Theorie und Geschichte der Reformpädagogik – Teil 3.2

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Theorie und Geschichte der Reformpädagogik – Teil 3.2
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Vorwort
Der Monographieband 3.2 und der zugehörige Quellenband 3.2 sind die letzten Bände
einer insgesamt dreiteiligen Studie zur Theorie und Geschichte der Reformpädagogik.
Diese untersucht theoriegeschichtlich bedeutsame Wechselwirkungen zwischen
reformpädagogischen Initiativen, staatlichen Bildungsreformen und der Entstehung
der modernen Erziehungswissenschaft in Deutschland. Sie begrenzt den Bestand
reformpädagogischer Strömungen und Richtungen nicht auf die Pädagogische Bewegung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, sondern bezieht auch die Schulversuche
zur Zeit der pädagogischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts und die staatlichen
Schulreformen seit Beginn des 19. Jahrhunderts in ihre Analysen ein.
Das gewählte methodische Vorgehen ist weder dasjenige einer Realgeschichte, die
faktische Reformverläufe beschreibt, noch das einer Theoriegeschichte, die sämtliche
Richtungen und Strömungen einer oder mehrerer Epochen erfasst und ihren Einfluss
auf die Veränderung von Erziehungssystem und pädagogischer Praxis untersucht. Für
die Durchführung des mit diesem Band abgeschlossenen Vorhabens wurde vielmehr
ein problemgeschichtlicher Untersuchungsansatz gewählt, der erziehungs-, bildungsund schultheoretische Fragestellungen in den Mittelpunkt rückt, unter denen die
moderne wissenschaftliche Pädagogik im ausgehenden 18. und zu Beginn des 19.
Jahrhunderts die Veränderungen in der Eigenstruktur und -logik moderner Erziehung
reflektiert hat. Sie sind auch für die Analyse und Beurteilung späterer Entwicklungen
hilfreich. Ihre Relevanz für die wissenschaftliche Pädagogik und für praktische
Reformen wird an herausragenden Positionen und Reformbeispielen aus insgesamt drei
modernen pädagogischen Bewegungen herausgearbeitet.
Aufgrund ihres problemgeschichtlichen Ansatzes unterscheiden sich die Studien
zur Theorie- und Problemgeschichte der Reformpädagogik von wissenschaftshistorischen
Arbeiten, ohne für sich den Anspruch zu erheben, alle im Untersuchungszeitraum
entwickelten Reformkonzepte bzw. unternommenen Reformversuche zu berücksichtigen
und zu erfassen. Im ersten Teil wurde „Die pädagogische Bewegung von der Aufklärung
bis zum Neuhumanismus”, im zweiten Teil „Die Pädagogische Bewegung von der
Jahrhundertwende bis zum Ende der Weimarer Republik” behandelt.1 Der dritte Teil
analysiert „Staatliche Schulreform und Schulversuche” in den deutschen Nachkriegsstaaten.
Dabei konzentrieren sich der Quellentextband 3.1 und der Monographieband 3.1 auf
die SBZ und die DDR, die Bände 3.2 auf die westlichen Besatzungszonen und die BRD.
Die Aufarbeitung und Interpretation der Quellen erfolgte im Rahmen eines von der
Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Forschungsvorhabens zur Entwicklung
1
Der Begriff pädagogische Bewegung (mit kleingeschriebenem „p”) wird verwendet,
wenn von den drei Phasen moderner Reformpädagogik insgesamt bzw. von der ersten
oder dritten Phase die Rede ist; der Begriff Pädagogische Bewegung (mit großgeschriebenem „P”) wird als eingeführter Fachbegriff zur Bezeichnung der zweiten Phase
gebraucht.
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Vorwort
von „Allgemeinbildung und Schulstruktur”, das die Verfasser gemeinsam an der
Westfälischen Wilhelms-Universität Münster begonnen und in parallel arbeitenden
Teams an der Humboldt-Universität zu Berlin und an der Pädagogischen Hochschule
Erfurt zum Abschluss gebracht haben.2
Ziel des Projekts war es, für den Zeitraum von der Aufklärung bis zur Gegenwart
theoretisch und praktisch bedeutsame Zusammenhänge zwischen pädagogischen
Konzepten und Erfahrungen aus Reform- und Versuchsschulen, staatlichen Schulreformen
und der Entwicklung der modernen Erziehungswissenschaft in Deutschland herauszuarbeiten. Angestrebt wurde eine Theorie- und Praxisgeschichte, die sich von den heute
in der Ideengeschichte vorherrschenden Modellen dadurch unterscheidet, dass sie weder
eine hagiographische Hofberichterstattung und Verklärung einzelner reformpädagogischer
Strömungen noch eine Identifizierung immer gleicher reformpädagogischer Dogmen
und Irrtümer anstrebt, sondern Lernprozesse und Entwicklungen rekonstruiert, die
zwischen praktischer Reformpädagogik, staatlicher Bildungsreform sowie erziehungswissenschaftlicher Theorieentwicklung und Forschung stattgefunden haben.
Die problemgeschichtlichen Analysen verzichten bewusst auf Annahmen einer stetigen
Fortschritts- oder Verfallsgeschichte. In ausdrücklicher Distanzierung von solchen
Annahmen wird vielmehr gezeigt, dass noch jede pädagogische Bewegung in den
zurückliegenden zweieinhalb Jahrhunderten zu anderen als den zunächst von ihr
intendierten Resultaten geführt hat und dass es nicht zuletzt Differenzen zwischen
Reformintentionen und -wirkungen waren, welche die Entwicklung des Bildungssystems
und der Erziehungswissenschaft nachhaltig beeinflusst haben.
Diese These gilt nicht nur für die Schulversuche der pädagogischen Aufklärung
und das Scheitern der Preußischen Schulreform3 sowie die Pädagogische Bewegung
2
3
Vgl. D. Benner/H. Kemper (Hrsg.): Quellentexte zur Theorie und Geschichte der
Reformpädagogik. Teil 1: Die pädagogische Bewegung von der Aufklärung bis zum
Neuhumanismus. Weinheim 2000. Teil 2: Die Pädagogische Bewegung von der Jahrhundertwende bis zum Ende der Weimarer Republik. Weinheim 2001; Teil 3.1: Staatliche
Schulreform und Schulversuche in SBZ und DDR, hrsg. von D. Benner, W. Eichler, K.-F.
Göstemeyer und H. Sladek. Weinheim 2003; Teil 3.2: Staatliche Schulreform und
reformpädagogische Schulversuche in den westlichen Besatzungszonen und in der BRD,
hrsg. von H. Kemper. Weinheim 2004; siehe auch die Monographiebände D. Benner/H.
Kemper: Theorie und Geschichte der Reformpädagogik. Teil 1: Die pädagogische
Bewegung von der Aufklärung bis zum Neuhumanismus. Weinheim 2001; 2. Auflage
Weinheim und Basel 2003; Teil 2: Die Pädagogische Bewegung von der Jahrhundertwende
bis zum Ende der Weimarer Republik. Weinheim und Basel 2003. Teil 3.1: Staatliche
Schulreform und Schulversuche in SBZ und DDR. Weinheim und Basel 2004. Auf die
in den Quellenbänden veröffentlichten Texte wird im Folgenden jeweils bei der ersten
Nennung mit dem Zusatz Quellentextband 1, Quellentextband 2, Quellentextband 3.1 bzw.
Quellentextband 3.2, auf die zugehörigen Monographiebände mit Monographieband 1,
Monographieband 2, Monographieband 3.1 bzw. Monographieband 3.2 verwiesen.
Vgl. Monographieband 1, S. 253ff. und S. 317ff.
Vorwort
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und das Ende der Weimarer Republik in der nationalsozialistischen Diktatur,4 sondern
auch für die staatlichen Schulreformen und reformpädagogischen Strömungen vom
Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur Vereinigung von DDR und BRD. Nachdem der
Monographieband 3.1 die genannten Zusammenhänge zunächst für die SBZ und die
DDR analysiert hat, deren Ende nicht durch eine loyalitätssichernde sozialistische
Erziehung verhindert werden konnte,5 untersucht der Monographieband 3.2 die
Entwicklung von staatlicher Schulreform, Reformpädagogik und Erziehungswissenschaft
in den westlichen Besatzungszonen und in der BRD. Die Einleitung wiederholt die in
den vorausgegangenen Bänden vorgestellte Unterscheidung dreier pädagogischer
Bewegungen und erinnert an die in diesen diskutierten erziehungs-, bildungs- und
schultheoretischen Abstimmungsprobleme im Verhältnis von staatlicher Schulreform,
reformpädagogischen Initiativen und erziehungswissenschaftlicher Theoriebildung und
Forschung. Sie stellt anschließend einige Problemstellungen vor, durch die sich die
dritte pädagogische Bewegung in Deutschland von den beiden vorausgegangenen
unterscheidet. Sie schließt mit dem bereits im Monographieband 3.1 vorgestellten Schema
für eine parallele Aufarbeitung von Entwicklungen in beiden deutschen Nachkriegsstaaten
und legt dieses für die BRD aus
Im zweiten Kapitel wird die Entwicklung von Reformpädagogik, staatlicher
Schulreform und erziehungswissenschaftlicher Theorieentwicklung und Forschung in
den westlichen Bestatzungszonen und in der BRD untersucht. Die Unterabschnitte folgen
weitgehend den zeitlichen Zäsuren der staatlichen Schulreformen und stellen diese unter
programmtische Überschriften, die jeweils auf Entwicklungsprobleme der Bildungsreform,
des Bildungssystems und der reformpädagogischen Praxis verweisen. Es werden nicht
nur staatliche Initiativen, sondern auch ausgewählte reformpädagogische Konzepte,
Ansätze und Erfahrungen analysiert, die auf staatliche Reformmaßnahmen eingewirkt
haben bzw. einzuwirken versuchten. Dabei wird gezeigt, dass staatliche Bildungspolitik
die Entwicklung des Bildungssystems wesentlich beeinflusste und dass in dieser zugleich
eine Eigenlogik wirksam war, die den staatlichen Einflussnahmen Grenzen setzte.
Vergleichbares gilt auch für die Wirkungen, welche reformpädagogische Initiativen
auf die Entwicklung des Bildungssystems ausübten. Sie ergaben sich nicht allein aus
ihrer Anschlussfähigkeit an staatliche Vorgaben, sondern waren zugleich davon abhängig,
wie sie die Struktur moderner Bildungssysteme interpretierten und die Deutung ihrer
Entwicklungsprobleme veränderten.
Das abschließende dritte Kapitel kehrt zu den Problemstellungen der Einleitung
zurück und nennt einige Dauerprobleme im Verhältnis von Allgemeinbildung und
Schulstruktur, die die Entwicklung von Reformpädagogik und staatlicher Schulreform
in der ersten und zweiten pädagogischen Bewegung, vor allem aber in den Bildungsreformen der beiden deutschen Nachkriegsstaaten bestimmten und die Entwicklung
in der neuen BRD wohl auch künftig bestimmen werden. Zu diesen gehört erstens die
4
5
Vgl. Monographieband 2, S. 315ff.
Vgl. Monographieband 3.1, S. 195ff. und S. 244ff.
Vorwort
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in den drei Entwicklungsphasen der modernen Schule unterschiedlich ausgelegte
institutionelle Differenz von Schule und Leben; sie ist nicht nur konstitutiv für schulisch
organisierte Erziehungs- und Unterrichtsprozesse, sondern bezeichnet zugleich jene
Pole, zwischen denen Schule und Unterricht künstlich vermitteln müssen. An zweiter
Stelle ist das spannungsreiche Verhältnis von Bildung und Wissenschaft zu nennen.
Dieses ist in theoriegeschichtlicher Hinsicht durch einen Widerstreit bestimmt, der
zwischen Ansätzen ausgetragen wird, die Bildung auf moderne Wissenschaft zu
gründen suchen bzw. zwischen bildungstheoretischen und szientifischen Problemstellungen unterscheiden. Zu den Dauerproblemen gehört drittens die Tatsache, dass
zwischen Allgemeiner Menschenbildung und schulischer Allgemeinbildung so
unterschieden werden muss, dass letztere mit ersterer nicht gleichgesetzt, wohl aber
deren Horizont definiert wird. Viertens ist festzuhalten, dass die moderne Schule seit
der Konzeptualisierung der Preußischen Reformen nicht nur mit der Aufgabe betraut
wurde, gesellschaftliche Ungleichheit zu reduzieren, sondern sich stets von neuem als
eine Institution erwies, die – unvermeidbar – neue Ungleichheit produziert. Zu den
genannten Problemen gehört fünftens die Frage, wie die Schule so institutionalisiert
werden kann, dass sie nicht staatspädagogisch funktionalisiert und erziehungsstaatlich
legitimiert wird, sondern als ein öffentliches, unter staatlicher Aufsicht stehendes
Bildungssystem wirksam werden kann.
Am Ende dieses Vorwortes sei nochmals allen gedankt, die das 1989 begonnene
Unternehmen unterstützt haben. Dieser Dank gilt wieder in besonderer Weise der
Deutschen Forschungsgemeinschaft, die das Projekt in ihr Förderprogramm aufgenommen und die Veröffentlichung der Quellen durch die Gewährung von Druckkostenzuschüssen möglich gemacht hat.
Zu danken haben wir auch bei diesem Band Studierenden der Humboldt-Universität zu Berlin und der Universität Erfurt, die in den zurückliegenden Jahren an
Vorlesungen und Seminaren teilgenommen haben, in denen die in diesem Band
behandelte Thematik vorgestellt und diskutiert worden ist. Cosima Fanselow hat das
Namenregister, Susan Derdula und Meral Kurt haben das Sachregister erstellt.
Nachdem die Arbeit an der Theorie und Geschichte der Reformpädagogik abgeschossen ist, danken wir besonders herzlich Rüdiger Herth und Peter Kalb, die die 2
mal 4 Monographie- und Quellentextbände in das Programm des Deutschen Studien
Verlags und des Beltz Verlags aufgenommen haben, für die Unterstützung unserer
Arbeit und das Vertrauen in das Gelingen des gesamten Unternehmens.
Berlin und Leipzig im September 2006
Dietrich Benner Herwart Kemper
Die zweite Auflage präsentiert den gesamten Text in neuer Rechtsschreibung. Die
Hinweise auf den 2008 erschienen Quellentextband 3.2 wurden in den Angaben zu
den Seitenzahlen korrigiert.
Berlin und Leipzig im Oktober 2008
D.B. / H.K.