schützlinge sind über 80 und nicht mit dem Gedanken groß geworden, dass körperliche Bewegung gesund ist, und sie sagt, die Motivation zur Teilnahme sei ziemlich gering. „Sehr viele von ihnen sind depressiv und das beherrscht einfach ihre ganze Mentalität“, sagt sie. „Ihre Lieblingsbeschäftigung ist einfach von Stuhl zu Stuhl zu gehen und sich hinzusetzen.“ Einer ihrer sportlichen Vorzeigeschützlinge ist ein 80-jähriger ehemaliger Ingenieur, ich nenne ihn Harold, der in dem Heim lebt, weil seine Frau Alzheimer hat und tägliche Pflege braucht. Er trainiert an fünf Tagen in der Woche, wobei er ein volles Übungsprogramm absolviert, zu dem ein zehnminütiges Aufwärmen, eine Runde an den Gewichtsmaschinen, Gleichgewichtsübungen auf dem Physioball und dann ein 30-minütiges aerobes Training auf dem NuStep gehören, einer Art Liege-Stepper mit Armlehnen. 277 Kapitel 9: Altern „Ich trainiere nicht, um Karriere damit zu machen“, sagt Harold, „meine Hauptmotivation ist einfach, Dinge tun zu können, die gerne tue.“ Das heißt, Skifahren im Winter und Golfspielen im Sommer, wenn er zweimal wöchentlich 18 Löcher zurückgelegt. Sechs Monate nach seinem 80. Geburtstag fuhr Harold mit Freunden eine Woche nach Utah zum Skilaufen, womit er eine 15-jährige Tradition fortsetzte. Er sagt, das Kerntraining, das er mit June absolviert hat, habe ihm geholfen, seine Ausdauer und seine Form zu verbessern. Im Skigebiet von Alta fuhr er vom Gipfel auf 3.215 Metern nonstop nach unten – eine Abfahrt, bei der ein Höhenunterschied von rund 610 Metern zu überwinden war, was jedem Flachländer schwer fallen dürfte. Sein Übungsprogramm half ihm nicht nur, weiterhin Ski zu fahren, sondern auch mit der Belastung fertig zu werden, sich um seine Frau zu kümmern. „Auch wenn die medizinische Versorgung hier gut ist, bleiben doch noch eine Menge Pflichten an mir als Ehemann hängen“, sagt er. „Ich glaube, die sportliche Betätigung reduziert den Stress. Ich tue immer so viel, dass ich ordentlich schwitze, und damit habe ich etwas, worauf ich mich jeden Tag freue. Und ich habe dabei auch Zeit für mich selbst. Ich habe dann das Gefühl, etwas geleistet zu haben. Es ist keine Frage, dass es meinem mentalen und psychischen sowie physischen Wohlbefinden hilft. Demenz Bei einer Demenz handelt es sich um einen Funktionsverlust, der drastisch unsere Fähigkeit untergräbt, das Leben im Alltag zu bewältigen. Zu diesem Verlust kommt es, wenn eine bestimmte Region des Gehirns beeinträchtigt wird oder zum Erliegen kommt, ähnlich wie wenn zu Hause eine Sicherung im Stromkasten herausfliegt: Die Küchengeräte funktionieren vielleicht noch, die Lampen im Schlafzimmer bleiben jedoch dunkel. Es gibt verschiedene Arten von Demenz, je nachdem, welcher Schaltk reis zusammengebrochen ist und was den Zusammenbruch ausgelöst hat. Die mit Abstand häufigste Form ist die AlzheimerKrankheit. Hierbei handelt es sich in der Regel um eine Entzündung 278 Der weise Weg und um Ablagerungen von Amyloid-Plaques, was im Hippocampus beginnt und sich bis zu den Frontallappen und Schläfenlappen ausbreitet, sowie um Ablagerungen intrazellularer Abfallprodukte, sogenannter neurofibrillärer Tangles. Einer Erhebung aus dem Jahr 2000 zufolge haben etwa 4,5 Millionen US-Amerikaner Alzheimer, und es wird davon ausgegangen, dass sich diese Zahl im Laufe der nächsten 50 Jahre auf mehr als 13,2 Millionen verdreifacht, wenn erst die Babyboomer zu den Älteren zählen. Ein Schlaganfall ist auf einen Kollaps oder einen Bruch oder eine Blockade von Kapillaren irgendwo im Gehirn zurückzuführen. Wird die Durchblutung zum Schläfenlappen, dem Wörterbuch des Gehirns, unterbrochen, können Sie zwar sprechen, aber Sie werden nicht die richtigen Worte finden. Sofern Sie einen Schlaganfall im frontalen Cortex haben, sind Sie nicht in der Lage zu sprechen, können jedoch verstehen, was andere zu Ihnen sagen. Die nächsthäufigste Form von Demenz ist die Parkinson-Krank heit, bei der die Dopamin-Neuronen in der schwarzen Substanz verschwinden, sodass der Fluss der Neurotransmitter zu den Basalgang lien unterbrochen wird, die für die automatische Weitergabe von Informationen im Gehirn zuständig sind. Die Basalganglien sind für einen reibungslosen Wechsel zwischen mentalen oder physischen Aufgaben sowie für den Start und die Beendigung motorischer Bewegungen notwendig; wenn das Dopamin versiegt, ist es so, als wäre die Weiterleitungsflüssigkeit abgelassen worden, was das klassische Zittern bei Parkinson-Patienten erklärt. Diese Krankheit tritt in der Regel im späteren Leben auf, und davon betroffen ist etwa ein Prozent der Bevölkerung im Alter von über 60 Jahren (Fälle, bei denen die Krankheit früher einsetzt, wie bei dem US-amerika nischen Schauspieler Michael J. Fox, sind selten.) Die motorischen Beeinträchtigungen zeigen sich zuerst, wobei die mentalen Beein trächtigungen wie Depression, Aufmerksamkeitsprobleme und am Ende Demenz, später folgen. Der größte Risikofaktor für Demenz sind die Gene, mit denen wir geboren werden. Es gibt eine Reihe von Genen, die mit Alz heimer in Verbindung gebracht werden, etwa die Genvariation Apolipoprotein (Apo) E4. Es ist jedoch wichtig, nicht zu vergessen, dass das bloße Vorhandensein eines bestimmten Gens nicht 279 Kapitel 9: Altern unbedingt von vorneherein über unser Schicksal entscheidet. Die Apo-E4-Variation kommt beispielsweise bei rund 40 Prozent aller Alzheimer-Patienten vor, aber auch bei 30 Prozent der allgemeinen Bevölkerung (die nicht von der Krankheit betroffen sind). Und es gibt jede Menge Alzheimer-Patienten, bei denen die Apo-E4Variation nicht nachgewiesen wurde. Gene bestimmen zwar unser Risiko für eine Krankheit, unser Lebensstil und unserer Umwelt können diese Risiken jedoch entweder auslösen oder unterdrücken. Eine Studie zeigte beispielsweise, dass unsere Chance, Alzheimer zu entwickeln, um 17 Prozent für jedes Jahr sinkt, das wir über eine weiterführende Schule hinaus in Bildung investieren. Jenseits von Statistiken wissen wir aus Tierstudien, dass körperli che Aktivitäten die Biologie des Gehirns umschalten und in neue Bahnen lenken können. Carl Cotman testete die Auswirkungen körperlicher Aktivitäten bei Mäusen, die mit einem Gen gezüchtet worden waren, das sie für Plaques-Ablagerungen prädisponierte. Er stellte fest, dass diese Aktivitäten den Ablagerungsprozess im Gehirn im Verg leich zu inaktiven Mäusen verlangsamten. Kör perliche Aktivitäten verhindern auch Entzündungen, die nach Cot mans Überzeugung Plaques-Ablagerungen auslösen können – Ent zündungen nehmen in der Übergangsphase vom Rückgang kognitiver Fähigkeiten bis zur Alzheimer-Krankheit zu. Die gleichen Ergebnisse stellte Mattson bei Ratten fest, deren Dopamin-Neuronen außer Gefecht gesetzt worden waren, um die Biologie der Parkinson-Krankheit nachzuahmen. Das Gehirn von Tieren, die in Rädern laufen durften, zeigte eine bessere Plastizität und mehr Verbindungen in den Basalganglien, was darauf schließen lässt, dass sie sich der Situation angepasst hatten, indem sie Schaltkreise aufgebaut hatte, um den Dopamin-Mangel auszugleichen. Unser Wissen, was körperliche Bewegung insbesondere für die Parkinson-Krankheit tut, geht jedoch weit über Laborratten hinaus. In den letzten fünf oder zehn Jahren sind körperliche Aktivitäten zunehmend als Behandlung vor allem in den Frühphasen der Krank heit genutzt worden. Forscher begannen, die Auswirkungen körper licher Aktivitäten zu untersuchen, weil sie die motorische Region aktivieren, die bei der Parkinson-Krankheit degeneriert; eine 280 Der weise Weg Stimulation der Basalganglien durch körperliche Aktivitäten erhöht die Verbindungen und fördert den BDNF-Spiegel sowie den Spiegel anderer neuroprotektiver Faktoren. In einer Studie wurden die Effekte körperlicher Aktivitäten in Verbindung mit der Einnahme von Levodopa (L-Dopa) untersucht, der gängigen medikamentö sen Behandlung bei Parkinson und ein Dopamin-Vorläufer, der die Produktion des Neurotransmitters erhöht. Das Problem bei L-Dopa ist, dass es mit der Zeit seine Wirksamkeit verliert (und viele Neben wirkungen hat). Durch vierzigminütiges leichtes Radfahren auf einem Heimtrainer unmittelbar vor der Einnahme von L-Dopa ver besserte sich die Wirksamkeit des Medikamentes bei der motorischen Funktion. Während Forscher nicht genau sagen können, wie körperliche Ak tiv itäten den Auswirkungen der Alzheimer-Krankheit entgegenwir ken – sie versuchen nach wie vor, die Ursachen der Krankheit zu finden –, ist Cotman der Überzeugung, dass eine Reduzierung der Entzündung und die Förderung neurotropher Faktoren mögliche Erk lärungen sind. Studien über die allgemeine Bevölkerung stützen die Aussage, dass körperliche Aktivitäten Demenz abwehren. Im Rahmen einer Studie wurden rund 1.500 Personen in Finnland, die ursprünglich Anfang der 1970er-Jahre untersucht worden waren, nochmals 21 Jahre später kontaktiert, als sie zwischen 65 und 79 Jahre alt waren. Bei denjenigen, die sich mindestens zweimal wöchentlich sport lich betätigt hatten, war die Wahrscheinlichkeit, eine Demenz zu haben, 50 Prozent geringer. Besonders interessant ist, dass der Zu sammenhang zwischen regelmäßigen Aktivitäten und dem Ein setzen einer Demenz bei denjenigen, die das Apo-E4-Gen hatten, noch deutlicher war. Den Forschern zufolge könnte eine Erklärung dafür sein, dass das neuroprotektive System ihres Gehirns durch die Genvariante natürlich beeinträchtigt ist, sodass der Lebensstil hier besonders wichtig ist. Unter dem Strich heißt dies, wie Mattson meint, dass „wir derzeit nur eines tun können, nämlich, die Umwelt faktoren zu modifizieren, um das Beste aus unseren wie auch immer gearteten Genen zu machen.“ 281 Kapitel 9: Altern Die Lebensliste Ein Großteil des öffentlichen Diskurses über das Altern konzentriert sich auf den Zeitpunkt, an dem die einstigen Babyboomer Senioren sein werden, und auf die Überzeugung, dass die riesige Zahl der dann älteren Menschen dem Gesundheitssystem durch Demenz und andere kostspielige Gesundheitsprobleme einen nie da gewesenen Tribut abverlangen werden. Ich glaube wohl, dass es eine Alternative zu diesem verhängnisvollem, düsterem Bild geben kann. Auch wenn meine Generation mit Fast Food und Pay-TV bestens vertraut ist, so sind wir doch auch mit dem revolutionären AerobicKonzept von Kenneth Cooper aufgewachsen. Im Unterschied zu früheren Generationen wissen wir, wie ein gesundes Herz und gesunde Lungen Krankheiten abwehren, und wir wissen auch, wie wir um das Fitnessstudio herumkommen. Meine Mutter hatte einfach die gute Angewohnheit, viel zu gehen, und selbst Harold, der 87-jährige Skifahrer aus Michigan weiß nicht allzu viel über Fragen der Gesundheit und Fitness. Er fragte einmal seine Trainerin June Smedley, was eine Muskelzerrung verursacht, und als sie ihm erklärte, dies könnte zum Beispiel auf Dehydration zurückzuführen sein, spottete er und meinte: „Ich nehme doch jede Menge Flüssigkeit zu mir – Kaffee, Milch und Wein!“ Ich glaube daran, wenn Menschen erkennen, wie ihr Lebensstil die Lebensspanne verbessern kann, in der sie gesund sind, das heißt, in der sie besser leben, nicht einfach nur länger, dass sie dann zumindest geneigter sein werden, aktiv zu bleiben. Und wenn sie zu akzeptieren gelernt haben, dass körperliche Bewegung für das Gehirn genauso wichtig ist wie für das Herz, dann werden sie dies ernst nehmen. Wie körperliche Bewegung dafür sorgt, dass Sie fit bleiben, finden Sie im Folgenden: 282 Der weise Weg 1. Bewegung stärkt das Herz-Kreislauf-System Ein starkes Herz und starke Lungen senken den Ruhe-Blutdruck. In folge dessen werden die Gefäße im Körper und im Gehirn weniger stark belastet. An dieser Stelle kommen nun eine Reihe von Mecha nismen ins Spiel. Erstens werden durch das Zusammenziehen der Muskeln bei körperlicher Bewegung Wachstumsfaktoren wie VEGF und FGF-2 (Fibroblasten-Wachstumsfaktor-2) freigesetzt. Abgesehen von ihrer Rolle, dass sie den Neuronen helfen, sich anzubinden, und dass sie die Neurogenese fördern, lösen sie eine Kettenreaktion aus, die endotheliale Zellen produziert, aus denen die innere Auskleidung der Blutgefäße besteht, und die somit wichtig für die Bildung neuer Gefäße sind. Dadurch erweitert sich das Gefäßnetzwerk, wodurch jede Region des Gehirns so viel näher an eine Lebensader herangebracht wird und reichlich Zirkulationsrouten entstehen, die vor künftigen Blockaden schützen. Zweitens wird durch körperliche Bewegung mehr Stickoxid zugeführt, ein Gas, das die Gefäße erweitert, sodass mehr Blut hindurchfließen kann. Drittens reduziert die erhöhte Durchblutung bei moderaten intensiven Aktivitäten eine Verhärtung der Hirnarterien. Und nicht zuletzt kann körperliche Bewegung in gewissem Rahmen auch Gefäßschädigungen entgegenwirken. Schlaganfallpatienten und sogar Alzheimer-Patienten, die an aeroben Übungsprogrammen teilnehmen, verbessern ihre Werte bei kognitiven Tests. In jungen Jahren anzufangen, ist das Beste, aber es ist nie zu spät. 2. Bewegung reguliert die Brennstoffversorgung Am Karolinska-Institut führten Forscher eine neunjährige Studie mit 1.173 Personen im Alter von über 75 Jahren durch. Keine dieser Personen hatte Diabetes, aber bei denjenigen mit einem hohen Glu kosespiegel lag die Wahrscheinlichkeit, Alzheimer zu entwickeln, um 77 Prozent höher. Wenn wir altern, fällt der Insulinspiegel, und es wird für die Glu kose schwieriger, in die Zellen zu gelangen, um sie mit Brennstoff zu versorgen. Der Glukosespiegel kann dann in die Höhe schnellen, 283 Kapitel 9: Altern wodurch Abfallprodukte in den Zellen entstehen – wie freie Radikale –, die die Blutgefäße schädigen, sodass wir dem Risiko, einen Schlag anfall zu erleiden und Alzheimer zu bekommen, ausgesetzt sind. Wenn alles im Gleichgewicht ist, wirkt Insulin der Ablagerung von Amyloid-Plaques entgegen, zu viel Insulin fördert jedoch die Ab lagerung ebenso wie eine Entzündung, die die Neuronen in der unmittelbaren Umgebung schädigen. Körperliche Bewegung erhöht den Spiegel des insulinähnlichen Wachstumsfaktors (IGF-1), der das Insulin im Körper reguliert und die synaptische Plastizität im Gehirn verbessert. Indem körperliche Bewegung überschüssigen Brennstoff verbraucht, fördert sie auch unsere Versorgung mit BDNF, jenem neurotrophen Faktor, der bei einem hohen Glukosespiegel reduziert ist. 3. Bewegung reduziert Fettleibigkeit Abgesehen davon, dass Körperfett verheerenden Schaden am HerzKreislauf-System und am Stoffwechselsystem anrichtet, hat es auch nachteilige Auswirkungen auf das Gehirn. Schätzungen der Zen tren für Krankheitskontrolle (CDC) zufolge sind 73 Prozent der USAmerikaner im Alter von mehr als 65 Jahren übergewichtig, und angesichts der potenziellen Probleme, zu denen Fettleibigkeit führen kann – von Herz-Kreislauf-Krankheiten bis hin zu Diabetes –, haben sie Recht, wenn sie Fettleibigkeit zu einer Pandemie erklären. Allein die Tatsache der Übergewichtigkeit verdoppelt das Risiko, eine Demenz zu entwickeln, und wenn wir Bluthochdruck und einen hohen Cholesterinspiegel noch zusätzlich berücksichtigen, Symptome also, die oft mit Fettleibigkeit einhergehen, erhöht sich das Risiko um das Sechsfache. Wenn Personen in den Ruhestand gehen, denken sie für gewöhnlich, dass sie sich eine Pause verdient haben, nachdem sie ihr ganzes Leben hart gearbeitet haben, mit der Folge, dass sie anfangen, Fett in Form von nicht verbrauchten Kalorien anzusetzen. Nicht bewusst ist ihnen jedoch, dass sie sich mit einem Dessert nach jeder Mahlzeit keineswegs etwas Gutes tun. Körperliche Bewegung wirkt Fettleibigkeit auf natürliche Weise an zwei Fronten entgegen: Sie verbrennt Kalorien und senkt den Appetit. 284 Der weise Weg 4. Bewegung erhöht unsere Stressschwelle Körperliche Bewegung bekämpft die zersetzenden Auswirkungen von zu viel Cortisol, ein Produkt chronischen Stresses, das zu De pressionen und Demenz führen kann. Sie unterstützt auch Neuronen gegen ein Zuviel an Glukose, freien Radikalen und dem leicht er regbaren Neurotransmitter Glutamat, die zwar alle notwendig sind, aber die Zellen schädigen können, wenn sie unkontrolliert bleiben. In der Folge bauen sich Abfallprodukte auf, welche die zellulare Ma schinerie behindern, sodass sie sich als gefährliche Produkte erweisen – geschädigte Proteine und abgefallene Fragmente der DNS, die den latenten, ultimativ unausweichlichen Prozess des Zelltodes auslösen, der das Altern bestimmt. Körperliche Bewegung sorgt dafür, dass Proteine entstehen, die den Schaden reparieren und den Prozess verzögern. 5. Bewegung hebt Ihre Stimmung Mehr Neurotransmitter und Neurotrophine sowie eine verbesserte Verbindungsfähigkeit wappnen den Hippocampus gegen eine Ver kümmerung, die mit Depression und Ängsten verbunden ist. Eine Reihe von Studien hat gezeigt, dass unser Risiko, eine Demenz zu entwickeln, geringer ist, wenn wir unsere Stimmung „oben“ halten. Die dafür vorliegenden Beweise gelten nicht nur für eine klinische Depression, sondern auch für die allgemeine Einstellung. Wenn wir mobil bleiben, ermöglicht dies uns auch, engagiert und mit anderen verbunden zu bleiben, mit anderen Schritt zu halten und neue Freunde zu finden; soziale Verbindungen sind wichtig für eine Verbesserung und Aufrechterhaltung der Stimmung. 6. Bewegung stärkt das Immunsystem Stress und Alter schwächen das Immunsystem, und körperliche Bewegung stärkt es in direkter Weise in zweierlei wichtiger Hin sicht. Erstens, selbst ein moderates Aktivitätsniveau mobilisiert 285 Kapitel 9: Altern die Antikörper und Lymphozyten des Immunsystems, die Ihnen wahrscheinlich als T-Zellen bekannt sind. Antikörper attackieren bakterielle und Virusinfektionen, und mehr T-Zellen zu haben, bedeutet, dass der Körper wachsamer ist für die Entwicklung von Bedingungen wie beispielsweise Krebs. Studien über die allgemeine Bevölkerung verdeutlichen dies: Der konsistente Risikofaktor für Krebs ist ein Mangel an Aktivitäten. Bei denjenigen, die körperlich aktiv sind, liegt das Risiko, Darmkrebs zu entwickeln, zum Beispiel 50 Prozent niedriger. Zweitens, zur Aufgabe des Immunsystems gehört es, Zellen zu aktivieren, die geschädigtes Gewebe reparieren. Gerät es aus dem Gleichgewicht, eitern diese geschädigten Stellen, und was bleibt, ist eine chronische Entzündung. Deshalb wird Ihr Blut, wenn Sie über 50 sind, bei Ihrer ärztlichen Routineuntersuchung auf C-reaktive Proteine untersucht. Diese Proteine sind ein Zeichen einer chronischen Entzündung, was ein Hauptrisikofaktor für HerzGefäß-Krankheiten und Alzheimer ist. Körperliche Bewegung stellt das Gleichgewicht des Immunsystems wieder her, sodass es Entzündungen Einhalt gebieten und diese Krankheiten bekämpfen kann. 7. Bewegung stärkt Ihre Knochen Osteoporose hat nicht viel mit dem Gehirn zu tun, es ist jedoch ein Thema, das wichtig ist und angesprochen werden sollte, da Sie ein starkes Knochengerüst brauchen, um weiterhin, wenn Sie älter werden, körperlich aktiv zu sein, denn Osteoporose ist eine in weiten Teilen vermeidbare Krankheit. In den USA sind 20 Millionen Frauen und zwei Millionen Männer von Osteoporose betroffen. Jedes Jahr sterben mehr Frauen an Hüft frakturen, aufgrund ihrer Anfälligkeit durch Osteoporose, als an Brustkrebs. Im Alter von etwa 30 Jahren erreicht die Knochenmasse bei Frauen ihren Höhepunkt, und danach verlieren sie etwa ein Pro zent pro Jahr bis zur Menopause, ab der sich die Geschwindigkeit dann verdoppelt. Infolgedessen sind mit 60 Jahren etwa 30 Prozent der Knochenmasse einer Frau verschwunden. Es sei denn, sie nimmt 286 Der weise Weg Calcium und Vitamin D zu sich (wobei Letzteres in Form von zehn Minuten Morgensonne pro Tag kostenlos zu haben ist) und betätigt sich in irgendeiner Form körperlich oder macht ein Krafttraining, um die Knochen zu belasten. Mit reinem Gehen ist es in diesem Falle nicht ganz getan – heben Sie sich das für später in Ihrem Leben auf. Bei jungen Erwachsenen wird der natürliche Verlust durch ein Gewichtstraining oder einen Sport, der Laufen oder Springen mit einbezieht, jedoch konterkariert. Das Ausmaß, in dem man dem Verlust vorbeugen kann, ist beeindruckend: Eine Studie stellte fest, dass Frauen ihre Beinkraft in nur wenigen Monaten mit einem Gewichtstraining verdoppeln konnten. Selbst Frauen, die über 90 sind, können ihre Kraft verbessern und dieser zermürbenden Krank heit vorbeugen. 8. Bewegung fördert die Motivation Der Weg zu erfolgreichem Altern beginnt in Wirklichkeit mit dem Wunsch, denn ohne den Wunsch, engagiert und aktiv und lebendig zu bleiben, geraten viele Menschen schnell in die tödliche Falle der Bewegungsarmut und Einsamkeit. Eines der Probleme des Alterns ist der Mangel an Herausforderungen, aber mit körperlicher Bewegung oder sportlicher Betätigung können wir uns selbst kontinuierlich verbessern und uns selbst antreiben. Körperliche Betätigung wirkt dem natürlichen Rückgang des Do pamin-Spiegels entgegen, jenes wichtigen Neurotransmitters im Mo tivations- und motorischen System. Wenn Sie sich bewegen, fördern sie unweigerlich die Motivation, indem Sie die Verbindungen zwischen den Dopamin-Neuronen stärken, die gleichzeitig vor Parkin son schützen. Dies unterstreicht die Idee, dass, wenn Sie nicht fleißig leben, Ihr Körper fleißig stirbt. Es ist wichtig, Pläne und Ziele und Verabredungen zu haben, und deshalb sind Sportarten wie Golf und Tennis so empfehlenswert. Sie verlangen ständige Selbstüberwa chung und die Motivation, sich zu verbessern. 287 Kapitel 9: Altern 9. Bewegung fördert die Neuroplastizität Der beste Weg, sich vor neurodegenerativen Krankheiten zu schützen, ist, für den Aufbau eines starken Gehirns zu sorgen. Aerobe Übungen erreichen dies, indem sie die Verbindungen zwischen Ihren Hirnzellen stärken, sodass mehr Synapsen entstehen, um das Netz an Verbindungen zu erweitern, sowie neugeborene Stammzellen dazu angeregt werden, sich zu teilen und zu funktionalen Neuronen im Hippocampus zu entwickeln. Körperliche Bewegung sorgt dafür, dass das Gehirn wächst, indem die Versorgung mit neurotrophen Faktoren erhöht wird, die für die Neuroplastizität und Neurogenese notwendig sind und ansonsten naturgemäß mit dem Alter abnehmen würden. Durch das Zusammenziehen Ihrer Muskeln werden Faktoren wie VEGF, FGF-2 und IGF-1 freigesetzt, die sich ihren Weg vom Körper ins Gehirn bahnen und den Prozess hilfreich unterstützen. All diese strukturellen Veränderungen verbessern die Fähigkeit Ihres Gehirns, zu lernen und zu erinnern, höhere Gedankenprozesse auszuführen und mit Ihren Emotionen umzugehen. Je robuster die Verbindungen, desto besser ist Ihr Gehirn gerüstet, mit einem Schaden fertig zu werden, der vielleicht irgendwann auftritt. Hören Sie auf meine Mutter Meine Familie bekam ihren ersten Fernseher, als ich etwa acht Jahre alt war, aber wir haben nie davor kampiert. Wir durften es nicht; meine Mutter sagte: „Sitzt nicht einfach hier herum, geht nach draußen spielen.“ Wir aßen jede Woche Fisch, aber nicht nur, weil wir katholisch waren, sondern auch, weil Fisch damals schon als „Futter fürs Gehirn“ bekannt war. Die Nonnen in der Schule wurden nicht müde zu betonen, wie wichtig es sei, geistig aktiv zu bleiben, und drillten uns förmlich mit dem Mantra: „Müßiggang ist aller Laster Anfang“. Lange bevor irgendwelche wissenschaftliche Belege veröffentlich wurden, hatten die strengen Frauen, mit denen ich groß wurde, mir die drei Säulen eines gesunden Lebensstils eingebläut: Ernährung, körperliche Bewegung und geistige Aktivität. In diesem 288 Der weise Weg Sinne hat sich das Rezept für ein langes und reiches Leben nicht sehr viel geändert. Inzwischen wissen wir jedoch so viel mehr über das Warum und Wie, sodass dieser Rat schwerlich ignoriert werden kann. Ernährung: Leichtes Essen, richtig essen Ein bewährter Weg, um länger zu leben, ist, weniger Kalorien zu sich zu nehmen – zumindest wenn Sie eine Laborratte sind. In Versuchen, bei denen Nagetiere 30 Prozent weniger Kalorien zu sich nahmen, lebten sie bis zu 40 Prozent länger als Tiere, die so viel essen durften, wie sie wollten. „Unsere Kontrollgruppe ist wirklich überfüttert und zu wenig körperlich aktiv“, sagt der Neurowissenschaftler Mark Mattson und weist darauf hin, dass diese Gruppe „gut zu vielen in der US-amerikanischen Bevölkerung passt“. Eine Studie über Affen, die vor 18 Jahren im gerontologischen Versuchslabor am National Institute on Aging begann, lässt darauf schließen, dass das Gleiche für Primaten gilt. Und eine Untersuchung mit Versuchspersonen zeigte, dass Asthmapatienten, die zwei Monate lang auf Diät gesetzt worden waren – mit abwechselnd drei Mahlzeiten an dem einen und nur 500 Kalorien am nächsten Tag –, weniger Marker für oxidativen Stress und Entzündungen in ihrem Blut hatten (und ihre Asthmasymptome sich verbesserten). Diese Erkenntnis stützt die Theorie, dass die Einwirkung von leichtem Stress auf die Zellen – in diesem Fall durch den Entzug von Brennstoff –, dazu führt, dass sie widerstandsfähiger für künftige Herausforderungen werden und dass freie Radikale reduziert werden. „Es ist wie täglich eine Stunde Sport“, sagt Mattson. „Es ist ein leichter Stress, aber solange es eine Erholungsphase gibt, ist er gut.“ Er ist vorsichtig, wenn es darum geht, Leuten zu raten, Mahlzei ten ausfallen zu lassen, aber im Grunde ist es genau das, was er tut: Kein Frühstück, ein Salat zum Mittag und ein normales Abendessen, alles in allem etwa 2.000 Kalorien. Normalgewichtige Personen werden wohl nicht so stark davon profitieren, und jeder, der die 50 bereits überschritten hat, sollte sich vor einer Mangelernährung hüten, 289 Kapitel 9: Altern da er sowieso bereits Muskel- und Knochenmasse verliert. Sofern Sie jedoch übergewichtig sind, fügen Sie mit den überflüssigen Kilos Ihrem Gehirn Schaden zu. Bei der Frage, was Sie essen, sei darauf hingewiesen, dass es bestimmte Nahrungsmittel gibt, die zellulare Reparaturmechanismen aktivieren, wie ich in Kapitel 3 erwähnt habe. Kreuzkümmel, Knob lauch, Zwiebel und Brokkoli enthalten zum Beispiel alle Toxine, die dazu da sind, Schädlinge im Zaum zu halten; die Mengen, in denen sie in diesen Nahrungsmitteln vorkommen, sind zwar gering, aber ausreichend, um eine nutzbringende Stressreaktion auslösen. Das Gleiche gilt für Nahrungsmittel, die freie Radikale bekämpfen, wie Heidelbeeren, Granatäpfel, Spinat und Rüben – es sind die Toxine sowie die Antioxidanzien, die letzten Endes zur zellularen Reparatur führen. Grüner Tee und Rotwein haben den gleichen nutzbringenden Effekt. Der Rest auf Ihrem Teller sollte ausgewogen aus Vollkornproduk ten, Proteinen und diätetischen Fetten bestehen. Eine kohlenhydrat arme Ernährung hilft Ihnen vielleicht, Gewicht zu verlieren, sie ist jedoch nicht gut für Ihr Gehirn. Vollkornprodukte enthalten komplexe Kohlenhydrate, die für einen steten Energiefluss sorgen, anstelle des ständigen Auf und Ab, das durch einfachen Zucker ausgelöst wird, und sie sind notwendig, um Aminosäuren wie Tryptophan ins Gehirn zu transportieren. Wie Sie in Kapitel 4 gelernt haben, ist Tryptophan ein chemischer Vorläufer, der für die Produktion von Serotonin notwendig ist, und Tryptophan sowie andere wichtige Aminosäuren entstehen aus Protein. Das Gehirn besteht zu mehr als 50 Prozent aus Fett, sodass Fette ebenfalls wichtig sind, solange es sich um die richtigen handelt. Trans fette, tierische Fette und hydrogenierte Öle verkleben das „Getriebe“, aber die Omega-3-Fettsäuren, die in Fisch vorkommen, sind äußerst nutzbringend. In Studien wurde festgestellt, dass in Ländern, in denen viel Fisch gegessen wird, Krankheiten wie bipolare Störungen seltener vorkommen. Und manche Personen nutzen Omega-3-Fettsäuren als eigenständige Behandlung von Stimmungsstörungen und ADHS. Eine Studie zeigte, dass sich bei Personen, die einmal in der Woche Fisch essen, die jährliche Rate des Rückgangs kognitiver Fähigkeiten um zehn Prozent verlangsamte. Die Framingham-Herzstudie verfolgte neun 290 Der weise Weg Jahre lang die Entwicklung von 900 Personen und stellte fest, dass bei denjenigen, die pro Woche drei Mahlzeiten mit Fischöl zu sich nahmen, die Wahrscheinlichkeit nur halb so hoch war, eine Demenz zu entwickeln. Omega-3-Fettsäuren senken Blutdruck, Cholesterinspiegel und neuronale Entzündungen, und sie verbessern das Immunsystem und den BDNF-Spiegel. Omega-3-Fettsäuren finden sich in Tief wasserfischen wie Lachs, Kabeljau und Thunfisch; alternativ können Sie auch eine tägliche Ergänzung nehmen, die 1.200 Milligramm Eicosapentaensäure (EPA) und 200 Milligramm Docosahexaensäure (DHA) enthält, die zwei wichtigen Omega-Fettsäuren. Vitamin D ist bekanntermaßen nicht nur wichtig wegen seiner Bedeutung zur Stärkung der Knochen, sondern auch als Maßnah me gegen Krebs und Parkinson. Ich würde generell 1.000 IE (Inter nationale Einheiten) Vitamin D und für Frauen zusätzlich 1.500 Milligramm Kalzium empfehlen. Ich würde auch zur Einnahme von Vitamin B mit mindestens 800 Milligramm Folsäure raten, zur Verbesserung des Erinnerungsvermögens und der Verarbeitungs geschwindigkeit. Körperliche Bewegung: Die Beständigkeit macht’s Jedem über 60-Jährigen empfehle ich, sich fast jeden Tag körperlich zu bewegen oder sportlich zu betätigen. Sie sind im Ruhestand, warum also nicht? Sechs Tage in der Woche wären ideal, aber machen Sie es so, dass es Ihnen Spaß macht und Sie es nicht als Mühe empfinden. Es ist eine gute Idee, dabei eine Pulsuhr zu benutzen. Sie ist unendlich wertvoll, um zu sehen, welche Fortschritte Sie machen, und die Werte, die Sie auf diese Weise ablesen können, sind sowohl motivierend als auch beruhigend. Sie brauchen sich dann nicht zu fragen, ob Sie genug getan haben und ob es die richtige Intensität war, denn die Pulsuhr gibt Ihnen die Antwort. Sie erhalten sie zwar zusammen mit einer Anleitung, aber im Grunde brauchen Sie nur Ihr Alter von der Zahl 220 abzuziehen, um Ihre theoretische maximale Herzfrequenz 291 Kapitel 9: Altern zu ermitteln; diese Zahl ist dann Ihre Orientierungshilfe, um herauszufinden, wie hart Sie trainieren sollten. (Im nächsten Kapitel werde ich noch eingehender auf die Verwendung solcher Pulsuhren eingehen.) Das Übungsprogramm sollte vier Bereiche einbeziehen: aerobe Kapazität, Kraft, Gleichgewicht und Beweglichkeit. Sie sollten in jedem Fall einen Arzt oder Trainer konsultieren, der Ihre eventuelle Krankengeschichte kennt; einige solide Richtlinien kann ich Ihnen jedoch bereits geben. Aerobe Übungen Machen Sie solche Übungen an vier Tagen in der Woche, jeweils zwischen 30 Minuten und einer Stunde, bei 60 bis 65 Prozent Ihrer maximalen Herzfrequenz. Mit diesem Intensitätsniveau verbrennen Sie Fett im Körper und generieren die Wirkstoffe, die für all jene strukturellen Veränderungen im Gehirn notwendig sind, über die ich gesprochen habe. Gehen dürfte absolut ausreichend sein, machen Sie es jedoch draußen zusammen mit einem Freund oder einer Freundin, wenn das möglich ist. Wofür Sie sich auch immer entscheiden, versuchen Sie etwas zu finden, das Ihnen auf lange Sicht Spaß macht. Versuchen Sie dabei jeweils an zwei Tagen in der Woche 20 bis 30 Minuten mit einer intensiveren Geschwindigkeit, bei 70 bis 75 Prozent Ihrer maximalen Herzfrequenz, zu gehen. Sofern Sie in der Vergangenheit nichts für Ihre körperliche Bewegung getan haben, werden Sie Ihre Kondition erst aufbauen müssen, bis Sie dieses Tempo erreichen, das ist völlig in Ordnung. Beständigkeit ist wahrscheinlich wichtiger als die Intensität. „Sie brauchen sich nicht so anzustrengen, wie Sie vielleicht meinen“, erklärt Kramer. „Wenn Sie härter rangehen und laufen statt gehen können, ist das wunderbar. Aber wenn nicht, so ist Gehen genau das, was wir uns angeschaut haben, und es kann einige recht erhebliche Effekte haben.“ 292 Der weise Weg Kraft Arbeiten Sie zweimal wöchentlich an den Gewichtsmaschinen, wobei Sie jeweils drei Übungsrunden an den Gewichten absolvieren, mit jeweils zehn bis 15 Wiederholungen pro Runde. Dies ist wichtig zur Vorbeugung und zur Bekämpfung von Osteoporose: Selbst wenn sie alle aeroben Übungen dieser Welt machen, werden Ihre Muskeln und Knochen dennoch mit zunehmendem Alter schwinden. Eine Studie der Tufts University über Frauen im Alter zwischen 50 und 70 Jahren zeigte, dass bei denjenigen, die ein Jahr lang an einem Krafttraining teilgenommen hatten, die Knochendichte an der Hüfte und im Rückgrat um ein Prozent zugenommen hatte, während bei der inaktiven Kontrollgruppe die Knochendichte in diesen Bereichen um 2,5 Prozent abgenommen hatte. Wenn Sie keine Erfahrung mit Widerstandstraining haben, ist es ratsam, sich für den ersten Monat einen Trainer zu besorgen oder sich zumindest einige Anleitungen geben zu lassen; eine gute Körperhaltung ist wichtig, um Verletzungen zu vermeiden. Aktivitäten, die Hüpfen oder Springen einbeziehen, sind ebenso hilfreich zur Stärkung ihrer Knochen: Tennis, Tanzen, Aerobic, Seilspringen, Basketball und natürlich Laufen. Gleichgewicht und Beweglichkeit Konzentrieren Sie sich zweimal in der Woche jeweils ungefähr 30 Mi nuten auf diese Fähigkeiten. Bei Yoga, Pilates, Tai-Chi, Kampfsport arten und Tanzen geht es um diese Fähigkeiten, die wichtig sind, um agil zu bleiben. Ohne Gleichgewicht und Beweglichkeit schwindet unsere Fähigkeit, eine aerobe Übung oder ein Krafttraining durchzuziehen. Anstelle einer Aktivität wie den Vorgenannten, können Sie Übungen auf einem Gymnastikball, Schwebebalken oder einem Gleichgew ichtstrainer machen, wobei es sich um einen halben, mit Luft gefüllten Gummiball handelt, auf den man sich stellt und die Balance zu halten versucht, sodass die Kernmuskulatur in Anspruch genommen wird. Erinnern Sie sich an Harold, den 80-jährigen Skiläufer? Für seinen letzten Skiurlaub trainierte er darauf. 293 Kapitel 9: Altern Mentale Übung: Unentwegt lernen Mein Rat hier ist, Ihren Geist immerzu vor neue Herausforderungen zu stellen. Sie wissen inzwischen, dass körperliche Bewegung Ihre Neuronen dafür rüstet, sich anzubinden, während mentale Stimu lation es ihrem Gehirn ermöglicht, das Beste aus der so geschaffenen Voraussetzung zu machen. Es ist kein Zufall, dass eine Studie nach der anderen zeigt, dass es umso wahrscheinlicher ist, dass Ihnen Ihre kognitiven Fähigkeiten erhalten bleiben und Sie Demenz abwehren, je gebildeter Sie sind. Es geht hier jedoch nicht unbedingt um Diplome. Der Punkt ist einfach, dass diejenigen, die sehr viel Zeit mit Schule oder Studium verbracht haben, weitaus eher am Lernen interessiert bleiben. Diese Statistiken beziehen sich auf eine Vielzahl von Menschen, die nie auf eine Hochschule gegangen sind, aber dennoch großes Interesse an der Welt um sie herum haben. Der inspirierendste Beleg dafür kommt von einer städtischen Ge sundheitsstudie, dem sogenannten Experience Corps, die von Epide miologen an der Johns Hopkins University durchgeführt wurde. Für die Studie rekrutierten sie 128 vornehmlich Afroamerikanerinnen im Alter zwischen 60 und 86 Jahren mit geringem Bildungsstand und sozioökonomischen Status. Und die Wissenschaftler schulten sie, um Grundschulkinder in Lesefertigkeiten, dem Umgang mit Bibliot heken usw. zu unterrichten. Die Kinder verbesserten nicht nur ihre Punktzahlen bei standardisierten Tests, auch die Gesundheit der Freiwilligen verbesserte sich erheblich: Die Hälfte der Frauen, die einen Gehstock genutzt hatten, konnte ihn beiseitelegen; 44 Prozent berichteten, dass sie sich stärker fühlten; die Zeit, die sie vor dem Fernseher verbrachten, nahm um vier Prozent ab; und sie gaben an, dass sich die Zahl der Personen, an die sie sich Hilfe suchend wenden konnten, erheblich größer geworden war. Ehrenamtliche Tätigkeiten haben nutzbringende Effekte, da sie soziale Kontakte mit sich bringen, die unweigerlich mit Heraus forderungen für das Gehirn verbunden sind. Alles, was Ihnen hilft, mit anderen Menschen in Kontakt zu bleiben, hilft Ihnen, besser und länger zu leben. Statistiken zeigen eine enge wechselseitige Beziehung 294 Der weise Weg zwischen Geselligkeit und Sterblichkeit. Neuartige Erfahrungen verlangen Ihrem Gehirn mehr ab, und dies baut die Fähigkeit des Gehirns auf, Defizite zu kompensieren. Dadurch erhalten Sie mehr „Wunderdünger“, mehr Verbindungen, mehr Neuronen und mehr Möglichkeiten. Es gab eine Nonne, Schwester Bernadette, die Mitte der 1990erJahre im Alter von 85 Jahren an einem Herzinfarkt starb. Zusammen mit mehr als 600 weiteren Nonnen spendete sie im Rahmen einer fortlaufenden Studie ihr Gehirn der Wissenschaft. Durchgeführt wurde die Studie von dem Epidemiologen David Snowdon, der den Schwestern von der Schule Notre Dame in Mankato, Minnesota, in seinem inspirierenden Buch Lieber alt und gesund. Dem Altern seinen Schrecken nehmen ein Denkmal setzte. Die Nonnen fordern ihren Geist ständig heraus, mit Vokabelrätseln, mentalen Puzzles und Diskussionen über allgemeine, öffentliche Themen, und viele von ihnen werden 100 Jahre oder älter. Das Interessante an Schwester Bernadette ist jedoch, dass sie bei kognitiven Tests bis unmittelbar vor ihrem Tod Werte erzielte, die auf der 90. Perzentile lagen. Als ihr Gehirn jedoch nach ihrem Tod untersucht wurde, zeigte sich eine massive Schädigung durch Alzheimer. Vom Hippocampus bis zum Cortex war das Gewebe mit Ablagerungen von Plaques und neurofibrillären Tangles hochgradig durchsetzt, und bei ihr wurde auch die Apo-E4-Gen-Variante nachgewiesen. Mit anderen Worten, sie hätte eigentlich voll den verheerenden Auswirkungen einer Demenz erliegen müssen. Aber trotz der Schädigung ihres Gehirns blieb sie geistig fit. Snowdon weist als mögliche Erklärung auf die Idee der kognitiven Reserve hin. Dies ist die Fähigkeit des Gehirns, sich anzupassen und Schädigungen zu kompensieren, indem andere Regionen rekrutiert werden, um bei Aufgaben zu helfen. Indem sie bis ins hohe Alter lehrte und geistig aktiv blieb, hat Schwester Bernadette ihr Gehirn mit Sicherheit dahin gehend trainiert, um das genetische Handicap herumzuarbeiten, das ihr in die Wiege gelegt worden war. Genau wie das Beispiel meiner Mutter ist auch das von Schwester Bernadette nachahmenswert. 295 10. Das Übungsprogramm Bauen Sie Ihr Gehirn auf D en erstaunlichen Einfluss, den aerobe Aktivitäten auf das Ge hirn haben, habe ich deshalb so betont, weil ich die Hoffnung habe, dass Sie wirklich motiviert sind, sich jeden Tag Ihre Laufschuhe anzuziehen, sobald Sie verstanden haben, was wirklich „da oben“ passiert, wenn Sie einen Lauf machen. Oder wenn Sie zum Schwim men gehen oder sich auf Ihr Fahrrad schwingen oder etwas anderes machen, das Ihnen gefällt und Sie ins Schwitzen bringt. Ich wünsche mir nichts weniger, als dass Sie süchtig danach werden. Was ich versucht habe zu verdeutlichen – nämlich dass körperliche Bewegung für sich allein genommen das wirksamste Instrument ist, das Sie haben, um Ihre Gehirnfunktion zu optimieren –, beruht auf wissenschaftlichen Belegen, die ich aus Aberhunderten von For schungsunterlagen zusammengetragen habe, von denen die meisten erst in den letzten zehn Jahren veröffentlicht wurden. Unser Wissen darüber, wie das Gehirn funktioniert, ist in diesem relativ kurzen Zeitraum regelrecht explodiert, und es war und ist eine unglaublich spannende Zeit für jeden, der sich dafür interessiert. Was mich persönlich angeht, so hat sich durch meine Recherchen für dieses Buch meine Begeisterung über die nutzbringenden Effekte körperlicher Bewegung oder sportlicher Betätigung verdoppelt, und meine Intuition ist durch harte wissenschaftliche Fakten ersetzt worden. 297 Kapitel 10: Das Übungsprogramm Um zu verdeutlichen, wie neu dieses Gebiet ist, möchte ich kurz auf die Geschichte der Neurogenese zurückkommen, jene einst als ketzerisch angesehene Theorie, derzufolge zeit unseres Lebens neue Nervenzellen im Gehirn wachsen. „Vor zehn Jahren war man nicht überzeugt davon, dass es so sein könnte“, sagt der Neurologe Scott Small. Es war in seinem Labor an der Columbia University, wo die Forscher 2007 zum ersten Mal auf aufschlussreiche Anzeichen für die Neurogenese bei lebendigen Menschen stießen. „Vor fünf Jahren hieß es, okay, es könnte so sein, aber ist es wirklich aussagekräftig? Inzwischen vergeht keine Woche, ohne dass eine weitere Studie vorgelegt wird, die zeigt, dass die Neurogenese einen bestimmten Effekt auf das Gehirn hat.“ Bei seiner Studie verordnete Small einer Gruppe von freiwilligen Versuchspersonen ein dreimonatiges sportliches Übungsprogramm und machte dann Aufnahmen von ihrem Gehirn. Indem er den bild gebenden Prozess an einem Standard-MRT-Gerät dahin gehend manipulierte, dass er hineinzoomte und den Shutter halb offen ließ, erhielt er Aufnahmen der neu gebildeten Kapillaren, die für das Überleben der werdenden Neuronen erforderlich sind. Was er sah, war, dass das Volumen der Kapillaren in der Gedächtnisregion des Hippocampus um 30 Prozent zugenommen hatte, eine wahrlich bemerkenswerte Veränderung. Als der eigentliche Durchbruch, der hier erzielt wurde, könnte sich jedoch die Tatsache erweisen, dass es möglich ist, die Neurogenese sozusagen zu kartieren, ohne das Gehirn zu sezieren, sodass sich der Fokus der Forschung von Laborratten auf Menschen verlagern könnte. Die neue Technologie dürfte es den Wissenschaftlern ermöglichen, den Einfluss jeder beliebigen Variablen auf die Neurogenese zu untersuchen, etwa auch, wie viel körperliche Bewegung notwendig ist. „Ist es eine Stunde in der Woche? Jeden Morgen? Oder wird die Neurogenese nur durch ein grausames Marathonprogramm maximiert?“ fragt Small. „Wir wissen es einfach nicht. Niemand weiß es. Nun, nachdem wir dieses Instrument haben, das die Neurogenese indirekt messen kann, können wir tatsächlich versuchen, ein Übungsprogramm zu optimieren.“ Das war vor einigen Jahren. Heute sehen Small und seine Kollegen körperliche Bewegung vor allem als einen treffsicheren Auslöser, um 298 Bauen Sie Ihr Gehirn auf das Wachstum neuer Zellen zu erhöhen. Sie nutzen dies selbst bei ihren Experimenten, um einen anderen Prozess zu beobachten; aber an den Punkt, Bewegung oder sportliche Aktivitäten als solche zu untersuchen, sind die meisten noch nicht gekommen. Ähnlich ist es bei vielen anderen positiven Effekten körperlicher Betätigung, über die ich gesprochen habe, angefangen bei der Erhö hung der Neurotransmitter und neurotrophen Faktoren bis hin zur Freisetzung von Faktoren aus den Muskeln, die dann neue Kapillare im Gehirn aufbauen und die synaptische Plastizität fördern. Nach Auffassung des Neurowissenschaftlers William Greenough, der Anfang der 1970er-Jahre mithilfe eines Elektronenmikroskops erkannte, dass körperliche Bewegung neue Verästelungen bei Neuro nen hervorbrachte, steht es außer Frage, dass aerobe Übungen wunderbar für Ihr Gehirn sind. Und er ist sich ziemlich sicher, dass es auch wichtig ist, komplexe motorische Bewegungen (wie Aerobic oder Kampfsportarten) in Ihr Übungsprogramm einzubeziehen. Konkrete Empfehlungen kann er dazu aber noch nicht geben. Das ist nicht weiter tragisch. Schließlich sind wir nicht ausschließlich auf Neurowissenschaftler angewiesen. Zunächst einmal gibt es bereits bestimmte Schlussfolgerungen, die wir aus den bereits vor liegenden Arbeiten ziehen können. Zweitens liegen aufschlussreiche Belege aus anderen Forschungsbereichen vor. Untersuchungen aus Bereichen von der Kinesiologie bis hin zur Epidemiologie zeigen immer wieder, dass das Gehirn umso besser funktioniert, je höher das Fitnessniveau ist. Charles Hillman hat nachgewiesen, dass fitte Kinder bei kognitiven Tests der Exekutiven Funktion besser abschneiden als nicht fitte Kinder; Arthur Kramer hat gezeigt, dass das Gehirnvolumen bei älteren Erwachsenen zunimmt, wenn sie etwas für ihre Kondition tun; und Studien, in die Zehntausende von Personen allen Alters einbezogen waren, zeigten, dass ein direkter Zusammenhang zwischen einem höheren Fitnessniveau und positiven Stimmungen sowie einem geringen Maß an Ängsten und Stress besteht. Wenn jemand mich fragt, wie viel er sich sportlich betätigen muss, um etwas für sein Gehirn zu tun, sage ich ihm, der beste Rat, den ich ihm geben kann, sei, dafür zu sorgen, dass er fit wird, und sich dann kontinuierlich selbst vor neue Herausforderungen zu stellen. Das Rezept, wie man dies erreicht, wird von Person zu Person 299 Kapitel 10: Das Übungsprogramm verschieden sein; die Forschung zeigt jedoch durchgehend, dass das Gehirn umso widerstandsfähiger wird und besser funktioniert, sowohl kognitiv als auch psychisch, je fitter man ist. Wenn Sie Ihren Körper in Form bringen, folgt Ihr Geist von selbst. Heißt das, dass man wie ein Supermodel aussehen muss, damit das Gehirn in den Genuss der nutzbringenden Effekte körperlicher Bewegung kommt? Tatsache ist, dass viele der überzeugendsten Studien die Aktivität des Gehens (heutzutage auch gerne „Walking“ genannt) als körperliche Bewegung nutzen. Ich setze den Schwerpunkt jedoch in erster Linie darauf, fit zu werden, da wir definitiv wissen, dass ein gesunder Body Mass Index (BMI) und ein robustes Herz-Kreislauf-System das Gehirn optimieren. Jedes Maß an körperlicher Aktivität ist sicherlich hilfreich, sofern es Ihnen jedoch ein Anliegen ist, etwas für Ihr Gehirn zu tun, dann könnten Sie, praktisch gesehen, ebenso gut so viel tun, um auch Ihren Körper vor Herzkrankheiten, Diabetes, Krebs und Ähnlichem zu schützen. Körper und Geist sind miteinander verbunden. Warum sich also nicht um beide kümmern? Zum Laufen geboren In seinem Buch Laufen: Geschichte einer Leidenschaft beschreibt der Biologe Bernd Heinrich die menschliche Spezies als Feind der Ausdauer. Die Gene, die unseren Körper heute steuern, haben sich im Zuge der Evolution vor Hunderttausenden von Jahren entwickelt, als wir noch ständig in Bewegung waren, sei es auf der Suche nach Nahrung oder bei der Jagd, als wir stunden- oder tagelang einer Antilope durch die Ebenen hinterher jagten. Heinrich beschreibt, wie es unseren Vorfahren möglich war, Antilopen zu jagen, obwohl diese zu den schnellsten Säugetieren gehören: Sie trieben sie bis zur Erschöpfung, hielten sich an ihren Schwänzen fest, bis die Tiere keine Energie mehr hatten, um zu fliehen. Antilopen sind Sprinter, ihr Stoffwechselsystem erlaubt es ihnen jedoch nicht, endlos weiterzulaufen. Das unsere jedoch sehr wohl. Wir verfügen über ein ziemlich ausgewogen verteiltes Netz an schnell zuckenden und langsam 300 Bauen Sie Ihr Gehirn auf zuckenden Nervenfasern, sodass wir, selbst wenn wir kilometerweite Strecken zurückgelegt haben, noch die Stoffwechselkapazität haben, um kurze Sprints einlegen und unserer Beute den tödlichen Stoß zu versetzen. Heute ist es natürlich nicht mehr notwendig, lange nach Nahrung zu suchen und auf die Jagd zu gehen, um zu überleben. Diese Aktivi täten sind jedoch noch in unseren Genen kodiert, und unser Gehirn soll diese Aktivitäten steuern. Mit dem Wegfall dieser Aktivitäten ist jedoch ein delikates biologisches Gleichgewicht zerbrochen, das im Laufe einer halben Million von Jahren fein abgestimmt wurde. Das heißt konkret ganz einfach, dass wir unser auf Ausdauer ausgelegtes Stoffwechselsystem in Anspruch nehmen müssen, um unseren Körper und unser Gehirn in optimaler Kondition zu halten. Der alte Rhyth mus an Aktivitäten, der in unserer DNS verankert ist, lässt sich in etwa auf Gehen, Joggen, Laufen und Sprinten in jeweils unterschiedlicher Intensität übertragen. Der beste Rat ist meines Erachtens somit, grob gesagt, sich an die Routine unserer Vorfahren zu halten: Jeden Tag gehen oder joggen, einige Male in der Woche laufen, und ab und zu einen Sprint einlegen, um sozusagen den Widrigkeiten des Lebens einen Todesstoß zu versetzen. Ihre Wahlmöglichkeiten sind natürlich nicht auf diese Formen aerober Aktivitäten begrenzt, ich denke jedoch, diese Auflistung ist hilfreich, um zwischen weniger intensiven (Gehen), mäßig intensiven (Joggen) und hoch intensiven (Laufen) Aktivitäten zu unterscheiden. Wenn Sie das Beste aus Ihrer Zeit und Ihren Anstrengungen machen möchten, müssen Sie eine Möglichkeit finden, um das Maß Ihrer Kraftanstrengung nach diesen Kategorien genau beurteilen zu können. Wenn ich von Gehen oder einer weniger intensiven Aktivität spreche, meine ich damit eine körperliche Aktivität bei 55 bis 65 Prozent Ihrer max imalen Herzfrequenz. Nach meiner Definition liegt eine mäßig intensive Aktivität etwa bei 65 bis 75 Prozent, und eine hoch intensive bei 75 bis 90 Prozent. Das obere Ende hoch intensiver Aktivitäten ist manchmal schmerzhaft, aber ein stets wirksamer Bereich, dem in letzter Zeit viel wissenschaftliches Interesse geschenkt wurde. Sofern Sie sich gerne an einem Fitnessgerät mit eingebautem Puls messer abplagen, ist die einzige Möglichkeit, Ihr Intensitätsniveau 301 Kapitel 10: Das Übungsprogramm genau zu messen, einen Herzfrequenzmonitor zu nutzen. Diese Gerä te sind der Eckpfeiler des revolutionären Sportunterrichtsprogramms in Naperville, und sie sind so einfach zu bedienen, dass selbst Grund schulkinder wissen, wie man damit umgeht. Eine solche Pulsuhr besteht aus einem Brustgurt, der Ihren Herzschlag registriert, und einer Digitaluhr, die das Signal empfängt und die Anzahl der Herzschläge pro Minute auf dem Display anzeigt. Angenommen, Ihr Übungsprogramm verlangt einen hoch intensiven Lauf. Sofern Sie 45 Jahre alt sind, wäre Ihre theoretische maximale Herzfrequenz etwa 175, nach dieser groben Formel gerechnet: 220 minus Alter. Wenn Sie bei 75 Prozent und 90 Prozent Ihrer maximalen Herzfrequenz trainieren möchten, so liegt die Grenze für ein hoch intensives Training zwischen 131 und 158. Dies ist Ihre Zielherzf requenzzone für das Training. Sie brauchen nun nichts weiter zu tun, als diese Grenzwerte auf der Uhr einzugeben, was nicht schwieriger ist, als die Zeit einzustellen, und dann Ihre Geschwindigkeit entsprechend den Werten anzupassen, die der Monitor Ihnen anzeigt. Sobald Ihre Herzfrequenz die gewünschte Zone verlässt, piepst die Uhr. Dies ist ein sehr präziser Weg, um auf Ihren Körper zu hören. Pulsuhren sind nicht teuer, einfach zu bedienen und unverzichtbar für jeden, der ernsthaft daran interessiert ist, sein Potenzial bei sportlichen Aktivitäten zu erschließen. Darüber hinaus ist es einfach auch gut zu wissen, dass man genug tut und nicht zu viel. Aber wieder stellt sich die Frage: Wie viel muss ich tun? Den Empfehlungen öffentlicher Gesundheitseinrichtungen zufolge, angefangen von den Zentren für Krankheitskontrolle (CDC) bis zum American College of Sports Medicine, sollte man an mindestens fünf Tagen in der Woche 30 Minuten lang moderate aerobe Übungen irgendeiner Form machen. Ich denke jedoch, dass diese Institutionen sich dabei nach allen Seiten abzusichern versuchen. US-Amerikaner sind so inaktiv, dass die Experten sich scheuen, Richtlinien herauszugeben, die zu schwierig sind und der Bevölkerung zu viel abverlangen, aus Angst, dass dann alle von vorneherein kapitulieren. „Jeder möchte nur das Minimum wissen, was er tun kann, um einen durchschlagenden Effekt zu erzielen“, sagt der Sportphysiologe Brian Duscha von der Duke University, der mit Medienanfragen überhäuft wurde, 302 Bauen Sie Ihr Gehirn auf nachdem er eine Studie veröffentlicht hatte, die zeigte, dass nur drei Stunden Gehen pro Woche genügen, um nutzbringende Effekte für das Herz-Kreislauf-System zu erzielen. „Ich versuche, die Leute nicht zu überfordern, weil sie sonst gleich aufgeben.“ Für alle, die es hören wollen, weist er aber auch darauf hin, dass eine Erhöhung der Dauer oder der Intensität der Aktivitäten noch größere Fitnessgewinne mit sich bringt. Duscha ist ein Experte, was die Herz-Kreislauf-Gesundheit angeht. Er sagt jedoch das Gleiche wie fast jeder Neurowissenschaftler, den ich in diesem Buch zitiert habe: „Ein bisschen ist gut, mehr ist besser.“ Auf der Grundlage dessen, was ich gelesen und gesehen habe, wäre es jedoch das Beste, irgendeine Form aerober Aktivitäten an sechs Tagen pro Woche jeweils 45-60 Minuten zu praktizieren. Vier dieser Tage sollten dem längeren Pensum mäßig intensiver Aktivitäten gewidmet werden und zwei dieser Tagen dem kürzeren Pensum hoch intensiver Aktivitäten. Es gibt zwar widersprüchliche Belege darüber, ob hoch intensive Aktivitäten, die Ihren Körper in den Bereich eines anaeroben Stoff wechsels zwingen können, Auswirkungen auf das Denken und die Stimmung haben, fest steht jedoch eindeutig, dass dabei einige der wichtigeren Wachstumsfaktoren vom Körper freigesetzt werden, die das Gehirn aufbauen. An den kürzeren, hoch intensiven Tagen sollten Sie irgendeine Form von Kraft- oder Widerstandstraining mit einbeziehen. Diese Tage sollten jedoch nicht unmittelbar aufeinander folgen; Ihr Körper und Ihr Gehirn brauchen eine Erholungsphase, um nach hoch intensiven Trainingstagen zu wachsen. Was ich sagen möchte, ist, dass Sie insgesamt etwa sechs Stunden in der Woche für ihr Gehirn aufbringen sollten. Das macht etwa fünf Prozent der Stunden aus, in denen Sie wach sind. Nachdem ich das nun losgeworden bin, möchte ich indes auch nicht unerwähnt lassen, dass ich mit Experten wie Duscha natürlich einer Meinung bin, dass es nämlich das Wichtigste ist, überhaupt etwas zu tun. Und einfach einmal damit anzufangen. Dies mag selbstverständlich klingen, aber für inaktive Personen – insbesondere wenn diese Inaktivität auf eine Depression zurückzuführen ist –, kann es unmöglich erscheinen, diesen ersten Schritt zu tun. Bei einigen ist es ein Paradoxon: Sie können nicht anfangen, weil 303 Kapitel 10: Das Übungsprogramm sie die Energie nicht haben, und sie haben die Energie nicht, weil sie sich nicht körperlich betätigen. Ich habe dies bei einigen meiner Patienten erlebt, es ist ein sehr reales Problem, nicht nur eine Frage der Willenskraft. Der Schlüssel ist, an die Frage des Anfangens so heranzugehen, als sei sie selbst eine Herausforderung. Es ist hinreichend bekannt, dass es leichter ist, mit jemandem zusammen zu trainieren, egal, ob Sie mit einem Freund oder einer Freundin laufen, in einer Gruppe Rad fahren oder mit dem Nachbarn zusammen gehen. Darüber hinaus gibt es mehrere neue Studien, die zeigen, dass die nutzbringenden neurologischen Effekte, die ich beschrieben habe, größer sind, wenn man das Übungsprogramm mit jemandem gemeinsam absolviert. Patienten, denen es wirklich schwer fällt, ihr Programm durchzuziehen, rate ich, zu überlegen, sich eine Zeit lang einen persönlichen Trainer zu nehmen, weil es dann weniger wahrscheinlich ist, dass sie eine Sitzung ausfallen lassen (schließlich bezahlen sie, egal, ob sie die Stunde wahrgenommen haben oder nicht, und Geld ist ein guter äußerer Motivator). Tragen Sie sich Ihr Übungsprogramm genauso in ihren Terminkalender ein wie einen Zahnarzttermin. Nach einer Weile wird Ihr Gehirn dies als Routine, genau wie das Zähneputzen, verinnerlicht haben. Wernn Sie noch nicht aktiv gewesen sind, ist es meines Erachtens am besten, mit einfachem Gehen zu beginnen. Nehmen Sie stets die Treppe statt des Aufzugs, parken Sie Ihr Auto am hinteren Ende des Parkplatzes, und drehen Sie zur Mittagszeit eine Runde um den Block. Bereits seit einigen Jahrzehnten gibt es die Gesund heitsinitiative der sogenannten „Zehntausend Schritte“, die dazu anhält, einen einfachen Schrittzähler zu nutzen, um zu berechnen, wie viel man jeden Tag geht, sozusagen als Weg, um körperliche Bewegung in den alltäglichen Ablauf einzubeziehen, ohne sich allzu viele Gedanken darüber machen zu müssen. Ausgehend von einer durchschnittlichen Schrittlänge von 75 Zentimetern ergeben 10.000 Schritte eine Strecke von annähernd acht Kilometern. Es ist ein cleverer Weg, um in Form zu kommen, selbst ohne dafür viel zusätzliche Zeit zu investieren. Und es funktioniert! Ihre Schritte zu zählen, hilft, genau wie sich zu wiegen oder eine Pulsuhr zu nutzen, um bei den eigenen Bemühungen eine Orientierung zu haben, um fokussiert und motiviert zu bleiben, und dies insbesondere dann, 304 Bauen Sie Ihr Gehirn auf wenn Sie verstanden haben, was Ihr Körper und Ihr Gehirn auf den verschiedenen Intensitätsebenen tun. Gehen Das A und O, wenn Sie fit werden möchten, ist, Ihre aerobe Grund lage aufzubauen. Je mehr Sie Ihr Herz und Ihre Lungen trainieren, desto effizienter werden sie, um Ihren Körper und Ihr Gehirn mit Sauerstoff zu versorgen. Auf die erhöhte Durchblutung folgt unweigerlich die chemische Kaskade, die Serotonin, den neurotrophen Faktor BDNF und andere wichtige Moleküle produziert. Wenn Sie anfangen, eine Stunde pro Tag zu gehen, und zwar bei 55 bis 65 Prozent Ihrer maximalen Herzfrequenz, werden Sie ganz von selbst die Distanz erhöhen, die Sie in dieser Zeit gehen, und damit allmählich in Form kommen. Auf diesem Niveau verbrennen Sie Fett als Brennstoff, und damit wird Ihr Stoffwechsel angeregt. Wenn ein Körper zu viel Fett mit sich herumträgt, bauen die Muskeln einen Widerstand gegenüber Insulin auf, was den Aufbau von Fett verschlimmert und die Produktion des insulinähnlichen Wachstumsfaktors (IGF-1) drosselt. Eine Studie, die 2007 von der University of Michigan veröffentlicht wurde, berich tete, dass eine einzige Runde aerober Aktiv itäten genügte, um den Insulinwiderstand bis zum nächsten Tag vollständig aufzuheben. Die Forscher verglichen Muskelbiopsien von vor und nach der Übungsrunde und stellten auch fest, dass die durch sportliche Aktivitäten in Anspruch genommenen Muskelfasern Proteine produzieren, die wichtig für die Fettsynthese sind. Sie wissen nicht, wie lange der Effekt anhält, die Ergebnisse unterstreichen jedoch, dass selbst ein geringes Maß an Aktivitäten den Funken für einen positiven Dominoeffekt zünden kann. Wenn Sie Ihren Körper beanspruchen und Ihre Muskeln spüren den Bedarf nach mehr Brennstoff, geschehen die verschiedensten Dinge, die gut für Ihren Körper und Ihr Gehirn sind. Bei wenig intensiven körperlichen Aktivitäten, bei denen Fett verbrannt wird, wird auch freies Tryptophan in den Blutkreislauf gepumpt, das, wie 305 Kapitel 10: Das Übungsprogramm Sie sich erinnern, ein notwendiger Bestandteil für die Produktion des stimmungsstabilisierenden Serotonins ist. Dieses Aktivitätsniveau verändert zudem auch die Verteilung von Noradrenalin und Dopamin. Wenn man sich dies im evolutionären Kontext von Heinrichs „Feind der Ausdauer“ anschaut, ergibt es absolut Sinn: Während unsere Vorfahren ihre Beute jagten, mussten sie Geduld, Optimismus, Konzentration und Motivation haben, um sie zu verfolgen. All diese Eigenschaften werden durch Serotonin, Dopamin und Noradrenalin beeinflusst. Gehen wird dafür sorgen, dass Sie sich mit der Welt um Sie he rum mehr verbunden fühlen. Es wird nicht lange dauern, bis Sie noch häufiger nach draußen gehen möchten. Ärzte messen die Fitness ihrer Patienten anhand eines einfachen Kriteriums: Sie prüfen, wie weit sie in sechs Minuten gehen können. An der medizinischen Fakultät der University of Alabama haben Forscher jedoch festgestellt, dass die Verbesserung dabei so schnell eintritt, dass der beste Weg, eine präzise Messung zu erhalten, ist, sie zunächst einmal zwei Mal gehen zu lassen. Das heißt, es ist gut möglich, dass Sie angenehm überrascht sein werden, wie schnell Sie an Boden gewinnen. Sobald Sie sich auf eine Stunde in einem Tempo hochgearbeitet haben, bei dem Sie sich gerade nicht mehr unterhalten können, sind Sie bereits so weit, dem Ganzen eine mäßig intensive Aktivität hinzuzufügen. Wenn Sie sich auf dieser Ebene selbst herausfordern, werden Sie merken, dass Sie nicht nur bei Ihrem Training mehr tun oder leisten können, sondern auch in jedem anderen Bereich Ihres Lebens. Sie werden mehr Elan und Energie haben, weniger negativ eingestellt sein und ein stärkeres Kontrollgefühl entwickeln. Und vor allem werden Sie, wenn Sie aktiv sind, nicht isoliert und reglos zu Hause herumsitzen. Joggen Sobald Sie zu mäßig intensiven Aktivitäten, zwischen 65 und 75 Prozent Ihrer maximalen Herzfrequenz, wechseln, geht Ihr Körper dazu über, nicht mehr nur alleine Fett, sondern auch Glukose zu 306 Bauen Sie Ihr Gehirn auf verbrennen, sodass infolge der Belastung im Muskelgewebe Mikro risse entstehen. Alle Zellen in Ihrem Körper und Gehirn befinden sich immerzu in einem Zustand fortwährender Schädigungen und Reparaturen, wobei die Stoffwechselanforderungen auf diesem Niveau die Reaktion jedoch in die Höhe schnellen lassen. Ihr Körper erkennt nun, dass er ein robusteres Sauerstoffversorgungssystem braucht, sodass die Muskeln den vaskulären endothelialen Wachstums faktor (VEGF) und den Fibroblasten-Wachstumsfaktor-2 (FGF-2) freisetzen, die dann dafür sorgen, dass sich Zellen teilen, damit mehr Gewebe für mehr Blutgefäße entsteht, jene neuen Kapilla ren, die Scott Small bei seinen Aufnahmen entdeckt hat. In Labor kulturen haben Forscher festgestellt, dass VEGF und FGF-2 Zellen aktiv ieren, innerhalb von nur zwei Stunden nach der Exposition mehr Blutgefäße entstehen zu lassen. Außer dem Aufbau neuer Blut gefäße fördern diese beiden Faktoren auch die Zellanbindung und die Neurogenese im Gehirn. Das höhere Aktivitätsniveau löst in Ihren Gehirnzellen die Frei setzung von „Reinigungstrupps“ in Ihrem Stoffwechselsystem aus, wobei Proteine und Enzyme produziert werden, die freie Radikale, abgefallene DNS-Teilchen und Entzündungsfaktoren beseitigen, die – wenn sie unkontrolliert bleiben – zur Zerstörung der Zelle führen können. Die Forschung kommt zunehmend zu dem Schluss, dass es möglicherweise nicht hilfreich ist, Antioxidanzien in Pillenform zu sich zu nehmen, und dass dies vielleicht sogar schädlich ist. Den meisten Menschen ist jedoch nicht bewusst, dass aerobe Übungen ein Weg sind, um ihre Versorgung mit Antioxidanzien in den Zellen zu gewährleisten. Außerdem sind Antioxidanzien nur ein Teil der Geschichte: Sofern es eine ausreichende Erholungsphase gibt, bewirkt die Reparaturreaktion auf körperliche Aktivitäten auch, dass Ihre Neuronen stärker werden. Bei mäßig intensiven Aktivitäten wird auch Adrenalin in den Blutk reislauf freigesetzt. Bei einer untrainierten Person wird dadurch die HPA-Achse (vom Hypothalamus über die Hirnanhangsdrüse bis zur Nebenniere) aktiviert. Dies ist die Kampf-oder-Flucht-Reaktion auf Stress, die ich in Kapitel 3 beschrieben habe, bei der der Körper in hoher Alarmbereitschaft ist und das Cortisol im Gehirn herumzujagen beginnt. Auf einem moderaten Aktivitätsniveau mobilisiert 307 Kapitel 10: Das Übungsprogramm das Cortisol die zellulare Maschinerie des Lernens, damit eine Situation aufgezeichnet wird, die der Körper für überlebenswichtig hält. Sofern der Cortisol-Spiegel jedoch chronisch erhöht bleibt, ist dies toxisch für die Nervenzellen. BDNF ist die beste Verteidigung für Ihre Neuronen. Durch die mit einem moderaten Training bewirkte Erhöhung des Spiegels stärkender Chemikalien festigen Sie die Schaltkreise in Ihrem Gehirn und stimmen die HPA-Achse so ab, dass sie künftig durch Stressvorfälle nicht mehr so leicht aktiviert wird. Desgleichen wird das Immunsystem gestärkt, damit es besser gerüstet ist, um mit einem echten Angriff auf den Körper fertig zu werden und alles abzuwehren, von Erkältungen bis hin zu Krebs. Ein weiterer Faktor aus dem Körper, der hier ins Spiel kommt, ist das atriale natriuretrische Peptid (ANP). Es wird vom Muskelgewebe im Herzen produziert, wenn das Herz stark pumpt. ANP wird durch das Blut ins Gehirn transportiert, wo es hilft, die Stressreaktion weiter zu dämpfen und das Rauschen im Gehirn zu reduzieren. Es ist ein potenter Bestandteil einer Kaskade von Chemikalien, die psychischen Stress lindern und Ängste reduzieren. Zusammen mit den die Schmerzen abstumpfenden Endorphinen und Endocannabinoiden hilft die Erhöhung des ANP-Spiegels zu erklären, warum man sich nach einem moderaten aeroben Training entspannt und ruhig fühlt. Wenn von Stress abbauen die Rede ist, dann sind diese Elemente im Spiel. Auf dieser Ebene reißen Sie also gewissermaßen Dinge ein und bauen sie wieder auf, und zwar stärker als vorher. Es ist wichtig, Er holungsphasen zu berücksichtigen, damit Ihr Körper und Ihr Gehirn eine Chance haben, wieder zu Kräften zu kommen. Laufen Bei hoch intensiven Aktivitäten, zwischen 75 und 90 Prozent Ihrer maximalen Herzfrequenz, gerät Ihr Körper in den Zustand eines ausgewachsenen Notfalles, und seine Reaktion ist entsprechend stark. In diesem Spektrum, für gewöhnlich am oberen Ende, gerät auch der Stoffwechsel aus dem aeroben in den anaeroben Bereich, 308 Bauen Sie Ihr Gehirn auf bei dem die Muskeln in einen Zustand der Hypoxie geraten, weil sie nicht genügend Sauerstoff aus dem Blut beziehen können. Sauerstoff ist für eine effiziente Verbrennung von Glykogen notwendig, da die Muskeln ohne Sauerstoff beginnen, direkt im Muskelgewebe gespeichertes Kreatin und Glykogen zu verbrennen – ein unangenehmer Mechanismus, der bewirkt, dass sich Milchsäure aufbaut (das Brennen, das Sie in Ihren Oberschenkeln und Ihrer Brust fühlen). Die sogenannte anaerobe Schwelle tritt von Person zu Person bei unterschiedlichen Intensitäten auf, wobei Sie bei hoch intensiven Aktiv itäten mit dem Brennen in den Oberschenkeln (nach dem Aufwärmen) quasi „flirten“, während des Laufens allerdings gerade unterhalb dieser Schwelle bleiben möchten. Während Physio logen keine magische Herzf requenz nennen können, bei der Ihr Körper die Schwelle vom aeroben zum anaeroben Bereich überschreitet, zeigte eine unlängst von dem Kinesiologen Panteleimon Ekkekak is von der Iowa State University durchgeführte Studie, dass der zuverlässigste Marker für diese Stoffwechselveränderung der Bericht der Versuchspersonen war, die aussagten, dass das Maß ihrer Kraftanstrengung „ziemlich hart“ war. Das klingt etwas vage, Ekkekakis hat jedoch festgestellt, dass diese Korrelation bemerkenswert konsistent war. Eine andere Möglichkeit, diese Stufe zu beurteilen, ist, sich vor Augen zu halten, dass es, selbst wenn es „ziemlich hart“ ist, gerade unterhalb Ihrer anaeroben Schwelle zu bleiben, es jedoch in keinem Fall so hart sein sollte, dass Sie dieses Tempo nicht 30 Minuten oder eine Stunde beibehalten könnten. Wenn Sie sich wirklich fordern möchten, dann legen Sie Interval le ein, bei denen Sie mitten in Ihrer hoch intensiven Aktivitätsrunde jeweils kurz über diese Schwelle hinaus sprinten. Einer der wichtigsten Unterschiede zwischen mäßig intensi ven und hoch intensiven Aktivitäten ist, dass die Hypophyse in Ihrem Gehirn das menschliche Wachstumshormon (HGH, Human Growth Hormone, auch: Somatotropin) freisetzt, sobald Sie näher an Ihr Maximum herankommen, insbesondere wenn Sie in den anaeroben Bereich geraten. Gruppen, die sich mit der Frage der Lebensverlängerung beschäftigen, bezeichnen dieses Hormon als Jungbrunnen. Der auf natürliche Weise ins Blut ausgeschüttete HGH-Spiegel nimmt im Laufe des Lebens ab, sodass er bei 309 Kapitel 10: Das Übungsprogramm Personen mittleren Alters auf ein Zehntel dessen zurückgegangen ist, was in der Kindheit vorhanden war, und zwar sowohl bei Frauen als auch bei Männern. Und ein bewegungsarmer Lebensstil verschärft diesen Rückgang: Ein hoher Cortisol-Spiegel und ein hoher Insulinwiderstand sowie ein Übermaß an Fettsäuren im Blut drosseln die Freisetzung des Hormons weiter. HGH ist der Handwerksmeister des Körpers – das Wachstums hormon baut Fettpolster ab, die sich in der Bauchregion angesammelt haben, lässt Muskelfasern sprießen und erhöht das Gehirn volumen. Forscher sind der Überzeugung, dass es den Verlust des Gehirnvolumens wettmachen kann, der naturgemäß mit zunehmendem Alter eintritt. Sportler wie Olympia-Sprinter und Fußballspieler bringen im Grunde ihren HGH-Spiegel auf Vordermann, wenn sie ein Intervall-Training absolvieren und sich so auf natürliche Weise dopen. Im Ergebnis werden auf diese Weise schnell zuckende Muskelfasern aufgebaut, die ihre Bewegungen zusätzlich kraftvoller machen. Die Rekrutierung neuer Muskelfasern fördert darüber hinaus auch den Stoffwechsel insgesamt, und nach dem IntervallTraining behält der Körper die verbesserte Fähigkeit, Fett und Koh lenhydrate zu verbrennen, bei. Normalerweise bleibt das menschliche Wachstumshormon nur einige Minuten im Blut, durch eine Runde Sprints kann der Spiegel jedoch bis zu vier Stunden erhöht sein. Im Gehirn sorgt HGH für ein Gleichgewicht der Neurotransmitter-Spiegel und es fördert die Produktion aller erwähnten Wachstumsfaktoren. Am nachdrücklichsten scheint es jedoch den insulinähnlichen Wachstumsfaktor (IGF-1) zu beeinflussen, den evolutionären Dreh- und Angelpunkt, der Aktivität, Brennstoff und Lernen miteinander verbindet. Er gelangt genau in den Zellkern und schaltet die Gene ein, die die Mechanismen des neuronalen Wachstums in Gang bringen. Psychologisch gesehen ist dies der Punkt, an dem man mit „dem Selbst konfrontiert“ ist, um es mit den Worten meines Kollegen Robert Pyles zu sagen, jenes Psychiaters und Marathonläufers, über den ich in Kapitel 3 geschrieben habe. Indem man über das hinausgeht, was man glaubte, leisten zu können, indem man den Körper noch eine Minute oder zwei Minuten weiter belastet und beansprucht und den Schmerz aushält, gelangt man manchmal in 310 Bauen Sie Ihr Gehirn auf einen durchaus seltenen Gemütszustand, in dem man das Gefühl hat, als könnte man jede Herausforderung bestehen. Wenn Sie je das Phänomen des „Runner’s High“ erlebt haben, dann war dies wahrscheinlich ein Ergebnis dessen, dass Sie eine nahezu maximale Anstrengung aufgebracht haben. Das euphorische Gefühl ist wahrscheinlich auf eine Mischung extrem hoher Spiegel von Endor phinen, ANP, Endocannabinoiden und Neurotransmittern zurückzuführen, die bei dieser Intensität an Aktivitäten durch Ihr System gepumpt werden. Dies ist der Weg, wie das Gehirn alles andere blockiert, damit Sie durch den Schmerz hindurchgehen und Ihrer „Beute den Todesstoß versetzen“ können. Hoch intensive Aktivitäten härten Sie ab, sowohl physisch als auch psychisch. Dies ist auch der Grund, warum wir auf Berge klettern und uns für Fitness-Trainingslager anmelden oder Abenteuerreisen mitmachen. Sie müssen jedoch nicht solche Extreme auf sich nehmen, um die Früchte zu ernten, von denen ich rede. Eine Studie der University of Bath in England stellte fest, dass sich der Spiegel des menschlichen Wachstumshormons (HGH) durch Einlegen eines einzigen Sprintspurts von 30 Sekunden – in diesem Fall beim Radfahren auf einem Heimtrainer – um das Sechsfache erhöhte und zwei Stunden nach dem Sprint seinen Höhepunkt erreichte. Und eine unlängst veröffentlichte Studie von Neurologen der Universität Münster berichtete, dass ein Intervalltraining die Lern fähigkeit verbessert. Während eines Laufs von 40 Minuten auf einem Laufband legten die Versuchspersonen zwei Sprints von jeweils drei Minuten ein (und zwar mit einem Abstand von zwei Minuten mit geringerer Intensität dazwischen). Im Vergleich zu den Versuchspersonen, die die ganze Zeit mit geringer Intensität gelaufen waren, war bei den Sprintern eine erheblich höhere Zunahme sowohl beim BDNF- als auch beim Noradrenalin-Spiegel festzustellen. Entsprechend zeigte sich bei den kognitiven Tests, die unmittelbar nach dem Laufen durchgeführt wurden, dass die Sprinter Vokabeln 20 Prozent schneller lernten. Das heißt, dass selbst eine kleine Dosis an Anstrengungen, bei denen Sie sich an Ihre Grenze bringen, tief greifende Effekte auf Ihr Gehirn hat. Aber wie gut dies auch alles klingen mag, wenn es um ein Inter valltraining geht, können Sie mit Sicherheit nicht einfach von der 311 Kapitel 10: Das Übungsprogramm Couch aufspringen und damit anfangen. Voraussetzung ist in jedem Fall, dass Sie wirklich eine absolut solide und handfeste aerobe Basis haben müssen und unbedingt mit Ihrem Arzt darüber sprechen sollten, was Sie vorhaben. Es wäre keine gute Idee, Ihr Herz solchen Belastungen auszusetzen, wenn es nicht daran gewöhnt ist. Je nachdem, wie Sie in Form sind, würde ich sagen, dass Sie mindestens eine Grundlage von sechs Monaten haben sollten, an denen Sie jeweils an sechs Tagen in der Woche aeroben Aktivitäten nachgegangen sind, bevor Sie ein Intervalltraining in Ihr Übungsprogramm einbauen können. Aber auch hier gilt wiederum, dass Ihr Arzt dies im Vorfeld absegnen muss, bevor Sie loslegen. Nicht-aerobe Aktivitäten Dem Thema nicht-aerober Aktivitäten habe ich bisher nicht viel Platz eingeräumt, da es, offen gestanden, nur sehr wenige For schungsarbeiten darüber gibt, inwieweit sich diese Aktivitäten auf das Gehirn in Bezug auf Lernen, Stimmung, Ängste, Aufmerksam keit und die anderen Bereiche auswirken, über die ich gesprochen habe. Es ist eben schwierig, Ratten Gewichte heben oder Yoga machen zu lassen, sodass Wissenschaftler hier auf Untersuchungen beim Menschen angewiesen sind, was aber gleichzeitig auch heißt, dass sie nach den Versuchen natürlich keine Biopsie des Gehirn gewebes durchführen können. Sie sind auf die Untersuchung von Blutproben und Verhaltenstests beschränkt, die weitaus mehr Inter pretationsspielraum lassen. Die Ergebnisse, die wir über nicht-aerobe Aktivitäten haben, sind nicht so robust wie jene, die über aerobe Aktivitäten vorliegen. Dies vorangestellt, ist es dennoch keine Frage, dass ein Kraft training wichtig für den Aufbau der Muskulatur und zum Schutz der Gelenke ist, und dass Praktiken wie Yoga und Tai-Chi das Gleichgewicht und die Beweglichkeit verbessern – die wiederum zur Fähigkeit Ihres Körpers beitragen, ein Leben lang aktiv zu bleiben. Bei einer erst vor kurzem durchgeführten Studie über ältere Erwachsene wurde festgestellt, dass zweimal wöchentliches 312 Bauen Sie Ihr Gehirn auf Gewichteheben über den Zeitraum von sechs Monaten bewirkte, dass die Teilnehmer nicht nur stärker geworden, sondern auch Aspekte des Alterungsprozesses auf genetischer Ebene tatsächlich umgekehrt worden waren. Die Gene, die für die Produktion einiger der wichtigsten Faktoren für das Wachstum des Gehirns verantwortlich sind (VEGF, FGF-2 und IGF-1) verhielten sich so, als wären sie 30 Jahre und nicht 65 Jahre alt. Der Großteil der Hirnforschung über Widerstandstraining hat sich nicht auf Auswirkungen auf das Lern- und Erinnerungsver mögen, sondern auf Stimmungen und Ängste konzentriert. Im Rah men einer Studie der Boston University, die vor zehn Jahren durchgeführt wurde, ließen die Forscher eine Gruppe älterer Erwach sener ein Krafttrainingsprogramm von zwölf Wochen machen (drei Sitzungen pro Woche) und maßen die verschiedenen Aspekte der psychischen und kognitiven Funktion. Sie kamen zu dem Schluss, dass das Programm nicht nur die Muskelkraft um etwa 40 Prozent verbesserte, sondern auch Ängste senkte und die Stimmung sowie das Selbstvertrauen verbesserte, jedoch keine nennenswerte Auswirkung auf das Denkvermögen hatte. Etwa zur gleichen Zeit untersuchten Forscher des Psychologischen Institutes der Universität Bern in der Schweiz im Rahmen einer anderen Studie die Auswirkungen eines achtwöchigen Krafttrainings. Das Programm der Probanden bestand aus einem zehnminütigen Aufwärmen, gefolgt von acht Übungen an Gewichtsmaschinen, das Ganze einmal pro Woche. Im Ergebnis war sowohl eine Verbesserung des psychischen Wohlbefindens als auch ein leichter Effekt auf das Erinnerungsvermögen festzustellen. Und den Nachuntersuchungen zufolge hielten diese Ergebnisse ein Jahr lang vor, unabhängig davon, ob das Aktivitätsniveau beibehalten wurde. Es gab jedoch zu viele Variablen, als dass die Forscher hätten sagen können, dass das Krafttraining einen messbaren Effekt auf das Erinnerungsvermögen hatte. Das Intensitätsniveau des Krafttrainings scheint insofern Ein fluss auf die Ergebnisse zu haben, indem sich zeigte, dass moderate Gewichte einen positiveren Einfluss als schwere Gew ichte hatten, zumindest bei einer kleinen Gruppe älterer Frauen. An dere Forschungsarbeiten konnten zeigen, dass ein hoch intensi ves Krafttraining sowohl bei Männern als auch bei Frauen das 313 Kapitel 10: Das Übungsprogramm Angstniveau tatsächlich sogar erhöhte. In diesem Fall wurde „hoch intensiv“ als Heben von 85 Prozent des maximal möglichen Gewichtes definiert; bei vielen Studien wurde diese entscheidende Variable jedoch nicht definiert. Eine Studie, die vor einigen Jahren im American Journal of Sports Medicine veröffentlicht wurde, zeigte, dass ein Cross-Training – wobei 30 Minuten Gewichtheben mit 30 Minuten Radfahren auf dem Heimtrainer kombiniert wurden – das Angstniveau verbesserte; die Studie war jedoch so konzipiert, dass man anschließend unmöglich sagen konnte, was die Veränderung ursächlich bewirkt hatte. Und alle Studien über dieses Thema wurden mit Gruppen älterer Menschen durchgeführt, bei denen deutliche Verbesserungen von vorneherein zu erwarten sind, da ihre Muskeln natürlich geschwächt sind, wenn sie mit einem Programm anfangen. Ein Faktor, der ganz klar durch ein Krafttraining beeinflusst wird, ist das menschliche Wachstumshormon (HGH). Bei einer kürzlich durchgeführten Studie wurde der Hormonspiegel während eines Krafttrainings mit dem Spiegel verglichen, der sich bei aeroben Aktivitäten von gut trainierten Männern einstellt. Wurden Kniebeugen gemacht, verdoppelte sich der HGH-Spiegel im Vergleich zu dem Spiegel, der durch 30-minütiges Laufen bei hoher Intensität erreicht wurde. Ich denke, dies wird wichtige Folgen im Hinblick auf die Empfehlungen für sportliche Aktivitäten haben. Noch weniger Forschungen gibt es über den Effekt von Rhyth mus, Gleichgewicht und fertigkeitsabhängigen Aktivitäten auf das Gehirn. Kleine Studien haben gezeigt, dass Yoga-Atemtechniken Stress und Ängste reduzieren und Tai-Chi die Aktivität des sympathischen Nervensystems drosselt (was anhand der Herzfrequenz und des Blutdrucks beurteilt wurde). Eine kürzlich durchgeführte Studie nutzte MRT-Scans bei acht Personen, die Yoga praktizierten, und stellte fest, dass sich bei ihnen der Neurotransmitter-Spiegel der Gamma-Aminobuttersäure (GABA) nach einer Sitzung von 60 Minuten um 27 Prozent erhöht hatte. GABA ist die Zielscheibe von Medikamenten wie Xanax und spielt bei Ängsten eine große Rolle, sodass dies mit ein Grund sein kann, warum Yoga manchen Menschen hilft, sich zu entspannen. Vieles von den Belegen, die aus diesem Bereich vorgelegt werden, ist aber eher anekdotischer Natur. 314 Bauen Sie Ihr Gehirn auf Ich bin jedoch sicher, dass Neurowissenschaftler, wenn sie erst weiter in die Tiefen des Gehirns vorgedrungen sind, Bahnen entdecken werden, die diese Stellen miteinander verbinden. Durchhalten Statistiken zeigen, dass etwa die Hälfte derjenigen, die irgendwann mit einem neuen Aktivitätsprogramm beginnen, dies innerhalb von sechs Monaten bis zu einem Jahr wieder fallen lassen. Einer der Hauptgründe scheint, was nicht überrascht, der zu sein, dass viele sich auf ein von hoher Intensität geprägtes Programm stürzen, was dazu führt, dass sie sich sowohl physisch als auch psychisch schlecht fühlen und es dann einfach wieder sein lassen. Der Kinesiologe Ekkekakis konzentrierte sich bei seinen Untersuchungen in weiten Teilen auf die Beziehung zwischen der Intensität körperlicher Aktivitäten und den Unannehmlichkeiten, die mit solchen Aktivitäten verbunden waren. Wie man sich im Vorfeld des Wechsels oder Übergangs vom aeroben zum anaeroben Stoffwechsel fühlt, ist von Person zu Person verschieden; er stellte jedoch fest, dass, sobald die Linie überschritten wird, fast jeder bei psychologischen Tests von negativen Ge fühlen und hohen Werten berichtete, was die subjektiv empfun dene Kraftanstrengung anging. Es ist Ihr Gehirn, das Sie über einen Notfall alarmiert. Wenn Sie sich selbst auf einem niedrigen Intensitätsniveau nicht gut fühlen, ist es wichtig, in den Frühphasen Ihres neuen Übungsprogramms kein Intervalltraining einzulegen. (Nochmals: Es ist wichtiger, irgendetwas zu tun, als gar nichts zu tun.) Und lassen Sie sich nicht unterkriegen, wenn Sie sportliche Ak tivitäten nicht lieben – vielleicht sind Sie genetisch prädisponiert, sie nicht zu mögen. Im Jahr 2006 verglichen europäische Forscher das physische Aktivitätsniveau von 13.670 eineiigen Zwillingspaaren und 23.375 zweieiigen Zwillingspaaren; Letztere hatten jeweils nur zur Hälfte die gleichen Gene. Sie stellten fest, dass die Frage, ob die Zwillinge zu sportlichen Aktivitäten neigten, zu 62 Prozent durch 315 Kapitel 10: Das Übungsprogramm unterschiedliche Gene erklärt wurde. Bei anderen Forschungen wurde festgestellt, dass Genvariationen Einfluss darauf haben, ob man das Gefühl, sich körperlich zu betätigen, genießt, oder ob man an einem Aktiv itätsprogramm festhält, nachdem man damit begonnen hat, und selbst ob man eine erhebliche Verbesserung der Stimmung feststellt. Von den vielen Genen, die hier involviert sind, haben die Forscher sich auf eines konzentriert, das mit Do pamin, dem Belohnungs- und Motivations-Neurotransmitter, zu sammenhängt, sowie auf eines, das die Expression von BDNF kon trolliert. Personen mit dieser Dopamin-Variation können ein Be lohnungsdefizitsyndrom haben, das sie jenes Anflugs von Vergnü gen und Spaß beraubt, von dem sie denken, dass alle anderen in der Turnhalle oder im Fitnessstudio ihn haben. Wenn die BDNFSignalgebung abgeschaltet ist, kann es gut sein, dass sich die stim mungsverbessernden Mechanismen sportlicher Betätigung nur schleppend einstellen. Ich gebe Ihnen diese Informationen, nicht als Entschuldigung, sondern zur Erinnerung: Wir alle können unser Gehirn neu verdrahten, indem wir aktiv werden. Es ist sicher nicht so leicht, als wenn wir noch Kinder wären, aber es ist dennoch definitiv möglich. Sportliche Aktivitäten führen zu einer sofortigen Erhöhung des Dopamin-Spiegels. Wenn Sie an einem regelmäßigen Übungspro gramm festhalten, werden die Gehirnzellen in Ihrem Motivations zentrum neue Dopamin-Rezeptoren sprießen lassen, wodurch Sie völlig neuen Auftrieb erhalten. Damit bahnen Sie sich neue neuronale Wege oder reaktivieren vielleicht bereits vorhandene wieder, die durch Nichtnutzung eingerostet sind – und es dauert nur wenige Wochen, bis es zur Gewohnheit geworden ist und sich gefes tigt hat. Sich körperlich oder sportlich zu betätigen, kann ein sich selbst verstärkendes Verhalten sein, das Ihnen hilft, Ihre Gene auf Vordermann zu bringen. Ihre Gene sind in Wahrheit nur ein Teil einer sehr komplexen Gleichung, und Sie haben die Kontrolle über viele der anderen Variablen. Ähnlich gelagert ist die Geschichte mit dem neurotrophen Fak tor BDNF: Mag sein, dass Sie etwas länger brauchen, bis Sie es geschafft haben, ein Übungsprogramm zur Routine zu machen und sich gut dabei zu fühlen, aber sobald Sie es erreicht haben, wird ihr 316 Bauen Sie Ihr Gehirn auf Gehirn zunehmend effizienter den „Wunderdünger“ produzieren. Carl Cotman, der Neurowissenschaftler, der an der University of California das Institute for Brain Aging and Dementia in Irvine leitet, entdeckte, dass der Hippocampus ein, wie er es nannte, „molekulares Gedächtnis“ für die Produktion von BDNF hat. Im Rahmen eines dreimonatigen Versuchs maß er bei verschiedenen sportlichen Aktivitätsprogrammen den BDNF-Spiegel von Laborratten. Dabei verglich er den Effekt, den Laufen auf dem Laufrad sowohl täglich als auch jeden zweiten Tag hatte, und untersuchte an, welche Auswirkungen es hatte, wenn dieses Laufen mehrere Wochen ausfiel. Den Anstoß zu der Studie gab ihm seine durchaus treffende Beobachtung, dass bei den meisten Laborexperimenten zwar tägliche körperliche Aktivitäten genutzt werden, „bei Menschen diese Aktivitätsmuster im Allgemeinen jedoch weniger rigoros sind und nur selten konsequent auf einer täglichen Basis genutzt werden“. Er kam zu einer Reihe aufschlussreicher Ergebnisse. Zunächst einmal stellte er fest, dass tägliche Aktivitäten den BDNF-Spiegel schneller erhöhen, als wenn diese nur jeden zweiten Tag erfolgen – und zwar nach einem Zeitraum von zwei Wochen mit einer Er höhung von 150 Prozent im Vergleich zu 124 Prozent. Seltsamer weise hatten diejenigen, die sich nur jeden zweiten Tag sportlich betätigten, nach einem Monat jedoch aufgeholt und einen Gleichstand mit der täglich aktiven Gruppe erzielt. Nachdem die Ratten die Aktivitäten eingestellt hatten, dauerte es, unabhängig vom vorherigen Aktivitätsrhythmus, nur zwei Wochen, bis der BDNF-Spiegel wieder auf das Ausgangsniveau zurückgekehrt war. Das interessanteste Ergebnis war jedoch, dass der BDNF-Spiegel nur innerhalb von zwei Tagen wieder in die Höhe schnellte, als man den zuvor aktiven Tieren erneut Zugang zu ihren Laufrädern gab (137 Prozent über Normalniveau bei den täglich Aktiven und 129 Prozent bei der Gruppe, die jeden zweiten Tag aktiv war). Das ist es, was Cotman mit dem molekularen Gedächtnis meint, und das heißt für Sie: Wenn Sie die Erfahrung gemacht haben, sich regelmäßig körperlich oder sportlich zu betätigen, kann Ihr Hippocampus sehr schnell wieder zu seinem alten Tempo zurückfinden. Cotman zog das Fazit, dass tägliche Aktivitäten zwar am besten sind, aber selbst periodische Aktivitäten Wunder wirken. Ich glaube, 317 Kapitel 10: Das Übungsprogramm es ist für viele wichtig zu erkennen, dass körperliche Bewegung keine Frage von „alles oder nichts“ ist. Wenn Sie ein paar Tage oder eine Woche oder zwei versäumen, denken Sie einfach daran, dass Ihr Hippocampus wieder seinen hohen BDNF-Spiegel erreicht, und zwar bereits wieder am zweiten Tag, an dem Sie sich wieder sportlich betätigen. Gemeinsam sind wir stark Einer der besten Wege, um erfolgreich zu sein, ist sich einer Gruppe anzuschließen. Der Stimulus der sozialen Interaktion lässt Ihre Neuronen feuern wie nichts Vergleichbares – der Umgang mit anderen ist kompliziert, voller Herausforderungen, voller Belohnungen und vergnüglich. Und wenn Sie diese Art der mentalen Aktivität mit den „zündenden“ Effekten körperlicher Bewegung kombinieren, maximieren Sie das Wachstumspotenzial Ihres Gehirns. Körper liche Bewegung aktiviert die Bausteine des Lernens, und die soziale Interaktion zementiert sie an der richtigen Stelle. Elizabeth Gould, Neurowissenschaftlerin an der Princeton Uni versity, eine Pionierin auf dem Gebiet der Neurogenese, deren For schungen sich darauf konzentrieren, wie Erfahrungen und Umwelt das Gehirn verändern, hat die unterschiedlichen Effekte körperlicher Bewegung bei Tieren untersucht, die allein leben, und diese mit jenen verglichen, die in einer Gruppe leben. Sie hat festgestellt, dass soziale Interaktion einen starken Einfluss auf die Neurogenese hat. Im Rahmen eines Experimentes zeigte sich bei Nagetieren, nachdem diese zwölf Tage gelaufen waren, dass bei denjenigen, die in sozialen Gruppen untergebracht waren, eine erhebliche Erhöhung der Neurogenese im Vergleich zu jenen festzustellen war, die sich zwar genauso viel körperlich betätigt hatten, aber isoliert gehalten wurden. Bei den isolierten Läufern war die Zellvermehrung auf dem gleichen niedrigen Niveau wie bei den in Gruppen untergebrachten Kontrolltieren, die sich nicht körperlich bewegten. Der Grund hierfür hat mit dem Stresshormon Cortisol zu tun. Bei ihrer Studie, die 2006 in Nature Neuroscience veröffentlicht wurde, stellte 318 Bauen Sie Ihr Gehirn auf Gould fest, dass alle Läufer zwar einen erhöhten Cortisol-Spiegel hatten, während sie ihren Aktivitäten nachgingen, bei der isolierten Gruppe dieser jedoch auch zu anderen Tageszeiten hoch war. Mit anderen Worten, unter den isolierten Bedingungen hat das Cortisol den Wettbewerb gegenüber der Neurogenese gewonnen, während „die Reaktivität“ der HPA-Achse durch soziale Unterstützung jedoch „gedämpft“ und das Stresshormon daran gehindert wurde, das Wachstum zu beeinträchtigen. Bedeutet dies, dass es schlecht ist, wenn Sie alleine laufen? Überhaupt nicht. Halten Sie sich stets vor Augen, dass körperliche oder sportliche Aktivitäten als solche ein Stressfaktor sind, der die HPA-Achse aktiviert und den Cortisol-Spiegel erhöhen kann. Das Gleiche gilt für die Isolation. Offenbar hat der kumulative Stress, der durch das Laufen und das Alleinsein hervorgerufen wurde, den Cortisol-Spiegel so weit erhöht, dass dieser die Neurogenese verhinderte – vielleicht auch, weil die Ratten keine ausreichende Erholungsphase hatten. Was das Ganze noch verschlimmerte, war, dass die Ratten vorher inaktiv gewesen waren, da der sprunghafte Wechsel von Inaktivität zum Laufen von mehreren Kilometern pro Tag eine erhebliche neue Belastung für das System darstellt. Als Gould das Experiment über die anfänglichen zwölf Tage hinaus ausdehnte, stellte sich die Geschichte jedoch ganz anders dar. Sie stellte fest, dass das System der isolierten Läufer langfristig aufholte, wenn die Ratten weiterhin unter den gleichen Bedingungen gehalten wurden. Irgendwann nach 24 bis 48 Tagen Laufen pendelte sich die Neurogenese zwischen der isolierten und der sozialen Gruppe auf dem gleichen Niveau ein. Gould spekuliert, dass es vielleicht mit Serotonin zu tun haben könnte, da der Serotonin-Spiegel durch soziale Interaktion erhöht wird und wiederum die Neurogenese fördert. Sowohl Isolation als auch Cortisol-Ausschüttungen über längere Zeit ausgesetzt zu sein, führt dazu, dass sich die Anzahl der Serotonin-Rezeptoren im Hippocampus reduziert. Vielleicht ist es so, dass durch das Laufen der Serotonin-Spiegel zwar erhöht wird, dieser jedoch ohne genügend Rezeptoren, über die das Serotonin sich an die Neuronen bindet, seine Aufgabe nicht erfüllen kann. Gould versucht, extrem komplexe Beziehungen zwischen Stress, Umwelt und körperlicher Bewegung zu klären, und es gibt einige 319 Kapitel 10: Das Übungsprogramm wichtige Punkte, die ihrer Studie zu entnehmen sind: Erstens ist es wichtig, langsam zu beginnen, wenn Sie sich vorher nicht bereits sportlich betätigt haben und sehr viel Stress in Ihrem Leben haben. Zweitens hat soziale Unterstützung einen starken Effekt auf das Gehirn und kann sowohl die negativen Auswirkungen von Stress verhindern als auch dafür sorgen, dass der Weg dafür geebnet wird, dass körperliche Bewegung die Maschinerie des Wachstums in Gang setzen kann. Bleiben Sie also mit anderen verbunden, um Ihre Verbindungen (im Gehirn) aufrechtzuerhalten. Drittens, wenn Sie an Ihrem Übungsprogramm festhalten, wird Ihr System sich entsprechend anpassen, um den Nutzen aus der Aktivität zu ziehen. Natürlich kann man nur bedingt Schlussfolgerungen aus Tier studien ziehen, betont Gould. „Nagetiere unterscheiden sich schon sehr vom Menschen“, sagt sie. „Wenn man einer Ratte oder einer Maus Zugang zu einem Laufrad gibt, wird jede, aber auch wirklich jede von ihnen laufen. Das ist beim Menschen ganz anders. Sehr viele von ihnen kaufen sich einen Heimtrainer oder andere Geräte, die dann letztlich nur als Kleiderständer dienen.“ Es stimmt zwar, dass wir zum Laufen geboren sind, wir sind aber auch darauf programmiert, die Vorzüge von Perioden zu nutzen, in denen wir zur Genüge mit allem versorgt sind, und unsere Energie für die langen Phasen zu konservieren, in denen wir wieder Nahrung suchen und auf die Jagd gehen müssen. Der Instinkt, sich auf die Couch fallen zu lassen, ist keineswegs erst in den letzten 100 Jahren in unserer DNS zum Vorschein gekommen; es ist nur so, dass unsere moderne Umwelt so gar nicht mit unseren Genen vereinbar ist. Essbares ist nie wirklich außer Reichweite – nach Nahrung zu suchen, bedeutet allenfalls, zehn Schritte bis zum Kühlschrank, nicht zehn Kilometer quer durch die Savanne –, deshalb ist es wichtig, die ursprünglich dafür notwendige Mühe durch die Anforderungen zu ersetzen, die aerobe Übungen an unseren Körper stellen. Werden Sie jedoch nicht zur Laborratte. Heben Sie sich das Laufen auf einem Laufband für Regentage oder für Zeiten auf, an denen Sie es nicht einrichten können, mit anderen lebendigen, atmenden menschlichen Wesen etwas gemeinsam zu tun. Sich einem Team anzuschließen oder sich das Ziel zu setzen, einen Zehn-KilometerBenefizlauf mitzumachen, und mit einer Gruppe von Freunden zu 320 Bauen Sie Ihr Gehirn auf trainieren, bringt ein zusätzliches Gefühl der Verpflichtung mit sich, dass ein starker Motivator sein kann. In Naperville lehrt Zientarski Kooperation statt Konkurrenz oder Wettbewerb, aber bei manchen Erwachsenen kann die Tatsache zu einem Team zu gehören, bewirken, dass sie richtig anbeißen und süchtig werden, egal, ob sie bei einem städtischen Basketballturnier, bei einem AltherrenFußballturnier oder einer Schwimmmeisterschaft antreten. Vielleicht erweist sich Gehen zusammen mit Ihrem Partner oder Ihrer Partnerin ja für Sie genau als das Richtige, oder vielleicht wollten Sie immer schon einmal Taekwondo lernen, oder vielleicht entde cken Sie, wie Jessie Wolfrum, die Absolventin der Central Highschool in Naperville, Ihre Leidenschaft für die unendliche Herausforderung des Bergsteigens (wozu ein Partner erforderlich ist). Als Schülerin an der Highschool hatte sie das Glück, aus 18 verschiedenen Aktivitäten wählen zu können. Sie haben demgegenüber das Glück, jede Aktivität wählen zu können, die Sie sich vorstellen können. Das Schöne an körperlicher Bewegung ist, je mehr Sie tun, um so mehr stellen Sie sich vor zu tun. Beweglich bleiben Natürlich ist es wichtig, Dehnübungen zu machen, um beweglich zu bleiben, aber genauso wichtig ist es, dafür zu sorgen, dass Ihr Geist beweglich bleibt. Das Problem bei jedem Übungsprogramm ist natürlich, dass es im Grunde unserer Natur zuwiderläuft. Die Welt um uns herum verändert sich ständig, und es ist schwer, immer wieder das Gleiche zu machen. Das würde ich auch nie von Ihnen verlangen. Die beste Strategie ist, fast jeden Tag irgendetwas zu tun, innerhalb dieses Rahmens jedoch flexibel zu bleiben, das heißt, den Rahmen so zu gestalten, dass er biegsam ist, aber nicht bricht. Wenn Sie Ihr Programm vielseitig gestalten und immer einmal wieder neue Aktivitäten ausprobieren, stellen Sie sich immerzu neue Herausforderungen und passen sich an. Meine eigene Erfahrung mit sportlichen Aktivitäten ist ein perfektes Beispiel dafür, was schief laufen und auch was gut gehen kann. 321 Kapitel 10: Das Übungsprogramm Ich wuchs im Westen Pennsylvanias auf, in einer Zeit, in der diese Gegend etliche Footballstars mit großen Namen wie Jow Namath, Mike Ditka und Tony Dorsett hervorbrachte. Ich spielte die großen Sportarten – Football, Basketball und Baseball –, ich war jedoch immer eher jemand, der sich redlich und hart abmühte, als ein echter Spielmacher zu sein. Meine sportliche Berufung fand sich schließlich auf dem Tennisplatz, wo ich ständig mit meinem besten Freund und Doppelpartner während der ganzen Highschool-Zeit spielte. Ich sollte sogar an der Colgate University spielen, brach mir jedoch einen Arm und ein Bein bei einem Autounfall, kurz bevor ich aufs College kam. Mein Arm musste zweimal operiert werden, sodass ich mehrere Jahre nicht spielen konnte. So habe ich es schließlich aufgegeben, bei Tennisturnieren anzutreten, und mindestens zehn Jahre lang auch ansonsten kaum Sport getrieben. Erst während meiner Assistenzarztzeit wurde ich wieder aktiv. Es war die Zeit, in der allgemein nach dem Erfolg von Bill Rogers und der Beliebtheit des Boston-Marathons das Lauffieber ausgebrochen war. Das Laufen weckte auch in mir wieder den Spaß daran, Tennis zu spielen, und dann fing ich irgendwann an, mit einer Reihe von Kollegen Squash zu spielen, darunter auch mein guter Freund und langjähriger Kollege Ned Hallowell. Fast 25 Jahre lang spielten wir dreimal in der Woche, konkurrierten miteinander, ermunterten und ermutigten einander. Wir waren beruflich alle sehr eingespannt und hatten wahnsinnig viel zu tun, aber unsere Squashtermine waren sakrosankt. Sie hatten etwas Magisches. Etwa vor sieben Jahren zog ich mir am rechten Arm eine irreparable Rotatorenmanschettenruptur zu, sodass ich keinen Schläger mehr schwingen kann. Zur Rehabilitation fing ich an, Gewichte zu heben, und dies war das erste Mal, dass ich konsequent in ein Fit nessstudio ging. Ich ging jeweils drei oder vier Mal wöchentlich dorthin, verbrachte ungefähr 40 Minuten auf dem Stepper oder dem elliptischen Kreuztrainer und hob weiterhin an zwei Tagen in der Woche Gewichte. Dann legte ich einen Tick zu und reservierte mir in meinem Terminkalender eine Stunde pro Tag, mir fehlte jedoch die Kameradschaft des Squashspiels. Ned ließ jedoch nicht locker und überredete mich, mich bei seinem persönlichen Trainer, Simon Zaltzman, anzumelden. Er ist ein Unikum: ein 322 Bauen Sie Ihr Gehirn auf ehemaliger Boxtrainer mit einem starken russischen Akzent und einer scheinbar unerschöpflichen Vorstellungskraft, um mich mit Herausforderungen zu konfrontieren. Ich machte es mir zur Gewohnheit, zweimal in der Woche Ge wichte zu heben sowie Sit-ups und Gleichgewichtsübungen zu absolvieren, und gehe sogar dreimal wöchentlich ins Studio, wenn ich sehr fokussiert war; an den anderen Tagen absolvierte ich 40 Minuten auf dem elliptischen Kreuztrainer oder auf dem Laufband, wenn ich zusätzlich ein paar Intervalle einlegen wollte. Bei meinen Recherchen für dieses Buch erfuhr ich von der wundersamen Wirkung des menschlichen Wachstumshormons (HGH) und wie ich mithilfe von Sprints vielleicht dorthin kommen konnte, wo ich wirklich hinwollte. An zwei Tagen in der Woche begann ich, wenn ich auf dem Laufband war, eine Handvoll Sprints einzulegen, und ich kann Ihnen sagen, sie tun weh. Selbst beim Schreiben darüber zieht sich in mir etwas zusammen, aber die zusätzliche Mühe hat sich durchaus gelohnt. Nachdem ich dies einen Monat praktiziert hatte, war ich die letzten zehn Pfund los, die ich seit Jahren schon hatte abnehmen wollen – sie schälten sich regelrecht von meiner Bauchpartie ab. Nicht, dass ich übergewichtig gewesen wäre. Aber es war einfach so, dass nichts, was ich bis dahin ausprobiert hatte, meinem „Ersatzreifen“ etwas anhaben zu können schien. Inzwischen halte ich es so, dass ich an zwei meiner aeroben Tage (und nicht mehr als an zweien) 20 Minuten jogge und zwischendurch fünf Sprints von jeweils 20 oder 30 Sekunden einlege, bei denen ich jeweils so schnell laufe, wie ich kann. Wenn andere wissen möchten, was sie tun sollen, wenn sie nur wenig Zeit haben, dann erzähle ich ihnen diese Geschichte. Obwohl ich fast 60 bin, fühle ich mich wesentlich jünger, und wenn ich Arthur Kramer dazu bewegen könnte, mein Gehirn zu scannen, bin ich sicher, dass es auch jünger aussehen würde. Ich tue alles, was ich kann, um dafür zu sorgen, dass mein präfrontaler Cortex und all das, was mit ihm verbunden ist, auf Vordermann bleibt. Natürlich fallen auch bei mir manchmal Tage aus, ich bemühe mich jedoch, dass es nicht zwei hintereinander sind. Wenn ich es einfach nicht schaffe, ins Fitnessstudio zu gehen, dann gehen meine Frau und ich mit den Hunden los, um einen schnellen Marsch von 323 Kapitel 10: Das Übungsprogramm 30 Minuten anstelle eines Spaziergangs von zehn Minuten zu machen. Für unsere lebhaften und unermüdlichen Jack-Russel-Terrier Jack und Sam ist das, was für mich sozusagen eine Notlösung ist, jedenfalls ein Riesenspaß. Wenn sie nur wüssten. 324 Nachwort Das Feuer entfachen I ch bleibe hoffnungsvoll, was die Zukunft unseres Landes und die unserer Kinder angeht, deshalb habe ich dieses Buch geschrieben. Der Funke beginnt natürlich bei ihnen, unseren Kindern, und ich habe erlebt, was geschieht, wenn er Feuer fängt, wie in Naperville. 19.000 Kinder, und nur drei Prozent von ihnen sind übergewichtig. Und sie sind auch entsprechend klüger. Trotz der Tatsache, dass wir Gefahr laufen, uns zu Tode zu essen und unser Gehirn damit umzubringen, gibt es doch Grund zu der Annahme, dass die Dinge angefangen haben, sich zu ändern. Körperliche Aktivitäten und sportliche Betätigungen finden wieder einen Platz im Leben der US-Amerikaner. 2007 setzte Charlie Crist, der neue Gouverneur von Florida, als erste Amtshandlung ein neues Gesetz durch, wonach Grundschüler mindestens 30 Minuten Sportunterricht täglich haben müssen. Er konnte Shaquille O’Neal gewinnen, in den USA als Rapper und Basketballspieler eine Legende, für dieses Pro gramm Werbung zu machen. Der Dekan der Schulen in Kansas City, Missouri, führte im ganzen Bezirk täglichen Sportunterricht ein, nachdem er gesehen hatte, wie dadurch an einer seiner Grund schulen in der Innenstadt Gewalt reduziert wurde und die Prüf ungs ergebnisse fast über Nacht verbessert wurden. In anderen Teilen des Landes führen die Gesetzgeber Anhörungen durch, um den Damm 325 Nachwort der Inaktivität zu brechen und den düsteren Statistiken die Stirn zu bieten. Selbst in der Medizin erleben wir inzwischen Ansätze, wonach körperliche Bewegung offiziell ernst genommen wird. In seiner Antrittsrede im Jahr 2007 drängte Ronald M. Davis, Präsident der American Medical Association, alle AMA-Mitglieder dazu, eine Broschüre mit dem Titel „Körperliche Bewegung ist Medizin“ zu lesen, damit sie wirklich jedem Patienten auch dabei helfen können, für sich ein Übungsprogramm zu erstellen. In der Psychiatrie ist das Gleiche zu beobachten. In der Ausgabe von Mai 2007 bot der psychiatrische Verband zum ersten Mal im Journal of Clinical Psychiatry einen fortlaufenden medizinischen Ausbildungskurs im Zusammenhang mit körperlichen Aktivitäten an: Bewegung bei Stimmungs- und Angststörungen. Die vom Verband angebotenen Kurse sind für die Ärzte ein wichtiger Treffpunkt, um sich über den neuesten Stand der medizinischen Wissenschaft auf dem Laufenden zu halten, das heißt, es dürfte reichlich Gesprächsstoff gegeben haben. Jeden Tag tauchen mehr Studien auf, die körperliche Bewegung als Intervention bei mentalen Gesundheitsproblemen untersuchen. Bei dem Personal, das bei betreuten Wohnprojekten und in Pflegeheimen eingesetzt wird, werden jetzt auch Sportphysiologen einbezogen, und in den Fitnessstudios gibt es nicht genügend persönliche Trainer, um den Bedarf zu decken. Wir beziehen unsere Informationen von der Neurowissenschaft und unsere Inspiration von all den Menschen, die bereits erlebt haben, was körperliche Bewegung für ihr Gehirn tun kann. Ich hoffe, dass alles, was ich in diesem Buch dargelegt habe, Sie ermuntert, statt der Fernbedienung Ihre Sporttasche in die Hand zu nehmen, oder Ihre Zeit auf dem Spielfeld zu verbringen statt an der Seitenlinie. Ihr Körper und Ihr Gehirn lechzen nach physischem Leben – von Ihren Genen bis hin zu Ihren Emotionen. Ihr Körper ist dazu da, sich zu bewegen. Wenn Sie es tun, werden Sie bald Feuer und Flamme sein. 326 Anhang: Danksagungen Danksagungen Ich bin vielen Personen dankbar, die mir geholfen haben, damit dieses Buch entstehen konnte. Phil Lawler und Paul Zientarski sowie ihr Mitarbeiterstab an den Schulen im Schulbezirk 203 von Naperville waren für mich eine ständige Quelle der Inspiration. Das von ihnen ins Leben gerufene fitnessorientierte Modell des Sportunterrichts ist der lebendige Beweis für die wachsenden Belege, wie körperliche Bewegung ein besseres Gehirn aufbaut. Ihre revolutionäre Gestaltung des Sportunterrichts hat die schulischen Leistungen und das Leben ihrer Schüler verbessert. Nicht minder wichtig ist, dass dadurch eine Atmosphäre geschaffen wurde, in der die Sportlehrer die Freiheit und den Wunsch haben, neue Ideen auszuprobieren, die einen positiven Effekt auf ihre Schützlinge haben können. Vom Geiste her und in der Praxis sind Lawler und Zientarski selbst Forscher – hartnäckig, mutig und neugierig. Besonders erwähnen möchte ich Neil Duncan und seine Schüler des Sportunterrichts der „Stunde Null“ sowie ihre Lehrerinnen für Lesen und Schreiben, Maxyne Kozil und Debbie St. Vincent. Sie haben für mich ein Fenster zu der in Naperville vorherrschenden Gesinnung geöffnet. Anne Flannery und ihre Mitarbeiter des PE4life-Programms waren für mich eine große Hilfe mit ihren Hinweisen auf andere Kom munen, in denen das Naperville-Modell Fuß gefasst hat. Titusville in Pennsylvania ist nur ein Beispiel, und Tim McCord hat sich stundenlang Zeit genommen, um mir von den Effekten des Programms dort zu erzählen. Herzlich danken möchte ich all den Neurowissenschaftlern und Experten, die wir interviewten, für die Großzügigkeit, mit der sie mir ihre Zeit und Hilfe zur Verfügung gestellt haben. Dazu gehören: James Blumenthal, Alyson Bond, Craig Broeder, Darla Castelli, Eero Castrén, Maureen Dezell, Rodney Dishman, Wayne Drevets, Andrea Dunn, Brian Duscha, Panteileimon Ekkekakis, Fred Gage, Sam Goldstein, Elizabeth Gould, William Greenough, Thom Hart mann, Charles Hillman, Marian Joels, Dean Karnazes, Arthur 327 Anhang: Danksagungen Kramer, Helen Mayberg, Bruce McEwen, Ina Mullis, Peter Provet, Robert Pyles, Amelia Russo-Neustadt, Terry Robinson, Jennifer Shaw, Tracey Shors, Scott Small, June Smedley, Dean Sholden, John Tavolacci, Gene-Jeck Wang, Jennifer Weuve und Martin Wojtowicz. Besonders dankbar bin ich Carl Cotman und Mark Mattson, deren Forschungen und Erkenntnisse uns die Augen geöffnet haben für die intrazellularen nutzbringenden Effekte körperlicher Bewegung. Ich kann nur hoffen, dass ich ihrer Leidenschaft für Entdeckungen nacheifere. Meine tiefe Dankbarkeit möchte ich den Patienten und Freunden zum Ausdruck bringen, die sich damit einverstanden erklärt haben, dass ich ihre Geschichten erzählen kann, und den vielen anderen, deren Erfahrungen in Kurzform in diesem Buch eingeflossen sind, um es lebendig zu machen. Meine Lektorin, Tracy Behar, und die Mitarbeiter beim Verlag Little, Brown and Company fanden dieses Buch so spannend, dass sie selbst ein sechsmonatiges Experiment durchführten, um herauszufinden, inwieweit eine Erhöhung ihres Maßes an körperlicher Bewegung sie beeinflussen und sich bei ihnen bemerkbar machen würde. Ihr unbändiges Interesse goss zusätzliches Öl ins Feuer, was dazu beitrug, das Manusk ript über die Ziellinie zu bringen. Brooke Stetson, meine Schaltstelle zu Tracy Behar, war mit ihrer Begeisterung eine Quelle der Ermutigung. Meine Agentin und unermüdliche Fürsprecherin Jill Kneerim ließ meine Vision Gestalt annehmen und half von Anfang an, das Buch zu strukturieren. Und Elisabeth Weed stellte die Verbindung zwischen Eric Hagerman und mir her. Mein Dank gilt auch all jenen, die Teile des Manuskriptes gelesen und mir ihr wertvolles Feedback gegeben haben, dazu gehören meine Schwester Veronica Crain, Dave Goodrich, Allen Ivey, Erics Mutter Judy Sinderson sowie sein Freund Stephen Milioti und viele andere. Jacob Sattelmair nahm sich wertvolle Zeit, die er eigentlich für seine Doktorarbeit benötigt hätte, um bei vielen Gelegenheiten über diese Wissenschaft mit mir zu diskutieren. Ich stehe auch in der Schuld von Ned Hallowell, zunächst mein Schüler, dann mein Lehrer, der vor vielen Jahren von mir verlangte, pro Woche eine Nische für Squash und Kameradschaft heiligzuhalten. Er war es 328 Anhang: Danksagungen auch, der mich Simon Zaltzman vorstellte, einem Meistertrainer, der es nie versäumt, mich mit einer „Tortur des Tages“ herauszufordern. Danke auch Ben Lopez für seine Freundschaft, seine Gedanken zu diesem Buch sowie seine Großzügigkeit, mir sein Haus am Meer zu überlassen, als ich einen Ort suchte, um anzufangen. Meine Assistentin Mary Haroun war mir eine unendlich wertvolle Hilfe und hat bei der Unzahl von Details, die mit dem Projekt verbunden waren, nie die Orientierung verloren. Sie bewältigte eine Vielzahl von Aufgaben, was mir die zusätzliche Zeit gab, die ich für dieses Buch benötigte. Das Wichtigste aber: Sie war eine Freundin, ein Fels in der Brandung und eine Kraftquelle, die mich bei jeder Kurve aufgemuntert und angefeuert hat. Ebenso hätte ich es ohne die Freundschaft, Unterstützung und technische Notfallhilfe von Marys Ehemann, Majdi Haroun, nicht geschafft. Bei Eric Hagerman hat sich erwiesen, dass er mehr als ein Mit arbeiter und Co-Autor ist. Er hat mein Gehirn, das so gerne auf Abwege gerät, gefordert und dafür gesorgt, dass es konzentriert bleibt, und mich genötigt, mich so auszudrücken, dass jeder verstehen kann, was ich zu sagen versuchte. Seine Fähigkeit, das Wesent liche auf den Punkt zu bringen und aus wissenschaftlichen Papieren, die sich auf zwei Gigabytes summieren, die wichtigsten Kernaussagen herauszuziehen, war unentbehrlich, um dieses Buch auf die Beine zu stellen. Wir haben so manchen Tag zusammen verbracht, um die Texte auszuarbeiten. Er schreibt vorzüglich und seine Leidenschaft war unverzichtbar. Ich weiß die Zeit zu schätzen, die er geopfert hat und nicht mit seiner geliebten Partnerin Christelle zusammen sein konnte. Mit das Härteste beim Schreiben dieses Buches war, über einen Zeitraum von zwei Jahren die Energie aufrechtzuerhalten, was ohne die Unterstützung, Ermutigung und Liebe meiner Familie, Freunde und Kollegen nicht denkbar gewesen wäre. Danke euch allen, dass ihr da wart, wenn ich euch brauchte. Besonders dankbar bin ich meinen wunderbaren Töchtern Jessica und Kathryn sowie meinem neuen Schwiegersohn Aaron Cohen für ihre Vorschläge zum Manuskript und ihre unerschütterliche Unterstützung. Und schließlich meiner Frau Nancy, die, während sie selbst in der Schlussphase der Arbeit an ihrem eigenen Buch war, irgendwie noch 329 Anhang: Danksagungen die Kraft und das Verständnis fand, mir die Zeit zu geben, meines so beenden. Sie war die ganze Zeit meine Vorkämpferin. 330 Anhang: Glossar Glossar Adrenalin: Adrenalin, auch Epinephrin genannt, ist sowohl ein Neurotransmitter im Gehirn als auch ein Hormon, das von den Ne bennieren freigesetzt wird. Bei der Stressreaktion wird Adrenalin sofort ausgeschüttet, um das Nervensystem dafür zu rüsten, auf Herausforderungen für das Überleben zu reagieren. Aerober Stoffwechsel: Dabei handelt es sich um die Langzeitform der Energieumwandlung, die durch die ausreichende Verfügbarkeit von Sauerstoff zur Verbrennung von Brennstoff bestimmt wird – zuerst Fett, dann Fett und gespeicherte Glukose –, um die aktiven Muskelzellen zu versorgen. Er findet bei wenig bis mäßig intensiven körperlichen Aktivitäten statt und kann über lange Zeiträume auf rechterhalten werden. Anaerober Stoffwechsel. Eine Form der Energieumwandlung, die durch einen Mangel an ausreichendem Sauerstoff bestimmt wird, um Fett und Glukose in brauchbaren Brennstoff für den Körper umzuwandeln. Wenn der Körper angetrieben wird, sich so schnell und so hart zu bewegen, dass der Bedarf der arbeitenden Muskeln an frischem Sauerstoff die jeweiligen Zufuhrmöglichkeiten über den Blutkreislauf übersteigt, beginnen die Muskeln, Brennstoff ineffi zient zu verbrennen. Anandamid: Ein Neurotransmitter im Körper und im Gehirn, der sich an Cannabinoid-Rezeptoren, Tetrahydrocannabinol (THC), den aktiven Wirkstoff in Marihuana, anbindet und diese Rezeptoren auch aktiviert. Sind die Cannabinoid-Rezeptoren aktiviert, helfen sie dem Körper und dem Gehirn, mit Schmerzen, Stimmungen und Freude umzugehen. Atriales natriuretrisches Peptid (ANP): Ein natürlich vorkommen des Hormon, das im Herzen und im Gehirn produziert wird. Erhöht sich die Herzfrequenz, steigt die ANP-Produktion, und ANP wird in den Blutkreislauf ausgeschüttet. Es passiert die Blut-Hirn-Schranke, 331 Anhang: Glossar um den Aktivitäten bestimmter Elemente der Stressreaktion entgegenzuwirken. ANP dämpft Stress und Ängste und hilft, Stimmungen zu regulieren. Siehe auch → Blut-Hirn-Schranke Blut-Hirn-Schranke: Dabei handelt es sich um ein Netz von Kapil laren mit dicht beieinanderliegenden Zellen, das verhindert, dass einige Nährstoffe und Substanzen ohne Weiteres vom Blut ins Gehirn transportiert werden. Die Blut-Hirn-Schranke filtert Giftstoffe und Infektionen aus. Cortex: Dabei handelt es sich um die dünne äußere Schicht der grauen Substanz des Gehirns, gerade einmal sechs Zellen dick. Als letzter Teil des menschlichen Gehirns, der sich im Zuge der Evolution entwickelte, ist er Sitz der schnellen Informationsverarbeitung und steuert den Rest des Gehirns. Im ganzen Gehirn strecken Neuronen ihre Axone so aus, dass sie mit dem Cortex verbunden sind, sodass unser Gehirn über ein breites Spektrum mentaler Aktiv itäten informiert wird. Cortisol: Das Hauptstresshormon mit Langzeitwirkung, das Brenn stoff mobilisiert, die Aufmerksamkeit und das Gedächtnis akti viert sowie dem Körper und dem Gehirn hilft, sich für den Kampf zu rüsten, wenn das Gleichgewicht in Frage gestellt wird. Cortisol überwacht die Vorratshaltung von Brennstoff, in Form von Fett, für künftige Belastungen. Seine Aktivitäten sind für unser Überleben von entscheidender Bedeutung. In hohen oder unkontrollierten Konzentrationen hat Cortisol jedoch einen toxischen Effekt auf die Neuronen, zersetzt die Verbindungen zwischen ihnen und baut Muskeln und Nervenzellen ab, um eine sofortige Brennstoffquelle verfügbar zu haben. Dopamin: Ein Neurotransmitter, der eine entscheidende Rolle bei der Bewegung, Aufmerksamkeit, Kognition, Motivation und Freude sowie bei Abhängigkeiten (Sucht) spielt. Endocannabinoide: Eine Klasse von Hormonen, die als hirneige nes Marihuana bekannt sind. Sie sind insofern mit Endorphinen 332 Anhang: Glossar verg leichbar, als dass sie Schmerz dämpfen, werden allerdings we sentlich schneller als Tetrahydrocannabinol (THC) durch den Stoff wechsel abgebaut und haben somit einen relativ flüchtigen Effekt. Endorphine: Hormone, die in Körper und Gehirn produziert werden und als natürliches Morphium dienen. Sie werden freigesetzt, wenn Körper und Gehirn strapaziert werden, um Schmerzsignale zu blockieren, damit wir körperlich unangenehme Situationen durchstehen können. Sie haben Einfluss auf viele physiologische Funktionen wie Freude, Befriedigung und Glückseligkeit. Fibroblasten-Wachstumsfaktor-2 (FGF-2): Ein Protein, das in Körper und Gehirn produziert und ausgeschüttet wird, wenn Ge webe Belastungen ausgesetzt wird. Genau wie der vaskuläre endo theliale Wachstumsfaktor (VEGF) hilft VGF-2, mehr Blutgefäße und andere Gewebe entstehen zu lassen. FGF-2 ist an der Auslö sung des Prozesses der Stammzellteilung beteiligt, der für die Neu rogenese notwendig ist, und es fördert auch die Langzeit-Poten zierung (LTP) sowie die Bildung von Erinnerungen. Siehe auch → Langzeit-Potenzierung, → Neurogenese, → vaskulärer endot he lialer Wachstumsfaktor Gamma-Aminobuttersäure (GABA): Dies ist der wichtigste hemmende Neurotransmitter des Gehirns. Er hemmt die Übera ktivität aller Nervenzellen, insbesondere jener im limbischen System, wo die Amygdala, das emotionale Zentrum, lokalisiert ist. Zielscheibe vieler angstlösender Medikamente sind die GABA-Rezeptoren. GABA spielt bei Ängsten, Aggressionen, Stimmungen und der Kontrolle von Anfällen eine Rolle. Glutamat: Dies ist der wichtigste erregende Neurotransmitter des Gehirns. Er ist von entscheidender Bedeutung für die Anbindung von Zellen und somit für die Neuroplastizität. Hippocampus: Der Hippocampus dient sozusagen als Streckensta tion für viele Aspekte des Lernens und des Gedächtnisses. Er sam melt ankommende Reize aus dem ganzen Gehirn, gleicht die neuen 333 Anhang: Glossar Informationen mit bereits gespeicherten Informationen ab und bündelt sie zusammen als eine Erinnerung, die dann zur weiteren Ver arbeitung an den präfrontalen Cortex gesendet wird. In den letzten Jahren ist nachgewiesen worden, dass er eine entscheidende Kom ponente in der Biologie von Stress und Stimmungen ist, da er eine Vielzahl von Cortisol-Rezeptoren enthält und die erste Station bei der Regulierung der Feedback-Schleife in der Kampf-oder-Flucht-Reaktion ist. Durch seine enge Beziehung zu Cortisol ist der Hippocampus besonders verwundbar, wenn es um die verheerenden Auswirkungen von Stress und des Alterungsprozesses geht. Andererseits ist er eine der nur zwei Strukturen im Gehirn, die nachweislich ihre eigenen Nervenzellen produzieren. Siehe auch → Neurogenese Hirnanhangsdrüse (Hypophyse): Eine erbsengroße endokrine Drüse, die unmittelbar unterhalb des Hypothalamus lokalisiert ist. Sie schüttet Hormone und Faktoren aus, die im ganzen Körper andere Hormone kontrollieren. Siehe auch → Hypothalamus HPA-Achse: Die HPA-Achse ist eine Signalroute vom Hypothalamus über die Hirnanhangdrüse zur Nebenniere, die die Stressreaktion kontrolliert. Sie ist wichtig für solch lebenswichtige Funktionen wie Brennstoffregulierung und Immunsystem. Siehe auch → Ne bennieren, → Hypothalamus, → Hirnanhangsdrüse (Hypophyse) Hypothalamus: Eine kleine Drüse, die oberhalb der Hirnanhangs drüse lokalisiert ist und Hormone produziert und ausschüttet, um der Hirnanhangsdrüse zu signalisieren, dass Hormone und andere Faktoren freigesetzt werden müssen. Der Hypothalamus ist eine Schaltstation, die Anweisungen vom Gehirn übersetzt, die durch neurochemische Signale übertragen werden; diese Anweisungen werden in hormonelle Signale übersetzt, die über das Blut transportiert werden und biologische Bedürfnisse wie Sex, Hunger, Schlaf und Aggression steuern. Siehe auch → Hirnanhangsdrüse Insulinähnlicher Wachstumsfaktor (IGF-1): Ein Hormon, das hauptsächlich in der Leber produziert wird und eng mit dem mensch lichen Wachstumshormon (HGH) und Insulin zusammenarbeitet, 334 Anhang: Glossar um Zellwachstum zu stimulieren und dem natürlichen Verfall der Zellen entgegenzuwirken. Kleinhirn (Zerebellum): Ein kleiner Teil des Gehirns, voller dicht beieinanderliegender Zellen, der die Hälfte aller im Gehirn vor kommenden Nervenzellen enthält und in die Integration der sensorischen und automatischen motorischen Funktionen involviert ist. Das Kleinhirn ist ständig damit beschäftigt, die eingehenden und ausgehenden Informationen zu aktualisieren und zu verarbeiten. In den letzten 20 Jahren haben Wissenschaftler erkannt, dass das Kleinhirn bei der Aufrechterhaltung des Rhythmus und der Kontinuität vieler Hirnfunktionen eine Rolle spielt, etwa bei Emotionen, dem Erinnerungsvermögen, der Sprache und bei sozialen Interaktionen, und es uns ermöglicht, geradeaus, das heißt, in einer geraden Linie, zu gehen. Ich bezeichne es gerne als das Rhythm & Blues-Zentrum. Langzeit-Potenzierung (LTP): Hierbei handelt es sich um den zel lularen Mechanismus für Lernen und Erinnerungsvermögen, der eine Stärkung der Fähigkeit der Gehirnzellen oder ihres Potenzials erforderlich macht, um ein Signal über den synaptischen Spalt zu übermitteln. Die Langzeit-Potenzierung ist für den Prozess der Zellanbindung und somit für die Kommunikation von entscheidender Bedeutung. Maximale Herzfrequenz: Die physiologische Grenze, wie viele Male das Herz einer Person in einer Minute schlagen kann. Diese Zahl ist hilfreich, um die Intensität körperlicher Anstrengungen korrekt einzuschätzen und zu berechnen. Sie kann im Physiologie-Labor durch Anstrengung bis zur Erschöpfung ermittelt werden. Üblicher für Freizeitsportler ist jedoch, ein theoretisches Max imum zu Hilfe zu nehmen, das durch Subtrahieren ihres Alters von der Zahl 220 ermittelt wird. Menschliches Wachstumshormon (Human Growth Hormone, HGH): Ein Hormon, das als der Meister aller Hormone bekannt ist. Es ist von entscheidender Bedeutung für das Wachstum und 335 Anhang: Glossar die Entwicklung aller Zellen in Gehirn und Körper bis ins Er wachsenenalter und ist eng in den Aufbau des Körpers involv iert. Es kontrolliert die Brennstoffzuteilung und wirkt dem natürlichen Schrumpfen der Zellen beim Alterungsprozess entgegen. Mitochondrien: Dies sind winzige Strukturen in jedem Zellkern, die sozusagen als Kraftwerk der Zelle dienen und Sauerstoff nutzen, um Glukose im Rahmen des aeroben Stoffwechsels in einen brauchbaren Brennstoff umzuwandeln. Sofern der Sauerstoffspiegel nicht ausreicht, wird die Brennstoffumwandlung außerhalb der Mitochondrien in den Bereich des anaeroben Stoffwechsels verlagert. Der anaerobe Stoffwechsel ist ein weitaus weniger effizienter Prozess als der aerobe Stoffwechsel. Siehe auch → aerober Stoffwechsel, → anaerober Stoffwechsel Nebennieren: Dabei handelt es sich um kleine Organe, die un mittelbar vor den Nieren lokalisiert sind. Ein Teil der Nebennie ren produziert und schüttet Adrenalin (Epinephrin) aus, um eine Stressreaktion auszulösen; ein anderer Teil produziert und schüttet Cortisol sowie cortisolähnliche Hormone aus, wenn durch Signale entsprechende Anweisungen von der HPA-Achse kommen, dass die Stressreaktion unterstützt werden soll. Siehe auch → HPA-Achse Neurogenese: Der Prozess der Stammzellteilung und der Weiterent wicklung der Stammzellen zu funktionalen neuen Gehirnzellen oder Neuronen im Gehirn wird als Neurogenese bezeichnet. Dass dieser Prozess bei erwachsenen Menschen stattfindet, wurde stichhaltig 1998 nachgewiesen. Es wird davon ausgegangen, dass er auf einen Teil des Hippocampus und eine andere Hirnregion, die sogenannte subventrikulare Zone, beschränkt ist, die mit dem Geruchssinn assoziiert wird. Siehe auch → Stammzellen Neurotropher Faktor BDNF (Brain-Derived Neurotrophic Factor): Ein Protein, das in den Nervenzellen produziert wird, wenn sie aktiv sind. BDNF dient als „Wunderdünger“ fürs Gehirn, der die Hirnzellen „düngt“, damit sie funktionieren und wachsen. BDNF kurbelt auch das Wachstum neuer Neuronen an. 336 Anhang: Glossar Noradrenalin (Norepinephrin): Ein Neurotransmitter, der Erregung, Wachsamkeit, Aufmerksamkeit und Stimmung beeinflusst. Nor adrenalin-Signale aktivieren das sympathische Nervensystem und schärfen die Sinne. Siehe auch → sympathisches Nervensystem Präfrontaler Cortex: Die Region des Cortex, die im vorderen Ab schnitt des Stirnhirns lokalisiert ist. Als letzter Teil der grauen Substanz, der sich im Zuge der Evolution entwickelte, kontrolliert der präfrontale Cortex die Eigenschaften und Qualitäten, die uns am meisten als Menschen auszeichnen. Er ist der „Generaldirektor“ der meisten Hirnfunktionen, wozu unter anderem Funktionen wie Planen, Festlegen eines Ablaufs oder einer Reihenfolge, Üben und Proben, Bewerten und Verstehen gehören, ohne jedoch darauf beschränkt zu sein. Im präfrontalen Cortex hat auch das Kurzzeitgedächtnis seinen Sitz, der RAM-Speicher des Gehirns, der für Entscheidungsfindungen von entscheidender Bedeutung ist. Siehe auch → Cortex Serotonin: Ein Neurotransmitter, der für Stimmung, Ängstlichkeit, Impulsivität, Lernvermögen und Selbstwertgefühl von entschei dender Bedeutung ist. Serotonin, das oft als „Polizist“ des Gehirns bezeichnet wird, hilft bei einer Vielzahl von Hirnsystemen, eine überaktive oder außer Kontrolle geratene Reaktion zu unterdrücken. Stammzellen: Als Stammzellen werden undifferenzierte Zellen be zeichnet, die sich zu voll funktionierenden neuen Zellen entw ickeln können. Im erwachsenen menschlichen Gehirn sind sie in einem Teil des Hippocampus, dem sogenannten Gyrus dentatus, und in einer anderen Region, der sogenannten subventrikularen Zone, lokalisiert. Die Teilung und Entwicklung von Stammzellen zu neuen Neuronen wird durch den Fibroblasten-Wachstumsfaktor (FGF-2) und den vaskulären endothelialen Wachstumsfaktor (VEGF) gefördert. Siehe auch → Fibroblasten-Wachstumsfaktor, → Hippocampus, → vaskulärer endothelialer Wachstumsfaktor Sympathisches Nervensystem: Dabei handelt es sich um ein weit reichendes Netzwerk von Nervenzellen, die das Gehirn mit dem 337 Anhang: Glossar Körper verbinden und durch Noradrenalin aktiviert werden. Es ist ein Bestandteil des stets eingeschalteten autonomen Nervensystems, seine Aktivität wird bei der Stressreaktion jedoch drastisch erhöht. Synapse: Dies ist die Verbindungsstelle zwischen Axon und Dendrit zweier nebeneinanderliegender Neuronen. Im Axon werden elek trische Impulse in chemische Botschafter übersetzt – Neurotrans mitter –, um Anweisungen über den synaptischen Spalt zu trans portieren. Am Dendrit wird das Signal des Neurotransmitters wieder in einen chemischen Impuls zurückverwandelt, der das empfangende Neuron veranlasst, eine Aufgabe auszuführen. Vaskulärer endothelialer Wachstumsfaktor (VEGF): Dies ist ein wichtiges Signal gebendes Protein, das im Körper produziert und freigesetzt wird, wenn Gewebe stark belastet wird und der Blutkreislauf nicht ausreicht, um den Bedarf zu decken. Genau wie der Fibroblasten-Wachstumfaktor (FGF-2) wirkt VEGF wie ein Mitogen und signalisiert anderen Zellen, mit der Teilung zu beginnen, um mehr Blutgefäße entstehen zu lassen. Unlängst haben Wissenschaftler entdeckt, dass VEGF auch im Gehirn produziert wird und bei der Verankerung von Erinnerungen eine Rolle spielt. Siehe auch → Fibroblasten-Wachstumsfaktor VO2 max: Dies bezeichnet den maximalen Sauerstoffverbrauch und ist somit ein Maßstab für die Kapazität der Lungen, Sauerstoff zu verarbeiten; es wird auch als aerobe Kapazität bezeichnet. Der maximale Sauerstoffverbrauch ist der Hauptindikator für kardiovaskuläre Fitness. 338 Anhang: Stichwortverzeichnis Stichwortverzeichnis A Abhängigkeit (Sucht) 151, 201, 205 ff. Adderall (Amphetamin/ Dextroamphetamin) 185, 198, 201 Adenosintriphosphat (ATP) 92 f., 99 ADHS → Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hypera ktiv itätsstörung Adrenalin (Epinephrin) 82 ff., 123, 130, 307, 331 Agoraphobie 126, 131 Alameda Country Study 147 Alkoholiker 213, 215 ff. Alprazolam (Xanax, Tafil) 115 Altern, Alterungsprozess 263 ff. - Demenz 278 - Ernährung 289 - Lernen 294 f. - Rückgang der kognitiven Fähigkeiten 272 - Wie wir altern 268 Alzheimer-Krankheit 65, 273, 278 ff. - Altern 268 ff. - Depression 158ff., 275 ff. 258 - Frauen - Gene 279 - Glukose-Spiegel 283 - Hormonersatz-Therapie 260 - Lernen 280 - Neurodegeneration 92 American College of Obstetricians and Gynecologists (ACOG) 241, 261 American College of Sports Medicine 31, 302 American Journal of Psychiatry 132, 251 American Journal of Sports Medicine 314 American Medical Association 268, 326 American Psychiatric Association (APA) 156 Amphetamin/Dextroamphetamin 185, 211 (Adderall) Amygdala 81 f. - Abhängigkeit 216, 222 - ADHS 184 f., 196 118 f., 130 f. - Angst - ANP 129 - Betablocker 123 - Depression 159 - Kampf-oder-Flucht-Reaktion 81 f. - Panikattacken 124 - Serotonin 134 - Stress 84, 86, 89, 95, 97 f. Amyloid-Plaques 279, 284 Anaerobe Übungen 303, 308 ff., 331 Anandamid 223 f., 331 Angst 11, 43, 109 ff., 228, 285 - Abhängigkeit 220 ff. - ADHS 190, 198 f. - ANP 308 - Behandlung von 123 - Depression 141 - Fitnessniveau 299 - Furcht 118 ff., 130 ff. - Hormonelle Veränderungen 198, 261 f. 137 f. - Kinder - Krafttraining 313 - Medikamente 110 f. - Menopause 257 - Rauchen 218 - Schwangerschaft 243 - Sensitivität 113 ff., 137 f. - Serotonin 51 110 ff., 118 f. - Störungen 78, 98 - Stress - Yoga 314 → auch: Generalisierte Angststörung, Panikstörung, Phobien, soziale Angststörung ANP → atriales natriuretrisches Peptid 331 165 Anteriores Cingulum 92 ff., 163, 290, 307 Antioxidanzien Apo-E4-Gen 280, 281, 295 Apoptose 269 Archives of General Psychiatry 163 Archives of Neurology 258 Arnsten, Amy 196 339 Anhang: Stichwortverzeichnis ATP → Adenosintriphosphat Atriales natriuretrisches Peptid (ANP) 101, 117, 129 ff., 308, 331f. Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperakti vitätsstör ung (ADHS) 38, 175 ff. - Abhängigkeit 210, 220 - Ablenkung 175 ff. - Aufmerksamkeitssystem 184 ff. - Dopamin 52 - Medikamente 184 ff. 291 - Omega-3 - Rauchen 218 - Schwangerschaft 242 - Stress 84, 216 - Unaufmerksamkeit 180 ff. B Basalganglien 57, 72, 74, 187, 195, 211, 214, 221, 279, 281 BDNF, neurotropher Faktor (BrainDerived Neurotrophic Factor) 53 ff., 336 - ADHS 196 270, 274 - Altern - Depression 316 118, 120 - Furcht - Intervalltraining 311 f. - Körperliche Bewegung 57 ff., 284, 305 ff. 258 - Menopause 161 - Neurogenese - Omega-3 291 237 - Östrogen 281 - Parkinson-Krankheit 246 f. - Schwangerschaft - Stress 100, 162 Belohnungsdefizitsyndrom 216, 220, 316 Belohnungszentrum, Belohnungssystem 151, 176, 184 f., 209, 215 f., 221 31 Benedictine University Benzodiazepin 136 Bergsteigen 35, 40, 73, 182, 321 123 f., 134 Betablocker 292 ff. Beweglichkeit 14, 172, 290 Bipolare Störung 251 Bloch, Miki 151 ff., 201, 239 Blumenthal, James 283 Blutdruck 257, 266 - Altern 124 - Betablocker - Bluthochdruck 241 33, 101, - Körperliche Bewegung 267, 283 256 - Menopause - Omega-3 291 242 - Schwangerschaft - Stress 82, 101, 103 34 - Übergewicht Body-Mass-Index (BMI) 31, 300 10 Body-Mind-Verbindung Boston University 313 British Journal of Health and Psychology 230 223 British Journal of Sports Medicine Broeder, Craig 31, 35 115 Broman-Fulks, Joshua Broocks, Andreas 125, 152 201 Bupropion (Wellbutrin) C Calcium 287 California Department of Education 32 California State University 195 „Call to Action, A: Overcoming Anxiety through Active Coping“ (Le Doux 132 u. Gorman) Case Western Reserve University 244 37 Castelli, Darla 53, 60 Castrén, Eero CCK-4 (Cholecystokinin Tetrapeptid)129 f. Centers for Disease Control (CDC) 266 Cholecystokinin Tetrapeptid → CCK-4 247 Christie, Brian 244 f. Clapp, James 125, 152 Clomipramin 198 Clonazepam (Klonopin) Cohen, Lee 257 54, 60, 67, 148, Columbia University 189, 243, 298 Conquering Depression and Anxiety 131 156 Cooper-Institut Cooper, Kenneth 104, 282 340 Anhang: Stichwortverzeichnis Cortex 159, 184 Corticotropin-freisetzender Faktor → CRF Cortisol 82, 85, 332 - Altern 275 - BDNF 161 f. - Cushing-Syndrom 97 - Depression 159 - Körperliche Bewegung 99, 285, 308, 319 - Schwangerschaft 129, 243 - soziale Interaktionen 319 - Stress 82, 86 ff., 95, 276 Cotman, Carl 258, 274, 280, 317 C-reaktive Proteine 286 CRF (Corticotropin-freisetzender Faktor 82, 129, 222 Crist, Charlie 325 Cross-Training 314 Cushing-Syndrom 97 Cybex Trazer 45 D D2R2-Allel 215 Dance-Dance-Revolution 30, 213 „Das menschliche Gehirn, eine Gebrauchsa nweisung“ (Ratey) 57 Davis, Ronald M. 326 DBS → Tiefe Gehirnstimulation DDAT → Dyslexie, Dyspraxie u. Aufmerk samkeitsdefizit (Dyslexia, Dyspraxia, and Attent ion Treatment) de Vries, Herbert 134 Degenerative Krankheiten 58, 65 Demenz 278 ff. - Altern 275 - Depression 142, 275 f. 285 - Gewicht 266, 285 - Hormonersatztherapie 255 258, 281 f. - Körperliche Bewegung - Lernen 280, 294 - Stress 285 Dendriten 51, 54, 338 - Abhängigkeit 211 - Altern 267, 272 - BDNF 54, 63, 163 - Depression 159 - Lernen 211 - Stress 87, 92, 95, 97, 159 Depression 11, 14, 77, 98, 128, 141 ff. - Abhängigkeit 222, 228 - ADHS 191, 196, 201 - Altern 275 - Angst 112, 137 f. - Behandlung von 123 - Hormonelle Veränderungen 261 88 - Lernen - Medikamente 14, 123, 141, 143, 152 - Menopause 254 ff. - Parkinson-Krankheit 279 - Schwangerschaft 243, 248 ff. - Serotonin 11, 52, 117, 121, 131, 134, 150 - Stress 77, 98 f., 195 f. - Wochenbettdepression 248 ff. DHA (Docosahexaensäure) 291 Diabetes 10, 97, 103, 241, 244, 255, 265 ff., 284 Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders 155, 180, 235 „Die Welt ist flach“ (Friedman) 22 Dietrich, Arne 223 Dishman, Rodney 195, 202 Docosahexaensäure → DHA Dopamin 51 f., 332 - Abhängigkeit 209 ff., 232 - ADHS 52, 176, 185, 187, 195 - Altern 276 - Belohnungszentrum 176, 185, 209, 215, 223 - Depression 144, 149 151 - Gene - Hormone 237 - Körperliche Bewegung 100, 151, 160 f., 195 - Lernen 52 188, 279 - Parkinson-Krankheit 84 - Stress Duke University 14, 151, 201, 239, 276, 302 Duman, Ronald 163 f. 17 ff. Duncan, Neil Dunn, Andrea 170 302 f. Duscha, Brian Dyslexie → Legasthenie Dyslexie, Dyspraxie u. Aufmerksamkeits defizit, DDAT (Dysexia, Dysraxia, and Attention Treatment) 188 f. 341 Anhang: Stichwortverzeichnis E Edinburgh Postnatal Depression Scale (EPDS) 252 EEG → Elektroenzephalogramm Effexor (Venlafaxin) 149 Eicosapentaensäure (EPA) 291 Ekkekakis, Panteleimon 309, 315 EKT → Elektrokonvulsive Therapie Elektroenzephalogramm (EEG) 37 Elektrokonvulsive Therapie (EKT) 164 Elliot, Frank 190 El-Mallak, Olfat 43 Emory University 165 „End of Stress as We Know It, The“ (McEwen) 82, 98 Endocannabinoide 223, 308, 311, 332 Endorphine 9, 83, 145 ff., 223 ff., 244, 308, 311, 333 EPA → Eicosapentaensäure Epinephrin → Adrenalin Eriksson, Peter 65 Erinnerung, Erinnerungsvermögen → Gedächtnis Ernährung 10, 94, 266, 289 Escitalopram (Lexapro) 150 Etnier, Jennifer 258 Exekutive Funktion 38, 71, 166 f., 176, 185, 259 „Exercising Through Your Pregnancy“ (Clapp) 244 Exzitotoxischer Stress 92 F Faktoren 58 Fettleibigkeit 14, 25, 29, 33, 90, 244, 284 f. FGF-2 (FibroblastenWachstumsfaktor) 68, 70, 93, 100, 162, 283, 288, 307, 313, 333 Fibroblasten-Wachstumfaktor → FGF-2 Fibromyalgie-Syndrom 106, 224 37 Flanker-Test Fluoxetin (Prozac) 52 fMRT → Magnetresonanztomographie, funktionelle Fötales Alkoholsyndrom 228, 246 Framingham-Herzstudie 290 Freie Radikale 92, 97, 269, 284, 290 Friedman, Thomas 22 Frontaler Cortex 99, 279 Furcht 78, 81, 98, 112, 118 ff. G GABA → Gamma-Aminobuttersäure 65 Gage, Fred Gamma-Aminobuttersäure (GABA) 51, 117, 121, 134, 240, 314, 333 Gedächtnis (Erinnerungsvermögen) - Abhängigkeit 210, 219 - ADHS 186 f., 196 - Altern 272 f. - Angst 120 f., 131 ff. 53, 69 - BDNF - Depression 157 - Fötales Alkohol-Syndrom 246 - Hippocampus 72 277, 312 f. - Krafttraining - Kurzzeitgedächtnis 37, 186, 197, 246, 273 - Langzeitgedächtnis 69, 273 - Lernen 73 - Schwangerschaft 246 - Stress 81, 86 f., 94 ff. 305 ff. Gehen (Walking) Gene 54, 87, 89, 151, 163, 240, 260, 280, 300, 316 Generalisierte Angststörung 110, 112, 128 Genome Biology 160 Georgia Tech University 224 Gleichgewicht 77, 183, 189, 238, 293 Glukose 68, 85, 331 284 - Altern 68, 99 f., 307 - Körperliche Bewegung - Schwangerschaft 244 - Stress 92 f., 97 Glutamat 333 240 - Hormonelle Veränderungen - Körperliche Bewegung 68, 285 - Langzeit-Potenzierung (LTP) 93 - Stress 87 f., 92 Gomez-Pinilla, Fernando 60 342 Anhang: Stichwortverzeichnis Gorman, Jack Gould, Elizabeth Greenough, William 132 67, 318 ff. 62, 70, 73, 299 H Hallowell, Ned 178, 189 Hansen, Cheryl 153 Harkin, Tom 46 Harvard Medical School 253 Harvard Study of Moods and Cycles 257 Hebb, Donald 61, 65, 74 Heimtrainer 26, 71, 156, 224, 281 Heinrich, Bernd 300 Herzfrequenzmonitor → Pulsuhr Herzkrankheiten 97, 255, 265 ff. HGH → Menschliches Wachstumshormon Hillman, Charles 36, 299 Hippocampus 67 Hippocampus 56-73, 99 f., 197, 317, 333 f. - Abhängigkeit 211 - Altern 270 ff. - Alzheimer-Krankheit 67, 159 - Angst 87, 98, 119 - BDNF 53, 96 - Depression 159, 285 - Fötales Alkoholsyndrom 228, 247 60, 67, 72, - Körperliche Bewegung 246, 288 - Lernen 58, 333 f. - Präfrontaler Cortex 56, 72, 82, 87 246 - Schwangerschaft - Soziale Interaktionen 318 86 ff., 95, 98, 101, 159 - Stress Hippokrates 128 233 ff. Hormonelle Veränderungen Hormonersatz-Therapie 255 ff. HPA-Achse 82, 86 f., 334 218 - Abhängigkeit 87, 111 - Angst - Atriales natriuretrisches Peptid 101, 129 (ANP) 129, 307 - Körperliche Bewegung - Schwangerschaft 129, 243 - Soziale Interaktionen 319 147 Human Population Laboratory Hüftfraktur 265, 286 Hyperaktivität 175 ff., 180 f., 184, 190, 194, 195 Hypercortisolismus 97 Hypothalamus 82, 111, 129, 236, 260, 334 I IGF-1(Insulinähnlicher Wachstumsfaktor) 12, 68 ff., 85, 93, 96, 100, 162, 168, 284, 288, 305, 310, 313, 334 f. „I of the Vortx: From Neurons to Self“ (Llinás) 55 123 ff. Imipramin 79, 103, 106, 226, 269, Immunsystem 285, 291 29 Infinite Mind, The Institute for Brain Aging and Dementia 58, 317 Insulinähnlicher Wachstumsfaktor → IGF-1 309 ff., 315, 323 Intervall-Training 43, 272, 319 f. Isolation - auch → Soziale Interaktionen J Joggen 52, 72, 152, 172, 260, 301 - auch → Laufen Johns Hopkins University 145, 294 Johnsgard, Keith 131 Journal of Applied Physiology 88 Journal of Clinical Psychiatry 326 Journal of the American Medical Association 268 K Kampf-oder-Flucht-Reaktion 78 ff., 95, 99, 119, 183, 307, 334 Kandel, Eric 54, 60 Karasu, T. Byram 156 Kardiovaskuläre Fitness 25 Karnazes, Dean 226 f. Karolinska-Institut 53, 283 Kings College (London) 237 Kleinhirn (Zerebellum) 55, 335 343 Anhang: Stichwortverzeichnis Klonopin (Clonazepam) 198 Kognitive Umstrukturierung 131 f. Kognitive Verhaltenstherapie 131 f., 138, 166 f. Kokain 185, 207 ff., 225 Krafttraining 228, 239, 260, 277, 287, 293, 312f. Kramer, Arthur 196 f., 259, 273 f., 292, 299, 323 Krebs 99, 107, 260 - Altern 266, 286 - Brustkrebs 107, 143, 255 f., 286 - Darmkrebs 28, 107, 286 - Hormonersatz-Therapie 255 - Körperliche Bewegung 286, 308 - Prostatakrebs 107 - Strahlung 79 77 - Stress - T-Zellen 286 - Vitamin D 291 L Langzeit-Potenzierung → LTP Laufen 300 f., 308 f. - auch → Joggen „Laufen: Geschichte einer Leidenschaft“ (Heinrich) 300 258 Laurin, Danielle Laval University (Quebec) 258 Lavie, Carl 128 f. Lawler, Phil 24 ff., 39, 42, 44, 47 Leeds Metropolitan University (England) 105 L-Dopa (Levodopa) 281 LeDoux, Joseph 132 f. Legasthenie (Dyslexie) 188 f., 212 Lernen 49-74, 294 - BDNF 53 ff., 68-70 - Körperliche Bewegung 53-74 - LTP 53, 66 - Neurogenese 64 ff. - Neurotransmitter 52 54, 62, 65 - Synaptische Plastizität Levodopa → L-Dopa Lexapro (Escitalopram) 150, 249 Llinás, Rodolfo 55 f. LLPDD (Dysphorische Störung in der späten lutealen Phase, „late luteal phase dysphoric disorder“) 235 Locus Caeruleus 123, 129 LTP (Langzeit-Potenzierung) 53, 66, 69, 87, 93, 96, 100, 229, 335 M Magnetresonanztomografie (MRT) 120, 158, 196, 274, 314 Magnetresonanztomografie, funktionelle (fMRT) 159, 176 Marihuana 220 ff, 331 f. Massachusetts General Hospital 257 Massachusetts Mental Health Center 122, 144 f., 190 93 ff., 266, 270, 281, Mattson, Mark 289 f., 328 Mayberg, Helen 165 ff. Mayo-Klinik 194 McCord, Tim 44 ff. McEwen, Bruce 82, 86, 97, 98 f. McGill University 61, 208 Menschliches Wachstumshormon (HGH) 309 ff., 323, 334 Menopause 233 ff. 76, 92 Metabolischer Stress Methoxyhydroxyphenylglykol (MHPG) 144 Methylphenidat (Ritalin) 52 f., 185, 190, 195, 198, 201, 220 MHPG → Methoxyhydroxyphenylglykol Milani, Richard 128 Milchsäure 124, 166, 309 Milner, Peter 208 f. „Molecular and Cellular Theory of 163 Depression, A“ (Duman) Monk, Catherine 243 144, 168 Monoamin-Hypothese Mood Disorders Research Program 155 Motivation 52, 70, 88, 91, 151, 155, 160, 167, 169, 176, 183 ff, 209 f., 232, 261, 270, 277, 287, 316, 332 Motorischer Cortex 56 f., 187 MRT → Magnetresonanztomografie Mullis, Ina 23 344 Anhang: Stichwortverzeichnis N Naperville (Schulbezirk 203) 15-47 National Institute on Drug Abuse 210 National Institutes of Health 255 National Institutes of Mental Health 120, 180 National Institutes on Aging 93, 266, 289 Nature 57 Nature Neuroscience 318 Neurodegeneration 92, 99 Neurofibrilläre Tangles 279, 295 336 Neurogenese - Alkohol 229 - Altern 69, 270 f., 288 - BDNF 161 161, 164 - Depression - Fötales Alkoholsyndrom 228 - Körperliche Bewegung 76, 100, 298, 307 - Schwangerschaft 246 f. - Stress 69, 97 Neuronen 12, 61 ff., 100, 298 - ADHS 176 - Altern 269, 275, 284 - ANP 129 - Anzahl 50 - BDNF 53 ff., 161 - Depression 159 - Glutamat 51 - Kleinhirn 187 295 - Lernen - LTP 53 - Schwangerschaft 246 - Soziale Interaktionen 318 77 f., 86, 88, 92 f., 97 - Stress - Zentralnervensystem 61 Neurotransmitter 51 f., 58, 237, 299, 310 217, 223 f. - Abhängigkeit 131 - Angst - Depression 144, 148, 168 260 - Körperliche Bewegung - Menopause 237 84 f. - Stress 252 - Wochenbettdepression Neurotropher Faktor BDNF → BDNF Neurotrophine 53, 163, 260, 270, 285 - auch → BDNF New England Journal of Medicine 127, 255 Newsweek 28 New York Times 14, 22 Nicht aerobe Aktivitäten 312 f. Niculescu, Alexander 160 51, 84, 337 Noradrenalin - ADHS 184, 195 ff., 203 f. - Angst 134 - Depression 141-174 - Imipramin 123 - Intervall-Training 312 - Körperliche Bewegung 150, 306 - Stress 82 ff. Norephinephrin → Noradrenalin Northern Arizona University 153 Nucleus accumbens 176, 185, 209 ff. Nurses Health Study 267-272 O O’Neal, Shaquille 325 Odyssey House 205 ff. Olds, James 208 f. Omega-3 173, 267, 290 f. „Organization of Behaviour, The: A Neuropsychological Theory“ (Hebb) 62 Osteoporose 260, 264 ff., 286, 293 Östrogen 236 f., 239, 242, 252, 254 f., 258 ff., 275 Oxidativer Stress 92, 99, 289 P Paläolithischer Rhythmus 88 Panikattacken 111, 129 ff. - Abhängigkeit 213, 220 - ADHS 185 - Amygdala 124 - Betablocker 124 - Körperliche Bewegung 125 f., 134 Panikstörung 112 f., 122 ff., 129 f., 137, 138 Parkinson-Krankheit 65, 92, 187, 270, 279 f., 287, 291 Paroxetin → Paxil Patterson, Susan 60 345 Anhang: Stichwortverzeichnis Pauling, Linus 145 Paxil (Paroxetin) 198 PE4life 34, 44, 46 Pert, Candace 145 PET-Scans 237 Phobien 112, 126, 131 Pine, Daniel 120 Plastizität 50, 54, 62 ff., 72, 73, 93, 219, 280, 284, 299 PMDD → Prämenstruelle dysphorische Störung PMS → Prämenstruelles Syndrom Positronenemissionstomografie → PET-Scans Präeklampsie 241 Präfrontaler Cortex - Abhängigkeit 210 f., 224 - ADHS 186, 194 f. - Altern 196, 211, 272 ff., 279 - Angst 118, 131 - Belohnungszentrum 176, 184 f. - Depression 159 f., 165 ff. - Hormone 258 - Hormonersatztherapie 259 - Serotonin 134 - Stress 84 f., 87 Prämenstruelle dysphorische Störung (PMDD) 235 ff. Prämenstruelles Syndrom (PMS) 233 ff., 257, 261 Progesteron 236 f., 242, 251, 254 f. Provet, Peter 206 ff. Prozac (Fluoxetin) 52 f., 148 f. Psychoanalyse 105, 144, 227 Psychotherapie 123, 128, 154, 166 Pulsuhr 17, 291, 302 Pyles, Robert 102 ff., 146, 310 R Ratey, Stephen 264 Ratey, Vern 263 Rauchen 206, 218, 266 Reattribuierung 130 Ritalin 52 f., 185, 190, 195, 198, 201 Robinson, Terry 209 f. 82 Rockefeller University Rogers, Bill, 145, 322 11, 145, 223 ff., 311 Runner’s High 276 Rush Alzheimer’s Disease Center Russo-Neustadt, Amelia 195 S Salienz 210 f., 217 Salk Institute 65 Sarkoidose, gestreute 102 f. Schlafstörung 172, 184 Schattensyndrome 143, 171, 179 Schildkraut, Joseph 144, 150 Schlaganfall 255, 265 f., 267, 279, 283 f. 304 Schrittzähler 129, 233, 241 ff, 261 Schwangerschaft 135, 154, 229 f. Selbstwirksamkeit Selektive Serotonin-Wiederaufnahme hemmer (SSRI) 121, 131, 148 ff., 157 57, 62 Sensorischer Cortex 337 Serotonin 52, 117, 131, 134 - Angst - BDNF 69, 97, 305 - Depressionen 11, 52, 151 237, 239 - Hormone 123 - Imipramin 11, 121 - Körperliche Bewegung 138, 319 - Soziale Interaktionen 100, 151 - Stress 238, 290 - Tryptophan Sertralin → Zoloft Shaw, Jennifer 253 f. 159 Sheline, Yvette 145 Shorter, Frank Small, Scott 67, 298 Smedley, June 277, 282 SMILE (Standard Medical Intervention and Long-term Exercise) 151 f. 295 f. Snowdon, David Soziale Angststörung 112 f. Soziale Interaktionen vs. Isolation 43, 319 224 f. Sparling, Philip Sportunterricht 15 ff., 117, 325 Square-Dance-Unterricht 43, 122 346 Anhang: Stichwortverzeichnis SSRI →Selektive Serotonin-Wiederauf nahmehemmer Stanford Achievement Test 32 Starkman, Monica 97 Stickoxid 283 Strahlung 79 9, 75-108, 148, 271, 285, 307 Stress - Abhängigkeit 218, 228 - Altern 275 - Angst 111, 129 - ANP 117 - Betablocker 124 - chronischer 77 f., 85 ff., 96 ff., 161, 285 - Depression 159 - Fitnessniveau 299 - Gedächtnis 86 f. - Hormone 81 f., 90, 146 - Kampf-oder-Flucht-Reaktion 80 ff. - Schwangerschaft 243 - Soziale Interaktionen 321 Ströhle, Andreas 126, 130 Sulforaphan 94 „Super Size Me“ 29 Synapsen 50, 64, 74, 99 - Abhängigkeit 211 - Altern 268 ff. - BDNF 54 f. - Depression 159 f., 164, 168 - Plastizität der 54, 62, 64 f., 93, 284, 299 - Stress 87, 95 - Umwelt, Bereicherung der 62 Tryptophan Tufts University T-Zellen 117, 237, 290, 305 293 286 U T Übungsprogramm 292, 297 ff. - auch → Joggen, Laufen, Gehen, nicht aerobe Aktivitäten „Ultramarathon Man“ (Karnazes) 226 f., 230 Umwelt, Bereicherung der (anregende) 63 f. 277 University Living (Michigan) University of Alabama School of Medicine 306 University of Bath (England) 311 313 University of Bern (Schweiz) University of British Columbia 247 University of California, Berkeley 62, 147 University of California, Irvine 58, 258, 317 University of Georgia 195 University of Illinois 36, 63, 196, 259, 273 University of Michigan 97, 209, 305 Universität Münster (Deutschland) 311 University of North Carolina at 258 Greensboro 190 University of Pennsylvania 144 University of Pittsburgh University of Queensland (Australien) 257 115 University of Southern Mississippi University of Texas Southwestern 155 Medical School Tai-chi 293, 312 ff. Tavolacci, John 206 Testosteron 275 Tetrahydrocannabinol → THC THC 222 f., 331, 333 Tiefe Gehirnstimulation (DBS) 165 TIMSS (Trends in International Mathe matics and Science Study) 15, 22 ff. TMS → Transkranielle Magnetstimulation Transkranielle Magnetstimulation (TMS) 164 Trivedi, Madhukar 156, 170 f. Van Praag, Henrietta 66 Vaskulärer endothelialer Wachstumsfaktor → VEGF VEGF (vaskulärer endothelialer Wachstumsfaktor) 12, 68 ff., 93, 100, 162 ff., 270, 283, 307, 333, 338 Venlafaxin (Effexor) 149 Ventrales tegmentales Areal (VTA) 184 Visueller Cortex (Sehrinde) 63 V 347 Anhang: Stichwortverzeichnis Vitamine VO2 max. 287, 291 259, 274, 338 W Walking → Gehen Wang, Gene-Jack 214, 217 Washington University 159 Weltgesundheitsorganisation 142 267, 328 Weuve, Jennifer WHI-Studien 255, 258 293, 303, 313 Widerstandstraining Wochenbettdepression 236, 248 ff. Wolfrum, Jessie 38, 42, 321 X Xanax (Alprazolam) 115, 240, 314 Y Yale University Yoga 196 106, 114, 293, 312 ff. Z 2-AG → 2-Arachidonylthanolamid 2-Arachidonylthanolamid (2-AG) 223 Zaltzman, Simon 322 Zametkin, Alan 180 Zentraler Nucleus 132 Zentralnervensystem 61 Zientarski, Paul 28 ff., 122, 321 14, 137, 152, 201, 276 Zoloft (Sertralin) „Zwanghaft zerstreut“ (Ratey u. Hallowell) 178, 193 Zwangsstörungen 52 348 Über den Autor Dr. John Ratey ist außerordentlicher Professor für Klinische Psychia trie an der Harvard Medical School und unterhält eine Privatpraxis in Cambridge, Massachusetts, USA. Mehr als zehn Jahre unterrichtete er Ärzte im Praktikum und Medizin studenten der Harvard-Universität am Massachusetts Mental Health Center, wo er stellvertretender Direktor für die Ausbildung von Ärzten im Prakti kum war. Als ordentlicher Dozent des Fortlaufenden Medizinischen Fortbil dungsprogramms der Harvard Medi cal School unterrichtet er außerdem Psychiater. Als klinischer Forscher hat er mehr als 60 Aufsätze in Fachzeit schriften im Bereich Psychiatrie und Psychopharmakologie veröffentlicht. 1986 gründete er in Boston ein Zentrum zur Untersuchung von Autismus (Boston Center for the Study of Autism), und 1988 rief er eine neue Arbeitsgruppe der American Psychiatric Association zur Untersuchung von Aggressionen ins Leben; den Anstoß dazu hatten ihm seine Forschungen über neuartige medikamentöse Behandlungen von aggressivem Verhalten gegeben. In dieser Zeit hielt Dr. Ratey in der ganzen Welt Vorträge über Aggression und Störungen des Gehirns, die Einfluss auf das soziale Funktionieren haben. Dr. Ratey und Dr. Edward Hallowell begannen in den 1980er-Jahren, sich eingehender mit ADHS zu beschäftigen, und veröffentlichten ihre Untersuchungsergebnisse gemeinsam in Zwanghaft zerstreut oder die Unfähigkeit, aufmerksam zu sein (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1998), welches das erste in einer Reihe von Büchern war, die diese Störung entmystifizieren sollten. Zusammen mit Catherine Johnson publizierte Dr. Ratey das Buch Das Schattensyndrom: Neurobiologie und leichte Formen psychischer Störungen (Stuttgart: 349 Klett-Cotta, 1999), das schwächere Formen klinischer Störungen untersucht. Er ist auch Autor des Bestsellers Das menschliche Gehirn: Eine Gebrauchsanweisung (Düsseldorf, Zürich: Walter, 2001), worin er erklärt, wie die Neurow issenschaften Emotionen, Verhalten und die Psychologie insgesamt beeinflussen. Seit 1998 ist Dr. Ratey jedes Jahr von seinen Kollegen zu einem der besten Ärzte in den Vereinigten Staaten gewählt worden. 2006 wurde er von der gemeinnützigen Einrichtung PE4Life mit dem Preis „Excellence in Advocacy“ für seinen Einsatz zur Förderung der Einführung eines regulären, aerob ausgerichteten Sportunterrichts ausgezeichnet – PE4Life setzt sich für eine besondere Philosophie des Sportunterrichts ein, von dem Schüler ein Leben lang profitieren sollen. Mehr über den Autor erfahren Sie auch auf seiner Website (in englischer Sprache): www.johnratey.com 350 31-129-8_AnzSeiten_Layout 1 14.01.13 13:44 Seite 1 Dr. Jonathan Wright; Dr. Lane Lenard: Bioidentische Hormone Alles, was Sie wissen müssen – Das Standardwerk Leseprobe unter: www.vakverlag.de Der Begründer der Bioidentischen Hormontherapie (BHT) präsentiert in diesem Grundlagenwerk den heutigen Stand der Forschung und alles Wissenswerte rund um die Anwendung bioidentischer Hormone. Bioidentische Hormone helfen nebenwirkungsfrei bei Wechseljahresbeschwerden, für gesundes Älterwerden, bei Unfruchtbarkeit, Diabetes, Osteoporose, bei Schilddrüsenproblemen und zahlreichen hormonbezogenen Beschwerden und Erkrankungen von Frauen und Männern. 496 Seiten, Hardcover (16 x 22,5 cm) ISBN 978-3-86731-092-5 Paul E. Dennison, Gail E. Dennison: Brain-Gym® – Das Handbuch Leseprobe unter: www.vakverlag.de Dieses neu konzipierte und erheblich erweiterte Handbuch löst das bewährte Brain-Gym®-Lehrerhandbuch ab. Nach wie vor bilden detaillierte Anleitungen und Tipps zum Übungsablauf den Mittelpunkt des Buches. Zusätzlich gibt es eine Reihe nützlicher Neuerungen, wie erheblich erweiterte Hintergrundinformationen, detaillierte Übersichten über die geförderten Gehirn- und Körperfunktionen, Vorschläge für Spiele, Geschichten und Musik u.v.a.m. Mit dieser anwenderfreundlichen „Gebrauchsanleitung“ für Brain-Gym® können auch Erwachsene die kindliche Freude am Lernen wiederentdecken und Spitzenleistungen erzielen. 192 Seiten, vierfarbig, Paperback (21 x 29,7 cm) ISBN 978-3-86731-071-0 Paul E. Dennison, Gail E. Dennison: Brain-Gym® für Kinder Leseprobe unter: www.vakverlag.de Besser lernen mit dem ganzen Gehirn – das ist das Ziel der Brain-Gym®-Bewegungsübungen. Diese Bewegungen aktivieren auch solche Teile des Gehirns, die vorher nicht aufnahmefähig waren. Die witzig illustrierte „Gehirngymnastik“ ist für Jung und Alt geeignet; hilft uns, unser (Gehirn-)Potential besser zu nutzen; fördert klares und kreatives Denken; erleichtert jede Art von Lernen. Brain-Gym® umfasst eine Reihe einfacher Bewegungen, mit denen man auf spielerische Weise seine Lernfähigkeit steigern kann. Die Übungen sind so angelegt, dass ihre Auswirkungen im Alltag schnell zu spüren sind. 63 Seiten, durchg. illustr., + 6-seitige Falttafel „Alle 26 BrainGym®-Übungen auf einen Blick“, Spiralheftung (16,5 x 24 cm) ISBN 978-3-924077-75-4 Abbonnieren Sie unseren Newsletter (gratis) unter: www.vakverlag.de 31-129-8_AnzSeiten_Layout 1 14.01.13 13:44 Seite 2 Carla Hannaford: Bewegung – das Tor zum Lernen Leseprobe unter: www.vakverlag.de Besser lernen mit Bewegung – hier werden die Zusammenhänge fachkundig und allgemeinverständlich dargestellt. Was bei Erscheinen der ersten Ausgabe (in den 90er-Jahren) noch eine Pionierleistung war, ist heute wissenschaftlich belegt und Allgemeinwissen. Für Pädagogen ist dieses Buch ein Muss: Teil 1: Die Entwicklung des Gehirns Teil 2: Wie Bewegung zum Lernen führt Teil 3: Ernährung u. a. phys. Voraussetzungen für Lernen Das Standardwerk zu Lernen durch Bewegung von einer wissenschaftlich kompetenten Autorin, aktualisiert mit neuesten Erkenntnissen der Gehirnforschung. 336 Seiten, 50 Abb., Paperback (15 x 21,5 cm) ISBN 978-3-86731-027-7 Mary Newport: Alzheimer – vorbeugen und behandeln Die Keton-Kur: Wie ein natürliches Fett die Erkrankung aufhält Leseprobe unter: www.vakverlag.de Die Ärztin Mary Newport, deren Mann bereits mit 50 an Alzheimer erkrankte, stieß auf die Ernährungsbehandlung mit „mittelkettigen“ Fettsäuren, wie sie in Kokos- oder Palmöl enthalten sind: Aufgrund der Erkrankung kann das Gehirn Glukose nicht mehr verwerten, den Zellen fehlt Energie und sie sterben ab. Mittelkettige Fettsäuren werden in der Leber zu Ketonen umgewandelt, die das Gehirn auch bei Alzheimer als Energiequelle nutzen kann. Die Entwicklung von Alzheimer kann damit verlangsamt oder sogar verhindert werden. 320 Seiten, 23 Abb., Klappenbroschur (15 x 21,5 cm) ISBN 978-3-86731-112-0 IAK GmbH – Forum International Eschbachstraße 5 – D-79199 Kirchzarten Tel. +49 (0)7661-9871-0 – Fax +49 (0)7661-9871-49 [email protected] – www.iak-freiburg.de Das IAK – Forum International veranstaltet laufend Seminare zu den Themen Lernförderung, Kinesiologie, Energetische Psychologie, Kraniosakral-Therapie, Gesprächsführung, Blütentherapie, u.a.m. Seit 1982 haben wir uns als internationale Begegungsstätte für praktische und innovative Methoden etabliert. Die erste Neuentdeckung, die wir im deutschsprachigen Raum eingeführt haben, war die Angewandte Kinesiologie. Als weltweit größtes Forum dieser Art spielt das IAK eine maßgebliche Rolle in der kinesiologischen Praxis und Ausbildung. In letzter Zeit hat das „Neue Denken“ das Bewusstsein vieler Menschen für eine andere Weltsicht und Lebenshaltung geöffnet. Auf dieser Grundlage wurden faszinierende Methoden entwickelt: Frank Kinslows Quantum Entrainment®, Richard Bartletts Matrix Energetics, die Herzintelligenz®Methode und andere, die wir in unserem Seminarzentrum vorstellen. Informationen zu unseren vielfältigen Veranstaltungen finden Sie auf unserer Homepage: www.iak-freiburg.de. Gerne schicken wir Ihnen auch unser Kursprogramm zu. Bestellen Sie unsere kostenlosen Kataloge unter: www.vakverlag.de 31129 Superfaktor TB US lay_Layout 1 14.01.13 13:52 Seite 1 Wie herausragend sich Bewegung auf unsere Lernfähigkeit auswirkt, dafür gibt es beeindruckende Erfahrungen aus breit angelegten Studien: Schüler, die täglich an einer Extrastunde Sport teilnahmen, waren nicht nur emotional ausgeglichener und sozial besser integriert, sie erzielten in landesweiten Vergleichstests auch die besten Leistungen ihrer Altersgruppe! Eines lässt sich mit Gewissheit sagen: Bewegung ist in jedem Alter der wichtigste Faktor, um das Gehirn fit und leistungsfähig zu halten. Der bekannte Psychiater zeigt hier, wie und warum Bewegung die Entwicklung von Intelligenz fördert und gleichzeitig dabei hilft, Krankheiten zu vermeiden. Bewegung reduziert Ängste und Stress, fördert Konzentration und Gedächtnis und bewirkt auch bei Alzheimer, AD(H)S und Depressionen wahre Wunder. Ein Kapitel beleuchtet außerdem den weiblichen Hormonstoffwechsel und zeigt den besonderen Einfluss von Sport auf die Gesundheit von Frauen. Extra: Mit leicht umsetzbaren und praktischen Infos über geeignete Sportarten, Trainingsdauer und Intensität. www.vakverlag.de ISBN 978-3-86731-129-8 12,95 € (D) / 13,40 € (A) SUPERFAKTOR BEWEGUNG Und jeder weiß: Wenn wir uns bewegen, fühlen wir uns viel besser. Aber warum ist das so und warum fällt es uns so schwer, regelmäßig Sport zu treiben? Dr. Rateys provokante Antwort lautet: Muskelaufbau und Kondition sind eigentlich nur „Nebenwirkungen“ von Sport. Viel erstaunlicher ist, dass ein Mangel an Bewegung unserem Gehirn sogar schadet, denn es schrumpft dadurch! DR. JOHN J. RATEY ERIC HAGERMAN DR. JOHN J. RATEY ERIC HAGERMAN Wir brauchen Bewegung wie die Luft zum Atmen, unser Körper ist biologisch darauf programmiert: Unsere Vorfahren mussten gut zu Fuß zu sein, um sich vor Feinden in Sicherheit zu bringen und bei der Jagd erfolgreich zu sein. Heute – mit dem Supermarkt um die Ecke und dem Auto in der Garage – brauchen wir Bewegung zwar nicht mehr zum Überleben, aber doch in besonderem Maße, um gesund und leistungsfähig zu bleiben. Gelingt es uns nicht, mit unserem evolutionären Erbe in Einklang zu leben, werden wir krank. SUPERFAKTOR BEWEGUNG DAS BESTE FÜR IHR GEHIRN!