Schön ist es, für das Vaterland zu sterben« Von der Kriegselegie

Transcription

Schön ist es, für das Vaterland zu sterben« Von der Kriegselegie
1
Uni FR
Vorlesung
HS 2013
»Schön ist es, für das Vaterland zu sterben«
Von der Kriegselegie über die Epigramme zum Epitaphios Logos
dulce et decorum est pro patria mori
»Angenehm und schön ist es, für das Vaterland zu sterben« : So lesen wir es bei Horaz in
seiner dritten Ode (3,2,13), einem Gedicht auf . Dem in der Dichtkunst geschulten römischen
Zuhörer dürfte kaum entgangen sein, dass hinter dieser Sentenz ein griechisches Vorbild
steckte, nämlich die frühgriechische Elegie von Tyrtaios. Bei diesem liest man nämlich (eleg.
10, 1–2 W.) :
τεθνάμεναι γὰρ καλὸν ἐνὶ προμάχοισι πεσόντα
ἄνδρ’ ἀγαθὸν περὶ ἧι πατρίδι μαρνάμενον·
Schön ist der Tod, wenn der edle Krieger im vordersten Treffen
Für das Vaterland ficht und für das Vaterland stirbt !
Chr. zu Stolberg
Überhaupt ist das Gedicht des Horaz mit Reminiszenzen aus der frühgriechischen Lyrik
durchsetzt. So sind z.B. V. 14 wie auch V. 25 Entlehnungen aus Simonides (F 22, 8. 291
Poltera) :
ὁ δ’ αὖ θάνατος κίχε καὶ φυγαίχμαν.
Der Tod ereilt auch denjenigen, der der Lanze entrann.
ἔστι καὶ σιγῆς ἀκίνδυνον γέρας.
Es gibt das ungefährliche Geschenk des Schweigens.
Diese Reminiszenzen scheinen nicht zufällig zu sein : Mit Tyrtaios evoziert Horaz den
Vertreter der Kriegselegie schlechthin, mit Simonides andererseits den berühmtesten
Epigrammatiker der Perserkriegszeit (vgl. Herodot, 7, 228 und Page, Epigrammata Graeca,
97–154 [= Simon. V–XIX]) ; jüngst sind vom Keer auch umfangreichere Stücke aus Elegien
auf den griechischen Erfolg bei Plataiai (gegen den persischen Heerführer Mardonios, 479 v.
Chr.) auf Papyrusresten zum Vorschein gekommen und von Peter Parsons mit wegweisender
kritischer Mitarbeit von Martin West publiziert worden. Wir werden darauf zurückkommen.
Die frühesten expliziten Bezeugungen für die Idee des Opfertodes für das Vaterland stammen
aus der frühgriechischen Elegie. Diese Sichtweise scheint jedoch nur eine Weiterentwicklung
dessen, was schon in der Ilias vorgezeichnet ist (vgl. Steinrück, Iambos 98–99). Denn
Achilleus hat die Wahl zwischen einem langen aber ruhmlosen Leben oder eben einem
ruhmreichen, indem er für die Griechen stirbt und im Heldengesang weiterlebt. Agamemnon
stellt ihm auch eine Heirat nach dem Krieg in Aussicht, was Achilleus zunächst ausschlägt.
Wenn er dann trotzdem in den Krieg eingreift, um seinen Freund Patroklos zu rächen (“Ruhm
des Vaters”), schlüpft er in die Rolle, den die Stadt normalerweise für die jungen
(unverheirateten) Männer vorgesehen hat : Kampf und damit Statusveränderung, indem sie
timè und den Namen Mann erhalten, da sie gegen Männer kämpfen. Sollten sie überleben,
kehren sie als Held nach Hause zurück, um vielleicht eine der Wittwen zu heiraten. Die Stadt
jedoch zieht ihren Opfertod vor, den damit überleben sie im Andenken, das, wie Martin
Steinrück es formuliert, »ein Stück kollektiver Liebe für die bisher Ausgeschlossenen«
darstellt.
Bevor wir auf den Inhalt der “Kriegselegien” von Callinos und Tyraios eingehen wollen, gilt
es, das dichterische Genus näher zu beleuchten. Den folgenden Ausführungen liegt Antonio
Alonis Darstellung der Elegie im Cambridge Companion to Greek Lyric, 168–188 zugrunde,
ergänzt durch verschiedene andere (auch von ihm verwendete) Forschungsbeiträge.
2
Uni FR
Vorlesung
HS 2013
Es gibt drei griechische Wörter, mit denen solche Gedichte bezeichnet werden : ὁ ἔλεγος, ἡ
ἐλεγεία und τὸ ἐλεγεῖον. Die älteste Bezeugung stammt aus einer Inschrift, die Pausanias
dem Arkader Echembrotos zuschreibt. Dieser soll im Flötenspiel an den pythischen Spielen
von 586 v. Chr. den Sieg davongetragen und dafür einen Dreifuss geweiht haben (10, 7, 5–
6) :
ἡ γὰρ αὐλῳδία μέλη τε ἦν αὐλῶν τὰ σκυθρωπότατα καὶ ἐλεγεῖα προσᾳδόμενα τοῖς αὐλοῖς.
μαρτυρεῖ δέ μοι καὶ τοῦ Ἐχεμβρότου τὸ ἀνάθημα, τρίπους χαλκοῦς ἀνατεθεὶς τῷ Ἡρακλεῖ
τῷ ἐν Θήβαις· ἐπίγραμμα δὲ ὁ τρίπους εἶχεν·
Ἐχέμβροτος Ἀρκὰς
θῆκε τῷ Ἡρακλεῖ
νικήσας τόδ’ ἄγαλμ’ ἀμφικτυόνων ἐν ἀέθλοις,
Ἕλλησι δ’ ἀείδων
μέλεα καὶ ἐλέγους.
Der Gesang zur Flöte bestand aus den düstersten Flötenmelodien
und aus Trauergesängen, die zur Flöte gesungen wurden. Dies bezeugt mir auch das Weihegeschenk des Echembrotos, ein bronzener Dreifuss, dem thebanischen Herakles geweiht. Der Dreifuss
trug folgende Inschrift:
Der Arkader Echembrotos
weihte dem Herakles
dieses Prunkstück nach dem Sieg am Wettkampf der Umwohner,
wo er den Griechen
Lieder und Elegien sang.
Die ἐλέγους deutet Pausanias als Trauergesänge mit Flötenbegleitung, was zumindest damit
übereinstimmen würde, dass das elegische Distichon, also der Zweizweiler bestehend aus
einem Hexameter und einem Pentameter, das Versmass der Grabinschriften schlechthin
darzustellen scheint. Mit ἐλεγεῖον wird seit dem fünften Jahrhundert v. Chr. allgemein das
elegische Distichon bezeichnet, während der Plural τὰ ἐλεγεῖα sich auf die Dichtungen im
elegischen Versmass bezieht. Das Femininum ἡ ἐλεγεία entspricht weitgehend dem, was wir
heute unter Elegie verstehen, nämlich sowohl das Gedicht als auch das Genus, während der
Plural αἱ ἐλεγεῖαι wiederum ein Gedicht bezeichnet, das aus elegischen Distichen besteht
(also wie τὰ ἐλεγεῖα).
Elegien gehören hauptsächlich zwei Bereichen an, dem privaten oder symposialen und dem
öffentlichen Bereich. Die Elegie, die im Symposium vorgetragen wird, ist kürzer und im
allgemeinen von der Flöte begleitet. Dies geht eindeutig aus einer Stelle bei Theognis hervor
(v. 237–243) :
σοὶ μὲν ἐγὼ πτέρ’ ἔδωκα, σὺν οἷσ’ ἐπ’ ἀπείρονα πόντον
πωτήσηι, κατὰ γῆν πᾶσαν ἀειρόμενος
ῥηϊδίως· θοίνηις δὲ καὶ εἰλαπίνηισι παρέσσηι
ἐν πάσαις πολλῶν κείμενος ἐν στόμασιν,
καί σε σὺν αὐλίσκοισι λιγυφθόγγοις νέοι ἄνδρες
εὐκόσμως ἐρατοὶ καλά τε καὶ λιγέα
ἄισονται.
Dir gab ich Flügel, die dich über das unendliche Meer
tragen,hoch über der weiten Erde,
ganz leicht. Du nimmst an Festschmäusen und Gelagen teil
und dein Name ist in aller Munde.
Unter Begleitung von helltönenden Flöten singen anmutige
Jünglinge harmonisch dein Lob mit schön klingenden
Worten.
Die Lyra ist deshalb aber nicht aus dem Symposion verbannt, ja Aulos und Lyra können sich
abwechseln (v. 531–534) :
αἰεί μοι φίλον ἦτορ ἰαίνεται, ὁππότ’ ἀκούσω
αὐλῶν φθεγγομένων ἱμερόεσσαν ὄπα.
χαίρω δ’ εὖ πίνων καὶ ὑπ’ αὐλητῆρος ἀκούων,
χαίρω δ’ εὔφθογγον χερσὶ λύρην ὀχέων.
Mein Herz hüpft jedesmal auf, wenn ich die lieblichen
Klänge der laut tönenden Flöten höre.
Ich trinke wohl und lausche vergnügt dem Flötenspieler,
es ergötzt mich, die wohlklingende Lyra in den Händen zu halten.
In diesen Versen fehlt jedoch eine Angabe zur Gedichtart, die jeweils vom entsprechenden
Instrument begleitet wird.
Die öffentliche Elegie kennen wir hauptsächlich aus Titeln wie Mimnermos’ Smyrneis,
Semonides’ Archäologie von Samos oder Xenophanes’ Gedicht über die Gründung von
Uni FR
3
Vorlesung
HS 2013
Kolophon und die Kolonisation von Elea. Seit der Publikation der Simonidesfragmente von
1992 wissen wir, dass sie lange narrative Partien enthält ; gleichzeitig steht sie dem Preislied
und der Exhortation nahe, ja sie kann sogar Züge eines Trauerlieds annehmen. Auch dieser
Typ von Elegien scheint von der Flöte begleitet gewesen sein, wenngleich die narrativen Teile
eine musikalische Untermalung mit der Lyra nicht völlig ausschliessen. Zur vorgestellten
Rezitation der Elegien des Tyrtaios vor dem Zelt des Königs durch die spartanische Armee
kommen wir unten zu sprechen.
Gehen wir nun über zur sympotischen Elegie, also derjenigen Variante, die in privatem Kreise
beim Trank geübt wurde. Der älteste ionische Dichter, den wir kennen, ist Callinos aus
Ephesos ; er ist wohl um die Mitte des 7. Jh. v. Chr. anzusetzen. Callinos stammt also aus
dem ionischen Raum Kleinasiens. Insgesamt sind von ihm nur 25 Verse erhalten, wobei das
lange Fragment mit kriegerischer Aufmunterung – immerhin 21 Verse – den Hauptanteil
davon ausmacht. Leider zitiert Stobaios nicht das ganze Gedicht, sondern lässt eine Lücke
nach dem hortativen Proömium. Das erschwert das Verständnis beträchtlich, und wir sind
deshalb gut beraten, einen Umweg über einen anderen grossen Elegiker in Kauf zu nehmen,
der das Thema des Opfertodes für das Vaterland aufnimmt und vertieft. Er wird uns helfen,
das Gedicht von Callinos besser verstehen und damit auch besser in die archaische
Gesellschaft einordnen zu können.
Spartas sympotische Tradition ist alt und darf nicht auf die paramilitärischen Syssitien (das
gemeinsame Mal der Spartaner, der in Sparta tonangebenden Elite) beschränkt werden. Bei
Alkman ist nämlich einmal die Rede von klinai, was auf die private Art des Symposiums
hinweist. Dort wurden zunächst melische und kitharodische Gesänge vorgetragen, die mit den
Namen von Terpander und Alkmans verbunden sind. Das Auftreten der Elegie in Sparta steht
im Zusammenhang mit sozio-politischen Gegebenheiten : Sie ist das Medium einer Ideologie,
die sich auf die Hoplitenarmee stützt, wie sie zumal im ionischen Raum bereits bekannt ist. In
Sparta ist diese militärische Ordnung neu : Sie entstand wegen des zweiten messenischen
Krieges. Tyrtaios gibt ihr die heroische Dimension. Das meiste, was wir von diesem Dichter
wissen, hält der historischen Kritik nicht stand. Als Beispiel sei hier seine vermeintliche
ionische Herkunft genannt (test. 8 G-P). Das ist genusinhärent, wurde aber von den Alten
wegen des in Sparta gesprochenen dorischen Dialekts und des daraus entstehenden sprachlichen Gegensatzes für die später entstandene (aus dem erhaltenen Werk selbst hergeleitete)
Biographie des Dichters genutzt. Doch schon vorher wurde der im 4. Jh. v. Chr. in Attika
offensichtlich noch populäre Dichter von Platon als aus Athen stammend dargestellt (Leg. I,
629a). Dahinter vermutet man jedoch philosophische Konstruktion : Platons Idealstaat ist eine
Mixture aus Athen und Sparta. Jedenfalls soll Tyrtaios wie die meisten der im Sparta des 7.
Jh. v. Chr. aktiven Dichter von Aussen gekommen sein (wie Terpander [aus Lesbos], Thaletas
[Gortyn, Kreta], Alkman [Sardes] oder Polymnestos [Kolophon], um nur einige berühmte
Namen zu nennen). Ob er in Sparta wichtige militärische Funktionen innegehabt hat – Diodor
und Athenaios sprechen von einem General, wohl aufbauend auf Strabon, der behauptet,
Tyrtaios habe die Spartaner im zweiten messenischen Krieg angeführt – muss offen bleiben,
kann dies doch alles aus den Gedichten selbst erschlossen sein. Während jedoch alle anderen
Dichter seiner Zeit in Sparta Chorlieder dichteten, bleibt er der einzige, der der Kriegselegie
frönt und damit eine Art Sprachrohr der herrschenden Klasse ist. Das dürfte wohl kaum einem
Fremden gelungen sein.
Uni FR
4
Vorlesung
HS 2013
Wie Bowie in einem Aufsatz festhält (Miles ludens), sind die exhortativen Elegien von
Callinos und Tyrtaios nicht als unmittelbar einer Schlacht vorausgehend zu verstehen. Die
beiden einzigen Stellen, an denen das Temporaladverb νῦν auftaucht, scheint es sich nicht auf
eine bestimmte Aktion zu beziehen, sondern den allgemeinen Zustand einer städtischen
Gesellschaft zu einem vermutlich kritischen Zeitpunkt auszudrücken. Dass nämlich die
Elegien von Tyrtaios tatsächlich im Bankett gesungen wurden, geht auch aus einem Fragment
des Philochoros hervor (FHG I 393) :
Φιλόχορος δέ φησιν κρατήσαντας Λακεδαιμονίους
Μεσσηνίων διὰ τὴν Τυρταίου στρατηγίαν ἐν ταῖς
στρατείαις ἔθος ποιήσασθαι, ἂν δειπνοποιήσωνται
καὶ παιωνίσωσιν, ᾄδειν καθ’ ἕνα ‹τὰ› Τυρταίου·
κρίνειν δὲ τὸν πολέμαρχον καὶ ἆθλον διδόναι τῷ
νικῶντι κρέας.
Philochoros erzählt, dass die Spartaner, nachdem sie die Messenier unter Führung von Tyrtaios überwunden hatten, während ihrer Feldzüge die Sitte einführten, dass sie, einmal das
Mahl beendet und den Paian gesungen, einer nach dem anderen Elegien von Tyrtaios vortrugen. Der Polemarch amtete
als Schiedsrichter und gab dem Sieger als Preis Fleisch.
Sicherlich ist nicht alles, was Philochoros hier sagt, für bare Münze zu nehmen, doch darf
man davon ausgehen, dass das Singen von Elegien des Tyrtaios in Sparta Tradition hatte. Das
geht schon daraus hervor, dass lakonische, im Symposion gesungene Elegienteile in den
Theognidea zu finden sind (z.B. 879–884. 1087–1090). Das scheint zu bedeuten, dass selbst
Exhortationen zum Krieg in zivilen Symposien ihren Platz fanden.
Tyrtaios ist also der herausragende Dichter des zweiten Messenischen Krieges, der mit der
Unterwerfung und Versklavung des westlichen Nachbarn der Spartaner endete. Dieser Krieg
wird gemeinhin für die Jahre 640–620 angesetzt, womit Tyrtaios’ floruit kurz nach 650 zu
liegen käme. Von seinen ursprünglich fünf Büchern mit Elegien (soviel haben die alexandrinischen Grammatiker zusammengetragen, u.a. die als ὑποθήκας δι’ ἐλεγείας “kriegerischer
Aufmunterung” und μέλη ἐμβατήρια “Marschliedern”, vgl. Ath. 14,29 πολεμικοὶ δ’ εἰσὶν οἱ
Λάκωνες, ὧν καὶ οἱ υἱοὶ τὰ ἐμβατήρια μέλη ἀναλαμβάνουσιν, ἅπερ καὶ ἐνόπλια
καλεῖται) sind 143 ganze elegische Verse erhalten (71 hex, 72 pent). Damit kann man doch
schon einige Beobachtungen machen, die gewisse Tendenzen erkennnen lassen, z.B. dass 101
Zeilen am Schluss und nur gerade 29 innerhalb der Zeile interpungiert sind. Das unterscheidet
ihn doch beträchtlich von Callinos oder Archilochos, auch wenn es zu beachten gilt, dass wir
gerade von Callinos nur über sehr wenige Verse verfügen. Nichtdestoweniger sind diese
Zahlen aussagekräftig, da eine Detailanalyse der syntaktischen Struktur aufzeigen wird, dass
Tyrtaios das Distichon eindeutig weniger frei gestaltet als dies z.B. bei Callinos der Fall ist.
Ob das als qualitativ minder betrachtet werden kann (so Adkins, p. 67), möchte ich offen
lassen. Es kann sich ja auch einfach um einen anderen, von den Spartanern vielleicht sogar
geschätzteren Stil handeln, falls es erlaubt ist, Rhythmus und Aussage als komplementär zu
betrachten (und dies scheint mir sehr wohl der Fall zu sein).
Tyrtaios, eleg. 10 W.2 (Übersetzung M. Steinrück)
5
τεθνάμεναι γὰρ καλὸν ἐνὶ προμάχοισι πεσόντα
ἄνδρ’ ἀγαθὸν περὶ ἧι πατρίδι μαρνάμενον·
τὴν δ’ αὐτοῦ προλιπόντα πόλιν καὶ πίονας ἀγροὺς
πτωχεύειν πάντων ἔστ’ ἀνιηρότατον,
πλαζόμενον σὺν μητρὶ φίληι καὶ πατρὶ γέροντι
παισί τε σὺν μικροῖς κουριδίηι τ’ ἀλόχωι.
ἐχθρὸς μὲν γὰρ τοῖσι μετέσσεται οὕς κεν ἵκηται,
χρησμοσύνηι τ’ εἴκων καὶ στυγερῆι πενίηι,
Totsein ist schön, wenn einer im Kampf an vordester Front fällt
und als guter Mann um seine Vaterstadt kämpft.
Seine Stadt zu verlassen und ihre fruchtbaren Äcker,
um dann in Armut zu sein, ist doch das Schlimmste an Schmerz,
rumzuziehn mit der Mutter, der lieben, und seinem Vater,
kleinen Kindern dazu und mit der Ehefrau auch,
wo er nur hinkommt, als Feind, so werden die Leut’ ihn behandeln.
Langsam erdrückt ihn die Not, Armut, die niemand gefällt, [sehn,
Uni FR
5
Vorlesung
HS 2013
10
15
20
25
30
αἰσχύνει τε γένος, κατὰ δ’ ἀγλαὸν εἶδος ἐλέγχει,
πᾶσα δ’ ἀτιμίη καὶ κακότης ἕπεται.
bringt in Verruf seine Herkunft, zeugt gegen sein blendendes Aus-
εἰ δ’ οὕτως ἀνδρός τοι ἀλωμένου οὐδεμί’ ὤρη
γίνεται οὔτ’ αἰδὼς οὔτ’ ὀπίσω γένεος,
θυμῶι γῆς πέρι τῆσδε μαχώμεθα καὶ περὶ παίδων
θνήσκωμεν ψυχέων μηκέτι φειδόμενοι.
ὦ νέοι, ἀλλὰ μάχεσθε παρ’ ἀλλήλοισι μένοντες,
μηδὲ φυγῆς αἰσχρῆς ἄρχετε μηδὲ φόβου,
ἀλλὰ μέγαν ποιεῖτε καὶ ἄλκιμον ἐν φρεσὶ θυμόν,
μηδὲ φιλοψυχεῖτ’ ἀνδράσι μαρνάμενοι·
τοὺς δὲ παλαιοτέρους, ὧν οὐκέτι γούνατ’ ἐλαφρά,
μὴ καταλείποντες φεύγετε, τοὺς γεραιούς.
Wenn ein Mann ohne Wohnsitz so keine Achtung mehr findet,
αἰσχρὸν γὰρ δὴ τοῦτο, μετὰ προμάχοισι πεσόντα
κεῖσθαι πρόσθε νέων ἄνδρα παλαιότερον,
ἤδη λευκὸν ἔχοντα κάρη πολιόν τε γένειον,
θυμὸν ἀποπνείοντ’ ἄλκιμον ἐν κονίηι,
αἱματόεντ’ αἰδοῖα φίλαις ἐν χερσὶν ἔχοντα—
αἰσχρὰ τά γ’ ὀφθαλμοῖς καὶ νεμεσητὸν ἰδεῖν,
καὶ χρόα γυμνωθέντα· νέοισι δὲ πάντ’ ἐπέοικεν,
ὄφρ’ ἐρατῆς ἥβης ἀγλαὸν ἄνθος ἔχηι,
ἀνδράσι μὲν θηητὸς ἰδεῖν, ἐρατὸς δὲ γυναιξὶ
ζωὸς ἐών, καλὸς δ’ ἐν προμάχοισι πεσών.
Hässlich sieht’s nämlich aus, wenn einer in vordester Front fällt
ἀλλά τις εὖ διαβὰς μενέτω ποσὶν ἀμφοτέροισι
στηριχθεὶς ἐπὶ γῆς, χεῖλος ὀδοῦσι δακών.
Also: die Beine breit gespreizt, so soll man verharren,
hat auch kein Amt, er gehört schliesslich der Unterschicht an.
keine Rücksicht für ihn, und es den Nachkommen bleibt,
gehn wir doch willig zur Schlacht, und lasst uns fürs Land, für die
Kinder sterben, das Leben jedoch haben genug wir geschont.
Junge, so kämpft und bleibt beharrlich im Kampfe zusammen,
löst nicht den Rückzug aus oder die schmähliche Flucht!
Sondern macht ihn gross, euren Mut, und wehrhaft im Herzen,
Und euer Leben, vergesst’s, wenn ihr mit Männern dann kämpft!
Aber die Älteren dort, deren Kniee nicht mehr so flink sind,
lasst ihr Jüngeren nicht, Alte, beim Rückzug allein.
und dort bleibt, noch vor Jüngern, ein älterer Mann,
dessen Haare schon weiss sind und grau schon etwas der Kinnbart,
wie er ihn auskeucht, den Mut, wehrhaften Mut, da im Staub
und mit den Händen hält sein blutüberströmtes Geschlechtsteil
– hässlich ist das fürs Aug’ und revoltierend zu sehn –
und seinen nackten Körper. Das alles ziert einen Jungen,
wenn er der Jugend Reiz – strahlende Blüte – noch hat:
Männer können den Blick nicht wenden, Frauen die Sehnsucht,
lebt er noch, schön aber ist erst er gefallen ganz vorn.
in die Erde gepflanzt beiss’ auf die Lippen man fest.
Die Gelehrten sind sich nicht einig, ob ein einziges oder vielleicht zwei Gedichte vorliegen. In
letzterem Fall legen sie den Einschnitt bei v. 15 fest. Andere wiederum erkennen im Fragment
eine Dreiteilung in Dekaden (1–10, 11–20, 21–30) Wir werden die Einheit des Gedichts
postulieren, sind uns aber durchaus bewusst, dass v. 1 mit der Partikel γάρ als Gedichtbeginn
anfechtbar ist, obwohl gerade in gnomischen Aussagen am Anfang einer Elegie gern solche
ansonsten als Fortsetzungspartikel bekannte Wörter stehen. Das letzte Distichon des Gedichts
liegt nun zweimal in identischer Form vor, was auf ein Überlieferungsproblem hinweisen
könnte. Ist vielleicht 11, 21–28 hieherzuziehen ? All dies ändert jedoch nichts daran, dass die
inhaltliche Dichotomie offenbar ein Markenzeichen der exhortativen Elegie darstellt.
Steinrück (Iambos 101–2) möchte eine doppelte Ringkomposition erkennen : Zuerst werde
die These “Man muss selbstlos für die Vaterstadt kämpfen” wiederholt (v. 1–2 / v. 13–14).
Zwischen diese beiden programmatischen Distiche sei die Negativfolie geschoben : Der
Verlust aller Achtung und Ehre (v. 9. 11–12), ja sogar Verbannung (v. 3 ; diese ist wohl eher
als Drohung zu verstehen denn als Realität zu nehmen). Im Zentrum der Aufmerksamkeit
stehe hier der verheiratete Mann (Ehefrau und Kinder werden genannt). Mit ὦ νέοι und dem
exhortativen ἀλλὰ (v. 15–16) werde sodann der junge Krieger dem Älteren gegenübergestellt. In v. 31 werde die Idee des Verharrens dann wiederum wörtlich aufgenommen
(μενέτω) und damit eine zweite Ringkomposition abgerundet. Dieser zweite Teil sei ganz den
unverheirateten Jungen gewidmet ; der Tod sei dabei Heiratsersatz. Diesen Zug haben wir ja
bereits in der Ilias vorgefunden, und zwar in der Figur von Achilleus. Steinrück sieht also in
diesem Tyrtaios-Fragment eine klare Dichotomie.
Uni FR
6
Vorlesung
HS 2013
Wie Faraone jedoch aufzeigt, aufbauend auf Weil und Rossi, ist die strophische Gestaltung in
Dekaden vorherrschend. Dies ist nicht nur inhaltlich zu spüren — 1. Strophe : Der Tod in der
Schlacht ist ehrenvoller als das Herumirren des Feigen (5 Distiche) ; 2. Strophe :
Aufmunterung an die jungen Kämpfer, sich mutig der Schlacht zu stellen ; 3. Strophe :
Wiederaufnahme des Themas des ehrenvollen Todes mit ethischen Kriterien —, sondern
schlägt sich auch sprachlich nieder : v. 1 enthält die Partikel γάρ, v. 11 die Partikel τοι,
zudem finden sich zwei hortative Konjunktive der 1. Pers. Pl. und fünf Imperative der 2. Pers.
Pl. Den Partizipien im Akk. Sg. des ersten Teils (1 πεσόντα, 2 μαρνάμενον, 3 προλιπόντα, 5
πλαζόμενον) stehen in der zweiten Strophe solche im Nominativ Plural gegenüber, und zwar
wiederum abwechselnd aktiv und medium, jedoch chiastisch angeordnet (14 φειδόμενοι, 15
μένοντες, 18 μαρνάμενοι, 20 καταλείποντες). Die letzten beiden (18 μαρνάμενοι, 20
καταλείποντες) antworten gleichzeitig antithetisch, d.h. positiv auf die Partizipien zu Beginn
(2 μαρνάμενον, 3 προλιπόντα). Hier liegt also die Ringkomposition, und an der
Scharnierstelle zwischen den beiden Strophen nimmt die Protasis εἰ δ’ οὕτως… die
breitausgeführte Schmach des Feigen auf, um sogleich zur Aufforderung des nötigen
Altruismus überzugehen. Schliesslich nimmt v. 21 dann wörtlich den Versschluss von v. 1
auf, um Schande und Ehre antithetisch auszuleuchten, wiederum begleitet von der Partikel
γάρ (diesmal verstärkt mit δή). Der Schluss des v. 30 (καλὸς δ’ ἐν προμάχοισι πεσών)
nimmt das zu Gedichtbeginn angezogene Thema fast wörtlich auf und bildet somit eine
weitere, umfassende Ringkomposition. Dabei steht “iambisches” καλός (v. 30)
“trochäischem” καλόν (v. 1) gegenüber. In dieser dritten Strophe wird der Blick zudem auf
die Körper der Alten und der Jungen gelenkt, und zwar mit ähnlichen Konstruktionen : v. 26
αἰσχρὰ τά γ’ ὀφθαλμοῖς καὶ νεμεσητὸν ἰδεῖν steht v. 29 ἀνδράσι μὲν θηητὸς ἰδεῖν,
ἐρατὸς δὲ γυναιξὶ gegenüber. Erneut arbeitet Tyrtaios mit Partizipien : fünf, die sich auf den
schamlos preisgegebenen Alten beziehen (alle im Akkusativ : 21 πεσόντα, 23 ἔχοντα, 24
ἀποπνείοντ’, 25 ἔχοντα, 27 γυμνωθέντα) und nur gerade zwei, die sich auf den edlen Körper
des Jungen beziehen (im Nominativ : 30 ἐών, πεσών).
Diese Betrachtungen zeigen doch ziemlich deutlich auf, dass formal eine Dreigliederung
vorliegt, auch wenn inhaltlich nur Alt und Jung sowie die sich darauf beziehende ethische
Antithese hässlich und schön eingehender behandelt wird. Strophe 1 und Strophe 3 (mit der
Partikel γάρ) sind solchen Überlegungen gewidmet, während Strophe 2 die eigentliche
Exhortation enthält (Partikel τοι). Zusätzliche Echos lenken die Aufmerksamkeit auf den
Beginn der beiden meditativen Teile sowie auf den Schluss des zweiten :
τεθνάμεναι γὰρ καλὸν ἐνὶ προμάχοισι πεσόντα
αἰσχρὸν γὰρ δὴ τοῦτο, μετὰ προμάχοισι πεσόντα
ζωὸς ἐών, καλὸς δ’ ἐν προμάχοισι πεσών
Es entsteht damit die wohl nicht zufällige Abfolge v. 1 καλόν – v. 21 αἰσχρόν – v. 30 καλός,
womit die Einheit dieser Elegie unterstrichen wird. Was ist nun mit dem überzähligen
Distichon v. 31–32 zu tun ? Zwei Zeugen aus dem 4. Jh. v. Chr., Lykurg (der das Gedicht
zitiert) und Platon (leg. 1, 630 b) kennen es in der uns überkommenen Form.
Ἡμεῖς δέ γε ἀγαθῶν ὄντων τούτων ἔτι φαμὲν ἀμείνους εἶναι καὶ πολὺ τοὺς ἐν τῷ μεγίστῳ πολέμῳ γιγνομένους ἀρίστους διαφανῶς· ποιητὴν δὲ καὶ ἡμεῖς
μάρτυρ’ ἔχομεν, Θέογνιν, πολίτην τῶν ἐν Σικελίᾳ
Μεγαρέων, ὅς φησιν—
Wir aber behaupten, obwohl dies tapfere Männer sind, dass
doch diejenigen noch tapferer sind, und zwar um vieles, die
sich in dem grössten Krieg als die Tapfersten hervortun. Einen Dichter haben aber auch wir zum Zeugen, den Theognis,
einen Mitbürger der Megarer in Sizilien, welcher sagt :
Uni FR
7
Vorlesung
HS 2013
πιστὸς ἀνὴρ χρυσοῦ τε καὶ ἀργύρου ἀντερύσασθαι
ἄξιος ἐν χαλεπῇ, Κύρνε, διχοστασίῃ. τοῦτον δή
φαμεν ἐν πολέμῳ χαλεπωτέρῳ ἀμείνονα ἐκείνου
πάμπολυ γίγνεσθαι, σχεδὸν ὅσον ἀμείνων δικαιοσύνη καὶ σωφροσύνη καὶ φρόνησις εἰς ταὐτὸν
ἐλθοῦσαι μετ’ ἀνδρείας, αὐτῆς μόνης ἀνδρείας.
πιστὸς μὲν γὰρ καὶ ὑγιὴς ἐν στάσεσιν οὐκ ἄν ποτε
γένοιτο ἄνευ συμπάσης ἀρετῆς· διαβάντες δ’ εὖ
καὶ μαχόμενοι ἐθέλοντες ἀποθνῄσκειν ἐν ᾧ πολέμῳ
φράζει Τύρταιος τῶν μισθοφόρων εἰσὶν πάμπολλοι,
ὧν οἱ πλεῖστοι γίγνονται θρασεῖς καὶ ἄδικοι καὶ
ὑβρισταὶ καὶ ἀφρονέστατοι σχεδὸν ἁπάντων, ἐκτὸς
δή τινων εὖ μάλα ὀλίγων.
“Aufgewogen zu werden verdienet mit Gold und mit Silber,
wer als treu sich erweist, Kyrnos, im schrecklichen Zwist.”
Von diesem nun behaupten wir, dass er sich in einem schrecklicheren Krieg um sehr vieles besser erweist als jener, und
zwar ungefähr um so viel, wie Gerechtigkeit, Besonnenheit
und Einsicht vereint mit Tapferkeit besser sind als die blosse
Tapferkeit allein. Denn treu und lauter wird er sich in Zeiten des Bürgerzwists wohl niemals erweisen können ohne
die gesamte Tugend; Leute aber, die “fest auf die Füsse gestemmt” und kämpfend zu sterben bereit sind in dem Krieg,
von dem Tyrtaios spricht, gibt es unter den Söldnern sehr
viele, von denen die meisten verwegen, ungerecht, übermütig und fast die unvernünftigsten von allen Menschen sind,
ausgenommen nur ganz wenige.
Inhaltlich und formal fügen sich diese beiden Verse recht gut ein : mit μενέτω wird die Idee
des Verharrens (v. 15) wörtlich aufgenommen und damit die dort erfolgte Exhortation
zusammenfassend an den Schluss gestellt. μενέτω wird sublimiert durch στηριχθεὶς ἐπὶ γῆς,
das den ganzen ersten Teil des Pentameters einnimmt (wiederum chiastisch abgerundet durch
das Partizip δακών am Schluss). Und der Imperativ der dritten Person Singular wird von drei
Partizipien umrahmt, einen Zug, den wir schon in den ersten drei Strophen immer wieder
beobachten konnten. Nun erscheinen diese Verse mit identischem Wortlaut in einer anderen,
von Stobaios zitierten Elegie (11, 21–22). Die Sequenz ist dort durch weitere drei Distiche
erweitert, die das Motiv breiter ausführen : Wir haben also insgesamt 8 Verse. Da Platon und
Lykurg nur die ersten beiden zu kennen scheinen, könnte es sich hier um eine Übernahme aus
der anderen Elegie handeln, denn ein Eigenzitat, wie es Adkins oder West annehmen, mag
nicht richtig zu überzeugen. Da Elegien im Symposion gesungen wurden und jene von
Tyrtaios auch im 4. Jh. v. Chr. noch populär waren, könnte diese Übernahme der doch recht
freien Gestaltungsmöglichkeit bekannter Gedicht in jener Zeit anzulasten sein und stammte
damit nicht von Tyrtaios selbst.
Zeilenkommentar
v. 1–2 Interessant ist die lautliche Gestaltung mit den Assonanzen καλόν (trochäische Zäsur),
ἀγαθόν (ohne metrische Funktion) und μαρνάμενον (Distichonende). Zusammen mit
τεθνάμεναι (Distichonbeginn) bildet es den metrisch-semantischen Rahmen der Aussage.
v. 3–4 Dieses Distichon ist gekennzeichnet durch die repetive Alliteration auf π : προλιπόντα
πόλιν, πίονας, πτωχεύειν, πάντων, was mit dem zweiten Teil des Pentameters als das
Schlimmste herausgestrichen wird, wobei πάντων eine syntaktische Spannung erzeugt.
v. 5–6 Lautlich sehr effizient sind die Assonanzen auf ι : μητρὶ, πατρὶ γέροντι, παισί (fast
schmerzvoll für die Ohren) die in das von dunkeln Vokalen beherrschte ἀλόχωι münden.
v. 13–14 Das erste Distichon wird durch die beiden hortativen Konjunktive μαχώμεθα
(ergänzt durch γῆς πέρι τῆσδε, also eine Variante von v. 2 περὶ ἧι πατρίδι) und θνήσκωμεν
chiastisch aufgenommen und zum Abschluss geführt. Damit gäbe es einen Zwischenteil, der
genau eine Dekade einnimmt (es läge also einmal mehr das “strophische Prinzip” der Dekade
vor). Was zuerst als fertiger Satz erscheint (v. 13), wird durch den folgenden Pentameter und
dem Verb am Versbeginn rhetorisch effizient moduliert. Der Pentameter ist im übrigen genau
gleich konstruiert wie v. 4 : Verb, Genetivattribut, Adjektiv / Partizip.
Uni FR
8
Vorlesung
HS 2013
v. 15–16 Mit ὦ νέοι und dem exhortativen ἀλλὰ wird Jung und Alt gegenübergestellt. Der
zentrale Begriff des Verharrens steht dabei an betonter Stelle (Hexameterende) und die
Alliteration von φυγῆς und φόβου streicht die Komplementarität der negativen Komponente
im Sinne einer Art Hendiadyoin heraus (interessant sind hier die vokalisch-konsonantischen
Anklänge in teils chiastischer Form zwischen αἰσχρῆς und ἄρχετε).
v. 15–20 Zweimaliger Aufforderung mit exhortativem ἀλλά folgt jeweils ein negativer
Pentameter (μηδέ). Auch beim dritten Distichon ist der Pentameter negativ gehalten.
v. 19–20 Umrahmt wird die Aussage vom Akkusativobjekt, gesplittet in zwei nominalisierte
Adjektive (τοὺς δὲ παλαιοτέρους / τοὺς γεραιούς) mit semantischer Steigerung (Ältere /
Greise) : die Reliefstellung verleiht Nachdruck.
v. 21–30 Neu an der Gegenüberstellung von “schön” und “hässlich” ist, dass Tyrtaios die
Begriffe nicht einfach im übertragenen, sondern auch im ästhetischen Sinn anwendet, und
zwar mit Bezug auf das Verhalten des Tapferen und des Feigen (ausformuliert in eleg. 11,
19 ; vgl. Hoffmann, Ethische Terminologie 124).
v. 21–22 Hier liegt ein semantisches Hyperbaton vor : der Infinitiv κεῖσθαι, der das Subjekt
erst vervollständigt, eröffnet den Pentameter, was ihm zusätzliches Relief verleiht. Ebenso
eröffnet αἰσχρόν (v. 21) bzw. schliesst ἄνδρα παλαιότερον (v. 22) das Distichon, was ihnen
dieselbe Reliefstellung zusichert.
v. 21–27 Die Aufzählung des Hässlichen, die sich an αἰσχρὸν γὰρ δὴ τοῦτο reiht, umfasst
sechs Verse und endet genau an derselben Zäsur, nämlich der trochäischen. Man kann damit
gleichsam so weiterdenken : v. 21 / v. 27 αἰσχρὸν γὰρ δὴ τοῦτο, / νέοισι δὲ πάντ’ ἐπέοικεν.
v. 28–30 Neu erscheint nunmehr die erotische Komponente, die den Blick auf die heroische
Jugendlichkeit fixiert.
Kehren wir nun zu Callinos und seiner berühmten Elegie zum selben Thema zurück.
Callinos, eleg. 1 W.2
5
10
15
μέχρις τέο κατάκεισθε; κότ’ ἄλκιμον ἕξετε θυμόν,
ὦ νέοι; οὐδ’ αἰδεῖσθ’ ἀμφιπερικτίονας
ὧδε λίην μεθιέντες; ἐν εἰρήνηι δὲ δοκεῖτε
ἧσθαι, ἀτὰρ πόλεμος γαῖαν ἅπασαν ἔχει.
.........
καί τις ἀποθνήσκων ὕστατ’ ἀκοντισάτω.
τιμῆέν τε γάρ ἐστι καὶ ἀγλαὸν ἀνδρὶ μάχεσθαι
γῆς πέρι καὶ παίδων κουριδίης τ’ ἀλόχου
δυσμενέσιν· θάνατος δὲ τότ’ ἔσσεται, ὁππότε κεν δὴ
Μοῖραι ἐπικλώσωσ’. ἀλλά τις ἰθὺς ἴτω
ἔγχος ἀνασχόμενος καὶ ὑπ’ ἀσπίδος ἄλκιμον ἦτορ
ἔλσας, τὸ πρῶτον μειγνυμένου πολέμου.
Bis wann zecht ihr weiter ? Wann werdet ihr Mut fassen,
οὐ γάρ κως θάνατόν γε φυγεῖν εἱμαρμένον ἐστὶν
ἄνδρ’, οὐδ’ εἰ προγόνων ἦι γένος ἀθανάτων.
πολλάκι δηϊοτῆτα φυγὼν καὶ δοῦπον ἀκόντων
ἔρχεται, ἐν δ’ οἴκωι μοῖρα κίχεν θανάτου·
ἀλλ’ ὁ μὲν οὐκ ἔμπης δήμωι φίλος οὐδὲ ποθεινός,
τὸν δ’ ὀλίγος στενάχει καὶ μέγας, ἤν τι πάθηι·
λαῶι γὰρ σύμπαντι πόθος κρατερόφρονος ἀνδρὸς
θνήσκοντος, ζώων δ’ ἄξιος ἡμιθέων·
Denn das Schicksal gewährt es dem Krieger nicht, dem Tod zu
junge Männer ? Schämt ihr euch nicht, eure nächsten Nachbarn
so schmählich im Stich zu lassen ? Euch scheint, dass ihr in Friedenszeit dasitzt, doch Krieg hat das ganze Land im Griff.
…
und im Sterben werfe er zum letzten Mal den Speer.
Denn ruhmvoll ist es und glänzend für einen Mann, zu kämpfen
um sein Land, seine Kinder und die rechtmässige Gattin,
gegen die Feinde. Der Tod kommt jeweils dann, wenn ihn die
Moiren verhängen. Auf, es rücke einer auf geradem Weg vor,
das Schwert erhoben und das mutige Herz unter dem Schild zusammengezogen, sobald der Krieg ausbricht.
entrinnen, selbst wenn er aus einem Geschlecht mit unsterblichen Vorfahren stammt. Oft, dem Schlachtfeld und dem Kampfgetöse entronnen, kehrt er nach Hause zurück; dann ereilt ihn das
Todesgeschick dort. Doch wird dieser vom Volk jedenfalls
weder geliebt noch vermisst, während der andere, dem etwas zustösst (= der stirbt), beweint der Geringe und der Grosse. Denn
das ganze Volk lechzt nach dem mutigen Mann, selbst tot; hat er
Uni FR
9
Vorlesung
HS 2013
20
ὥσπερ γάρ μιν πύργον ἐν ὀφθαλμοῖσιν ὁρῶσιν·
ἔρδει γὰρ πολλῶν ἄξια μοῦνος ἐών.
überlebt, ist er den Helden ebenbürtig. In den Augen des Volkes
ist er ein Turm. Vollbracht hat er nämlich allein, was vielen zur
Ehre gebührte.
Ausser diesem Fragment ist von Callinos so gut wie nichts erhalten. Das Gedicht ist eine
Aufforderung an junge Männer, endlich ihre Musse aufzugeben und in den bereits im Land
tobenden Krieg einzutreten. Callinos zeichnet junge Männer (v. 2 νέοι), die offenbar dem
Symposion frönen (v. 1 κατάκεισθαι “darniederliegen”), anstatt die Vaterstadt zu verteidigen. Das Gedicht dürfte sich auf die Invasion der Kimmerier beziehen. Dieses Nomadenvolk, wohl iranischer Herkunft, ist historisch für das 8. und 7. Jh. bezeugt. Nach Strabon 1, 3,
21 drangen sie in Kleinasien ein, als der phrygische König Midas starb, also etwa im ersten
Viertel des 7. Jh. (700–675). Sie sollen sodann das lydische Reich angegriffen haben (um 665
v. Chr.), doch habe sie Gyges unter Mithilfe von Assurbanipal zurückgeschlagen. Danach
findet man die Kimmerier in Kappadokien, von wo aus sie abermals die Lyder angriffen und
sich schliesslich 644 v. Chr. der Hauptstadt Sardeis bemächtigten. Auf dieses spezielle Ereignis scheint sich Callinos in seinem Gedicht zu beziehen.
Sprachliches
Die Sprache des Gedichts ist stark episch gefärbt. Einige wenige Hinweise sollen hier genügen : μέχρις τέο, ἄλκιμον θυμόν (v. 1) haben homerische Parallelen, das pleonastisch anmutende Präpositionalkompositum ἀμφιπερικτίονας (v. 2) ist ebenfalls der epischen Sprache
nachempfunden (vgl. Hom. Od. 2, 65 περικτίονας ; zur Verdoppelung des Präfixes, vgl.
Hom. Il. 8, 348 Ἕκτωρ δ’ ἀμφιπεριστρώφα καλλίτριχας ἵππους, ein Hapax). Der Ausdruck
wird von Theognis aufgenommen und ebenfalls in den zweiten Teil des Pentameters gesetzt,
und zwar in Versen, wo vom Flötenspiel die Rede ist :
1055
ἀλλὰ λόγον μὲν τοῦτον ἐάσομεν, αὐτὰρ ἐμοὶ σύ
αὔλει, καὶ Μουσῶν μνησόμεθ’ ἀμφότεροι.
αὗται γὰρ τάδ’ ἔδωκαν ἔχειν κεχαρισμένα δῶρα
σοὶ καὶ ἐμοί, ‹μελέ›μεν δ’ ἀμφιπερικτίοσιν.
Lassen wir es bei dieser Rede bewenden; doch du, spiele mir
auf der Flöte, und wir beide werden der Musen gedenken.
Denn sie verliehen uns diese willkommene Gabe –
dir und mir –, den ringsherum Wohnenden im Sinne zu liegen.
Vielleicht ist der Infinitiv μελέμεν (cf. Hom. Od. 18, 420–1 τὸν ξεῖνον δὲ ἐῶμεν ἐνὶ μεγάροισ’ Ὀδυσῆος / Τηλεμάχῳ μελέμεν· τοῦ γὰρ φίλον ἵκετο δῶμα) nicht zufällig das semantische Gegenteil von Callinos’ μεθιέντες “im Stich lassen” (v. 3) ; stärker dürfte jedoch
bei Theognis der Anklang an μέλος für diese Wortwahl verantwortlich gewesen sein. Solchen
heptasyllabischen Wörtern, die den ganzen zweiten Hemistichos des Pentameters ausfüllen,
begegnet man insbesondere auch bei Tyrtaios (4, 6 W.2 ἀνταπαμειβομένους). Selbst die
Sperrung μάχεσθαι – δυσμενέσιν findet sich bei Homer vorgezeichnet (Il. 16, 520–1 οὐδὲ
μάχεσθαι / ἐλθὼν δυσμενέεσσιν. ἀνὴρ δ’ ὤριστος ὄλωλε), und κουριδίης τ’ ἀλόχου ist
eine stehende Wendung (Hom. Il. 1, 114, usw.). Neben wörtlichen Entlehnungen findet man
auch inhaltliche Anpassungen, z.B. θάνατος δὲ τότ’ ἔσσεται, ὁππότε κεν δὴ / Μοῖραι ἐπικλώσωσ’ entspricht Hom. Il. 18, 115–6 κῆρα δ’ ἐγὼ τότε δέξομαι, ὁππότε κεν δὴ / Ζεὺς ἐθέλῃ
τελέσαι.
Metrische Betrachtungen
Was die Metrik betrifft, finden sich 11 syntaktische Einschnitte am Zeilenende, wovon 9
Satzenden darstellen. 10 Mal wird innerhalb der Zeile interpungiert, wobei sich Satzenden
und Satzteilenden die Waage halten (5/5). Die trochäische Zäsur herrscht vor, zumal in den
beiden ersten Distichen, wo an jener Stelle sogar stark interpungiert wird. Bemerkenswert
Uni FR
10
Vorlesung
HS 2013
sind weiterhin die Interpunktionen nach dem zweisilbigen Beginn des Pentameters am
Schluss von grösseren Einheiten : v. 4 (wo ein Vierzeiler zu Ende geht : das spricht klar
zugunsten eines Satzendes [pace Campbell und West], wie auch die Lücke wohl nichts mehr
mit diesen ersten vier Zeilen zu tun gehabt haben wird) und v. 11 (wo ein Sechszeiler endet).
Gleichzeitig findet dort auch syntaktisches Enjambement statt (d.h. es folgt ein für das
Satzverständnis notwendiges Element : δοκεῖτε / ἧσθαι, ὑπ’ ἀσπίδος ἄλκιμον ἦτορ / ἔλσας).
Gerade mit solchen Enjambements werden auch semantische Signale gesetzt, z.B. drückt
ἔλσας rhythmisch und inhaltlich das Verharren des Kriegers aus, indem der holodaktylische
Hexameter stark verlangsamt wird. Dieses Ineinandergreifen von Inhalt und Rhythmus
werden wir im nächsten Paragraphen näher betrachten.
Zeilenkommentar
v. 1–4 Das Gedicht beginnt mit einer kurzen, rhetorischen Frage, wie sie auch Cicero in seiner
Rede gegen Catilina an den Anfang stellt (Cat. 1, 1) : quo usque tandem abutere, Catilina,
patientia nostra ? Dass es sich trotz der fragmentarischen Überlieferung um den Gedichtbeginn handelt, wir dadurch nahegelegt, dass die allgemein übliche Partikel fehlt. In derselben
Zeile folgt dann die nächste, gleich angelegte Frage, wiederum ohne Partikel. Das Zeilenende
könnte syntaktisch auch das Satzende bilden, doch geht Callinos darüber hinaus und plaziert
seinen Vokativ ὦ νέοι, was eine starke Emphase hervorruft. Diese Emphase liegt auf den
Jungen, die an vorderster Front kämpfen sollten (vgl. Adkins, p. 57). Dies scheint ein Topos
zu sein, wie der Vergleich mit Tyrtaios nahelegt. Mit dem folgenden οὐδ’ wird sodann die
Schlussilbe von νέοι gekürzt und damit die Satzpause gleichsam aufgelöst. Überhaupt drängt
die Zeile unaufhaltsam vorwärts mit den beiden Elisionen, die zweite zudem an der Mittelzäsur. Darauf folgt eines dieser seltenen siebensilbigen Wörter, die den ganzen zweiten Teil
des Pentameters einnehmen, wahrscheinlich mit verlangsamendem Effekt. Umso stärker
betont wird der nächste Pentameterbeginn (ein ganz daktylisches Element), der wiederum mit
Enjambement angereiht wird. Wie schon im ersten Hexameter folgt auch hier ein syntaktisch
starker Einschnitt an der trochäischen Zäsur. Und wie im vorausgehenden Pentameter wird
auch diesmal die Schlussilbe von ἧσθαι gekürzt, womit die syntaktische Pause wiederum
überspielt wird. Interessant ist, dass Callinos im Pentameter jeweils Formen auf -αι oder -οι
durch Hiat kürzt (v. 2. 4. 9.15), also den i-Laut zu einem Halbvokal j umformt. Sehr effektiv
gestaltet ist v. 4, wo nach dem Kontrastwort πόλεμος (das auf εἰρήνηι antwortet) die Mitteldihärese folgt und damit eine die Spannung aufs höchste steigernde Pause vorliegt, bevor
dann die fatale Feststellung folgt : γαῖαν ἅπασαν ἔχει. Callinos ist der einzige, der zu dieser
Personifikation des Krieges greift. Die Unerhörtheit des Ausdrucks legt ebenfalls ein Satzende nahe.
v. 5 Dieser Aufruf endet mit einer Lücke, die wohl mehr als einen Vers umfasste, ohne dass
man aber genau sagen könnte, wieviele Distiche fehlen. Steinrück (Iambos 103 Anm. 227)
erwägt die Möglichkeit, dass 11 Verse fehlen, womit der Text eine exakt zweigeteilte Form
hätte, wie dies schon bei Tyrtaios zu beobachten war (doch übersieht er dabei, dass man mit
v. 14 zu den Jungen zurückkehrt, s.u.). Mit v. 5 wird dieser erste Abschnitt sodann
abgeschlossen : Dem jungen Krieger wird der Opfertod nahegelegt (v. 5 ἀποθνήσκων ὕστατ’
ἀκοντισάτω).
v. 6–9 Es folgt nun ein neuer Teil, der die verheirateten Männern zum Thema hat ; tatsächlich
ist jetzt nicht mehr einzig davon die Rede, dass die Männer für das Vaterland kämpfen,
sondern auch für ihre Kinder und ihre Ehefrauen. Callinos scheint also dieselbe Dichotomie
Uni FR
11
Vorlesung
HS 2013
anzuwenden, die wir bei Tyrtaios kennengelernt haben (10, 6). Der neue Abschnitt beginnt
mit einem Distichon, der über die Versgrenze hinweg in den nächsten Hexameter reicht, aber
dann nach dem ersten Wort sogleich eine Interpunktion (und damit eine Pause) zeigt. Dieser
Dativ δυσμενέσιν ist syntaktisch nicht nötig, bringt jedoch einen stark emotionellen
Gegensatz zum vorausgehenden Pentameter (um das Land, die Kinder und die rechtliche
Ehefrau). Gleichzeitig wird damit auch die Realität des Kampfes heraufbeschworen : Es gibt
Feinde, es lauert der Tod, der jedoch vorbestimmt ist (so geht der Hexameter weiter).
θάνατος eröffnet nicht nur den Satz (Betonung des Wortes), sondern steht auch δυσμενέσιν
unmittelbar gegenüber. Der Hexameter insgesamt ist von drei Zäsuren gekennzeichnet : nach
δυσμενέσιν (eigentlich eine Nebenzäsur, hier aber ein Satzende), nach θάνατος δέ (κατὰ
τρίτον τροχαῖον) und schliesslich nach ἔσσεται (bukolische Dihärese, abgeschwächt durch
die Hiatkürzung = gleitendes Jota). Dieser holodaktylische (!) Hexameter mündet dann in den
Pentameter, der genau dieselbe Form aufweist wie jener zuvor : γῆς πέρι καὶ παίδων /
Μοῖραι ἐπικλώσωσ’. Nur dass hier ein syntaktischer Einschnitt folgt (leich abgeschwächt
durch die Elision), bevor dann mit ἀλλά τις ἰθὺς ἴτω die positive Aufmunterung folgt.
v. 9–11 Wiederum übergeht Callinos die Distichongrenze, fügt dann erneut einen
holodaktylischen Hexameter an und bremst schliesslich dieses Vorwärtspreschen mit dem
spondäischen Wort ἔλσας, das den Pentameter eröffnet. Damit wird der entschlossene
Widerstand des Kriegers rhythmisch effektvoll untermalt. Mit der Zeitangabe, die als
Genetivus absolutus gestaltet ist, gelangt man schliesslich ans Versende, wo endlich
Distichon und Syntax zusammenfallen und eine Pause gestatten.
v. 12–13 Das Thema “Tod” ist damit jedoch noch nicht abgeschlossen : Was in v. 8 mit θάνατος δέ begann, wird hier mit θάνατόν γε (man beachte dieselbe Versstelle) weitergeführt,
und zwar (einmal mehr) versübergreifend bis zu ἄνδρ’, mit einem unüblichen syntaktische
Einschnitt nach der ersten Länge des Pentameters. Die Reliefstellung des Wortes unterstreicht
dessen unerwartetes Erscheinen : Der Zuhörer erwartet eigentlich ἄνθρωπον, auch wenn es
sich dabei um einen selbst zur Zeit von Callinos bereits etwas abgedroschenen Gemeinplatz
handelte. Mit ἄνδρα hingegen wird der Fokus zurück auf die νέοι gelegt, die in der Folge mit
Achilleus verglichen werden (v. 13 οὐδ’ εἰ προγόνων ἦι γένος ἀθανάτων).
v. 14–16 West und Adkins behandeln die Verse 14–16 als Einheit und übersetzen das Partizip
φυγών mit “das Gemetzel (absichtlich) meiden”, als ob es sich um die Beschreibung eines
Feiglings handelte. Das scheint mir jedoch zu weit gegriffen, auch wenn in v. 16 davon die
Rede ist, dass er weder beim Volk beliebt ist noch vom Volk vermisst wird, während der
andere, dem etwas zustösst, von Reich und Arm beklagt wird. Vielmehr scheint mit v. 16 eine
neue Idee eingebracht zu werden : Wie die Verse 12–15 um den Begriff des unabwendbaren
Todes kreisen, wird mit v. 16–21 die Idee des Vermissens formuliert (v. 16 ποθεινός / v. 18
πόθος) und zunächst auf den toten Krieger, dann auch in effizienter Antithese (θνήσκοντος
und ζώων stehen sich unmittelbar gegenüber, und zwar im ersten Teil des Pentameters) auf
den überlebenden gemünzt. Diesem ist schliesslich das letzte erhaltene Distichon gewidmet.
v. 14–15 Doch kommen wir noch einmal zurück auf die Verse 14–15 : Mit ἔρχεται, das
wiederum in Reliefstellung zu Beginn des Pentameters steht, wird die Heimkehr ausgedrückt.
Tatsächlich ist in der Odyssee ἔρχεσθαι die regelmässige Form des Verbs, das die Heimkehr
des Odysseus ausdrückt. Selbst wenn man immer wieder dem Schlachtgetümmel entkommt
und nach Hause zurückkehrt, erwartet einen schliesslich dort der Tod (ἐν δ’ οἴκωι). Man ist
dann alt und damit für eine öffentliche Trauerfeier nicht wirklich interessant.
Uni FR
12
Vorlesung
HS 2013
v. 18–21 Zur Struktur dieser Verse ist zu sagen, dass mit θνήσκοντος ein Enjambement
vorliegt und ihm ζώων antithetisch gegenübersteht. Überhaupt sind die verschiedenen
Elemente dieser Verse gegensätzlich angeordnet : Dem verseröffnenden λαῶι antwortet
κρατερόφρονος ἀνδρός am Versschluss und schliesslich seine Erhebung zum Halbgott
(ἡμιθέων) am nächsten Pentameterschluss. Und während das gewöhnliche Volk schaut
(ὁρῶσιν, Hexameterschluss), vollbringt der Krieger Taten (ἔρδει, Pentameterbeginn). Er
macht dies ganz allein (μοῦνος ἐών), obwohl es vielen gebührte (πολλῶν ἄξια) ; gleichzeitig
antwortet μοῦνος ἐών auch auf λαῶι σύμπαντι. Insgesamt entstehen so zwei Vierergruppen
(Todesthema / Volk und einzelner Krieger), die ein μὲν-δὲ-Distichon umrahmen.
Nimmt man das Gedicht als Ganzes und schaut auf die grösseren Einheiten, so lässt sich sagen, dass es mit einem Vierzeiler zu beginnen scheint. Danach kommt die Lücke, über die wir
nichts Konkretes aussagen können. Der Neueinsatz mit v. 6 hingegen eröffnet eine Folge von
drei Distichen ohne syntaktischen Einschnitt und damit ohne Pause. Daran schliesst sich eine
Erklärung zum Motiv des Todes / Sterbens an (γάρ), die genau eine Dekade umfasst und
unser Fragment abschliesst (vgl. dazu Faraone, p. 55–56). Gegenüber der vorausgehenden,
syntaktisch ununterbrochenen Dreiergruppe unterscheidet sich die letzte erhaltene Dekade
durch die Interpunktionen, die nunmehr mit den Distichen übereinstimmen. Man beobachtet
dort eine Serie von identischen inneren Reimen im ersten, vierten und fünften Pentameter
(προγόνων … ἀθανάτων / ζώων … ἡμιθέων / πολλῶν … ἐών), ein Spiel mit der Assonanz
der Verse 13 [Pentameter] und 14 [Hexameter] : ἀθανάτων / ἀκόντων), wobei der Hexameter denselben inneren Reim erzeugt wie der Pentameter zuvor (φυγὼν … ἀκόντων). Dabei
liegt inhaltlich zuerst eine Vierergruppe vor mit dem Thema θάνατος (Anfang und Schluss :
v. 12 / 15) ; eine nächste Gruppe ist gekennzeichnet durch ποθεινός (v. 16 / πόθος (v. 18) ;
ebenfalls eng miteinander verknüpft sind dann die Verse 19 und 21, wo nicht nur der –ωνReim vorliegt, sondern auch noch ein Echo durch die Repetition des Wortes ἄξιος mit der
Endassonanz (ἄξιος ἡμιθέων / ἄξια μοῦνος ἐών) sowie die Kumulierung der Partikel γάρ
(18. 20. 21), die wiederum einhergeht mit der rhythmischen Erscheinung von fünf langen
Silben am Versbeginn (Hexameter und Pentameter !). Man kann nun mit Faraone die Verse
12–21 als zusammenhängende Dekade verstehen, oder aber vielleicht 12–15 mit 6–11 zu
einer Dekade verbinden (vgl. den Endreim πολέμου / θανάτου). Dies hängt klar von der
Gewichtung der Argumente ab, bleibt also letztendlich Glaubenssache. Einzig das Prinzip der
Dekadenstruktur scheint unumstösslich zu sein.
Unser nächstes Beispiel stammt wiederum von Tyrtaios.
Tyrtaios, 11 W.2
5
10
ἀλλ’, Ἡρακλῆος γὰρ ἀνικήτου γένος ἐστέ,
θαρσεῖτ’– οὔπω Ζεὺς αὐχένα λοξὸν ἔχει –
μηδ’ ἀνδρῶν πληθὺν δειμαίνετε, μηδὲ φοβεῖσθε,
ἰθὺς δ’ ἐς προμάχους ἀσπίδ’ ἀνὴρ ἐχέτω,
ἐχθρὴν μὲν ψυχὴν θέμενος, θανάτου δὲ μελαίνας
κῆρας ‹ὁμῶς› αὐγαῖς ἠελίοιο φίλας.
ἴστε γὰρ ὡς Ἄρεος πολυδακρύου ἔργ’ ἀΐδηλα,
εὖ δ’ ὀργὴν ἐδάητ’ ἀργαλέου πολέμου,
καὶ μετὰ φευγόντων τε διωκόντων τ’ ἐγέ‹νε›σθε
ὦ νέοι, ἀμφοτέρων δ’ ἐς κόρον ἠλάσατε.
Auf, die ihr dem unbesiegten Geschlecht des Herakles angehört,
fasst Mut! Noch trägt Zeus seinen Kopf nicht gebeugt (= Sklave).
Fürchtet die Masse der Feinde nicht, sucht nicht die Flucht,
sondern lasst den Krieger seinen Schild gerade der Front halten,
das Leben verabscheuend, die schwarzen Todesgöttinnen
hingegen freundlich aufnehmend wie die Strahlen der Sonne.
Denn ihr wisst, wie entsetzlich die Werke des vielbeweinten
Ares sind, kennt bestens die Wut des schrecklichen Kriegs,
ihr wart mit den Verfolgten, mit den Verfolgern auch,
junge Krieger, und von beidem habt ihr zur Genüge erfahren.
Uni FR
13
Vorlesung
HS 2013
15
20
25
30
35
οἳ μὲν γὰρ τολμῶσι παρ’ ἀλλήλοισι μένοντες
ἔς τ’ αὐτοσχεδίην καὶ προμάχους ἰέναι,
παυρότεροι θνήσκουσι, σαοῦσι δὲ λαὸν ὀπίσσω·
τρεσσάντων δ’ ἀνδρῶν πᾶσ’ ἀπόλωλ’ ἀρετή.
οὐδεὶς ἄν ποτε ταῦτα λέγων ἀνύσειεν ἕκαστα,
ὅσσ’, ἢν αἰσχρὰ πάθηι, γίνεται ἀνδρὶ κακά·
ἁρπαλέον γὰρ ὄπισθε μετάφρενόν ἐστι δαΐζειν
ἀνδρὸς φεύγοντος δηΐωι ἐν πολέμωι·
αἰσχρὸς δ’ ἐστὶ νέκυς κατακείμενος ἐν κονίηισι
νῶτον ὄπισθ’ αἰχμῆι δουρὸς ἐληλάμενος.
Diejenigen, die zusammenbleiben und es wagen,
ἀλλά τις εὖ διαβὰς μενέτω ποσὶν ἀμφοτέροισι
στηριχθεὶς ἐπὶ γῆς, χεῖλος ὀδοῦσι δακών,
μηρούς τε κνήμας τε κάτω καὶ στέρνα καὶ ὤμους
ἀσπίδος εὐρείης γαστρὶ καλυψάμενος·
δεξιτερῆι δ’ ἐν χειρὶ τινασσέτω ὄβριμον ἔγχος,
κινείτω δὲ λόφον δεινὸν ὑπὲρ κεφαλῆς·
ἔρδων δ’ ὄβριμα ἔργα διδασκέσθω πολεμίζειν,
μηδ’ ἐκτὸς βελέων ἑστάτω ἀσπίδ’ ἔχων.
ἀλλά τις ἐγγὺς ἰὼν αὐτοσχεδὸν ἔγχεϊ μακρῶι
ἢ ξίφει οὐτάζων δήϊον ἄνδρ’ ἑλέτω. [ἐρείσας,
καὶ πόδα πὰρ ποδὶ θεὶς καὶ ἐπ’ ἀσπίδος ἀσπίδ’
ἐν δὲ λόφον τε λόφωι καὶ κυνέην κυνέηι
καὶ στέρνον στέρνωι πεπλημένος ἀνδρὶ μαχέσθω,
ἢ ξίφεος κώπην ἢ δόρυ μακρὸν ἑλών.
ὑμεῖς δ’, ὦ γυμνῆτες, ὑπ’ ἀσπίδος ἄλλοθεν ἄλλος
πτώσσοντες μεγάλοις βάλλετε χερμαδίοις
δούρασί τε ξεστοῖσιν ἀκοντίζοντες ἐς αὐτούς,
τοῖσι πανόπλοισιν πλησίον ἱστάμενοι.
Also: die Beine breit gespreizt, so soll man verharren,
in den Nahkampf mit der vordersten Schlachtreihe zu treten,
fallen in kleiner Zahl und retten die Truppen hinter ihnen.
Zittern den Kriegern die Knie, ist die ganze Tapferkeit dahin.
Niemand ist wohl in der Lage, all dies in Worten aufzuzählen,
was an Übeln dem Krieger widerfährt, wenn er schändlich sterben sollte. Verlocckend ist es nämlich, den Rücken eines fliehenden
Gegners von hinten zu durchbohren im elenden Krieg.
Schändlich ist der Leichnam, der im Staub liegt,
den Rücken von hinten getroffen mit der Spitze der Lanze.
in die Erde gepflanzt beiss’ auf die Lippen man fest,
Schenkel und Beine unten und Brust und Schultern
bedeckt mit dem Bauch des breiten Schildes.
In der rechten Hand schwinge man den harten Speer, über dem
Kopf wehe der gewaltige Helmbusch. Gewaltige Taten vollbringend soll man Kampferfahrung sammeln, nicht ausser Reichweite
der Geschosse stelle man sich, man hat ja einen Schild.
Also man suche den Nahkampf mit der grossen Lanze oder dem
Schwert, verletze den Feind und töte ihn.
Fuss gesetzt gegen Fuss, Schild gestützt gegen Schild,
Helmbusch im Helmbusch, Helm gegen Helm
und Brust gegen Brust gepresst kämpfe man mit dem Feind,
den Handgriff des Schwerts oder die lange Lanze fassend.
Ihr Leichtbewaffneten, duckt euch von beiden Seiten unter
den Schild und schleudert riesige Wurfsteine,
lasst eure glatten Speere fliegen (?) gegen sie,
aufgestellt nahe den Vollbewaffneten.
Metrisch-syntaktische Beobachtungen
Es wird schnell klar, dass Tyrtaios wenig Effekte schafft mit der Art, wie er die Sätze in die
Distichen einflicht. 27 von 38 Zeilen tragen bei West eine Interpunktion am Ende der Zeile,
nur 11 befinden sich innerhalb der Zeile (1, 2, 3, 5, 10, 13, 16 bis, 22, 35 bis). Drei davon
befinden sich an der Verszäsur (5, 13, 35), zwei an der Dihärese des Pentameters (16, 22) und
eine an der bukolischen Dihärese (3). Die wichtigsten Satz(teil)pausen fallen also auf die
versimmanenten Zäsuren, und zwar in einem Mass, das bei weitem jenes von Callinos oder
auch Archilochos übertrifft. Gleichzeitig ist Tyrtaios auch der Dichter, der am meisten
Spondäen verwendet. Dieser Punkt wird uns noch näher interessieren.
Was den Strophenbau betrifft, so sind die Dekadeneinschnitte wiederum klar markiert.
Die ersten zehn Verse bringen acht Imperative der zweiten Person Plural, zwei am
Versbeginn (v. 2. 6), vier am Versende (v. 1. 3. 9. 10), und zwei im Versinnern (wovon v. 3).
Dazu kommt noch der Imperativ der 3. Person Singular ἐχέτω am Versende (v. 4), der einem
Imperativ der zweiten Person Plural ebenbürtig ist. Dieser ganze Passus eröffnet mit der
Exhortativ-Partikel ἀλλά und wendet sich an die jungen Spartaner, wie man aber erst am
Schluss der Strophe (v. 10 ὦ νέοι) wirklich erfährt. Die Dekade selbst ist in zwei Teile geteilt,
die mit ähnlich lautenden Sätzen beginnen : v. 1 “denn ihr stammt ja aus Herakles’
Geschlecht” (Ἡρακλῆος γὰρ ἀνικήτου γένος ἐστέ) / v. 7 “denn ihr wisst, wie entsetzlich die
Werke des vielbeweinten Ares sind” (ἴστε γὰρ ὡς Ἄρεος πολυδακρύου ἔργ’ ἀΐδηλα). Und
Uni FR
14
Vorlesung
HS 2013
beide Mal wird die Verszäsur mit dem nachfolgenden Adjektiv gleichsam überspielt. Für
einmal werden jedoch keine allgemeinen Ratschläge zur Kriegsführung gegeben, sondern
Tyrtaios muntert eine Gruppe von spartanischen Soldaten zum Kampf auf, indem er ihnen
ihre Abstammung und ihre Kriegserfahrung in Erinnerung ruft.
Man beachte nun den Kontrast, den die nächste Strophe bringt : Wie wir schon in Fragment
10 W.2 gesehen haben , folgt auf die Exhortation eine ethisch-philosophische Betrachtung,
eingeführt mit der dafür üblichen Partikel γάρ. Es geht um die moralische Wahl zwischen
zwei Alternativen : Kämpfen im Verbund zum Wohl aller oder schändliche Flucht. Nunmehr
herrscht die dritte Person Plural vor : Die Ratio Tapferkeit / Feigheit liegt bei 3 / 7. Der zweite
Teil bringt auch eine Ringkomposition : auf v. 14 τρεσσάντων δ’ ἀνδρῶν antwortet v. 18
ἀνδρὸς φεύγοντος. Derselbe v. 18 (2. Teil : δηΐωι ἐν πολέμωι) schlägt im übrigen eine
sprachliche Brücke zu v. 8 (2. Teil : ἀργαλέου πολέμου). Danach folgt ein Distichon, das
diesen zweiten Teil zusammenfasst. Das Partizip am Schluss von v. 20 ἐληλάμενος ist dabei
vom selben Verb geformt wie die finite Verbform in v. 10 ἠλάσατε.
Die restlichen Verse nehmen wiederum die hortative Form auf. Es gibt zwei Einheiten, die
jeweils mit ἀλλά τις beginnen und sich inhaltlich weitgehend entsprechen. Die erste Einheit
besteht aus 8 Versen (v. 21–28), die zweite aus 10 (v. 29–38). Da mit v. 21–22 ein Distichon
vorliegt, das wir schon aus eleg. 10 kennen, ist man versucht, v. 21–28 als unecht auszuscheiden (eine Art Haplographie wegen ἀλλά τις und der inhaltlichen Parallelen), womit auch der
dritte Teil eine Dekade darstellte. Doch schauen wir uns diese beiden Einheiten näher an.
v. 21–28 sind gekennzeichnet durch eine Vierzeiler mit einem Imperativ der dritten Person
Singular und vier Partizipien : Widerstand (μενέτω), gespreizte Beine, fest auf dem Boden
verankert (διαβάς, στηριχθείς), festgebissen (δακών), im Schutz des manndeckenden Schildes (καλυψάμενος). Dieses statische Bild wird ergänzt von Bewegung, ausgedrückt im nächsten Distichon mit zwei Imperativen der dritten Person Singular : Waffenschwingen und
Helmbuschbewegen (τινασσέτω, κινείτω). Um die nötige Kampferfahrung zu sammeln, soll
man sich in Reichweite des Feindes begeben, zumal der Schild schliesslich den nötigen
Schutz bietet (διδασκέσθω, ἑστάτω, ἔχων).
v. 29–38 Die folgende Dekade setzt mit dem Nahkampf ein (ausgedrückt durch zwei Adverbien : ἐγγύς, αὐτοσχεδὸν [vgl. v. 12] und dem Partizip ἰών), der zum Tod des Feindes führen
soll (οὐτάζων … ἑλέτω). Es folgt eine zwei Distichen umfassende Beschreibung, wie die
massierte Phalanx aussehen soll (immer noch mit dem Imperativ der dritten Person Singular :
μαχέσθω ; voraus gehen drei Partizipien : θεὶς, ἐρείσας [im selben Vers !] und πεπλημένος
[vor dem Hauptverb]) ; bei dieser sprachlichen Akrobatie liegt homerische Reminiszenz vor
(Il. 13, 128–35) :
οἳ γὰρ ἄριστοι
κρινθέντες Τρῶάς τε καὶ Ἕκτορα δῖον ἔμιμνον,
φράξαντες δόρυ δουρί, σάκος σάκεϊ προθελύμνῳ·
ἀσπὶς ἄρ’ ἀσπίδ’ ἔρειδε, κόρυς κόρυν, ἀνέρα δ’ ἀνήρ·
ψαῦον δ’ ἱππόκομοι κόρυθες λαμπροῖσι φάλοισι
νευόντων, ὡς πυκνοὶ ἐφέστασαν ἀλλήλοισιν·
ἔγχεα δ’ ἐπτύσσοντο θρασειάων ἀπὸ χειρῶν
σειόμεν’· οἳ δ’ ἰθὺς φρόνεον, μέμασαν δὲ μάχεσθαι.
Denn der Achaier Edelste
harrten der Troer gefaßt, und des göttlichen Hektors:
Lanz' an Lanz' eindrängend, Schild mit Schild aufeinander,
Schild an Schild gelehnt, an Helm Helm, Krieger an Krieger;
die umflatterten Helme der Nickenden rührten geengt sich
mit hellschimmernden Zacken: so dichtvereint war die HeerAber die Speer', unruhig in mutigen Händen bewegt, [schar;
zitterten; entschlossen waren sie, entbrannten von Kampfgier.
v. 35–38 Die letzten vier Verse wenden sich nunmehr in direkter Rede an die jungen Krieger,
diesmal aber an eine bisher nicht einbezogene Gruppe : die Leichtbewaffneten. Es liegt also
Uni FR
15
Vorlesung
HS 2013
ein Bruch zu den Versen 21–34 vor, wo ausschliesslich der Imperativ der dritten Person Singular verwendet wird. Tyrtaios zeichnete bisher das Bild der Schlacht, wie es die spartanischen Soldaten selbst nicht sehen. Sie können sie gleichsam von aussen ihren Kampfverlauf
mitverfolgen und damit Mut fassen. Jetzt wird eine Waffengattung angesprochen, die sozial
niederer gestellt ist und sich nicht auf die Herkunft von Herakles berufen kann. Zudem werden die Feinde jetzt nicht mehr präzise benannt, sondern erscheinen nur noch als αὐτούς.
Dazu kommen noch andere Schwierigkeiten semantischer und syntaktischer Art. Zunächst ist
das Partizip πτώσσοντες mit negativer Konnotation behaftete, wenn von Kämpfenden die
Rede ist. Dann erlaubt auch die Verbindung des Verses 37 mittels τε keine befriedigende
Deutung : δούρασί τε ξεστοῖσιν ἀκοντίζοντες ἐς αὐτούς genügt sich selbst (vgl. Hom. Il. 4,
496 στῆ δὲ μάλ’ ἐγγὺς ἰὼν καὶ ἀκόντισε δουρὶ φαεινῷ; Od. 22, 263 μνηστήρων ἐς ὅμιλον
ἀκοντίσαι) und kann nicht von βάλλετε abhängig gemacht werden. Verbindet man hingegen
δούρασί τε ξεστοῖσιν mit μεγάλοις βάλλετε χερμαδίοις, hängt das Partizip in der Luft
(und δούρασι βάλλετε ergibt auch nicht wirklich Sinn). Schliesslich ist der Begriff γυμνής /
γυμνήτης für den Leichtbewaffneten nicht vor dem 4. Jh. v. Chr. bezeugt (Xen., Plat., Lycurg). Ganz zu schweigen davon, dass ἐς αὐτούς zwar verständlich, aber dennoch ungewohnt
ist : der Feind wird im Normalfall benannt (vgl. v. 30 δήϊον ἄνδρ’).
Damit fällt die oben geäusserte Vermutung dahin, dass es sich bei v. 29–38 um eine dritte
Strophe handeln könnte, die die beiden anderen komplettiert. Man könnte nun vermuten, es
läge mit 21–30 ebendiese dritte Strophe vor und die Anapher von ἀλλά τις als Ringkomposition ansehen und die Verse 31–38 athetieren. Dem steht jedoch seinerseits entgegen, dass
das syntaktische Enjambement mit ἢ ξίφεος stylistisch höchst bedenklich ist. Das Element
steht an betonter Stelle, wirkt aber flach wie ein nachträglich hinzugefügter Gedanke anstatt
der erwarteten Schilderung der Aktion mit der Lanze (vgl. auch v. 34 ἢ ξίφεος κώπην ἢ
δόρυ μακρὸν ἑλών, wo zumindest eine Alternative im selben Vers vorliegt). Die Spannung,
die mit der Verdoppelung der Adverbien aufgebaut wird – es geht um Nahkampf, ganz nah
(ἐγγύς, αὐτοσχεδόν) –, fällt in sich zusammen. Daneben wundert man sich auch über οὐτάζων … ἑλέτω : entweder verwundet oder tötet man. Nun ist bei Homer οὐτάζω gern mit
αὐτοσχεδ- verbunden… Ebenfalls wenig glücklich ist der adverbiale Gebrauch von ἐν δὲ (v.
32) : bei Homer bedeutet es “drinnen, darunter, dabei” (s. dazu K.-G. I, 526).
Die Probleme beginnen mit v. 29 und der Anapher von ἀλλά τις. Das könnte bedeuten, dass
Stobaios eine kontaminierte Version der Elegie darbietet. Tyrtaios war ja im 4 Jh. v. Chr.
noch sehr populär, und ein Copyright kannten die Alten nicht. So beanstandet denn Wilamowitz (Textgeschichte 113), Weil folgend (RhM 17, 1862, 12–13), die Verse 29–34 und 37–
38. Während bei Weil die strophische Form im Vordergrund steht, bemängelt Wilamowitz
allein schon die Qualität der Verse und den Anachronismus der Phalanx, die zur Zeit von
Tyrtaios noch nicht existierte (partieller Widerspruch von Bowra, Early Greek Elegists 57
und Adkins, Poetic Craft 78). Zusammen kommen sie zum Schluss, dass die ursprüngliche
Form des Gedichts die Verse 21–28 und 35–36 enthielt, also aus drei Dekaden bestand.
Faraone (Stanzaic architecture 60–65) hingegen nimmt das Gedicht in seiner vollen Länge
und setzt eine Lücke nach v. 28 an. Damit werde der zweite Mahnende Teil verdoppelt, ein
erster der defensiven und der zweite der offensiven Technik Rechnung tragend. Er sieht das
insofern bestätigt, als die beiden ἀλλά τις-Verse je einen Aspekt von v. 11–12 aufnehmen : v.
21 μενέτω, v. 29 ἰὼν αὐτοσχεδόν. Die letzten vier Verse mit der Mahnung an die Leichtbewaffneten werden unter der Optik der Offensive eingereiht, ohne ein Wort über die textlichen
Uni FR
16
Vorlesung
HS 2013
Schwierigkeiten zu verlieren. Man wird den Verdacht nicht los, dass Faraone sich von seinem
Postulat der dekadischen Strophenform blenden lässt und den inhaltlichen und sprachlichen
Schwierigkeiten aus dem Weg geht. Was in der Lücke gestanden haben soll, darüber verliert
er kein Wort.
Zeilenkommentar
v. 1–2 Das Gedicht beginnt äusserst kraftvoll mit einem recht grossen Hyperbaton. Der Einschub hebt die Abstammung von Herakles hervor. Das Genetivattribut steht zwischen zwei
Partikeln (ἀλλά, γάρ) und wird nach der Zäsur durch das wichtige Attribut ἀνίκητος ergänzt,
bevor das Nomen γένος die Abstammung verdeutlicht. Erst im Pentameter folgt dann das
Verb, das von der Aufforderungspartikel gefordert wird. Die Anfangsstellung verleiht θαρσεῖτε zusätzliches Relief. Hexameter und Pentameter beginnen spondäisch, was der Aussage
eine gewisse Ernsthaftigkeit, ja Feierlichkeit verleiht. Das spartanische Königsgeschlecht
führt sich auf den unbesiegbaren Herakles und damit auch den Sippengründer Zeus zurück
(Herakles ist ja Zeus’ Sohn). Dieser steht an betonter Stelle vor der Dihärese des Pentameters ; aufgrund dieser göttlichen Abstammung ist Zeus dem spartanischen Königshaus und
damit den spartanischen Kämpfern natürlich freundlich gesinnt. Zudem kann langer Kampf
den Spartanern nichts anhaben : Schliesslich hat Herakles seine zwölf Taten zu gutem Abschluss gebracht. Wie wir schon bei Callinos beobachten konnten, wird also zuerst an den
Mut appelliert. Mit αὐχένα λοξὸν ἔχει dürfte eine sprichwörtliche Wendung für “Sklave
sein” vorliegen (vgl. Thgn. 535–6 οὔποτε δουλείη κεφαλὴ ἰθεῖα πέφυκεν, / ἀλλ’ αἰεὶ
σκολιὴ καὐχένα λοξὸν ἔχει.).
v. 3–4 Rhetorisch sehr effektvolle figura etymologica der Wortes ἀνήρ, das zudem die Menge
der feindlichen Streiter (ἀνδρῶν) dem einzelnen spartanischen Kämpfer (ἀνήρ) gegenüberstellt, der unerschrocken an vorderster Front kämpft (Hervorhebung von ἰθὺς δ’ ἐς προμάχους durch die Position am Pentameterbeginn). Dass die Menge der Feinde Angst einflössen
kann, steht schon bei Homer (Il. 11, 405) ; doch die Kombination von πληθύς und πρόμαχοι
ist nicht nur neu, sondern verschiebt auch das Gewicht : Bei Homer höchst gefürchtet, fordert
Tyrtaios die Spartaner zum Nahkampf auf. Offensichtlich hat sich die Ausrüstung und die
Kriegsstrategie inzwischen geändert (vgl. Adkins, Poetic Craft 87).
v. 5–6 Während bei Homer die Türen des Hades verhasst sind und das Lebend Sein dem Tod
vorgezogen wird, verlangt Tyrtaios von den Spartanern gerade das Gegenteil, nämlich dass
sie ihr Leben nicht schonen (vgl. Adkins, Poetic Craft 87–8). Dies ist ganz im Sinne von eleg.
10, 1 gemeint : τεθνάμεναι γὰρ καλὸν ἐνὶ προμάχοισι πεσόντα (vgl. auch 10, 14 θνήσκωμεν ψυχέων μηκέτι φειδόμενοι; 18 μηδὲ φιλοψυχεῖτ’ ἀνδράσι μαρνάμενοι). Die Werte
haben sich klar verschoben. Die Antithese wird auch formal zum Ausdruck gebracht : Die
relevanten Adjektive eröffnen (ἐχθρήν) bzw. schliessen (φίλας) das Distichon. Und damit
das rhetorische Dikolon auch Wirkung zeigt, muss der zweite Teil länger sein als der erste :
Dies ist nicht nur klar der Fall (11/2 Verse), sondern in chiastischer Anordnung (Genetivattribut–Nomen / Nomen–Genetivattribut) treffen dunkel und hell aufeinander (Antithese). Dabei
liegt syntaktisches Enjambement vor, das beide Satzteile regierende Partizip ist dem ersten
Teil zugeordnet und der Rhythmus ist verkehrt : Das Leben kommt spondäisch daher, der Tod
hingegen ist daktylisch gehalten. Dies unterstreicht den neuen Gedanken des Opferns vom
Leben für die Gemeinschaft.
v. 7–10 Das erste Distichon hebt die Erfahrung mit Kriegskunst hervor (Wissen [ἴστε] und
Erfahrung [ἐδάητ’ : δάω = Wurzelwort zu διδάσκω]), obwohl die Verse an νέοι (v. 10)
Uni FR
17
Vorlesung
HS 2013
gerichtet sind. V. 8 scheint eigentlich überflüssig, nimmt es doch einfach das in v. 7 Gesagte
auf. Damit soll wohl der Inhalt zusätzlich unterstrichen werden. Das Wort ὀργή verlangt die
Personifikation von πόλεμος : Ares ist also auch hier präsent. Mit v. 9 werden noch Sieg und
Niederlage nachgeliefert : Beides ist unseren jungen Kriegern zur Genüge bekannt.
v. 11–14 Mit v. 11 folgen meditative Überlegungen. Doch worauf beziehen sie sich ? Die
Partikel γάρ weist eigentlich auf einen Zusammenhang zwischen dem vorher Gesagten und
den folgenden Überlegungen hin. Doch inhaltlich scheint ein Bruch vorzuliegen. Adkins
(Poetic Craft 88–89) versucht Tyrtaios über eine Anspielung an Homer (Il. 19, 221–37) zu
retten. Achilleus ist nach Patroklos’ Tod in Kampfeswut und stellt sogar das Essen dem
Kampf hintan. Hierauf greift Odysseus ein und sagt, dass die Griechen gemeinsam und
gestärkt (nach dem Essen) die Trojaner herausfordern und besiegen kann. Das Wort κόρος ist
dabei der Angelpunkt. Mir scheint diese Lösung etwas weit hergeholt.
Für sich genommen sind die Verse von bester Qualität : Es liegt ein asymetrischer Diptychon
vor. V. 11–13 streichen die erfolgreiche Taktik des gemeinsamen Verharrens im Kampf
heraus, während v. 14 dann denn Feigling abfertigt. Was das Formale betrifft, so lässt der
Hauptsatz des ersten Teils auf sich warten : v. 11–12 sperrt τολμῶσι von ἰέναι (Pentameterende !) insbesondere mit der gewichtigen Partizipialwendung παρ’ ἀλλήλοισι μένοντες
(komplettiert den Hexameter), bevor schliesslich der zweigeteilte Hauptsatz im nächsten
Hexameter folgt. Es ist eine Meisterleistung, wie Tyrtaios die beiden eigenständigen Teile
erstens in einen einzigen Vers verpackt, und zweitens durch die chiastische Anordnung mit
den beiden antithetischen Verben im Zentrum den Tod der Wenigen erhöht : Die Emphase
liegt auf dem Opfertod, der viele vor diesem Schicksal bewahren wird. Auf diesen von
Daktylen geprägten Vers folgt dann die Antwort auf μέν (v. 11) mit dem spondäischen ersten
Teil des Pentameters v. 14 (fünf lange Silben) : τρεσσάντων δ’ ἀνδρῶν. Damit wird auch
rhythmisch suggeriert, dass fliehen schlimmer ist als die Todesgefahr auf sich nehmen. Die
Wendung τρεσσάντων δ’ ἀνδρῶν erscheint bei Homer ein einziges Mal, und zwar zu
Versbeginn (Il. 14, 522 ἀνδρῶν τρεσσάντων). Derjenige der Zuhörer von Tyrtaios, der diese
Reminiszenz erkennt, wird sich in der Folge (v. 17–18) mit Ajax identifizieren, der seine
Gegner verfolgt, einholt und umbringt.
v. 15–20 Zunächst ist auf textliche Schwierigkeiten hinzuweisen : In v. 16 tragen die Handschriften πάθηι, was von West zu μάθηι korrigiert wurde. Mir scheint die Überlieferung
richtig (Euphemismus für “sterben”, vgl. Callin. 1, 17). Hingegen muss v. 17 wohl mit Ahrens ἁρπαλέον anstelle von überliefertem ἀργαλέον geschrieben werden.
v. 15–16 Es fehlt eine satzverbindende Partikel, was die neue Distichongruppe in der Art
einer Sentenz abgrenzt. Sprachlich wenig sinnvoll sind die Wörter ποτε und ταῦτα : Es dürfte
sich denn auch um Füllwörter handeln. Die wichtigen Stellen am Versbeginn bzw. –ende sind
besetzt einerseits mit οὐδεὶς – ἕκαστα (mit Emphase auf οὐδεὶς mittels des Spondäus),
andererseits mit ὅσσ’ – κακά (mit vokalischer Assonanz ἕκαστα / κακά). Bemerkenswert ist
weiterhin die syntaktische Pause an der Dihärese des Pentameters, was den schmählichen Tod
(des Fliehenden) stark betont.
v. 17–18 Trotz der Partikel γάρ folgt nicht wirklich eine Begründung für v. 15–16. Die ganze
Reihe der Distichen scheint auf dem Prinzip der Parataxe zu beruhen und jedes Distichon für
sich selbst zu stehen. Da der Satz mit v. 17 eigentlich komplett ist, liegt Emphase auf dem
Pentameterbeginn ἀνδρὸς φεύγοντος, das ein syntaktisches Enjambement erzeugt. Und wie
schon τρεσσάντων δ’ ἀνδρῶν in v. 14, wird die Schmach des fliehenden Kriegers mit
Uni FR
18
Vorlesung
HS 2013
spondäischem Beginn des Pentameters nach einem (hier) holodaktylischen Hexameter noch
zusätzlich betont.
v. 19–20 Es werden αἰσχρά von v. 16 und μετάφρενον von v. 17 aufgenommen und mit dem
syntaktischen Enjambement die Feststellung modifiziert, dass ein Leichnam, der im Staub
liegt, einen hässlichen Anblick bietet (vgl. eleg. 10, 24). Dieser hässliche Anblick entsteht
wegen der Verletzung im Rücken : νῶτον steht denn auch an betonter Stelle und wird pleonastisch durch ὄπισθ’ verstärkt.
v. 21–22 In v. 22 setzt Tyrtaios einen rhetorisch sehr effektvollen Chiasmus : beide
Partizipien stehen an eminenter Versstelle (Anfang und Ende des Pentameters) und die
jeweiligen Zusätze beschränken sich auf je einen Teil des Verses. Der holodaktylische
Hexameter, der vorausgeht, gibt rhythmisch den Inhalt nicht genau wider (μενέτω ποσὶν
ἀμφοτέροισι), doch liegt damit grösserer Nachdruck auf dem nur aus Längen bestehenden
Partizip στηριχθείς. Man spürt geradezu die Verankerung im Boden. Der zweite Teil des
Pentameter ist eine Kreation von Tyrtaios : Die wilde Enschlossenheit wird bildlich ausgemalt. Anders als im Fragment 10, 31–32, eröffnen diese Verse hier eine Sequenz, die die
Entschlossenheit des Kämpfers darstellt. Sie sind hier also besser am Platz als dort.
v. 23–24 Was so gut begonnen hat, verflacht mit diesem Distichon etwas, auch wenn v. 24 für
sich genommen eine sehr gelungene Zeile darstellt : ein Pentameter in vier Wörtern, syntaktisch schön auf die beiden Hemiepes verteilt. Die breite des Schildes und somit seine
schützende Funktion werden durch den spondäischen Rhythmus des Adjektivs εὐρείης
gekonnt betont. Hingegen mag die Metapher γαστρί, die von Tyrtaios selbst zu stammen
scheint, nicht wirklich zu überzeugen nach der Aufzählung von vier Körperteilen im Vers
zuvor. Doch vielleicht ist v. 23 schliesslich nicht so schlecht, wie er auf den ersten Blick
wirkt : fünf zweisilbige Wörter werden mit zweimal τε und zweimal καί in den Hexameter
gesetzt, sodass immer eine Konjunktion zwischen den Wörtern steht und diese auf die zwei
Vershälften verteilt sind (Hephthemimeres-Zäsur).
v. 25–26 Der Hexameter besteht aus homerischen Anlehnungen und Versatzstücken und –
auch wenn er nicht formelhaft ist (nur der Versschluss ὄβριμον ἔγχος ist genau so bezeugt) –
lässt homerisches Ethos spüren (τινάσσειν ἔγχος ist homerisch [Il. 20, 163] wie auch die
Verbindung von δεινόν (Adv.!) mit λόφος [Il. 3, 337, usw.]). Wiederum folgt auf den
daktylisch geprägten Hexameter ein Pentameter, der mit einem Molossos einsetzt : κινείτω.
Der Effekt der Betonung ist dabei einmal mehr über die Kongruität mit dem Inhalt gestellt.
Zur fast feierlichen Stimmung trägt auch die parenthetische Alliteration bei : κινείτω /
κεφαλῆς.
v. 27–28 Die Wendung ἔρδων δ’ ὄβριμα ἔργα (man beachte die Alliteration !) wirkt
homerisch, auch wenn dort das Kompositum ὀβριμόεργος gebraucht wird. Dieses begleitet je
einmal Herakles und Achilleus. Tyrtaios stellt also die spartanischen Kämpfer gleichsam auf
die Stufe des Begründers ihres Geschlechts. Es wiederholt das Adjektiv, das bereits im
homerischen Versschluss ὄβριμον ἔγχος zwei Zeilen (v. 25) zuvor vorkommt. Solche
Wiederholungen stören die antiken Zuhörer keineswegs. Auch διδασκέσθω πολεμίζειν
klingt an Homer an : Euphorbos, der Sohn des Panthos, macht seine ersten Kampferfahrungen
vor Troja (Il. 16, 811 διδασκόμενος πολέμοιο) und ist der erste, der Patroklos eine Wunde
zufügt, die dessen aristeia beendet.
Die übrigen Verse sind schon oben genügend angesprochen und kritisiert worden. Sie dürften
nicht zum Original von Tyrtaios gehört haben, vielleicht mit Ausnahme von v. 35–36, wenn-
Uni FR
19
Vorlesung
HS 2013
gleich die Anrede γυμνῆτες an eine bisher vernachlässigte Gruppe, nämlich die Leichtbewaffneten, nicht über alle Zweifel erhoben ist.
In dieser Elegie von Tyrtaios ist wiederum eine Dichotomie zu erkennen, aber nicht mehr
zwischen Jung und Alt, sondern zwischen dem mutigen, standfesten Krieger und dem sein
Heil in der Flucht suchenden Feigling. Die Haltung des Ersten zeichnet sich durch seinen
Altruismus aus, während Letzterem die Schande sicher ist. Stark im Vordergrund steht die
erste Kampflinie und der Nahkampf. Der Tod ist hier nicht als schön herausgestrichen,
sondern als ein Dienst am Vaterland : Wenn man zusammenhält, sind die Verluste nur gering,
der Gewinn hingegen gross für die Truppen dahinter (v. 10–13).
Tyrtaios, 12 W.2
5
10
15
20
25
30
35
οὔτ’ ἂν μνησαίμην οὔτ’ ἐν λόγωι ἄνδρα τιθείην
οὔτε ποδῶν ἀρετῆς οὔτε παλαιμοσύνης,
οὐδ’ εἰ Κυκλώπων μὲν ἔχοι μέγεθός τε βίην τε,
νικώιη δὲ θέων Θρηΐκιον Βορέην,
οὐδ’ εἰ Τιθωνοῖο φυὴν χαριέστερος εἴη,
πλουτοίη δὲ Μίδεω καὶ Κινύρεω μάλιον,
οὐδ’ εἰ Τανταλίδεω Πέλοπος βασιλεύτερος εἴη,
γλῶσσαν δ’ Ἀδρήστου μειλιχόγηρυν ἔχοι,
οὐδ’ εἰ πᾶσαν ἔχοι δόξαν πλὴν θούριδος ἀλκῆς·
οὐ γὰρ ἀνὴρ ἀγαθὸς γίνεται ἐν πολέμωι
Ich möchte weder einen Mann nennen noch berücksichtigen
εἰ μὴ τετλαίη μὲν ὁρῶν φόνον αἱματόεντα,
καὶ δηίων ὀρέγοιτ’ ἐγγύθεν ἱστάμενος.
ἥδ’ ἀρετή, τόδ’ ἄεθλον ἐν ἀνθρώποισιν ἄριστον
κάλλιστόν τε φέρειν γίνεται ἀνδρὶ νέωι.
ξυνὸν δ’ ἐσθλὸν τοῦτο πόληΐ τε παντί τε δήμωι,
ὅστις ἀνὴρ διαβὰς ἐν προμάχοισι μένηι
νωλεμέως, αἰσχρῆς δὲ φυγῆς ἐπὶ πάγχυ λάθηται,
ψυχὴν καὶ θυμὸν τλήμονα παρθέμενος,
θαρσύνηι δ’ ἔπεσιν τὸν πλησίον ἄνδρα παρεστώς·
οὗτος ἀνὴρ ἀγαθὸς γίνεται ἐν πολέμωι.
wenn er nicht erträgt, blutiges Niedermetzeln anzusehen
αἶψα δὲ δυσμενέων ἀνδρῶν ἔτρεψε φάλαγγας
τρηχείας· σπουδῆι δ’ ἔσχεθε κῦμα μάχης,
αὐτὸς δ’ ἐν προμάχοισι πεσὼν φίλον ὤλεσε θυμόν,
ἄστυ τε καὶ λαοὺς καὶ πατέρ’ εὐκλεΐσας,
πολλὰ διὰ στέρνοιο καὶ ἀσπίδος ὀμφαλοέσσης
καὶ διὰ θώρηκος πρόσθεν ἐληλάμενος.
τὸν δ’ ὀλοφύρονται μὲν ὁμῶς νέοι ἠδὲ γέροντες,
ἀργαλέωι δὲ πόθωι πᾶσα κέκηδε πόλις,
καὶ τύμβος καὶ παῖδες ἐν ἀνθρώποις ἀρίσημοι
καὶ παίδων παῖδες καὶ γένος ἐξοπίσω·
Schnell schlägt er der Feinde Schlachtlinien zurück, die
οὐδέ ποτε κλέος ἐσθλὸν ἀπόλλυται οὐδ’ ὄνομ’ αὐτοῦ,
ἀλλ’ ὑπὸ γῆς περ ἐὼν γίνεται ἀθάνατος,
ὅντιν’ ἀριστεύοντα μένοντά τε μαρνάμενόν τε
γῆς πέρι καὶ παίδων θοῦρος Ἄρης ὀλέσηι.
Niemals vergeht sein edler Ruhm oder sein Ansehen,
εἰ δὲ φύγηι μὲν κῆρα τανηλεγέος θανάτοιο,
νικήσας δ’ αἰχμῆς ἀγλαὸν εὖχος ἕληι,
πάντες μιν τιμῶσιν, ὁμῶς νέοι ἠδὲ παλαιοί,
Wenn er dem Los des niederstreckenden Todes entflieht und
wegen der Schnelligkeit seiner Füsse oder der Gewandtheit im Ringkampf, auch nicht, wenn er die gewaltige Körperkraft eines
Zyklopen hätte und den thrakischen Boreas im Lauf besiegte,
auch nicht, wenn er von anmutigerem Wuchs als Tithonos wäre
und reicher noch als Midas und Kinyras
auch nicht, wenn er königlicher wäre als der Tantalide Pelops
und die honigzüngige Stimme des Adrastos hätte,
auch nicht, wenn er in allem ruhmreich wäre ausser in stürmischer
Kraft. Denn ein Mann ist nicht vorzüglich im Krieg,
und nicht nach dem Feinde langt, indem er sich nahe aufstellt.
Das ist Auszeichnung, das ist der höchste Preis unter den Menschen
und für den jungen Mann am schönsten zu erlangen.
Dies ist gemeinschaftlicher Vorteil für die Stadt und das ganze Volk,
wenn ein Mann in vorderster Linie mit gespreizten Beinen verharrt,
unablässig, keinen Gedanken an schmachvolle Flucht verschwendet,
sein Leben riskiert und ein standfestes Herz zeigt,
und mit Worten den Kameraden anspornt, dem er am nächsten steht.
Ein solcher Mann ist vorzüglich im Krieg.
wilden. Mit seinem Eifer hemmt er die Woge der Schlacht.
Wenn er fällt in der ersten Schlachtreihe, verliert er zwar sein Leben,
bringt aber Ruhm über die Stadt, das Volk und seinen Vater,
vielfach durch die Brust und den bauchigen Schild,
auch durch den Brustharnisch von vorn getroffen.
Ihn beweinen sowohl Jung als auch Alt,
tief betrübt ist die ganze Stadt von heftigem Verlangen nach ihm.
Sein Grab und seine Kinder sind berühmt unter den Menschen,
auch seine Kindeskinder, und das ganze Geschlecht hernach.
sondern unsterblich ist, obwohl in der Erde begraben, derjenige,
welchen Ares vernichtet, während er sich auszeichnet und
standfest für sein Land und seine Kinder kämpft.
sich mit seinem Sieg glänzenden Ruhm durch den Speer erwirbt,
ehren ihn alle, Jung und Alt gleichermassen.
Uni FR
20
Vorlesung
HS 2013
40
πολλὰ δὲ τερπνὰ παθὼν ἔρχεται εἰς Ἀΐδην,
γηράσκων δ’ ἀστοῖσι μεταπρέπει, οὐδέ τις αὐτὸν
βλάπτειν οὔτ’ αἰδοῦς οὔτε δίκης ἐθέλει,
πάντες δ’ ἐν θώκοισιν ὁμῶς νέοι οἵ τε κατ’ αὐτὸν
εἴκουσ’ ἐκ χώρης οἵ τε παλαιότεροι.
ταύτης νῦν τις ἀνὴρ ἀρετῆς εἰς ἄκρον ἱκέσθαι
πειράσθω θυμῶι μὴ μεθιεὶς πολέμου.
Sein Leben lang geniesst er viel Wonne, bevor er in den Hades geht,
und im Alter zeichnet er sich vor seinen Mitbürgern aus. Niemand
will ihm nicht den Respekt zollen oder das Recht einräumen,
sondern alle weichen vor ihm und bieten ihm Platz an, die
Jungen, die Gleichaltrigen und die Älteren gleichermassen.
Jederman soll nun solcher Tugend Gipfel zu erreichen
suchen im Herz, ohne dabei den Krieg zu vernachlässigen.
Das längste der erhaltenen Fragmente von Tyrtaios ist untypisch für eine Paränese, denn mit
Ausnahme des letzten Distichons liegen nur ethisch-philosophische Überlegungen zur Tugend
des idealen Kämpfers vor. Dies und andere kleinere Unstimmigkeiten (z.B. dass die Spartaner
den Tantaliden Pelops als den königlichsten Mann betrachtet haben sollen, ist wenig glaubhaft [vgl. Wilamowitz, Textgeschichte 114–5]) veranlassten die Gelehrten bis weit ins 20.
Jahrhundert hinein, diese Elegie dem Tyrtaios abzusprechen. Denn im Gegensatz zu den
anderen Gedichten kann hier nicht die Rede davon sein, dass eine ältere Version in späteren
Symposien erweitert oder umgebaut worden wäre, vielleicht mit Ausnahme der Verse 31–34,
die nicht nur redundant wirken (vgl. v. 23–30), sondern auch sprachlich und inhaltlich der
Eulogie näher stehen als der Elegie : Es könnte sich um einen Eindringling aus dem «epitaphischen Bereich» handeln, ein Quaternär (vgl. Faraone, Stanzaic Architecture 108–9).
Die strophische Struktur entspricht jedoch erneut dem, was wir auch sonst bei Tyrtaios beobachtet haben : Es liegen vier Dekaden vor, deren Scharnierstellen klar bezeichnet sind. Da wären zunächst die beiden Pentameter v. 10 und v. 20 zu nennen, die weitgehend identisch sind
(mit Ausnahme der ersten beiden Silben : οὐ γὰρ / οὗτος). Mit dem kleinen Unterschied, dass
v. 10 die Priamel nicht wirlich abschliesst, sondern direkt die nächste Dekade einleitet. Ein
solches Enjambement ist neu, aber nicht undenkbar (vgl. Rawles in seiner Rezension von
Faraone, JHS 129, 2009, 136–8). Das Gedicht eröffnet mit einer Priamel von 9 Versen, die
eigentlich zu einem positiven Abschluss gelangen und diesen durch die antithetische Aufzählung erhöhen sollte. Gerade dies ist hier jedoch nicht der Fall, sondern es braucht eine weitere
Strophe, um den wirklichen guten Mann herauszuarbeiten. Nichtsdestotrotz wird die Strophe
markiert, wie wir gesehen haben.
Authentisch oder nicht ? Lassen wir diese philologischen Geplänkel beiseite und widmen wir
uns dem Inhalt. Das Gedicht preist den ἀνὴρ ἀγαθός in Bezug auf seine Kriegstüchtigkeit.
Dabei werden beide Möglichkeiten erörtert, der Tod in der ersten Schlachtreihe und der daraus entstehende Ruhm (v. 23–30), oder das Überleben mit nicht minderem Ruhm bis zum
natürlichen Tod (v. 35–42). Ein wichtiger Aspekt beim heroischen Tod sind die Wunden vorn
auf der Brust. Alle diese Elemente stimmen mit den bisher gesehenen Elegien von Callinos
und Tyrtaios überein, und auch die Tatsache, dass von einem ἀνδρὶ νέωι (v. 14) die Rede ist.
Das Gedicht ist von sehr elegantem Stil und entbehrt auch nicht der Redefiguren (z.B. v. 25
liegt ein Hysteron-Proteron vor, usw.). Manchmal erinnert der den Inhalt verkehrt wiedergebende Rhythmus an Tyrtaios (z.B. v. 35–6 : der Tod ist daktylisch geprägt, der Sieg hingegen
spondäisch). Auch präzise inhaltliche Anklänge an Tyrtaios sind zu erkennen : So erinnert v.
16 ὅστις ἀνὴρ διαβὰς ἐν προμάχοισι μένηι stark an eleg. 11, 21 ἀλλά τις εὖ διαβὰς μενέτω, und v. 12 καὶ δηίων ὀρέγοιτ’ ἐγγύθεν ἱστάμενος hat sein Pendant in eleg. 11, 29–30
ἀλλά τις ἐγγὺς ἰὼν αὐτοσχεδὸν… δήϊον ἄνδρ’ ἑλέτω.
Uni FR
21
Vorlesung
HS 2013
Inhaltlich hat das Gedicht seinen Platz im weitgesteckten Feld der Kriegsparänese verdient.
Nicht der Feigling und nicht die Opposition Jung / Alt werden hier thematisiert, sondern einzig und allein die ἀρετή und der daraus resultierende Ruhm, sei es durch das geopferte Leben,
sei es als Sieger und Überlebender. Es gilt einfach, nach diesem hohen Ideal zu streben und
wie im Passus von Hesiod (Op. 287–92) den Gipfel der ἀρετή zu erklimmen. Das bisher
beobachtete Opfer für das Vaterland ist hier zu einer philosophico-ethischen Lebensführung
umfunktioniert, ohne dass der Krieg dabei vernachlässigt würde. Das ist die abschliessende
Botschaft der Elegie (v. 43–44). Die Perspektive hat sich also grundsätzlich geändert.
Wie sieht das nun bei Archilochos aus ?
Uni FR
22
Vorlesung
HS 2013
Archilochos
Auf der Kykladeninsel Paros geboren, soll Archilochos später nach Thasos im Norden der
Ägäis gezogen sein, um dort eine Kolonie zu gründen, wie es das Delphische Orakel befohlen
hatte. Ob er tatsächlich dorthin ging, ist eine offene Frage, da das poetische “Ich” nicht
zwingend biographisch zu verstehen ist. Er gehört zweifellos ins 7. Jh. v. Chr., wie ein
Grabstein für Glaukos aus jener Zeit vermuten lässt ; Archilochos hat diesem Freund mehrere
Gedichte gewidmet (vgl. Lefkowitz, Lives 31). Genaueres lässt sich jedoch nicht sagen (vgl.
Brown, Companion 43–44). Jahrhunderte nach seinem Tod wurde Archilochos von den
Einwohnern von Paros noch verehrt. Vor allem bekannt für seine Schmähjamben, hat
Archilochos auch Elegien gedichtet. Und Reste dieser Elegien sind es denn auch, die uns nun
interessieren.
Beginnen wir mit einer Klage, die in eine Paränese mündet (13 W.2) :
5
10
κήδεα μὲν στονόεντα, Περίκλεες, οὔτέ τις ἀστῶν
μεμφόμενος θαλίηις τέρψεται οὐδὲ πόλις·
τοίους γὰρ κατὰ κῦμα πολυφλοίσβοιο θαλάσσης
ἔκλυσεν, οἰδαλέους δ’ ἀμφ’ ὀδύνηις ἔχομεν
πνεύμονας. ἀλλὰ θεοὶ γὰρ ἀνηκέστοισι κακοῖσιν
ὦ φίλ’ ἐπὶ κρατερὴν τλημοσύνην ἔθεσαν
φάρμακον. ἄλλοτε ἄλλος ἔχει τόδε· νῦν μὲν ἐς ἡμέας
ἐτράπεθ’, αἱματόεν δ’ ἕλκος ἀναστένομεν,
ἐξαῦτις δ’ ἑτέρους ἐπαμείψεται. ἀλλὰ τάχιστα
τλῆτε, γυναικεῖον πένθος ἀπωσάμενοι.
Perikles, kein Bürger wird ‹dir› das Seufzen und die Trauer
vorwerfen und freudige Feste begehen, auch die Stadt nicht.
Denn solche Männer spülte die Woge des laut rauschenden Meeres
weg, und unsere Lungen sind aufgeschwollen vom Schmerz.
Doch die Götter schufen allen unheilbaren Leiden,
mein Freund, ein Heilmittel : Geduld und Kraft, es zu ertragen.
Einmal wird dieser betroffen, dann jener. Jetzt hat es uns heimgesucht, und wir beklagen laut eine blutige Wunde ;
doch dann trifft es bald wieder andere. Auf denn, tragt es mit
Fassung und reisst euch los vom weibischen Schmerz.
Das Gedicht umfasst genau zehn Zeilen. Ob es komplett ist oder aus einem längeren Zusammenhang ausgekoppelt wurde, vermag die Tatsache nicht zu trüben, dass es sich um eine eigenständige Einheit handelt. Doch damit hat es sich dann auch. Denn von diesen zehn Zeilen
sind nur gerade mal drei mit einer Interpunktion am Zeilenende versehen (v. 2. 8. 10), und
alle Hexameter präsentieren syntaktisches Enjambement. Zwischen v. 3 und 4 sowie 4 und 5
besteht das Enjambement aus je einem Wort daktylischer Faktur, zuerst ein Zwischenstopp,
dann Satzende. Erneut doppeltes Enjambement liegt zwischen v. 5 und 7 vor, wobei auch dort
das letzte Wort vor Satzende ein daktylisches ist. Ungewöhnlich ist sodann der in v. 7
eingeflochtene, eigenständige Satz, der bis zur bukolischen Dihärese reicht. Dann folgt wieder
ein Enjambement daktylischer Art, während der Satz sich dann mit einem syntaktischen
Einschnitt am Ende von v. 8 bis zur bukolischen Dihärese in v. 9 fortsetzt. Archilochos bietet
also eine Komposition, die sich innerhalb der Distiche ziemlich frei bewegt, auch wenn vier
Satzpausen nach dem ersten Daktylus des nächsten Verses zu liegen kommen (v. 4. 5. 7. 8).
Aber gerade darin ist ja das Vorwärtsstreben notwendigerweise angelegt, sodass nach dem
ersten Distichon das Gedicht nicht mehr zur Ruhe kommt bis zum Ende des v. 8. V. 9 knüpft
zwar noch einmal an das Vorhergehende an, leitet dann aber zur Paränese über, die das Fragment (oder das fertige Gedicht ?) abschliesst. Es entwickelt sich von der anfänglichen Klage
zum Schöpfen von neuem Mut, bietet also eine Art Ringkomposition mit Umkehrung des
Inhalts. Dabei ist der zweite Teil des vorliegenden Gedichts bringt die Götter ins Spiel (v. 5 :
sie stehen an betonter Stelle zwischen ἀλλά und γάρ), als Gegenpol zur Emphase der menschlichen Ohnmacht (v. 1 Bürger [ἀστῶν], v. 2 Stadt [πόλις], v. 3 Schiffbrüchige [τοίους]). Die
anfänglichen Betrachtungen kreisen um den Begriff τλημοσύνη (v. 6 : es ist der zentrale Distichon), der dann mit dem Imperativ am Schluss (v. 10 τλῆτε) modifizierend aufgenommen
Uni FR
23
Vorlesung
HS 2013
wird (vgl. Faraone, Stanzaic Architecture 18–19). Dieser Imperativ respondiert zusätzlich mit
dem Vokativ in v. 1 (du / ihr). Was zuerst wie ein Trostgedicht für Perikles (v. 1 ; v. 5 ὦ φίλ’)
mit persönlicher Anteilnahme von Archilochos (v. 4 ἔχομεν) aussieht, mutiert am Schluss zu
einer Paränese für eine nicht näher bestimmte Gruppe von Männern (v. 10 τλῆτε ; γυναικεῖον
πένθος als richtigen Männern [v. 6 κρατερή] unwürdiges Verhalten)
v. 1–2 Schon das erste uns vorliegende Distichon präsentiert ein syntaktisches Enjambement,
das grosse Spannung aufbaut. Objekt und Subjekt sind dem Hexameter eingeschrieben, während das zum Verständnis nötige Verb zunächst als Partizip erscheint (und zwar an betonter
Stelle bei Versbeginn) und den Hörer auch inhaltlich überrascht (nach κήδεα erwartet man
nicht wirklich μεμφόμενος). Noch immer ist man also gespannt auf die Satzaussage und das
zweite Subjekt, das wegen οὔτε nötig ist. Indem Archilochos nicht ein zweites οὔτε, sondern
οὐδέ setzt, verleiht er diesem zweiten Glied eine Art Klimaxeffekt (Denniston, The Greek
Particles 193). Damit scheint der Sinn klar : die Bürger stehen für private, die Stadt für
öffentliche Feste (vgl. Adkins, Poetic Craft 38). In der Wendung θαλίηις τέρψεται schwingt
vielleicht Hes. Op. 115 mit (τέρποντ’ ἐν θαλίῃσι, κακῶν ἔκτοσθεν ἁπάντων·), wo vom
goldenen Menschengeschlecht die Rede ist.
v. 3–4 Wiederum steht das Akkusativobjekt an erster, betonter Stelle, zumal es sich um einen
Spondäus handelt, während die darauffolgende homerische Formel das Rollen der Wellen
daktylisch unterstreicht. Das Verb folgt dann im nächsten Vers, ist aber im Gegensatz zum
ersten Distichon voraussehbar. Dennoch bringt Archilochos mit ἔκλυσεν ein sehr bildhaftes
Verb, das den Eindruck der Katastrophe zusätzlich verstärkt.
v. 4–5 Die Sperrung οἰδαλέους – πνεύμονας ist sowohl in der Dichtung als auch in der Prosa
gern gebraucht, um Sinneseinheiten syntaktisch zu markieren. Hier schliesst die Gruppe den
Satz ab, während πνεύμονας den nächsten Pentameter eröffnet und damit gleichzeitig Endund Anfangspunkt ist. Adkins spricht pointiert von »pleasing symmetry-in-asymmetry«. Das
Spiel mit den angeschwollenen Lungen der Lebenden anstelle des vom Zuhörer aufgrund
homerischer Reminiszenzen erwarteten Angeschwollen-Sein der Körper der Schiffbrüchigen
oder der Wellen trägt zum Pathos bei.
v. 5–7 Der Umschlag erfolgt innerhalb des Hexameters mit ἀλλά und bringt erst mit der Apposition φάρμακον das “erlösende” Wort. Zudem lässt das Verb wiederum auf sich warten,
und mit inhaltlich unnötigen Vokativ ὦ φίλ’ wird es noch länger hinausgezögert. Wie ganz zu
Beginn, kann der Zuhörer denn Sinn des Verbs nämlich nicht erraten. Die beiden wichtigen
Aussagen, nämlich die Götter (θεοί) und das Heilmittel (φάρμακον) stehen an prägnanter
Versstelle. Wie κήδεα das Schlüsselwort des ersten Teils des Gedichts ist, so ist es φάρμακον
für den zweiten Teil. Dazwischen steht κρατερὴν τλημοσύνην, das in klarer Opposition zu
γυναικεῖον πένθος (v. 10) steht. Der Bezug wird augenscheinlich (und natürlich hörbar)
durch die Stellung im Pentameter mit jeweils dem Adjektiv vor der Dihärese und dem Nomen
danach. Heldenhaftes Verhalten (κρατερή) wird weibischem Klagen in der typisch griechischen Konzeption jener Zeit gegenübergestellt (s.o.).
Der oxymorische Gegensatz zwischen satzschliessendem φάρμακον und ἀνηκέστοισι (nach
der trochäischen Zäsur im Hexameter) ist natürlich gesucht und durch die Verzögerung der
Apposition zusätzlich hervorgehoben. Die drei langen Silben, die den bisher rein daktylischen
Hexameter stark verlangsamen, tragen ihren Teil zur Aussage bei. Wenn dann φάρμακον
nachgeschoben wird, scheint alles auf gutem Weg zu sein : Es gibt ein Entkommen. Doch ist
dieses Heilmittel nur für die Lebenden, für deren κήδεα ; für die Toten des Schiffbruchs kann
Uni FR
24
Vorlesung
HS 2013
nichts mehr getan werden.
v. 7–9 Dem mit ἄλλοτε eingestreuten Hauptsatz verleiht Archilochos durch die asyndetische
Anreihung gnomischen Charakter. Dies ist das Heilmittel : das Leid kommt und geht. Man
kann also darüber hinwegkommen. Die Wörter des Pentameters sind wiederum sehr effektiv
gewählt : das Verb zu Beginn ἐτράπεθ’ beschreibt die gegenwärtige Situation (Reliefstellung
von νῦν μὲν ἐς ἡμέας, nach der bukolischen Dihärese), die schlimm ist (αἱματόεν vor der
Dihärese, ἀναστένομεν am Pentameterschluss) ; doch der Moloss zu Beginn des nächsten
Hexameters (klare Reliefstellung von ἐξαῦτις) bringt die ersehnte Erlösung (das Verb endet
auf die bukolische Dihärese und unterstreicht damit das in v. 7 beschriebene Umschlagen
auch rhythmisch).
v. 9–10 Erneut erscheint ἀλλά, diesmal jedoch als Auftakt der abschliessenden Paränese nach
der bukolischen Dihärese. Die adversative Partikel und der Superlativ beschliessen den Hexameter und lassen einmal mehr offen, wie es weitergeht. Der Imperativ zu Beginn des Pentameters hat verstärkte Wirkung dadurch, dass er nur zweisilbig ist und eine ungewöhnliche
Pause schafft.
Die Botschaft, die Archilochos uns mitgibt, scheint auf erste Sicht ähnlich wie jene von Callinos und Tyrtaios, nur dass der Zusammenhang mit einem Kriegszug indirekt aus dem Schiffbruch so hervorragender Männer herauszudestillieren ist. Anders als seine Kollegen Elegiker
wendet sich die Aufforderung des Ertragens nicht an junge Krieger, die ihr Leben für die Gemeinschaft riskieren, sondern an die “Hinterbliebenen”. Es wird nicht an den Mut des tapferen Kriegers appelliert, und der Heldentod wird ebenfalls nicht als nachwirkendes Vermächtnis präsentiert. Missgeschicke geschehen, dagegen kann man nichts unternehmen. Das einzige, was bleibt, ist die Überwindung des Schmerzes.
Dass der schöne Tod nicht jedermans Sache war, bezeugt Archilochos in anderen Versen, die
wohl nicht zufällig aus der iambischen Ecke stammen (133 W.2 ; es sind trochäische
Tetrameter, die man aber zur iambischen Produktion zählt, vgl. Bagordo, S. 140) :
οὔτις αἰδοῖος μετ’ ἀστῶν οὐδὲ περίφημος θανὼν
γίνεται· χάριν δὲ μᾶλλον τοῦ ζοοῦ διώκομεν
‹οἱ› ζοοί, κάκιστα δ’ αἰεὶ τῶι θανόντι γίνεται.
Niemand steht nach dem Tod bei den Bürgern in Respekt oder in
Ruhm. Wir verfolgen eher die Anmut des Lebenden,
weil wir leben. Am schlimmsten ergeht es immer dem Toten.
Die drei Verse, bestehend aus zwei Sätzen (wobei der zweite aus zwei eigenständigen Teilen
besteht), präsentieren zweifaches Enjambement mit darauffolgender Pause ; diese kommt
nach dem jeweiligen ‘Anfangskretiker’ zu liegen. Beide Enjambements sind syntaktisch nicht
unbedingt nötig : γίνεται formuliert aus, was man unwillkürlich ergänzt, und ‹οἱ› ζοοί stellt
eine begründende Apposition dar. Dadurch, dass Archilochos beide Sätze auf γίνεται
ausgehen lässt, entsteht eine minimale Ringkomposition. Zudem geht dabei das Partizip
θανών bzw. θανόντι dem Hauptverb unmittelbar voraus. Diese beiden Teile umrahmen den
Mittelteil, der die inhaltliche Antithese liefert (Präsenz des substantivierten Adjektivs ζοός,
zuerst im Singular, dann im Plural).
Das Fragment beginnt mit dem programmatischen Pronomen οὔτις, das an betonter Stelle
steht. Der sonantische Reim der beiden Wörter ἀστῶν (vor der Zäsur) und θανών (am Versschluss) umrahmt die jeweiligen Adjektive αἰδοῖος und περίφημος. Auch der zweite Satz
beginnt mit einem programmatischen Wort : χάριν. Diese Anmut ist nun bei den Lebenden
und eben gerade nicht bei den Toten zu suchen.
Uni FR
25
Vorlesung
HS 2013
Wie wertvoll das Leben ist, wird durch diesen einer Grabinschrift vergleichbaren Vierzeiler
eindrücklich unterstrichen (5 W.2) :
ἀσπίδι μὲν Σαΐων τις ἀγάλλεται, ἣν παρὰ θάμνωι,
ἔντος ἀμώμητον, κάλλιπον οὐκ ἐθέλων·
αὐτὸν δ’ ἐξεσάωσα. τί μοι μέλει ἀσπὶς ἐκείνη;
ἐρρέτω· ἐξαῦτις κτήσομαι οὐ κακίω.
Eines Schildes rühmt sich irgend ein Saier; bei einem Busch
liess ich ihn, ein vortreffliches Stück, unfreiwillig zurück.
Dafür rettete ich mich. Was kümmert mich jener Schild? Zum Teufel mit ihm : ich werde mir sogleich einen gleichwertigen erstehen.
In der homerischen Welt ist die erste Tat nach der Tötung eines Feindes, diesen seiner Rüstung
und seiner Waffen zu entledigen. Denn Metall scheint damals eher selten und damit wertvoll
gewesen zu sein. Zur Zeit von Archilochos, etwa in der Mitte des 7. Jh. v. Chr., haben sich die
Umstände wohl geändert und es ist einfacher, wenn auch nicht unbedingt sehr billig, zu Waffen zu kommen. Hingegen bleibt das Wegwerfen von Schilden und allgemein von Waffen bis
in die Zeit von Aristophanes, ja vielleicht darüber hinaus, ein äusserst schmähvolles Verhalten
(Vesp. 19 κἄπειτα ταύτην ἀποβαλεῖν Κλεώνυμον scil. ἀσπίδα).
Alle Zeilen sind am Ende und auch innerhalb des Verses interpungiert. Die einzelnen Sätze
oder Satzteile übersteigen nie die Zahl von fünf Wörtern. Die Interpunktionen innerhalb der
Verse sind alle verschieden : v. 1 an der bukolischen Dihärese, v. 2 an der Mitteldihärese, v. 3
an der trochäischen Zäsur und v. 4 nach dem verseröffnenden Daktylus. Dies ist ein Zeichen
von hoher dichterischer Fertigkeit.
Der daktylische Rhythmus herrscht vor. Mit Spondäen sind nur die Wörter belegt, denen
Archilochos besonderen Nachdruck verleihen will : ἀμώμητον, αὐτόν, ἐξαῦτις.
v. 1–2 Das erste Wort (ἀσπίδι) macht uns sofort mit dem Wichtigsten vertraut : Es geht um
einen Schild. Hingegen wissen wir (d.h. der Zuhörer) am Schluss der ersten Zeile noch nicht,
dass es sich um den Schild des poetischen ‘Ich’ handelt, wie Adkins (Poetic Craft 52) richtig
bemerkt. Der versierte Homerkenner beginnt jedoch mit der Verbform ἀγάλλεται zu vermuten, dass der Schild erbeutet wurde : zweimal wird sie gebraucht, und zwar jedesmal von
Hektor, der stolz die erbeuteten Waffen von Achill trägt (Il. 17, 472–3 τεύχεα δ’ Ἕκτωρ /
αὐτὸς ἔχων ὤμοισιν ἀγάλλεται Αἰακίδαο ; ähnlich 18, 131–2). Die Spannung steigt noch
um ein weniges an, wenn dann von einem Busch die Rede ist. Der Pentameter hebt jedoch
zuerst die Qualität des Schildes hervor, bevor dann endlich – nota bene nach der Dihärese –
das Verb in der ersten Person Singular – obwohl es sich theoretisch auch um die dritte Person
Plural handeln könnte, wird man aufgrund von Σαΐων τις in Zeile 1 unwillkürlich die IchForm privilegieren (pace Adkins) – fällt. Die Schande ist perfekt : Die Idee des Zurücklassens
ist aus dem kriegerischen Vokabular verbannt. Doch Archilochos findet sogleich mildernde
Umstände für diese Aktion : Sie geschah unfreiwillig.
v. 3–4 Dass dies nicht alles sein kann, ist seit dem zweiten Wort der ersten Zeile klar : Die
Partikel μέν verlangt nach ihrem Pendant δέ. Dieses kommt sogleich in v. 3 und trägt gleichzeitig zur Emphase von αὐτόν bei (Spondäus). Diese Form des rückbezüglichen Adjektivs ist
homerisch (vgl. K.–G. I, 565 Anm. 4 ; die Wendung ist bedeutend stärker als das spätere,
metrisch gleichwertige ψυχὴν δ’ ἐξεσάωσα, z.B. Ar. Pax 1301). Der Ton des Gedichts hat
sich nunmehr grundlegend geändert : αὐτὸν δ’ ἐξεσάωσα wird provokativ dem zweiten Teil
des vorausgehenden Pentameters κάλλιπον οὐκ ἐθέλων gegenübergestellt. Die Verbform
ἐξεσάωσ- kommt auch bei Homer vor : Il. 4, 12. Od. 4, 501 Menelaos bzw. Ajas werden
durch einen göttlichen (!) Eingriff gerettet. Die Rettung steht somit weit über dem Verlust des
Schildes. Starker Nachdruck liegt sodann auf dem Demonstrativpronomen ἐκείνη : Es ist
nicht nur an den Versschluss gesetzt, sondern die dreisilbige Form wird in der Dichtung mög-
Uni FR
26
Vorlesung
HS 2013
lichst gemieden. Dies ist genau das Gegenteil dessen, was wir bei Tyrtaios beobachtet haben :
12, 17–18 αἰσχρῆς δὲ φυγῆς ἐπὶ πάγχυ λάθηται, / ψυχὴν καὶ θυμὸν τλήμονα παρθέμενος.
Für sich allein in prägnanter Stellung und mit Stakkatoeffekt steht sodann ἐρρέτω. Damit
wird die Verachtung für den Verlust des Schildes vollends kundgetan. Sehr gekonnt gesetzt
sind sodann die Wörter des abschliessenden Teils : Emphatisches ἐξαῦτις und die nicht
weniger effiziente Litotes οὐ κακίω umrahmen κτήσομαι. Was man definitiv verlieren kann,
ist das Leben ; alles andere kann man problemlos ersetzen, und zwar mit mindestens gleichwertigem Material (οὐ κακίω).
Ebenfalls Spuren von Kritik an der paränetischen Elegie könnten sich in 145 W.2 befinden :
καὶ νέους θάρσυνε· νίκης δ’ ἐν θεοῖσι πείρατα.
Und ermutige die Jungen. Der siegreiche Ausgang liegt bei den
Göttern.
Dass die paränetische Elegie auf die Jungen abzielt und sie zum aufopfernden Kampf ermutigen will, scheint Archilochos ebenfalls nicht zu behagen. Ohne der Götter Hilfe kann der
Sieg ja nicht errungen werden (111 W.2) :
5
10
–⏑
]ας καὶ λ.[
–⏑(–) ]ορ.[
–⏑(–) ]αλλη[
–⏑– ]ν̣ μιμν[
–
]εναιδοιων[
–⏑
]ω· κεινου[
–⏑
]ν̣· ἐν ζοοῖσιδ[
–⏑
]εν κακην.[
–⏑
]η̣ς ἀλκῆς λ̣[
–⏑– ]κ̣εινον π[
–⏑–
]μ̣ενοιδ.[
beieinander?
verharren?
Schamgegend
Jene(-)
Unter den Lebenden
schlecht(-)
Mut
Man vergleiche z.B. zu v. 5 die homerische Stelle aus der Ilias (13, 567–9) Μηριόνης δ’
ἀπιόντα μετασπόμενος βάλε δουρὶ / αἰδοίων τε μεσηγὺ καὶ ὀμφαλοῦ, ἔνθα μάλιστα /
γίγνετ’ Ἄρης ἀλεγεινὸς ὀϊζυροῖσι βροτοῖσιν ; und in v. 7 erscheinen wiederum die Lebenden, die schon in 133 W.2 den Toten antithetisch gegenübergestellt sind. Schliesslich polemisiert Archilochos gegen Männer, die vorgeben, heroische Kriegstaten getan zu haben (101
W.2) :
ἑπτὰ γὰρ νεκρῶν πεσόντων, οὓς ἐμάρψαμεν ποσίν,
χείλιοι φονῆές εἰμεν
Denn sieben gefallene Leichname, die verfolgend wir ergriffen :
Eintausend Totschläger sind wir.
Das sind also ganz andere Töne als jene, die wir in der archaischen Elegie vernommen haben.
Steht Archilochos allein damit ? Ist er der Ketzer, den man von seinen Schmähjamben kennt ?
Oder gibt es vielleicht andere Dichter, die sich seiner Sichtweise anschliessen ?
Tatsächlich ist »Archilochos nicht einfach das Enfant terrible seiner Zeit« (Steinrück, Iambos
105). Man findet nämlich ähnliche Gedanken bei Semonides.
Uni FR
27
Vorlesung
HS 2013
Semonides
Ebenfalls für seine Iambendichtung bekannt, wissen wir über Semonides so gut wie nichts.
Schon der Name ist problematisch, fällt er doch in der Tradition immer wieder mit Simonides
von Keos, dem berühmten Lyriker und Elegiendichter, zusammen. Semonides – wenn er denn
tatsächlich so hiess – gehört wahrscheinlich ins hohe 7. Jh. v. Chr. Neben Elegien (oder einer
Elegie ?) verfasste er hauptsächlich Iamben, ja er wird manchmal als erster Iambendichter
schlechthin genannt. Aus Samos stammend, soll er als Chef an der Kolonisierung von
Amorgos teilgenommen und dabei drei Städte gegründet haben : Minoa, Aegialus und
Arkesine. Des weiteren soll er auch über die Vergangenheit von Samos geschrieben haben
(Ἀρχαιολογία τῶν Σαμίων), was aber aufgrund des Fehlens von einschlägigen Texten eher
der Spekulation zuzuweisen ist. Gemäss Lukian soll er zudem Schmähiamben verfasst haben,
und zwar gegen einen gewissen Orodokides ; dies ist natürlich parallel konstruiert zu den
heftigen Angriffen von Archilochos gegen Lykambes und Hipponax gegen Bupalos.
Was nun die Überreste von Semonides’ Dichtung betrifft, die bis auf uns gekommen sind, so
besitzen wir ausschliesslich iambische Fragmente. Das lange als Semonideisch gehandelte
Elegienfragment entpuppte sich als Simonideisch. Für uns ist Semonides deshalb nur als
Iambendichter fassbar, insbesondere durch den grossen Weiberiambos. Dabei zeigt er grosse
Affinität mit Hesiod.
Zwei Fragmente dieser iambischen Produktion interessieren uns. Beginnen wir mit Fragment
2 W.2 :
τοῦ μὲν θανόντος οὐκ ἂν ἐνθυμοίμεθα,
εἴ τι φρονοῖμεν, πλεῖον ἡμέρης μιῆς.
Wenn jemand stirbt, denken wir wohl nicht länger an ihn,
wenn wir bei Verstand sind, als einen einzigen Tag.
Totenkult, insbesondere das Verschaffen von Ruhm für die Toten wird hier als unnütz abgetan. Man kann ergänzen : Wenden wir uns den Lebenden zu. Es handelt sich nicht um eine
allgemeine Klage, wie schnell man doch Menschen vergisst, sondern vielmehr um einen gutgemeinten Ratschlag ; dies bezeugt der Zusatz »wenn wir bei Verstand sind« (vgl. Steinrück,
Iambos 105). Und dass die Maxime »Totsein ist schön« nicht gelten kann, wird
folgendermassen dargelegt (3 W.2 ) :
πολλὸς γὰρ ἥμιν ἐστὶ τεθνάναι χρόνος,
ζῶμεν δ’ ἀριθμῶι παῦρα †κακῶς ἔτεα.
Denn zum Totsein haben wir viel Zeit,
wir leben jedoch nur wenige Jahre, und auch diese schlecht.
Wie bei Archilochos wird das Totsein dem Leben gegenübergestellt, hier mit mathematischer
Akribie. Das Leben ist kurz, der Tod ewig – es ist also alles andere als erstrebenswert, jung
und in der Blüte des Lebens zu sterben.
Archilochos und Semonides sind also zwei Stimmen, die das Gegenprogramm zur paränetischen Elegie liefern. Die archaische Gesellschaft besteht also nicht einfach aus einem Block,
man ist nicht einfach von Jugend an patriotisch ausgerichtet und bereit, für das Vaterland zu
sterben. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass diese Dichtung in aristokratischen Kreisen
zirkulierte, und zwar beim Bankett. Wie die Realität auf dem Schlachtfeld ausgesehen hat,
wissen wir nicht.
Wenden wir uns weiteren Stimmen zu, die sich mit dem Krieg befassen.
Uni FR
28
Vorlesung
HS 2013
Mimnermos
Die Suda, die hochberühmte byzantinische Enzyklopädie aus dem 10 Jh. n. Chr. setzt Mimnermos’ floruit, d.h. seine Akmé, in die 37. Olympiade, i.e. 632–29. Die meisten Gelehrten
können damit leben, auch wenn es keinen unwiderruflichen Anhaltspunkt dafür gibt. Die
Quellen sind sich ebenfalls nicht einig, woher er stammt : Kolophon und Smyrna werden
genannt. Da ihm eine Smyrneis zugeschrieben wird – also eine Elegie zur Entstehungsgeschichte der Stadt –, ist die Herkunft aus Smyrna wahrscheinlich. Der Name der Stadt
Kolophon erscheint mehrmals in der Dichtung von Mimnermos, was dafür ausreichen dürfte,
dass man ihn dann auch als Kolophonier bezeichnete.
Für die Chronologie kann einzig der Inhalt des Fragments 14 W.2 verwendet werden. Dort ist
davon die Rede, dass ein hervorragender Kämpfer die Lydier in der Ebene des Flusses
Hermus zurückgeschlagen hat (s.u.). Das könnte sich auf die Niederlage von Gyges bei der
Eroberung von Smyrna beziehen (in den 660er Jahren). Da sich das dichterische ‘Ich’, das
vielleicht mit Mimnermos identisch ist, dabei auf eigene Vorfahren beruft, könnte die Angabe
der Suda tatsächlich zutreffen und Mimnermos ins letzte Viertel des 7. Jh.s zu setzen sein.
Möglicherweise ist sogar der Name des Dichters von dieser Begebenheit abgeleitet : Manche
Gelehrten wollen darin das Verb μίμνω und den Flussnamen Ἕρμος erkennen. Problematisch
bleibt dabei jedoch, dass Mimnermos hauptsächlich für seine Liebeselegien berühmt ist und
eben gerade nicht für kriegerische Paränese. Ein Name, der somit aus der Beschäftigung mit
einer Dichtungsart, die als sekundär gelten muss, hergeleitet wäre, mag nicht so richtig
überzeugen.
Ein Fragment, das ihn mit Solon verbindet ist 6 W.2 :
αἲ γὰρ ἄτερ νούσων τε καὶ ἀργαλέων μελεδωνέων
ἑξηκονταέτη μοῖρα κίχοι θανάτου.
Hoffentlich bleibe ich ohne Krankheit und schlimme Sorgen
und werde mit 60 Jahren vom Tod dahingerafft.
Solons Version lautet folgendermassen (20 W.2) :
ἀλλ’ εἴ μοι καὶ νῦν ἔτι πείσεαι, ἔξελε τοῦτο—
μηδὲ μέγαιρ’, ὅτι σέο λῶιον ἐπεφρασάμην—
καὶ μεταποίησον, Λιγιαστάδη, ὧδε δ’ ἄειδε·
“ὀγδωκονταέτη μοῖρα κίχοι θανάτου”
Wenn du auch jetzt noch auf mich hörst, so wähle dies –
sei nicht neidisch, weil ich dir bessere Ratschläge erteile –
und schreibe den Vers um, Sohn des Ligyastes, und singe so :
Möge mich der Tod mit 80 Jahren dahinraffen.
Diese Verse sind nur gerade für die relative Chronologie verwertbar : Mimnermos hat sie
zeitlich vor jenen verfasst, die für Solon vindiziert werden ; dieser lebte von 639–559. Es ist
jedoch nicht zwingend, dass Mimnermos schon tot ist, als Solon seine Verse verfasst ;
Mimnermos kann damit sehr wohl ins letzte Viertel des 7. Jh. v. Chr. gehören.
Aus der Smyrneis, einer offensichtlich recht umfangreichen Elegie, könnten die wenigen erhaltenen Fragmente mit martialem Inhalt zu stammen. Darunter ist auch eines, das paränetischen Charakter zu haben scheint (14 W.2) :
5
οὐ μὲν δὴ κείνου γε μένος καὶ ἀγήνορα θυμὸν
τοῖον ἐμέο προτέρων πεύθομαι, οἵ μιν ἴδον
Λυδῶν ἱππομάχων πυκινὰς κλονέοντα φάλαγγας
Ἕρμιον ἂμ πεδίον, φῶτα φερεμμελίην· [Ἀθήνη
τοῦ μὲν ἄρ’ οὔ ποτε πάμπαν ἐμέμψατο Παλλὰς
δριμὺ μένος κραδίης, εὖθ’ ὅ γ’ ἀνὰ προμάχους
σεύαιθ’ αἱματόεν‹τος ἐν› ὑσμίνηι πολέμοιο,
πικρὰ βιαζόμενος δυσμενέων βέλεα·
Die Kühnheit jenes und sein grosser Mut sind nicht vergleichbar,
wie ich von den Alten erfahren habe, die sahen, wie er die
dichtgedrängten Reihen der lydischen Reiterei vor sich her trieb
über die Ebene des Hermos, der speertragende Mann.
Pallas Athene schalt durchaus nicht seinen
ungestümen Kampfeseifer, wenn er an vorderster Front
vorwärtsstürmte im Schlachtgeschrei des blutigen Krieges,
die scharfen Geschosse der Feinde unschädlich machend.
Uni FR
29
Vorlesung
HS 2013
10
οὐ γάρ τις κείνου δηίων ἔτ’ ἀμεινότερος φὼς
ἔσκεν ἐποίχεσθαι φυλόπιδος κρατερῆς
ἔργον, ὅτ’ αὐγῆισιν φέρετ’ ὠκέος ἠελίοιο.
Denn keiner der Feinde war ein noch besserer Mensch als er,
um des harten Schlachtgetümmels Werk zu besorgen,
solange er stürmte im gleissenden Licht der schnellen Sonne.
Mimnermos preist die Grosstaten eines Vorfahren, wohl um seine Zeitgenossen zu denselben
Leistungen anzuspornen. Das könnte bedeuten, dass Smyrna erneut vor einer wichtigen Schlacht
stand : Ein mögliches Szenario ist der Angriff von Alyattes um 600 v. Chr., der in der Folge
die Stadt eroberte und zerstörte (vgl. Hdt. 1, 16). Vielleicht fand Mimnermos dabei den Tod.
Jedenfalls verfügen wir über keine Verse, die vom Untergang der Stadt sprechen. Doch das
will zugegebenermassen wenig bis gar nichts heissen. Wir müssen uns damit begnügen, dass
Mimnermos nicht viel mehr als ein Name bleibt.
Wie dem auch sei, dieses Fragment von Mimnermos scheint sich in die Tradition der paränetischen Elegie ein, wie wir sie für Kleinasien schon mit Kallinos kennengelernt haben. Der
Dichter aus Smyrna folgt also der bekannten ionischen Tradition. Andererseits lässt sich in
diesem Ausschnitt kein Hinweis darauf finden, dass Mimnermos den Tod als erstrebenswert
dargestellt hätte. Denn Tapferkeit im Kampf ist nötig, um den Gegner zu besiegen. Was
danach mit den Gefallenen geschieht, bleibt unbekannt.
Der Auszug ist als Ringkomposition über eine Dekade konzipiert. So liest man in v. 1 οὐ μὲν
δὴ κείνου (mit Hepthemimeres-Zäsur nach μένος), was in v. 9 οὐ γάρ τις κείνου (jetzt mit
Penthemimeres-Zäsur) aufgenommen wird. Beide Verse beginnen mit 5 langen Silben. Ähnlich wie bei Tyrtaios 12 W.2 überspielt Mimnermos jedoch die ‘Zehnergrenze’, wohl um eine
nächste Dekade anzuschliessen. Unser Auszug endet jedoch mit v. 11.
Von diesen elf Versen sind gerade mal 4 mit einer Endpause (Interpunktion) versehen. Das
ungestüme Vorwärtsdrängen ist auch im Gesamtaufbau zu spüren : Wichtige Ruhepunkte
werden jeweils nach je einem Vierzeiler erreicht (1–4 ; 5–8). Syntaktische Enjambements
liegen in v. 1–3, 5–7 und 9–11 vor, während v. 4 und v. 8 aus syntaktischer Sicht entbehrbar
sind.
v. 1–4 Das erste Distichon ist gekennzeichnet durch die Assonanzen am Versende, verstärkt
durch die Zweisilbigkeit der beiden Wörter (θυμόν / ἴδον). Gleichzeitig wird im Pentameter
(holodaktylisch gestaltet !) die initiale Vokalfolge o-i-o (τοῖον) am Schluss in leicht gedehnter Weise wiederholt : o-i-i-i-o (οἵ μιν ἴδον). Links und rechts der Dihärese des Pentameters
stehen zudem zwei dreisilbige Wörter mit Alliteration. Sehr gelungen ist dann der Hexameter
des nächsten Distichons mit gerade mal fünf Wörtern und stark betonter PenthemimeresZäsur. Die Grossmacht der lydischen Reiterei (Λυδῶν – φάλαγγας) hat den Alleinkämpfer
(κλονέοντα) gewissermassen eingekreist, doch dieser treibt sie nicht nur zurück, sondern vor
sich her, seine Lanzen schwingend (φῶτα φερεμμελίην). Mit dieser Apposition im zweiten
Hemiepes des Pentameters wird die Überlegenheit des herausragenden Kriegers endgültig
besiegelt. Syntaktisch ist dieser Zusatz nicht nötig, da die Hauptaussage (ἴδον – κλονέοντα –
φάλαγγας) mit dem Hexameter abgeschlossen ist.
v. 5–8 Auch die zweite Gruppe von Vierzeilern beginnt mit dem Einzelkämpfer (τοῦ). Sein
ungestümer Mut, der schon in v. 1 angesprochen wurde (μένος καὶ ἀγήνορα θυμόν), wird
mit einer leichten Variation wiederholt (μένος κραδίης), bevor die Dihärese mit einer syntaktischen Pause unterstrichen wird (Hex / Pent1). Der nächste Satzteil nimmt dann den
vorhergehenden chiastisch auf (Pent2 / Hex). Wie schon in der ersten Gruppe bringt der letzte
Pentameter eine zusätzliche Information, die syntaktisch nicht relevant ist. Die Wortstellung
Uni FR
30
Vorlesung
HS 2013
in diesem Pentameter ist eindrücklich. Trotz des umfassenden Hyperbatons mit Alliteration
und Assonanz (πικρὰ – βέλεα) – unser Einzelkämpfer wird förmlich von den Geschossen der
Feinde eingedeckt – geht er als Sieger hervor : das Hyperbaton wird von Innen gleichsam
gesprengt : πικρὰ βιαζόμενος… βέλεα), ganz ähnlich wie schon in v. 3.
v. 9–11 Eigentlich genügt v. 9 für den Abschluss ; der folgende Pentameter wirkt nicht mehr
so unwiderstehlich wie die Verse zuvor. Der Zuhörer ergänzt die Verbform ‘war’ völlig spontan ; doch dann erscheint plötzlich ἔσκεν, gefolgt von einem finalen Infinitiv : ἐποίχεσθαι
(die beiden Verben füllen den ersten Hemiepes des Pentameters), bevor der zweite Hemiepes
vom Genitivattribut des noch aufgesparten Akkusativobjekts ἔργον (notwendige Ergänzung
des Verbs ἐποίχεσθαι) gefüllt wird. Zudem schwappt die Sequenz über die Distichongrenze
hinweg, wo dann aber nach zwei Silben bereits eine syntaktische Pause folgt (ἔργον). Der
nunmehr einsetzende temporale Nebensatz (ὅτε) rundet den Gedanken metaphorisch ab :
Solange er lebte, hatte er keinen Gegner zu fürchten. Beginnend mit v. 9 ist auch die Wortstellung recht speziell : Zuerst lässt Mimnermos sehr wirkungsvoll κείνου und δηίων aufeinanderprallen, wobei letzteres auf erste Sicht mit dem vorausgehenden τις ein Mini-Hyperbaton darzustellen scheint. Der Genitiv κείνου hingegen wird erst durch den Komparativ
ἀμεινότερος syntaktisch verständlich. Wir haben also alternierende Stellung in chiastischer
Anordnung (AbaB). Schliesslich modifiziert das Monosyllabon am Versschluss den semantischen Gehalt von τις : Vom vermeintlichen Indefinitpronomen mausert es sich zum indefiniten Adjektiv. Und in v. 11 stehen sich φέρετ’ (= ‘stürmen’) und ὠκέος gegenüber, wobei
letzteres metonymisch zu verstehen ist (Helios mit seinem Vierspänner). Vielleicht hätten die
folgenden Verse unsere Analyse in ein etwas anderes Licht gerückt. Leider fehlen sie ganz.
Uni FR
31
Vorlesung
HS 2013
Kurze Zwischenbilanz
Die kriegerische Paränese begegnet in den ersten Elegien aus dem 7. Jh. v. Chr., verfasst von
Kallinos, Tyrtaios und Mimnermos. Bei den beiden ersten darf davon ausgegangen werden,
dass eine konkrete Kriegsgefahr besteht, seien es die Kämpfe um Sardeis in Kleinasien, sei es
der Messenische Krieg zwischen den Lakoniern und ihren Nachbarn. Es liegt deshalb auf der
Hand, auch für Mimnermos eine identische Situation vorauszusetzen. Doch erstens verfügen
wir nur über wenige Verse einer solchen Elegie (wenn es denn eine solche ist), und zweitens
ist Mimnermos selbst nicht viel mehr als ein Name und eine geographische Region. Wenn
man nach einem möglichen Ereignis sucht, wird man natürlich fündig : die archaische Epoche
der griechischen Geschichte ist schliesslich von Kriegen geprägt. Es bleibt also grundsätzlich
bei Spekulationen ; darauf weitergehende Beobachtungen abzustützen wird man vermeiden
wollen.
Dieses doch ziemlich einheitliche Bild wird nun gestört durch die Gegenposition, die man bei
den Iambendichtern fassen kann. So weisen Archilochos und Semonides in Dichtungen, die
von ethisch-moralischen Betrachtungen dominiert sind, den “schönen Tod” entschieden
zurück. Überhaupt wenden sie sich gegen den Totenkult, dem sie wenig abgewinnen können.
Im Gegensatz zu den paränetischen Kriegselegien scheint die Iambendichtung zudem keine
präzisen historischen Ereignisse vorauszusetzen. Sie ist also in erster Linie eine Dichtung für
das Bankett.
Uni FR
32
Vorlesung
HS 2013
Ein weiteres Beispiel von kriegerischer Paränese findet sich bei Theognis von Megara. Unter
seinem Namen ist eine Anthologie elegischer Stücke überliefert, die man gemeinhin in zwei
“Bücher” unterteilt. Die Verse sind gespickt mit Auszügen aus anderen, uns bekannten
Elegikern, sodass es nicht einfach, ja weitgehend illusorisch ist, Echtes von Unechtem zu
scheiden. Martin West hat den Versuch dennoch unternommen und kommt dabei zu einem
mehr oder weniger überzeugenden Resultat (Studies 40–59).
Von Theognis’ Leben ist so gut wie nichts bekannt. Er gehört wohl ins 6. Jh. v. Chr. (vgl.
Gerber in : Companion 121–23) ; seine Person lässt sich aber nicht wirklich fassen. So wollen
wir uns denn auch damit begnügen, die verschwindend wenigen Verse, die sich zu dem uns
interessierenden Thema finden lassen, näher anzuschauen (549–54) :
ἄγγελος ἄφθογγος πόλεμον πολύδακρυν ἐγείρει,
Κύρν’, ἀπὸ τηλαυγέος φαινόμενος σκοπιῆς.
ἀλλ’ ἵπποισ’ ἔμβαλλε ταχυπτέρνοισι χαλινούς·
δήιων γάρ σφ’ ἀνδρῶν ἀντιάσειν δοκέω.
οὐ πολλὸν τὸ μεσηγύ· διαπρήξουσι κέλευθον,
εἰ μὴ ἐμὴν γνώμην ἐξαπατῶσι θεοί.
Ohne Worte entzündet der Bote den tränenreichen Kampf,
Kyrnos, indem er auf der fernher strahlenden Warte erscheint.
Auf, wirf den schnellfüssigen Pferden das Zaumzeug über!
Den Feinden zum Kampf entgegentreten, das will ich sie sehen.
Nicht gross ist der Zwischenraum: Bald schon sind sie da,
falls nicht die Götter meinen Sinn täuschen.
Die drei Distiche sind geprägt durch regelmässige Interpunktionen am Ende jedes Verses.
Syntaktische Pausen innerhalb der Verse sind kaum zu beobachten : ein elidierter Vokativ zu
Beginn des ersten Pentameters (v. 2) und eine Art Doppelpunkt an der trochäischen Zäsur des
dritten Hexameters.
Wir wissen nicht, wer spricht (poetisches ‘Ich’ ?). Die angesprochene Person, Kyrnos, ist der
regelmässige Empfänger von Theognis’ Ratschlägen. Damit ist auch bereits gesagt, dass es
sich hier nicht um eine konkrete Kriegssituation handelt. Denn Kyrnos kann nicht der Adressat des Befehls zum Anschirren der Pferde sein. Auch die mit dem Personalpronomen der
dritten Person Plural σφε angesprochenen Kämpfer bleiben unbekannt.
v. 1–2 Das Distichon beginnt mit einem Oxymoron zweier dreisilbiger Wörter, verstärkt
durch Alliteration und Assonanz : ἄγγελος ἄφθογγος. Die drei Längen von ἄφθογγος legen
zusätzlichen Nachdruck auf die rhetorische Figur. Es folgt eine zweite Gruppe mit einem
Nomen und seinem Epitheton, die ebenfalls durch Alliteration und einer etwas unreineren
Assonanz geprägt ist : πόλεμον πολύδακρυν. Die syntaktische Parataxe hingegen, die den
Vers als Ganzes charakterisiert, steht eher der Prosa nahe. Sehr effektvoll ist dann das Bild
ausgemalt, das sich von ferne beobachten lässt : Epitheton und zugehöriges Nomen besetzen
das Ende ihres jeweiligen Pentameterteils und umrahmen das Partizip φαινόμενος. Die
vokativische Unterbrechung des Bildes mit Κύρν’ am Pentameterbeginn wirkt dabei etwas
störend.
v. 3–4 In bewährter Manier folgt nun die Reaktion auf die Beobachtung : Der Vers eröffnet
mit hortativem ἀλλ’, gefolgt vom Imperativ. Mit dem unerwarteten Adjektiv ταχυπτέρνοισι,
das an geläufigeres ταχυπτέροισι anklingt (mit schnellem Flügelschlag), wird das Anschirren
und damit die ganze Handlung retardiert. Die Bedrohung durch die Feinde wird mit dem holospondäischen ersten Hemiepes des Pentameters gleichsam spürbar gemacht. Eher überraschend kommt das den Pentameter beschliessende Verb in der ersten Person Singular. Der
Sprechende distanziert sich gleichsam von der Handlung : Er hebt sich auf die Stufe des
erfahrenen Ratgebers (oder Dichters).
Uni FR
33
Vorlesung
HS 2013
v. 5–6 Während in den homerischen Hymnen die Göttin Iris den grossen Zwischenraum
schnell durchschreitet (h. Ap. 108, h. Cer. 317), ist die Gefahr bei Theognis schon nah. Die
Wendung διαπρήξουσι κέλευθον gleicht einem Versatzstück (vgl. Hom. Il. 1, 483, am
Hexameterschluss ; usw.) und steht für “bald schon sind sie da.” Der abschliessende Pentameter wirkt umgangssprachlich und erinnert an Old Shatterhands Freund und Begleiter Sam
Hawkins, der seine Reden gerne mit »wenn ich mich nicht irre« beschliesst. Der genau gleiche Pentameter erscheint ein zweites Mal bei Theognis (540), wo er ebenfalls nichts zum
Verständnis der Verse beiträgt und damit genauso überflüssig ist wie an unserer Stelle. Das
sind gleichzeitig die einzigen Bezeugungen für die Wendung ἐξαπατῶσι θεοί.
Man spürt in diesen Versen, dass die Situation nicht wirklich gefährlich ist. Der Vokativ
Κύρν’, dem eine Art Copyright-Funktion zukommt, und der abschliessende, inhaltlich
unnötige Pentameter verweisen vielmehr auf Improvisation, wie sie gerade in einem Symposium üblich ist. Man wird hier also nicht mehr von der paränetischen Kriegselegie sprechen wollen, wenngleich typische formale Elemente vorhanden sind.
Ein Aufleben des von der Kriegselegie zelebrierten “schönen Todes” ist also dann zu erwarten, wenn eine reelle Kriegsgefahr droht. Und welche Zeit ist dafür besser prädestiniert als die
Zeit der Perserkriege zu Beginn des 5. Jh. v. Chr. ?
Da wir dabei in historisch gut bezeugter und auch von der Forschung gut ausgeleuchteter Zeit
stehen, sind die Dokumente, die uns interessieren, auch viel zahlreicher. Ganz verlässlich sind
sie aber dennoch nicht immer. Ein Name steht stellvertretend für die vielen echten und auch
unechten Epigramme jener Zeit : Simonides von Keos.
Uni FR
34
Vorlesung
HS 2013
Simonides
Die Lebenszeit des Dichters aus Keos, einer kleinen, Attika vorgelagerten Insel, wird allgemein mit 556–467 angegeben. Die Eckpunkte entsprechen einerseits dem traditionellen
Todesjahr von Stesichoros – vergessen wir nicht, dass Simonides verschiedentlich als sein
Schüler gehandelt wird – und andererseits dem Ableben des sizilischen Tyrannen Hieron.
Wenn wir ihn hingegen nach seiner (zugegebenermassen recht fragmentarischen) lyrischen
Produktion beurteilen, werden wir ihn als den wenig älteren Zeitgenossen von Pindar und
Aischylos betrachten, was damit übereinstimmt, dass es eine zweite Chronologie gibt, die
seine Geburt auf 532–29 legt. Was aus den Bezeugungen bei Herodot bereits seit langem
herauslesbar war, nämlich dass Simonides zu einer Art Nationaldichter des griechischen
Erfolges gegen die Meder avancierte, erhielt in jüngerer Zeit (seit der Publikation des Papyrus
mit elegischen Resten durch Parsons / West im Jahre 1992) eine unerhoffte Bestätigung :
Simonides ist der Autor einer Elegie auf die alles entscheidende Niederlage des persischen
Heerführers Mardonios bei Plataiai im Jahre 479.
Das wohl bekannteste Gedicht jener für die Griechen glorreichen Zeit ist das sogenannte
Thermopylen-Epigramm (XXIIb Page) :
ὦ ξεῖν’, ἀγγέλλειν Λακεδαιμονίοις, ὅτι τῇδε
κείμεθα τοῖς κείνων ῥήμασι πειθόμενοι.
Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest
uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl.
Friedrich Schiller, Der Spaziergang, 1795
Der Zweizeiler erinnert an den heldenhaften Widerstand, den Leonidas und seine Mannen gegen die persische Übermacht leisteten, obwohl sie von Ephialtes verraten und ihre Stellungen
von den Persern umgangen worden waren. Das Epigramm stand am Polyandrion der 300 gefallenen Spartaner bei den Thermopylen (vgl. Petrovic, Simonideische Versinschriften 246).
Es genoss höchstes Ansehen im Altertum, wie verschiedene andere griechische Quellen (Lycurg., in Leocr. 109 ; D. S., 11, 33, 2 ; Strab. 9, 4, 16, alle mit abweichender Variante des
Pentameterschlusses : πειθόμενοι νομίμοις) und Ciceros Übertragung ins Lateinische (Tusc.
1, 101, auf Leokrates fussend, wie legibus nahelegt) beweisen :
dic hospes Spartae nos te hic vidisse iacentes,
dum sanctis patriae legibus obsequimur.
Fremder, verkünde in Sparta, du habest uns hier liegen gesehen,
wofern wir nur die heiligen Gesetze des Vaterlandes befolgen.
Der Text zeigt die schlichte Grösse des perfekten Epigramms. Die Sprache ist ionisch geprägt
(ξεῖν’). Es wendet sich an Fremdlinge, da wir uns in kultischem Kontext befinden : Jährlich
fanden am Ort des Todes der Spartaner, also in den Thermopylen, Spiele und Opfer statt,
womit die Adressaten der Inschrift Fremdlinge sein mussten. Viel zum schlichten Ton des
Epigramms trägt sodann auch die alte Funktion des Infinitivs als Befehlsform bei (K.-G. II,
19–22 : ursprünglich wohl als Ergänzung zu einem Imperativ eines Verbs des Wollens, z.B.
ἔθελε, vgl. Hom. Il. 1, 277) ; die Form scheint nicht zuletzt der Assonanz ξεῖν’ / -λειν willen
gewählt worden zu sein. Zwischen dem Imperativ und seinem Bezugswort kommt die Penthemimereszäsur zu liegen, und dies nach ausschliesslich langen Silben. Der langsame Rhythmus verleiht dem Passus einen geradezu feierlichen Ton. Mit dem deiktischen Pronomen
κείνων in v. 2, das die Lakedaimonier aufnimmt, wird eine gewisse Distanz geschaffen (als
Sprechende hätten die Spartaner eigentlich ἡμῶν ῥήμασι sagen müssen). Die Alliteration
κείμεθα / κείνων ist dabei vielleicht nicht unschuldig. Was den zweiten Teil des Petameters
betrifft, so bezeugt Herodot ῥήμασι πειθόμενοι, während alle anderen griechischen Quellen
mit Lykurg πειθόμενοι νομίμοις schreiben. Page (FGE ad loc.) hält die letztere Lesart für
Uni FR
35
Vorlesung
HS 2013
besser, da mit ῥήμασι schlicht “Worte” gemeint sind und eben keine Befehle, νομίμοις hingegen auf die traditionellen Werte hinweist. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass allein
schon die Wortstellung für Herodots Version plädiert : Verb (κείμεθα) und zugehöriges Partizip (πειθόμενοι) umrahmen das Dativobjekt (τοῖς ῥήμασι), dem das Deiktikum (κείνων) eingeschrieben ist (Zwiebelschalenprinzip). Zusätzlich bestätigt wird diese Wortstellung durch
den Vergleich mit Solon 4, 6. 12 W.2 : ἀστοὶ βούλονται χρήμασι πειθόμενοι / πλουτέουσιν
δ’ ἀδίκοις ἔργμασι πειθόμενοι : -ασι πειθόμενοι scheint ein Versatzstück der elegischen
Dichtung zu sein.
Von Herodot (7, 228) und den anderen griechischen Quellen anonym zitiert, wurde das Epigramm von Cicero dem Keer Simonides zugeschrieben. Dies ist vielleicht darauf zurückzuführen, dass Herodot unmittelbar danach ein weiteres Epigramm anführt und dabei Simonides’ Namen erwähnt. Es ist das Epigramm, das der Dichter seinem Gastfreund, dem Seher
Megistias, gewidmet respektive, wenn wir Petrovic, Simonideische Versinschriften 77–78
folgen wollen, für ihn gestiftet (d.h. bezahlt) haben soll (epigr. VI Page) :
μνῆμα τόδε κλεινοῖο Μεγιστία, ὅν ποτε Μῆδοι
Σπερχειὸν ποταμὸν κτεῖναν ἀμειψάμενοι,
μάντιος, ὃς τότε Κῆρας ἐπερχομένας σάφα εἰδὼς
οὐκ ἔτλη Σπάρτης ἡγεμόνας προλιπεῖν.
Dies ist das Denkmal für den berühmten Megistias, den damals die
Meder töteten, als sie über den Fluss Spercheios eindrangen.
Als Seher wusste er damals genau, dass ihm der Tod bevorstand;
trotzdem wollte er die Heerführer Spartas nicht im Stich lassen.
v. 1 Das Nomen mit dem deiktischen Pronomen (μνῆμα τόδε) weist hier konkret auf das Grab
des Megistias hin. Wir haben also ein epitymbisches Epigramm vor uns. Das Syntagma ist für
solche Inschriften üblich (Petrovic, Simonideische Versinschriften 233).
Die nicht kontrahierte Form des Gen. Sg. (κλεινοῖο) als solche ist seit Homer belegt, das
Adjektiv hingegen erst in der Chorlyrik (und als neue –νος-Ableitung sehr gut bezeugt bei
Pindar). Das ist kein Argument für Simonides’ Verfasserschaft, vielmehr kann es als Zeichen
seiner Einbettung in die relevante Zeit betrachtet werden.
Mit Μεγιστία ist nicht nur die dorische Form des Gen. Sg. in Anlehnung an Megistias’ Herkunft bezeugt, sondern er wird an der bukolischen Dihärese auch noch auf typisch epische Art
gekürzt (vgl. Hom. Od. 17, 340 ; vgl. auch u., epigr. VII Page). Dort ist denn auch die Hauptzäsur anzusetzen. Die Alliteration mit dem letzten Wort Μῆδοι ist gesucht und stellt so den
Seher seinen Mördern gegenüber.
Dem oft als Füllwort betrachteten Adverb ποτε scheint vielmehr die Funktion zuzukommen,
den Abstand zwischen dem Ereignis, das dem Epigramm zugrunde liegt, und dem Zeitpunkt
der Abfassung respektive der künftigen Rezeption zu markieren (s. Petrovic, Simonideische
Versinschriften 234). Denn wohl kaum zufälligerweise taucht es in Versinschriften auf, die im
öffentlichen Raum und von politischen Institutionen gestiftet wurden.
v. 2 Σπερχειὸν ποταμὸν : Der südthessalische Fluss bezeichnet hier die Grenze des als
griechisch geltenden Gebiets. Sein Überschreiten bedeutete die Kriegserklärung an die
griechische Gemeinschaft. Das war bis in die Perserkriegszeit so.
κτεῖναν ἀμειψάμενοι : Die Partizipien stehen gern am Versende des Pentameters (vgl. die
Diskussion um πειθόμενοι). Damit erfüllt der Pentameter die doppelte Funktion zuerst der
syntaktischen Antwort auf das Relativpronomen ὅν (κτεῖναν), dann jene auf das Akkusativobjekt Σπερχειὸν ποταμὸν (ἀμειψάμενοι).
v. 3 Das zweite Distichon bringt einen Neueinsatzh mit zusätzlichen Informationen zu
Megistias ; dieser Neueinsatz geschieht mittels der Apposition μάντιος. Derselbe ionische
Genitiv kommt vielleicht in Simon. eleg. 11, 42 W.2 vor (man liest am Pentameterschluss
Uni FR
36
Vorlesung
HS 2013
]τιος ἀντιθέου |, vgl. Thgn. 714 … Νέστορος ἀντιθέου). Zusammen mit den verbalen
Elementen εἰδὼς, οὐκ ἔτλη und προλιπεῖν bildet es das Gerüst der Information. Nicht
zufällig stehen diese inhaltlich wichtigen Wörter an den Eckpunkten des Distichons. Der
holodaktyisch gehaltene Hexameter macht schliesslich die Todesgefahr gleichsam greifbar
und hebt damit das heldenhafte Verhalten des Sehers hervor.
v. 4 Sehr schön gestaltet ist dieser abschliessende Pentameter : der verbale Teil οὐκ ἔτλη —
προλιπεῖν umrahmt das Objekt Σπάρτης ἡγεμόνας, dessen Elemente den Schluss respektive
den Beginn des jeweiligen Hemiepes bilden. Damit wird der erste Pentameter variiert, der im
ersten Teil das Objekt, im zweiten die verbalen Elemente in ebenfalls vier Wörtern bringt.
Damit liegen also zwei Epigramme äusserst prägnanten Stils vor, die in späterer Zeit dem
Nationaldichter der Perserkriegszeit schlechthin, Simonides, zugeschrieben wurden. Sicher
sind sie seiner nicht unwürdig, wie die oben erfolgten Beobachtungen gezeigt haben. Doch ist
die Zuschreibung keine Garantie für Echtheit. Beide Epigramme streichen gekonnt die
Opferbereitschaft der griechischen (im vorliegenden Fall sogar spezifisch spartanischen)
Kämpfer hervor. Ein Name sticht daraus hervor : Leonidas. Und gerade dieser Name des
spartanischen Königs und Heerführers taucht nicht nur in einem Epigramm auf, das einmal
mehr Simonides zugeschrieben wird, sondern auch in einem lyrischen Fragment, dessen
Autorschaft für einmal unumstritten ist : die Verse gehören Simonides. Diodor von Sizilien,
der sie im Zusammenhang mit seinen Ausführungen zu den Perserkriegen zitiert, beschränkt
sich leider auf den relevanten Auszug aus einem umfassenderen Gedicht, das er als Enkomion
(Lobgedicht) betitelt (F 261 Poltera) :
1
5
δικαίως δ’ ἄν τις τούτους καὶ τῆς κοινῆς τῶν Ἑλλήνων ἐλευθερίας αἰτίους ἡγήσαιτο ἢ τοὺς ὕστερον ἐν
ταῖς πρὸς Ξέρξην μάχαις νικήσαντας· τούτων γὰρ
τῶν πράξεων μνημονεύοντες οἱ μὲν βάρβαροι κατεπλάγησαν, οἱ δὲ Ἕλληνες παρωξύνθησαν πρὸς τὴν
ὁμοίαν ἀνδραγαθίαν. καθόλου δὲ μόνοι τῶν πρὸ ἑαυτῶν διὰ τὴν ὑπερβολὴν τῆς ἀρετῆς εἰς ἀθανασίαν
μετήλλαξαν. διόπερ οὐχ οἱ τῶν ἱστοριῶν συγγραφεῖς
μόνον, ἀλλὰ πολλοὶ καὶ τῶν ποιητῶν καθύμνησαν
αὐτῶν τὰς ἀνδραγαθίας· ὧν γέγονε καὶ Σιμωνίδης, ὁ
μελοποιός, ἄξιον τῆς ἀρετῆς αὐτῶν ποιήσας ἐγκώμιον, ἐν ᾧ λέγει
τῶν ἐν Θερμοπύλαις θανόντων
εὐκλεὴς μὲν ἁ τύχα, καλὸς δ’ ὁ πότμος,
βωμὸς δ’ ὁ τάφος, †προγόνων† δὲ μνᾶστις, ὁ δ’ οἶτος
ἔπαινος·
ἐντάφιον δὲ τοιοῦτον εὐρὼς
οὔθ’ ὁ πανδαμάτωρ ἀμαυρώσει χρόνος.
ἀνδρῶν ἀγαθῶν ὅδε σηκὸς οἰκέταν εὐδοξίαν
Ἑλλάδος εἵλετο·
μαρτυρεῖ δὲ Λεωνίδας,
ἀρετᾶς μέγαν λελοιπὼς
κόσμον ἀέναόν τε κλέος.
Mit Recht hält man diese wohl für die Begründer der gemeinsamen Freiheit aller Griechen, wie auch jene, die später in
den Kämpfen gegen Xerxes obenaus schwangen. Denn wenn
sie sich dieser Ereignisse erinnerten, waren die Barbaren
höchst bestürzt, die Griechen hingegen wurden angetrieben
zu gleichwertiger Tapferkeit. Im allgemeinen sind sie allein
von denjenigen an ihrer statt der unglaublichen Tapferkeit
wegen zur Unsterblichkeit gelangt. Deshalb sind es nicht nur
die Geschichtsschreiber, sondern auch viele der Dichter, die
ein Lob auf ihre Tapferkeit sangen. Darunter war auch Simonides, der Lyriker, der einen ihrer Tugend würdigen Lobgesang dichtete, worin er sagt / über die in den Thermopylen
Gefallenen sagt :
ruhmvoll ist ihr Geschick, schön ihr (Todes)los,
ein Altar ihr Grab, … Gedenken, ihr Schicksal ein
Lobgesang.
Ein solches Leichentuch wird weder Schimmel befallen
noch die alles bezwingende Zeit auslöschen können.
‹Nein›, dieser Schrein tüchtiger Männer erwählte sich als
Diener guten Ruf in ‹ganz› Griechenland.
Als Zeuge ‹dafür› steht Leonidas,
denn er hat grosse Zierde der Tugend
und immerwährenden Ruhm hinterlassen.
Für die Diskussion ist auch die verbreitete Version von Page miteinzubeziehen, die in
folgenden Punkten von meiner abweicht :
Uni FR
37
Vorlesung
HS 2013
5
τῶν ἐν Θερμοπύλαις θανόντων
εὐκλεὴς μὲν ἁ τύχα, καλὸς δ’ ὁ πότμος,
βωμὸς δ’ ὁ τάφος, πρὸ γόων δὲ μνᾶστις, ὁ δ’ οἶκτος
ἔπαινος·
ἐντάφιον δὲ τοιοῦτον οὔτ’ εὐρὼς
οὔθ’ ὁ πανδαμάτωρ ἀμαυρώσει χρόνος.
ἀνδρῶν ἀγαθῶν ὅδε σηκὸς οἰκέταν εὐδοξίαν
Ἑλλάδος εἵλετο· μαρτυρεῖ δὲ καὶ Λεωνίδας,
Σπάρτας βασιλεύς, ἀρετᾶς μέγαν λελοιπὼς
κόσμον ἀέναόν τε κλέος.
πρὸ γόων / οἶκτος
οὔτ’ εὐρὼς
δὲ καὶ
{ὁ} Σπάρτας βασιλεύς
Obwohl sich Diodor auf die Helden der Thermopylen beschränkt, scheint dies für Simonides
gerade nicht gegeben. Jedenfalls herrscht unter den Gelehrten Uneinigkeit darüber, ob das
Präpositionalobjekt τῶν ἐν Θερμοπύλαις θανόντων zum Gedicht gehört oder nicht. Dazu
zwei Beobachtungen : Simonides erwähnt Leonidas stellvertretend für alle ἄνδρες ἀγαθοί,
also wohl alle griechischen Soldaten, die sich den Persern entgegengestellt haben und nicht
nur für das spartanische Kontigent in den Thermopylen. Diese Idee wird von Thukydides für
den Epitaphios Logos von Perikles aufgegriffen, wo er ihn sagen lässt (2, 43, 3) :
ἀνδρῶν γὰρ ἐπιφανῶν πᾶσα γῆ τάφος, καὶ οὐ στηλῶν
μόνον ἐν τῇ οἰκείᾳ σημαίνει ἐπιγραφή, ἀλλὰ καὶ ἐν
τῇ μὴ προσηκούσῃ ἄγραφος μνήμη παρ’ ἑκάστῳ τῆς
γνώμης μᾶλλον ἢ τοῦ ἔργου ἐνδιαιτᾶται.
Denn hervorragender Männer Grab ist jedes Land: nicht
nur die Aufschrift auf einer Tafel zeugt in der Heimat von
ihnen, auch in der Fremde wohnt, geistig, nicht stofflich,
in jedermann ungeschriebenes Gedächtnis.
[Landmann
Dazu muss natürlich das fehlerhafte καὶ (v. 7 resp. 8), das vom byzantinischen Gelehrten Arsenios beigesteuert wurde, getilgt werden. Mit dem asynartetischen Beginn in v. 5 / 6 (ἀνδρῶν
ἀγαθῶν ὅδε σηκός) markiert Simonides seine Aussage als gnomisch, wobei er sich einer in
Inschriften üblichen Formulierung annähert (vgl. epigr. XXa, 1 Page ἀνδρῶν τῶνδ’ ἀρετῆ[ς
ἔσται κλέ]ος ἄφθιτον αἰεί). Gemeint sind alle tapferen griechischen Krieger und nicht nur
eine bestimmte Gruppe, wie der Zusatz εὐδοξίαν Ἑλλάδος klar macht. Was uns aber in erster Linie interessiert, ist der schöne Tod. Simonides sagt dies mit eigenen Worten : εὐκλεὴς
μὲν ἁ τύχα, καλὸς δ’ ὁ πότμος, … ὁ δ’ οἶτος ἔπαινος “ruhmvoll ist ihr Geschick, schön ihr
(Todes)los, … ihr Schicksal ein Lobgesang”. Er bringt also die Idee des schönen Todes ein,
und zwar mit dem selben Adjektiv καλός, wie es uns schon bei Tyrtaios begegnet ist. Diodor
täuscht sich nicht, wenn er in seinen Ausführungen zum Opfertod der Thermopylenkämpfer
bemerkt (11, 10, 4 – 11, 11, 1) :
οἱ μὲν οὖν μετὰ Λεωνίδου τὰς ἐν Θερμοπύλαις παρόδους τηροῦντες τοιοῦτον ἔσχον τοῦ βίου τὸ τέλος.
Ὧν τὰς ἀρετὰς τίς οὐκ ἂν θαυμάσειεν; οἵτινες μιᾷ
γνώμῃ χρησάμενοι τὴν μὲν ἀφωρισμένην τάξιν ὑπὸ
τῆς Ἑλλάδος οὐκ ἔλιπον, τὸν ἑαυτῶν δὲ βίον προθύμως ἐπέδωκαν εἰς τὴν κοινὴν τῶν Ἑλλήνων σωτηρίαν,
καὶ μᾶλλον εἵλοντο τελευτᾶν καλῶς ἢ ζῆν αἰσχρῶς.
Diejenigen also, die mit Leonidas die Zugänge zu den Thermopylen bewachten, beendeten ihr Leben auf solche Weise.
Wer bewunderte nicht ihren Mut ? Sie, die nach gemeinsamem Beschluss die ihnen vom ganzen Griechentum
zugewiesene Stellung nicht verliessen, ihr eigenes Leben
mutig für die gemeinsame Sache der Griechen hingaben
und es vorzogen, schön zu sterben als schändlich zu leben.
Natürlich ist Leonidas ein spartanischer König und Heerführer. So zumindest liest man bei
Diodor ὁ Σπάρτας βασιλεύς. Man könnte diesen Zusatz sogar metrisch rechtfertigen, wie
Page aufzeigt (einzig der Artikel wäre zu streichen). Als Beweis dafür wird das literarische
Epigramm aus hellenistischer Zeit angeführt, wo Leonidas direkt angesprochen wird (epigr.
VII Page) :
Uni FR
38
Vorlesung
HS 2013
εὐκλέας αἶα κέκευθε, Λεωνίδα, οἳ μετὰ σεῖο
τῇδ’ ἔθανον, Σπάρτης εὐρυχόρου βασιλεῦ,
πλείστων δὴ τόξων τε καὶ ὠκυπόδων σθένος ἵππων
Μηδείων ἀνδρῶν δεξάμενοι πολέμῳ.
Ruhmreiche birgt die Erde in sich, Leonidas, welche mit dir
hier fielen, König des weiträumigen Spartas,
weil sie sich dem Heer der unzähligen Pfeile sowie der schnellfüssigen Pferde der medischen Streiter im Krieg entgegenstellten.
Dieser Vierzeiler ist nicht gerade als ein herausragendes Beispiel der Epitymbienliteratur zu
betrachten. Auf den dorischen Akkusativ Plural εὐκλέας (mit kurzem Alpha !) folgt der attische Vokativ Λεωνίδα, dessen langes Schlussalpha nicht nur mit dem dorischen Genitiv übereinstimmt, sondern hier auch noch die Hiatkürzung erfährt. Es ist eine schlechte Kopie des
ersten Verses des oben besprochenen Epigramms für Megistias (epigr. VI, 1 Page : μνῆμα
τόδε κλεινοῖο Μεγιστία, ὅν ποτε). Der zweite beginnt nicht viel besser, denn τῇδ’ ἔθανον ist
ein schlechter Ersatz für das eigentlich erwartete, aber unmetrische τῇδε κεῖνται. Auch die
darauf folgende Apposition zum Vokativ Λεωνίδα, Σπάρτης εὐρυχόρου βασιλεῦ, das wie
eine Faust auf den Relativsatz folgt – es ist nunmehr die Rede vom Kontigent der Gefallenen
und nicht mehr nur von Leonidas–, mag überhaupt nicht zu überzeugen. Was dann folgt, ist
weit entfernt vom eleganten Stil einer guten Inschrift : σθένος gehört eigentlich zu Μηδείων
ἀνδρῶν und könnte allenfalls über die rhetorische Figur der Metonymie auf πλείστων δὴ
τόξων τε καὶ ὠκυπόδων ἵππων bezogen werden (Bogenschützen und Reiterei der Perser),
auch wenn mit ὠκυπόδων σθένος ἵππων ein formelhafter Ausdruck gebraucht wird ([Hes.]
Sc. 97 ; doch mit völlig anderem Sinn : die gewaltige Kraft der Pferde zügeln !).
Kehren wir wieder zu Leonidas und dem Zusatz ὁ Σπάρτας βασιλεύς zurück. Wie wir oben
gesehen haben, liesse sich diese Apposition metrisch einfügen. Dem steht jedoch gegenüber,
dass Simonides in seiner Elegie auf die Schlacht von Plataiai zwar von Pausanias, dem Sohn
von Kleombrotos spricht (eleg. 11, 32–34 W.2 … πατ]ρῴης ἡγεμόνες π[ό]λεος / τοὺς δ’ υἱὸς
θείοιο Κλεο]μβ[ρ]ότου ἔξ[α]γ’ ἄριστ[ος / …] αγ . Παυσανίης), dabei aber den Ausdruck
βασιλεύς eben gerade zu vermeiden scheint. So hätte man auch für Leonidas im Zusammenhang mit dem panhellenischen Widerstand eher ἡγεμών (vgl. die Megistias-Inschrift, v. 4 :
Σπάρτης ἡγεμόνας) oder allenfalls ἀρχηγός erwartet. Pausanias selbst nennt sich nämlich in
einer Simonides zugeschriebenen Inschrift Ἑλλήνων ἀρχηγός (epigr. XVII Page) :
Ἑλλήνων ἀρχηγὸς ἐπεὶ στρατὸν ὤλεσε Μήδων,
Παυσανίας Φοίβῳ μνῆμ’ ἀνέθηκε τόδε
Der Anführer der Griechen, nachdem er das Heer der Meder vernichtet hatte, Pausanias, hat dem Apollon dieses Denkmal geweiht.
Dieses anathematische Epigramm soll antiken Quellen zur Folge nur ganz kurz Bestand gehabt haben, bevor es ausradiert und durch eine andere Widmung ersetzt worden sei. Denn
man habe sich an der Überheblichkeit des Heerführers gestossen, der »nicht nur die Leistung
des Sieges über die Meder für sich alleine beanspruchte, sondern sich selbst zugleich zum
Ἑλλήνων ἀρχηγός erklärte« (Petrovic, Simonideische Versinschriften 268). Dass wir es
trotzdem besitzen, ist vielleicht auf die mündliche Überlieferung zurückzuführen. Andererseits stellt Simonides Pausanias, den Sohn des göttlichen Kleombrotos, den epischen Helden
aus Sparta, Menelaos und die Tyndariden, an die Seite (eleg. 11, 31 W.2). Da soll noch einer
sagen, dies sei nicht prätenziös…
Leonidas andererseits vereint in seiner Person den Opfertod des griechischen Freiheitskämpfers und den daraus resultierenden ewigen Ruhm. Seine spartanische Herkunft hat dabei keine
Bedeutung, im Gegenteil : er verkörpert das Hellenistische schlechthin. Dass der Schluss des
Simonidesfragments gerade ohne den Zusatz ὁ Σπάρτας βασιλεύς (man beachte die Präsenz
des bestimmten Artikels !) eine metrische Einheit und eine sprachliche Meisterleistung bildet,
ist sicher kein Zufall :
Uni FR
39
Vorlesung
HS 2013
μαρτυρεῖ δὲ Λεωνίδας,
ἀρετᾶς μέγαν λελοιπὼς
κόσμον ἀέναόν τε κλέος
Der lyrische Höhenflug von Simonides (»Weder Moder noch die allgefrässige Zeit können
dem Ruhm der griechischen Freiheitskämpfer etwas anhaben : er wird ewig über Griechenland strahlen«) wird in geradezu lakonischer Weise durch das Exempel untermauert. Der
Name Λεωνίδας klingt in der Assonanz ἀρετᾶς und der Alliteration λελοιπὼς an, und der
Schlussvers spannt den Bogen von κόσμον zu κλέος. Semantisch effektvoller und lautmalerischer lässt sich dies kaum formulieren.
Etwas weniger als ein Jahrhundert später liest man im Epitaphios von Lysias einen ähnlichen
Gedanken :
ἀλλ’ ὅμως οὐ τὸ πλῆθος τῶν ἐναντίων φοβηθέντες,
ἀλλ’ ἐν τοῖς σώμασι τοῖς ἑαυτῶν κινδυνεύσαντες,
τρόπαιον μὲν τῶν πολεμίων ἔστησαν, μάρτυρας δὲ
τῆς αὑτῶν ἀρετῆς ἐγγὺς ὄντας τοῦδε τοῦ μνήματος
τοὺς Λακεδαιμονίων τάφους παρέχονται.
Gleichwohl fürchteten sie die Menge der Feinde nicht, sondern
sie riskierten ihr eigenes Leben und errichteten ein Siegesdenkmal aus der Beute der Feinde; als Zeugnis ihres eigenen
Mutes zeigen sie die Gräber der Lakedaimonier ab, die sich
nahe dieses Denkmals (unserer Gefallenen) befindet.
Selbst die Gräber von Feinden befinden sich auf dem Kerameikos, werden dann aber zur
Erhöhung der eigenen Leistung gedeutet. Was uns jedoch interessiert, ist die Formulierung
μάρτυρας δὲ τῆς αὑτῶν ἀρετῆς … τάφους παρέχονται : Die Gräber (hier der Feinde) bezeugen die eigene Tugend der athenischen Soldaten, ganz ähnlich wie Leonidas es stellvertretend
für alle griechischen Kämpfer tut, und zwar eben nicht “auch Leonidas” (μαρτυρεῖ δὲ καὶ
Λεωνίδας), wie man bei Arsenios liest.
Aus der Epigrammsammlung der Anthologia Palatina und dem Scholion zu Aristeides
stammt die folgende, ebenfalls unter Simonides’ Namen zirkulierende Inschrift (epigr. VIII
Page) :
εἰ τὸ καλῶς θνῄσκειν ἀρετῆς μέρος ἐστὶ μέγιστον,
ἡμῖν ἐκ πάντων τοῦτ’ ἀπένειμε τύχη·
Ἑλλάδι γὰρ σπεύδοντες ἐλευθερίην περιθεῖναι
κείμεθ’ ἀγηράτῳ χρώμενοι εὐλογίῃ.
Wenn der schöne Tod der Gipfel der Tugend ist,
so hat uns dies vor allen anderen das glückliche Los zugeteilt.
Denn im Bestreben, Griechenland die Freiheit zu verschaffen
liegen wir tot da, nicht ohne unsterblichen Ruhm zu geniessen.
Der terminus ante quem ist durch einen Grabstein gegeben, der vom Kerameikos stammt und
aus frühalexandrinischer Zeit zu stammen scheint (317/6 oder früher). Darauf liest man : εἰ τὸ
καλῶς ἐστι θανεῖν, κἀμοὶ τοῦτ’ ἀπένειμε τύχη. Direkte Abhängigkeit ist damit gegeben.
Das heisst mit anderen Worten, dass das Original weitherum bekannt gewesen war und sich
auf ein berühmtes Ereignis bezieht. Man denkt dabei natürlich an die Perserkriege, auch wenn
weder in der Anthologia Palatina noch im Scholion zu Aristeides irgend einen Hinweis in
dieser Richtung zu finden ist. Die Datierung der Imitation lässt nämlich dieselbe panhellenische Idee durchschimmern, die in Alexander dem Grossen ihren Ausdruck gefunden hat
(356–323). Bemerkenswert ist andererseits die Tatsache, dass der vorliegende Vierzeiler mit
einem Konditionalsatz beginnt. Das ist ansonsten vor dem vierten Jahrhundert nicht bezeugt.
v. 1 Bis auf das wichtige Wort θνῄσκειν ist der Vers daktylisch gestaltet. Damit liegt grosser
Nachdruck auf dem Ableben als Voraussetzung der Tugend (die beiden Wörter stehen wohl
nicht zufällig nebeneinander). Mit der Formulierung ἀρετῆς μέρος ἐστὶ μέγιστον wird
sodann gleichsam die hesiodeische Darstellung des steinigen Weges zur Höhe der Tugend
evoziert (Op. 289–92) :
Uni FR
40
Vorlesung
HS 2013
290
τῆς δ’ ἀρετῆς ἱδρῶτα θεοὶ προπάροιθεν ἔθηκαν
ἀθάνατοι· μακρὸς δὲ καὶ ὄρθιος οἶμος ἐς αὐτὴν
καὶ τρηχὺς τὸ πρῶτον· ἐπὴν δ’ εἰς ἄκρον ἵκηται,
ῥηιδίη δὴ ἔπειτα πέλει, χαλεπή περ ἐοῦσα.
Der Tugend haben die unsterblichen Götter Schweiss voranGesetzt. Lang und steil ist der Weg zu ihr,
und zu Beginn steinig. Hat man den Gipfel erreicht,
dann ist er bequem, wenngleich er mit Mühe verbunden bleibt.
v. 2 Wie bei Tyrtaios, wo im ersten Pentameterteil gewichtige Aussagen mit Längen betont
werden, wird auch hier diese Stelle von Spondäen dominiert : ἡμῖν ἐκ πάντων bringt das
Privileg, das den Sprechenden zuteil wurde, gekonnt zum Ausdruck (Page bleibt skeptisch :
Diese Art der Formulierung sei nicht üblich ; doch s. K.-G. I, 460, wo insbesondere ἐκ
πάντων als typisch für die Nebenbedeutung der Auszeichnung angeführt wird). Der Distichon
schliesst mit dem programmatischen Wort τύχη. Damit steht die Gleichung τὸ καλῶς
θνῄσκειν = τύχη.
v. 3–4 Parallel zur paränetischen Kriegselegie folgt nun die Begründung (γάρ). An prominenter Stelle (Versbeginn) steht dabei das Schlüsselwort Ἑλλάδι : der Opfertod (κείμεθα)
erfolgte für das Wohl Griechenlands. Als Entschädigung bleibt den Gefallenen ewiger Ruhm
(εὐλογίῃ) : Wie τύχη zuvor, beschliesst auch dieses Wort den Distichon. Indem das Epitheton
ἀγηράτῳ (jüngere Form für ἀγηράντῳ) durch das Partizip von seinem Nomen getrennt ist,
wird zusätzlicher Nachdruck darauf gelegt.
Obwohl der Vierzeiler also durchaus klassische Grösse durchschimmern lässt, wirft seine
philosophische Reflexion in Form des Konditionalsatzes doch Fragen zur Datierung auf.
Denn diese Art der Formulierung scheint vor dem Aufblühen des Sophismus im 5. Jh. (insbesondere in der zweiten Hälfte) kaum annehmbar. Die Inschrift tönt wie eine Antwort auf
den Epitaphios Logos, dem wir ab dem Peloponnesischen Krieg begegnen. Sollte zudem die
Form des Adjektivs ἀγηράτῳ tatsächlich ursprünglich sein, wäre eine Datierung ins hohe
fünfte Jahrhundert nicht vertretbar. Dies macht deutlich, dass das Konzept des τὸ καλῶς
θνῄσκειν nicht an eine bestimmte Zeit gebunden ist, sondern je nach historischen und
intellektuellen Umständen zum Aufleben gebracht werden kann.