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Titel:
Panik vor dem Zahnarzt-Bohrer
Medium:
Wiener Zeitung, S. 17
Datum:
21.10.2010
Text:
Zehn bis 15 Prozent der Menschen gehen aufgrund einer Phobie nicht zum Zahnarzt
Von Eva Stanzl
■ Zahnkliniken wollen Problem Herr werden.
■ Das Gefühl des Aüsgeliefertseins als Auslöser für die Phobie.
Wien. Schon auf dem Weg wetzt Barbara S. auf dem Rücksitz herum. Beim Betreten der Praxis
bekommt sie ganz feuchte Hände, vom Geruch im Wartezimmer wird ihr schlecht - hohe, bohrende oder
zischende Geräusche tönen von irgendwo her. Als sie den Zahnarzt sieht, will sie davonrennen.
Stattdessen wird sie auf einen Stuhl gepackt und schon kommt der Folterknecht näher. Sie versperrt den
Mund. Doch keine Chance, er zwängt seinen großen Daumen zwischen ihre Zähne und - die
Neunjährige beißt zu. Die Mutter ist über das Benehmen entsetzt, die Behandlung wird abgebrochen:
Nur wenige haben sich wohl so erfolgreich gegen einen Zahnarzt gewehrt wie diese Neunjährige. Die
meisten Menschen mit Zahnbehandlungs-Angst gehen nämlich gar nicht erst hin: Zehn bis (15 Prozent
der Menschen sind nicht in der Lage, einen Dentisten aufzusuchen, obwohl dieser ihre Zähne repariert.
Ein Umstand, dem neue Zahn-Kliniken nun Herr werden wollen.
„Betroffene haben vielleicht eine perfekte Zahnpflege. Trotzdem fehlen ihnen einzelne Zähne aufgrund
von Schäden, denen die Bürste nicht beikommt. Sie schämen sich dafür, und sie schämen sich für ihre
Angst", sagt deutsche Zahnmediziner Michael Leu, Gründer der „Gentle Dental Office Group" mit
Standorten in Österreich, Deutschland und der Schweiz.
„Manche Menschen würden sich lieber ein Bein brechen, als zum Zahnarzt zu gehen", sagt auch
Henriette Walter, Co-Gründerin der „Mittwoch-Ambulanz" am Wiener AKH. Im Rahmen der
Liaison-Initiative bietet die Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie am AKH Wien gemeinsam mit
Zahnärzten Hilfe für Betroffene der Angst vor dem Zahnarzt an.
Walter unterscheidet zwischen zwei Sorten von Angst: Zahnbehandlungs-Phobien mit klarem Auslöser
kann mit entspannenden
Medikamenten sowie psychologischen Techniken zur Umdeutung des
Phobie-Auslösers entgegengewirkt werden. Gegen Phobie-artige Zustände, deren Auslöser nicht
unmittelbar mit dem Zahnarztbesuch zusammenhängt, seien hingegen Psychotherapien wirksamer.
„Eindeutige Zahnarzt-Phobien werden durch eine spezifische Negativ-Erfahrung ausgelöst. Einerseits
haben Betroffene eine Phobie vor der Gesamt-Atmosphäre: der spezielle Geruch, die Geräusche und
das Gefühl des Ausgeliefertseins", erklärt sie. Während etwa ein Motorradunfall ein Risiko ist, für das
man sich entscheidet, sobald man die Maschine startet, liegt man beim Zahnarzt auf einem abgesenkten
Stuhl und kann sich kaum rühren. Dazu kommt laut Walter eine Phobie vor spitzen Gegenständen: Beim
Zahnarzt sind nahezu alle Geräte bis auf den Spiegel spitz.
Die Person des Zahnarztes
Der Auslöser kann auch die Person des Zahnarztes selbst sein: Hätte dieser die kleine Barbara mit
einem Spiel abgelenkt, das ihr ein aktives Erfolgserlebnis ermöglicht hätte, bevor sie sich auf den Stuhl
setzte, wäre es nicht zu dem Biss gekommen. „Wenn man keine Strategie gegen die Angst entwickelt oder als Kind etwa durch Vorleben zur Verfügung gestellt bekommt -, kann es sein, dass man lernt, mit
Angst über die Angst nachzudenken. Somit wird die Angst stärker", sagt der Wiener psychologische
Berater und NLP-Trainer Ihor Atamaniuk. Und kann sich auch auf andere Bereiche des Lebens
ausbreiten und selbstverstärkend steigern. Umgekehrt kann ein Auslöser aus einem anderen
Lebensbereich sich beim Zahnarzt manifestieren. Michael Leu lebt seinen Phobie-Patienten eine neue
Form des Umgangs mit ihrer Angst vor. Er begegnet ihnen ohne Arzt-Mantel, macht sie in Ruhe mit den
Räumlichkeiten bekannt und unterhält sich mit ihnen, bevor es überhaupt zu einer Behandlung kommt.
Und schimpfen über den Zustand der Zähne tut er schon gar nicht. Leu macht zudem einen weiteren
Grund für Zahnbehandlungs-Phobie fest: Besonderheiten im Gebiss-System. Demnach können
Fehlstellungen im Kiefer dazu führen, dass man nicht immer, wenn man will, den Mund öffnen kann. Das
Gefühl der Blockade kann Angst auslösen.
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