4.3 Wandlungen einer Utopie der ästhetischen Existenz: Die
Transcription
4.3 Wandlungen einer Utopie der ästhetischen Existenz: Die
Das Wunderbare als Antriebsfaktor im Wirklichkeitsmärchen 157 In Langbeins Märchen befreit der Förster Rudolf eine schwarze Spinne aus einem Baumstamm, lehnt es aber ab, sich vom Teufel, der ihm alsbald im feuerroten Rock entgegentritt, dafür bezahlen zu lassen. - Sein künftiger Schwiegervater, der Krämer Griffling, hat dagegen keine Bedenken, die Tochter Leonore an einen Strohmann des Teufels zu verhökern, nur weil ihm sozialer Aufstieg winkt. - In diesem Zusammenhang gelingt Langbein eine burleske Metamorphose, die anschaulich die Mechanismen einer provozierten Geldentwertung durch die Bildersprache des Wunderbaren entlarvt: Der kleine Mann glaubt einen kräftigen Schnitt gemacht zu haben, aber der Teufel zeigt ihm, wer auf dem Kapitalmarkt das Sagen hat. Als seine Pläne scheitern, verwandelt sich das Gold in den Beuteln, die er so großzügig verteilt hat, in Kohlestückchen und Flaschenkorken! Der immobile Förster und die tränenselige Leonore gehören zu den Spiegelbildern resignativen Bewußtseins, das den deutschen Kleinbürger in der Restaurationszeit kennzeichnet. Als Biedermeier-Liebespaar stellen die beiden keine politisch lästigen Forderungen an die autoritäre Vätergeneration, sondern möblieren ihr bescheidenes Glück-im-Winkel. (Vgl. auch GottheIf: "Die schwarze Spinne" 1842; III, 4.5.3) 4.3 Wandlungen einer Utopie der ästhetischen Existenz: Die Märchenwelt des Ernst Theodor Amadeus Hoffmann 4.3.1 Kapellmeister Kreisler als Erfolgsautor Im Oktober 1814 kehrte Ernst Theodor Amadeus Hoffmann (1776-1822), preußischer Regierungsrat a.D., reumütig nach Berlin in den Justizdienst zurück. Als "Kapellmeister Kreisler" hatte er in Literatenkreisen schon einen geachteten Namen, und der 3. Band seiner "Fantasiestücke in Callot's Manier", den sein Bamberger Saufkumpan Carl Friedrich Kunz (1785-1849) zur Michaeli-Messe 1814 mit der Erzählung: "Der goldne Topf. Ein Märchen aus der neuen Zeit", herausbrachte, machte ihn endgültig berühmt. Taschenbuchverleger begannen sich um den "Verfasser der Fantasiestücke" zu reißen; sein Bogenhonorar kletterte rasch von 8 auf 43 Reichstaler, und die entsprachen, bei bescheidenen Ansprüchen, etwa dem monatlichen Existenzminimum. Damit gehörte Hoffmann, für rund ein Jahrzehnt, zu den höchstbezahlten und meistgelesenen deutschen Autoren. Geld hatte er trotzdem nie. Als Napoleons Armee bei Jena und Auerstedt (1806) halb Preußen von der Landkarte fegte, verlor auch Hoffmann seinen Staatsposten in Warschau. Von 1808 bis 1813 lebte er als freier Künstler, der sich aus Mozart-Verehrung den Namen Amadeus zugelegt hatte (1809), als Kapellmeister, Bühnenbildner, Theaterkomponist und Musiklehrer in Bamberg. Diese "Lehr- und Marterjahre" beendete er als gescheiterte Existenz. Die hoffnungslose Leidenschaft für seine blutjunge Gesangsschülerin Julia Marc (1796-1865) trieb ihn 1813 nach Dresden, wo er sich als Dirigent der Operntruppe von Joseph Seconda anschließen sollte. Unterwegs geriet er in die Aufmärsche und Das Wunderbare als Antriebsfaktor im Wirklichkeitsmärchen 158 Gefechte, die im Spätherbst 1813 zur Entscheidungsschlacht bei Leipzig führten. Hoffmann erlebte Infanteriescharmützel und Artillerieduelle und hetzte mit seiner Theatertruppe zwischen Dresden und Leipzig hin und her. Seine Frau Mischa wurde bei einem Reiseunfall schwer verletzt; ihn selbst kostete eine epidemische Diarrhö, eine Folge der Hungersnot, beinahe das Leben. Als Augenzeuge der Schlacht von Dresden (August 1813) flog er ums Haar mit einem Pulverwagen in die Luft. - Kaum war der Krieg zu Ende, machte ihn ein Rheumatismus wochenlang zum Krüppel. Dann bekam er Krach mit Seconda und wurde gefeuert. Monatelang fast am Verhungern, schrieb er Bettelbriefe an seinen Jugendfreund, den Kammerpräsidenten Theodor von Hippel (1775-1843), der seine Beziehungen nützte, um Hoffmanns Rückkehr an die preußische Staatskrippe zu arrangieren. Der freie Künstler hatte kapituliert ... 4.3.2 Die Flucht des Ästheten in das Reich des Schönen: "Der goldne Topf" (1814) Unter derart katastrophalen Produktionsbedingungen entwarf Hoffmann die ersten Skizzen zum" Goldnen Top!", begann die Niederschrift, führte einen intensiven Briefwechsel mit seinem Verleger und fertigte die Reinschrift für den Druck an. Die "nahezu schwerelose Anmut" (Werner) spiegelt fast nichts von seiner persönlichen Bedrängnis. Im Gegenteil: Das Märchen half ihm, unerträgliche Lebensumstände zu kompensieren. "In keiner als in dieser düstern verhängnißvollen Zeit", beschrieb er Kunz den therapeutischen Effekt seiner Märchendichtung, "wo man seine Existenz von Tage zu Tage fristet und ihrer froh wird, hat mich das Schreiben so angesprochen - es ist, als schlösse ich mir ein wunderbares Reich auf, das aus mein[em] Inneren hervorgehend und sich gestaltend mich dem Drange des Aüßern entrückte -" (19.8.1813).1 Das Märchen vom" Goldnen Topf" ist also Eskapismus in ein Reich der Träume und Ekstasen, ist Wirklichkeitsflucht in E. T. A. Hoffmanns besonderer Manier: Hinter der Liebesgeschichte zwischen dem Studenten Anselmus und dem Schlänglein Serpentina steht die Utopie einer ästhetischen Existenz, ein Thema, das Hoffmann in seinen Märchen immer wieder variierte. Denn der Künstler und Individualist fordert für den "ästhetischen Menschen" (Spranger) das Recht auf Rückzug in den Privatbereich der Kunst, auf Abkehr von gesellschaftlichen und ökonomischen Zwängen und übersetzt die Problematik seiner eigenen schwierigen Existenz in Märchenhandlung. 4.3.2.1 Ein Märchenheld zwischen zwei Welten Anselmus, ein weltfremder Tölpel , eckt mit seiner überschüssigen Motorik überall an 2, ahnt aber hinter der Kulisse einer banalen Wirklichkeit das Wunderbare. Erzähltechnisch stellte sich damit für den dichtenden Kapellmeister das Problem Das Wunderbare als Antriebsfaktor im Wirklichkeitsmärchen 159 der "epischen Integration des Wunderbaren" (Rockenbach) in die Wirklichkeit. Über diese neuartige Konzeption des Wunderbaren gibt der erwähnte Brief an Kunz nähere Auskunft: "Mich beschäftigt die Fortsetzung [der Fantasiestücke] ungemein, vorzüglich ein Mährehen das beynahe einen Band einnehmen wird - Denken Sie dabey nicht, Bester! an Schehezerade und Tausend und Eine Nacht - der Turban und türkische Hosen sind gänzlich verbannt - Feenhaft und wunderbar aber keck ins gewöhnliche alltägliche Leben tretend und sei[ ne] Gestalten ergreifend soll das Ganze werden."3 Der Brief enthielt auch eine Skizze zum Handlungsfortgang. Danach war der goldne Topf als juwelenbesetzter Nachttopf gedacht, bei dessen Benützung sich der mit der grünen Schlange vermählte Jüngling in einen Meerkater verwandelt. Zum Glück hat Hoffmann diese plumpen Effekte nicht in die Endfassung übernommen. 4.3.2.1.1 Handlungsgrundriß Der weltfremde, zappelige, in dürftigen Verhältnissen lebende Student Anselmus besitzt nicht nur die Gabe, im entscheidenden Moment das Falsche zu tun, sondern auch am hellichten Tage mitten in Dresden Wunderbares zu erleben: "Am Himmelfahrtstage, nachmittags um drei Uhr" (S. 179) rennt er am Schwarzen Tor den Korb eines Äpfelweibs um. Da er den angerichteten Schaden bezahlen und deshalb auf das Volksfest im Linkischen Bade verzichten muß, begegnet er unter einem Holunderbusch drei sprechenden und singenden goldgrünen Schlänglein, den Töchtern des königlich geheimen Archivarius Lindhorst, der eigentlich ein in das gemeine Leben verbannter Elementargeist ist. Registrator Heerbrand, ein Bekannter, vermittelt Anselmus den Auftrag, gegen solide Speziestaler für Lindhorst arabische und koptische Manuskripte abzuschreiben. Zwar greift das Äpfelweib vom Schwarzen Tor, die Hexe Liese Rauerin, als feindliches Prinzip immer wieder in sein Leben ein; trotzdem gelingt es Anselmus, in Lindhorsts "Bibliothek der Palmbäume" (S. 224), von dessen Tochter Serpentina liebevoll angeleitet, die Arbeit an den Manuskripten aufzunehmen. Sie versetzten ihn in eine mythische Vorzeit und poetische Wunderwelt. Aber ein Blick in den Metallspiegel, den die Hexe in der schauerlichen Äquinoktialnacht im Herbst gegossen hat, wirft Anselmus in die Kleinbürgermentalität zurück; denn der Spiegel lenkt des Anselmus Liebe zu Serpentina auf Veronika um, auf die blauäugige Tochter des Konrektors Paulmann, den Schützling der Hexe. - Anselmus verliert sein "kindliches poetisches Gemüt" (S. 230); die Zauberwelt in Lindhorsts Haus erscheint ihm schäbig und geschmacklos, und er beschließt, um Veronika zu werben, die von dem eleganten Leben einer "Frau Hofrätin" (S. 205) träumt. - Als Anselmus, trotz Lindhorsts Warnung, ein wertvolles Manuskript mit Tinte bekleckst, erfüllt sich der geheimnisvolle Fluch, den das Äpfelweib am Schwarzen Tor ausgestoßen hatte: er fällt "ins Kristall". Die Palmbäume in Lindhorsts Bibliothek verwandeln sich in feuerspeiende Riesenschlangen; Anselmus ist, "als verdichteten sich die Feuerströme um seinen Körper und würden zur festen eiskalten Masse" (S. 239). - Als er aus einer Ohnmacht 160 Das Wunderbare als Antriebsfaktor im Wirklichkeitsmärchen erwacht, findet er sich in "einer wohlverstopften Kristallflasche auf einem Repositorium" (S. 239) in Lindhorsts Bibliothek wieder. Das platte Geschwätz einiger "Kreuzschüler und Praktikanten", die ebenfalls in Flaschen eingesperrt sind, sich aber pudelwohl fühlen und glauben, von der "Elbbrücke [... ] ins Wasser" (S. 241) zusehen, enthüllt ihm die ganze Enge bürgerlicher Existenz. Deshalb entscheidet er sich endgültig für Serpentina, als der Archivarius vor seinen Augen einen Zauberkampf mit der Hexe um den Besitz des goldnen Topfs austrägt, sie mit den Flammen des Salamanders in eine "garstige Runkelrübe" (S. 244) zurückverwandelt und ihr so ihre wahre Gestalt aufzwingt. Mit Serpentina nach Atlantis entrückt, wo die im goldnen Topf erblühte Lilie ein immerwährendes Glück beschützt, offenbart sich dem zum Dichter gereiften Studenten Anselmus der "heilige Einklang aller Wesen als tiefstes Geheimnis der Natur" (S. 255). Für seine bürgerlichen Freunde bleibt er für immer verschwunden. Veronika aber tröstet sich rasch mit dem rechtzeitig zum Hofrat beförderten Heerbrand. Da der Autor bei der Niederschrift hoffnungslos steckengeblieben ist, greift Lindhorst persönlich ein, um die letzte der zwölf Vigilien vollenden zu helfen. Bei dieser Begegnung deutet Lindhorst dem Autor, der über sein "Dachstübchen" und die "Armseligkeiten des bedürftigen Lebens" klagt, des Anselmus Seligkeit allegorisch als ein "Leben in der Poesie" (S. 255). 4 So endet das Märchen, scheinbar nach den bewährten Mustern der Erzähltradition, mit einer Hochzeit. Aber Hoffmann stellt das klassische Lösungsschema listig auf den Kopf: Während der Volksmärchenheld durch seine Abenteuer für seine Lebensaufgabe reift, entzieht sich der Dichter Anselmus am Ende den handfesten Problemen der Daseinsfristung und eskapiert nach "Atlantis", d. h. in den narzißhaften Selbstgenuß im Reich des Schönen. Für seine Visionen verzichtet er, als ein moderner Hans-im-Glück, auf die Hofrat-Karriere und die hausbackene Veronika. - Im Gegensatz zum eindimensionalen Volksmärchenhelden ist Anselmus eine vielschichtige Figur, die einen Lernprozeß durchläuft, sich verändert und ihrer Berufung zum Dichter inne wird. Diese Psychologisierung und Individualisierung des Helden erlaubt dem Autor, die geschlossene Binnenhandlung in Dresden mit der ins Unendliche geöffneten Atlantis-Erzählung zu verbinden. Das geschieht durch den peinlichen Zwischenfall am Schwarzen Tor, der Anselmus aus der Alltäglichkeit hinaus ins Wunderbare führt und ihn in die Kämpfe verwickelt, die der Salamanderfürst Lindhorst auf der mythischen Handlungsebene mit dem Äpfelweib um den Besitz des goldnen Topfs austrägt. Die Feindschaft der beiden spaltet das Figurenfeld in zwei Lager und schafft eine Konstellation, die Hoffmann, als enthusiastischer Bewunderer des SchellingSchülers Gotthilf Heinrich Schubert (1780-1860), mit allerlei krausem naturphilosophischem Tiefsinn motiviert. Das Wunderbare als Antriebsfaktor im Wirklichkeitsmärchen 161 4.3.2.2 Die Atlantismythe als Genealogie des Wunderbaren Mitten in Dresden tritt das Wunderbare "keck ins gewöhnliche alltägliche Leben", stoßen Lindhorst und das Äpfelweib vor Anselmus die Tore in die Gegenwirklichkeit des Mythos auf. Um das episch zu realisieren, braucht Hoffmann Figuren, die mit wirklichen Persönlichkeitsvalenzen ebenso aufgeladen sind wie mit magischen. Äpfelweib und Archivarius treten daher zunächst als schlichte Bürger auf, gehören aber als Erdgeist bzw. Feuergeist auch dem mythischen Bereich der wunderbar-wirklichen Märchenwelt an. Deshalb stellt Hoffmann den Archivarius Lindhorst zugleich als Sohn des Phosphorus vor, eines Schubertschen Symbols für Liebe und Tod, aus dem höheres Leben entsteht. Lindhorsts Mutter, die Feuerlilie, verkörpert die Anschauung und das glühende Verlangen. 5 Mit deren Tochter, der grünen Schlange, beging Lindhorst Inzest und verwüstete, als sie unter seiner Umarmung zu Asche zerfiel, auch noch den Paradiesgarten. Zur Strafe wurde er in die kümmerliche Menschengestalt verbannt und muß alle Leiden ertragen, die das Bewußtsein verursacht. Er kann allerdings erlöst werden, wenn drei Jünglinge, die den heiligen Einklang aller Wesen der Natur erkennen, seine drei Töchter heiraten, die von der grünen Schlange noch vor ihrem Tod geboren wurden. - Seine Gegenfigur, das Äpfelweib, verkörpert als Erdgeist die chthonischen Kräfte. 6 Als Phosphorus nämlich mit dem Schwarzen Drachen, einer Personifikation des bei Hoffmann allgegenwärtigen feindlichen Prinzips 7 kämpfte, fiel eine Drachenfeder zur Erde und verband sich mit einer Runkelrübe zu eben jenem Dresdner Äpfelweib, das die Partei Veronikas ergreift. So gerät Anselmus, als Student erst ein Werdender, in eine Dreiecksbeziehung zwischen Veronika, dem resoluten, skrupellos auf sozialen Aufstieg versessenen Bürgermädchen, und Serpentina. Aber Serpentina ist keine gewöhnliche Frau, sondern ein Mischwesen aus Mädchen und Schlange, d. h. eine Allegorie der romantischen Poesie. Durch den Einfluß, den Lindhorst und Serpentina aufAnselmus gewinnen, wirken die mythischen Mächte des herrlichen Atlantis in die entfremdete Gegenwart hinein und leiten die Welterlösung durch ein neues Goldenes Zeitalter ein, das ausgerechnet mit dem 1ebensuntüchtigen Träumer beginnt. Anselmus ist ja der erste der drei Jünglinge, durch die Lindhorst erlöst werden kann! Dieses Arrangement wendet die frühromantische Utopie von der Wiederkehr des Goldenen Zeitalters (vgl. III, 3.2) ins Ästhetische; denn Anselmus findet sein Atlantis nur in einem "Leben in der Poesie" (S. 255), d. h. in der Dichtkunst. Im Kontext der Erzählsukzession erscheint es als triadisch entwickeltes 'Märchen im Märchen'. (I) Zunächst erzählt Lindhorst am Stammtisch (3. Vigilie) eine Schöpfungsgeschichte, die den Urzustand der Welt, die Harmonie zwischen Geist und Natur beschreibt. - (Il) In der 8. Vigilie nimmt Serpentina den Faden auf und schildert Anselmus, der ein unverständliches Manuskript kopieren soll, den 'Sündenfall' des Salamanders und den Zustand der Entfremdung von der Natur in der Gegenwart. - In 162 Das Wunderbare als Antriebsfaktor im Wirklichkeitsmärchen der 12. Vigilie erlebt Anselmus, nach Atlantis entrückt, den Beginn derWelterlösung als phantastische Fortsetzung seiner eigenen Biographie. Berichterstatter ist der Autor selbst. - (III) Durch Anselmus' mystische Hochzeit mit Serpentina gewinnt sein Einzelschicksal symbolische Bedeutung für das Weltganze. Hinter diesem dialektischen Mythos stehen Vorstellungen der romantischen Naturphilosophie, die Hoffmann auf dem Umweg über Schubert kennengelernt hat: Schelling beschrieb die Natur als einen lebendigen Organismus, ihren letzten Grund als ein bewußtloses, aber in ständiger Produktivität befindliches geistiges Prinzip, die 'Weltseele' , bzw. die sich durch die Natur offenbarende Gottheit. - Alles bewußte Leben entstand für Schelling aus einer Potenzierung des Unbewußten, dessen Existenz die Psychologen der Romantik durch das 'somnambule Unterbewußte' im Mesmerismus, in Vorahnungen, Träumen oder Sympathien zu beweisen versuchten. In denselben Phänomenen glaubten sie auch die Allverbundheit aller Wesen zu erkennen. Ähnlich wie Schelling stellte sich auch Schubert vor, die 'Weltseele' bringe zwei polare Kräfte hervor, die "Basis" und den "höheren Einfluß", also ein mütterlich-empfangendes und ein väterlich-zeugendes Prinzip. In "kosmischen Momenten" (Schubert) entstehen Pflanzen, aus diesen Tiere, und aus diesen geht schließlich der Mensch hervor. Wie sich die niederen Wesen nach der nächsthöheren Entwicklungsstufe sehnen, sehnt sich auch der Mensch nach der Welt der Poesie und der Religion. "Kosmische Momente" sind ihm in hypnotischer Entrückung vergönnt; denn dann wird ihm der Zusammenhang aller Dinge in der 'Weltseele' bewußt. 8 J. Vigilie: Lindhorsts Erzählung L Stufe: Entstehung von Atlantis S. Vigilie: Serpentinas Erzählung I!. Stufe: Vertreibung aus Atlantis I c. Vigilie: Vision des All tors 111. Rückkehr n>,'h Atl:lnlb in u<r Poesie Mystische Hochzeit r.:l Serpent ina Cl!) 1 'l! .. Sündenfall" des Bewußtseins: Verwüstung des Paradiesgartens vegeta" bilisch Anselmus Vermählung mit der Poesie !L ItJi ~ Atlanti: ti ~ ~ i:l 0.. 8-e; (11 e:.. '" ~ ::1. (11 .e 0- '" ~ ..... ...o S· minera~ ~ lisch 8: ~ ~. ..... S ~: Salamander. Urstoff co. j .. Hasls" l. feindliCh~S I·:hbhm:r PrinzIp Fron,,!\ . / ' t Strafe: Menschengesl:i'ii -~ Lindhorst Struktur der Atlantis-Mythe im " Goldnen Topf" als g. (11 i:l Archivarius In Dresdm ,...... 0\ UJ 164 Das Wunderbare als Antriebsfaktor im Wirklichkeitsmärchen Obgleich Hoffmann allerlei burleske Elemente in die Atlantis-Mythe einführte, nahm er die Schubertschen bzw. Schellingschen Spekulationen als Verheißung eines höheren Daseins nach Tod und Verwesung durchaus ernst. In der AtlantisMythe entspricht die katastrophale Wirkung des in Phosphorus und dem Salamander verkörperten geistigen Funkens Schellings Vorstellungen vom 'Sündenfall', dem Abfall der Ideen von Gott. Für Hoffmann zerstört der "Gedanke", d. h. das rationale Denken, die visionäre Erkenntnisfähigkeit des Unbewußten, vernichtet die unmittelbare Anschauung in der Intuition und trägt jenen tiefen Zwiespalt in die Schöpfung, den die Figur des Schwarzen Drachens symbolisiert. - Es gibt aber ein Zeichen der Hoffnung: Wenn sich, neben Anselmus, zwei weitere Jünglinge finden, die unbeirrbar an die Wirklichkeit der höheren Welt glauben, dann wird der Zwiespalt zwischen Mensch und Natur ausheilen. - Diese von Hoffmann phantasievoll verarbeiteten Spekulationen führen zwar in zentrale Bereiche des philosophischen Ideenguts der deutschen Romantik, erschweren aber den Zugang zu dem meisterhaft erzählten Märchen. (Vgl. Skizze: Figurenkonstellation und Geschehnisraum, S. 166) 4.3.2.3 Zweideutige Märchenwelt Hoffmann legt es darauf an, den Leser durch eine bis zum letzten Satz durchgehaltene Ambivalenz so zu vexieren, daß er nicht sagen kann, wo in der erzählten Welt im "Goldnen Topf" die ihm vertraute Wirklichkeit aufhört und das Wunderbare beginnt. Schrittweise führt er ihn aus einer scheinbar topographisch beglaubigten Stadtlandschaft in eine nur in phantastischen Fluktuationen erfahrbare Gegenwirklichkeit. Dabei suggeriert ein dichtes Netz nachprüfbarer Wirklichkeitssplitter, vom Kreuz auf der "Elbbrücke" (S. 249), über "Conradis Laden" (S. 191), einer Konditorei in der Schloßgasse Nr. 252, bis zur Nennung seinerzeit beliebter Singspiele, einen frappierenden Erzählrealismus; dennoch bleibt die Darstellungstechnik weit von einer realistischen Abschilderung der Stadt Dresden entfernt. Ortsangaben wie Linkisches Bad, EIbe, Elbbrücke, Kreuzkirche, Koselscher Garten, Seetor oder Pirnaer Vorstadt benennen nur den jeweiligen Schauplatz, setzen also den Geschehnisraum "Dresden" als fertigen Vorstellungsinhalt voraus und überlassen es dem Leser, sich vorzustellen was er will oder aus Ortskenntnis weiß. Dieses benennende Darstellungsverfahren erzeugt zunächst die Fiktion topographischer Zuverlässigkeit, sichert dem Märchen zugleich eine schwerelose Transparenz und legt doch - im Gegensatz zum Volksmärchen - die Liebesgeschichte zwischen Veronika und Anselmus in Raum und Zeit fest. - Der Hauptschauplatz dieser Liebesgeschichte, die bescheidene Bürgerwohnung des Konrektors Paulmann, konstituiert sich in der Phantasie des Lesers ausschließlich durch den atmosphärischen Zeichenwert typischer Requisiten wie Klavier, Kaffeekanne, Stickrahmen, Punschterrine und Pfeife als biedermeierliches Das Wunderbare als Antriebsfaktor im Wirklichkeitsmärchen 165 Idyll. Die Enklaven des von der Dresdner Wirklichkeit umschlossenen Wunderbaren bieten dagegen ein durch und durch ambivalentes Erscheinungsbild: Die schäbige Fassade von Lindhorsts "uralte[m] Haus" bei der "Kreuzkirche" (S. 191) tarnt einen orientalischen Märchenpalast; das "kleine rote Häuschen" (S. 208), in dem das Äpfelweib wohnt, changiert, je nach Erzählperspektive, zwischen Hexenküche und Proletarierkate. - Bei Hoffmann beginnt das Wunderbare nicht hinter verbotenen Türen; vielmehr beginnen die Sinneseindrücke seines Helden Anse1mus zwischen Traum und Wirklichkeit zu verschwimmen. Die Begegnung mit den magischen Mächten verändert sein Raumerlebnis derart, daß er zunächst "seltsame Blüten" (S. 225) sieht, die er wenig später als farbenprächtige Insekten identifiziert. Himmelblaue Vögel erscheinen ihm als duftende Blumen, und plötzlich erkennt er, daß er nicht Palmblätter, sondern Pergamentrollen vor sich hat. Die Raumwahrnehmung des Helden ist an seine Gestimmtheit gekoppelt. Damit wird sie psychologisiert, und der Leser muß sich fragen, ob die Figur, die er begleitet, tatsächlich Wunderbares erlebt oder Sinnestäuschungen erliegt. Das fluktuierende Wechselspiel von Illusion und Desillusionierung hat wesentlichen Anteil an der Faszination, die von dem erzählten Wunderbaren im "Goldnen Topf" ausgeht. >-' 0\ 0\ .. erinnerte Zeil .. verlorenes Atlantis .. I Erzählgegenwart ... ambivalentes. Dresden Erfahrungs. ~ witde~efundenes AlJanlis: fcalilät I : mythis..:hc-r Be-rekh ~)Leben I I \ in der Poesie'!" I I I o \l~ 1 <f>", ~ ~ 1\ ? \'>,; I '~f. t:l \~ I I \ P.- ('1,,% \~<- \~ (.A&::' bijJ~-;' a. ~ e:.. rJJ g> ::l. '.ff7.1 rJJ It\f'tr .,o //~~ / . / t' / -13 -cf / / '$ 1# ~ *Sundenfall .. des /~ .. Fall ins Kristall" I Bewußtseins t I: Urzu.'itand der Welt: unhewu1.\te Lindhonil.5 ~rmonje von Geist und Natur Ve.bannung g. / / "'~ <>; 'I 11: 111: Entfremdung im gegenwärti~eJ1 Ze-italter .. Heiliger Einklang aller Wesen" Figurenkonstellation und Geschehnisraum im "Goldnen Topf", Die triadische Denkfigur in der Atlantis-Mythe ~ ...... §' ~ S: ~ ...... S e;: g. o t:l Das Wunderbare als Antriebsfaktor im Wirklichkeitsmärchen 167 4.3.2.4 Magische Zeit Auch das Zeitgefüge, in das Hoffmann seine Märchenwelt einrüstet, ist Gegenstand eines raffinierten Spiels. Scheinbar realitätsgerecht richtet sich die Handlung nach dem Kirchenkalender und dem Schlag der Dresdner Kirchenturmuhren, aber das Strömen des Zeitkontinuums ist nur vorgetäuscht. Zwar markieren Zeitangaben, die mit der Uhr bestimmt werden können, die Handlung; aber "Mitternacht" und "Dämmerung" sind auch "magische Zeiten" (Miller), die vor allem der Sphäre des Wunderbaren angehören. Ebenso selbstherrlich, wie der Erzähler den dreidimensionalen Raum in Dresden aufreißt, um den Mythos als vierte Dimension darüberzustülpen, spielt er mit der Kirchturmzeit seiner Bürger, die der Mythos schließlich ad absurdum führt. Erinnerte Zeit verknüpft das Dreiecksverhältnis zwischen Anselmus, Veronika und Serpentina mit einem Schöpfungsmythos und einer Erzählung vom Paradies (3. Vigilie). - Ganz unvermittelt sprengt aber der miterzählte Erzähler (Archivarius Lindhorst am Stammtisch) den pathetisch vorgetragenen Mythos durch erinnerte Zeit von spaßig-anachronistischer Diskontinuität auf: Phosphorus ist "nur höchstens dreihundertfünfundachtzig Jahre" (S. 194) tot, weshalb sein Sohn (Lindhorst) selbstverständlich noch immer Trauer trägt. Das hindert Phosphorus aber nicht daran, von der Bahre aufzuspringen und Lindhorsts Bruder, diesen pietätlosen Burschen, die Treppe hinunterzuwerfen, weil er Streit angefangen hat, worauf dieser stehenden Fußes unter die Drachen geht. - Die erinnerte Zeit des Mythos mündet schließlich in die Anselmus-Handlung ein und führt sie bis zu dessen Sezession nach Atlantis fort. Veronikas Verlobung mit Heerbrand (11. Vigilie) löst dann die bürgerliche Liebesgeschichte zwischen Anselmus und der Tochter des Konrektors, die auf der Ebene der empirischen Zeit gescheitert ist, aus der Verkettung mit der mythischen Zeit, und die Atlantis-Vision (12. Vigilie) eröffnet schließlich den Ausblick in die Unendlichkeit. Zeitverschiebungen, Zeitsprünge und Gleichzeitigkeit wirken bei einer derart phantastischen Zeitstruktur als geradezu konventionelle Mittel des Märchenerzählens. (Vgl. Skizze "Der goldne Topf": Die Struktur der Zeit, Seite 169) 4.3.2.5 Das Wunderbare und die romantische Ironie In keinem anderen deutschen Kunstmärchen wird der Leser ähnlich intensiv an der Herstellung der erzählten Welt beteiligt wie im "Goldnen Topf". Viermal greift der in Ich-Form redende Autor direkt in den Erzählvorgang ein und fordert den Rezipienten auf, diesen oder jenen wichtigen Bestandteil durch eigene Phantasieanstrengungen zu ergänzen. In der 12. Vigilie beklagt sich der als gedichtete Figur dazwischengeschobene Autor bitter über das mühselige Geschäft des Dichtens. Dann tritt Lindhorst aus der abgeschlossenen Geschichte heraus und setzt die magischen Kräfte des Salamanders ein, damit der Autor mit Hilfe von Punsch, d. h. eines psychedelischen Elixiers, sein Märchen beenden kann. Zwar gehört auch diese Szene noch zum Märchen, aber sie überhöht 168 Das Wunderbare als Antriebsfaktor im Wirklichkeitsmärchen allegorisch den Schaffensprozeß und deutet das Wesen der Poesie als Verwandlung. Wenn Lindhorst dem über sein elendes Leben klagenden Autor am Ende tröstend auf die Schulter klopft und ihn an seinen "artigen Meierhof" (S. 255) in Atlantis erinnert, dann erklärt er die Dichtkunst zum inneren Besitz des die letzten Zeilen einer phantastischen Dichtung niederschreibenden Dichters. 9 Das ist Märchenerzählen aus dem Geist der romantischen Ironie, der von Lauren ce Sterne (1713-1768) und Jean Paul (1763-1825) entwickelten Kunst des vielfach die Perspektiven wechselnden Erzählens. Hoffmann sucht im Leser den Komplizen für ein virtuoses Spiel mit Ambivalenzen und Illusionsdurchbrechungen und einem schwindelerregenden Multiperspektivismus, der köstliche Verwirrungen anrichtet, weil er die Perspektive der verschiedensten Figuren absolut setzt. Hoffmann ist deshalb kein gemütlicher Märchenerzähler. Er ist ein moderner Regisseur, der seinen Leser nicht nur so behandelt, als habe dieser ein Bühnenbild und Schauspieler vor sich, sondern auch eine raffiniert kalkulierte "Blickführung" (Just) benützt, die ähnliche Wirkungen wie das ausschnitthafte Sehen der Filmkamera erzielt. Lindhorsts Smaragdring, der sich vor Anselmus' Augen in einen Kristallspiegel verwandelt und die drei goldgrünen Schlänglein körperlich-greifbar herbeizitiert, zieht auch den Leser in den "optischen Sog" (Just) einer kreisenden Bewegung. Ähnliches gilt für die Szene, in der Lindhorst vor Anse1mus' Augen als Geier davonfliegt (4. Vigilie). Die Blickführung durch den Erzähler kombiniert Reales und Irreales so raffiniert, daß die Figur des enteilenden Archivarius mit der eines Geiers verschmilzt und der Leser ebensowenig wie Anselmus entscheiden kann, ob er einer Augentäuschung erlegen ist oder ob Lindhorst nun tatsächlich davonzufliegen beliebte. (/.]8 'I'J~ J/.ft "<.q-i torl (. <Isst' "';,.1'lt'J (If(. ';;·i,I""·" " ~I :;;, ~t ~I~ -61> :CI:::: wl t t .. Ins Kris.Lill ~, l'flnf)f..'rl. ]51 _ ~I '~I ~I~ -gl '" Hochzeit in Atlantis §~,."' ,.""".. , der Zl'll i5 1 ~ ~ -g 1 :.5 _~_ ]I~ ;:t .r. ]~,.> :~ lSl'::l > C . t!l1-r --: ...... N '"-" ~ "I § ~ 'EJ~ -t ~ ;'1~= ~ ~i~S: a-t~ ~~ Ebene der em pirischen Zeit ~ I IV .. Dresdner Zt·jl": biJr,l!trlidu Lidug~sd!jdtle I Ansclmus .. erzählte 1 o : S' -;~I_ l<.1~ ~I;~ ~> ~tS '"' I =1 ,--. c ;;I? E ~ ß·J; ~! .5.~ < E' ~ ~0 8: ~ E 0- S ;> §. .~ 'l.J':":: '" ~> = g -' -'< ' '2 + Veronika ~ ~, .... ;: ~9 ~: (D ::; ;> 1 4.2. Vcronlk;l.~ N~lmr:nstag. Aquinok(jum l~it" ~ 1 I ~3.9. Himmelfahrtstag (:l Uhr) '" I 21 e0.>:~ ~> ! cr' I .M 1 .<. l _ :i't ~ _ ~I:~ ~ (D ; : ,z - E.. '" '-'\.\'?~ ~~\e'\ ~ >.1.\~\'1.'.J' § 0.. ~ \..: ~ (: Zl'lt ~::; 8- ~\"" rc'!.o e'Qe '-3\':> JC.r p ~~ I I EI :;1 ~ ,(e"e (',",IJI) ;;1 ~I hald dein FaW' 'j. , .gl §J -r.\.~\e . . ." . . .,."~~~~. . ,.,." ",~,.~. ~fi "0. 51 ~I .1 , .,"~ ~"; <iqrC'-/"c«. ('r I::) . .#',,- Die Struldur der Zeit im "Goldnen Topf" (zwölf Vigilien) ..... 0-. Die Struktur der Zeit im "Galdnen Topf" 'Ci 170 Das Wunderbare als Antriebsfaktor im Wirklichkeitsmärchen Wenn Hoffmann das Eindringen des Wunderbaren in die Wirklichkeit beschreibt, dann wird es zur Schwellenüberschreitung, die in allen Details vorstellbar bleibt und unerhört einprägsame phantastische Bilder erzeugt. Im" Goldnen Topf" schöpft er tief aus dem Arsenal des Wunderbaren: Schlangen singen, Holunderbaum und Abendwind flüstern verständliche Worte; ein Papagei benimmt sich so gewandt wie ein perfekter Famulus. Auch die phantastischen Wirkungszusammenhänge , die der Märchenerzähler erfindet, entwickeln eine einleuchtende phantastische Logik: Aus einem Tintenklecks fährt ein Blitz, und ein Salamander spuckt Feuer, das zur gläsernen Flasche erstarrt und den Helden einschließt. Die wirkungsvollsten 'wunderbaren' Effekte erzielt Hoffmann jedoch, wenn er über das leitmotivisch verwendete Spiegelsymbol phantasiert. Die Strahlen, die Lindhorsts Smaragdring wirft, verspinnen sich zum "hellen leuchtenden Kristallspiegel" (S. 201), aus dem das Schlänglein Serpentina das Köpfchen herausstreckt. - Der Metallspiegel, den die Hexe gegossen hat, magnetisiert Anselmus' Seelenleben und lenkt ihn von Serpentina ab. - Auch der goldne Topf, den der "alte mürrische Erdgeist" (S. 229) mit Diamantstrahlen poliert hat, ist ein magischer Spiegel, der nicht nur Anselmus Sehnsucht nach Atlantis und seine Sehnsucht nach Serpentina reflektiert, sondern im Augenblick der Vision Innen- und Außenwelt zusammenfallen läßt. lO 4.3.2.6 Erzählen in "Callot's Manier" als phantastischer Realismus Hoffmann war sich bewußt, daß seine Erzähltechnik Ähnlichkeiten mit der Technik des 10thringischen Kupferstechers Jacques Callot (1592-1635) hatte; darauf verweist der Tite1 seiner "Fantasiestücke in Callot's Manier" (1814-1815). Er bewunderte an dessen Graphiken die Einprägsamkeit der "oft nur durch ein paar kühne Striche" 11 angedeuteten Gestalten und die Leuchtkraft der aus "den heterogensten Elementen geschaffenen Kompositionen" .12 Vor allem faszinierte ihn Callots Technik, genau gesehene Wirklichkeits elemente zu grotesken Mischwesen aus Mensch und Tier zu verbinden, zu Schöpfungen aus dem Geiste der "Ironie, welche indem sie das Menschliche mit dem Tier in Konflikt setzt, den Menschen mit seinem ärmlichen Tun und Treiben verhöhnt". Dieses Prinzip erklärte Hoffmann in der poetologischen Einführung zu den "Fantasiestücken"13 aus dem Zauber einer überregen Phantasie, der die alltägliche Wirklichkeit mit dem "Schimmer einer gewissen romantischen Originalität" umgibt. Er leitete daraus das Verfahren eines Dichters ab, dem die "Gestalten des gewöhnlichen Lebens in seinem inneren romantischen Geisterreiche erscheinen, und der sie nun in dem Schimmer; von dem sie dort umflossen, wie in einem fremden wunderlichen Putze darstellt".14 - Korff nannte das "phantastischen Realismus" und erinnerte an den Aphorismus des Novalis: "Romantisieren heißt, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Das Wunderbare als Antriebsfaktor im Wirklichkeitsmärchen 171 Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein geben." 15 - "Callot's Manier" legitimiert Hoffmann als romantischen Dichter, der das Gewöhnliche nicht idealisiert, sondern mit wenigen Strichen zur "romantischen Karikatur" umformt, in der die "Realität in gesteigertem Maße [... ] erhalten bleibt" .16 - Im "Goldnen Topf" führt dies zu einer frappierenden Technik der Übersteigerung, die hinter der Fratze das Edle erkennt, im Sonderling den Geisterfürsten oder im lebensuntüchtigen Tölpel den Künstler. 4.3.2.7 Die Utopie vom Leben für das Schöne Für den romantischen Künstler forderte Hoffmann eine Ausnahmeexistenz; denn er wußte, daß die Tretmühle des bürgerlichen Broterwerbs die schöpferischen Kräfte aufzehrt. Damit knüpfte er einerseits an der folgenreichen Künstlerideologie des Novalis an, die den Dichter zum Schöpfer der "neuen Mythologie" stilisierte (vgl. III, 3.2.5), anderseits gab er die frühromantische Utopie durch das allegorisierende Schlußwort des Lindhorst: "Ist denn überhaupt des Anselmus Seligkeit etwas anderes als das Leben in der Poesie [... ]?" (S. 255) der Fiktion preis. An dieser Stelle bietet sich eine griffige Entschlüsselung des "Atlantis"-Mythologems an: "Atlantis" wäre demnach die innere Welt, die sich Anselmus erschafft, wenn er, in sich versunken, an seinen Manuskripten schreibt und darüber die banalen Zwänge der äußeren Welt vergißt. 4.3.2.8 Zur Rezeption des "Goldnen Topfs" Hoffmanns anscheinend unauslotbar vielschichtiges und deshalb wohl interessantestes Märchen hat eine Fülle widerspruchsvollster Deutungen provoziert. - Ricarda Huch (1899/1902) scheute sich, Hoffmann als Dichter anzuerkennen; aber sie nannte ihn "bedeutend", weil er das "Wunderbare aus der Seele des Menschen schöpfte und bis zu ihrer Nachtseite hineinschaute" .17 Richard Benz (1908) war von der Originalität der Erfindung überwältigt und nannte das Märchen das "Herrlichste, was es geben kann".1 8 - Walter Harich (1920) faszinierte der "modeme Naturmythos" , weil er die Sehnsüchte gestaltet, die in uns liegen, seit "wir noch als Tintenfische in den Tiefen des Ozeans schwammen" .19 Richard Ochsner (1936) analysierte den" Goldnen Topf" mit dem Instrumentarium der Psychologie und sah in den Märchenwundem Zeugnisse einer "sukzessiven Persönlichkeitsspaltung" .20 -1950 analysierte Aniela laffe tiefenpsychologisch den "archetypischen Hintergrund" in den Bildern und Symbolen. 21 - Fritz Martini (1955) betrachtete Hoffmanns Märchen als Produkte einer kulturellen Spätzeit. 22 - Hans-Georg Werner (1962) deutete den" Goldnen Topf" mit der marxistischen Widerspiegelungstheorie als Abbild der gesellschaftlichen und individuellen Konflikte der Zeit. 23 - Für Volker Klotz (1976) karikieren die Elementargeister mit ihrer "abgehetzten Geschäftigkeit" den "Lebensrhythmus bürgerlichen Konkurrenzgebarens" .24 - Ein Ende der Deutungsversuche, die von der Motivforschung, über die Tiefenpsychologie bis zur marxistischen und sozialgeschichtlichen Interpretation reichen, ist wohl nicht abzusehen. 25 172 4.3.3 Das Wunderbare als Antriebsfaktor im Wirklichkeitsmärchen Die Versöhnung des Alltags mit dem Anspruch auf ein ästhetisches Dasein: "Klein Zaches" (1819) und "Die Königsbraut" (1821) 4.3.3.1 Das Organisationsprinzip Handlung entwickelt sich in Hoffmanns Märchen aus einem Antagonismus zwischen der Alltäglichkeit und dem Wunderbaren, der den sensiblen Künstler in Konflikte stürzt und ihn zum Objekt hilfreicher Mächte oder feindlicher Prinzipien macht. Das Organisationsprinzip dieser Märchendichtung besteht also im "Aufeinanderprallen zweier Welten", die sich auf" bestürzende Weise miteinander vermischen" .26 - Das gilt für "Klein Zaches" und "Die Königsbraut" noch ebenso wie für den" Goldnen Topf", aber die ideologischen Akzente haben sich inzwischen erheblich verschoben. 4.3.3.2 Die Ausbeutung des schöpferischen Menschen durch den Kulturbetrieb: "Klein Zaches" Als Hoffmann im Frühjahr 1818 mit einer lebensgefährlichen Unterleibserkrankung kämpfte 27 , konzipierte er die Figur einer grotesken Mißgeburt, der eine weltfremde Fee die Gabe verleiht, die Leistungen anderer einträglich zu vermarkten. Daraus entstand: "Klein Zaches, genannt Zinnober. Ein Mährchen", das Hoffmann im Sommer 1818 niederschrieb. Zaches, mit seinen "hohen Spinnenbeinchen anzusehen wie ein auf eine Gabel gespießter Apfel, dem man ein Fratzengesicht eingeschnitten [hatte]" (S. 27), erinnert an Arnims Reichsalraun Cornelius (vgl. III, 4.2.2), aber er verdankt seine Existenz nicht schwarzer Magie, sondern einer menschlichen Mutter, und statt der Witterung für Gold verfügt er über die Macht der Massensuggestion. Als umjubeltes Idol löst er mit Leistungen, die andere in seiner Gegenwart vollbringen, Hysterie aus. - Schuld an der grotesken Verkehrung von Schein und Sein trägt die Fee Rosabelverde, die sich in einem Damenstift in Sicherheit brachte, als Fürst Paphnutius mit Polizeirnaßnahmen in seinem Duodezfürstenturn die Aufklärung durchsetzte 4.3.3.2.1 Handlungsgrundriß Aus Mitleid mit seiner bettelarmen Mutter und in der Hoffnung, der Erfolg werde seinen Charakter veredeln, stattet Rosabelverde den winzigen Zaches mit drei zinnoberroten Haaren aus. Sie bewirken durch Magie, daß die Leistungen seiner Konkurrenten seine eigene Karriere fördern. So kann Zaches als Dichter und Geigenvirtuose glänzen. Er wird - obgleich völlig unfähig - Geheimer Expedient und Geheimer Spezialrat, stürzt den Minister Mondschein und erhält vom Fürsten den Orden des grüngefleckten Tigers. Die Zaubergabe der Fee fesselt sogar Candida, die hübsche Tochter des Professors Mosch Terpin, an den aufgeblasenen Wicht. Das Wunderbare als Antriebsfaktor im Wirklichkeitsmärchen 173 Deshalb ruft der Student Balthasar, der Candida liebt, den Magier Prosper Alpan zu Hilfe. Dieser besiegt die Fee bei einem Zauberduell am Kaffeetisch, vernichtet ihren magischen Kamm durch einen Talisman und beraubt den Minister Zinnober seiner Beschützerin. Alpan solidarisiert sich mit Balthasar, dem Zaches den Ruhm für sein Gedicht von der Liebe der Nachtigall zur Purpurrose gestohlen hat, weil er den romantischen Dichter in ihm erkennt. Den Hexenspuk muß Balthasar aber aus eigener Initiative brechen. Alpans Kristallspiegel ermöglicht ihm, Zaches telepathisch zu zitieren und zu verprügeln; Alpans Lorgnette zeigt ihm die zinnoberroten Zauberhaare. Als er sie ausgerissen und verbrannt hat, ist der Minister als affenähnliche Mißgeburt entlarvt und ertrinkt auf der Flucht vor dem losbrechenden Volksaufruhr in seinem silbernen Nachttopf. Alpan erfüllt jedoch die Bitte der Fee und gibt dem Gnom auf der Totenbahre den Schein der Würde zurück. Balthasar und Candida erhalten Alpans Landgut als Hochzeitsgeschenk. Nach der glanzvollen Hochzeit reist der Magier nach Indien, wo Prinzessin Balsamine aus tausendjährigem Schlaf erwacht ist und auf ihn wartet,28 Magie hält in Alpans Landhaus nahe der Universitätsstadt Kerepes alle Widrigkeiten des Ehealltags von dem jungen Paar fern und sichert, in einer Enklave des Wunderbaren, das ungestörte private Glück des Dichters mit seinem hübschen, hausbackenen Weibchen, das Goethe, Schiller und Fouque gelesen und fast alles wieder vergessen hat. 4.3.3.2.2 Der Märchenerzähler als Romancier Charakterportraits, Anekdoten, Rückblenden, satirische Seitenhiebe auf Zeitgenössisches und zahlreiche Nebenepisoden umranken den novellistischen Erzählkern so dicht, daß das Märchen an Figurenfülle, szenischer Bewegtheit und räumlicher Tiefe an den Roman heranreicht. Reihum nimmt sich Hoffmann die Dichterkollegen und die Zeitgenossen vor: Er verhöhnt Schillers Pathos ebenso wie das Seelenschmalz Jean Pauls, der Liane im "TItan" (1800/03) als "höchste Stufe der weiblichsten Weiblichkeit" (S. 33) erblinden läßt. Der Weltumsegler Chamisso kommt auf der Durchreise "eben vom Nordpol" (S. 64), und der löwenmähnige Turnvater Jahn hat eine verteufelte Ähnlichkeit mit dem Affen "Mycetes Beizebub" (S. 72) im Zoologischen Kabinett. - Der altdeutsche Rummel, das Rotwelsch und der Komment der Burschenschaften sind Hoffmann ebenso zuwider, wie die Demagogenverfolgung, der Anachronismus der Feudalordnung, die Postenjägerei, die Orden- und Titelsucht und die Kleinstaaterei im Deutsehen Bund. Die schärfsten Pfeile aber treffen die Phantasiefeindlichkeit und den platten Rationalismus einer Aufklärung, der Hoffmann einen magischen Naturbegriff, das 'Wunder des Samenkorns', entgegenstellt. Kübel von Spott gießt er über den Naturforscher Mosch Terpin aus, der nach "vielen physikalischen Versuchen glücklich herausgebracht hatte, daß die Finsternis hauptsächlich von Mangel an 174 Das Wunderbare als Antriebsfaktor im Wirklichkeitsmärchen Licht" (S. 22) herrührt. Die Zeitgenossen wußten natürlich, daß sich Hoffmann hier über den Heidelberger Professorenstreit29 lustig machte. In Heidelberg (im Märchen: "Kerepes") stritten sich nämlich die Mystiker mit den Physikanten, deren von Isaac Newton (1643-1727) inspirierte zergliedernde Forschungsmethode Hoffmann ebenso scharf ablehnte wie Goethe. - Seine distanzierende Ironie schmilzt jedoch alle zeitbedingte Polemik in die schwerelose Anmut des humoristischen Sprachkunstwerks ein. Im lakonischen Tonfall des Erzählers, im Wortspiel, in der grotesken Verzerrung und in der verblüffenden Pointe liegt eine auch heute noch zündende Komik. 4.3.3.2.3 Das Wunderbare als Opempomp Im Gegensatz zu dem szenisch konzipierten" Goldnen Topf"3o herrscht in "Klein Zaches" statisch berichtendes Erzählen vor. Die ironischen Brechungen des Wunderbaren entstammen nicht miterzähltenAmbivalenzen, sondern der skeptischen Perspektive von Kontrastfiguren. Zwar erweist sich die Existenz des Wunderbaren als unwiderlegbar, aber sein Personal wird ebenso intensiv karikiert wie der Hof und die Universität. - Magische Vorgänge malt Hoffmann mit ähnlicher Detailtreue aus wie im "Goldnen Topf", doch die Darstellungsphären haben sich stabilisiert: Das Wirkliche verliert die unheimliche Vieldeutigkeit, das Wunderbare die überwältigende Phantastik. Gleichwohl ist überall der Theaterregisseur Hoffmann am Werk, der den Raum in eine Bühne verwandelt. Vor allem Alpan liebt den Opernpomp: Wenn er durch den Wald fährt, dann in einer "offenen Muschel von funkelndem Kristall" (S. 47), die von weißen Einhörnern gezogen wird. - Nach Balthasars Hochzeit reist er in einem Kristallwagen, der "mit zwei schimmernden Libellen bespannt" (S. 100) ist, durch die Luft davon. - Hoffmanns Freude am Ausstattungsprunk geht so weit, daß er den jenseitigen Helfer für seine verschiedenen Auftritte umkostümiert: Im Muschelwagen kutschiert Alpan "beinahe chinesisch gekleidet" (S. 47); als Hausanzug trägt er ein "langes erdgelbes indisches Gewand und kleine rote Schnürstiefelchen", (S. 54); zur Spiegelbeschwörung des Zaches erscheint er als Priester, "ganz weiß gekleidet wie ein Brahmin" (S. 56). Darüber übersieht man leicht, wie sehr Figurenkonstellation und Handlungsschema dem "Goldnen Topf" ähneln: Alpan, mit seinen mysteriösen Beziehungen nach Indien, ist eine Doppelpersönlichkeit wie Lindhorst, Jenseitiger und Bürger in einer Person. Die aus Dschinnistan entlaufene Fee bleibt aus rätselhaften Gründen in "der höchsten vollendetsten Blüte ihrer Jahre" (S. 12) stehen. - Weiße Magie bricht die Macht eines feindlichen Prinzips in einem spannenden Zauberkampf. Sogar der Zauberspiegel sowie Alpans Palast samt Innenausstattung sind bis ins Detail dem "Goldnen Topf" entnommen. Dieses Schema füllt Hoffmann allerdings mit neuen Ideen. So gehört es zu seinen genialsten Einfällen, die realen Vorgänge bei der Vermarktung von Kunst und Geist 31 auf die Figur des Parasiten Zaches und die von ihm Ausgebeuteten Das Wunderbare als Antriebsfaktor im Wirklichkeitsmärchen 175 zu projizieren. Dennoch endet das Märchen nicht in Bitterkeit, sondern in versöhnlichem Humor. Das Wunderbare versöhnt das Unversöhnliche: den Anspruch des romantischen Dichters Balthasar auf Selbstverwirklichung in einem ästhetischen Dasein und die alltäglichen Probleme der Daseinsfristung. Während Anselmus mystische Hochzeit mit der personifizierten romantischen Poesie feiert, wagt es Balthasar, ein schlichtes Bürgermädchen zu heiraten. Daß dies funktioniert, hängt mit Magie zusammen und verweist auf Politisches. Nach der Entlarvung des Postenjägers Zinnober stellt Balthasar die Opposition gegen die Mißstände in Kerepes ein; an eine bürgerlich-liberale Revolution wagt er nicht einmal zu denken. Da ihm nur an seiner Selbstverwirklichung in unentfremdeter Privatexistenz liegt, akzeptiert er seine Rolle als Untertan in einem reaktionären, aufgeklärt-absolutistischen Staat und etabliert sich in einem ironisierten inneren Reich geistiger Freiheit, das ihm ermöglicht, als Produzent von Poesie "ein gefährliches Gewerbe mit dem Wunderbaren" (S. 17) zu treiben. - Diese Variante der Utopie einer ästhetischen Existenz führt zugleich die politische Position des Autors vor, der wenig später als Richter in Berlin den preußischen Obrigkeitsstaat nachdrücklich an die Verpflichtung zur Gesetzestreue erinnert. Mutig prangerte Hoffmann "ein ganzes Gewebe heilloser Willkühr, frecher Nichtachtung aller Gesetze" an, wetterte aber ebenso gegen den Fanatismus eines Sand, fest davon überzeugt, daß dem "hirngespenstischen Treiben einiger jungen Strudelköpfe Schranken gesetzt werden" müsse. 32 - So gesehen, reflektiert das heitere Märchen von "Klein Zaches" die politische Ausweglosigkeit, in der sich ein Großteil der deutschen Intelligenz schon vor den mit den "Karlsbader Beschlüssen" (1819) einsetzenden Dernagogenverfolgungen befand. 33 4.3.3.3 Parodie eines Dichterlebens: "Die Königsbraut" (1821) Noch einen Schritt weiter auf die Wirklichkeit zu ging Hoffmann in seiner köstlichen Erzählung: "Die Königsbraut" (1821). Auch in diesem Märchen versöhnt sich schließlich der Alltag mit dem Anspruch auf ein ästhetisches Dasein; aber Hoffmann parodiert die Grundkonstellation aus "Klein Zaches", macht aus dem schwärmerischen Jüngling, der hausbackenen Jungfrau, dem Magier und dem feindlichen Prinzip überzeichnete Karikaturen und konterkariert zugleich die Künstlerproblematik aus dem "Goldnen Topf" mit einer originellen "Tragikomödie der deutschen Hausfrau" (Schumacher). 4.3.3.3.1 Handlungsgrundriß Der Gemüsekönig Daucus Carota I. spielt dem dümmlichen Ännchen von Zabelthau einen Verlobungsring in die Hände und läßt zu Ännchens Entsetzen ein riesiges Prunkzelt für seinen Hofstaat in dem Gemüsegarten aufschlagen, dem ihre ganze Liebe gilt. Ännchen, mit dem Studenten Amandus von Nebelstern versprochen, dem man auf der Universität eingeredet hat, er sei ein "ungeheures poetisches Genie" (S. 949), verweigert sich zunächst dem kurzbeinigen torkelnden Gnom mit den Froschaugen, der sich als Baron Corduanspitz eingeführt hat. Aber dieser kauft den Adepten Herrn von Zabelthau durch das Versprechen, ihn mit der Sylphide 176 Das Wunderbare als Antriebsfaktor im Wirklichkeitsmärchen Nehahilah zusammenzuführen, und nach einem Blick auf das herrliche Gemüsereich unter dem Zelt und angesichts der Chance, Königin zu werden, wird auch Ännchen schwach und gibt Amandus brieflich den Laufpaß. - Da findet Magier Zabelthau heraus, daß Corduanspitz nur ein schäbiger Gemüsegnom ist. Zu spät zeigt er seiner Tochter den Schlammpfuhl, in dem sich Regenwürmer, Käfer und Schnecken wälzen, d. h. die Kehrseite des Gemüsereichs. Schon schrumpft das hübsche Ännchen zur Gnomenkönigin mit dickem Kopf und safrangelber Haut. - Weil sich Amandus mit ein paar spitzen Epigrammen begnügt, statt sein Dichterblut für die Verlobte zu verspritzen, nimmt der alte Zabelthau selbst den Kampf mit dem Karottenkönig auf und steckt ihn in einen Kochtopf. Corduanspitz schnellt jedoch wie eine Spiralfeder heraus; von aberhundert "fingerlange[n] garstige[n] Kerlchen" (S, 987) in eine Schüssel geworfen und mit Kräutersoße übergossen, versucht der Kabalist zu fliehen, wird aber in einen grauen Pilz verwandelt. Den endlich herbeieilenden Amandus besticht Corduanspitz mit dem Amt des Hofpoeten und erliegt doch dessen überlegener Zauberkunst; denn der erhabene Blödsinn seines Huldigungsgedichtes fährt ihm derart ins Gedärm, daß er sich in der Erde verkriecht und den Verlobungsring wieder abholen läßt. - Zabelthau wird erlöst, und Ännchen schlägt Amandus mit dem Spaten so segensreich vors Hirn, daß der überspannte Schwärmer zur Besinnung kommt und sich in einen wirklichen Dichter verwandelt. Auch Ännchen verwandelt sich: aus einer primitiven, arbeitswütigen Magd wird eine wirkliche "Königin über das Gemüsereich" (S. 993).34 4.3.3.3.2 Das Wunderbare als Groteske Wiederum stellt sich Hoffmann seinem Leser als Spielleiter vor, fordert ihn auf, sich ein spätsommerliches Idyll auszumalen und nimmt ihn sogar auf einen Besuch nach Dapsulheim am Main mit, wo ihn das "rotwangichte" Ännchen mit einem Gabelfrühstück erwartet. Wieder stellt er seine souveräne Verfügungsgewalt über den traditionellen Zauberapparat unter Beweis, arrangiert diesmal aber Situationen von so grotesker Komik, daß Charles Baudelaire (1821-1867) darin das "comique absolu" verwirklicht sah und das Groteske am Beispiel der "Königsbraut" als eine Schöpfung definierte, die den Menschen als der Natur überlegen erweist. 35 - Hoffmann belegt seine eigene Überlegenheit durch eine Vorstellungsgabe, die mit zwingender Logik die heterogensten realen Elemente eines Gemüsegartens zu einem sur-realen Märchenschauplatz kombiniert, und zwar mit einer Ausstattungslust, die das Theaterblut des Regisseurs verrät. Dabei spielen die Kostüme eine den grotesken Figuren selbst durchaus vergleichbare Rolle. Herr v. Zabelthau, dieser "Don Quixote der Kabbala" (v. Müller), hält seiner Tochter nicht nur einen Grundkurs der Elementargeisterlehre; er weiß auch, welche Kleidung sich für einen Adepten ziemt. Meist trägt er einen "kleinen grauen Filzhut, aufgestülpt auf eine pechschwarze Perücke"; grau sind auch Weste, Hose, Rock und Strümpfe, sogar der "sehr hohe Stock ist grau lackiert" (S. 945). - Man sieht ihn aber auch als Zauberer mit falschem Bart, und als der "ausgemergelte Adept der Geisterwelt" (Harich), der mit hohler, weinerlicher Stimme durch ein Sprachrohr von seinem Das Wunderbare als Antriebsfaktor im Wirklichkeitsmärchen 177 astrologischen Turm herunter sein Frühstück zu bestellen pflegt, darangeht, den MohITÜbenkönig zu schmoren, hämmert er in einer Art "Bergmannstracht" kupferne Pfannen und Töpfe. - Das Karottengelb und die oft seltsam verkrüppelten Formen der Mohrrüben genügen Hoffmann, um daraus das phantastische Gefolge des Daucus Carota von "an sechzig, siebzig kleine [n1Reiter[ n1auf kleinen gelben Pferden" zu formen, die in "gelben Habiten, spitzen Mützen und Stiefeln von poliertem Mahagoni" (S. 963) in Ännchens Gemüsegarten einziehen. - Figur, Kostüm, Physiognomie des Barons, bis hin zu dem kronenähnlichen Kopfputz aus "krautgrünen Federn" (S. 964), hat Hoffmann so vollständig aus den Gestaltmerkmalen einer Mohrrübe abgeleitet, daß diese groteske Figur auch von GiuseppeArcimiboldi (1527 -1593) erfunden sein könnte. Carotas Verlobungsring, dessen ineinander verschlungene Figurengruppen "ordentlich zu wachsen, lebendig zu werden, in anmutigen Reihen zu tanzen" (S. 955) scheinen, variiert den magischen Spiegel in Lindhorsts Smaragdring. Das seidene Prunkzelt umgrenzt, wie Lindhorsts Haus und Alpans Villa, die Enklave des Wunderbaren, und in einem Zauberkampf, diesmal in Form einer burlesken Prügelei zwischen Karottenkönig und Radiesherzog, erreicht die Handlung einen ihrer grotesken Höhepunkte. - Als Personal für die Nachtseite seines Gemüsereiches hat Hoffmann scheußliche Mischwesen erfunden, die aus der Alptraumwelt des Hieronymus Bosch (um 1450-1516) stammen könnten: " ... in diesem Schlamm regte und bewegte sich allerlei häßliches Volk aus dem Schoß der Erde. Dicke Regenwürmer ringelten sich langsam durcheinander, während käferartige Tiere ihre kurzen Beine ausstreckend schwerfällig fortkrochen. Auf ihrem Rükken trugen sie große Zwiebeln, die hatten aber häßliche menschliche Gesichter und grinsten und schielten sich an mit trüben gelben Augen und suchten sich mit den kleinen Krallen, die ihnen dicht an die Ohren gewachsen waren, bei den langen krummen Nasen zu packen und hinunterzuziehen in den Schlamm ... " (S. 983f.) 4.3.3.3.3 Märchen, Karikatur und Wirklichkeit Ännchen, die phantasielose Nur-Hausfrau, ist die Potenzierung Candidas, Herr von Zabelthau die zum Clown verkümmerte Karikatur des Forschers Mosch Terpin, deren Ideale von der Auflösung in reine Geistigkeit kläglich an Ännchens überragender Kochkunst scheitern. - "Du weißt es ja - ich fresse erschrecklich!" (S. 959) muß er eingestehen. Dieser Adept, der alle Konstellationen kennt und über die von pfiffigen Elementargeistern ausgestreuten Nüsse purzelt, ist eine Spottfigur, ein Hohn auf die Geschlechtermetaphysik der Romantik, die den Mann der Welt des Geistes, die Frau der Natur zuordnete. Ännchen wirkt komisch, weil sie ihre eigene Person nicht kennt (Baudelaire ) und zugleich menschlich, weil ihre naiven Briefe den sozialen Ehrgeiz des Mädchens aus verarmter Familie ehrlich eingestehen und den schäbigen Literaten-Dünkel des Amandus entlarven. Den absurden Tiefpunkt bei der grotesken Verkehrung der Wirklich- 178 Das Wunderbare als Antriebsfaktor im Wirklichkeitsmärchen keit erreicht das Märchen aber erst in der Figur der Mohrrübe, deren "total eßbare Leiblichkeit" (Schumacher) Zabelthau, die Karikatur des Meisters, zur höchsten Geistigkeit erklärt. Trotzdem transportiert das groteske Wunderbare des Märchens eine plausible Botschaft. Es plädiert für die Abkehr von der Utopie der ästhetischen Existenz und bekundet Einsicht in den Wert einer gutbürgerlichen Ehe; denn die beiden überspannten jungen Leute finden einen tragfähigen Kompromiß: Amandus verzichtet auf seinen Poeten-, Ännchen auf ihren Königinnenehrgeiz. Man trifft sich in der Mitte, wo ein Zusammenleben möglich ist, und so verwandeln sich Hoffmanns Kunstfiguren auf einleuchtende Weise in Menschen. 36 - Siebzig Jahre später zog Isolde Kurz den Gemüsekönig und sein Gefolge wieder aus der Requisitenkiste des romantischen Kunstmärchens und ließ die ulkigen Figuren, mit neuen Kostümen ausstaffiert, in ihrem "König Filz" (vgl. III, 3.12) aufmarschieren. 4.3.4 Heimkehr aus Famagusta: "Prinzessin Brambilla" (1820) und "Meister Floh" (1822) Nur acht Jahre Schaffenszeit waren E. T.A. Hoffmann in Berlin vergönnt. In dieser Frist preßte der Schriftsteller, der bald am Berliner Kammergericht als erstklassiger Jurist galt, einem geschwächten Körper ein umfangreiches Werk ab, am Ende unter gräßlichen Schmerzen und im Wettlauf mit dem Tod. Aber von dem angeblichen Nachlassen seiner Spannkraft ist noch in "Meister Floh" nichts zu spüren. Im Gegenteil: In den beiden letzten Lebensjahren entwickelte Hoffmann seine erzählerischen Mittel zu einem Raffinement, das erst seit den 6Der Jahren von der Forschung voll gewürdigt wird.37 Sein verblüffender Lakonismus wirft dem Leser Skizzen hin und überläßt ihm das Ausmalen von Beschreibungen; eine verfeinerte Personenrede übernimmt eine Fülle darstellender und reflektorischer Funktionen. Vor allem aber modellierte Hoffmann die Figur des miterzählten Erzählers aus. Die Reflexionsebene, auf der sich dieser Erzähler bewegt, erlaubt es Hoffmann, eine Poetologie zu entwickeln und das künstlerische Verfahren zu erläutern, ohne den Erzählzusammenhang zu sprengen. - Dieser Kunstgriff dient in einzigartiger Weise der absichtlichen Aufdeckung des Darstellungsprinzips, d. h. dem genau kalkulierten Zusammenfügen von Gegensätzen, die sich auf einer allegorischen Ebene wechselseitig interpretieren. Hoffmanns Prinzip des "aufhellenden Deutens" (Strohschneider-Kohrs) einer hochkomplexen Konstruktion verlangte allerdings einen völlig neuen Typ des Lesers, den es erst zu erziehen galt. Gesucht war der kultivierte, zu mehrmaligem gründlichen Lesen und bewußten Nachvollzug bereite Leser, der Erzählgut nicht als Stoff verschlingt, um seinen Reizhunger zu stillen, sondern den Kunstcharakter eines zur Virtuosität entwickelten vielstimmigen Erzählens wahrnimmt und zugleich seinen Spaß daran hat, daß er durchschaut, was ihm da zugemutet wird. Von der Ankunft in Berlin (1814) bis zu den letzten Lebensmonaten (1822), in denen sich der gelähmte Autor auch noch genötigt sah, die Freiheit der Kunst gegen die allmächtige preußische Zensur zu verteidigen, entwickelte sich der Das Wunderbare als Antriebsfaktor im Wirklichkeitsmärchen 179 apolitische Kunst-Enthusiast nicht nur zum wehrhaften politischen Juristen, der nachdrücklich auf Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit pocht; auch die als Lebensleitlinie festgehaltene Utopie der ästhetischen Existenz machte weitere bedeutsame Wandlungen durch. 4.3.4.1 Die Aufhebung der Widersprüche des Seins im Humor: "Prinzessin Brambüla" (1820) Am 24. Januar 1820, zu seinem 44. Geburtstag, bekam Hoffmann von seinem Serapionsbruder Dr. David Ferdinand Koreff(1783-1851) , der später seinen Namen in Frankreich verbreitete, die "Balli di Sfessania"von Jacques Callot (vgl. 4.3.2.6) geschenkt. 38 Acht der vierundzwanzig Radierungen wählte Hoffmann aus und komponierte daraus ein erzähltes Capriccio. 39 "Prinzessin Brambilla" geriet ihm zu einer so komplizierten Commedia dell'arte, wie sie kein Gozzi hätte schreiben und nur ein Hector Berlioz (1803-1869) hätte in Musik setzen können. - Das raffiniert instrumentierte Capriccio, das einem "Märchen so auf ein Haar gleicht, als sei es selbst eins" (S. 260), ließ scheinbar jene schäbige Alltagswelt, in die sonst bei Hoffmann das Wunderbare eingreift, weit hinter sich; denn hier löst sie sich im Wirbel des Karnevals auf, der ganz Rom in eine improvisierte Commedia dell'arte verwandelt. Aber das turbulente Spiel mit Maskenzügen, grotesken Zweikämpfen, Maskenvertauschungen, Doppelgängerturn und Identitätsverlust ist von einer Hoffmannschen Meisterfigur inszeniert, um die Wirklichkeit durch Kunst zu überhöhen und zugleich zu bestätigen. - Eine Liebesgeschichte liefert wie im Feenmärchen den roten Faden. Der "Prinz" ist allerdings nur ein kleiner Schmierenschauspieler, die "Prinzessin" eine bettelarme Theaterschneiderin. Die Commedia kommt in Gang, weil sich der Schauspieler mit seinen Rollen verwechselt, die Putzmacherin sich in ihrTheaterkostüm verliebt und beide einem Phantom ihres Ichs nachrennen. Erst ein Blick in den Zauberspiegel des Humors führt sie zur Erkenntnis ihres wahren Selbst, hebt den "chronischen Dualismus" auf und weckt wirkliche Liebe in ihnen. Zugleich erzieht sie die vom Meister inszenierte Commedia dell'arte zu der gesellschaftlichen Aufgabe, zu der sie berufen sind: dem Volk Roms die Augen für große humoristische Schauspielkunst zu öffnen, die den Alltag verwandelt und mit den Widersprüchen des Lebens, den "Faxen des ganzen Seins hienieden" (S. 258), versöhnt. 4.3.4.1.1 Handlungsgrundriß Zum Auftakt des römischen Karnevals ziehen phantastische Fabelwesen in prachtvollen Masken durch die Porta deI Popolo über den Corso und verschwinden im Palast Pistoja an der Piazza Navona. Der Marktschreier Celionati, in Wahrheit der kunstsinnige Fürst Bastianello di Pistoja, der dem Volk in seiner Marktbude bei der Kirche 180 Das Wunderbare als Antriebsfaktor im Wirklichkeitsmärchen San Carlo allerlei "tolles Märchenzeug" (S. 220) und den deutschen Künstlern im Caffe greco wunderbare Mythen vom Land Urdargarten erzählt, setzt ein bizarres Gerücht in die Welt: Die äthiopische Prinzessin Brambilla sei in Rom eingezogen, um ihren Geliebten, den assyrischen Prinzen Cornelio Chiapperi zu suchen, der sich bei ihm, Celionati, einen Backenzahn habe ziehen lassen und seitdem spurlos verschwunden sei. Der geckenhafte Schauspieler Giglio Fava, dem die bombastischen Tragödien des Abbate Chiari jeden Sinn für Natürlichkeit verdorben haben, liebt eigentlich die Putzmacherin Giacinta Soardi, bildet sich aber plötzlich ein, er selbst sei der Prinz Chiapperi. - Umgekehrt möchte auch Giacinta eine der großen Damen sein, deren Kleider sie näht; sie hält sich für die Prinzessin Brambilla. Auf der Suche nach diesen Phantomen zerstreiten sich die beiden, begegnen einander in den unterschiedlichen Masken der "Commedia-dell'arte"-Typen auf dem römischen Karneval, verlieren sich wieder und begehen eine Menge Narreteien. Giglio verliert deswegen sein Engagement beim Theater und ersticht in einem grotesken Duell seinen Doppelgänger, die Pappmaske seines Schauspieler-Ichs, mit einem Holzschwert, fest überzeugt, Prinz Cornelio zu sein. - Endlich arrangiert der Ciarlatano Celionati, alias Prinz Bastianello, der als souveräner Regisseur ganz Rom an seiner Commedia dell'arte beteiligte, um es von dem Tragödien-Schwulst des Abbate Chiari zu befreien, die Wende: Im Palast Pistoja zerfließt ein riesiger Kristallspiegel zum Spiegel eines Sees, zum Urdarbronnen. Von dem phantastischen Personal des Magus Hermold umgeben, der mit dem Zauberer Ruffiamonte zu Beginn des römischen Karnevals aus dem mythischen Reich Urdargarten kommend in Rom eingezogen war, blicken Prinz Cornelio Chiapperi und Prinzessin Brambilla in den Wasserspiegel des Urdarbronnen und erkennen sich lachend als Giglio Fava und Giacinta Soardi, die ein Jahr später als geniale Darsteller des durch Celionati-Bastianello erneuerten Improvisationstheaters, der Commedia dell'arte, von ganz Rom gefeiert werden. 4o 4.3.4.1.2 Polyphones Erzählen Der hier auf die Liebesgeschichte reduzierte Handlungsgrundriß vermittelt nicht annähernd eine Vorstellung von der Vielschichtigkeit der epischen Textur; denn in diesem "Märchenroman" (Kohlschmidt) fügen sich Karnevalstreiben und Liebesszenen, Literatursatire und philosophisch-allegorische Ausdeutung, Kunsttheorie und Leseranreden zu einer einzigartigen durchkomponierten Großform zusammen. Dabei war sich Hoffmann des musikalischen Charakters seines Capriccios durchaus bewußt. 41 Fünf Erzählebenen überlagern und durchdringen sich in ihm, kontrastieren miteinander wie in einer polyphonen Komposition, lösen sich ab und verbinden sich wieder zu einer höheren harmonischen Einheit. Wie Strohschneider-Kohrs in ihrer brillanten Strukturanalyse dargelegt hat, beginnt und endet das Capriccio in der bürgerlichen Realität, in der die Putzmacherin Giacinta bei dem Kostümschneider Bescapi ihren Lebensunterhalt verdient, Giglio die Schauspielerei ausübt und sich mit Hauswirten ärgert (I). In diese reale Welt dringt die des Theaters ein, repräsentiert durch die Schauspieler, den Impresario und einen Theaterdichter, den ironisch verfremdeten Gozzi-Feind Das Wunderbare als Antriebsfaktor im Wirklichkeitsmärchen 181 Pietro Chiari (1711-1785). Dieser ödet Giglio mit seinem schwülstigen Drama "Il moro bianco" an, das der Kunstauffassung der Commedia dell'arte kraß widerspricht (II). Beide Erzählebenen dringen immer wieder in jene des römischen Karnevals ein, auf der Celionati Regie führt und als Scharlatan phantastischen Kram feilbietet. Nach dem Gesetz des "Maskentaumels und Verkleidungsspiels" 42 wirbelt die Karnevalswelt umher und spielt Commedia delI' arte. Entscheidend bei dieser Art von Stegreifkomödie, zu der verschiedene italienische Städte die feststehenden Typen beigesteuert haben, ist die phantasievolle Improvisation, d. h. die Aufgabe der eigenen Identität und die Verwandlung in den pedantischen Dottore, den einfältigen Vater, den geprellten Ehemann Pantaleone, den pfiffigen Diener Arlecchino, den Maulhelden Scaramuccio, den Stotterer Tartaglia oder in die kapriziöse Columbina. - Diese Karnevalswelt hat Hoffmann nicht nur exakt in die reale Kulisse rund um den Corso eingepaßt, sie liefert auch das Grundmotiv des Capriccios, dessen Themen aus den Kupfern Callots abgeleitet sind (IlI). - Die eigentliche Märchenhandlung konzentriert sich jedoch auf die phantastische Figur der Prinzessin Brambilla. Sie ist imaginär und doch wunderbar-real. Am Ende erweist sie sich als identisch mit Königin Mystilis, die aus einer Lotosblume im Urdarbronnen als Göttin herausgewachsen ist und das heißt als Allegorie der Poesie. -Auf der Märchenebene gibt es unerschöpfliche Geldbeutel, den Geist aus der Flasche und Wunderbrillen, die Mauern durchdringen, als wären sie aus Kristall. Das Wunderbare greift unmittelbar in die Erzählsukzession ein: Ein kleiner Reiter aus dem pompösen Maskenzug wird als groteskes Mischwesen zwischen Mensch und Vogel entlarvt; ein Fleck verschwindet durch Zauberei; Meister Celionati bedient sich einer unsichtbaren Leiter (IV). Auf "mythisch-allegorischer" 43 Erzählebene entwickelt sich aus der "Geschichte von dem Könige Ophioch und der Königin Liris" und ihren Fortsetzungen ein triadischer Mythos von der Entstehung des Humors. - Er wird als Erzählung Celionatis (3. Kap.) und einer Vorlesung (5. Kap.) dargeboten und mündet in die Erzählgegenwart ein (8. Kap.). - Dort fallen die Erlösung der Königin Mystilis aus Urdarland und die Klärung der verschlammten Urdarquelle mit dem wechselseitigen Erkennen in der Liebesgeschichte Giglios und Giacintas zusammen (V). 44 Genau genommen, werden diese fünf Erzählebenen noch durch zwei Kommentarebenen ergänzt: Im Gespräch mit deutschen Künstlern im Caffe greco entwickelt Celionati, der sogar über seinen eigenen fiktiven Charakter als erzählter Figur reflektiert, Hoffmanns Poetologie des Humors (VI). Darüber hinaus sucht der Autor selbst Kontakt mit dem Leser, um die innere Glaubwürdigkeit des Erzählten zu bekräftigen; er vermittelt seine Perspektive, ordnet und deutet, manchmal mitten in der Erzählsukzession, aber auch im Vorwort und am Ende, unter der Herausgeber-Maske 45 (VII). Auf allen Erzählebenen erreichen die Führungsfiguren sinnvolle Endpunkte: Das Liebespaar findet sich; die Theaterwelt wird durch Ironie und echten Humor erneuert; denn dort, im reformierten Theater, wird der Mythos vom Urdarsee Wirklichkeit. Celionati, alias Fürst Pistoja, bleibt Schirmherr wahrer humoristischer Kunst; aber der Autor, sichtlich verlegen, entfernt sich aus dem Märchen, weil ihn seine Quellen im Stiche lassen ... 182 Das Wunderbare als Antriebsfaktor im Wirklichkeitsmärchen Darüber hinaus integriert das alles durchdringende Prinzip der romantischen Ironie die verschiedenen Erzählebenen zur Einheit. Sie erweist sich als eine in hohem Maße reflektierte Gestaltungsform, deckt ihre Kompositionsprinzipien freiwillig auf und macht dem Leser die genau geplante Inszenierung bewußt. Der Autor als Schlüsselfigur lenkt seine Figuren wie ein Marionettenspieler, und sein allwissender Stellvertreter Celionati arrangiert die Illusionsdurchbrechungen und Fiktionsnennungen und deutet die Dichtung als gedichtete Wirklichkeit. 46 Denn der einzig mögliche Schauplatz des Märchens ist ja der Geist des Lesers, für Hoffmann das "allerwunderbarste Märchen [ ... ], das es nur geben kann" (S. 260). 4.3.4.1.3 Mythos und Metaphysik des Humors Wahrer Humor hat für Hoffmann eine metaphysische Dimension; 47 deshalb bringt Celionati die Einsicht unter die Leute, daß der banale Alltag nur spiegelverkehrt, d. h. durch den Humor zu ertragen ist. In Hoffmanns ironisch-gebrochenem naturphilosophischen Weltsystem (vgl. III, 4.3.2.2) ist der Humor ein mit magischen Kräften aufgeladener Zauberspiegel mythischen Ursprungs. Seine Entstehungsgeschichte wird im Capriccio als Allegorie, als triadischer "Mythus vom Urdarsee" (Harich) , ausführlich erzählt. Ce1ionati referiert den ersten Teil. (I) Dem blühenden Urdargarten ging durch den bösen Dämon Typhon 48 die Einheit mit der Natur verloren. Selbstisolation ließ den König Ophioch in Melancholie verfallen; die stets albern kichernde Königin Liris vermag ihn nicht daraus zu erlösen. - Magus Hermod kennt den Zusammenhang: der "Gedanke zerstörte die Anschauung" (S. 253), die intuitive Erkenntnis der Einheit alles Seins. Das "Prisma von schimmerndem Kristall" (S. 255), das Hermod mitbringt, zerfließt zu der klaren Urdarquelle, in dessen Spiegel Ophioch und Liris nicht nur die Natur, sondern auch sich selbst in "verkehrter Abspiegelung" (S. 256) erblicken. Lachend aus Wohlbehagen finden sie im Spiegel des Humors zur Liebe und zur Harmonie mit der Natur. (I!) Ruffiamontes Chronik erzählt weiter, daß Ophioch und Liris starben und Urdargarten die im Spiegel des Humors errungene Einheit wieder verlor: Aus Ärger über die Verhöhnung des gesunden Menschenverstandes durch das spiegelverkehrte Abbild, verschmutzten die Leute die Urdarquelle. Hermod zaubert zwar aus einer Lotosblume die Prinzessin Mystilis (die Poesie) hervor; aber sie spricht in unverständlichen Lauten, und Typhon spielt ihr - als Symbol der Langeweile im bürgerlichen Alltag und der Sexualität 49 - Filetzeug in die Hand, wodurch sie zum Porzellanpüppchen erstarrt. (lI!) Mystilis' Erlösung und die Reinigung der Urdarquelle vollziehen sich in der Gegenwartshandlung, während des römischen Karnevals. In diesem Zusammenhang stellt der deutsche Maler Reinhold der negativen Ironie der Italiener den vom "Gemüt" getragenen Humor als überlegene Kraft entgegen, weil dieser die Gebrechlichkeit des Menschen anerkennt. Reinhold setzt die Urdarquelle mit dem Humor gleich und nennt ihn "die wunderbare, aus der tiefsten Anschauung der Natur geborne Kraft des Gedankens, seinen eignen ironischen Doppeltgänger zu machen" (S. 258). Das Wunderbare als Antriebsfaktor im Wirklichkeitsmärchen 183 Nicht die Rückkehr ins Goldene Zeitalter, sondern der Spiegel der Reflexion, d. h. die Poesie, die Individuum und Natur, Subjekt und Objekt harmonisch verbindepo, führt zur Wiederentdeckung der U rdarquelle, und zwar in der Welt des Theaters. Im Spiegel wahren Humors löst sich dort der "chronische Dualismus" des Ich, der sein Nicht-Ich gebiert, in Lachen auf. Das Lachen ist Ausdruck der Freiheit des Geistes, die den Zwiespalt, mit dem der Mensch leben muß, als unaufhebbar anerkennt. Diese Freiheit entdeckt zwischen den Zwängen der Wirklichkeit und den Ansprüchen des Geistes eine Mitte und findet im Humor auf höherer Ebene zur Synthese. 51 Auf diese Weise erweiterte Hoffmann seine Utopie von der ästhetischen Existenz um die soziale Dimension: Giglio und Giacinta finden zu ihrer eigentlichen Bestimmung, und die besteht darin, durch Schauspielkunst den Urdarquell des humoristischen Theaters rein zu halten. Das Paar endet nicht in der Selbstisolation des Anselmus und nicht in der privaten Zweierbindung von Balthasar und Candida, bzw. Ännchen und Amandus. - Giglio und Giacinta begreifen, daß es ihre Aufgabe ist, als Künstler in die Öffentlichkeit zu wirken. Den nötigen Erziehungsprozeß, der sie dahin führte, hat ein Meister als avantgardistisches Action-Theater inszeniert, als phantasievolles, turbulentes Happening, das ein ganzes Stadtviertel in das Spiel einbezieht. 4.3.4.2 Erfüllung im Dienst an der Wll'klichkeit: "Meister Floh" (1822) Von der Erziehung durch das Wunderbare erzählt auch "Meister Floh ", die letzte große Arbeit, die Hoffmann, inzwischen in den Oberappellationssenat des Kammergerichts berufen, der Hysterie der Demagogenjäger zur Verteidigung der künstlerischen Freiheit entgegenstellte und mit einem Disziplinarverfahren teuer bezahlte. - Sein ewig kindlicher Märchenheld mit dem sprechenden Namen "Peregrinus" ist ein Fremdling in dieser Welt und muß erst durch einen Meister zur Selbstbehauptung in der Wirklichkeit erzogen werden. Der Meister ist diesmal ein grotesker Floh, der sich in riesenhafter Vergrößerung zeigen kann und seinem Zögling ein Gedankenmikroskop ins Auge setzt, um ihn Menschenkenntnis zu lehren. 4.3.4.2.1 Handlungsgrundriß Peregrinus Tyß, der Erbe eines beträchtlichen Spekulationsvermögens, verteidigt noch als 36jähriger Jung-Rentner seine Kinderwelt gegen die Wirklichkeit. Jedes Weihnachten beschert er sich sorgfältig ausgesuchtes Spielzeug, das er anschließend an die Kinder einer bedürftigen Frankfurter Familie verschenkt. - In die Weihnachtsbescherung der Gegenwartshandlung platzt jedoch die aufreizend herausgeputzte Dörtje Elverdink, die Nichte des Flohzirkusdirektors Leuwenhoek, und wirft sich Peregrinus an den Hals. Damit zieht sie den kindlichen Träumer in den sexuellen Machtkampf des Mannes um das Weib. Dörtje, eigentlich Prinzessin Gamaheh aus Famagusta, will Peregrinus nur den Meister Floh abschmeicheln, den dieser, ohne es zu wissen, in einer Spielzeugschachtel 184 Das Wunderbare als Antriebsfaktor im Wirklichkeitsmärchen mit eingekauft hat; denn für sie geht es um Leben und Tod: Seit einem Unfall während ihrer phantastischen Präexistenz in Famagusta, braucht sie Meister Flohs belebende Stiche. Dieser aber, dem Revenanten (d.h. Wiedergänger) Leuwenhoek entlaufen, genießt Peregrinus' Schutz. Obwohl Peregrinus Dörtje zu lieben glaubt, steht er unbeirrbar zu seinem Versprechen. Floh revanchiert sich mit dem Gedankenmikroskop und ermöglichtTyß, sich in einer Welt heuchlerischer Intriganten zu behaupten. - Nur in dem Studenten George Pepusch, in Wirklichkeit die aus Famagusta in die zeitgenössische Frankfurter Wirklichkeit abgestürzte Distel Zeherit, hat Tyß einen aufrichtigen Freund. Pepusch-Zeherit liebt seit den Tagen mystischer Präexistenz DörtjeGamaheh; aber die beiden finden nicht zusammen, sondern quälen sich gegenseitig. Schließlich begreift auch Peregrinus, daß seine Sehnsucht nach dem Reich der Kindheit mit seiner Zugehörigkeit zum Reich Famagusta zusammenhängt. Er trägt den "Karfunkel der auf wahrer Liebe gegründeten Erkenntnis" (Korff) in der Brust und wird in einer Apotheose als König Sekakis verherrlicht. Mit dem Strahl des Karfunkels vernietet Tyß-Sekakis nicht nur feindliche Prinzipe, wie den Egelprinzen und den aufgeblasenen Genius Thetel, oder Mikroskopisten wie Swammerdamm und Leuwenhoek. In seinem Licht erkennen sich auch Zeherit und Gamaheh in ihrer wahren Gestalt, aber ihre Vereinigung ist nur im Liebestod möglich. Während Zeherit als hohe Fackeldistel "ihre, im Morgenstrahl verwelkte Blüte" hinabsenkt, um die sich "liebend eine lila- und gelbgestreifteTulpe" (S. 813), die ebenfalls den "Pflanzentod" gestorbene Prinzessin Gamaheh schlingt, findet Tyß-Sekakis Glück und Selbsterfüllung in der Wirklichkeit einer gutbürgerlichen Ehe: Ausgerechnet bei den Weihnachtsbescherungen, die Pepusch Tyß als Veranstaltungen egoistischer Eigenliebe vorwarf, hat Röschen, die Tochter des Buchbinders Lämmerhirt, den inneren Wert des Peregrinus erkannt. Die Begegnung mit ihr lehrt Tyß, daß Liebe auf Vertrauen gegründet sein muß und keiner Prüfung durch das Gedankenmikroskop unterzogen werden darf. 52 4.3.4.2.2 Der schwere Weg der Selbsterkenntnis Die Welt in "Meister Floh" ist wie in den anderen großen Märchen dualistisch in die Alltagswirklichkeit und in eine mythische Gegenwelt gespalten, deren Repräsentanten sich in beachtlicher Zahl in Frankfurt tummeln; als Bürger und als Allegorien höherer Weltprinzipien zugleich. - Dörtje Elverdink, in Famagusta der verkörperte Liebreiz, ist zur Flohzirkusprinzessin, zum Männer verhexenden Glamourgirl verkommen. Die fanatischen Wissenschaftler Swammerdamm und Leuwenhoek, die sich zwischendurch auch mal auf amüsante Weise mit den optischen Strahlen ihrer Instrumente einen Zauberkampf liefern, haben beachtliche Leistungen auf Teilgebieten vollbracht und bleiben doch wahnsinnige "Detailhändler der Natur" (S. 808), weil sie nicht zu ganzheitlicher Schau finden. Auch der Kind-Mensch Peregrinus verharrt lange im ambivalenten Zwitterzustand und pendelt zwischen alberner Menschenscheu, hysterischer Berührungsangst vor Frauen und einem verfehlten Sozialengagement hin und her. Erst als seine Weltkenntnis wächst und er den Poeten in sich entdeckt, findet er zu einer realitätsgerechten Lebenseinstellung. Das Wunderbare als Antriebsfaktor im Wirklichkeitsmärchen 185 Was sich also vor den Augen des Lesers in Frankfurt abspielt, ist tatsächlich nur die Fortsetzung einer Geschichte, die in mythischer Vorzeit in Famagusta begonnen hat. Meister Floh, die groteske "Allegorie des durchdringenden Bewußtseins" (Korff) und der unbestechlichen Verstandesschärfe, die mit Tyß einen Freundschaftspakt schließt, spielt dabei eine wichtige Rolle. Im "Schimmer der Nachtlampe" erblicktTyß ein "kleines, kaum spannlanges Ungeheuer", das sich in seiner mikroskopischen Gestalt zeigt: ,,[ ... ] in dem Vogelkopf staken ein Paar runde glänzende Augen und aus dem Sperlingsschnabel starrte noch ein langes spitzes Ding, wie ein dünnes Rapier hervor, dicht über dem Schnabel streckten sich zwei Hörner aus der Stirne." (S. 716) Der noble Meister trägt nicht nur "schöne goldne Stiefel mit diamantnen Sporen" (S. 717); er besitzt auch ein Mikroskop, "einhundertzwanzigmal kleiner als ein Sandkorn" (S. 725), das weitaus eindrucksvoller als Wielands Feen-Ring in "Melissa und TImander" (vgl. III, 1.2.6), Einblick in die im menschlichen Gehirn verborgene Heuchelei und Bosheit gibt. Hinter der Hornhaut von Herrn Swammers Augen gewahrte [1)rß] seltsame Nerven und Äste, deren wunderlich verkreuzten Gang er bis tief ins Gehirn zu verfolgen und zu erkennen vermochte, daß es Swammers Gedanken waren. Die lauteten aber ungefähr: [... ] Erzählt mir der Einfaltspinsel die ganze Begebenheit mit der Prinzessin und setzt nicht voraus, daß sie mir schon selbst alles erzählt hat [... ] "So", sprach Herr Swammer, sich tief verbeugend weiter, "so empfehle ich mich dann fürs erste ganz ergebenst, mein lieber wertester HerrTyß!" Die Gedanken lauteten: Ich wollte daß dich der schwarzgefiederte Satan verschlinge, du verdammter Kerl! - (S. 733f.) Das Gedankenlesen mit Meister Flohs Mikroskop untergräbt Tyß' Vertrauen in die Mitmenschen derart, daß er sogar mit der Versuchung kämpft, die Gedanken des aufrichtig liebenden Röschens zu prüfen. Hier erweist sich das Mikroskop als eine gefährliche magische Gabe, und folgerichtig spielt an seiner Stelle der Karfunkel, das Symbol der Selbstgewißheit, die entscheidende Rolle bei Tyß' Selbstfindung. Dieser enthüllt nicht nur, daß Tyß mit König Sekakis identisch ist; er weckt die Sicherheit des Gefühls, die allein die tragfähige Basis für die Ehe mit Röschen bilden kann. Auf George Pepusch und Dörtje dagegen wirkt der Strahl des Karfunkels fatal. Zwar zeigt er ihnen ihre wahre Natur, bringt ihnen aber den Tod, und zwar in einem "kosmischen Moment" (G.H. Schubert), der zur Regression auf die Stufe vegetabilischen Lebens führt. (Vgl. III, 4.3.2.2) Im Zentrum der Beziehungen zwischen Peregrinus und Röschen, Pepusch und Dörtje, stehen also Erkenntnisprozesse. Aber auch die anderen Stränge des verwickelten Geschehens handeln von Erkenntnisfragen und der komplexen Einheit des Heterogenen im Humor. Um Erkenntnis geht es beiden Naturwissenschaftlern ebenfalls; sie bleiben jedoch in unauflöslichem Irrtum befangen, und 186 Das Wunderbare als Antriebsfaktor im Wirklichkeitsmärchen ihre Forschungen werden als Verbohrtheiten entlarvt. Um Erkenntnis geht es sogar dem niederträchtigen Hofrat Knarrpanti; nur daß dieser mit polizeistaatlichen Methoden danach sucht und hochbefriedigt ist, wenn er "der gleichgültigsten Sache einen Anstrich von gehässiger Bedeutsamkeit" (S. 755f.) geben kann. - Auf dem Weg der Erkenntnis gelangt Peregrinus dahin, die Pflichten des Alltags zu akzeptieren, ohne das Wunderbare als die andere Seite der Wirklichkeit zu verleugnen. Diesen Weg muß der Leser, vom Autor angeleitet, selbst gehen. Schon der erste Satz, der die klassische Eingangsformel "Es war einmal" verwirft, zwingt dem Leser Distanz zum Erzählten auf. Der Verfasser, in der fiktiven Rolle des "Herausgebers" oder "Autors", teilt ihm eine genau abgegrenzte und in den Text hineinkomponierte Rolle zu. Sie schmeichelt ihm, er sei an der Herstellung des Märchens beteiligt und düpiert ihn zugleich. Mancherlei Demutsgebärden signalisieren die dienende Funktion des Verfassers. Dieser behauptet, er habe vom Erzählten denselben Abstand wie der Leser und sei gezwungen, die auktoriale Allwissenheit aufzugeben. Immer wieder verweist er auf Informationslücken und fordert den Leser auf, Fehlendes selbst zu ergänzen. Das suggeriert ihm eine Verfügungsgewalt über die Figuren, eine Gleichberechtigung mit dem Herausgeber, die in Wirklichkeit auf so subalterne Aufgaben wie das Ausmalen eines Hochzeitsschmauses oder der Gefühle von Liebenden beschränkt ist. - Die Rollen des Lesers und des Herausgebers sind Fiktionen und dienen dem humoristischen Erzählen aus dem Geiste der romantischen Ironie. Nach wie vor bleibt der Verfasser die höchste Erzählinstanz, die das Märchen zu dem erwünschten fröhlichen Ende führt, obgleich er selbst dann noch immer treuherzig behauptet, die Quellen hätten ihn im Stich gelassen. 53 Trotzdem spielt der Leser in der komplizierten Textur des "Meister Floh" eine bedeutsame Rolle; denn von ihm hängt es ab, ob das Märchen zu der intendierten Wirkung kommt. Seine Aufgabe ist es, die häufig in Form harter Schnitte montierten Erzählsequenzen zu verbinden und jenen Gesamtzusammenhang herzustellen, der die Komplexität aller Wirklichkeit an seiner Vielschichtigkeit spiegelt und die Heterogenität der Teile im humoristischen Leseerlebnis zur höheren Einheit führt. Des kindlichen Träumers und präexistenten Märchenkönigs Weg aus extremer Isolation mündet in eine humane Mitte und erreicht zugleich den Endpunkt in Hoffmanns Lieblingsidee von der ästhetischen Existenz: Tyß führt eine bürgerliche Ehe mit einer schlichten Frau, als wohlhabender Bürger mit einem schönen Landhaus; und doch bleibt er König Sekakis, dem Wunderbaren durch die fortdauernde Freundschaft mit Meister Floh verbunden. Das Wunderbare, teilt Hoffmanns letztes Märchen mit, kommt erst zur Wirkung, wenn Menschlichkeit und Liebe wie der rote Karfunkel den Alltag durchstrahlen. Das Wunderbare als Antriebsfaktor im Wirklichkeitsmärchen 187 4.3.4.2.3 "Meister Floh" als politische Sensation Eine dramatische Entstehungsgeschichte hat den Blick auf den ästhetischen Rang des Märchens lange verstellt; denn Hoffmann war leichtsinnig genug, im Bekanntenkreis von den satirischen Absichten zu plaudern, die er mit "Meister Floh "verfolgte. 54 jedenfalls geriet er in Verdacht, Aktenstücke der" Commission der demagogischen Umtriebe"55 verwendet und damit seine Schweigepflicht verletzt zu haben. Der allmächtige preußische Polizeidirektor Karl Albert von Kamptz (1769-1849), der im Märchen als Knarrpanti auftritt, hörte davon und ließ das noch im Entstehen begriffene Werk beschlagnahmen. Hoffmann drohten ein Zivilprozeß und ein Disziplinarverfahren. Trotz seiner brillant formulierten Verteidigungsschrift, die er - gelähmt - vom Bett aus diktierte, um die phantastische "Geburt eines humoristischen Schriftstellers, der die Gebilde des wirklichen Lebens nur in der Abstraction des Humors wie in einem Spiegel auffassend reflectirt"56, vor dem Zugriff des Staates zu retten, konnte "Meister Floh" nur in einer stark verstümmelten Fassung erscheinen. Anfang April 1822 verschickte Wilmans die ersten Exemplare von "Meister Floh", den alle Welt als politische Sensation erwartete, um dann enttäuscht die durch die Zensur erzwungene Harmlosigkeit zu konstatieren. Erst 1906 entdeckte Georg Ellinger die von Kamptz konfiszierte "Knarrpanti-Episode" im Geheimen Staatsarchiv und publizierte sie in der "Deutschen Rundschau" (J g. 32, H. 10). 1908 gab Hans von Müller den " Meister Floh" erstmals vollständig heraus. - Hoffmann erlebte den Ausgang des gegen ihn angestrengten Verfahrens nicht mehr; er starb am 25. Juni 1822. Hardenberg verfügte die EinstellungY - Seine bis zur Selbstaufgabe treue Frau Mischa (Michalina, geb. Rorer; 1778-1858) schlug auf den Rat von Freunden die Erbschaft aus; denn der hochbezahlte Autor hinterließ ungedeckte Verbindlichkeiten in Höhe von 1300 Reichstalern und dazu fast 1200 Reichstaler Zechschulden in der Weinstube von J. C. Lutter. 58 - Freunde bezahlten seinen Grabstein mit der Inschrift: "ausgezeichnet im Amte I als Dichter I als Tonkünstler I als Maler." 4.3.5 Der Weltruhm des Kapellmeisters Hoffmann war kein verkanntes Genie, sondern der einzige deutsche Romantiker, der inzwischen internationale Anerkennung fand. Zwischen 1815 und 1825 galt er sogar als der meistgelesene deutsche Schriftsteller. - Bei seinen Dichter-Kollegen war er allerdings nicht beliebt. Dem alten Goethe bekamen die "goldenen Schlängelein" "schlecht", als er in Carlyles Übersetzung blätterte. Carlyle selbst, dem eine kongeniale Übertragung des "Goldnen Topfs" ins Englische gelang, bewunderte Hoffmanns Genialität, verglich aber seine Schöpfungen mit Träumen eines Opium-Rauchers, und Walter Scott blieb im selben Tonfall. - Deutsche Romantiker wie Arnim und Brentano kamen über laue Anerkennung nicht hinaus. Nur Chamisso schätzte den Berliner Freund und fand, er sei "unstreitig unser erster Humorist". Tieck bezeichnete Hoffmann als "irregeleitetes Talent", Jean Paul, der die "Fantasiestücke" mit einem Vorwort versehen hatte, höhnte über die "Morgen-, Mittag-, Abend- und Nachtgespenster" , und Wilhe1m Grimm fand Hoffmann einfach widerwärtig.