zur Plot-Struktur englischer ‚Gothic Novels

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zur Plot-Struktur englischer ‚Gothic Novels
Peter Hühn
Schauerliche Familiengeschichten: zur Plot-Struktur englischer ‚Gothic
Novels‘
Horace Walpole, The Castle of Otranto (1764), Matthew Lewis, The
Monk (1796) und Mary Shelley, Frankenstein (1818)
aus: Heinz Hillmann und Peter Hühn (Hg.)
Lebendiger Umgang mit den Toten –
der moderne Familienroman in Europa und Übersee
S. 85–104
Hamburg University Press
Verlag der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg
Carl von Ossietzky
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Veröffentlicht mit Unterstützung der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung, der
Abteilung Wissenschaftsförderung der Universität Hamburg und der
Mara und Holger Cassens-Stiftung
Inhalt
Einführung. Forschungslage
Heinz Hillmann und Peter Hühn
Nachdenken über Familiengeschichten
7
Kapitel 1
Heinz Hillmann
Die Patriarchengeschichte im Alten Testament und ihre Fortschreibung
in Die Kinder unseres Viertels (1959/67) von Nagib Machfus
39
Kapitel 2
Peter Hühn
Schauerliche Familiengeschichten: zur Plot-Struktur englischer ‚Gothic Novels‘ 85
Horace Walpole, The Castle of Otranto (1764), Matthew Lewis, The Monk (1796) und
Mary Shelley, Frankenstein (1818)
Kapitel 3
Robert Hodel
Vom archaischen zum modernen Familienroman in den slavischen
Literaturen: vom späten 19. Jahrhunderts bis zur Stalinzeit
105
Lev Tolstoj, Anna Karenina (1873‒77), Andrej Platonow, Čevengur (1927‒29) und andere
Kapitel 4
Solveig Malatrait
Vom Fresko zum Mosaik? ‒ Evolutionslinien des Familienromans im
Frankreich der Moderne
141
Von Émile Zolas Rougon-Macquart (1871−93) zu Jean Rouauds Les Champs d’honneur (1990)
Kapitel 5
Heinz Hillmann
Der Abstieg einer Kaufmannsfamilie im Fortschrittsjahrhundert und
der Aufstieg einer Unternehmerfamilie
171
Thomas Mann, Buddenbrooks. Verfall einer Familie (1901) und Rudolf Herzog, Die Wiskottens (1905)
Kapitel 6
Peter Hühn
Von der archaischen Groß- zur modernen Kleinfamilie im britischen Kolonialreich 223
V. S. Naipaul, A House for Mr Biswas (1961)
4
Inhalt
Kapitel 7
Peter Hühn
Der Verfall der traditionellen Familie und die Entstehung alternativer
Kleinformen
251
Virginia Woolf, The Waves (1931) und The Years (1937)
Kapitel 8
Klaus Meyer-Minnemann
Familie im hispanoamerikanischen Roman
287
Gabriel García Márquez, Cien años de soledad (1967) und Isabel Allende, La casa de los
espíritus (1982)
Kapitel 9
Peter Hühn
Die Konstruktion der Familie als Spiegel der modernen Gesellschaft in einer
traditionellen Kultur
317
Salman Rushdie, Midnight’s Children (1981) und The Moor’s Last Sigh (1995)
Kapitel 10
Inge Hillmann
Die lähmende Gegenwart einer dunklen Vergangenheit −
eine amerikanische Südstaatenfamilie
353
William Faulkner, Absalom, Absalom! (1936)
Kapitel 11
Heinz Hillmann
Lebendiger Umgang mit den Toten − gestärkte Gegenwärtigkeit
389
Uwe Johnson, Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (1970−83)
Kapitel 12
Heinz Hillmann
Erschwerter Abschied und schwierige Vergegenwärtigung: deutsche
Familiengeschichten um die Jahrtausendwende
421
Wibke Bruhns, Meines Vaters Land. Geschichte einer deutschen Familie (2004) und
Stephan Wackwitz, Ein unsichtbares Land. Familienroman (2005)
Die Autorinnen und Autoren
454
Kapitel 2
Schauerliche Familiengeschichten:
zur Plot-Struktur englischer ‚Gothic Novels‘ *
H o rac e Wa l p o l e , T he Ca s tl e o f O t r a nto ( 1 7 6 4 ) , M at t h e w Le w i s,
T h e M o n k ( 1 7 9 6 ) u n d M a r y S h el l ey, Fra n ke n s te i n ( 1 8 1 8)
Pe te r Hü hn
Obwohl der Schauerroman, im 18. Jahrhundert entstanden und um die
Wende zum 19. Jahrhundert zur Blüte entwickelt, nicht im eigentlichen Sinne zur Moderne gehört, wird er in diesem Buch in drei Beispielen vorgestellt, weil sich in deren Abfolge auch die sozial-historische Veränderung
der Struktur und Funktion von Familie, im Übergang von traditionellen zu
modernen Verhältnissen, in einem ganz anderen thematischen Kontext und
im Rahmen von Populärliteratur nachzeichnen lässt.
Der englische Schauerroman (‚Gothic Novel‘) – ein Genre, das in England um die Mitte des 18. Jahrhunderts entstand und sich in der Folge
dann auch in Deutschland ausbreitete – wird gemeinhin nicht als Familienroman betrachtet, sondern primär über das Wirken übernatürlicher Kräfte
und das Auftreten phantastischer Phänomene in der Roman-Welt und den
dadurch erzeugten Schrecken für die Figuren wie vor allem die Leser, also
unter dem Aspekt der Wirkung, des „joy of horror“, charakterisiert und
insgesamt dem Bereich der Phantastik-Literatur zugeordnet. Es lässt sich
jedoch zeigen, dass in den typischerweise außerordentlich verwickelten
Plotverläufen die (zumeist patriarchalische) Familie als soziale Institution,
als Repräsentation von Gesellschaftsstrukturen und als potenzielles Kontinuum im zeitlichen Veränderungsprozess eine zentrale Rolle spielt – ein in
der umfangreichen Sekundärliteratur zur ‚Gothic Novel‘ (mit Ausnahme
von Williams, Art of Darkness, 1995) weitgehend ignorierter Aspekt, der
*
Dieser Aufsatz erscheint gleichzeitig in: Lars Schmeink, Hans-Harald Müller (Hg.). Fremde
Welten: Wege und Räume der Fantastik im 21. Jahrhundert (Berlin 2012), 391–406.
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höchstens vereinzelt unter psychoanalytischer Perspektive aufgegriffen
wird. Die Romanhandlung beruht in vielen Fällen auf Familienbeziehungen und der Interaktion zwischen Familienmitgliedern, und sie bezieht
ihre Dynamik aus der Störung der Familienordnung und deren Überwindung und Bestrafung oder zeichnet, als strukturelle Umkehrung, die Zerstörung oder gar Selbstzerstörung einer Familie nach. Und dabei spielt das
Phantastische eine bedeutsame Rolle, sodass man fast fragen könnte, ob es
den Autoren gar nicht so sehr um die Leserwirkung des Horrors, sondern
eher um das Familienproblem geht.
Es ist historisch signifikant, dass Entstehung und Entwicklung der ‚Gothic Novel‘ seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in die Epoche eines
entscheidenden ökonomischen, sozialen und technisch-wissenschaftlichen
Modernisierungsschubs in England fallen, in die Zeit der Industriellen Revolution. Die beginnende Umstrukturierung der vormodernen, ständisch
organisierten Gesellschaft in Richtung auf funktionale Differenzierung verändert Status und Funktion der patriarchalischen Familie. Die Familie verliert einerseits zunehmend ihre traditionelle Rolle als Grund-Einheit der
Gesamtgesellschaft und als Repräsentant von deren Machtstruktur und
Ordnung; andererseits büßt sie immer mehr ihre herkömmliche Funktion
für den Einzelnen ein, für den sie bisher als determinierender Orientierungsrahmen für Identität, soziale Position und Lebensweg diente. Es ist
bezeichnend, dass diese Störungen im Zeitalter der Aufklärung als „unheimlich“ erzählt werden, dass ihnen nur noch übernatürliche Mächte entgegentreten können und dass dies zunächst im phantastischen Roman als
einer nicht-kanonischen Gattung geschieht. Erst ein Jahrhundert später, um
1900, werden diese Tendenzen dann realistisch, in der Literatur wie den Sozialwissenschaften, abgehandelt.
Die Veränderungen in Form und Funktion von Familiengeschichten im
englischen Schauerroman stelle ich im Folgenden selektiv und exemplarisch anhand dreier charakteristischer Beispiele aus unterschiedlichen Zeiten dar: anhand zunächst von Horace Walpoles The Castle of Otranto von
1764, des ersten Schauerromans überhaupt, dann von Matthew Lewis’ The
Monk von 1796, einem einflussreichen Beispiel aus der eigentlichen HochZeit des Genres im späten 18. Jahrhundert, und schließlich von Mary Shelleys Frankenstein von 1818, einer romantischen Variante des Genres.
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Ho race Wa lp ol e: T he Ca stl e of Ot ra nto
The Castle of Otranto: A Gothic Story (1764)/Die Burg von Otranto: Eine gotische Geschichte von Horace Walpole, Sohn des mächtigen Whig-Politikers
und ersten Premierministers von England, Robert Walpole, erzählt den für
das Genre prototypischen Fall einer Familiengeschichte über drei Generationen, die Erzählung der Zerstörung und Beraubung sowie der späteren
Wiederherstellung von Familie und Besitz, angesiedelt im mittelalterlichen
Süditalien, etwa im 13. Jahrhundert. Es handelt sich um die Familie des legitimen Fürsten von Otranto, Alfonso the Good, und seiner Nachkommen.
Titel und Herrschaft dieser Familie vor zwei Generationen durch Alfonsos
Haushofmeister (‚chamberlain‘) Ricardo, also einem Angehörigen einer sozial niedrigeren Schicht, usurpiert: Dieser hatte seinen Herren auf einem
Kreuzzug vergiftet und sich mittels eines gefälschten Testaments seine Position als Fürst von Otranto angeeignet. Zur Sühne für seine Schuld hatte er
eine Kirche und zwei Klöster nahe des Schlosses von Otranto gestiftet. Diese Sühne wird akzeptiert, verbunden mit einer Prophezeiung: „[…] die
Burg und Herrschaft Otranto sollten dem Geschlecht ihrer gegenwärtigen
Inhaber entwendet werden, wenn dem wirklichen Besitzer seine Behausung zu enge würde“ (Walpole 1988, 22).1 Dies ist die Vorgeschichte des
Romans.
Die eigentliche Handlung in der erzählten Gegenwart setzt mit Ricardos
Enkel, Manfred, dem jetzigen Herrscher von Otranto, seiner Frau Hippolyta und ihren Kindern Conrad und Matilda ein. Die Usurpatorenfamilie beherrscht zu diesem Zeitpunkt vollständig die Szene. Die legitime Familie
Alfonsos scheint erloschen, da er ohne bekannte Nachkommen gestorben
ist. Es gab lediglich einen Verwandten mit Erbanspruch, Frederic, Marquis
of Vicenza, von dem es aber heißt, er sei auf einem Kreuzzug umgekommen. Allerdings hat er eine Tochter, Isabella, hinterlassen. Diese scheinbar
stabile Ausgangssituation des Romans ruht jedoch im Bewusstsein Manfreds auf einem unsicheren Fundament und ist somit latent bedroht, da er
von der Illegitimität seines Besitzes und Titels weiß. Er versucht sich nun
endgültig an die Stelle des rechtmäßigen Besitzers und dessen Familie zu
setzen, indem er seinen Sohn Conrad mit Isabella als deren letzter Vertreterin verheiratet. Dieser Versuch, das Unrecht unwiderruflich und dauerhaft
1
“[…] the castle and the lordship of Otranto should pass from the present family, whenever
the real owner should be grown too large to inhabit it”(Walpole 1996, 17).
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zu legitimieren, stößt unversehens eine Plot-Entwicklung an, in der Manfred zunehmend die Kontrolle verliert und am Ende den usurpierten Titel
und Besitz einbüßt und in der schließlich seine Familie vollständig aufgelöst wird: Die beiden Kinder werden getötet, und die Ehegatten treten in
getrennte Klöster ein (diejenigen übrigens, die sein Vorfahr zur Sühne gegründet hatte), annullieren also ihre Ehe, die den Kern der Familie bildete.
Im Gegenzug wird die rechtmäßige Familie, mit dem Enkel Alfonsos,
Theodore, wieder in Recht und Herrschaft eingesetzt.
Die Impulse für diese Entwicklung, für die fortgesetzte Destabilisierung
von Manfreds Position bis zur schließlichen Auflösung seiner Familie, gehen von einer übernatürlichen Macht aus, die wiederholt auf Seiten der
rechtmäßigen Erben, von Alfonsos Sohn Jerome und Enkel Theodore, eingreift. Der erste Eingriff vereitelt die Verheiratung Conrads mit Isabella indem dieser während der Hochzeitsfeier plötzlich von dem überdimensionalen Helm der Statue Alfonsos erschlagen wird. Daraufhin plant Manfred,
sich von Hippolyta scheiden zu lassen und selber Isabella zu heiraten – der
zweite Versuch, die Familie des Usurpatoren durch Verbindung mit einem
Erben der rechtmäßigen Familie zu legitimieren. Dieser Plan droht zu
scheitern, als plötzlich Isabellas Vater Frederic, der den Kreuzzug überlebt
hat, auftritt und diese Verbindung verbietet. Dann verliebt er sich aber seinerseits in Matilda, und trotz verschiedener Schwierigkeiten und Widerstände kommt es schließlich zu einer Vereinbarung zwischen ihm und
Manfred: sie geben einander wechselseitig die Zustimmung zur Ehe mit ihrer jeweiligen Tochter, also zur Heirat Frederics mit Matilda beziehungsweise Manfreds mit Isabella. Diese Verbindung beider Familie wird dann
aber doppelt, von beiden Seiten, verhindert. Erstens erscheint ein Geist –
ein weiterer Eingriff der übernatürlichen Macht – und untersagt Frederic
die Heirat mit Matilda: „[…] Mathilden vergessen! antwortete die Erscheinung und verschwand“ (146).2 Zweitens wird Matilda unmittelbar danach
vom eigenen Vater aus Versehen getötet: Er hatte sie bei ihrem heimlichen
Treffen mit Theodore überrascht und diesen im Affekt erstechen wollen, in
der Dunkelheit aber statt seiner Matilda getroffen. Ihre Tötung blockiert
noch die andere mögliche Verbindung beider Familien: Auch Theodore
hatte sich in Matilda verliebt (wie sie in ihn) und sie heiraten wollen (dies
war Gegenstand ihrer heimlichen Unterredung). Stattdessen heiratet er
2
“[…] forget Matilda! said the apparition – and vanished” (107).
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nun, gezwungenermaßen, am Schluss Isabella und vereinigt so in seiner
Ehe die beiden Linien der rechtmäßig erbberechtigten Familie unter völligem Ausschluss der Usurpatoren – jedoch sehr zögernd und mit tiefem Bedauern, da seine eigentliche Liebe Matilda galt:
Aber noch war Theodors Gram zu frisch, dem Gedanken an eine andre Liebe Raum zu geben; und erst nachdem er oft mit Isabellen über
seine unvergeßliche Mathilde gesprochen, überredete er sich, es gebe
kein anderes Glück für ihn als die Gesellschaft, worin er einer
Schwermut nachhängen dürfe, die sich seiner Seele auf immer bemeistert hatte (157).3
Individuelle emotionale Neigungen treten hier in einen Konflikt mit dem
über-persönlichen Familienprinzip, das sich auf die genealogische Kontinuität und die Bewahrung des angestammten Besitzes bezieht und das
Handeln der Oberhäupter (Väter) in beiden Familien steuert. So sucht Jerome aus diesem Grunde Theodore von seiner leidenschaftlichen Präferenz
für Matilda abzubringen:
Reiß diese schuldige Leidenschaft aus deinem Herzen. […] Es ist
Sünde […], die zu lieben, die der Himmel zum Verderben verdammt.
Das Geschlecht des Tyrannen wird von der Erde vertilgt, bis ins dritte und vierte Glied (129).4
Und Manfred begründet sein Verlangen nach einem Sohn (und, als Voraussetzung hierfür, die Notwendigkeit der Scheidung von Hippolyta und Heirat
mit Isabella) bezeichnenderweise mit dem Konzept der Staatsräson („reason
of state“, 49). Das Familienprinzip setzt sich schließlich gegenüber den individuellen Neigungen durch, mit schmerzlichen Konsequenzen für den
Einzelnen, besonders Theodore.
Übernatürliche Mächte verhindern auf diese Weise nicht nur die Konsolidierung der Macht der Familie des Usurpatoren, sondern sanktionieren
3
“Theodore’s grief was too fresh to admit the thought of another love; and it was not until
after frequent discourses with Isabella, of his dear Matilda, that he was persuaded he could
know no happiness but in the society of one whom he could forever indulge the melancholy
that had taken possession of his soul” (115).
4
“[E]radicate this guilty passion from thy breast. […] It is sinful […] to cherish those whom
heaven has doomed to destruction. A tyrant’s race must be swept from the earth to the third
and fourth generation” (94).
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damit, am Schluss auch explizit, die Restitution der angestammten Familie
und ihres Besitzes:
Ein Donnerschlag erschütterte die Burg in ihren Grundfesten […] In
dem Augenblick, da Theodor dazutrat, wurden die Mauern der Burg
hinter Manfred mit mächtiger Gewalt danieder geworfen, und Alfons
Gestalt, zu unermeßlicher Größe ausgedehnt, stand auf der Mitte der
Trümmer. Theodor ist der wahre Erbe Alfonsos! sprach das Gesicht.
Ein Donnerschlag folgte der Rede, und feierlich schwebt’ es zum
Himmel empor (154).5
Diese Szene enthält zusätzlich einen direkten Bezug auf die mysteriöse Prophezeiung, die am Anfang erwähnt worden war und sich nun endgültig erfüllt, zusammen mit der Himmelfahrt des ursprünglich beraubten Ahnherrn. Das archaische Prinzip der Kontinuität und Macht der Adelsfamilie
wird rigoros gegen soziale Aufsteiger – als solche ist die Familie Ricardos
und Manfreds zu bezeichnen – gestützt, und zudem werden diese im Roman kriminalisiert, insofern sie sich der Herrschaft widerrechtlich bemächtigt haben. Die vollständige Rehabilitierung der traditionellen Familie, die
der Plot als Wiederkehr der Unterdrückten und Beraubten vorführt, wird
allerdings durch die melancholische Verpflichtung des Erben auf eine ungeliebte Vertreterin der eigenen Klasse (und Verwandtschaft) emotional relativiert. Die Brautwahl wird noch traditionellerweise unter dem Familienaspekt vorgenommen, und die Manifestation des Wertes und Wollens
individueller Beziehungen, in diesem Kontext ein modernes Moment, wird
unterdrückt. Wenn Clery (1995, 1996) nicht die Bewahrung und Wiederherstellung der archaischen Familie, sondern das Leiden des Individuums unter der Dominanz des Familien- und Erbrechts betont, so deutet er das Geschehen einseitig und unangemessen aus der Perspektive der Moderne.
Hier zeigt sich, wie der hier gewählte – familien- und sozialgeschichtlich
orientierte – Ansatz eine spezifische Forschungskritik stützt.
Die Restitution einer alten Elite-Familie gegenüber sozialer Mobilität ist
ein konservatives Konzept, das in der gesellschaftlichen Realität des zeitge5
“A clap of thunder […] shook the castle to its foundations […] The moment Theodore appeared, the walls of the castle behind Manfred were thrown down with a mighty force, and
the form of Alfonso, dilated to an immense magnitude, appeared in the centre of the ruins. Behold in Theodore, the true heir of Alfonso! said the vision: and […] accompanied by a clap of
thunder, it ascended solemnly towards heaven […]” (112f).
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nössischen England zunehmend infrage gestellt wurde. Dass das Geschehen in einer vormodernen Gesellschaft und Epoche (im besonders konservativen katholischen Süditalien) angesiedelt ist, kann unter anderem als
Strategie gedeutet werden, ein ideologisch motiviertes Interesse an der Bewahrung der archaischen patriarchalischen Familienkonzeption zu rechtfertigen und zu plausibilisieren. Bezeichnenderweise motiviert das Streben
nach Sicherung oder Wiederherstellung der Kontinuität der Familie und ihres Besitzes auf beiden Seiten das Handeln, sowohl bei den echten Aristokraten als auch bei den Aufsteigern, die die Werte ihrer Vorgänger übernehmen. Und letztlich muss überirdische – literarische – Hilfe bemüht
werden, um die alten Rechte und Stände zu restaurieren, die der reale, zeitgenössische Wandel schwächt oder bedroht.
Matt hew Le wi s: T he M on k
Wie in Walpoles Castle of Otranto werden auch in Matthew Lewis’ Roman
The Monk: A Romance (1796)/Der Mönch zwei Familiengeschichten miteinander konfrontiert (Williams 1995, 254), von denen die eine die Selbst-Zerstörung einer Familie und die andere die Bildung einer neuen Familie nachzeichnet. Auch hier sind die beiden Familien mit Bezug auf das
zugrundeliegende Normensystem kontrastiert – als normverletzend und
normkonform. Aber die Zusammenhänge und Abläufe sind verwickelter
und zudem von anderer Art, was vor allem mit der Andersartigkeit der primären Motivation der Protagonisten zusammenhängt.
Die Handlung in diesem Roman erhält ihre Impulse nicht, wie bei Walpole, durch das quasi-rationale Streben nach Macht und Besitz, sondern
durch den elementaren Sexualtrieb. Dessen Dynamik wird spezifisch durch
den sozial-kulturellen Kontext gesteigert, nämlich durch die Ansiedlung
des Geschehens im streng katholischen Spanien, wohl des 17. oder 18. Jahrhunderts, wo die mächtige Kirche, insbesondere in der Institution des Klosters, die Sexualität rigoros unterdrückt und dadurch sowohl das Verlangen
als auch dessen Bestrafung verschärft. Der Schauplatz ist, wie in The Castle
of Otranto, eine dezidiert vormoderne, archaische Gesellschaft mit klarer
ständischer Gliederung. Eine besondere Rahmenbedingung für die Familienthematik besteht hier ferner darin, dass das Kloster als Sozialverband
wie als Sozialisationsinstitution eine scharfe Konkurrenz und Alternative
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Peter Hühn
zur Familie bildet, die das Verhalten und Streben sowie den Lebensgang
der Individuen reguliert. Im Laufe des Geschehens treten diese beiden Kollektive dann auch vielfach in Konflikt miteinander und sorgen mit ihren
unterschiedlichen Werten und Zielen für Handlungsverwicklungen. Die
Werte-Opposition der beiden Positionen verschiebt der Roman zugunsten
einer liberaleren Liebesmoral, aber klar verbunden mit der Notwendigkeit
einer dauerhaften Familiengründung. Und der Erzähler macht keinen Hehl
aus seiner (intellektuell und religiös) bedingten Verurteilung des Klosterwesens und seiner Auswirkungen, indem er in diesem Zusammenhang
wiederholt von „superstition“ (Aberglauben) spricht.
Die zwei kontrastierten Familien sind durch einen gemeinsamen Ahnherrn, den Marquis de las Cisternas, miteinander verbunden, aus dessen
zwei Ehen zwei Söhne hervorgehen. Der Sohn aus seiner ersten Ehe, Condé
Gonzalvo, heiratet aus Leidenschaft Elvira, Tochter eines Schusters, verletzt
damit also die Standesregel und wird deswegen vom Vater verstoßen. Gonzalvo und Elvira haben zwei Kinder: Ambrosio, den sie auf der Flucht vor
dem Marquis ins Ausland zurücklassen müssen (und von dessen weiterem
Schicksal sie nichts erfahren), und Antonia, mit der Elvira nach dem Tod
ihres Mannes nach Spanien zurückkehrt. Der Marquis bemächtigt sich seines verstoßenen Enkels Ambrosio und gibt ihn als Findelkind gegen seinen
Willen in ein Kloster. Ambrosio entwickelt sich in der Abgeschiedenheit
der mönchischen Welt zu einem heiligenmäßigen Geistlichen und Abt, der
nach 30 Jahren jetzt – damit setzt die Romanerzählung ein – als Beichtvater
und Prediger an die Öffentlichkeit Madrids tritt. Er ist der „Monk“ des Titels.
Seine Geschichte setzt die eine der beiden Familienlinien fort und beendet sie schließlich. Es ist die Geschichte eines tiefen moralischen Verfalls
und Untergangs. Ambrosio, der zeit seines Lebens in der nüchternen repressiven Klosterwelt vor weltlichen Versuchungen geschützt war und keine Abwehrtechniken gegen diese entwickeln konnte, wird im Moment der
scheinbaren Vollendung seines heiligenmäßigen Status als verehrter Prediger und gesuchter Beichtvater in der vornehmen Madrider Gesellschaft innerhalb des Klosters vom Teufel verführt. Dieser weckt in Person der schönen Matilda seine unterdrückte Sexualität, befriedigt sie in dieser Gestalt
und stachelt sie dann zu immer hemmungsloserem, unersättlichem Verlangen an. Nachdem Ambrosio Matildas überdrüssig geworden ist, richtet er
seine Begierde auf andere Frauen, zunächst – ohne Ahnung ihrer Ver-
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wandtschaft – auf seine Schwester Antonia. Als er beim Versuch, sie zu vergewaltigen, von Elvira überrascht wird, erwürgt er diese, ohne zu wissen,
dass sie seine Mutter ist. Später bringt er Antonia in seine Gewalt, um seine
Lust endlich an ihr zu befriedigen; anschließend tötet er sie, da sie droht,
ihn zu verraten und ihn anzuklagen. Als seine Gewalttaten schließlich
ruchbar werden und er verhaftet wird, verschreibt er sich zur Befreiung
dem Teufel, lässt sich aber von diesem betrügen und endet in einer öden
Gegend physisch zerschmettert und mit seiner Seele der Hölle überantwortet. Damit ist dieser Familienzweig vollständig und endgültig ausgelöscht.
Zwei Gründe bewirken diesen Untergang letztlich in der Form von
Selbst-Zerstörung: erstens die Mesalliance von Ambrosios Eltern, also die
Verletzung des Gebots der standesgemäßen Ehe, das heißt die falsche
Brautwahl auf der Basis von Liebe, mit der Folge von Verstoßung und Zerrüttung des Zusammenlebens durch das Handeln des Familienoberhauptes,
des Marquis. Und zweitens die Störung der Kindererziehung, namentlich bei
Ambrosio, durch die Repression natürlicher Triebe und die allgemeine
Korrumpierung in der katholischen Kloster-Institution. Die in der intakten
Familie mögliche Sozialisation und Ausbildung guter Anlagen mit Sicherung einer standesgemäßen Kontinuität der Familienlinie wird in der Ersatzgemeinschaft des Klosters pervertiert:
Wär’s ihm vergönnt gewesen, als ein rechtes Weltkind aufzuwachsen,
so hätt’ gar manche Mannestugend er an den Tag gelegt. Er war ja
von Natur aus unternehmend, furchtlos und entschlossen […] Auch
war die Großmut ihm nicht fremd. […] Mit solchen Fähigkeiten ausgestattet, hätt’ er zur Zierde seines Landes werden können, und daß
er sie besaß, hatt’ er in früher Kindheit schon gezeigt, so daß die Eltern ob des Keimens solcher Mannestugend entzückt und hingerissen
waren. Zum großen Unglück aber ward Ambrosio solchen Elternpaares noch als Kind beraubt und einem Anverwandten übergeben, der
einzig wünschte, nie mehr von dem Kind zu hören. Zu diesem
Zweck traute er den Knaben […] jenem einstigen Superior der Kapuziner an […]. Seine Lehrmeister waren mit Fleiß darauf bedacht, all
jene Tugenden zu unterdrücken, deren Großmut und Selbstlosigkeit
in einem Kloster übel am Platz gewesen wären […] Während aber die
Mönche damit befaßt waren, alle Tugenden aus dem Herzen des
Jünglings zu jäten und seinen Gefühlen Zwang anzutun, gestatteten
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sie jedem Laster, dessen er fähig war, sich zu voller Blüte zu entfalten
(Lewis 1971, 296f).6
Wird bei Walpole das ursprüngliche Verbrechen des Usurpators bis in die
dritte und vierte Generation verfolgt und hart bestraft, sozusagen als Sippenhaft, aber auch wegen des Festhaltens am unrechten Besitz, so erscheint
Ambrosio als weitgehend passives, unschuldiges, auch unwissendes Opfer
der Folgen des dünkelhaft-unmenschlichen Verhaltens seines Großvater,
des Marquis: Erst seine moralische Korrumpierung im Kloster macht ihn
schließlich anfällig für die verführerischen Einwirkungen der übernatürlichen Macht des Bösen. Durch all diese Umstände wird seine Schuld vermindert und diese vor allem der katholischen Kirche, dem Standesdünkel
und dem Teufel zugeschrieben. Zufälle und fatale Handlungsverkettungen
tragen zusätzlich zur katastrophalen Entwicklung bei: So sucht Elvira in ihrer prekären sozialen und finanziellen Lage den Beistand des als heiligenmäßig verehrten Ambrosio und stellt dadurch seinen Kontakt zu Antonia
her, und sie will als fürsorgliche Mutter aufgrund ihrer schlechten Erfahrungen mit ihrer eigenen Mesalliance Antonia vor einer ähnlich unglücklichen Ehe bewahren, indem sie die Werbung des wohlhabenden Aristokraten Lorenz um ihre mittellose Tochter unterbindet und diese dadurch des
Schutzes vor den verführerischen Absichten Ambrosios beraubt – auch dies
letztlich Auswirkungen der ursprünglichen Verstoßung durch den Marquis. Trotz dieser Schuldminderung bleibt Ambrosio letztlich für sein Tun
verantwortlich.
Die zweite Plot-Linie betrifft die Liebesgeschichte von Raymond, dem
Sohn desselben Marquis de las Cisternas mit seiner zweiten Frau, und
Agnes, der Tochter des Herzogs Gaston de Medina und seiner Frau Inesil6
“Had his Youth been passed in the world, He would have shown himself possessed of many
brilliant and manly qualities. He was naturally enterprizing, firm, and fearless […] There was
no want of generosity in his nature […] With such qualifications, he would have been an ornament to his Country: that he possessed them, he had given proof in his earliest Infancy, and
his Parents had beheld his dawning virtues with the fondest delight and admiration. Unfortunately, while yet a Child He was deprived of those Parents. He fell into the power of a Relation
[sein Großvater, der Marquis, P. H.], whose only wish about him was never to hear of him
more; For that purpose He gave him in charge to […] the former Superior of the
Capuchins […] His Instructors carefully repressed those virtues, whose grandeur and disinterestedness were ill-suited to the Cloister […] While the Monks were busied in rooting out his
virtues, and narrowing his sentiments, they allowed every vice which had fallen to his share,
to arrive at full perfection.” (Lewis 1980, 236f).
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la. Agnes hat ein ähnliches Schicksal erlitten wie Ambrosio: Ihre Mutter Inesilla hatte während einer Krankheit das Gelübde abgelegt, im Falle der
Genesung aus Dankbarkeit gegenüber der angerufenen Heiligen ihre Tochter Agnes in ein Kloster zu geben. Nach dem Tode der Eltern verweilt
Agnes zunächst bei ihrer Tante Rodolpha und deren Mann auf dessen
Schloss in Deutschland, streng abgeschirmt in Vorbereitung auf den Klostereintritt. Dort begegnet sie Raymond, und sie verlieben sich ineinander.
Alle Ansätze zur Befreiung von Agnes und Erfüllung der Liebe schlagen
hier und später immer wieder fehl, erweisen sich geradezu als kontraproduktiv. So missversteht Rodolpha Raymonds Bemühung, ihre Zuneigung
zu gewinnen, um sie günstig für die Freilassung ihrer Nichte zu stimmen,
als Liebeserklärung an sie selbst, die ihr sexuelles Verlangen weckt. Aber
als sie die wahre Situation erkennt, schlägt ihr Verlangen in Eifersucht um
und führt zur Verschärfung ihres Widerstands. Raymond beschreibt die
ausweglose Lage folgendermaßen:
Nun wußte ich nicht aus noch ein: der Aberglaube von Agnes’ Eltern
im Verein mit der unseligen Leidenschaft solcher Tante – dies legte
sich unserer Vereinigung als ein schier unüberwindliches Hindernis
in den Weg! (170).7
Agnes versucht trotzdem mit Raymond zu fliehen, indem sie die allgemein
gefürchtete Spukerscheinung der „Bleeding Nun“ Beatrice als Tarnung nutzen. Doch als der Fluchtversuch scheitert und Raymond verschwunden ist,
sie gar verlassen zu haben scheint (ein Verdacht, den ihre Tante gezielt
schürt), nimmt Agnes schließlich – gehorsam gegenüber den elterlichen
Wünschen, wenngleich gegen die eigene Neigung – den Schleier und tritt
als Nonne in ein Madrider Kloster ein. Raymond jedoch, der von dem tatsächlich erschienenen Geist der „Bleeding Nun“ bedrängt worden war und
diesen erst bannen musste, macht Agnes’ Aufenthaltsort endlich ausfindig
und besucht sie heimlich im Kloster. Dort geben sie schließlich ihrer Leidenschaft nach, und Agnes wird schwanger. Agnes’ Entwicklung ähnelt bis
zu einem gewissen Grade strukturell der Ambrosios mit dem gewichtigen
Unterschied allerdings, dass ihre und Raymonds sexuelle Leidenschaft
7
“I knew not what course to take: The superstition of the Parents of Agnes [d. i. das Gelübde
der Mutter. P. H.], aided by her Aunt’s unfortunate passion, seemed to oppose such obstacles
to our union as were almost insurmountable” (137).
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Peter Hühn
einen sehr persönlichen Bezug hat und dass ihr Ziel die Ehe und Gründung
einer Familie ist und nicht die bloße Befriedigung des Verlangens.
Der weitere Plot-Verlauf besteht aus wiederholten Versuchen Raymonds, Agnes aus dem Kloster zu befreien und sie zu heiraten – was lange
Zeit an immer neuen Widerständen scheitert: So wird ein Fluchtplan durch
Mitwirken Ambrosios zufällig der Äbtissin verraten und von ihr vereitelt.
Weil diese einen Ansehensverlust ihres Klosters bei Bekanntwerden von
Agnes’ Schwangerschaft fürchtet, hintertreibt sie deren Entlassung. Und
obwohl Raymonds Freunde schließlich die Auflösung von Agnes’ Gelübde
durch den Papst beibringen, kerkert die Äbtissin sie mit ihrem (inzwischen
gestorbenen) Baby ein und verbreitet die falsche Nachricht ihres Todes.
Ein in seinen Hintergründen signifikantes schauerliches Hindernis hatte
sich vorher bei dem erwähnten Fluchtversuch im Schutze der Geistererscheinung der „Bleeding Nun“ Beatrice aus dem Schloss von Agnes’ Tante
ereignet. Statt Agnes hat Raymond plötzlich die spukende Nonne bei sich
und kann sich von ihr nur durch das Versprechen befreien, ihre Gebeine in
Spanien zur ewigen Ruhe zu betten. Die Geschichte dieser blockierenden
„Bleeding Nun“ Beatrice ähnelt dem Schicksal Ambrosios und Agnes’: Es
handelt sich um eine Angehörige derselben Familie der de las Cisternas, zu
der auch Ambrosio und Raymond gehören, aus einer früheren Generation.
Beatrice, gegen ihren Willen in ein Kloster gebracht, war nach Deutschland
zu den Vorfahren von Rodolphas Mann entlaufen, hatte sich dort in Affären verstrickt und einen Mord aus Leidenschaft begangen, ehe sie selbst erstochen wurde – und spukt seitdem, da sie nicht beerdigt wurde. Die unheilvollen Folgen der Klostereinkerkerung Beatrices, die wie bei Ambrosio
zu Begierde und Mord führen, blockieren die an sich erlaubte Erfüllung
des Liebesverlangens von Raymond und Agnes, die unter denselben Beschränkungen aufgewachsen ist.
Am Ende kommt Agnes dann durch Hinweise wohlmeinender Nonnen
frei: Die weltliche Ordnungsmacht greift ein; und eine wütende Volksmenge bestraft Agnes’ Peiniger und zündet das Kloster an. Die Liebenden können endlich heiraten und eine Familie gründen – die Realisierung des modernen Prinzips der Liebesehe, aber unter Bewahrung der ständischen
Regeln innerhalb der noch archaischen Gesellschaft Spaniens.
Die Familiengeschichten in Lewis’ The Monk sind komplexer als bei Walpole: Auch hier geht es noch um aristokratische Familien und deren Bewahrung oder Gründung unter dem normativen Aspekt der standesgemä-
Schauerliche Familiengeschichten: zur Plot-Struktur englischer ‚Gothic Novels‘
97
ßen Gleichrangigkeit. Erzählt werden sowohl die Gründung einer (auf Liebe basierenden) Familie gegen lang anhaltende Widerstände als auch, zum
Kontrast, der sich beschleunigende Prozess von Zusammenbruch und
Selbstzerstörung eines Familien-Verbandes bei Verletzung der ständischen
Norm. Das Neue an dieser Darstellung besteht in zweierlei. Zum einen hat
sich die primäre Handlungsmotivation gegenüber Walpole verändert. Sie
besteht hier in der Sexualität als einem fundamentalen menschlichen
(nicht-rationalen) Trieb, der in der Sozialisierung innerhalb der Ehe – in
Kombination mit sozialer Gleichrangigkeit – harmonische und dauerhafte
Familiengeschichten begründet, der aber – rigoros unterdrückt und tabuisiert – gewaltsam ausbricht, sowohl das Individuum selbst als auch enge
soziale Beziehungen zerstört. Diese Auswirkungen werden in den beiden
gegensätzlichen Familiengeschichten vorgeführt. Zum andern entstammen
die Widerstände und Hindernisse gegen gelingende Familiengeschichten
der vormodernen theokratischen Herrschaft der katholischen Kirche, die
nicht nur ein eigenes jenseits-orientiertes Normensystem vertritt (das im
Roman auf die Unterdrückung der Sexualität zugespitzt erscheint), sondern mit der Klosterinstitution vor allem ein diesen Normen verpflichtetes
Gemeinschaftsmodell vertritt, das mit der Familie rivalisiert und den Menschen in seiner Kreatürlichkeit und Menschlichkeit korrumpiert.
Relevanz und Funktion der Familiengeschichte als zentrale Plotstruktur
sind sozialgeschichtlich bestimmt – als Manifestation des traditionellen
(und konservativen) Prinzips der Gesellschaftsorganisation über die (aristokratische) Familie und den Clan. Sie wird in diesen beiden Romanen
durch fremde soziale Phänomene in ihrer Geltung infrage gestellt. Dies geschieht zum einen durch die moderne soziale Mobilität (durch Aufsteiger)
und, weniger prononciert, die moderne individuelle (Klassengrenzen ignorierende) Liebe besonders bei Walpole, aber hinsichtlich der Gonzalvo/Elvira-Familie auch bei Lewis und zum andern durch die archaische theokratische Institution der (katholischen) Kirche und besonders des Klosters als
familienähnliche Gemeinschaft bei Lewis. Bei Walpole wird der traditionelle Familienstatus nach seiner Störung wiederhergestellt, unterstützt von einer übermenschlichen Macht, aber die Liebe (Theodores für Matilda) kann
hier nicht integriert werden. Bei Lewis wird sie, wenngleich erst gegen fast
unüberwindliche Hindernisse, neu etabliert, doch die übernatürlichen Mächte sind ambivalent: Sie strafen einerseits massiv die normwidrig begründete Familie bis in die unwissende, unschuldige Enkelgeneration, behindern
98
Peter Hühn
andererseits – wenigstens im Fall der (allerdings selbst-provozierten) Intervention der „Bleeding Nun“ – die Realisierung der normkonformen Liebesverbindung.
Mar y S h el l ey: Fra nke nste i n
Frankenstein or The Modern Prometheus (1818)/Frankenstein oder der moderne
Prometheus von Mary Shelley stellt eine spätere Stufe der Entwicklung der
‚Gothic Novel‘ im Kontext der Romantik dar, in der sich das Streben des
Protagonisten von der Erhaltung oder Etablierung einer (normalen,
menschlichen) Familie fort letztlich auf deren Vermeidung oder Umgehung
verschoben hat (Homans 1995 und Davison 2009). Victor Frankenstein
wächst in einer intakten, idealen, ihn liebevoll erziehenden Familie auf,
verlobt sich später mit der Tochter einer befreundeten Familie, Elizabeth,
und schickt sich somit an, die eigene Familienlinie normkonform fortzusetzen. Doch schon in seiner Jugend hat ihn ein leidenschaftlicher Wissensdurst ergriffen, ein naturwissenschaftlich-technisches Interesse, das ihn anderen Menschen entfremdet und ihn zu Studien an die Universität treibt.
Aus diesem Antrieb entwickelt sich schließlich insbesondere die Idee und
das Verlangen, künstlich neues Leben zu erschaffen. Für die Entstehung einer derartigen Mentalität ist höchst signifikant, dass dieser Roman nicht
wie die von Walpole und Lewis in vormodernen katholischen Ländern
Südeuropas angesiedelt ist, sondern in der mitteleuropäischen protestantischen Schweiz (Genf) und an einer deutschen Universität im 18. Jahrhundert, also in einer Epoche der beginnenden Modernisierung. Es gelingt
Frankenstein, das Prinzip der Lebenserzeugung zu entdecken:
[…] gelang es mir, das Geheimnis des Ursprungs und der Entstehung
des Lebens zu ergründen – ja, nun war ich sogar selbst dazu in der
Lage, lebloser Materie Leben zu schenken. Aus der Verwunderung,
die ich zunächst angesichts meiner Entdeckung empfand, wurde bald
Begeisterung und Entzücken. Nach so langer und qualvoller Arbeit unvermittelt den Gipfel all meiner Sehnsüchte zu erreichen, war ein überaus befriedigender Lohn für meine Mühen (Shelley 2006, 47).8
8
“I succeeded in discovering the cause of generation and life; nay, more, I became myself capable of bestowing animation upon lifeless matter […] The astonishment which I had at first ex-
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Er erschafft dann tatsächlich ein menschliches Wesen, die namenlos bleibende Kreatur („creature“ oder „daemon“). Dieser Akt tritt, wie die sexuellen Konnotationen in der zitierten Passage implizieren, an die Stelle der natürlichen Zeugung eines Sohnes und umgeht die Funktion der Frau bei der
Fortpflanzung. Die Familie als Institution für Erhalt und Fortführung
menschlicher Gesellschaft wird ersetzt durch die gottgleiche Potenz des genialen (männlichen) Einzelnen:
Eine neue Spezies würde mich als ihren Schöpfer und Ursprung verehren, viele glückliche und vortreffliche Kreaturen würden mir ihr
Dasein verdanken. Kein Vater würde je die Dankbarkeit seines Kindes so sehr verdienen wie ich die ihre (49).9
Doch diese Ersetzung der Familie misslingt in jeder Hinsicht und führt zur
Zerstörung sowohl von dieser Ersatzinstitution als auch von Frankensteins
eigener Familie. Es beginnt damit, dass er sich vor der Hässlichkeit seines
Geschöpfes entsetzt, es verstößt und ihm damit die Anerkennung und Sozialisation vorenthält, die es zu seiner gedeihlichen Entwicklung braucht,
also seine Pflichten als ‚Vater‘ fundamental verletzt. Er treibt es so in die absolute Isolation des Ausgestoßenen. Die vom ‚Vater‘ verweigerte Erziehung
kann dann allerdings in gewisser Weise stellvertretend durch die Familie
der De Lacey, nachgeholt werden, deren tägliches Leben er aus einem
Schuppenanbau belauscht, sodass er mit Sprache, Literatur, Kultur und
Umgangsformen vertraut gemacht wird. Doch als er direkten Kontakt mit
dieser Familie aufnehmen will, wird er auch hier aufgrund seines Aussehens verstoßen. Diese zweimalige Verstoßung löst in dem eigentlich gutwilligen, sich nach Gemeinschaft sehnenden Geschöpf allgemeine Aggressivität und Rachegelüste besonders gegenüber seinem Schöpfer aus:
Ich trug, wie Satan persönlich, eine Hölle in mir, und da es niemanden gab, der Mitleid mit mir hatte, wollte ich die Bäume ausreißen,
Chaos und Vernichtung um mich verbreiten, um mich dann niederzulassen und an der Zerstörung zu ergötzen […] In diesem Augenperienced on this discovery soon gave place to delight and rapture. After so much time spent
in painful labour, to arrive at once at the summit of my desires, was the most gratifying consummation of my toils” (Shelley 1992, 51).
9
“A new species would bless me as its creator and source; many happy and excellent natures
would owe their being to me. No father could claim the gratitude of his child so completely as
I should deserve theirs” (52f).
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Peter Hühn
blick schwor ich der menschlichen Spezies und insbesondere dem,
der mich geschaffen und mich in dieses unerträgliche Elend geschickt
hatte, immerwährenden Krieg (147).10
Und:
Ich bin bösartig, weil ich unglücklich bin (157).11
Dieser Gewalttätigkeit fallen dann Frankensteins eigene und seine zukünftige Familie sowie sein Freund zum Opfer. Das Geschöpf bringt seinen Bruder um und mittelbar dessen Kindermädchen und tötet später seinen
Freund Clerval sowie, kurz vor der Hochzeit, seine Verlobte Elizabeth,
woraufhin auch noch sein Vater stirbt. Vor dieser letzten Gewalttat hatte
Frankenstein seinem Geschöpf überdies die Gründung einer eigenen Familie verweigert, indem er seine Bitte zurückwies, ihm eine Gefährtin zu erschaffen und dadurch seine Einsamkeit zu lindern:
Unsere Leben werden nicht glücklich sein, aber harmlos und frei von
der Pein, die ich jetzt empfinde. Oh, mein Schöpfer, mache mich
glücklich! […] Laß mich erleben, wie ich die Liebe eines lebendigen
Wesens gewinne (158).12
Selbst Frankenstein erkennt zunächst die Berechtigung dieser Bitte um ein
fundamentales kreatürliches Recht an:
[…] spürte ich, daß seine Schlußfolgerungen nicht unberechtigt waren. Seine Geschichte und die Gefühle, die er nun zum Ausdruck
brachte, bewiesen, dass er eine überaus empfindsame Kreatur war
(158).13
10
“I, like the archfiend, bore hell within me, and finding myself unsympathised with, wished
to tear up the trees, spread havoc and destruction around me, and then to have sat down and
enjoyed the ruin […] from that moment I declared ever-lasting war against the species, and,
more than all, against him who had formed me, and sent me forth to this insupportable
misery” (132).
11
“I am malicious because I am miserable” (140).
12
“Our lives will not be happy, but they will be harmless, and free from the misery I now feel. Oh!
my creator, make me happy; let me feel the sympathy of some existing thing […]” (141).
13
“I felt that there was some justice in his argument. His tale [das heißt die Erzählung seines
bisherigen Lebens, P. H.], and his feelings he now expressed, proved him to be a creature of
fine sensations” (141).
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Dann überkommt ihn Furcht vor der Entstehung einer neuen, der Menschheit vermutlich feindlichen Rasse. Als Reaktion seinerseits auf die Gewalttätigkeit seines Geschöpfes versucht er dieses zu töten, also seine Schöpfung rückgängig zu machen, wobei beide am Schluss umkommen.
Die Familie als soziale Einheit und gesellschaftliches Organisationsprinzip löst sich in Shelleys Frankenstein gänzlich auf – ersetzt zunächst durch
das sich autonom gebärdende Individuum. Doch dieses verwirft schließlich aus Entsetzen über die Ergebnisse seines Schaffens und dessen Folgen
seine Autonomie wieder. Es ergibt sich somit ein pessimistisches Fazit aus
der Abfolge dieser drei ‚Gothic Novels‘: Die traditionelle Institution der Familie verliert am Schluss die Funktion als tragfähiges Organisationsprinzip
der Gesellschaft; das moderne Individuum, das mit seiner Schaffenskraft
bei Shelley diese Rolle zunächst für sich beansprucht, erweist sich (noch)
als zu schwach. Es tritt hier im Übrigen keine übernatürliche Macht mehr
auf: Die katastrophalen Entwicklungen sind letztlich ‚natürliche‘ – psychische – Auswirkungen der Aktivitäten Frankensteins, der als Wissenschaftler gewissermaßen die Rolle Gottes übernimmt, sie letztlich aber nicht aufrechterhalten kann.
Die drei untersuchten Romane zeigen eine klare Veränderung in Struktur und Funktion der Familie auch in Bezug auf den Stellenwert individueller Liebe. In The Castle of Otranto erhält das ständisch-genealogische Prinzip bei der Konstitution der Familie primäres Gewicht, gegenüber dem der
Liebe nur eine untergeordnete Rolle zugebilligt wird. In The Monk ist der
Stand ebenfalls dominant, aber in Verbindung mit der Liebe: Eine standeswidrige Liebesehe wird bestraft, eine standeskonforme ermöglicht, Leidenschaft ohne Familie und Ehe verdammt. Frankenstein verwirft die Familie
gänzlich, zugunsten des Individuums wie es zunächst scheint, aber auch
dieses erweist sich nicht als tragfähige Alternative.
Einige Schlussfolgerungen
Neben der (scheiternden beziehungsweise gelingenden) Familiengeschichte als Strukturierung der ‚Gothic Novel‘ ist ein weiterer Plot-Aspekt signifikant: das Problem der Handlungskontrolle, also die Frage, wer oder was
den Fortgang des Geschehens steuert. Darin zeigen sich Unterschiede zwischen den Romanen. Bei Walpole hatte der Usurpator Ricardo das Gesche-
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Peter Hühn
hen noch erfolgreich kontrollieren können. Auch sein Enkel, Manfred, versucht dies durch seine Heiratspolitik zur Sicherung der eigenen Position,
scheitert aber, nicht primär durch Aktivitäten der rechtmäßigen Erben, sondern wegen des Eingreifens einer überpersönlichen Macht auf deren Seite.
Erst zusammen mit dieser ihnen wohlgesonnenen Macht – eng assoziiert
mit der Statue des Ahnherrn Alfonso, also dem traditionellem Recht – gelingt es Theodore und Jerome, das Erbe wiederzuerlangen. Bei Lewis jedoch fehlt den Menschen weitgehend die Fähigkeit, den Gang der Ereignisse zu bestimmen. Dies liegt zum einen an der Übermacht irrationaler
Triebe, die Eingriffsmöglichkeiten für das personifizierte Böse bieten (im
Falle Ambrosios), zum anderen an den zahlreichen (unpersönlichen) fatalen Zufällen und paradoxen Verkettungen, also an der perversen Widerständigkeit der Wirklichkeit (im Falle von Agnes und Raymond). Menschliches Handeln produziert immer wieder konträre Resultate. Verstärkt wird
dieser Kontrollverlust durch die enge Beschränktheit menschlichen Bewusstseins: Besonders Ambrosios Schicksal zeigt, dass er sich selbst nicht
in seinen Trieben durchschaut und sich selbst betrügt. Die übernatürliche
Macht, wo sie in diesem Roman eingreift, tut dies einerseits strafend gegen
den korrumpierten Ambrosio, andererseits gegen Raymond und Agnes als
Zeichen ihrer Kurzsichtigkeit und mentalen Begrenztheit (allerdings nur
ein einziges Mal, beim Fluchtversuch im Schutze der Geistererscheinung
der „Bleeding Nun“). Nur mühsam und mithilfe anderer, speziell der staatlichen Ordnungsmacht, gelingt ein glückliches Ende für das liebende Paar.
Bei Shelley scheitert menschliche Steuerung vollends, obwohl die Schöpfung der Kreatur ein besonders triumphaler Beweis für erfolgreiche
menschliche Schaffenskraft ist und übernatürliche Mächte gar nicht mehr
in Erscheinung treten. Das Ausmaß des Scheiterns menschlichen Handelns
zeigt sich eklatant daran, dass Frankenstein die Folgen seines bewussten
Tuns radikal verwirft und alles daran setzt, es wieder rückgängig zu machen.
Diese zwei Aspekte der Familiengeschichten in den untersuchten Schauerromanen lassen sich als Indizien der im Zuge der Modernisierung zunehmenden Komplexität gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse deuten:
der Verfall der gesellschaftsbildenden Macht der Familie und der Verfall
der Effektivität rationaler Handlungssteuerung. Parallel dazu schwindet
stufenweise die normstützende Funktion übernatürlicher phantastischer
Mächte: Sie sind bei Walpole eindeutig positiv im Sinne der Rehabilitie-
Schauerliche Familiengeschichten: zur Plot-Struktur englischer ‚Gothic Novels‘
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rung der herkömmlichen Ordnung, bei Lewis ambivalent, bei Shelley als
solche nicht mehr vorhanden oder lediglich in der irdischen Form der wissenschaftlichen, aber nicht minder gefürchtet.
Es ist insgesamt interessant, dass die Probleme des Wandels in der Moderne in diesen Schauerromanen nicht nur durch überindividuelle, teilweise irdische Mächte gelöst beziehungsweise erst hervorgetrieben werden,
sondern dass dies auch im Medium von Familiengeschichten, also narrativ,
geschieht. Auch hier fungiert die Familie gewissermaßen als Metonymie
für allgemeine soziale Prozesse.
Li t e rat u r
P r i m ä r l i te r a t u r
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104
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