Die deutsche Sprache – eine Dialektlandschaft
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Die deutsche Sprache – eine Dialektlandschaft
Die deutsche Sprache – eine Dialektlandschaft Karl-Heinz Bausch 쐃 Anteil der Dialekt sprechenden Bevölkerung 1997 West/Ost alte Länder neue Länder Nord/Süd Norddeutschland Süddeutschland Stadt/Land über 50 000 Einw. Gliederung in Dialektregionen 20 000 - 50 000 Einw. bis 20 000 Einw. Alt/Jung über 60 Jahre 40-59 Jahre 18-39 Jahre Männer/Frauen Männer Frauen 70 60 50 40 30 20 10 Prozent Die Situation der deutschen Sprache ist geprägt von ihrer Geschichte. Die unterschiedliche Rolle des Niederdeutschen gegenüber dem Mittel- und Oberdeutschen wirkt in die Gegenwart hinein. Im Mittel- und Oberdeutschen ist ein fließender Übergang zwischen den 쑺 Dialekten, den 쑺 Umgangssprachen und der 쑺 Standardsprache zu beobachten, im Niederdeutschen dagegen ein Nebeneinander von Dialekt und Standardsprache. 0 10 20 30 40 50 60 70 wenig ja gut/sehr gut nein Prozent Grundlage für die regionale Gliederung in unterschiedliche Dialekte ist die hochdeutsche Lautverschiebung (6.-9. Jh.). Das Oberdeutsche vollzog den Wandel der 쑺 Isoglossenreihe pund/ (p)fund, appel/apfel, dorp/dorf, dat/das, maken/machen vollständig, das Mitteldeutsche nur teilweise. Der Wandel markiert das (Alt-)Hochdeutsche als Zweig des Germanischen. Das Niederdeutsche blieb davon ausgeschlossen. Weitere Isoglossen auf der Lautebene führten zur heutigen Untergliederung in 쐋 © Institut für Länderkunde, Leipzig 2001 Herkunft deutschsprachiger Schriftsteller des 17.-19. Jh. Regionalismen üblich, Bezeichnungen wie Hanseatendeutsch und Honoratiorenschwäbisch belegen deren Wertschätzung. Im Norden fegt, im Süden kehrt und in der deutschsprachigen Schweiz wischt man mit einem Besen. Das zweite Frühstück heißt in Schwaben Vesper, in Bayern Brotzeit und in Österreich Jause. Aus Dialekten entlehnte synonyme Wörter nutzt die Standardsprache zur Bedeutungsdifferenzierung: sprechen, schnacken, schwätzen, plaudern, reden. Dialektkompetenz Im Bundesdurchschnitt beantworten zwischen 46 und 51% der Erwachsenen die Frage, ob sie einen Dialekt sprechen, positiv (STICKEL/VOLZ 1999). Der Anteil der 18- bis 39-Jährigen liegt darunter, der der über 60-Jährigen 쐇 90 Dialektkompetenz in ländlichen Regionen 1997 andere Regionen 80 nach Ländern 70 50 (zu HB) 20 Niederdeutsch 10 Brandenburg Nord Niedersachsen Nord Berlin SachsenAnhalt Nordrhein- 30 MecklenburgVorpommern Bremen Niedersachsen Süd Ostmitteldeutsch 40 Hamburg 0 15971685 1689- 1730- 1762- 1798- 18351729 1759 1797 1833 1870 NIEDERDEUTSCH MIT TELDEUTSCH Sachsen Thüringen Hessen RheinlandPfalz über 20 Dialekte in der Bundesrepublik �. Die regionale Gliederung des Wortschatzes überlagert häufig diese sprachgeschichtlich begründeten dialektalen Lautgrenzen �. Dialekt und Standardsprache Saarland BadenWürttemberg Nord Bayern BadenWürttemberg Süd Autor: K. Bausch Anteil der Dialekt sprechenden Bevölkerung Prozent 60 - 70 50 - 60 30 - 40 20 - 30 © Institut für Länderkunde, Leipzig 2001 94 0 - 20 OBERDEUTSCH HOCH- Nordnieder- MecklenburDEUTSCH sächsisch, gisch, Bran- Mittelfrän- Sächsisch, SüdfränSchwäbisch, kisch, Thüringisch kisch, Ost- AlemanWestfälisch, denburgisch, Hessisch, fränkisch nisch Ostfälisch Märkisch Pfälzisch Bruder müde heut-e fest Kind er sich euch 3. Pers. Pl.: Umlaut Bro(d)er meu, mö heute, hüt fest Kind he(i) sük, sek jo, jau, jück -et fährst, fährt Braurer meur, möd Die hochdeutsche Schriftsprache ist aus ober- und mitteldeutschen Schreibdialekten hervorgegangen. Im 16. und 17. Jh. löste sie auch im niederdeutschen Raum die niederdeutsche Schreibsprache ab. Hochdeutsch schreibende Schriftsteller aus unterschiedlichen Regionen beeinflussten die weitere Entwicklung zur heutigen Standardsprache �. Erst im 19. Jh. beginnt der bis heute nicht abgeschlossene Vereinheitlichungsprozess der Aussprache. In der gegenwärtigen Standardsprache sind Nationalatlas Bundesrepublik Deutschland – Bildung und Kultur Brouder müd, m(o)id heut, hait fest, fescht he, er sik, sek, sich sech, sich öch, eich juch, jug -e -en © Institut für Länderkunde, Leipzig 2001 Brandenburg Süd Westfalen Das Süd-Nord-Gefälle in der Dialektkompetenz zeigt sich auch in der Einstellung gegenüber regionalen Um- Nord-, Mittelbairisch Laut- und Wortformen 60 SchleswigHolstein Einstellung gegenüber Dialekten � Dialekte und Dialektgruppen Prozent 100 darüber. Die typischen Dialektsprecher sind im mittleren Alter und leben in Süddeutschland in Gemeinden mit bis zu 50.000 Einwohnern. Über die Hälfte von ihnen ist davon überzeugt, dass sie ihren Dialekt sehr gut bis gut beherrschen 1. Die typischen zur Standardsprache hin orientierten Sprecher leben in Norddeutschland oder in Gemeinden mit über 50.000 Einwohnern. Sie halten ihre Dialektkompetenz für gering. Kleinräumige Studien in ländlichen Regionen bestätigen das Süd-Nord-Gefälle der Dialektkompetenz (LÖFFLER 1994) �. Bruder mid heute fest er sich eich, euch -(e)n Brouder Bruader müd, müed mied heut, hait fescht Kind, Kchind er, ear, dr am, em si uich, eu euch -et -e fahrst, fahrt miad fest er, ea si, sö, eam enk -n Wortschatz Mädche Jong, Bu(b) det, düss, des Johr Samsdig, Sonnowed (P)ferd, Gaul schwätze, plaudern Klümpchen, Bonsche(r), Bönger Bonbon Kamelle, Lutscher Gutsje Tüffel(ken) Tüffel, Nudel Grumbeere Kartoffel Brötchen, Rundstück Schrippe Brötchen Weck DöppesbäPötter Pöttker, Töpfer cker, DibbePöttjer macher Fassbenner, Küp(p)er, Böttker, Böttcher, Kiefer, Böttcher Böttjer Küfer Küfer Schringer, Discher Disker, Tischler, Schrei(n)er Discher Schreiner Wagenma- Radmaker, Stellmacher Wagner, Stellmacher ke, Ra(d)- Stellmoker Esser Wägener maker Schlächter Schlachter Metz(e)ler, Fleischer, Metzger Deern Dearn Mädchen Jung, Jong Jung(e) Junge dit Johr, dieses Jahr van johr, düt Jo(a)hr dies Jahr Samstag/ Sater(s)tag Sonnabend Sonnabend Perd Hengst Pferd schnacken sprechen sprechen Mädchen Jung(e) dies(es) Jahr Sonnabend (P)ferd sprechen, plaudern Bonbon Mäd, Mädle Mädle Bua, Bueb Bub, Bu heier, heuer dis, des, das Johr Samsdog, Samschdag, Samschdi Samsti Gaul, Ross Gaul schwätze rede Deandl Bua heuer Samsta(g) rede Bombom Gutsele Gu(a)tsel, Zuckerl Erdapfel Brötchen, Semmel Tepper, Töpfer Potakn Semmel Grumbire Weck(en) Erdapfel Semmel Böttcher, Büttner Bittner, Binder Kiefer, Küefer Schäffler, Binder Tisch(l)er Schreiner Wachner, Wagner, Krummholz Metzler Wagner, Wogner Hafner Häf(f)ner Stellmacher Wochner Wehner Fleischer Metzger Metzger 쐂 Sprachräume und mundartliche Großräume nach einer Befragung um 1900 NORDFRIESISCH Flensburg Kiel de e m. d d H fun r- alem Konstanz an nis Bodensee Friedrichshfn. ch r a db Ingolstadt ha u hu s s T ir o li Schlesisch Dialektgrenze, die sich u.a. an der aufgeführten Erscheinung dokumentiert i ri M Dialektgrenze, erstellt aufgrund von Isoglossenbündeln, deren Zusammensetzung relativ kleinräumig wechselt Mischgebiet der brou er d brua Regensburg IR Landshut Augsburg Kempten niederdeutscher Sprachraum sc Ä M nord-/westfriesischer Sprachraum h KI N pe l f el ap E VillingenSchwenningen m m aken ac he H C lda Fu un ch - än ap h No H s c h C ä b i u w r S na ka Do c h Nec Reutlingen N I AL mähe mähet Rhei n redaktionell bearbeitet nach dem dtv-Atlas zur deutschen Sprache Nürnberg cht gne echt n kch h isc ungefähre Abgrenzung der mundartlichen Großräume Isoglosse ch eu nk e Aalen A f un d pfund mitteldeutscher Sprachraum A Ulm Chemnitz Zwickau Bayreuth mähe mähet (3.Pl. N Görlitz oberdeutscher Sprachraum IS C risch ittelbai sc Rosenheim u Passau H Ländergrenze 2001 Staatsgrenze 2001 Inn Städte MÜNCHEN fe st f e sc h t c h al OST FR Dresden sächsisch Gera Hof enk euch e kind d chin Main Pforzheim Ni - p CH iße a S Ober- Ne n Do Offenburg Ho rä df Cottb. Hoyerswerda g Vogtbir ge Plauen z r ländisch E Saale Suhl STUTTGART BadenBaden Freiburg i. Br. p kis h isc nk rä lf fr is c Karlsr. Sü T h ü r i n g i s Jena ch Werra Schweinfurt Heilbronn nk ei Elbe Leipzig B Rh Mannheim Hbg. ik S üd ä s Ems sch heini err ied N Saarbrücken n- Frankft./O. e l m ä r k i sSpcreeh ich h rkisc mä S OSTMITTELDEUT Würzbg. r cka Ne Neunkirchen BERLIN zer sit Lau h w as w Kaiserslautern Halle/S. r h at sch Potsdam Mitt Erfurt Aschaffenburg Darmstadt sc se Mainz urgi de Wiesbaden lzi fes t f e sch t FRANKFURT a. M. Schwedt TSCH O el isc Trier Mo Koblenz ss Mos He W E ST TT MI ri n ma ch h( e n . e) a (In f. ) h sc ISCH RB SO Aachen N ord t h ü h g isc m ac Leverkusen Gummersb. h es s i sch h p Siegen N i e d e r s c dor orf Marburg i r a u d R i p Bonn Euskirchen H isch k n E U T S CFulda ä r Mittelf E L D Wetzlar KÖLN Pfä 20 Kassel ken ik, ma mache ich, ale ei n 25 Göttingen DORTMUND Wuppertal ä i rk Sa Rh 30 Dessau d fu n d pfu n DÜ. Mö. Magdeburg c ESSEN dik b en B Brandenburg di lis D. tfä Westfä Paderborn lis ch et ) 3.Pl. n) ( e( äh ik ich nd r a Havel Ostfälisch h Gelsenkirchen Bo. Beliebtheit von Dialekten 1958, 1990 und 1997 Bairisch Schwäbisch Norddeutsch Sächsisch Berlinerisch Kölsch Hessisch Detmold DERDEU Wolfsburg Braunschweig Hildesheim Hameln Nordm TNIE os m m äh Positiv bewertete Dialekte stiften regionale Identität. In dieser Funktion sind die oberdeutschen Dialekte als Kommunikationsmittel in die Nahbereiche Familie, Arbeitsplatz, lokale Öffentlich- Bai Schwä Ndt Sä Berl Kö Hess Wese r Herford Bocholt Celle D E R HANNOVER Bielefeld Münster OS Elb ED WESTNI Dialektfunktion und Wandel 35 Osnabrück er braud er brod S T EU gebroken gebruaken Rheine Codeswitch – der Wechsel zwischen Sprachen während eines Redebeitrags di dik r Neubrandenburg Schwerin Elb Lüneburg Bremen d e i e n d r N o Lingen Isoglosse – Linie in der linguistischen Karte, die gleiche Erscheinungen phonetischer, lexikalischer und grammatischer Art geographisch verbindet Prozent HAMBURG e Oldenburg Lübeck l ve Ha Emden Dialekt (Mundart) – örtliche oder regionale Variante, die sprachgeschichtlich aus einem bestimmten Dialekt hervorgegangen ist � Bremerhaven gischWismar n b u r rpommersch e l ck Vo Me SC Wilhelmshaven Ostfriesisch Greifswald Rostock mä he t( m ä 3.P l . ) hen Cuxhaven c h s i s c h Neumünster Umgangssprache – Zwischenstufe mit diffusen Randzonen zwischen Standardsprache und Dialekt(en) gangssprachen �. Nach Umfragen unter Erwachsenen in den alten Ländern (1958) und unter Jugendlichen (1990) liegt Bairisch (München) mit Abstand an der Spitze, gefolgt von Kölsch (Mittelfränkisch), Berlinerisch und Schwäbisch (Stuttgart). Abgeschlagen liegen Hessisch (Frankfurt) und Sächsisch (Dresden). Zehn Jahre danach (STICKEL U. VOLZ 1999) hat die Sympathie gegenüber dem Oberdeutschen weiter zugenommen, die gegenüber dem Mitteldeutschen ist ausgeglichen. Die nachlassende Sympathie gegenüber dem Norddeutschen (Hamburg) in vier Jahrzehnten zeigt, dass es seine Vorbildfunktion für die hochdeutsche Aussprache verliert. Stralsund > 1 000 000 Einwohner ht ec t g n ne h kc ch Standardsprache (Hochsprache) – die historisch legitimierte und institutionalisierte überregionale Verkehrssprache, die Umgangssprachen und Dialekte überlagert und durch Normen des korrekten schriftlichen und mündlichen Gebrauchs festgelegt und tradiert wird > 500 000 Einwohner > 250 000 Einwohner > 100 000 Einwohner h > 50 000 Einwohner 0 © Institut für Länderkunde, Leipzig 2001 25 50 15 10 5 0 Bai Schwä Ndt 1958 alte Länder Sä Berl 1990 alte Länder (19-29-Jährige) © Institut für Länderkunde, Leipzig 2001 Kö Hess 1997 alte und neue Länder keit und Jugendsprache eingebettet (EHMANN 1992). Schriftsteller und Liedermacher nutzen Dialekte zur Darstellung auch brisanter Themen. 쑺 Codeswitch zwischen Dialekt und Standardsprache erweitert die Aussagemöglichkeiten in Alltagsgesprächen. Das Gleiche gilt mit Einschränkung auch für die mitteldeutschen Dialekte. Das Niederdeutsche da- 75 Maßstab 1 : 3 750 000 gegen hat weitgehend diese Funktionen eingebüßt. Es wird institutionell gefördert und als Erinnerungsdialekt gepflegt. Zu erwarten ist ein weiterer Rückgang der niederdeutschen Dialekte zu Gunsten der Standardsprache und ein Wandel der traditionellen kleinräumigen mittel- und oberdeutschen Dialekte zu Regionaldialekten. Wahr- scheinlich ist auch ein Einfluss der mittel- und oberdeutschen Umgangssprachen auf Aussprache und Wortschatz der Standardsprache.웇 Die deutsche Sprache – eine Dialektlandschaft 95 100 km