So kochen wir am Niederrhein

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So kochen wir am Niederrhein
Esskultur
damals am
Niederrhein
So kochen wir am Niederrhein …
Esskultur damals am Niederrhein
Kochen und Würzen am Niederrhein
354
Von der Feuerstelle zur Kochmaschine
366
Essen und Trinken auf der Moerser Burg
372
Die langsame Revolution am Esstisch
382
„Lieber Ofen, ich bete dich an,
nenne meinen zukünftigen Mann!“
384
Weinanbau in Kamp
388
Der Kaffee erobert den Niederrhein
390
Als unser Großvater noch priemte
392
„Eine allerliebste und lehrreiche Beschäftigung
für kleine Mädchen ...“
394
Gebäck und Brauchtum im Jahreskreis
398
Aus dem Kochbuch von Wilhelm Schmitz 1825
402
Rheinbergisch kochen mit Hein Hoppmann
406
Der Lehmpastor von Repelen – Emanuel Felke
412
Niederrheinischer Küchenzettel
417
Ärpele, Krutt on Papp
417
Örschau früjer
418
Aus dem Kräutergarten
420
Bierbrauen am Orsoyerberg
424
Seelennahrung aus der Dong
428
Schloss Bloemersheim
430
Das Christliche Jugenddorf Niederrhein
432
Ein „Schlüsselerlebnis“ der besonderen Art –
die JVA Moers-Kapellen
434
Hanns Dieter Hüsch, Beim Essen
reden wir vom Sterben ...
437
Esskultur
damals am
Niederrhein
Kochen und Würzen am Niederrhein
Vom Lagerfeuer zur Klosterküche
Heike W. Grießer
Ronald Haase
Das Aufspüren vergessener Kochgenüsse in
der eigenen Region ist fast noch spannender
als das Ausprobieren neuer Rezepte aus anderen Kulturen, da man dabei ein wenig der
eigenen Vergangenheit nachspürt. Freilich ist
man dabei immer Kind seiner eigenen Zeit
und Vorstellungen.
Zuerst sollte man sich vor Augen halten,
dass der Mensch schon kochte, also Lebensmittel erhitzte, bevor er Essen „kochen“
konnte. Das Wort „kochen“ ist vom lateinischen coquere (= reifen, sieden, kochen) abgeleitet. Aber seit der Homo erectus vor ca.
600 000 Jahren das Feuer beherrschen lernte,
gehört das Garen von Lebensmitteln zum Alltag des Menschen. Viele Pflanzen sind sogar
erst nach dem Kochen genießbar, wie zum
Beispiel Gräser und Wurzeln. Getreide, das ja
zu den Gräsern gehört, ist bis heute ein
Hauptnahrungsmittel der Menschen. Insgesamt wird also das Angebot an Nahrungsmitteln durch das Kochen größer. Darüber hinaus
hat das Kochen von Speisen eine konservierende und sterilisierende Wirkung.
Was man kochen kann, hängt von vielen
Faktoren ab. Einige davon sind kulturell bedingt. Was wäre zum Beispiel in einer nach
Nationen unterschiedenen Küche als „typisch
deutsch“ zu bezeichnen? Sehr oft wird da die
Kartoffel genannt. Diese wurde in Europa aber
erst nach der Entdeckung von Amerika be-
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So kochen wir am Niederrhein …
kannt und nur unter großen Schwierigkeiten
populär. Ihren Siegeszug begann sie nämlich
als hübsche Zierpflanze in botanischen Gärten. Mittlerweile hat aber vielleicht die „Currywurst“ der Kartoffel als „typisch deutsch“
etwas den Rang abgelaufen. Dies zeigt jedoch
nur, wie rasch sich solche Vorstellungen von
„typisch“ wandeln können. Außerdem sollte
man dabei nicht vergessen, dass „Curry“ im
Deutschen eine bestimmte Gewürzmischung
bezeichnet, deren Herkunft in Indien zu suchen ist. Dort ist „Curry“ aber ein Oberbegriff
für ragoutartige Speisen, die zu Reis gereicht
werden. „Typisch“ indisch eben!
Ähnliche verfälschende Vorstellungen
kann man beim Thema „Reis“ erkennen. Man
verbindet den Reisanbau fast automatisch mit
asiatischen Ländern, wo Bauern mit großen,
spitzen Sonnenhüten den Reis in terrassenartigen, bewässerten Feldern anbauen. Neben
diesen Ländern besitzt aber inzwischen die
USA eines der größten Anbaugebiete und die
Franzosen decken sogar ca. 75 Prozent ihres
Reisverbrauches aus dem Anbaugebiet in
der Camargue. Wer weiß außerdem, dass die
Schweiz das nördlichste Reisanbaugebiet der
Welt ist?
Vorsicht ist auch bei Speisen geboten, die
als „edel“ bezeichnet werden. Neben Kaviar
und Austern gilt der Lachs als „edel“ schlechthin. Dabei vergisst man leicht, dass noch Ende
des 19. Jahrhunderts Bedienstete in Norddeutschland sich das Recht erkämpften, nur
höchstens zweimal in der Woche Lachs essen
zu müssen.
Die Ablehnung eines bestimmten Nahrungsmittels kann auch kulturell bedingt sein.
Am bekanntesten ist das Verbot des Verzehrs
von Schweinefleisch bei Moslems und Juden.
Ebenso geläufig ist, dass Hindus keine Rinder
verzehren dürfen. Bevor der West-Europäer
sich jedoch kulturell erhaben über solche
Tabus dünkt und sich seiner wissenschaftlichen Herangehensweise rühmt, sollte er seine
So kochen wir am Niederrhein …
Esskultur
damals am
Niederrhein
eigenen Reaktionen testen. Wie würde er reagieren, wenn er Hund, Katze, Insekten oder
Maden verzehren sollte? Kulturelle Tabus können tief sitzen, denn auch diese aufgezählten
Lebewesen sind durchaus für den Verzehr
geeignet und sogar, wie etwa Maden, extrem
proteinreich.
In solchen Fällen gilt es auch den geschichtlichen Wandel zu beachten. Im Nahen
Osten ist der Verzehr von Schweinefleisch bis
ins Neolithikum nachweisbar. Das Tabu muss
daher jüngeren Datums sein. Maikäfersuppe
galt in Frankreich und Hessen bis ins 20. Jahrhundert hinein als Delikatesse. Die deutschen
Fleischergesetze führen noch um 1940 das
Hundefleisch auf. Verboten wurden Hundeschlachtungen innerhalb der EU sogar erst
1986.
Vermutlich wurden bestimmte Nahrungsquellen vom menschlichen Speiseplan erst gestrichen, als das Angebot groß genug war, um
sich einen solchen Verzicht leisten zu können.
Neben all diesen Aspekten sollte abschließend auch das Klima nicht vergessen werden.
So sehr ein Deutscher „Eisbein“ schätzt – in
brütender Hitze mittags auf einer Südseeinsel
wird er dieses Gericht vielleicht doch eher aus
emotionalen Gründen verspeisen oder auch
nur, weil es so gut zum Bier passt.
Eine an das Klima unangepasste Ernährung kann aber auch durch eine Eroberung
und Kolonialisierung von Menschen aus klimatisch anders gearteten Gebieten begründet
sein. Auf diesem Weg hielt die römische Küche Einzug in die Gebiete nördlich der Alpen.
Erst nach dem Zusammenbruch des römischen Reiches wandelte sich die Esskultur im
Verlauf des Mittelalters erneut.
bung. Von nun an geben nicht mehr nur archäologische Funde, sondern auch Berichte
antiker Schriftsteller über das alltägliche
Leben am Niederrhein Auskunft. Besonders
letztere ermöglichen uns einen tiefen Einblick
in die römische Ernährungsweise.
Seit den Germanenkriegen des Kaisers
Augustus (27 v. Chr.–14 n. Chr.) sicherten römische Legionen die Rheingrenze mit Militärlagern, die ständig besetzt waren. Die Versorgung der u. a. in Köln und Xanten stationierten Soldaten mit Gütern, z. B. Luxusgeschirr
oder Lebensmitteln in Form von Schlachtvieh,
beherrschte den gesamten niederrheinischen
Handel. Dieser blühte am Ende des 1. Jahrhunderts auf und brachte der einheimischen
Wirtschaft großen Aufschwung.
Wein, Garum und Zwiebeln
Römische Kaiserzeit (27 v. Chr.–450 n. Chr.)
Mit der Eroberung Galliens durch Gaius Julius
Cäsar rückte auch das Niederrheingebiet erstmals in den Blickpunkt der Geschichtsschrei-
Weite Teile der Bevölkerung wurden durch
den weitreichenden Handel sehr wohlhabend
und übernahmen römische Sitten und Gebräuche sowie Ernährungsgewohnheiten. Erst
gegen Ende der römischen Herrschaft am Rhein
Speisereste aus der römischen Siedlung von Asberg
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Esskultur
damals am
Niederrhein
So kochen wir am Niederrhein …
wurde dieser allgemeine Wohlstand durch
die Frankeneinfälle in der zweiten Hälfte des
3. Jahrhunderts beendet.
Tischgeschirr aus dem Gräberfeld der römischen
Siedlung von Asberg. Die Gefäße wurden den Toten
ins Grab gelegt, damit sie nach heidnischer
Vorstellung standesgemäß ihre Gäste auch im
Reich der Toten bewirten können.
Terra-Sigillata-Geschirr und römische Kasserollen
Gespeist wurde auf einer Keramik mit
rotem Glanztonüberzug, die Archäologen als
Terra Sigillata oder auch als „Porzellan der
Römer“ bezeichnen. Ihr roter Überzug besteht
aus einem speziell aufbereiteten Feinton.
Seine hochglänzende Oberfläche, die die Terra
Sigillata-Gefäße des 1. und 2. Jahrhunderts n.
Chr. aus Gallien aufweisen, kann heute nicht
mehr hergestellt werden. Als reines Essgeschirr diente es bei Tisch in Form von Platten,
Näpfen, Schüsseln, Tellern, Bechern und Krügen. Seine extrem hohe Beliebtheit führte zu
einer raschen Verbreitung. Eine andere römische Geschirrneuheit war die Kasserolle aus
Bronze oder Eisen. Sie gehörte ebenfalls zum
Essgeschirr, diente aber vereinzelt auch zum
Kochen.
Daneben gab es auch noch eine einfache
tongrundige Keramik. Sie wurde bei der Zubereitung und Lagerung von Lebensmitteln
benutzt und war das im römischen Reich am
häufigsten verwendete Geschirr.
Für den heutigen Gaumen ist die „Römische Küche“ oft gewöhnungsbedürftig. Sie
darf nicht als frühitalienisch betrachtet wer-
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den, der nur Pizza Margarita und Spaghetti
fehlen. Es ist die Kombination von „Scharf“
und „Sauer“ bzw. „Süß“, die für die heutige
europäische Küche eher untypisch ist. Dem
europäischen Geschmack nach ist sie am ehesten mit der asiatischen Küche verwandt. Hier
wie dort findet sich als wichtiges Würzmittel
eine Soße auf Fischbasis, römisch garum oder
liquamen genannt.
Daneben führten die Römer viele Nahrungsmittel am Niederrhein ein, die später
auch hier angebaut wurden. Beispiele dafür
sind Aprikosen, Kirschen, Pfirsiche, Trauben,
Walnüsse und Zwiebeln. So fanden sich bei
Ausgrabungen im Gebiet von Xanten auffallend viele Kerne von Pflaumen, was auf einen
Anbau im großen Stil hinweist.
Auch viele mediterrane Gewürzkräuter
wurden importiert und später übernommen,
wie beispielsweise Lavendel, Salbei und Thymian (hier besser Majoran). Besonders beliebt waren in der römischen Küche Koriander
und Dill, ebenso Sellerie, Kümmel, Petersilie,
Fenchel und Minze. Ebenfalls als Importe
kamen Austern, Feigen, Datteln und orientalische Gewürze wie Ingwer, Kardamom und besonders Pfeffer zu uns. Trotz der scharf
gewürzten Speisen gebrauchten die römi-
Esskultur
damals am
Niederrhein
So kochen wir am Niederrhein …
schen Köche das uns selbstverständliche
Kochsalz kaum, sondern ersetzten es außer
durch garum durch Essig oder Honig. Da Rübenzucker noch unbekannt und der Rohrzucker aus Arabien nicht im heutigen Ausmaß
nutzbar war, blieb Honig neben eingedicktem
Most (lat. caroenum bzw. defrutum) oder Saft
der einzige Süßstoff. Dies hatte natürlich
Auswirkungen auf die Zubereitungsweise der
Speisen und so finden sich viele Fleischgerichte mit Obstsorten wie Aprikosen kombiniert. Wer ein solches Gericht einmal selbst
ausprobieren möchte, dem seien die beiden
Kochbücher von Marcus Gavius Apicius aus
dem 1. Jahrhundert n. Chr. empfohlen. Hier
eine Kostprobe:
minutal ex praecoquis
oder Schweinefleisch mit Aprikosen
Apicius (4,3,6): Gib in einen Topf Öl, liquamen
und Wein, schneide getrocknete Schalotten
und eine gekochte Schweineschulter in Würfel. Wenn alles gegart ist, verreibe Pfeffer,
Kümmel, getrocknete Minze und Dill, gib
Honig, liquamen, passum, ein wenig Essig
und vom eigenen Saft dazu und schmecke ab.
Füge entsteinte Aprikosen hinzu und lass sie
aufkochen, bis sie durchgekocht sind. Zerbrösele Teig und binde damit, Pfeffer darauf
streuen und servieren.
Zutaten
•
1 kg geschnittenes Schweinefleisch
•
Olivenöl
•
statt „liquamen“ 4 EL Nuoc-Mam oder
Sardellenpaste
•
etwas trockenen Wein
•
5 Schalotten, ersatzweise Zwiebeln
(sie müssen nicht getrocknet sein)
•
Pfeffer, Kümmel, Minze, Dill
•
Honig
•
anstelle von „passum“ Traubenmost oder
Süßwein
•
etwas Essig
•
•
1/2 kg Aprikosen
anstelle von „Teig“ etwas Mehl
Das Fleisch in Olivenöl anbraten, anschließend den Liquamen-Ersatz, trockenen Wein
und die kleingeschnittenen Schalotten
oder Zwiebeln hinzufügen. Während dies
alles kocht, den gemahlenen Pfeffer, Kümmel,
Minze und Dill mischen. Diese Mischung zusammen mit Honig, Süßwein und Essig in
eine Schüssel geben und mit etwas Bratenbrühe vermengen. Anschließend wird die
Gewürzmischung über das angebratene
Fleisch gegossen. Danach werden die Aprikosen hinzugefügt. Die entstehende Soße mit
dem Teigersatz, Mehl, andicken und mit Pfeffer würzen. Dabei sollte man darauf achten,
dass keines der Gewürze im Geschmack hervortritt. Mit Fladenbrot servieren.
Trotz ihres starken Einflusses auf die Esskultur
am Niederrhein verdrängte die römische
Küche weder heimische Gewächse oder Gepflogenheiten noch regional bedingte Vorlieben. So nutzte man neben Haselnüssen noch
Holunder, Wildrosen, Himbeeren und Kratzbeeren, bevor die Walnuss im 4. Jahrhundert
ertragreich am Niederrhein angebaut wurde.
Auch der einheimische Obst- und Gemüseanbau am Niederrhein bewahrte seine Besonderheiten. So konnte der Anbau der schwer
kultivierbaren Runkelrübe nachgewiesen werden, wodurch dieses Gebiet eine Sonderstellung in Mitteleuropa einnimmt. Seither betreibt man am Niederrhein erfolgreich intensive Rübenkultur.
Eine weitere wichtige Zutat in der römischen Küche war das in dieser Region unbekannte Olivenöl. Hierzulande konnten nur Lein,
Flachs, Mohn und Leindotter als Öllieferanten
angebaut werden. Olivenöl und Wein wurden
in großen Amphoren transportiert. Sie waren
etwa 1 m hoch und hatten ein Fassungsvermögen von 60 bis 70 Litern.
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Esskultur
damals am
Niederrhein
Römische Transportamphore
Obwohl in der römischen Küche mit Nahrungsmitteln gekocht wurde, die nicht an
unser Klima angepasst waren, übernahm die
herrschende Klasse der niedergermanischen
Provinz automatisch diese römische Esskultur.
Beim Getreideanbau überwog daher neben
Gerste und Hafer der in der römischen Küche
bevorzugte Weizen, besonders Dinkel. Weniger
beliebt scheinen Roggen, Hirse, Einkorn und
Emmer gewesen zu sein. Sie waren von den
Menschen in dieser Region genutzt worden,
seit die ersten Bauern in Europa auftraten.
So kochen wir am Niederrhein …
ramiker genannt. Sie töpferten neben Trinkund Essgeschirr auch Vorratsgefäße und
Kochtöpfe.
Gekocht wurde dabei im Haus an einer
ebenerdigen Feuerstelle, über offenem Feuer. Getreide schrotete oder mahlte man auf
einer Steinplatte mit einem kleineren Reibstein. Dabei versuchte man Spelzen von
Getreidekörnern und andere Fremdkörper
auszusondern. Dieses grobe Mehl wurde mit
Wasser und Kräutern zu Fladen geformt
und auf einem heißen Stein gebacken. Auch
Schrot wurde mit Wasser gemischt, mit Früchten, Erbsen, Linsen oder Pilzen versetzt und
als Brei gegessen.
Die Umstellung der Lebensweise vom
Jäger zum Bauern – neolithische Revolution
genannt – führte zu einem grundlegenden
Wandel menschlicher Aktivität. Getreidearten
wie Emmer, Einkorn und Gerste, die rund 60
Prozent aller benötigten Kalorien lieferten,
bildeten dabei das Grundnahrungsmittel.
Hülsenfrüchte wie Erbsen und Linsen ergänzten diese Ernährung. Die ersten Haustiere,
Schafe, Ziegen, Rinder und Schweine, kamen
Eintopf, Fladenbrot und Joghurt
Die Jungsteinzeit (5300–2200 v. Chr.)
Jungsteinzeitliche Ziege und Schaf
Bandkeramisches Gefäß
Um 5300 v. Chr. wanderten die ersten Bauern
von Süden kommend ins Niederrheingebiet
ein. Sie werden wegen der bandartigen Ziermuster ihrer Keramikgefäße Linearbandke-
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bereits als Zuchtformen an den Niederrhein.
Anders als die heutigen Tiere sahen sie den
Wildformen noch sehr ähnlich, erreichten jedoch nur noch 80 Prozent der Körpergröße
ihrer wilden Verwandten. Die Jagd auf Wildtiere spielte für die Ernährung keine große
Rolle mehr.
So kochen wir am Niederrhein …
Neben Getreide und dem Fleisch der Haustiere kamen die Milchprodukte als neue Nahrungsquelle hinzu. Im Laufe der Jungsteinzeit
entdeckten die Menschen, wie Milch zu Joghurt oder Käse verarbeitet werden konnte. Obwohl diese Entwicklungen im Verlauf von
Jahrhunderten sicherlich auch kulinarisch für
Veränderungen sorgten, lassen sich Unterschiede nur schwer fassen. Als Würze standen
neben Honig und Früchten Kräuter und Salz
zur Verfügung. Es lassen sich bisher Bärlauch,
Dill, Brunnenkresse und Sauerampfer nachweisen, die auch in der heutigen Küche gut
bekannt sind. Daneben wurden aber noch
viele Kräuter verwendet, die lange Zeit vergessen, und erst mit der sog. „Biowelle“ wiederentdeckt wurden. Dazu zählen neben Brennnesseln auch Gänsefuß, Eisenkraut und Minze.
Gesammeltes wie Nüsse, Hagebutten, Holunder und dergleichen spielte sicher eine größere Rolle als in der heutigen Zeit, in der sich
geschmackliche Variationen durch fertige Gewürzmischungen leicht erreichen lassen.
Mit dem Ackerbau und der Viehzucht war
die Beschaffung der Grundnahrungsmittel berechenbarer geworden und die Bevölkerungszahl wuchs. Allerdings war der Getreideanbau
durch die Pflege der Felder und Versorgung
der Tiere nicht nur sehr arbeitsintensiv sondern auch körperlich sehr anstrengend. So lag
die Lebenserwartung der ersten Bauern mit
durchschnittlich 28 Jahren nicht wesentlich
höher als die der Jäger und Sammler.
Im Laufe der Jungsteinzeit wurden die Anbaumethoden für Feldfrüchte verbessert, so
dass auch der untere Niederrhein mit seinen
weniger ertragreichen Böden von jungsteinzeitlichen Bauern besiedelt wurde.
Bei den letzten Bauernkulturen der Jungsteinzeit (ca. 2800–1800 v. Chr), den Schnurkeramikern und Glockenbecher-Leuten, weisen
ihre namensgebenden Keramikbecher darauf
hin, dass sie offenbar auch einem guten Trunk
nicht abgeneigt waren. Von ihnen wissen wir
Esskultur
damals am
Niederrhein
Schnurkeramischer Becher
auch, dass sie bereits das Pferd als Reittier
nutzten. Dieses war im Laufe der Jungsteinzeit
zuerst als Fleischlieferant gehalten worden.
Hühnchen, Bier und Met
Die Bronze- und Eisenzeit (1800–50 v. Chr.)
Die Ernährungsweise der Menschen änderte
sich während der Bronzezeit (1800–750 v. Chr.)
kaum. Um 1000 v. Chr. begann man Hühner
und Gänse zu halten. Damit hielten auch Eier
als Standardprodukt Einzug in die bronzezeitliche Küche.
Spätbronze- und eisenzeitliches Tongeschirr
aus Gräbern des Duisburger Stadtgebietes im Depot
Vom Ende der Eisenzeit (750–50 v. Chr.)
liegen uns schriftliche Quellen vor, in denen
römische Autoren berichten, dass sich die
Germanen überwiegend von der Viehzucht er-
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Esskultur
damals am
Niederrhein
nährten. Ihre Nahrung bestand laut Caesar
zum großen Teil aus Fleisch, Milch und Käse.
Archäologische Funde belegen zudem den
Anbau verschiedener Feldfrüchte und Getreidearten. Dabei wurde Gerste offenbar bevorzugt, vielleicht weil sie nicht nur zu Brot,
sondern auch zu Bier verarbeitet wurde. Anstelle des Hopfens wurde beim Brauen auch
mit Weidenrinde als Würzzusatz gearbeitet.
Daneben sind Kümmel, Gänsefuß, Wermut
und Schafgarbe als geschmackliche Zutat
möglich. Honig war neben Früchten immer
noch das wichtigste Süßungsmittel, ein Teil
des kostbaren Honigs war aber sicherlich
auch der Zubereitung von Met vorbehalten.
Entsprechend selten werden süße Gerichte
gewesen sein.
Zubereitet wurden die Mahlzeiten im
Wohn- und Wirtschaftsbereich eines WohnStall-Hauses, in dem je eine Familie mit
ihrem Vieh unter einem Dach lebte. Zentrum
des bis zu 20 m langen und 6 m breiten Hauses war die runde Feuerstelle.
Grundriss eines germanischen
Wohn-Stall-Hauses
Wie aber lebten und kochten die Menschen,
bevor sie Ackerbau und Viehzucht betrieben?
Wildbret, Beeren und Vogeleier
Die Altsteinzeit (250 000–8250 v. Chr.)
Die ersten Menschen, die während der Altsteinzeit (Paläolithikum) vor circa 600 000
Jahren an den Niederrhein kamen, gehörten
zur Gruppe des homo erectus, des aufrecht
gehenden Menschen. Diese entwickelten
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So kochen wir am Niederrhein …
Frühmenschen waren Nomaden, die von der
Jagd lebten und ihren Speiseplan mit dem
Sammeln von wild wachsenden Früchten und
Vogeleiern bereicherten. Waren die Ressourcen eines Jagdreviers erschöpft, zog der Homo
erectus auf der Suche nach neuen Nahrungsquellen in kleinen Gruppen durch die niederrheinische Landschaft. Während der verschiedenen Eiszeiten lebte am Niederrhein seit
etwa 300 000 Jahren das bekannteste Jagdtier
der Eiszeit, das Wollhaarmammut.
Mammutherde
Daneben waren Rentier, Moschusochse,
Steinbock und Schneehase Jagdwild. Knochen
all dieser Tiere wurden in niederrheinischen
Kiesgruben gefunden.
Erst als der Mensch das Feuer beherrschen lernte, konnte er seine Nahrung kochen: Die allerersten Menschen – das darf
man nicht vergessen – waren hingegen noch
Aasfresser, die sich zum Würzen und Kochen
kaum Zeit genommen haben können. Auf seinem Weg von Afrika an den Niederrhein hatte
der Homo erectus gelernt, Feuer zu machen
und die Glut zu transportieren. Als Folge dessen wird er mit der Zeit einen Großteil seiner
Nahrung gekocht bzw. erhitzt haben. Mit
der Entwicklung zum selbstständigen Jäger,
die der Homo erectus bereits abgeschlossen
hatte, veränderte sich auch die Zusammensetzung der Nahrungsmittel. Von nun an galt das
Hauptaugenmerk vermutlich dem Fleisch und
So kochen wir am Niederrhein …
Fett der Beutetiere und nicht mehr den
pflanzlichen Nahrungsmitteln. Das „Kochen“
brachte dem Homo erectus zwei Vorteile. Erstens wurde damit das Angebot an Nahrungsmitteln größer, denn viele Pflanzen sind erst
nach dem Kochen genießbar, wie Gräser und
Wurzeln. Zweitens konservierte das Kochen
die Lebensmittel und machte sie so länger
haltbar. Durch die Erfindung des Kochens veränderte sich aber auch im Laufe der Zeit die
Anatomie der späteren Menschenrassen. So
gilt der Neandertaler, der vor etwa 110 000–
35 000 Jahren am Niederrhein lebte, als der
erste Europäer. Er war der erste hellhäutige
Mensch und mit seinem starken Knochenbau
gut an das Klima der letzten großen Eiszeit
angepasst. Seine Anwesenheit am Niederrhein wurde u. a. in Mönchengladbach-Rheindahlen und im Neandertal bei Mettmann
nachgewiesen.
Altsteinzeitliches Keilmesser aus dem Rheinkies
bei Duisburg-Hochemmerich. Das Hornsteingerät
könnte von einem Neandertaler vor mehr
als 30.000 Jahren zum Zerlegen der Jagdbeute
verwendet worden sein
Um 35 000 v. Chr. wurde er allmählich
vom Cro-Magnon-Menschen verdrängt, der
sich kaum noch vom heutigen Menschen, dem
homo sapiens sapiens, unterschied: Ihm fehlten bereits die stark ausgeprägten Wülste
über den Augen, die allen früheren Menschenrassen noch als Gegengewicht zu ihrem star-
Esskultur
damals am
Niederrhein
ken Gebiss dienten. Diese Veränderung bezeugt indirekt die Veränderung der Ernährungsweise. Mit seinen neuen Jagdwaffen,
Pfeil und Bogen, Speerschleudern und Harpunen, machte der Cro-Magnon-Mensch Jagd
auf schnelle Wildpferde und Rentiere. Als
Jagdgehilfen zähmte er vor etwa 15 000 Jahren Jungwölfe. Die von ihnen abstammenden
Hunde begleiteten die Jäger und übernahmen
nachts Schutzfunktionen. Sie hatten ungefähr
die Größe eines kleinen Schäferhundes.
Zum Zubereiten ihrer Nahrung dienten
den Cro-Magnon-Menschen Werkzeuge aus
Stein, besonders Feuerstein. Bei seiner Be-
Altsteinzeitliche Klingenherstellung
aus Feuerstein
arbeitung entwickelten die Jäger und Sammler immer bessere Techniken, z. B. die Herstellung von Feuersteinklingen für Messer und
andere Schneidewerkzeuge.
Die Schärfe dieser Feuersteinklingen kann
es ohne weiteres mit unseren Messern aufnehmen, ja diese manchmal sogar übertreffen.
361
Esskultur
damals am
Niederrhein
Forellen, Haselnüsse und Pilze
Die Mittelsteinzeit (8250–5300 v. Chr.)
Zu Beginn der Nacheiszeit, dem Holozän, ca.
8250 Jahre v. Chr. erfolgte eine weitgehende
Bewaldung des niederrheinischen Gebietes
durch einen Klimawandel. In den Laubmischwäldern lebten heute noch existierende Tiere
wie Hirsch, Bär, Wildschwein und Reh. Das
Vorhandensein von Netzen, Reusen und Angelhaken lässt darauf schließen, dass der
Fischfang an Bedeutung gewann. Außerdem
zeigten Schnittspuren an Hundeknochen, dass
die Jäger auch ihre Jagdbegleiter verzehrten.
Pflanzliche Nahrung spielte nun eine zunehmend wichtigere Rolle. Obwohl wenig über
die mittelsteinzeitlichen Kochgewohnheiten
bekannt ist, lassen sich neben Steinsalz,
Honig, Pilzen und Eiern von Gans oder Ente,
auch Früchte wie Himbeeren und Brombeeren, und sogar Eicheln und Holzäpfel als
Würzmittel nachweisen. Eicheln enthalten jedoch Bitterstoffe, die vor dem Verzehr entzogen werden müssen. Dies geschah durch
tagelanges Einweichen in ständig zu wechselndem Wasser und durch Rösten, was darauf hinweist, dass die Jäger und Sammler
länger an einem Ort verweilten, als dies ihre
Vorgänger in der Altsteinzeit getan hatten.
Ihre Lager bestanden aus Zelten oder leichten
Hütten.
Während Fleisch und andere Nahrungsmittel am offenen Feuer gegrillt wurden, unterschied sich das Erwärmen von flüssiger
Nahrung deutlich von unseren heutigen Methoden, denn ein Kochgeschirr in Form von
Töpfen und Ähnlichem fehlte.
So wenig Genaues also über die Kochgewohnheiten der frühen Menschen bekannt ist,
so viel mehr an Umstellung bedarf es aber
beim Nachkochen: Viele der Gerichte lassen
sich nur nachempfinden, wenn die damaligen
Techniken angewendet werden. Dazu benötigt
man Kochsteine (keine Kalksteine), Kochgruben, heiße Steinplatten und Spaß am Experi-
362
So kochen wir am Niederrhein …
mentieren. Als Würze dienen neben Steinsalz
und Honig Pilze und Eier von Gans oder Ente,
Früchte wie Himbeeren und Brombeeren,
aber auch Eicheln und Holzäpfel.
Solche Gerichte nachzuahmen, erfordert
also etwas Zeit und Geduld. In der Küche am
Herd nachgekocht, wird es eher wenig befriedigende Ergebnisse erzielen, denn auch wenn
man die gleichen Lebensmittel verwendet,
wird der geschmackliche Effekt nicht derselbe
sein können. Ein Vergleich lässt sich hier nur
anstellen, wenn man an das heutige Grillen
denkt. Überrascht fände man den Koch am
Elektroherd in der Küche vor. Wird der
Genuss eines in der Pfanne gebratenen Rippchens derselbe sein wie der eines über Holzkohle gegrillten? Überwiegend wird eine
solche Frage wohl verneint, aber in beiden
Fällen handelt es sich um gebratenes Fleisch!
Zudem sollte auch das Ambiente nicht vergessen werden, welches, wie das Beispiel mit
dem Grillen zeigt, wesentlich zum Erleben
einer Mahlzeit beitragen kann.
Leichter ist es, Gerichte aus dem Mittelalter nachzukochen, als es Kochbedingungen
und Kochgewohnheiten gab, die den unseren
weit ähnlicher sind.
Fleisch, Fisch und Brei
Mittelalter (600–1500 n. Chr.)
Unsere Vorstellungen von mittelalterlichen
Speisen sind stark durch die zur Zeit populären Mittelaltermärkte und die dabei veranstalteten Turniere geprägt. Im Mittelalter erstreckte sich ein Turnier oft über mehrere
Tage, an denen nicht nur gekämpft, sondern
auch ausgiebig gefeiert und bei Festgelagen
geschlemmt wurde. Viele mittelalterliche
Buchmalereien und heutige Spielfilme zeigen
uns die speisenden Ritter mit ihren Edeldamen an langen Tischen sitzend. Dort wurden
sie von Pagen bedient, die permanent neue
Speisen wie Pfauenbraten, gefüllten Schwan,
Lerchenzungen und Neunaugen servierten.
So kochen wir am Niederrhein …
Doch dieses Bild zeigt, wenn überhaupt, dann
nur das Spätmittelalter (1250–1500). Damals
bedeutete die Redewendung „Die Tafel aufheben“ nicht nur, ein Festmahl zu beenden, sondern die Tischplatten und -böcke einschließlich
der Sitzbänke zur Seite zu räumen, um Platz
zum Tanz zu haben.
Die mittelalterlichen Bankette bestanden
aus mehreren Vorspeisen, einem Hauptgang
und verschiedenen Desserts. Dabei wurde im
Hochmittelalter (900–1300) weniger auf die
Raffinesse der Zubereitung als auf die Menge
der Speisen geachtet. Eindruck machte die
Qualität der Zutaten – heute würde man von
„Frischer Küche“ sprechen – und die Anzahl
der Gerichte, die bei jedem Gang aufgetragen
wurden. Aus diesem Grund waren Zwischengerichte, die aus Teig kunstvoll modelliert und
in Form einer Parade aufgetragen wurden,
eine beliebte Attraktion. Die „Gänge“ eines
Bankettes bezogen sich daher auf die Anzahl
der Gänge des Personals, das die Gerichte
servierte. Dabei wurden immer mehrere Gerichte gleichzeitig aufgetragen.
Bei diesen Festmählern aßen auch die
Vornehmsten mit den Fingern. Gabeln kannte
man noch nicht und ein Messer brachten die
Gäste oft selber mit. Zur Not gab es einen
Holzlöffel, den man sich ebenso wie den
Trinkbecher mit dem Tischnachbarn teilte.
Kostbares Tafelgeschirr besaßen nur Könige
und Fürsten, alle anderen mussten sich mit
Vorlegeschalen oder -platten, Tellern, Trinkbechern und -krügen aus Keramik begnügen.
Die Küchen lagen auf Burgen und in großen
Klöstern oft weit vom Speisesaal entfernt. So
waren die Speisen, wenn sie die große Tafel
erreichten, in der Regel nur noch lauwarm.
Große mittelalterliche Küchen verfügten über
zwei Kamine, einen zum Braten und einen
zum Kochen, manche besaßen auch einen
Kochherd. Ein solch würfelförmiger Block war
aus Ziegelsteinen errichtet, in seiner Deckplatte waren Löcher eingelassen, auf denen
Esskultur
damals am
Niederrhein
Schmortöpfe und Pfannen standen. Er wurde
wie der Backofen von „Hänsel und Gretel“ von
unten befeuert.
Geschirr des 12. und 13. Jahrhunderts
Die Unterschiede zwischen der Ernährung
des Adels und der einfachen Bevölkerung waren so gravierend, dass man bereits im 13. Jahrhundert zwischen Herren- und Bauernspeisen
unterschied. Die mittelalterlichen Festmenüs
suggerierten mit Gerichten wie Weißbrot, Reis
mit Mandelmilch und Zimt, Eiersuppe mit
Safran, Pfefferkörnern und Honig, Taubenpastete, gesottenem Aal mit Pfeffer, Stockfisch mit
Öl und Rosinen, gefülltem Kapaun, gebratenem Huhn mit Zwetschgen, Schweinskeule
mit Gurken großen Überfluss. Tatsächlich kam
er nur hochgestellten Persönlichkeiten, wie
Königen, Fürsten, geistlichen Würdenträgern,
Rittern und einer kleinen städtischen Oberschicht bei festlichen Anlässen zugute. Die
einfache Bevölkerung, wie Bauern und Hand-
363
Esskultur
damals am
Niederrhein
So kochen wir am Niederrhein …
Koch am Herd bei der Zubereitung von
suppen- oder breiförmigen Speisen,
Darstellung der Mendelschen Zwölfbrüderstiftung
in Nürnberg aus dem 15. Jahrhundert
werker, ernährte sich vornehmlich von Brot
und Breien aus geschrotetem Mehl sowie
selbst angebautem Gemüse und Käse. Fleisch
oder Fisch kamen nur selten auf den Tisch.
Eine Erinnerung an diese Zeit ist in dem Volksmärchen „Der süße Brei“ erhalten geblieben.
364
Dort bekommt ein armes, hungriges Mädchen
einen Topf geschenkt, der für sie und ihre
Mutter „guten süßen Hirsebrei“ kocht. Dass
dieser Brei zudem noch süß ist, macht ihn besonders wertvoll. Wer Lust hat, kann diesen
Brei in modernisierter Form nachkochen:
So kochen wir am Niederrhein …
Hirsebrei
•
1 l Milch
•
1 EL Butter
•
3 EL Honig
•
1 TL Salz
•
Zitronenschale (fehlte im Mittelalter)
•
200 g Hirse (aus dem Reformhaus)
•
50 g Zucker
•
1 TL Zimt
Die Milch mit der Butter, dem Honig, dem Salz
und der gewaschenen, abgeriebenen Zitronenschale aufkochen, dann die gewaschene
Hirse zugeben und bei schwacher Hitze quellen
lassen, bis ein sämiger Brei entstanden ist
(20–30 Minuten). Den Brei in eine Schüssel
füllen und mit Zimtzucker bestreuen. Wer mag,
kann auch noch 50 g gewaschene Sultaninen
oder Rosinen mitkochen.
Gesüßt wurde bis ins Spätmittelalter fast
ausschließlich mit Honig. Die Kenntnis der
Rohrzuckergewinnung verbreitete sich erst
nach den Kreuzzügen in Europa. Als Importund Luxusgut hatten 12 Pfund Zucker im
Spätmittelalter ungefähr den Wert eines Pferdes. Ebenso kostbar war Salz, das manchmal
angekettet auf dem Tisch des Hausherrn
stand. Eine Platzierung nahe dem Salzfässchen galt damit als Ehre und Auszeichnung.
Doch nicht nur die gesellschaftlichen Normen
bestimmten, was im Mittelalter gegessen und
getrunken wurde. Auch die Kirche mit ihren
Fastengeboten beeinflusste die Essgewohnheiten aller Gesellschaftsschichten. Zu den
Fastenzeiten gehörten die sechs Wochen vor
Ostern, die drei Bittage vor Christi Himmelfahrt, die Vorabende der wichtigsten Heiligenfeste (z. B. St. Nikolaus und St. Martin) sowie
jeder Freitag und Samstag. Insgesamt gab es
im Jahr nur etwa 230 Tage, an denen ein gesunder Erwachsener Fleisch essen durfte. An
den Fastentagen waren nur Brot, Obst, Gemüse und Fisch erlaubt.
Esskultur
damals am
Niederrhein
Durch das Einfrieren von Lebensmitteln
und den Import von Obst und Gemüse aus
aller Welt verschwimmen für uns heute die
Grenzen zwischen den Jahreszeiten. Die mittelalterliche Küche war dagegen stark vom
Angebot der Saison abhängig. Als Konservierungsmethoden kannte man das Trocknen
für mageres Fleisch, Fisch und Hülsenfrüchte,
das Räuchern für fettes Fleisch und fette Fische sowie das Einsalzen oder Pökeln von
Fisch und Fleisch. Daneben wurden Fleisch,
Bohnen, Erbsen und Kohl auch sauer eingelegt. Frisches Fleisch gab es nur nach einer
Jagd oder in der Schlachtzeit. Die Jagd auf
Großwild, zu dem Hirsche, Rehe und Wildschweine zählten, war ein Vorrecht des Adels.
Niederwild wie Hasen, Kaninchen, Füchse
und Marder durfte auch von Nicht-Adeligen
erlegt werden, wenn die Tiere die Ernte oder
die zahmen Hühner und Gänse bedrohten.
Die Schlachtzeit für das Hausvieh war im Oktober und November, denn dann brauchte man
die Tiere nicht durch den Winter zu füttern.
Zudem konnten Bauern die fälligen Naturalabgaben zu Martini (11. November) zum Teil
in Gestalt von Schlachtfleisch und Geflügel an
den Grundherrn zahlen. So geht der Brauch
der Martinsgans auf den Beginn des mittelalterlichen Wirtschaftsjahres zurück.
Schluss
Heutzutage ist es durch die Auswertung von
Schriftquellen und archäologischen Funden
immer genauer möglich zu rekonstruieren,
was in früheren Zeiten gekocht und genossen
wurde. Diese Rezepte wiederzuentdecken ist
ein großer Reiz. Man erkennt dabei, wie sehr
man Kind seiner eigenen Zeit ist, aber auch,
wie sehr es lohnt, so ein vergessenes Gericht
wieder neu zu kochen und zu servieren.
365
Esskultur
damals am
Niederrhein
So kochen wir am Niederrhein …
Von der Feuerstelle zur
Kochmaschine
Küche und Esskultur in Neukirchen-Vluyn
Jutta Lubkowski
Leiterin des Museums Neukirchen-Vluyn
Grape
Rund ums Feuer
Im niederdeutschen Hallenhaus, das Mensch
und Tier unter seinem Dach beherbergte,
war die Deel mit der offenen Feuerstelle das
Zentrum des Hauses. Hier trafen sich Jung
und Alt, denn die Wärme des Feuers sorgte
für Behaglichkeit. Wohnen und Arbeiten,
Essen und Schlafen spielten sich im unmittelbaren Umfeld ab. Doch nicht nur für Wärme
und Licht, sondern auch für die Zubereitung
der Mahlzeiten war die Kochstelle mit Rauchfang, im Grafschafter Platt „Bussem“ genannt,
unerlässlich.
Auf das Feuer in der Feuerstelle gaben
alle Hausbewohner sorgsam Acht, damit es
nicht erlosch. In der Nacht deckte man die
Glut mit einer eisernen Feuerstülpe ab. So
konnte man verhindern, dass sich die Katzen,
die einen warmen Schlafplatz bevorzugten,
das Fell ansengten und die Glut im Haus verbreiteten. Am Morgen zählte es dann zu den
ersten Aufgaben der Hausfrau, das Feuer mit
Hilfe des Püsterohrs wieder zu entfachen. Andernfalls schickte sie die Kinder mit einem
Klompen zum Nachbarhof, um darin neue
Glut zu erbitten. – Die allgemeine Verbreitung
des Zündholzes erfolgte erst in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Kochtöpfe, Kessel oder Pfannen für den
Gebrauch am offenen Feuer wurden meist aus
Gusseisen, Messing oder Kupfer hergestellt.
366
Das notwendige Küchengerät war in der Nähe
der Kochstelle an eisernen Haken untergebracht. Gebräuchlichstes Kochutensil war die
Grape, ein dreibeiniger Eisentopf, der auf
dem unebenen Lehm- oder Kieselboden nicht
wackelte. Als Brennmaterial diente überwiegend Holz, aber auch getrockneter Torf, den
man im sumpfigen Gebiet der Rheinarme und
Wasserläufe abstach.
Zum Beheizen der Stövchen, Bettpfannen
oder Fußwärmer benutzte man neben Torf,
Schaf- oder Kuhdung eine Art Koks, die sogenannte Löschkohle, die man mit Hilfe eines
Kohlendämpfers, des „Doovpotts“, selbst erzeugte. Das Holz ließ man so lange brennen,
bis es nicht mehr qualmte, dann erstickte
man das Feuer mit dem Deckel des Topfes.
Übrig blieb die leicht wieder entflammbare
Löschkohle.
Größere Wasserkessel oder Töpfe hingen
an einem Hahleisen über dem Feuer. Etwa
seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ließ sich
die Höhe der Gefäße durch Haken mit einem
Sägeblatt, die in das Hahleisen eingehängt
wurden, verstellen. So konnte die Hausfrau
„einen Zahn zulegen“, wenn es mit der
Fertigstellung der Speise eilig wurde. Da
damals noch keine Topflappen in Gebrauch
waren, bediente man sich beim Entfernen
des heißen Topfes eines speziell dafür konstruierten Eisenhakens, der Kalten Hand.
Esskultur
damals am
Niederrhein
So kochen wir am Niederrhein …
Welche Gerichte kamen damals auf den
Tisch? Die Esskultur war einfach: Morgens und
abends wurden vorzugsweise brei- und suppenartige Speisen aus Getreide und Milch zubereitet, mittags ein kräftiges Ein-Topf-Gericht.
Gewürze wurden sehr sparsam verwendet,
da sie sehr teuer waren. Das Salz lagerte in
einem hölzernen Kasten in der Nähe der Kochstelle, so war es schnell greifbar und die Wärme verhinderte das Verkleben der Kristalle.
Auch heute noch sind Eintöpfe in der niederrheinischen Küche beliebt, die schon unsere Vorfahren unter anderem Namen kannten: „Stühle und Bänke“ – ein deftiger Möhren-Kartoffel-Eintopf, oder „Schlaat dorein“ –
eine Mischung aus Kopfsalat und Kartoffelbrei
mit Specksoße. Auch „Himmel und Erde“ –
Kartoffelbrei mit gekochten Äpfeln – war begehrt, insbesondere wenn dazu „Panhas“ gereicht wurde, eine niederrheinische
Wasserkessel und Doovpott
Spezialität, die nach dem Schlachten aus
Wurstbrühe und Buchweizenmehl mit Speckwürfeln hergestellt und in Scheiben geschnitten gebraten wurde.
Brot gehörte nicht wie heute selbstverständlich zum täglichen Bestandteil der Nahrung, dafür waren Pfannkuchen, Milchbrei
oder gebratene Kartoffeln zu allen Tageszeiten
beliebt, auch zum Frühstück. Wer nicht selber
schlachten konnte, musste Fleisch oder
Wurst teuer beim Metzger erwerben, so blieb
es bei vielen Familien beim Sonntagsbraten.
Auch süße Speisen waren beliebt – das
Museum besitzt eine gusseiserne „Bollebäuschen“-Form, in der krapfenartiges Schmalzgebäck ausgebacken wurde, sicherlich nicht
nur zur Jahreswende. Auch frischer Waffelteig
wurde in einem langstieligen Eisen solange
über dem Feuer gewendet, bis er knusprig
war.
Offene Feuerstelle mit Sägeblatt, Hahleisen, Feuerstülpe u. a.
367
Esskultur
damals am
Niederrhein
So kochen wir am Niederrhein …
Bollebäuschenpfanne
Schon seit dem Mittelalter hatte auch das
Bier einen festen Platz auf dem Speiseplan.
Es galt als nahrhaft und wurde als stärkende
Biersuppe auch Kindern gereicht. Allerdings
muss man hinzufügen, dass das Bier vergangener Zeiten nur einen sehr geringen Alkoholanteil hatte.
Das Vluyner Bier wussten schon die Franzosen zu schätzen, als sie 1794 den linken Niederrhein besetzten und bei den örtlichen Bauern Bierlieferungen für die Armee einforderten. Das Bier durfte nur mit Sommer- oder
Wintergerste sowie Buchweizen gebraut sein.
Es handelte sich um Einfachbier, dessen Geschmack wegen des fehlenden Hopfens wenig
ausgeprägt war. So setzten die Hausbrauer
Kochbuch von
Henriette Davidis
368
Rezept
dem Bier Salbei, Fenchel, Honig oder Eichenrinde zu.
Die Rezepte wurden über Generationen
mündlich überliefert, da der Schulbesuch im
Rheinland erst 1825 zur Pflicht wurde und die
einfache Bevölkerung größtenteils des Lesens
und Schreibens unkundig war. 1845 veröffentlichte Henriette Davidis das Praktische Kochbuch mit „zuverlässigen und selbstgeprüften
Recepten der gewöhnlichen und feineren Küche mit besonderer Berücksichtigung der Anfängerinnen und angehenden Hausfrauen“,
das vor dem Hintergrund der örtlich aufstrebenden Textilindustrie rasch zu einem beliebten Hochzeitsgeschenk in dem sich entwickelnden Kreis des Bildungsbürgertums wurde. Ein
im Museumsarchiv vorhandenes Originalexemplar weist auch ein Rezept für „Biersuppe
mit Milch“ auf.
Selbstverständlich orientierte sich der
Speisezettel der Menschen am Ertrag von Feld
und Garten in den unterschiedlichen Jahreszeiten, doch für die kargen Wintermonate war
man auf Vorratshaltung angewiesen. Das
Räuchern von Wurst und Schinken im Kamin
über der Feuerstelle, das Trocknen von Obst
auf langen Dörrbrettern sowie das Einsalzen
von niederrheinischem Kappes und Bohnen in
Esskultur
damals am
Niederrhein
So kochen wir am Niederrhein …
hohen Steinguttöpfen blieben zum Teil bis ins
20. Jahrhundert hinein unveränderte Konservierungsmethoden und garantierten auch im
Winter die notwendige Vitaminzufuhr.
bestimmen, indem nach Ablegen seines Löffels niemand mehr weiteressen durfte. Nach
persönlicher Reinigung – ob durch Ablecken
oder Spülen ist nicht überliefert – fand der
Holz- oder Zinnlöffel seinen Platz im großen
Löffelbrett an der Wand.
Schränke waren bis ins 18. Jahrhundert
hinein vor allem als Vorratsschränke für Milch
und Brot in Gebrauch, um die Lebensmittel
vor hungrigen Katzen und Fliegen zu schützen. Im Museum befindet sich ein mit niederrheinischen Motiven wie Rosette und Schuppenmuster besonders reich verzierter Vorratsschrank aus dem Jahr 1753.
Essteller
Löffelbrett
Zierteller
Vorratsschrank aus dem Jahr 1753
Schüsseln und Teller für den täglichen Bedarf kamen aus dem regionalen Töpferhandwerk. Von den Pottbäckern besonders dekorativ gestaltete Schmuckteller wurden in wohlhabenden Haushalten auf einem Holzbord am
Kamin stolz präsentiert. Die überdurchschnittliche Größe der irdenen Teller lässt darauf
schließen, dass nicht nur in einem Topf gekocht,
sondern auch gemeinsam aus einer Schüssel
gegessen wurde, die mitten auf dem Tisch
stand. Dabei fiel dem Familienoberhaupt das
Privileg zu, Anfang und Ende der Mahlzeit zu
369
Esskultur
damals am
Niederrhein
So kochen wir am Niederrhein …
Küche in der Zechenkolonie
Die Kochmaschine
Nach der ersten Kohleförderung der Niederrheinischen Bergwerks AG im Jahr 1917 wurden zahlreiche Männer aus dem Osten des
Landes angeworben, um sie als Bergleute auf
der Zeche in Neukirchen-Vluyn einzustellen.
Der Zuzug ihrer Familien machte den Bau
neuer Wohnhäuser erforderlich und so entstanden in den Jahren 1917 bis 1930 die
Kolonien der seit 1928 zusammengelegten
Gemeinde Neukirchen-Vluyn.
Die Wohnungen für die Bergleute und ihre
Familien waren platzsparend und zweckmä-
370
ßig gebaut. Je nach Personenzahl standen
neben einer Wohnküche mit Spülbecken, das
gleichzeitig als Waschgelegenheit diente, ein
oder zwei Schlafzimmer zur Verfügung. Die
Toi-lette befand sich auf der halben Treppe. In
der großen Wohnküche stand ein mächtiger
Kohlenherd.
Bereits seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte sich die Kochmaschine als geschlossener Küchenherd durchgesetzt. Nicht
zuletzt war es der hohe Holzverbrauch, der
zur Entwicklung eiserner Herde führte, die mit
Kohle geheizt werden konnten. Er hatte über
Esskultur
damals am
Niederrhein
So kochen wir am Niederrhein …
dem Feuerschacht eine Herdplatte mit herausnehmbaren Ringen für Töpfe und Pfannen
und in der Frontseite befand sich ein Backofen. Diese Kochmaschinen waren innen mit
Schamottsteinen ausgekleidet und außen mit
leichterem Eisenblech versehen, das mit weißer oder dekorativ gestalteter Emaille überzogen war. Sowohl der Heber für die Herdringe als auch der Fürhaken zum Stochern in der
Glut hingen an der umlaufenden Chromstange des Herdes.
Nach dem Essen wurde der „Stolz der
Hausfrau“ geschmirgelt und mit Herdputz gereinigt. Wiener Kalk, ein trockenes Pulver,
wurde aufgetragen und dann mit einem abgenutzten Wäschestück so lange gewienert,
bis man sich in der Herdplatte spiegeln
konnte.
An das prasselnde Herdfeuer in der Küche
meiner Großmutter kann ich mich noch gut
erinnern. Es strahlte eine behagliche Wärme
aus, die den ganzen Raum erfüllte. Dazu
gesellte sich ein unbeschreiblicher Duft, wenn
sich frisches Backwerk in der Röhre befand,
das aber leider aufgrund der ungleichmäßigen Hitze nicht immer zur Zufriedenheit der
Hausfrau gelang. So weiß ich noch, dass es
zu besonderen Anlässen einen niederrheini-
schen „Krintenweck“ gab – ein sehr reichhaltig bestücktes Hefeweißbrot (siehe das Rezept
Seite 309) – und der fertiggestellte Brotteig
zum gleichmäßigen Abbacken zum Dorfbäcker
gebracht wurde.
„Das häusliche Glück“
Ende des 19. Jahrhunderts etablierten sich
sogenannte „Haushaltungsschulen“, die auf
Kreisebene eingerichtet wurden und die Dörfer mit Kochlehrgängen versorgten. Auch in
Neukirchen-Vluyn waren solche Lehrgänge
bekannt und wurden unter anderem bis in die
dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts auch in
der Haarbeckschule abgehalten.
Historische Fotos zeigen junge Mädchen
und Frauen mit weißen Schürzen und weißen
Häubchen. Sauberkeit und Hygiene waren
zum Gradmesser des Idealbildes der fleißigen
und ordentlichen Hausfrau geworden. Eine
Flut von Haushaltungs- und Kochbüchern für
angehende Ehefrauen und Mütter kam auf
den Markt und spiegelte eindrucksvoll ein
Frauenbild, das noch weit bis ins 20. Jahrhundert fortwirkte.
1881 erschien in Mönchengladbach erstmalig ein Buch speziell für Arbeiterfrauen
„Das häusliche Glück. Vollständiger Haushaltungsunterricht nebst Anleitung zum Kochen“,
im Mahnwort eines Seelsorgers werden die
jungen Frauen nachdrücklich auf ihre dienende Rolle für Familie und Ehemann eingeschworen. Der Rezeptteil ist gegliedert von
„Mahlzeiten für Erwachsene in sehr dürftigen
Verhältnissen“, wo Kartoffeln in Wurstbrühe
für 19 Pfennige empfohlen werden, bis zu den
„Besseren Mahlzeiten“, die Hammelfleisch
mit weißen Rüben und Kartoffeln zum Preis
von 1,31 Mark vorschlagen.
Kochmaschine
371
Esskultur
damals am
Niederrhein
So kochen wir am Niederrhein …
Essen und Trinken
auf der Moerser Burg
Eine kulinarische Spurensuche
Diana Finkele
Leiterin des Grafschafter Museums
im Moerser Schloss
Butterfass und andere Küchengerätschaften
153 zinnerne Schüsseln, darunter Schinken-,
Fleisch- und Gemüseplatten, zahlreiche große
und kleine Töpfe, Kessel und Bratpfannen,
Bratspeere, lange und kurze Kesselhaken, ein
Mörser, ein Fischbeil, Schürhaken, Schürgabeln und andere Gerätschaften weist ein Inventar des Moerser Schlosses aus den Jahren
1470/71 auf.
Die Moerser Burg verfügte über ein Backund ein Brauhaus. Im Keller lagerten Wein
und Bier, Salz und Fleischvorräte. Die Schlossbewohner müssen gesellig gewesen sein: Ihr
Schloss war gut gerüstet, um eine größere
Anzahl Menschen zu verköstigen.
Wollen wir etwas über die Ess- und Trinkgewohnheiten in der Vergangenheit auf der
Moerser Burg erfahren, geben uns Quellen
und archäologische Ausgrabungsfunde ein
wenig Auskunft. Aus manchen Zeiten sind es
nur Knöchelchen und Scherben, die uns etwas
über den Speisezettel der früheren Schlossbewohner verraten. Tieferen Einblick in Vorratsräume und auf ihren Esstisch dagegen gewährt uns die letzte Moerser Gräfin Walburgis
von Neuenahr-Moers (gestorben 1600).
Irgendwann brennt jede Küche ab
Diese Erkenntnis scheinen die Herren von
Moers bei dem Bau ihrer Moerser Burg be-
372
dacht zu haben: Gut 12 Meter von ihrer ursprünglichen Turmburg entfernt installierten
die Herren von Moers einen Lehmkuppelofen
– einen hochmittelalterlichen Backofen. Im 12.
Jahrhundert waren die Herren von Moers aus
dem Dunkel der Geschichte aufgetaucht und
hatten eine Wohnturmburg mit dicken Mauern und wahrscheinlich zwei Geschossen im
heutigen Schlosshof gebaut.1
Die Konstruktion eines Lehmkuppelofens
ist simpel: Über einem Fundament wird ein
kuppelförmiges Weidengerüst errichtet. Dieses wird mit Lehm (meist vermischt mit Stroh
und Mist) bedeckt und ausgebrannt, entstehende Risse werden mit Lehm geschlossen.
Schon seit der Jungsteinzeit sind diese Öfen
bekannt. Fladenbrote dufteten beispielsweise
aus Lehmkuppelöfen. Aber auch zur Keramikherstellung wurden solche Öfen verwendet.
Doch der Lehmkuppelofen auf dem Moerser
Schlosshof dürfte als Backofen gedient haben.
Die nur geringe Anzahl der am Ofengrund
und im Umfeld des Ofens gefundenen Scherben deutet darauf hin. Was ließen die Herren
von Moers wohl in diesem Backofen schmoren? Vielleicht einen Braten im Brotmantelteig
– wahrscheinlich einen Schweinebraten.2
Zwar kennen wir die Rezepte nicht, nach
denen die Herren von Moers kochen ließen,
Esskultur
damals am
Niederrhein
So kochen wir am Niederrhein …
Knochenreste
Muschelschalen
aber dank archäologischer Ausgrabungen
kennen wir einige ihrer beliebtesten Zutaten:
Neben Schweinefleisch verzehrten die Schlossbewohner gerne Rind- und Wildfleisch, auch
Geflügel und Hasen verschmähten sie offensichtlich nicht: Knochen dieser Tiere lassen
sich unter den Ausgrabungsfunden identifizieren.
Sicherlich gab es auch reichlich Fisch,
doch nur wenige Gräten haben die Jahrhunderte überdauert – nur ein Fischwirbelknochen wurde unter den Ausgrabungsfunden
entdeckt. Dafür zeugen aber zahlreiche gefundene Muschelschalen davon, dass die Ernährung auf der Burg durchaus abwechslungsreich gewesen sein muss.
Der Lehmkuppelofen der Herren von
Moers war lange verborgen. Ende 2005 kam
er bei archäologischen Grabungen unterhalb
der hochmittelalterlichen Ringmauer zum
Vorschein. Wie konnte der Ofen unter eine
Mauer geraten?
Im 13. Jahrhundert genügte den sich nunmehr Grafen nennenden Herren von Moers 3
ihre Wohnturmburg nicht mehr. Sie wollten es
komfortabler haben – und sicherer. Deshalb
bauten sie ihre Burg zur Ringmauerburg aus:
Sie motteten ihre Turmburg ein, umgaben sie
also mit einem künstlichen Hügel. Dabei ge-
riet der Ofen unter die Erde. Dann umgaben
die Moerser Grafen um 1300 ihr Burggelände
mit mehreren Türmen und einer mächtigen
Ringmauer. Darunter für über 700 Jahre verborgen: der Lehmkuppelofen.
Der Ausbau der Moerser Burg steht in Zusammenhang mit dem Aufstieg der Herren
von Moers: Als Gefolgsleute der Erzbischöfe
von Köln und ab 1287 der Grafen von Kleve
hatten sie im 13. Jahrhundert dank ihrer geschickten Heirats- und Bündnispolitik an Einfluss und Reichtum gewonnen. Im Jahr 1300
erhob König Albrecht I. Moers zur Stadt – damit hatten die Grafen von Moers eine „Residenzstadt“. Wehren können wollten sich die
Herren von Moers auch im 15. und 16. Jahrhundert. In dieser Zeit ließen sie ihre Ringmauerburg mit einer weiteren Schutzmauer
umgeben – mit einer Zwingermauer. Den
wehrhaften Charakter dieser Anlage verdeutlichen die eingebauten Schießscharten. Zu
Beginn des 15. Jahrhunderts war eine wehrhafte Burg für die Grafen von Moers wichtig.
In den vergangenen Jahrzehnten hatten sie
weiter an Macht und Einfluss gewonnen und
eine führende Stellung im Herzogtum Geldern
errungen. Immer noch schwelte der Streit
mit den benachbarten Grafen von Kleve: Die
Grafen von Moers sahen sich nicht mehr als
373
Esskultur
damals am
Niederrhein
deren Gefolgsleute, sie anerkannten die Lehenshoheit der Klever nicht mehr. Auf dem
Höhepunkt ihrer Macht befanden sich die
Herren von Moers Mitte des 15. Jahrhunderts:
Friedrich III. (1418–1448) hatte das Erbe seines
Vaters Friedrich II. (1365–1418) als Graf von
Moers angetreten. Seine Brüder bekleideten
wichtige geistliche Ämter: Heinrich von Moers
war Bischof von Münster und Verweser des
Bistums Osnabrück, Walram wurde Elekt von
Utrecht und Dietrich wurde 1414 Erzbischof
von Köln. Damit geboten die Brüder in einem
Raum, der von der Nordsee bis an die Lippe
und von Yssel bis an die hessische Grenze
reichte. Dazu kam das Erzstift Köln, das sich
von Xanten bis an die Mosel erstreckte. 4
Ihrer gestiegenen gesellschaftlichen Stellung hatten die Grafen von Moers auch ihre
Burg angepasst und den bis zu 7 m breiten
Zwinger im Westen mit
einem Gebäude überbauen lassen – dem Palasgebäude, das noch
heute als Hauptgebäude
des Moerser Schlosses erhalten ist.
Zwar besaßen die
Herren von Moers schon
seit dem 14. Jahrhundert
ein Stadthaus in Köln,
auf ihrer Moerser Burg
fanden aber wichtige Treffen statt. So fand wahrscheinlich hier der Streit
zwischen Kurköln und
Kleve um Linn ebenso ein
Ende wie die Soester
Fehde. 1437 bestimmte
Grabfigur
Philipp von Burgund
Graf Friedrich III.
Moers zum Ort für einen
Fürstentag. Die Hochzeit des Junggrafen Vinzenz mit Anna, einer Tochter des Pfalzgrafen
Stephan von Bayern, feierte man 1433 auf der
Burg. 5
374
So kochen wir am Niederrhein …
Womit wurde wohl auf die Hochzeit von
Junggraf Vinzenz auf der Moerser Burg angestoßen? „Schaumwein“ jedenfalls gab es
noch nicht. Er kam erst im 18. Jahrhundert an
den großen europäischen Höfen in Mode.
Grutbier und Gewürzwein
Bierkrüge
Das beliebteste Getränk auf der Moerser Burg
scheint das Bier gewesen zu sein. Bei archäologischen Ausgrabungen auf dem Schlosshof
kamen zahllose Bierkrüge aus verschiedenen
Fundschichten zu Tage – was auch nicht verwunderlich ist, denn aus überlieferten schriftlichen Quellen wissen wir, dass es in der
Moerser Burg ein Brauhaus gab.
Dabei unterschied sich das mittelalterliche Bier von den heutigen Bieren deutlich:
Bier wurde im Mittelalter zunächst meist als
Grutbier gebraut. Hierzu verwendete man
eine Würzmischung, die neben den Hauptbestandteilen Malz und Blättern des Gagelstrauches Harz, Kümmel, Wacholder und andere
Zutaten enthielt. Das Produkt des Brauprozesses war ein leicht vergorenes, trübes und süßliches Getränk mit wenig Kohlensäure. Erst
die Hopfenbiere, die seit dem Spätmittelalter
verbreitet waren, kamen den heutigen Bieren
geschmacklich näher. 6
Auch Wein wurde im Mittelalter und der
frühen Neuzeit oft mit Gewürzen versetzt. Ein
Rezept für „Hippokras“ lässt den Geschmack
erahnen:
So kochen wir am Niederrhein …
Esskultur
damals am
Niederrhein
Graf Adolf von
Neuenahr Alpen
Nehmt eine Unze Cinamon, langer Pfeifenzimt genannt, eine Glocke Ingwer und ebensoviel Galgant und zerstampft sie gut miteinander, nehmt auch ein Pfund guten Zucker.
Zerstampft dies gut miteinander und löst es
mit einem guten Lot des besten Weins auf, den
Ihr Euch verschaffen könnt. Laßt dies eine oder
zwei Stunden ziehen. Dann treibt es mehrere
Male durch ein Seihtuch, bis es recht klar ist. 7
Gereicht wurde der Wein auf der Moerser
Burg vermutlich überwiegend in Steinzeugkrügen. Gläser und Glasscherben wurden bei
den Ausgrabungen auffallend wenige gefunden. Sicherlich waren Gläser auch auf der
Moerser Burg in Gebrauch. Allerdings war
Glas relativ teuer und deshalb vermutlich nur
in geringer Stückzahl vorhanden. Die wenigen
Funde zeigen aber, dass man auch hier mit
der Mode ging: Reste verzierter RenaissanceGläser fanden sich.
In der Zeit der Renaissance lösten die
Herren von Neuenahr die Herren von Moers
ab: Graf Vinzenz von Moers war ein glückloser
Streiter. Hoffnungslos verschuldet trat er 1493
aus „Altersgründen“ die Grafschaft Moers an
den Mann seiner Enkelin, Wilhelm von Wied,
ab. Ihm folgte 1519 sein Schwiegersohn Wilhelm von Neuenahr. Nach dem Tod von Heinrich von Neuenahr-Moers gingen die Grafschaft und das Schloss an Adolf von Neuenahr-Alpen, den zweiten Mann von Hermanns
Schwester Walburgis.
375
Esskultur
damals am
Niederrhein
376
So kochen wir am Niederrhein …
Esskultur
damals am
Niederrhein
So kochen wir am Niederrhein …
< Mercator-Karte von 1591
Heißgetränke aus der neuen Welt
Nachdem Adolf von Neuenahr-Alpen die
Grafschaft Moers in den Kurkölnischen Krieg –
einer Mischung aus Glaubens- und Erbfolgekrieg – verwickelt hatte, besetzten 1586 spanische Truppen die Grafschaft und das Moerser
Schloss. Brachten sie die heiße Schokolade
nach Moers? Schokolade galt als „spanisches
Getränk“, da die Spanier die Handelsware
Kakao in der westlichen Welt verbreitet hatten. Bei den Ausgrabungen im Schlosshof gefundene Porzellantassen aus China und aus
Meißen zeugen zwar vom Einzug der modernen Heißgetränke in das Moerser Schloss.
Aber auch die handelseifrigen Oranier, die
unter Führung von Moritz von Oranien 1597
die Spanier wieder aus dem Moerser Schloss
vertrieben, könnten die neuen Heißgetränke
im Schloss populär gemacht haben.
Puttelier und Kammerling sorgen für
das leibliche Wohl der Gräfin
Moritz von Oranien
Gräfin Walburgis
Dank Moritz von Oranien konnte die letzte
Moerser Gräfin Walburgis von Neuenahr-Moers
aus ihrem Exil in Arnheim nach Moers zurückkehren. 1599 erließ sie eine Hofordnung, die
auch ihr leibliches Wohl regelte. Dieser Hofordnung verdanken wir einen tieferen Einblick
in die Ess- und Trinkgewohnheiten auf der
Moerser Burg. 8
Das erste Amt, das in der Hofordnung aufgeführt ist, ist das des Küchenschreibers. Er
war für die Vorratshaltung und die Ordnung
und Sitzverteilung bei Tisch zuständig. Täglich
waren zahlreiche Gäste an der gräflichen Tafel zu versorgen. Streng sollte er aber darauf
achten, dass in den Kammern und Stuben
keine besonderen „Mahlzeiten, Bankette oder
Saufereien hergerichtet werden“, sondern
sich jeder „zu bestimmter Stunde an seinen
verordneten Tisch begebe“.
Dabei musste der Küchenschreiber täglich
eine Rechnung über den Verbrauch an Fleisch,
Vieh, Hühnern, Butter, Käse, Eiern, Früchten,
377
Esskultur
damals am
Niederrhein
So kochen wir am Niederrhein …
Gemüse, Öl und Wildbret aufstellen. Ebenso
hatte er für den ständigen Nachschub von
Ferkeln, Kapaunen, Öl, Hühnern, Fischen und
Eiern zu sorgen. Auch auf die Zucht von Kühen, Schweinen und Schafen hatte er zu achten, ebenso auf die Fischerei, „sowohl auf
dem Rhein als in den Meeren“.
Auch der Koch durfte in der Küche „keine
Zecherei oder Saufen gestatten“, er sollte „vielmehr alles in guter Ordnung halten, dergestalt daß die Speise zur rechten Zeit fertig ist“.
Küchengeschirr
Neben dem Koch mit seinen Knechten
und Küchenjungen sorgte sich auch der Puttelier um das leibliche Wohlergehen der Schlossbewohner. Er war für alles zuständig, was
kühl im Keller eingelagert werden musste: Fässer mit Wein und Bier, Brot, Butter, Käse. Aber
auch Tischgerät, Teller und Trinkgeschirr, silberner Zierrat und Servietten verwahrte er,
um damit „den Tisch der Gräfin zu decken und
mit dem nötigen Zubehör zu versorgen“. Besonders sorgfältig hatte er auf die Hühnereier
Acht zu geben und sie nur auf Anforderung
an die Küchenbediensteten auszugeben. Auch
die Schlüssel für das Brauhaus verwahrte der
Puttelier.
Ging es an das Eindecken der fürstlichen
Tafel, kam der Kammerling ins Spiel. Zu seinen Aufgaben gehörte es unter anderem, alles,
was zum Tischdecken notwendig war, beim
Puttelier abzuholen. Eine besondere Aufgabe
des Kammerlings war es, der Gräfin ihren
Schlaftrunk zu servieren. Leider verrät die Hofordnung nicht, woraus dieser gräfliche Schlaftrunk bestand.
Prunkschüssel 17. Jh.
378
Esskultur
damals am
Niederrhein
So kochen wir am Niederrhein …
Kastell und Stadt um 1640
Der Burggraf – hier ist ebenfalls ein Bediensteter gemeint, kein Adliger – hatte unter
anderem darauf zu achten, dass „sobald die
Mahlzeit vorüber ist, welche nicht über eine
kleine Stunde dauern soll, und alle gesättigt
sind, dann soll er nach altem Brauch mit den
Schlüsseln auf die Anrichte oder in der Stube
auf den Tisch klopfen und alsbald wieder aufschließen, jeden an seine Arbeit weisen und
keinen langen Nachtrunk halten“. Unter der
calvinistischen Gräfin waren kulinarische Ausschweifungen offensichtlich nicht erwünscht.
Aus den Aufgaben des Mudder erfahren
wir, dass auf dem Schloss auch Kuchen gebacken wurde. Er sollte unter anderem „Hühner,
Fisch, Oel und was zum Kuchenbacken nötig
ist“, zur rechten Zeit anfordern und eintreiben.
Bäcker und Brauer sollten jederzeit einen
guten Vorrat an Mehl und Malz sowie an Bier,
Brot und Hopfen vorhalten. Kleie, Redt, Nüsse
oder Draf und andere Abfälle durften nicht
entsorgt oder fortgeschafft werden. Aus der
Kleie sollte Brot für die Hunde gebacken werden, die Nüsse waren für „Kirbuest“ und Wecken zu verwenden – auch über die Verwertung von Abfällen und Speiseresten wurde auf
der Moerser Burg genau gewacht.
Wildschütz, Schäfer, Fischer und Gärtner
versorgten das Schloss mit Wild, Schafen,
Fischen, Gemüse und Früchten. Sogar der
Turmwächter hatte im Zusammenhang mit dem
Essen auf der Burg eine Aufgabe: Er sollte
„rechzeitig zum Essen blasen“.
So ausführlich wie aus der Zeit der Gräfin
Walburgis erfahren wir nie wieder von den
Ess- und Trinkgewohnheiten auf dem Moerser
Schloss. Mit dem Tod der letzten Moerser Gräfin endete das Hofleben in Moers. Die Oranier,
die zu Beginn des 17. Jahrhunderts ihr Erbe
antraten, residierten nicht mehr im Moerser
Schloss.
Mineralwasser – nüchterner Luxus
im 18. Jahrhundert
Mineralwasserflasche 18. Jh.
379
Esskultur
damals am
Niederrhein
Bartmannskrug
380
So kochen wir am Niederrhein …
So kochen wir am Niederrhein …
Archäologische Funde geben uns noch einen
kleinen Hinweis auf Trinkgewohnheiten des
18. Jahrhunderts. Natürlich gab es auf der
Moerser Burg sicherlich zu allen Zeiten Wasser zu trinken, serviert beispielsweise in
Bartmannskrügen. Doch Brunnenwasser war
nicht immer bekömmlich. Im 18. Jahrhundert
bevorzugte man auf dem Moerser Schloss
statt des Brunnenwassers offenbar Mineralwasser, zumindest deuten einige gefundene
Mineralwasserflaschen darauf hin.
Die frühen Mineralwasserflaschen waren
dickbauchig und dünnwandig 9 und gingen
beim Transport leicht zu Bruch. Mineralwasser
war zu dieser Zeit noch ein Luxus, denn das in
den empfindlichen Steingutflaschen angelieferte Wasser war teuer. Wer leistete sich diesen nüchternen Luxus im Moerser Schloss?
Wahrscheinlich preußische Amtmänner, denn
seit Beginn des 18. Jahrhunderts war Moers
preußisch und das Moerser Schloss diente als
königlich preußisches Amtshaus.
Esskultur
damals am
Niederrhein
Anmerkungen
1 Elgerus und Theodericus de Murse unterschrieben 1186 als Zeugen eine Urkunde des
Kölner Erzbischofs Philipp von Heinsberg. Vgl.
Wensky, Margret: Moers im Mittelalter (900–
1500). In: Dies. (Hrsg.): Moers. Die Geschichte
der Stadt von der Frühzeit bis zur Gegenwart.
Bd. 1: Von der Frühzeit bis zum Ende der oranischen Zeit (bis 1702). Köln 2000, S. 69–157.
2 Einige Beispiele spätmittelalterlicher Kochrezepte: Ehlert, Trude in Verbindung mit Patrick
Benz, Rick Chamberlin, Diana Finkele, Barbara Gölz, Erwin Heidt, Wolfgang Höhne, Ruth
Karasek, Heike Kränkel, Birgit Mayer, Eberhard
Müller, Annette Roser und Nicole Wolff: Das
Reichenauer Kochbuch aus der Badischen
Landesbibliothek. Edition und Kommentar.
In: Mediaevistik 9 (1996), S. 135–188.
3 Dietrich II. unterzeichnete erstmals 1226 eine
Urkunde als Graf. Zur Regel wurde die Führung des Grafentitels aber erst ab Ende des
13. Jahrhunderts.
4 Wensky (2000), S. 85.
5 Ebd. S. 87.
6 Vgl. Hirschfelder, Gunther: Europäische Esskultur. Eine Geschichte der Ernährung von der
Steinzeit bis heute. Frankfurt/New York 2005,
S. 135 f.
7 Zitiert nach: Redon, Odile; Sabban, Françoise
und Serventi, Silvano: Die Kochkunst des Mittelalters. Ihre Geschichte und 150 Rezepte des
14. und 15. Jahrhunderts, wieder entdeckt
für Genießer von heute. Mit einem Vorwort
von Georges Duby. Aus dem Französischen
von Hans Thill. Frankfurt/Main 1993, S. 347 f.
8 Die Hofordnung wird im Folgenden zitiert
aus: Ottsen, Otto: Die Geschichte der Stadt
Moers. Bd. 1: Die Vorpreußische Zeit mit 27 Abbildungen, Plänen usw. Unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1950. Moers 1977,
S. 97–108.
9 Brinkmann, Bernd: Zur Datierung von Mineralwasserflaschen aus Steinzeug. In: Keramos
98 (1982), S. 7–36.
381
Esskultur
damals am
Niederrhein
So kochen wir am Niederrhein …
Die langsame Revolution
am Esstisch: die Durchsetzung
des Essbestecks
Diana Finkele
Eine kleine „Revolution“ war die Durchsetzung der Essgabel. Jahrhunderte hindurch hat
man mit den Fingern gegessen, allenfalls ein
Messer und einen Löffel benutzt. In bäuerlichen Haushalten waren Zinnlöffel mit kreisrunder Laffe und geradem Stiel verbreitet.
Diese so genannten Breilöffel waren oft auf
Löffelbrettern an der Wand aufgehängt und so
immer griffbereit. Heute ist diese Löffelform
noch als „Schnapslöffel“ bekannt – sicherlich
dienten diese Löffel aber auch in der Vergangenheit nicht immer nur zum Essen von Brei
und Suppe.
Silberne Patenlöffel waren ein kostbares
Geschenk in wohlhabenden Familien. Als individueller Besitz wurden sie wie Messer zu
Festlichkeiten mitgebracht oder bei besonderen familiären Anlässen benutzt.
Die Gabel hatte Katharina Di Medici von
Italien nach Frankreich exportiert – bis sie
sich auch an kleineren Höfen durchsetzte, verging noch viel Zeit. In Moers „gabelte“ man
erst im 18. Jahrhundert.
Noch Anfang des 19. Jahrhunderts waren
Bestecke in bäuerlichen Haushalten eine Kostbarkeit – oft wurden sie deshalb mit Namen
und Ort des Besitzers versehen, so konnte dieser sie beruhigt zum Nachbarsfest mitnehmen.
Löffelbrett >
382
So kochen wir am Niederrhein …
Esskultur
damals am
Niederrhein
Silberner Patenlöffel, 17. Jh.
Essbestecke mit Besitzernamen
383
Esskultur
damals am
Niederrhein
„Lieber Ofen, ich bete dich an,
nenne meinen zukünftigen Mann!“
Die Entwicklung der Kochstelle
Diana Finkele
Kam eine neue Frau ins Haus, nahm sie oft
symbolisch den Kesselhaken oder den Herd in
Besitz. „Ofengebete“ 1 sollten jungen Mädchen
ihren zukünftigen Ehemann verraten, während „Herdmännchen“ – eine Art Poltergeist,
die an der Herdstelle wohnten2 – im Volksglauben ihr Unwesen trieben: Kochstellen und
Herde waren immer Mittelpunkt des häuslichen Lebens.
Die ursprünglichste Kochstelle ist die Feuerstelle am Boden: Seit dem Ende der letzten
So kochen wir am Niederrhein …
Eiszeit vor etwa 10 000 bis 12 000 Jahren
dienten den Menschen aus Feldsteinen hergerichtete Feuerstellen und Feuergruben zur
Nahrungszubereitung.
Als die Menschen mit der Neolithischen
Revolution sesshaft wurden und Hütten bauten, nahmen sie das Lagerfeuer mit in ihre
einfachen Behausungen. Der Rauch zog einfach über ein Loch in der Dachbedeckung ab.
Selbst als die Behausungen komfortabler
wurden, änderte sich an diesem System lange
kaum etwas. Vor allem in bäuerlichen Häusern kam man bis fast zum Beginn der Neuzeit ohne Kaminanschluss aus. In diesen
„Rauchhäusern“ und „Rauchküchen“ war die
Feuerstelle gleichzeitig Koch- und Versammlungsplatz. Während sich die Bewohner im
Inszenierte Grafschafter Küche mit Kochstelle im Grafschafter Museum um 1908
384
So kochen wir am Niederrhein …
Winter an diesem einzigen warmen Platz im
Haus wärmten, konservierte der aufsteigende
Rauch gleichzeitig das Hausgebälk, vertrieb
das Ungeziefer und räucherte Fleisch und
Würste.3
Mit der Entwicklung der Mehrgeschossigkeit der Häuser funktionierte der freie Rauchabzug über das Dach nicht mehr. Zwischen
dem 10. und 12. Jahrhundert setzten sich deshalb in städtischen Häusern und in Burgen die
Koch-Kamine durch. An den Wänden wurde
der Rauch durch Schächte ins Freie geleitet,
die Feuerstelle wanderte von der Raummitte
damit an die Wand. Doch das Kochen am Kochkamin war beschwerlich: hier konnte man nur
gebückt oder kniend arbeiten.
Wesentlich bequemer war das Kochen am
gemauerten Herdblock. Er stand in der Mitte
eines Raumes, eine Überdachung, der Kaminhut, leitete den Rauch über den Kamin ab.
Der Herdblock dominierte den Raum, der sich
erst jetzt allmählich als eigenständiger Funktionsbereich im nichtadeligen Haus entwickelte:
die Küche.
Über Jahrhunderte schmorte an einem
Haken hängend ein Kessel mit dicker Suppe
oder Brei den ganzen Tag über dem KochKamin oder über dem Herdblock. Der Kessel-
Esskultur
damals am
Niederrhein
haken oder Sägehal war die einzige Möglichkeit, die Wärmezufuhr über dem offenen Feuer zu regulieren.
Spätestens im 18. Jahrhundert war der
Koch-Kamin auch in die bäuerlichen Behausungen eingezogen. Gusseiserne, verzierte
Herdplatten schützten die Wand vor dem
Feuer und strahlten die Hitze in den Raum
zurück. Da das Entfachen des Feuers lange
Zeit aufwändig war – Streichhölzer gibt
es erst seit 1833 –, wurde die Glut über Nacht
nicht gelöscht. Das barg jedoch eine besondere Gefahr: Katzen oder andere Haustiere
konnten unfreiwillig zu Brandstiftern werden,
kamen sie der offenen Glut zu nahe. Hier half
die Feuerstülpe: Nachts wurde sie über die
Restglut gestülpt.
„Pottofen“ zum Kochen und Wärmen
aus der Zeit um 1800
Geräte für die offene Herdstelle
wie z. B. Kesselhaken, Kaminplatte, Feuerstülpe
385
Esskultur
damals am
Niederrhein
So kochen wir am Niederrhein …
Seltener Ofen mit Einrichtung zum Kaffeerösten, um 1860
Doch trotz aller Sicherheitsmaßnahmen
blieb das offene Feuer im Haus immer eine
Brandgefahr. Im 18. Jahrhundert entwickelten
zwar Herdpioniere die ersten Kochherde mit
„verstecktem Feuer“, durchgesetzt haben
sich „Kochmaschinen“ in Deutschland aber
erst Mitte des 19. Jahrhundert. Im Inneren des
eisernen Herdgehäuses brannte das Feuer
nun sicher auf Rosten. Die Aschereste des
Holzes oder der Steinkohle konnten bequem
im Aschenkasten entsorgt werden.
Mit der Durchsetzung der „Kochmaschinen“ änderten sich auch Essgewohnheiten
der Menschen: Der Verzehr von Eintopfgerichten, Suppen und Breis ging zurück, denn über
dem neuen Herd fand kein großer Suppenoder Breikessel mehr Platz. Dafür waren aber
auch für die bürgerliche Küche die Weichen
386
für das mehrgängige Menü gestellt: Auf den
verschiedenen Herdlöchern konnten nun
problemlos in kleineren Töpfen verschiedene
Gerichte köcheln.
Seine Farbe wechselte der Kochherd mit
der Wiederentdeckung der Emailliertechnik
gegen Ende des 19. Jahrhunderts: Gusseiserne
schwarze Herde konkurrierten nun mit weißen Emailleherden.
Zeitgleich mit den gusseisernen Kochherden entwickelten sich auch die Gasherde,
sie konnten sich jedoch erst nach 1900 langsam mit dem Ausbau städtischer Gasnetze
verbreiten.
Jahrtausende lang bereiteten Menschen
ihre Nahrung über mehr oder weniger offenem Feuer zu. 1893 präsentierte die Weltausstellung in Chicago eine revolutionäre Neu-
Esskultur
damals am
Niederrhein
So kochen wir am Niederrhein …
Herd aus einer Moerser Bergarbeiterküche von 1933 mit Kochkiste
für den Transport warmer Speisen. Grafschafter Museum im Moerser Schloss
heit: den Elektroherd. In Deutschland begann
er seinen Siegeszug durch die Küchen endgültig nach dem Zweiten Weltkrieg.
Ende der 1980er Jahre bekam der Elektroherd Konkurrenz: Die Mikrowelle läutete
einen neuen Wandel in der Koch- und Esskultur ein. Zwar steht die Mikrowelle in den
meisten Haushalten heute noch als zusätzliches Kochgerät neben dem Gas- oder Elektroherd, doch der Anteil der verwendeten Mikrowellen-Fertigprodukte steigt kontinuierlich
an. Ob sie je den Kochherd in seiner zentralen
Stellung im häuslichen Leben ablösen wird?
Ein „Mikrowellengebet“ könnte dann vielleicht
so lauten: „Liebe Mikrowelle, ich bete dich
an, dass ich das, was ich jetzt koche, auch wirklich essen kann.“
Anmerkungen
1 Ofengebet, zitiert nach: Seyer, Dieter: Feuer –
Herd – Ofen. Eine museumsdidaktische Unterrichtseinheit zur Geschichte der Feuernutzung
zum Wärmen und zur Nahrungszubereitung
(= Unterricht in westfälischen Museen. Heft 17).
Münster 1985. Zitat S. 34.
2 So zum Beispiel Welfonders Düvelsche, ein
Quälgeist aus Neukirchen.
3 Vgl. Tränkle, Margret: Zur Geschichte des
Herdes. Vom offenen Feuer zur Mikrowelle.
In: Oikos. Von der Feuerstelle zur Mikrowelle.
Haushalt und Wohnen im Wandel. Hrsg. von
Michael Andritzky. Gießen 1992. S. 37–53.
387
Esskultur
damals am
Niederrhein
So kochen wir am Niederrhein …
Weinanbau in Kamp
Pater Georg
Kloster Kamp besaß im Mittelalter nicht nur
mehrere Weinberge an der Mosel, sondern
baute auch am Südhang des Kamper Berges
und in dem davor gelegenen Garten Wein
an und hatte dort auch ein Kelterhaus. Die
Kamper Mönche waren übrigens nicht die
einzigen, die am Niederrhein Wein anbauten.
Schon im Jahre 1003 wurde in Rheinberg
Wein angebaut. 1230 bepflanzte das Stift in
Xanten einen Weinberg neu und 1245 gab es
auch auf der Hügelkette zwischen Rheurdt
und Sevelen Weinberge. Der Weinbau in
Kamp wurde bis zur Zerstörung der Abtei im
Jahre 1580 betrieben. Nach der Wiederbelebung der Abtei im Jahre 1640 wurde dort kein
Wein mehr angebaut.
Die Kamper Chronik berichtet u. a.: „1464
war ein fruchtbares Jahr und der Herr segnete
die Weingüter von Kamp mit einem guten
Wachstum. Aber am Fest des hl. Matthäus [21.
September] zerbrach ein heftiger Sturmwind
viele Weinstöcke … Nichtsdestoweniger konnten von der Weinlese dieses Jahrs etwa 36 Fuder eingekeltert und in Fässern gelagert werden und [der Wein] wurde ziemlich gut.“ –
„1471 gab es einen warmen und wohl temperierten Frühling und die Weinstöcke begannen Mitte Mai zu blühen. In diesem Jahr wurde am Fest des hl. Sixtus [6. August] die
Messe in der Kamper Kirche mit neuem Wein
gefeiert. Entsprechend wurde dem Konvent
am Fest des hl. Bernhard [20. August] und danach von dem guten neuen Wein kredenzt …
388
1473 begannen Mitte März die Kirschund Pflaumenbäume zu blühen. Anfang April
blühten die Apfel- und Birnbäume. Unmittelbar folgend blühte etwa Mitte Mai der Weinstock. Am Fest des hl. Sixtus wurden die
Messen mit neuem Wein gefeiert. Und es ist
seit vielen Jahren kein so vortrefflicher und
starker Wein gewachsen und zwar 20 Fuder.“
(Kloster Kamp, seine Äbte und Filiationen.
Die Kamper Chronik – deutsch, S. 65 und 67)
Die Qualität des Kamper Weines dürfte
allerdings nicht allzu berauschend gewesen
sein, wie das geflügelte Wort „Vinum Campense non facit gaudia mense – Kamper Wein
macht bei Tisch nur Pein“ vermuten lässt.
Die deutsche Übersetzung ist allerdings ungenau! Wörtlich steht da: „Der Kamper Wein
bereitet keine Tafelfreuden.“
„Die Gräfin Aleydis von Kleve [schenkte]
dem Kamper Kloster … bestimmte jährliche
Einkünfte, damit der Konvent davon an bestimmten Tagen Festmähler haben möge mit
Weizenbrot, Wein und Fischen, und zwar am
Gründonnerstag, am Karsamstag, am Ostertag
selbst und an den folgenden zwei Tagen. So
ähnlich war es auch am Tag der Geburt Christi
und an den folgenden zwei Tagen.“ (Kloster
Kamp …, S. 26)
„1228 befreite Graf Gerhard von Geldern …
das Kamper Kloster vom Rheinzoll bei Lobith.
Bis zu 105 Fass Wein, 2 Last* Leder, 100 ½
Pfund Salz, 2 Last Heringe und 10 Ohm**
Butter können auf den Schiffen des Klosters
Esskultur
damals am
Niederrhein
So kochen wir am Niederrhein …
oder auf fremden Schiffen ungehindert den
Zoll passieren, unter der Bedingung, dass der
Abt dem Konvent für vier Pfingstfesttage
Rheinwein, frische Fische und Brot aufwartet.“ (Kloster Kamp …, S. 31)
* Last = Schiffsfrachtmassemaß, zwischen
1000 und 4250 kg schwankend
** Ohm – eigentlich ein Flüssigkeitsmaß
Der Weinberg wurde im Jubiläumsjahr 1998
(875 Jahre Kloster Kamp) im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme (ABM) neu angelegt, um ein Stück alte Geschichte aufleben
zu lassen. Leider hatte man damals kein richtiges Nutzungskonzept für die Zeit danach. So
schlief der kleine Weinberg zunächst seinen
Dornröschenschlaf, bis ein „Prinz“ – ein Arzt
aus Moldau – sich seiner erbarmte und ihn
wieder zum Leben erweckte. Nach anfänglichen Überlegungen, aus den Trauben tatsächlich Wein zu machen – „Kamper Segenströpfchen“ sollte der Name sein –, entschloss man
sich schließlich für eine leichtere Variante und
macht nun Gelee aus den Trauben.
Kamper Chronik
Der neue Weinberg
389
Esskultur
damals am
Niederrhein
Der Kaffee erobert den Niederrhein
Jutta Lubkowski
Leiterin des Museums Neukirchen-Vluyn
Abessinischen Hirten wird zugesprochen, die
Kunst des Kaffeekochens entdeckt zu haben.
Ihnen fiel auf, dass ihre Ziegen besonders
munter herumsprangen, wenn sie die Früchte
eines bestimmten Strauches genossen hatten.
Um ihre Glückseligkeit zu teilen, kosteten sie
selbst die Früchte und milderten den bitteren
Geschmack schließlich, indem sie die Kaffeebohnen mit heißem Wasser überbrühten. Die
Angewohnheit des Kaffeetrinkens breitete
sich schnell über Ostafrika und die arabischen
Länder aus. In die ländlichen Gebiete des
Niederrheins gelangte der Bohnenkaffee jedoch erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts
und gehörte als Kolonialware eher zu den Luxusartikeln. Eine alte Kachel aus Vluyn ziert
der Spruch: „Der Kaffee ist gut, das muss man
ihm lassen, 15 Bohnen auf 16 Tassen.“
Größter Beliebtheit dagegen erfreute
sich der Muckefuck, den schon die Franzosen
während der Annektierung des Rheinlandes
unter Napoleon schätzten und ihm daher
seinen Namen verliehen, abgeleitet aus dem
französischen Mocca
faux, was übersetzt falscher Mokka bedeutet.
Der aus Gerste und
Roggen hergestellte Ersatzkaffee erhielt den
typischen Kaffeegeschmack durch die Beigabe
der gerösteten rübenförmigen Wurzel einer
390
So kochen wir am Niederrhein …
Zichorie, auch Wegwarte genannt. Der Zichorienkaffee führte auch den Namen Preußischer Kaffee, weil sich gerade der preußische
Staat gegen den Genuss von Bohnenkaffee
im gemeinen Volk ausgesprochen hatte. Wegen der Kostbarkeit des Bohnenkaffees experimentierte man unter anderem auch damit,
dem Kaffee gebrannte Wacholderbeeren, verschiedene Hülsenfrüchte, Spargelsamen oder
Schwarzwurzeln beizumischen.
Kolonialwarenladen
Die Kolonialwarenläden des Ortes verkauften neben Tee, Kakao, Zucker und Gewürzen auch Rohkaffee, den die Hausfrauen
deutlich preiswerter erstehen konnten, um
ihn dann selbst in der Bratpfanne unter ständigem Rühren zu rösten. Bei diesem Verfahren war das Risiko allerdings groß, dass die
Bohnen dabei verbrannten oder nicht gleichmäßig geröstet wurden, was den Geschmack
des Kaffees beeinträchtigte. Alte Röster hatten
daher meist eine Trommel, in der der Rohkaffee durch Drehen bewegt wurde. Besonders
voluminöse Röster wurden auch für die Zichorienwurzel verwandt, die getrocknet in den
Handel kam oder im eigenen Gemüsegarten
angebaut wurde.
Der traditionelle Röster dagegen wurde
in die Patte des Kohlenherdes eingesetzt.
Er bestand aus einem Eisentopf, bei dem durch
Esskultur
damals am
Niederrhein
So kochen wir am Niederrhein …
In der Frühzeit des Kaffeetrinkens war es
üblich, die im Mörser kleingestoßenen Bohnen zu überbrühen oder sie mit kaltem Wasser aufzukochen. In der Folgezeit gab es
Kaffeemühlen in verschiedenen Ausführungen,
wobei die Holzkastenmühlen die gebräuchlichsten waren.
Kaffeeröster
eine Kurbel im Deckel ein Mitnehmer im Inneren für die Bewegung des Röstgutes sorgte.
Eine homogene Bräunung für optimalen Kaffeegenuss war auch hierbei nicht garantiert.
Abhilfe für die Neukirchen-Vluyner Hausfrauen schuf die Gründung der Niederrheinischen Dampfkaffeerösterei von Heinrich Jans,
in dessen Haus an der alten Hauptstraße
sein Urahn von 1841 bis 1888 die erste Postexpedition in Vluyn betrieb. Er führte einen
kleinen Kolonialwarenladen und eröffnete
1905 in einem Anbau die Kaffeerösterei. Sein
Kaffee war über die Grenzen NeukirchenVluyns hinaus bekannt und beliebt und wurde bis 1967 produziert. Im alten Laden des
Museums befindet sich noch ein großes rotes
Emailleschild mit der Aufschrift „Jans Kaffee“
aus den Anfängen der Kaffeeröstung in Vluyn.
Auf einem alten Kaffeelot ist der Werbeslogan
„In der Hitze, in der Kühle Jans-Kaffee durch
die Mühle“ zu lesen.
Holzkastenmühle
Anfänglich bereitete man den Kaffee in
metallenen Kannen zu. Das Museum ist im
Besitz einer Dreikranenkanne aus Messing,
die am Niederrhein liebevoll „Dröppelminna“
genannt wird, aus dem 18. Jahrhundert.
Aus dem Kränchen floss der heiße Kaffee zunächst in die Tasse oder in ein henkelloses
Porzellanschälchen, das Köpken. Von hier aus
füllte man ihn in die recht hochwandige Untertasse, um daraus den abgekühlten Kaffee
zu genießen. Diese Sitte des Trinkens aus der
Untertasse hat sich noch bis ins frühe 20.
Jahrhundert erhalten.
Alltagstauglich, weil man sie auf dem Herd
ständig warm halten konnte, waren auch bis
zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Kaffeekannen und -becher aus Emaille.
Mit den letzten Schlucken Kaffee musste
auch der Satz mitgetrunken werden, was nicht
so angenehm war. Daher setzte man Draht-
391
Esskultur
damals am
Niederrhein
Dreikranenkanne
Emaillekanne mit Bechern
siebe ein zur groben Filterung. Doch wusste
man schon im 19. Jahrhundert den Kaffeesatz
besser zu verwenden. In Meyers Konversationslexikon von 1888 ist zu lesen: „Man benutzt
den Kaffeesatz ferner zum Reinigen der Nachtgeschirre und beim Abfegen braun gestrichener Fußböden.“ Zwar gelang es der Hausfrau
Melitta Benz im Jahr 1908, einen Filter aus
Löschpapier zu konstruieren, doch sollte es
noch einige Jahre dauern, bis der Melitta-Kaffeefilter auf dem niederrheinischen Land angekommen war.
392
So kochen wir am Niederrhein …
Als unser Großvater
noch priemte
Schon vor Jahrhunderten begann man, den
Tabak in „Kauform“ zu genießen. Bereits die
Indianer stillten ihren Durst und Hunger
durch Tabakkraut. Der Priem erhielt seinen
Namen von der „Pruim“, der Pflaume, weil
er in Farbe und Gestalt einer Backpflaume
ähnelt. Für die Herstellung von Priem werden
schwere, fette und zähe Rohtabake, vor allem
Kentucky, benutzt. Im Laufe der Jahre wurden von den verschiedenen Firmen unterschiedlichste Rezepte entwickelt, die strengster Geheimhaltungspflicht unterstanden.
Sie stehen den allerfeinsten Lebkuchenrezepten nicht nach. Feigen, Korinthen, Fenchel,
Pflaumen, Nelken, Muskat, Anis, Koriander,
Lakritze, Rum und viele weitere Zutaten geben
den vielen Priemsorten ein einzigartiges und
langandauerndes Aroma.
Insbesondere die Seeleute sagten, dass
der Priem eine „kräftige Spucke“ gebe; das
war für das Arbeiten an Bord eine große Hilfe.
Das Rauchen von Zigaretten oder Zigarren
ließ sich mit der Arbeit von Heizern, Lokführern und Beschäftigten an Hochöfen nicht vereinbaren. Auch andere Berufsgruppen wie
Bergleute und Forstangestellte, bei denen
aus Sicherheitsgründen Rauchverbot bestand,
griffen gern zum Kautabak. Er wurde über
Kolonial- und Tabakwarenhändler sowie über
Gastwirte vertrieben, die ihn in irdene Gefäße
füllten, um ihn recht lange frisch zu halten.
Mit dem Einzug der Werbung, Ende des
19. Jahrhunderts, wurden von den einzelnen
Firmen unterschiedliche Steinzeuggefäße
gestaltet. Diese wurden auf einer Töpferscheibe gedreht, entsprechend geformt und
reichhaltig verziert. Separat wurden die
Knäufe gedreht und auch dekorative Deckel
gefertigt. In der Museumssammlung befinden
sich hochformatige Kautabaktöpfe mit dem
Esskultur
damals am
Niederrheinn
So kochen wir am Niederrhein …
Dekor der Gründerzeit aus den Anfangsjahren
sowie auch spätere längliche und niedrigere
Formen. Die Firma Grimm und Triepel in
Nordhausen ist ein Relikt aus der „guten alten
Zeit“. Als letzte aus einer Reihe von Unternehmen, deren Existenz bereits im 18. Jahrhundert nachgewiesen werden kann, stellt sie heute noch Kautabak her.
(Aus: Museums-Info Neukirchen-Vluyn, August 2001)
Tabaktopf,
Deckel mit Tonfigur,
1900
Tabaktopf,
Westerwälder Steinzeug,
1900
393
Esskultur
damals am
Niederrhein
So kochen wir am Niederrhein …
„Eine allerliebste und
lehrreiche Beschäftigung
für kleine Mädchen
ist das Kochen auf dem
Puppenheerde“
Puppenküchen und Puppenkochbücher
als kulturgeschichtliche Quelle
Diana Finkele
Leiterin des Grafschafter Museums
im Moerser Schloss
Zur Sammlung des Grafschafter Museums gehören zahlreiche historische Puppenstuben,
Puppenküchen und sogar Puppenkochbücher.
Mit ihnen spielten Mädchen aus Moers und
Umgebung. Die Spielküchen und Kochbücher
verraten uns heute zahlreiche kultur- und gesellschaftsgeschichtliche Details: Erzählen uns
Puppenstuben oder Puppenhäuser als idealtypische Abbilder im Kleinen viel über die Geschichte des Wohnens, berichten uns Puppenkochbücher nicht nur von geschlechtsspezifischer Erziehung, sondern spiegeln ebenso die
Veränderung der Nahrungsmittelzubereitung
in den kleinen und „großen“ Küchen.
Puppenstuben sind die bescheidenere
Version der Puppenhäuser, die seit dem 16.
Jahrhundert bekannt sind. Damals waren sie
nicht Spielzeuge, sondern wertvolle Anschauungs- und Repräsentationsobjekte Adeliger.
In bürgerlichen Kreisen kamen die Puppenstuben im 19. Jahrhundert in Mode. Sie waren
zwar immer noch repräsentatives Spielzeug –
denn für einen großen Teil der Gesellschaft
stellte die bürgerliche Wohnstube im Kleinen
immer noch unerfüllbare Wohnträume dar –,
394
Puppenwohnstube
hatten aber nun eine starke pädagogische
Funktion: Sie wandten sich an Mädchen, die
mittels der mit liebevollen Details ausgestatteten Puppenstuben auf ihre künftige Rolle als
Vorsteherin des Hauses vorbereitet und ganz
auf das Häusliche – das Private – festgelegt
wurden.
Puppenküchen
Aus den Puppenstuben verselbständigte sich
um 1750 die Puppenküche. Gegenüber anderen Hausteilen wie dem Salon und dem Zimmer hatte sie einen erheblich höheren „Spielwert“, da sie eine höhere Spielaktivität zuließ.
Zeitversetzt machte die Puppenküche alle
technischen Fortschritte ihres „großen“ Vorbildes mit: Verschwand die Rauchfang-Küche
mit offener Feuerstelle ab 1850 mit dem Einzug des „mobilen“ eisernen Herdes aus den
Bauern- und Wohnhäusern, hielt auch der
Puppenherd bald Einzug in die Puppenstuben.
Die Blechküche kam im Großen wie im Kleinen in Mode. Zur gleichen Zeit verschwanden
auch die Kleinviehställe aus den Puppenküchen – ganz wie in der Realität als Ausdruck
der veränderten Lebens-, Arbeits- und Wohnsituation der ländlichen und städtischen Bevölkerung. Auch den technischen Fortschritt in
der Wasserversorgung machten die Puppenküchen mit: Fließendes Wasser aus außen lie-
So kochen wir am Niederrhein …
Esskultur
damals am
Niederrhein
genden Wassertanks mit Fallwasser oder
Handpumpe löste Eimer und Karaffen ab Mitte des 19. Jahrhunderts ab. Auch das Mobiliar
veränderte sich: Mit dem Einzug der Küchenschränke in die großen Küchen ab 1870 verschwinden auch in den Puppenküchen bald
die Tellerborde: die Funktionsküche löste die
frühere Prunkküche ab. Nach Jugendstilund Reformküche zeigte schließlich auch die
Puppenküche in den 1950er Jahren die volle
Wirtschaftswunderfülle.
Puppenküche
Grafschafter Puppenküche, um 1835
Die Herauslösung der Puppenküche aus
dem prunkvollen Puppenhaus kann auch als
„Demokratisierung“ dieses Spielzeugzweiges
gesehen werden: Bei deutlich günstigeren
Preisen und geringerem Platzbedarf wurden
Grafschafter Puppenherd mit Spiritusbrenner
die Puppenküchen für weitere Bevölkerungskreise erschwinglich. Mit bescheidenerer Ausstattung konnten sie nun auch in die Wohnstuben der Arbeiterkinder einziehen. Später
hat sich sogar ein Einzelelement aus der Puppenküche verselbständigt: der Puppenherd.
Als der „mobile“ eiserne Herd Einzug in die
Küche hielt, verschwand allmählich die gemauerte Feuerstelle aus den Puppenküchen –
eine Errungenschaft des späten 19. Jahrhunderts. „Kochmaschinen“ boten die Möglichkeit, tatsächlich Feuer zu entfachen, mit Kerzen oder der so genannten „Weingeistlampe“,
dem Spiritusbrenner. Natürlich machten die
Puppenherde auch die weiteren technischen
Fortschritte mit: Nach 1900 kamen mit Stadtgas beheizte Puppenherde auf, mit der Elektrifizierung kochte auch die Puppenköchin
bald am Elektroherd.
395
Esskultur
damals am
Niederrhein
So kochen wir am Niederrhein …
Puppenkochbücher
Nachdem sich die Puppenherde technisch
so weit entwickelt hatten, dass sie zum Beispiel mit Spirituskochern funktionsfähig wurden, kamen Mitte des 19. Jahrhunderts
Puppenkochbücher in Mode.
Sie hatten nicht nur die Funktion einer
Spielanleitung. Ihre erzieherische Ausrichtung
lässt sich ebenso wie bei den Puppenküchen
deutlich erkennen. Heißt es im Programm
„Lieschens Puppenstube“ aus dem Jahr 1894
„… nicht früh genug kann dem Weibe sein
wahrer Beruf nahegelegt werden, und dieses
Buch hat den Zweck, das kleine Mädchen
spielend in die weiblichen Pflichten und Tätigkeiten einzuführen und ihm dieselben lieb
und leicht zu machen…“,1 machen auch die
Puppenkochbücher keinen Hehl aus ihren
Aufgaben: „… spielend [lernt ihr] die Anfangsgründe des Kochens, und wenn Ihr ein Mal
älter werdet, und in Küche und Haushaltung
mitarbeiten müsst, so wird Euch Vieles schon
bekannt sein oder doch leicht erscheinen, das
Euch ohne diese nützliche Spielerei vielleicht
bange machen dürfte.“ 2 So das Bekenntnis
der bekannten württembergischen Kochbuchautorin Henriette Löffler,3 die um 1880 ein
„kleines praktisches Kochbüchlein für die Puppenküche“ veröffentlichte.
Olga Gumpert stellte im 19. Jahrhundert
ihrem Puppenkochbuch ein richtiges Regelwerk voran. Es galt, die Mädchen Sauberkeit
und Ordentlichkeit zu lehren: „So wie die
Kochgeschirre, so muß auch der Kochheerd
stets sauber sein. … Jeder Gegenstand der
Puppenküche muß seinen bestimmten Platz
haben, damit derselbe jederzeit zur Hand ist,
wenn ihr ihn braucht.“ Auch ohne Disziplin
scheint es in der Puppenküche nicht zu gehen:
„Von den Sachen, welche ihr zum Kochen erhaltet, darf nicht genascht werden. Naschkätzchen lernen niemals kochen.“ 4
Puppenkochbücher aus dem 19. Jahrhundert
396
Esskultur
damals am
Niederrhein
So kochen wir am Niederrhein …
Brühwürfel, Soßenpulver und „Backin“
Clevere Unternehmer entdeckten das Puppenkochbuch bald für Werbezwecke. So versprach
das „Dr. Oetker Kochbuch für die Puppenküche“ eine frühe Kundenbindung. Mussten die
kleinen Köchinnen in Henriette Löfflers Kochbüchlein für die Herstellung einer Grießsuppe
noch aus Mutters Küche die Fleischbrühe besorgen („Die Fleischbrühe zur Suppe könnt
ihr freilich nicht selbst machen, dazu ist eure
Küche nicht recht geeignet…“), geht’s bei Dr.
Oetker schon einfacher: „Nimm den Topf von
der Kochstelle und gib den Fleischbrühwürfel
dazu.“ Besonders bei den Süßspeisen und
Kuchen greift Oetkers Puppenkochbuch intensiv auf die eigenen Firmenprodukte zurück.
So brauchte es für den Apfel- und Pflaumenkuchen beispielsweise Dr. Oetkers Soßen-Pulver Vanille-Geschmack und Dr. Oetkers Backpulver „Backin“.
Auch die erzieherischen Vorworte der
Puppenkochbücher aus dem 19. Jahrhundert
sind in Dr. Oetkers Puppenkochbuch längst
durch eine Marketingstrategie abgelöst worden:
„Darum merkt Euch schon beizeiten,
– wie es auch die Oma tat –
Folget Dr. Oetker’s Rat!:
»Kuchen, Torten, Bäckerei,
Pudding, Soßen, süßer Brei
sind vorzüglich zubereitet,
wenn Euch Dr. Oetker leitet!«
Willst Du gut beraten sein –
Präg Dir diesen Namen ein.“ 5
Anmerkungen
1 Zitiert nach: Reinelt, Sabine: Puppenküchen
und Puppenherde in drei Jahrhunderten.
Weingarten 1985. Zitat S. 135.
2 Henriette Löfflers kleines praktisches Kochbüchlein für die Puppenküche. Eine nützliche
Gabe für junge Mädchen. Ulm o. J. [um 1880].
3 Henriette Löffler war in die Fußstapfen
ihrer Mutter Luise Löffler getreten, der ersten
württembergischen Kochbuchautorin.
4 Die erfahrene Puppenköchin von Olga
Gumpert. Wurzen und Leipzig o. J. Zitat S. 4.
5 Dr. Oetker Kochbuch. Für die Puppenküche.
Bielefeld o. J. [um 1950]. Zitat S. 7.
Dr. Oetker Kochbuch für die Puppenküche, um 1950/60
397
Esskultur
damals am
Niederrhein
Gebäck und Brauchtum
im Jahreskreis
Margret Ueltgesforth
Landfrauenvorsitzende Kreis Wesel
Vieles, sehr vieles hat sich auf dem Land verändert in den letzten Jahrzehnten. Die Betriebe haben aufgegeben oder wirtschaften
mit einer Einkommensalternative. Als Landfrau
aber ist mir die Liebe zu unseren Höfen in der
so schönen Niederrheinlandschaft geblieben.
Für viele Menschen ist es ein Traum,
auf dem Land zu leben, wo vieles noch überschaubar ist. Hier lebt man Tradition und
Brauchtum, ist mit seiner Umgebung eng verbunden und tief in ihr verwurzelt.
Die Küche war Dreh- und Angelpunkt
der Bauernhäuser. Die Wärme des Herdes, der
große Esstisch – hier wurde gewerkelt, gekocht, gegessen und viel erzählt.
Der Jahresrhythmus und unsere hiesigen
landwirtschaftlichen Produkte aus Feld und
Garten haben unsere Essgewohnheiten geprägt. Der regionale Bezug und die Jahreszeiten mit ihren feierlichen Höhepunkten sind
die Grundlage vieler bewährter Rezepte.
Dabei sind die Überlieferungen und Bräuche
von Region zu Region sehr unterschiedlich.
Zu allen Festen im Jahresverlauf gab
es Brauchtumsgebäck. Im Volksglauben hatte
jedes Gebäck eine tiefe Bedeutung. Davon
weiß man heute oft nichts mehr, diese volkstümliche Bedeutung ist verlorengegangen,
man ist sich ihrer kaum noch bewusst.
398
So kochen wir am Niederrhein …
Das neue Jahr beginnt bei uns mit den traditionellen Ballbäuschen (auch Bollebäuschen).
Sie sind auch heute noch sehr beliebt. Früher
brachte man Freunden und Nachbarn mit den
Neujahrswünschen eine Kostprobe, und es
wurde gefachsimpelt, wer die leckersten Ballbäuschen gebacken hatte.
Ballbäuschen (plattdeutsch Olegkücksken)
•
etwa 1/8 l Milch
•
20 g Hefe
•
50 g Zucker
•
30 g Butter
•
3 Eier
•
250 g Mehl
•
125 g Rosinen
•
1 TL Zimt
•
Fett zum Ausbacken
Ballebäuschenform
Die Milch erwärmen. Die Hefe in einer kleinen Schüssel zerbröckeln, etwas Zucker und
die Milch zugeben und gehen lassen.
Die Butter zu Schaum rühren, den restlichen Zucker, die Eier und einen Teil des Mehls
unterrühren, dann die Hefemasse, das restliche Mehl, Rosinen und Zimt hinzufügen. Den
Teig gut durcharbeiten und dann zum Aufgehen an einen warmen Ort stellen.
So kochen wir am Niederrhein …
Dann mit einem Löffel kleine Teighäufchen abstechen und in siedendem Fett
schwimmend goldgelb ausbacken. Auf einem
Kuchenrost abtropfen lassen und noch warm
in feinstem Zucker wälzen.
Ostern ist eines der ältesten Feste und geht
auf das jüdische Passahfest zurück. Nach der
langen Fastenzeit wurde zu Ostern üppig gebacken. Das Gebildebrot zu Ostern war der
Osterhase als Symbol der Auferstehung. Auch
das Ei ist ein Ostersymbol und weist auf die
Auferstehung und neues Leben hin.
Osterhasen
•
500 g Mehl
•
80 g Zucker
•
1 Päckchen Hefe
•
1/4 l Milch
•
80 g Fett
•
1 TL Salz
•
1 Ei
Backform für Osterhase
Das Mehl in eine Schüssel geben. In die
Mitte eine Vertiefung eindrücken, etwas Zucker und die zerbröselte Hefe hineingeben,
mit wenig warmer Milch einen Vorteig anrühren und gehen lassen.
Dann das Fett, die restliche Milch, Zucker
und Salz erwärmen, zum Vorteig geben
und alles zu einem glatten Teig verarbeiten.
Aus dem Teig flache Hasen formen und auf
Esskultur
damals am
Niederrhein
ein Backblech legen, nochmals gehen lassen, dann mit verquirltem Ei bestreichen und
bei 200 °C ca. 15 Minuten backen.
Das Erntefest ist auf dem Hof ein weiterer
Höhepunkt im Jahresverlauf. Es gab in heidnischen Zeiten eine Menge Erntedämonen,
die besänftigt und versöhnt werden mussten,
weil es sonst mit der Nahrung schlecht bestellt war. Da gibt es die verschiedensten Erntebräuche. Heute treffen wir uns unter der
Erntekrone, tauschen Gedanken aus, und ein
leckerer Ernteschmaus rundet das Fest ab.
Tart mit Obst war früher ein „Muss“ zum
Erntefest. Es gab Zwetschentart und Appeltart, oder aber auch frischen Weck mit Rübenkraut.
Appeltart
•
500 g Mehl
•
100 g Zucker
•
125 g Butter
•
1/8–1/4 l Milch
•
1 Päckchen Hefe
•
2 Eier
•
1 Prise Salz
•
abgeriebene Schale von 1 Zitrone
•
1 kg Äpfel
•
Saft von 1/2 Zitrone
•
125 g Rosinen
•
2–3 EL Zucker
Aus den Zutaten bis zur Zitronenschale einen
Hefeteig herstellen. Ein Tortenblech fetten und
mit zwei Dritteln des Teigs auslegen.
Die Äpfel schälen, vierteln, entkernen
und in Scheiben schneiden. Mit Zitronensaft
beträufeln, dann mit Rosinen und Zucker
mischen und auf dem Teig verteilen.
Den restlichen Teig ausrollen und als
Decke über die Äpfel geben, am Rand andrücken und mit verquirltem Ei bestreichen.
Mit einer Gabel einstechen und bei 200 °C
ca. 20 Minuten backen.
399
Esskultur
damals am
Niederrhein
Sankt Martin war ein wichtiger Tag im Landleben. Zu Martini wechselten die Dienstboten
ihre Stellung, und jegliche Pacht, Zinsen und
Steuern wurden fällig. Das Gebildebrot war
der Weckmann. Er wurde am Martinstag gebacken und als Glücksbringer an Freunde und
Verwandte sowie an Geschäftsfreunde verteilt.
Heute ist der Weckmann ein Geschenk für unsere Kinder. Zu Nikolaus wurden ähnliche Figuren hergestellt, aber dann aus Mürbeteig.
Weckmann
•
250 g Weizenmehl
•
150 g Butter
•
3 Eigelb
•
abgeriebene Zitronenschale
•
1 Vanilleschote
•
Korinthen
Aus Mehl, Butter, Eigelb, Zitronenschale und
Vanillemark einen Mürbeteig herstellen und
ruhen lassen.
Dann nicht zu dünn ausrollen und Männerfiguren ausschneiden. Jeweils 2 Korinthen
als Augen eindrücken, einen Mund einschneiden oder, wenn man hat, eine kleine Tonpfeife
eindrücken.
Die Weckmänner auf ein gefettetes Backblech legen und bei mittlerer Hitze goldbraun
backen.
Man kann sie auch aus einem guten Hefeteig herstellen (siehe Rezept Appeltart).
Das Weihnachtsfest ist eines der schönsten
Feste im Jahr. Das Jahr neigt sich dem Ende zu,
es ist die dunkelste Zeit, und so werden Haus
und Umfeld mit vielen Lichtern geschmückt.
Und es wird gekocht und gebacken, was Küche und Keller hergeben. Vor allen Dingen
wurden und werden viele Plätzchen gebacken.
Eine Plätzchensorte, das Ochsenauge, so sagen wir im Volksmund, war möglicherweise
ein Sonnensymbol. Und Sterne erinnern an
den Stern von Bethlehem.
400
So kochen wir am Niederrhein …
Hier zwei Gebäcksorten:
Spekulatius
•
250 g Butter
•
200 g Farinzucker
•
1 Msp. Hirschhornsalz
•
1/2 TL Wasser
•
500 g Mehl
•
1/2 TL Kardamom
•
1 TL Zimt
•
1 TL gemahlene Nelken
Butter und Zucker schaumig rühren. Das in
wenig Wasser aufgelöste Hirschhornsalz dazugeben, das mit den Gewürzen gemischte Mehl
darüber streuen und den Teig sehr schnell
durchkneten. Dann möglichst über Nacht kalt
stellen.
Den Teig zur Rolle formen und in Holzformen (Spekulatiusformen), die mit Mehl
ausgestreut sind, eindrücken und auf den Formen ausrollen. Den überstehenden Teig abschneiden und den Spekulatius aus der Form
herausschlagen. Auf ein gefettetes Blech legen und bei 180 °C hellbraun backen.
Makronen
•
4 Eiweiß
•
200 g Puderzucker
•
150 g gemahlene Mandeln
•
50 g Kartoffelmehl
•
3–4 TL Arrak
•
einige Tropfen Rosenwasser
Eiweiß mit Puderzucker zu Schnee schlagen.
Die übrigen Zutaten zugeben und unterheben.
Ein Backblech mit Wasser bestreichen. Mit
zwei Teelöffeln kleine Makronenhäufchen
formen und auf das Blech setzen. Bei 170 °C
backen.
Immer wurde auf dem Bauernhof in der
Küche viel gearbeitet. Zu den Festen im Jahresverlauf war es besonders schön. Groß-
So kochen wir am Niederrhein …
Esskultur
damals am
Niederrhein
mutter, Mutter, Kinder und Mitarbeiter – alle
hatten eine Aufgabe. Ob das Mehl gesiebt
werden musste, die Äpfel geschält, die Nüsse
geknackt, die Backbleche belegt und gereinigt werden mussten – jede Hand wurde gebraucht. Bei diesen Tätigkeiten wurde viel
erzählt und viel gelacht.
Noch heute ist unsere Küche Zentrum
des Hauses und Umschlagplatz für alle Neuigkeiten, die es zu besprechen gibt. Es macht
sehr viel Freude, in der Küche zu werkeln und
zu verweilen.
Holzmodel
für Spekulatius
Historischer
Christbaumschmuck
401
Esskultur
damals am
Niederrhein
So kochen wir am Niederrhein …
Aus dem Kochbuch
von Wilhelm Schmitz
Rheinberg, um 1825
Theo Horster
Im Rheinberger Stadtarchiv wird ein altes
Kochbuch aufbewahrt, auf dessen erster Seite
in Schönschrift geschrieben steht, von wem
es stammt: Wilhelm Schmitz, und darunter:
Rheinberg. Und die Jahreszahl auf der nächsten Seite könnte (das Papier ist etwas zerknittert) 1825 sein. Das würde zu dem passen,
was wir über den Schreiber herausgefunden
haben.
Johann Wilhelm Schmitz wurde im Jahre
1801 in Rheinberg geboren. Nach dem Schulabschluss erlernte er das Bäckerhandwerk
und ging dann, wie es damals üblich war, als
junger Bäckergeselle auf Wanderschaft, sieben Jahre lang. Er stellte seine Fachkenntnisse und Arbeitskraft den verschiedensten Meistern zur Verfügung und kam in Europa weit
herum; so arbeitete er unter anderem in Süd-
402
deutschland, in der Schweiz, in Italien, Ungarn, Polen und Preußen.
Während dieser Zeit erlernte er zusätzlich auch das Handwerk der Destillation, der
Branntweinherstellung.
Zurück in Rheinberg, heiratete er 1832
Friederike Holter, die Tochter eines Rheinberger Brauers.
Den Eheleuten wurden zehn Kinder geboren; sie wuchsen in Rheinberg in der
Rheinstraße auf, wo Wilhelm und Friederike
Schmitz eine Bäckerei und eine Destillerie
betrieben.
Vermutlich hat sich Johann Wilhelm
Schmitz während der Wanderjahre an den
Arbeitsplätzen in den verschiedenen Gegenden die ortsüblichen Back- und Braurezepte
notiert, mit in die Heimat gebracht und hier
den Kunden dann Produkte anbieten können,
von denen das eine oder andere sicherlich
eine neue Geschmacksvariante bot.
Er fasste diese Notizen in einer Kladde
zusammen und hinterließ sie der Nachwelt.
Dabei schrieb er, wie er wohl auch sprach: in
der heimatlichen Mundart, die hin und wieder mit hochdeutschen Wörtern durchsetzt ist.
In der Rechtschreibung ist er dabei variabel,
schreibt zum Beispiel mal lott, mal loth (= Lot).
Einen „Duden“ gab es damals noch nicht.
Einige Rezepte sind geradezu kalligraphisch
gemalt, andere eher flüchtig hingeworfen.
So kochen wir am Niederrhein …
Es fällt auf, dass Wilhelm Schmitz meistens nur die Zutaten für die verschiedensten
Produkte aufgeschrieben hat; als Bäcker und
Destillateur wusste er, was damit anzufangen
war. Wenn bei einem Gebäck nur steht: 1
ponnt deich (1 Pfund Teig), ist wahrscheinlich
eine Art Mürbeteig gemeint, aus Mehl, Fett
(Butter) und Zucker zubereitet, dem dann für
die verschiedenen Produkte die entsprechenden Zutaten zugefügt wurden.
Das Buch wurde offenbar über einen längeren Zeitraum genutzt. Schmitz’ Handschrift
ändert sich im Lauf der Jahre, und es gibt auch
Einträge anderer Personen. Einer ist mit dem
Datum 11. September 1849 versehen.
Aus diesen Aufzeichnungen haben wir
einige Seiten ausgewählt. Bei der Abbildung
steht zunächst eine buchstabengetreue Transkription der für viele nicht mehr lesbaren alten
deutschen Schrift (die mit lateinischen Buchstaben abwechselt oder gemischt ist) und darunter eine „Übersetzung“ in heutiges Deutsch.
Nicht übersetzt wurden die alten Mengenangaben, die sich nicht genau in Gramm oder Milliliter umrechnen lassen: das Loth (Lot – etwa
1/30 Pfund, also ungefähr 17 Gramm), das Ohm
(ein altes Flüssigkeitsmaß, ca. 130–160 Liter),
das oder die Quart (eben falls ein altes deutsches Flüssigkeitsmaß, ca. 0,24–1,1 Liter).
Man kochte und backte ohnehin mehr mit Gefühl und Erfahrung als mit der Küchenwaage.
Esskultur
damals am
Niederrhein
Mand Berg
1 1/2 P. Mandele zu Schnitte geschnitte 1 P.
Zucker mit 5 Ey durcheinander gerürt
und denn die Mandele mit die Hand darunder
und auf Bleck zu Berg gesetz
Mandelberg
1 1/2 Pfund Mandeln zu Schnitten [Scheiben,
Blättchen] geschnitten, 1 Pfund Zucker mit
5 Eiern durcheinandergerührt und dann
die Mandeln mit der Hand darunter [gemengt]
und auf (einem) Blech zu Berg gesetzt (zu
kleinen Kegeln geformt ??)
403
Esskultur
damals am
Niederrhein
Brod Torta
1/4 P. Mandele mit 2 Eyer 1/4 mit 4 ganze und
4 gelbe und 4 zu Schneh 6 loth Brod und Mehl
Brottorte
1/4 Pfund Mandeln mit 2 Eiern [verrühren],
1/4 [Pfund Mandeln] mit 4 ganzen [Eiern]
und 4 Eigelb und 4 zu Schnee [geschlagenen
Eiweiß verrühren], 6 Lot Brot und Mehl
Mad Torte
12 loth Mandele mit 3 ganze Eyer gerieben
12 loth Zucker mit 6 ganze Eyer und 6 gelbe
6 zu Schneh 6 loth Mehl
Mandeltorte
12 Lot Mandeln mit 3 ganzen Eiern gerieben,
12 Lot Zucker mit 6 ganzen Eiern und 6 Eigelb und 6 zu Schnee [geschlagenen Eiweiß],
6 Lot Mehl
Pefernüße
1 P. Zucker 1 P. Krümele 1 P. Mehl 3 loth
Pommeran[zen-] und Cidronneschal 6 Eyer
mit zimmet und gewürtz und Potasch
Pfeffernüsse
1 Pfund Zucker, 1 Pfund [!] Kümmel, 1 Pfund
Mehl, 3 Lot Pomeranzen- und Zitronenschale,
6 Eier mit Zimt und Gewürz [Pfefferkuchengewürz?] und Pottasche
404
So kochen wir am Niederrhein …
Breunen Kaies
1 pontt Deg 4 lott botter 4 lott Strop 1 half lott
nagelle 1 half lott knell
en dan breunen Seuker op dee banck geleitt
en dee kaies gestreken en dan in de Seuckker
geleitt en op de plath gesett
Braune Steine (Dominosteine)
1 Pfund Teig, 4 Lot Butter, 4 Lot Sirup, 1 halbes
Lot Nelken, 1 halbes Lot Zimt (Kaneel)
und dann braunen Zucker auf die Bank geführt [gelegt] und die Steine gestrichen und
dann in den Zucker geführt [gelegt] und auf
die Platte gesetzt.
So kochen wir am Niederrhein …
Bitter Extract
•
Oranienschalen 12 Pfund
•
Oranienaepfel 7 Pfund
•
Calmus 6 Loth
•
Zimmet 1/2 Pfund
•
Enzian Wurzel 3 Pfund
•
Galanga Wurzel 14 Loth
•
Nelken 5 Loth
•
Amömlein 10 Loth
•
Cälinturholz 10 Pfund
•
Brantwein 1 Ohm
•
Wasser 16 Quart
Bitter Extrakt
•
Orangenschalen 12 Pfund
•
Orangenäpfel 7 Pfund
•
Calmus 6 Lot
•
Zimt 1/2 Pfund
•
Enzianwurzel 3 Pfund
•
Galangewurzel 14 Lot
•
Nelken 5 Lot
•
Nelkenpfeffer 10 Lot
•
Cälinturholz 10 Pfund
•
Branntwein 1 Ohm
•
Wasser 16 Quart
Esskultur
damals am
Niederrhein
Boonekamp oder Maag. Bitter
½ Ohm
•
1 Pfund Rhabarber geschnitten
•
1 Pfund Bitterwurzel
•
1 Pfund Gentian
•
1/2 Pfund Lerchenschwamm
•
1 Loth Anisoel
•
1/2 Loth Nelkenoel
•
10 Pfund gekochten Zucker
•
gebr. Zucker
Boonekamp oder Magenbitter
für 1/2 Ohm
•
1 Pfund Rhabarber geschnitten
•
1 Pfund Bitterwurzel geschn.
•
1 Pfund Gentian geschn.
•
1/2 Pfund K’Lerchenschwamm geschn.
•
1 Lot Anisöl
•
1/2 Lot Nelkenöl
•
10 Pfund gekochten Zucker
•
gebrannten Zucker
405
Esskultur
damals am
Niederrhein
So kochen wir am Niederrhein …
Rheinbergisch kochen
mit Hein Hoppmann
Ein Streifzug durch Küche und Keller
Wussten Sie, dass es ein Wörterbuch der Rheinberger Mundart gibt? Josef Gormanns hat es geschrieben und die Stadt Rheinberg hat es 1989
herausgegeben, als Band 2 der Schriften zur
Geschichte und Heimatkunde – eine Rarität,
denn es wurden nur 200 Exemplare gedruckt.
Das ist kein Wörterbuch wie jedes andere, hier
werden nicht Wörter der Mundart nach dem
ABC aufgereiht und mit hochdeutscher Übersetzung versehen, hier werden einzelne Lebensbereiche vorgestellt und man erfährt, wie
dort geredet wird, welche Ausdrücke man verwendet, welche Redensarten, welche Sprichwörter. Gerade sie bewahren viel von dem auf,
wie man früher gelebt hat. Wir haben den Bereich „Ernährung“ gewählt, wie sich das für
ein KochKulturBuch gehört, und einiges daraus
neu zusammengestellt, in der Mundart und
(meist) mit der „hochdeutschen“ Übersetzung.
Die Zeichnungen stammen nicht aus
diesem Wörterbuch, sondern von Hein Hoppmann, der, als er sie aufs Papier brachte (er
starb 81-jährig am 18. August 1982), natürlich
nicht ahnen konnte, in welchen Zusammenhang sie hier gebracht werden (allerdings ist
das Umschlagbild zum Wörterbuch von ihm).
Sollte sich jemand getroffen fühlen – Ähnlichkeiten mit lebenden oder nicht mehr
lebenden Personen wären rein zufällig und
nicht beabsichtigt.
406
„Kom ääte!“, ruft die Mutter, und bald
darauf sitzen alle um den Tisch.
Aber das ist ja eigentlich der Abschluss, vor
dem Essen kommt das Kochen. Doch wenn, wie
in diesem Buch, alles um das Essen kreist, kann
man gar nicht so genau sagen, was der Anfang
und was das Ende ist: Nach dem Essen ist vor
dem Essen, nach dem Abwasch (unsere Ahnen
hatten keine Spülmaschine, es sei denn der
Ehemann gewesen) hat mancher schon wieder
Hunger, und das Ganze geht von vorn los.
Wir drehen den Wasserhahn auf – damit
fängt es meist an: um Gemüse zu waschen
oder Wasser für die Nudeln aufzusetzen. Unsere Vorfahren (so lange ist das noch gar nicht
her) hatten es da schwerer: Sie mussten das
Waater vom Brunnen holen, der nicht immer
gleich vor der Hautür stand, mit der Waaterpompe pumpten sie es in die mitgebrachten
Ämers und Toite und Büte (Eimer, Kannen,
Wannen) und schleppten es nach Haus. Dabei
konnten sie auch sehen, ob dat Brantküüwe
gefüllt war, das Brandfass, das neben dem
Brunnen stand und wegen der ständigen
Brandgefahr (die vielen Häuser aus Holz!) immer randvoll sein musste. Da „randvoll“
auch aus anderen Situationen bekannt war,
musste sich mancher nachsagen lassen: Hai
ös soo fol wi än Brantküüwe (Er ist so voll
wie ein Brandfass).
So kochen wir am Niederrhein …
Esskultur
damals am
Niederrhein
Nichts von alledem: Es gibt Hühnersuppe.
Denn (der Gärtner holt ein Bund Suppengrün
aus seinem Korb) wei häbe än Hun geschlach.
Et gäf Hundersup on Hunderflaisch (wir haben ein Huhn geschlachtet. Es gibt Hühnersuppe und Hühnerfleisch). Nicht lange (das Huhn
war jung), und die Suppe ist fertig.
Hat man Wasser, kann man Suppe kochen.
Aber welche? Der Gärtner kommt und bietet
seine Produkte an: Alles ganz frisch!
Gemüüssup? Ääertessup? Boonesup (Gemüse-, Erbsen-, Bohnensuppe)? Doch Wete
Kapes und Rooje Kapes und Muus (Weißkohl,
Rotkohl und Grünkohl) hat er auch dabei.
Also keine Suppe, lieber Eintopf? Aber wenn
es Dike Boone gibt mit Schpäk (sofern das ein
Eintopf ist), rümpft mancher die Nase, auch
wenn er dann als einer, der etwas Besseres
sein (und essen) will, verspottet wird: Seewe
dike Boone on äne Rüüter Schpäk, wän dat
nit lös, dat ös äne Gäk (Sieben dicke Bohnen
und ein Stück Speck, wer das nicht mag, das
ist ein Geck).
Also doch lieber Suppe. Nur keine Pap
(Milchsuppe), die gibt es eher abends oder
auch morgens, ebenso wie die Risepap (Reissuppe) oder die Kärnemälkpap mät Prume
(Buttermilchsuppe mit Pflaumen – aber wann
isst man die?) oder die Grismäälspap (Grießmehlsuppe) oder die Krentepap (Milchsuppe
mit Korinthen) oder die Knuudelspap (Milchsuppe mit Mehlklümpchen).
Anderes Geflügel kommt nur an besonderen Tagen auf den Tisch. Sälde ääte wei Änteflaisch, Ganseflaisch on Schruteflaisch. (Selten
essen wir Entenfleisch, Gänsefleisch und Fleisch
vom Truthahn.) Auch Duuweflaisch schmäk
guut (Taubenfleisch schmeckt gut). (Sollten etwa die Bergleute – die anderen, die vom Ruhrgebiet – ihre liebevoll gezüchteten Brieftauben verspeist haben, wenn sie die Post nicht
pünktlich brachten?)
Sie mögen kein Huhn? Gehen Sie zum
Metzger, da finden Sie alles: Rentflaisch,
Pogeflaisch, Färkesflaisch, Schopsflaisch (Rind,
Schwein, Ferkel, Schaf), alles küchenfertig.
407
Esskultur
damals am
Niederrhein
Und Innereien: Lääwer, Härt, Irkes, Häne,
Koje (Leber, Herz, Nieren, Hirn, Kutteln) – und
Worsch (Wurst) natürlich, die können Sie für
den Abend gleich mitnehmen: Lääwerworsch,
Flaischworsch, Mätworsch, Bluutworsch, Irkesworsch. Die Auswahl ist heute natürlich
unendlich viel größer, aber in den Zeiten, als
man noch selber schlachtete,
So kochen wir am Niederrhein …
und Fisch kannst du essen, soviel du magst),
sagte man früher, weil es das alles im Überfluss gab. Altrhein, der Rheinstrom und zahlreiche Wooje (Wasserteiche) waren überreich
an Fischen.
Salme, Schnüük oder Brääsem (Hechte)
und Maifesch wurden mit Näte (Netzen), Klääfgaan (Absperrnetzen) und Tütebäle (Fischsenken) gefangen. Aale fing man mit Fuke
(Reusen) und Oolkörwe (Aalkörben), die oft
aus Welegetäkskes (Weidenzweigen) geflochten waren. Natürlich konnte man auch einfach
die Angel auswerfen …
Aber Mutter kann den Fisch jetzt nicht
brauchen. Sie steht ja schon am Herd, etwas
ratlos, wie es scheint, vielleicht probiert sie
etwas Neues aus und schaut deshalb ins
Kochbuch („So kochen wir am Niederrhein“
ist es leider nicht):
stellte man auch die Wurst selbst her, und das
waren meist diese Sorten. Und sie schmeckten! Än Schtök Bluut- on Lääwerworsch, än
Rebeschtök, dooerbei än Schtök Balkenbrai
fan en fresch geschlach Pok, ös änen Hötspoot
(Ein Stück Blut- und Leberwurst, ein Rippenstück, dazu ein Stück Panhas vom frisch geschlachteten Schwein ist ein Hötspot), sagte
man dann wohl. Man liebte es deftig.
Soll es jedoch Fleisch nicht sein, wie wäre
es dann mit Fisch? Schlaat, Kärsche on Fesch
kas’te ääte, soovööl do lös (Salat, Kirschen
408
Doch dann ist endlich alles fertig und
kann aufgefahren werden:
So kochen wir am Niederrhein …
Esskultur
damals am
Niederrhein
Magen verdorben, weil er zuviel gegessen
und getrunken hat.) Die weiß Rat: Hai solne
meer faste. (Er sollte mehr fasten.)
Beim Nachtisch strahlen die Gesichter
wieder. Denn der – Muttern hat’s dazu nicht
mehr gereicht – kommt vom Party-Service der
Lieblingseisdiele:
Und Mutter ruft die Hausgenossen zusammen: Dat Ääte schteet op dän Desch! (Das Essen
steht auf dem Tisch!)
Als der Hausvater sieht, dass die Kinder
ziemlich misstrauisch beäugen, was da serviert
wird, wird er pädagogisch: Was auf den Tisch
kommt, wird gegessen! Das sagt er aber auf
Rheinbergisch: Än gut Färke frät ales! (Ein gutes
Schwein frisst alles!)
Und alle langen zu, möglichst geräuscharm: schlatse on schlörpe (schmatzen und
schlürfen) sind verpönt. Diesen Vorgang kann
man verschieden benennen: achele (speisen), frääte (fressen oder futtern), sech schtärk
maake (sich stärken), möfele (schmausen),
frääte wi än Ku (prassen), sech wat drinsäte
(sich einverleiben), sech dän Buk folhaue
(sich den Bauch voll schlagen). Mancher frät
dabei wi äne Plagenhäuer (wie ein Plaggenhauer) oder füllt sich mehr auf den Teller,
als er heronderprofe (herunterwürgen) kann;
den verspottet man: Sin Ooge sint grööter as
dän Buk (Seine Augen sind größer als der
Bauch). Manchmal muss er das büßen; dann
erzählt die Mutter der Nachbarin: Hai häät
sech dä Maach ferdörwe, weil hai tu fööl gegääte on gedronke häät. (Er hat sich den
Weil Sonntag ist, sagt die Mutter, bevor
sie den Tisch abräumt: Öm fiier Üüer drenke
wei Kofi (Um vier Uhr trinken wir Kaffee). Vielleicht sogar richtigen Boonekofi aus echten
Kofiboone! Den gab es hierzulande erst seit
etwa 1900, und nur an Sonn- und Festtagen.
Durchweg trank man Mukefuk, Maltskofi
(Malzkaffee) oder gebrande Rok (gebrannten
Roggen).
Dazu gab es Kuuk (Kuchen) oder Deeltjes
(Teilchen). Einfacher Proofkuk (Streuselkuchen) wurde öfter gebacken, weil er nicht viel
Arbeit machte, war aber nicht sehr beliebt,
denn er war so trocken, dass man ihn heronderprofe musste. Lieber aß man Obstkuchen:
409
Esskultur
damals am
Niederrhein
Prumetaat oder Apeltaat (Pflaumen- oder
Apfeltorte; die Früchte kamen aus dem eigenen Garten) oder auch Krentewäk (Rosinenweißbrot), denn än Schnee Krentewäk
mät guje Boter schmiik läker (eine Schnitte
Rosinenweißbrot mit guter Butter schmeckt
lecker).
Vielleicht noch ein Gläschen Schnaps?
Zum Mittagessen gab es das auch schon –
Win (Wein) nicht, der war zu teuer, und Biier
gab es zwar häufiger, wurde aber meist nur
an Festtagen getrunken: am Fasteloowent
(Fastnacht) und an di Kärmesdaach (an den
Kirmestagen). Oder soll man damit noch warten, bis zum Abend? Da steht Vater vor dem
Haus, und als der Nachbar vorbei kommt, lädt
er ihn ein: Komt bene, on drenk änen Bääs
mät. (Komm herein, und trink einen Bääs
mit.) Bääs, ein beliebtes Rheinberger „Nationalgetränk“, dat wooer äne op schwate Wimelte opgesate Schnaps (das war ein auf
schwarze Johannisbeeren aufgesetzter
Schnaps). Davon oder von anderem mitunter
Selbstgebrannten stand im Keller eines jeden
Hauses än Fätje (ein Fässchen).
410
So kochen wir am Niederrhein …
Beliebt war auch „Fisternöl“, dat ös
Schnaps mät än Klöntje (Schnaps mit einem
Stück Würfelzucker). Nicht ungefährlich,
scheint’s, vor allem wenn einer nicht nur sagt:
Ek häp änen Dorsch, ek kös änen Ämer Waater supe (Ich habe einen Durst, ich könnte
einen Eimer Wasser saufen), sondern diesen
Worten auch die Tat folgen lässt und meint,
das „Wasser“ sei im Fätje. Der nähme womöglich ein böses Ende und man müsste von
ihm sagen: Ös dä Fusel in dä Man, ös dä
Ferschtant ine Kan. (Ist der Schnaps im Manne,
ist der Verstand in der Kanne.)
Wir wünschen ihm aber ein gutes Ende,
und allen, die da Rheinbergisch oder nicht
Rheinbergisch kochen, backen, braten, brutzeln, essen und trinken, wünschen wir das
auch. So:
So kochen wir am Niederrhein …
Esskultur
damals am
Niederrhein
Hein Hoppmann
Rheinberger Maler
(1901–1982)
Ein Kalbsgedicht zum Kalbsgericht
Das lässt tief blicken!
Der Nachbar meint: „Dies Kalb ist ja ein
stattlich Tier,
das hat sich aber rund und fett gefressen.
Das schlachtest du doch sicherlich,
so denk ich mir,
zum nächsten Mittwoch für das
Silberhochzeitsessen.“
Der Bauer lacht und spricht: „Ich nehme
keine Rache,
und darum will ich diesen Tod dem Tier
ersparen.
Das Kalb ist schließlich doch nicht schuld
an einer Sache,
die einst geschah vor fünfundzwanzig Jahren!“
Rotraud Vaupel-Hoppmann
Rouladen vom Kalb mit Beilagen
Für 4 Personen
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4 Kalbsschnitzel
200 g durchwachsener Speck
100 g Frischkäse
20 g Senf
Salz, Pfeffer
200 g Champignons
1 Zwiebel
250 ml klare Gemüsebrühe
Soßenbinder
800 g Rosenkohl
1 kg Kartoffeln
Muskatnuss gerieben
1 Prise Zucker
Die Kalbsschnitzel platt klopfen. Den Speck
klein würfeln und in der Pfanne auslassen.
Den Frischkäse mit der Hälfte der Speckwürfel, dem Senf und einer Prise Salz und Pfeffer
verrühren und auf die Schnitzel streichen.
Darauf werden dünn geschnittene Champignonscheiben und Zwiebelscheiben gelegt.
Die Schnitzel werden nun zu Rouladen gerollt
und festgesteckt, in eine feuerfeste Form gelegt und mit der Gemüsebrühe angegossen.
Im vorgeheizten Backofen sollen die Rouladen dann ca. 30 Minuten schmoren. Anschließend wird die Brühe mit Soßenbinder
angedickt und mit Salz und Pfeffer abgeschmeckt.
Der Rosenkohl wird geputzt und in Salzwasser gegart. Vor dem Servieren wird der
Rosenkohl mit den restlichen Speckwürfeln,
einer Prise Zucker und geriebener Muskatnuss
gewürzt.
Ein herzlicher Dank an Frau Rotraud VaupelHoppmann, die Tochter des Künstlers, die
die Bilder und Texte von Hein Hoppmann zur
Verfügung stellte.
411
Esskultur
damals am
Niederrhein
Der Lehmpastor von Repelen
Emanuel Felke – ein Pionier der
Naturheilkunde
Arzt wäre er gern geworden. Doch die Mutter,
eine Pastorentochter, wollte ihren Sohn als
Pfarrer auf der Kanzel sehen. Also studierte er
Theologie, in Berlin, Ende der 1870er Jahre,
besuchte aber auch medizinische Vorlesungen
an der Universität. Die Neigung zur Arzneikunde hatte er wohl vom Vater. Der war Dorfschullehrer in Kläden bei Stendal und
beschäftigte sich viel mit Volksmedizin und
Naturheilverfahren und der damals noch jungen Homöopathie. Dass sein Sohn, der 1856
geboren und auf die Namen Emanuel Erdmann Leopold Stephanus getauft wurde, sich
dafür interessierte, kann ihm nicht missfallen
haben. Vielleicht hat er den Heranwachsenden, wenn er ihm seine Kenntnisse und Erfahrungen auf diesem Gebiet weitergab, auch
schon darauf vorbereitet, dass diese Art, sich
mit Fragen von Gesundheit und Krankheit
zu befassen, den Beifall der Schulmedizin
nicht findet; und als Emanuel Felke dann den
Berliner Medizinprofessoren lauschte, wird
er das Wort „Homöopathie“ kaum, und wenn,
dann nur mit herabsetzenden Gänsefüßchen
gesprochen, gehört haben. Irre gemacht
hat ihn das nicht. Er sammelte weiter
Erfahrungen und experimentierte auf diesem
Gebiet.
1887 übernahm er eine Pfarrstelle in
Cronenberg im Bergischen Land. Als dort eine
Diphtherie-Epidemie ausbrach, wurde der
Seelsorger zum Leibsorger: Er entwickelte ho-
412
So kochen wir am Niederrhein …
möopathische Mittel, die so erfolgreich waren, dass die Menschen in Scharen zu ihm liefen. Sie kamen von nah und fern und belagerten geradezu sein Pfarrhaus, und ehe er’s
sich versah, galt er als eine Art Wunderheiler,
dessen Ruf sich rasch verbreitete.
Seinen Kirchenoberen missfiel das sehr;
sie ermahnten ihn, seine Pflichten als Seelenhirte nicht zu vernachlässigen. Emanuel
Felke zeigte Einsicht, zunächst, und suchte
nach einer neuen Pfarrstelle, wo man ihn
nicht kannte und er sich ganz seinen seelsorgerlichen Aufgaben widmen könnte.
Er glaubte sie im kleinen Repelen gefunden
zu haben, und die dortige evangelisch-reformierte Gemeinde freute sich, als ihr neuer
Pastor am 23. September 1894 ankam.
Aber er konnte es nicht lassen. Seelund Leibsorge vermochte er nicht zu trennen.
Wie auch? Ist der Mensch nicht ein Ganzes?
Das hatte ihn ja schon an der Schulmedizin
gestört: dass sie nur das kranke Organ sieht,
das man mit Medikamenten behandelt oder
entfernt, und „der Mensch“ ist wieder gesund.
Nein! Der ganze Mensch ist gesund oder
krank, und ist er krank, dann muss man ihn
ganzheitlich behandeln. Und wie? Indem man
ihm hilft, seine Lebensweise zu ändern, anerzogene Gewohnheiten und Konventionen,
die ihn seiner Kreatürlichkeit entfremden,
abzuwerfen und frei aufzuatmen in Licht und
Luft. Licht, Luft, Wasser, Erde, Bewegung
So kochen wir am Niederrhein …
und richtige Ernährung – sie können dem
Menschen helfen, gesund zu werden an Leib
und Seele. Sollte er darüber nicht reden, nur
weil er Pastor war?
Doch selbst wenn er hätte schweigen
wollen – es war zu spät. Sein Ruf als Heilkundiger war ihm vorausgeeilt, auch in Repelen
kamen die Menschen und suchten Rat und
Hilfe. Sollte er sie wegschicken? Seine Menschenliebe ließ das nicht zu, also half er, wo
und wie er konnte, entwickelte seine diagnostischen und homöopathischen Methoden
weiter und kombinierte zur Behandlung chronischer Krankheiten mit mehreren Symptomen verschiedene Wirkstoffe, was damals neu
war. Er gilt seitdem als Begründer der Komplex-Homöopathie und als wichtiger Impulsgeber für die Iris-Diagnostik. Seine Rezepturen verwendete er nicht nur bei seinen Patienten, er stellte sie auch Apotheken zur
Verfügung.
Esskultur
damals am
Niederrhein
Das ermutigte ihn, eine Idee zu verwirklichen, die ihm bei einem Besuch in Eckerthal
im Harz gekommen war. Dort hatte Adolf Just,
ein damals ebenfalls sehr bekannter Naturheiler, einen „Jungborn“ gegründet, eine Art
Sanatorium, in dem Naturheilverfahren angewendet wurden. Eine solche Einrichtung wollte Felke auch in Repelen schaffen.
Er gewann viele Mitstreiter für diese Idee.
Eine „Jungborngesellschaft“ gründete sich
und erwarb Wiesen und Äcker am sogenannten Repelener Meer, in der Nähe seiner Kirche. Auf diesem Grundstück entstand mit
tatkräftiger Hilfe vieler Bürger die „Naturheilanstalt Repelener Jungborn“, mit Liegewiesen, Bäumen, Sträuchern und Holzhütten für
die Kurenden. Da diese sich Licht, Luft und
Sonne im Naturzustand, also hüllenlos auszusetzen hatten, wurde um das Ganze ein Zaun
gezogen.
Die Erfolge des „Kurpfuschers“, der er in
den Augen seiner vorgesetzten Kirchenbehörde war, überzeugten viele Menschen, und
schon ein Jahr nach seinem Amtsantritt wurde
der „Repeler Jungbornverein zur Gesundheitspflege“ gegründet, der Felkes Methoden unterstützte und verbreitete.
413
Esskultur
damals am
Niederrhein
1898 wurde die Anlage eingeweiht. Aber die
Behörden sahen Sitte und Anstand gefährdet
und verlangten, den Zaun auf drei Meter zu
erhöhen. Als ihnen das zu langsam ging, untersagten sie 1899 kurzerhand den Kurbetrieb,
allerdings nur vorübergehend.
Das Wort Kurbetrieb übertreibt nicht.
Von überall her strömten die Kurgäste, sogar
aus dem Ausland kamen sie, aus England,
Russland, selbst aus den USA, in der Saison
von Mai bis Oktober waren es manchmal an
die 400, weit mehr, als ursprünglich gedacht.
„Der Jungborn zu Repelen“, heißt es in einer
Anzeige aus jenen Jahren, „geniesst trotz der
kurzen Zeit seines Bestehens bereits anerkannten Weltruf. […] Obgleich aber Repelen
sich heute zum internationalen Kurort entwickelt hat, so wusste es doch den lauten
Lärm eines solchen von sich vollständig fernzuhalten und dem Kurgast die Reize eines
ländlichen Idylls zu bewahren. Die weit ausgedehnten Anstaltsanlagen mit ihren vielen
Lichtlufthütten, schattigen Wegen und lauschigen Plätzchen, die einzigartige, durch kalte
Formeln nicht beeinträchtigte Herzlichkeit im
Verkehr der Kurgäste untereinander – alles
das und noch mehr weiss nur der zu würdigen, der Gast unserer Anstalt gewesen ist.“
Was diesen Gast erwartete, teilt die Anzeige ebenfalls mit: „Die eigentliche Naturkur
besteht in einer, namentlich Früchte als Rohkost bevorzugenden vegetarischen Diät, in
Sitzbädern, Lichtluftbädern, Lehmbädern, tur-
414
So kochen wir am Niederrhein …
nerischen Uebungen und Spielen, in der Verordnung homöopathischer Medikamente,
sowie in den durch den Anstaltsarzt ausgeführten verschiedenen Ergänzungsmethoden.“
Pastor Felke, der inoffizielle Kurdirektor –
die Verwendung von Lehm als Heilmittel hatte
ihm den Namen „Lehmpastor“ eingetragen −,
war in seinem Element. Neben den homöopathischen Medikamenten war ihm die gesunde Kost besonders wichtig. Fleisch gehörte
nicht dazu, wohl aber viel frisches Obst und
Gemüse, Vollkornbrot sollte möglichst zu
jeder Mahlzeit gegessen werden, Kaffee (der
Esskultur
damals am
Niederrhein
So kochen wir am Niederrhein …
echte) und Alkohol waren verpönt, gegen den
Durst halfen Wasser, Muckefuck und Milch.
(Siehe auch sein Rezept S. 000.) Den Muckefuck hatte er zwar nicht erfunden, aber verbessert. „Felke’s Nährkaffee“ hieß er und
wurde exklusiv von der Firma Mädel & Co. in
Mülheim an der Ruhr vertrieben.
Mittwoch.
•
Morgens: Buttermilch-Pappe [Suppe],
Butterbrot, Obst.
•
Abends: Kartoffelkuchen mit Salat oder
wie Sonntags.
•
Mittags: Linsen oder Bohnen oder Erbsen.
Donnerstag.
Morgens: Steife Hafergrütze mit Obst drin,
Butterbrot.
•
Abends: Bratkartoffeln mit Salat und
1 w. E.
•
Mittags: Gemüse, frisch oder aus der
Tonne.
•
Freitag.
Morgens: Gries mit Preisselbeeren oder
dicke Milch bei warmem Wetter.
•
Abends: Kakao, Butterbrot, Obst, Nuß.
•
Mittags: Möhren, Aepfel, Kartoffeln,
durcheinander gekocht.
•
Was im einzelnen auf den Tisch kam, zeigt ein
„Wochen-Speisezettel nach Pastor Felke“:
Samstag.
Morgens: Grütze mit Obst, Butterbrot,
Milch.
•
Abends: Pellkartoffeln und Hering oder
gemischter Salat: Möhren, Kartoffeln,
Tomaten, Sellerie etc.
•
Mittags: Erbsensuppe! Auch mal Mett
wurst drin.
Sonntag.
•
Morgens: Butterbrot mit ungekochter
Milch und Obst.
•
Abends: Apfelreis, Butterbrot, Nüsse.
•
Mittags: Grünkernsuppe mit gerösteten
Semmelbrocken oder Kartoffelpüre mit
einem weichen Ei.
•
Montag.
Morgens: Steife Hafergrütze mit Obst drin,
Butterbrot.
•
Abends: Bratkartoffeln mit Salat und 1 w. E.
•
Mittags: Kartoffelklöse mit brauner Butter
und Backobst.
•
•
Dienstag.
Morgens: Gries mit Kronsbeeren oder
dicke Milch bei warmem Wetter.
•
Abends: Kakao, Butterbrot, Obst, Nuß.
•
Mittags: Blumenkohl oder andere Gemüse, etwas Kartoffeln.
•
Jeden Mittag zu Beginn: Simons- oder
Graham-Butterbrot mit allerlei Nußobst,
frischem Obst, Datteln, Feigen und ungekochte Milch.
Dass er selber sich nicht nach diesem Speisezettel richtete, gern deftig aß und auch den
Alkohol nicht verschmähte, mag mancher mit
Stirnrunzeln registriert haben – seinem Erfolg
tat das keinen Abbruch. Felke-Kurorte entstanden in Krefeld, Aachen, Kettwig, Dortmund und Berlin. Den Namen „Repeler
Methode“ oder „Felke-Methode“ durften sie
415
Esskultur
damals am
Niederrhein
jedoch nur verwenden, wenn sie von Felke
dazu autorisiert wurden: Die Gründer oder
Leiter dieser Einrichtungen mussten von ihm
geschult und zugelassen worden sein. Daneben wurden Felke-Vereine gegründet mit
über 2500 Mitgliedern in ganz Deutschland,
und eine Felke-Zeitschrift gab es auch.
Doch dann brach die Erfolgsgeschichte
ab. 1912 musste Felke auf massiven Druck der
Kirchenleitung sein Pfarramt aufgeben. 1914
begann der Erste Weltkrieg, der Kurbetrieb in
Repelen wurde eingestellt, die Anlage als Lazarett genutzt. Der Lehmpastor, jetzt mittellos,
zog zu einem seiner Schüler nach Sobernheim
an der Nahe und baute dort einen neuen Kurbetrieb auf. Nach dem Krieg versuchte er den
Repelener Jungborn wieder zu beleben und
reiste alle 14 Tage dort hin, doch der Kurbetrieb erreichte nie wieder den Umfang, den er
vor dem Krieg hatte. Dass er ganz eingestellt
wurde, musste Emanuel Felke nicht mehr erleben. Er starb 1926. Acht Jahre später, 1934,
kam dann das Ende. Die Schwerindustrie mit
Bergbau und Kokerei brachte den Jungborn
zum Versiegen.
Doch nicht ganz. Felke-Vereine gab es
weiterhin und gibt es bis heute. Einer davon
ist der Felke-Verein Repelen. Dessen Vorsitzende, Christa Wittfeld, und ihr Mann Friedhelm beschlossen 1998, anlässlich des
100-jährigen Bestehens des Jungbornparks
Repelen, gemeinsam mit ihren Freunden des
Vereins „Repelen aktiv“ den Jungbornpark
416
So kochen wir am Niederrhein …
wieder zu beleben. Durch neue Einrichtungen
sollte an die Kurzeit mit „Lehmpastor Felke“
erinnert werden. 2005 war die größte Hürde
geschafft: Die Finanzierung der Idee war gesichert. 80 Prozent der Kosten wurden von dem
Fördertopf Startklar des Landes NordrheinWestfalen übernommen. Die restlichen 20
Prozent mussten die Initiatoren in Form von
Muskelkraft, Bargeld und Eigenleistung erbringen. Planung und Gestaltung übernahm
der Landschaftsarchitekt Markus Schlothmann.
Und dann war es, als habe der Geist von 1896,
als Felke mit 81 Anteilseignern aus Repelen
den Jungbornpark auf dem 50 Morgen großen
Ackerland innerhalb von zwei Jahren förmlich
aus dem Boden stampfte, die Mitarbeiter an
dem Projekt wieder erfasst. Sie packten an,
und ein Jahr später konnten bereits das kleine
Felke-Museum (Nachbau einer Lichtlufthütte
aus Holz) und der Musikpavillon (Nachbau
einer Wandelhalle) eingeweiht werden. Ein
kleiner Kräutergarten wurde angelegt, und
zwei Lehmgruben und Felkes Sitzwannen demonstrieren, woher der „Lehmpastor“ seinen
Spitznamen hatte. Der Barfußpfad und künstlerisch gestaltete Wasserelemente im Bereich
Moersbach werden in naher Zukunft entstehen. Eine beeindruckende Leistung!
Heute ist der Jungbornpark in Repelen der
Stolz derer, die ihn neu haben erstehen lassen,
und eine Freude für alle, die ihn besuchen.
Esskultur
damals am
Niederrhein
So kochen wir am Niederrhein …
Niederrheinischer
Küchenzettel
Marga Härter
Das Leben: Der Tag begann oft schon um 4
Uhr in der Frühe, weil fast jeder Bürger ein
Schwein, Ziegen, Schafe, Kaninchen und
Hühner im Stall hatte, die vor Arbeitsbeginn
versorgt werden mussten.
Frühstück: Milchsuppe (Papp), Bratkartoffeln oder Pfannkuchen. Um 10 Uhr, zum zweiten Frühstück, selbstgebackenes Weißbrot,
Schwarzbrot, Butter, Rübenkraut, Leber- und
Blutwurst von der Hausschlachtung. An
besonderen Feiertagen auch Schinken und
luftgetrocknete Mettwurst.
Mittags: Wenn um 12 Uhr die Glocken zu
Mittag läuteten, stand ein deftiger Eintopf auf
dem Tisch, der aus Kartoffeln und Gemüse
aus dem eigenen Garten bestand: Melde, Spinat, Mangold, Salat aus dem Mistbeet, Erbsen, Möhren, Kappes rot und weiß, Wirsing,
dicke Bohnen, Strauch- und Stangenbohnen,
Endivien, Stielmus und Grünkohl. Dazu gab’s
das Fleisch vom Schwein in gebratener oder
gekochter Weise, ob durchwachsener oder geräucherter Speck, Rippchen oder gebratene
Blutwurst. Der Speiseplan war abwechslungsreich, immer der Jahreszeit entsprechend. An
Sonn- und Feiertagen ein festlicher Schweinebraten und eine Vorsuppe. Ganz besonders
beliebt: die Hühnersuppe.
Kaffee: Weißbrot, Schwarzbrot, Butter,
Rübenkraut, Leber- und Blutwurst, Quark
(Fleujtekees), Käse. Samstags gab’s frisch gebackenes Weißbrot mit Gelee von schwarzen
oder roten Johannisbeeren. Im Herbst auch
Apfel- oder Pflaumenmus. – Sonntags meist
Plattenkuchen (Blechkuchen).
Abendessen: Kartoffeln mit Specksoße
und Salat oder Bratkartoffeln mit Salat und
eingelegtem Fisch (im Rhein geangelt),
Pfannkuchen mit Obst der Jahreszeit belegt.
Im Winter war der Pannhas mit Schwarzbrot
und Rübenkraut sehr beliebt. Als Abschluss
gab’s immer Milchsuppe.
Das Essen am Niederrhein war einfach
und deftig ...
Ärpele, Krutt on Papp
hiele ons op drapp
Marga Härter
Dän alde Fretz fond ok all di Ärpele wonderbar, dröm sagg hej för sin Lüj in’t Land: „Baut
döchteg Ärpele an!“ Hej wor jo enne ganz kluge Mann on sagg sech, van „Brot on Ärpele“,
dor wördde allemool satt. Denn Ärpele, di sind
jo so gesond on verdräglech för jedermann
on watt man met Arpele alles make kann:
Riewpannekuuk met Rüüwekrutt,
dor riew ek mech dän Bukk,
ok gebroojene blende Fesch
koome op dän Desch.
Di Ärpele döreen met Kappes,
dat ätt bej ons doch jede Lappes.
Pellärpele met Fleujtekees,
dat gäw et jede Wääk.
Van Ärpele wörd ok Schlaat gemak,
dat es en feine Saak.
Inne Wenter wörd dann Muus gekokk,
met en dikke Mettwörsch bowen dropp.
Ärpelekükkskes met Rüüwekrutt,
dor lekk ek mech de Schnutt.
Appelmuus met Stammpärpel,
dat ös dän Himmel op Erd.
Doch di Blaage, dat es kenne Wizz,
wolle blos noch „Pommes Fritz“.
417
Esskultur
damals am
Niederrhein
Hochdeutsch:
Kartoffeln, Rübenkraut und
Milchsuppe hielten uns fit
Der alte Fritz fand schon die Kartoffeln wunderbar, drum sagte er zu den Leuten im Land:
„Baut tüchtig Kartoffeln an!“ Er war ja ein
ganz kluger Mann und sagte sich: Von „Brot
und Kartoffeln“, da werden alle satt. Denn
Kartoffeln, die sind ja so gesund und verträglich für jedermann und was man mit Kartoffeln alles machen kann:
Reibekuchen mit Rübenkraut,
da reib’ ich mir den Bauch,
auch gebratene blinde Fisch’
kamen auf den Tisch.
Kartoffeleintopf mit weißem Kappes,
das isst bei uns doch jeder Lappes.
Pellkartoffeln mit Kräuterquark,
das gab es jede Woche.
Von Kartoffeln wurde Salat gemacht,
das war ’ne feine Sache.
Im Winter wird Grünkohl gekocht
mit ’ner dicken Mettwurst oben drauf.
Kartoffelküchlein mit Rübenkraut,
da leck’ ich mir die Schnute.
Apfelmus mit Stampfkartoffeln,
das ist der Himmel auf Erden.
Doch die Kinder, das ist kein Witz,
wollen nur noch „Pommes Fritz“.
Örschau früjer
Marga Härter
Dat kleine Festongsstädtje Örschau, „di Perl
vannen Önderrhin“, wor früjer, in min Jugendtitt, en blöjende Handelstadt met Zigaarefabrekke − groote on kleine −, di ör Produkte
inne ganz Welt verschekkne. Genau so ok di
Kornbrennerei de la Haye, ör Produkte wore
nit blos bej de Piepemäkers on di ömleggende Buure beliew, ok inne ganze Welt. Ok
418
So kochen wir am Niederrhein …
als Schoolstadt hat Örschau enne guje Ruup.
Di Präparandie, di laatere Meddelschool met
Jongesinternat, war witt bekennt. Wenn et
Fruchjoor koom, on di Obsbööm finge an te
blöje, satt da Fremdeverkehr in. Di groote
Dampfer met Fremde lagge mehrmools inne
Wääk an. Di Gastronomie wor innet Städtje
rikklech − ok met Koffigaades − verträje. Besonders beliew wore di Koffi- on Biergaades
op da Rhindikk. Enne Gang, rond öm di Wäll
van Örschau, inne Schatte van uralde Lendebööm, ronden dat Beld af. Dän Abschluss
wor dann en Kaanpartie op de Kuupoortschegraww. Leider hät de Krieg alles kapott gemak
Hochdeutsch:
Das kleine Festungsstädtchen Orsoy, „Perle
am Niederrhein“, war früher, in meiner Jugendzeit, eine blühende Handelsstadt mit
Zigarrenfabriken − großen und kleinen −,
die ihre Produkte in die ganze Welt lieferten.
Ebenso die Kornbrennerei de la Haye, deren
Produkte nicht nur bei den Zigarrenmachern
und den umliegenden Bauern beliebt, sondern weltweit bekannt waren. Auch als
Schulstadt hatte Orsoy einen guten Ruf. Die
Präparandie, spätere Mittelschule mit Jungeninternat, war sehr bekannt. Mit Beginn der
Obstblüte setzte auch der jährliche Fremdenverkehr ein. Die Fahrgastschiffe legten mehrmals wöchentlich an. Die Gastronomie war im
Städtchen reichlich – auch mit Kaffeegärten −
vertreten. Besonders beliebt waren die Kaffee- und Biergärten auf dem Rheindeich. Ein
Gang über die Wälle rund um Orsoy, im
Schatten der uralten Lindenbäume, rundet
das Bild ab. Der Abschluss war eine Kahnpartie auf dem Kuhteich. Leider hat der Krieg
alles zerstört.
So kochen wir am Niederrhein …
Esskultur
damals am
Niederrhein
Das Café Münster und Kuhtor um 1925
Rheingarten in Orsoy um 1930
419
Esskultur
damals am
Niederrhein
So kochen wir am Niederrhein …
Aus dem Kräutergarten
Karin Schlößer
Gartencenter Schlößer
In der heutigen Zeit, in der küchenfertige
Produkte, allerorts preiswert angeboten, sich
immer größerer Beliebtheit erfreuen, dürfen
wir uns ebenso auf eine leicht zu praktizierende, ausgewogene und gesunde Ernährung
mit frischen Kräutern freuen.
Vielen Menschen ist der Umgang mit frischen Kräutern nicht mehr vertraut. Ich
möchte Ihnen Mut machen, wieder danach
zu greifen und sie in die tägliche Nahrung zu
integrieren. Verschiedenste Kräuter lassen
sich nicht nur im Garten, sondern ebenso gut
im Balkonkasten oder im Blumentopf auf
der Fensterbank ziehen. Dabei ist egal, ob sie
ausgesät oder bereits als fertige Pflanze in
einem Fachhandel bezogen werden.
Oft verwendete Kräuter, besonders im
Frühjahr überall zu kaufen, sind Petersilie,
Schnittlauch, Oregano, Majoran, Thymian, Basilikum, Rosmarin und Liebstöckel. Daneben
gibt es natürlich noch eine große Auswahl anderer, sehr schmackhafter und wohltuender
Kräuter, die ich Ihnen gern ans Herz lege.
Gerade frische Kräuter enthalten viele
pflanzliche Stoffe, deren positive Wirkung wir
uns durch die Nahrung, in Tees, Bonbons
oder Heilmitteln zu Nutze machen können.
Ätherische Öle in Kräutern wie Kamille und
Arnika wirken entzündungshemmend, andere
wie Anis, Kümmel, Thymian und Fenchel wiederum verdauungsfördernd und erleichtern
das Abhusten von Schleim. Die sekundären
420
Pflanzenstoffe (Glucosinolate) sind in Heilpflanzen enthalten. Hierzu zählt auch die Pfefferminze, die wachstumshemmend auf
bestimmte Mikroorganismen wie Viren, Pilze
und Bakterien wirkt und dadurch bei Infektionskrankheiten, Erkältung und Grippe hilft. Zu
beachten ist, dass Kräuter wie Petersilie, Basilikum, Schnittlauch, alle Sorten Kresse, Dill,
Borretsch, Kerbel, Zitronenmelisse und Pimpinelle besser roh verzehrt, andere wie Beifuß,
Bohnenkraut, Oregano, Liebstöckel, Majoran
oder Thymian besser gekocht werden sollten,
da sie ihren vollen Geschmack erst beim
Garen entwickeln. Frische Kräuter sind Vitaminbomben und enthalten ein großes Potenzial anderer wertvoller Inhaltsstoffe. Um
diese so lange wie möglich zu erhalten, können die Kräuter frisch angeschnitten einige
Tage gut in einem Glas klarem Wasser im
Kühlschrank gelagert oder in ein feuchtes Tuch
gewickelt und mit einer Plastiktüte geschützt
in die Kühlung gegeben werden. Für den
Winter kann ich meine Kräuter einfrieren.
Hierzu werden sie frisch gewaschen, gehackt,
in einem Tuch getrocknet und in Portionen
eingefroren. Gut lassen sich die meisten vorbereiteten Kräuter auf einer Frischhaltefolie
breitflächig gefrieren und dann später in gefrorenem Zustand, in einem Behältnis gesammelt, ganz leicht portionieren.
Die häufigsten Kräuter möchte ich Ihnen
gern vorstellen:
Esskultur
damals am
Niederrhein
So kochen wir am Niederrhein …
Petersilie
Pizzagewürz nicht mehr weg zu denken, kann
Oregano ebenfalls zu Fischgerichten und in
Füllungen gegeben werden. Oregano passt
nahezu perfekt zu allen Tomatenspeisen. Als
traditionelles Heilmittel gegen Erkältung und
Verdauungsbeschwerden wird es ebenfalls als
Antiseptikum geschätzt.
Die Petersilie ist eins der bekanntesten Kräuter. Verwendung findet sie mit glattem Blatt
und kräftigem Geschmack oder mit krausem
Blatt und mildem Geschmack in fast jeder
Speise. Roh gehackt für Salate, als Verzierung
oder kurz vor Garende den Speisen zugefügt,
ist sie in unseren Speisen eine sehr aromatische und vitaminreiche Bereicherung.
Thymian
Schnittlauch
Thymian ist sehr vielseitig verwendbar, passt
zu Geflügel, Schalentieren, Lamm, Suppen,
Soßen, Gemüsen und Kartoffeln. Thymian
kann als Kräutertee mit Honig seine Wirkung
bei Bronchitis und anderen Katarrhen entfalten. Als Mundwasser hilft es uns gegen Zahnfleischentzündungen.
Basilikum
Schnittlauch, im Frühjahr frisch geerntet, vertreibt die Frühjahrsmüdigkeit, reinigt das Blut
und liefert uns obendrein noch Vitamin C. Oft
findet er als Zwiebelersatz oder klein geschnitten in Salaten und Dipps Verwendung.
Oregano
Dank seines betörenden, appetitanregenden
Aromas findet Oregano, auch Dost genannt, in
allen „Mittelmeerspeisen“ Verwendung. Als
Basilikum besticht ähnlich wie Oregano
durch seinen intensiven, Appetit fördernden
Duft. Sonnengereifte Tomaten, zarter Mozzarella, mit gutem Olivenöl und Meersalz angemacht, werden durch Basilikum mit seinem
zart pfeffrigen Duft zu einer kleinen Delikatesse. Sehr lecker und bekömmlich ist Basilikum auch als Schaumsüppchen zuzubereiten.
In der Heilkunde wird Basilikum vorwiegend
421
Esskultur
damals am
Niederrhein
bei Kopfschmerzen und seelischen Belastungen sowie bei Erkältungskrankheiten verwendet, da es die nächtliche Ruhe fördert und
entspannt. Weiterhin lindert es Bauchschmerzen und Menstruationsbeschwerden.
So kochen wir am Niederrhein …
Liebstöckel
Rosmarin
Es gibt kaum ein kulinarisches Gebiet, bei
dem Rosmarin nicht verwendet werden kann.
Geben Sie ihn frisch in kleinen Mengen zu
Marinaden bei Geflügel, Fisch und Fleisch
oder verwenden Sie ihn, mit Knoblauch kombiniert, zum Spicken von Lammbraten. Beim
Grillen in die Glut gelegt, weckt er mit dem
rauchigen, herb-süßen Aroma bereits im Vorfeld guten Appetit. Die zarten Blüten eignen
sich bestens für Salate oder zum Verzieren von
Speisen. Als Tee aufgebrüht entfaltet Rosmarin seine durchblutungsfördernde und herzkräftigende Wirkung. Als Salbe wird Rosmarin
auf Grund seiner hautreizenden und durchblutungsförderden Wirkung bei Rheumatismus und Nervenschmerzen verwendet.
Im Mundwasser hat Rosmarin keimtötende
Wirkung.
Liebstöckel wird auch liebevoll das Maggiekraut genannt. Es erinnert an den Geschmack
von Sellerie, ist jedoch schärfer und bitterer.
Liebstöckel kann als natürlicher „Maggieersatz“ an alle Speisen und Salate gegeben werden. Liebstöckel als Heilpflanze wirkt krampflösend, schleimlösend, harn- und schweißund wassertreibend. Es lindert daher Bronchitis, Husten, Mandelentzündungen, Blasenleiden, Nervosität, Rheuma, Gicht, Appetitlosigkeit und einiges mehr.
Majoran
Majoran ist ein deftiges Kraut, zu verwenden
in allen Kartoffelgerichten, Würsten und zu
Hülsenfrüchten. Durch seine Verwendung
beim Kochen hilft er, schwere Speisen zu verdauen, denn er fördert die Verdauungsorgane. Majoran kann sehr gut getrocknet und
zerkleinert für die kalte Jahreszeit aufbewahrt
werden. Äußerlich angewandt kann er in
Heilmitteln die Hautheilung fördern und Kopfschmerzen lindern. Bei Babys wird Majoran
heute noch gern zur Behandlung von Schnupfen und Blähungen verwendet.
Dies ist nur ein kleiner Auszug aus einer breiten Palette von Kräutern, die unsere Gerichte
geschmacklich deutlich verbessern. Regelmäßig gegessen, helfen sie Körper und Geist und
tun einfach nur gut.
422
So kochen wir am Niederrhein …
Esskultur
damals am
Niederrhein
423
Esskultur
damals am
Niederrhein
Bierbrauen am Orsoyerberg
Ein Besuch bei Wilfried und Elfriede Taprogge
Ein Geheimtipp ist die Adresse schon lange
nicht mehr, aber um sie auf Anhieb zu finden,
sollte man doch schon einmal dort gewesen
sein: Als letztes von drei Reihenhäusern liegt
das Haus versteckt hinter einer liebevoll mit
Pflanzen geschmückten Mauer. Alles atmet
hier freundlich umhegte Stille und fröhliche
Beschaulichkeit. Menschen, die gerne mal ein
Bier trinken und es sich wohl sein lassen,
würde man hier vermuten – aber ganz gewiss
keine Privatbrauerei!
Wie leicht man sich täuschen kann, erfährt man, wenn man nach einem herzlichen
Empfang durch Wilfried Taprogge und seine
Frau Elfriede in den Keller des Hauses geführt
wird. Gemütlich ist es hier, wie in einer alten
zünftigen Schenke. Die Gläser, die Biertheke,
die Bierkrüge – alles blitzt und glänzt, und
man spürt die Liebe, mit der hier das Biertrinken kultiviert, wenn nicht sogar zelebriert
424
So kochen wir am Niederrhein …
wird. Denn das Bier, das hier ausgeschenkt
und getrunken wird, ist kein gewöhnliches
Bier. Dieses Bier wird hier selbst gebraut.
Angefangen hat alles im Jahre 1996, als
der Fördermaschinist des Bergwerks Friedrich
Heinrich/Rheinland in den Vorruhestand trat.
„Damals brauchte ich eine Beschäftigung. Auf
den Geschmack gebracht haben mich dann
ein Buch übers Bierbrauen aus der Hobbythek
von Jean Pütz und der Besuch einer Bierbörse
in Moers“, erzählt Taprogge. Dort zeigte ein
Diplom-Braumeister, mit welch einfachen
Mitteln es auch für Anfänger möglich ist, ein
leckeres und gesundes Bier zu brauen. Zu
Hause machte er sich gleich an die Arbeit, besorgte sich die Zutaten – Bierhefe, Hopfen
und Gerste – aus einer Privatbrauerei, funktionierte sodann den Einkochtopf seiner Frau
zu einem Braukessel um, stellte noch ein 30Liter-Gefäß als Garbehälter dazu, und – fast –
fertig war die Hobbybrauanlage. Die gibt es
heute immer noch, allerdings nur zu Demonstrationszwecken, wenn Taprogge seine privaten Bierbrauseminare anbietet.
Der erste Schritt war getan, aber da in
Deutschland schließlich alles seine Ordnung
haben muss, fehlte noch das grüne Licht vom
Hauptzollamt. „Als Hobbybrauer muss man
sich registrieren lassen“, erklärt Taprogge.
Erst dann könne man loslegen, aber nicht unbegrenzt, denn mehr als 200 Liter Bier im Jahr
dürften Hobbybrauer nicht herstellen.
So kochen wir am Niederrhein …
Mit dem Einkochtopf seiner Frau war diese Menge aber nicht zu schaffen, und so baute
sich Taprogge im Laufe der Jahre eine hochprofessionelle Ausrüstung zusammen und richtete sich damit in einem Anbau ein, der heute
so etwas wie das „Allerheiligste“ des Hauses
ist: „Wilfried’s Bierklause“.
Esskultur
damals am
Niederrhein
Mittlerweile teilt auch seine Frau die Leidenschaft des Bierbrauens, und so darf das
Ehepaar jährlich 400 Liter privat produzieren,
alles darüber hinaus muss versteuert werden.
Geschmeckt hat ihm sein Bier – nach den
Töchtern Andrea und Bianca in Andrea Hell
und Bianca Dunkel benannt – von Anfang an.
Wobei es, erklärt der Fachmann, „kein
schlechtes Bier gibt“. Es sei eben alles eine
Frage des Geschmacks.
Was aber den Geschmack des Bieres
selbst betrifft, so sei „entscheidend für ihn die
Auswahl und Kombination verschiedener
Malzsorten“, erklärt Taprogge. Je nach- dem
wie lange das Malz, beispielsweise Gersten-,
Weizen- oder Roggenmalz, geröstet wurde,
ergibt es ein helleres oder dunkleres Bier mit
mehr oder weniger stark rauchigem Geschmack. Ebenso der Hopfen: Erhöht man die
425
Esskultur
damals am
Niederrhein
426
So kochen wir am Niederrhein …
So kochen wir am Niederrhein …
Menge, wird das Bier etwas bitterer. Die verschiedenen Rezepte hält die Hobbybrauerei
Taprogge akribisch in ihren Sudberichten fest.
Ganz wichtig für den Geschmack sei auch
das Wasser. Das beeinflusse natürlich das
Endprodukt, denn schließlich sei Wasser an
sich schon überall unterschiedlich. Deshalb
könne man, so Taprogge, „kein Bier nachbrauen, das geht einfach nicht“.
Wer sich in „Wilfried’s Bierklause“ umsieht, merkt schnell, dass aus dem umfunktionierten Einkochtopf und der improvisierten
Einrichtung eine professionelle Geschichte geworden ist. Stolz steht der Hobbybrauer neben
seinem Braukessel und zeigt auf all die blinkenden Hähne und Kessel, die vielen Leitungen und Schläuche und Temperaturanzeigen
… Von der gegenüberliegenden Wand grüßen
Esskultur
damals am
Niederrhein
die Brauereikollegen mit ihren Bierflaschen
und Bierdeckeln aus aller Herren Ländern.
Schon bald nach den ersten Versuchen
wurde das Hobby für Wilfried Taprogge zur Berufung. Und begeistert, wie er von seiner
Braukunst ist, will er natürlich auch andere
für seine Leidenschaft begeistern. Deshalb
bietet er seit einigen Jahren private Brauseminare an, bei denen Interessierte innerhalb von
sechs Stunden lernen, wie man schnell und
einfach selbst Bier brauen kann. Auch wer nur
zum Schnuppern vorbeikommen will, ist herzlich willkommen.
Wer also mehr über das Hobby des Bierbrauens erfahren möchte, kann Wilfried Taprogge unter der Adresse Peldener Straße 1 c,
47495 Rheinberg anschreiben oder unter der
Telefonnummer (02844) 840 anrufen.
427
Esskultur
damals am
Niederrhein
Seelennahrung aus der Dong
Sonja Raimann
Redakteurin der Niederrhein-Edition
Alljährlich ab Mitte Mai liegt über dem Gelände der „Alten Mühle in der Dong“ in Neukirchen-Vluyn eine von Vorfreude getragene
Spannung in der Luft. Die Vorbereitungen für
das „Festival der besten deutschsprachigen
Märchen- und Geschichtenerzähler“ laufen
auf Hochtouren. Die Pressekonferenz hat stattgefunden, Programmhefte, Handzettel und
Plakate werden verteilt und auch der Vorverkauf hat begonnen. Spätestens jetzt zählen die
Veranstalter und alle Beteiligten die Tage bis
zum ersten Juli-Wochenende.
Seit 2005 veranstalten der Neukirchener
Erziehungsverein und die Agentur Wirtschaftsund Gesellschaftskommunikation WBP – Bürger + Partner, unter der Schirmherrschaft der
Bundesfamilienministerin Frau Dr. Ursula von
der Leyen, am ersten Juli-Wochenende das
Festival, das sie selbst liebevoll „Märchenfesti-
428
So kochen wir am Niederrhein …
val“ nennen. Die WBP stellt als wirtschaftlicher Träger das Festivalgelände und hat darüber hinaus die Organisation und Koordination sowie die werbe- und gestaltungstechnische Arbeit übernommen. „Kinder sind die
Zukunft!“, „Kinder brauchen Förderung!“,
diese Aussagen sind hier keine Lippenbekenntnisse, denn die Erlöse des Festivals fließen zu 100 Prozent ausschließlich dem
Neukirchener Erziehungsverein, einem der
größten Kinderhilfswerke, und dessen sozialen Projekten zur Unterstützung bedürftiger
Kinder und Jugendlicher in Deutschland zu.
Herzblut und Leidenschaft ist es, was die Organisatoren jedes Jahr wieder von Neuem antreibt, nur die besten Erzähler auszuwählen
und einzuladen, den Park der Alten Mühle in
eine wunderbare Oase der Ruhe und Harmonie zu verwandeln und im Vorfeld doch noch
den einen oder anderen Sponsoren-Partner
für das Festival zu gewinnen – eine Aufgabe,
die sich leider nicht immer leicht gestaltet.
Und dennoch ist es ihnen in den vergangenen
Jahren immer wieder gelungen, mit den vorhandenen Mitteln ein einmaliges Erlebnis für
die Besucher zu schaffen, die mittlerweile
aus ganz Nordrhein-Westfalen und teilweise
auch aus anderen Bundesländern nach Neukirchen-Vluyn an den Niederrhein reisen. Im
Gepäck: die ganze Familie. Oma, Opa und
auch die jüngsten Familienmitglieder sind an
diesem ersten Wochenende im Juli mit von
der Partie, und so lauten viele Rückmeldungen der Besucher der vergangenen Jahre:
„Wir sind begeistert und kommen im nächsten Jahr bestimmt wieder und bringen dann
auch noch unsere Freunde mit!“
Eine Mühle und die 16 Besten
Jedes Jahr treten 16 der besten Märchenund Geschichtenerzähler zum internationalen
Wettstreit an und erzählen aus ihrem reichhaltigen Repertoire wunderschöne Märchen
und Geschichten aus der ganzen Welt. In einer
So kochen wir am Niederrhein …
grünen Oase inmitten von Schatten spendenden Bäumen scharen sich dann zwei Tage
lang an verschiedenen Plätzen kleine und
große Zuhörer um die Erzähler und lauschen
gebannt den Märchen und Geschichten, Fabeln und Sagen – nicht vorgelesen, sondern
lebendig erzählt. Die Atmosphäre und das
wunderbare Publikum sind es auch, was die
Erzählerinnen und Erzähler aus Deutschland,
Österreich, der Schweiz und den Benelux-Ländern am meisten an diesem Festival beeindruckt und weshalb sie auch ein weiteres Mal
gerne nach Neukirchen-Vluyn kommen.
Das „Festival der besten deutschsprachigen Märchen- und Geschichtenerzähler“ ist
mit seiner konsequenten Ausrichtung auf Kinder und Familien tatsächlich einmalig. Hier ist
für jeden etwas dabei. Nicht nur die Kleinen,
sondern auch die Erwachsenen und vor allem
Esskultur
damals am
Niederrhein
alle gemeinsam können an diesen Tagen völlig frei und unbehelligt abtauchen in die Welt
der Märchen, Geschichten und der eigenen
Phantasie. Ohne Übertreibung: Dieses Festival
ist ein Erlebnis für die ganze Familie!
Und die Organisatoren? „Selbstverständlich bedeutet die Organisation eines solchen
Festivals unglaublich viel Arbeit, aber die vielen positiven Rückmeldungen, die zufriedenen
Gesichter der Besucher und die strahlenden
Kinderaugen – das ist schon eine ganz besondere Erfahrung! Wir sind nach jedem Festival
unglaublich beseelt und dankbar, so dass wir
es gar nicht erwarten können, mit der Planung für das kommende Jahr zu beginnen“,
berichtet Carsten Rudius von der WBP – und
strahlt.
Weitere Informationen gibt’s im Internet
unter www.maerchen-festival.de
429
Esskultur
damals am
Niederrhein
Schloss Bloemersheim
Jeannette Freifrau von der Leyen
Neukirchen-Vluyn
Ein eigenes Schloss zu besitzen, das hört sich
ja glatt nach einem Märchen an. Für die Familie von Friedrich Freiherr von der Leyen ist
es Realität, aber auch eine Lebensaufgabe.
Schloss Bloemersheim befindet sich seit 1802
im Besitz der Familie. Und die 400 Hektar
Land, Wald und Forst, die darum liegen, wollen gepflegt und bewirtschaftet werden. So ist
430
So kochen wir am Niederrhein …
der Baron, wie er in der Region gern genannt
wird, als Gutsverwalter den ganzen Tag über
fleißig auf den Beinen. Denn er sieht überall
nach dem Rechten und sorgt dafür, dass alles
richtig läuft. Dabei kennt er sich zum Beispiel
mit der Reinhaltung von Teichen genauso gut
aus wie mit Apfelsortier-Maschinen.
Seine Erfahrung im Umgang mit Natur
und Technik kommt den Kunden zugute. Als
Unternehmer hat er mit 250 Hektar einen forstwirtschaftlichen Betrieb, der qualitativ hochwertiges Brenn- und Kaminholz anbietet. Sehr
beliebt sind auch die Erzeugnisse der 30 Hektar
So kochen wir am Niederrhein …
Obstplantagen. Äpfel, Birnen, Pflaumen, Kirschen, Heidelbeeren und Erdbeeren wachsen
dort je nach Saison. Kühl- und Lagermöglichkeiten bestehen mit einer Kapazität für 1100
Tonnen. Obst und Früchte frisch und direkt aus
der Region zu kaufen liegt im Trend.
Seit 1993 lädt Schloss Bloemersheim zu
klassischen Konzerten ein und öffnet sich so
der Öffentlichkeit. Das Programm wird in
Kooperation mit dem städtischen Kulturamt
ausgearbeitet.
Gemeinsam mit dem Stadtmarketing und
Werbering der Stadt Neukirchen-Vluyn findet
Esskultur
damals am
Niederrhein
alle zwei Jahre (auch in diesem Jahr, 2008,
wieder am 6. und 7. Dezember) ein großer
Weihnachtsmarkt auf dem Schlosshofgelände
statt. Ehrenamtlich ist Jeannette von der
Leyen, die Baronin, zudem engagiert mit den
„Literarischen Spaziergängen“ sowie der Organisation des jährlich stattfindenden Kindermusikfestivals Kloster Kamp. Auch bietet sie
regelmäßig Führungen durch den Obstbaubetrieb oder den Park an, die für Besuchergruppen organisiert werden.
431
Esskultur
damals am
Niederrhein
Das Christliche Jugenddorf
Niederrhein
„Keiner darf verloren gehen!“
Im zerbombten Nachkriegsdeutschland steht
Pastor Arnold Dannenmann im zerstörten
Stuttgarter Hauptbahnhof und sieht die jungen Menschen, die sich ohne perspektiv- und
chancenlos im Bahnhof aufhalten – und er hat
eine Vision: Diese jungen Leute brauchen ein
Dach über dem Kopf, eine warme Malzeit, ein
neues Zuhause, eine Zukunftsperspektive
Eines der Wohnhäuser,
in dem die Jugendlichen wohnen
432
So kochen wir am Niederrhein …
durch Bildung und Ausbildung und das Wissen um Gott, den Schöpfer des Lebens, der
jedes Leben zur Entfaltung bringen möchte.
So gründet Dannenmann 1947 in Stuttgart
das „Christliche Wohlfahrtwerk“ als gemeinnützigen Verband und eingetragenen Verein,
aus dem das CJD – Christliches Jugenddorfwerk Deutschlands e.V. hervorgegangen ist.
Arnold Dannemann stellte die Arbeit des
CJD unter das Motto „Keiner darf verloren
gehen“. Später wurde diesem Gründungsgedanken das Motto „Jedem seine Chance!“ hinzugefügt.
Jährlich nehmen mehr als 150 000 Menschen an über 150 Orten mit rund 8000 CJDMitarbeitenden die vielfältigen Angebote des
CJD wahr.
In den 1950er Jahren entstanden die großen Ruhrjugenddörfer. Im Ruhrgebiet fanden viele junge Menschen aus anderen Teilen
So kochen wir am Niederrhein …
Esskultur
damals am
Niederrhein
der Republik Ausbildungsmöglichkeiten im
Bergbau. Das CJD kümmerte sich um die Begleitung der Auszubildenden.
Hier lagen die Wurzeln auch für das CJD
Niederrhein auf dem damaligen Zechengelände Rheinpreußen.
Das CJD Berufsbildungswerk Niederrhein
bietet seit 1977 lernbehinderten jungen Menschen die Möglichkeit der Berufsvorbereitung
und der Ausbildung in zahlreichen Berufen
des Handwerks, der Industrie und der Dienstleistungen.
Ein wichtiger Bestandteil der Ausbildungspalette ist die behindertengerechte Ausbildung zum Teil- oder Beikoch sowie die
dreijährige Vollausbildung zum Koch oder zur
Köchin. Neben der praxisnahen praktischen
und theoretischen Ausbildung werden in besonderer Weise auch die seelischen und sozialen Fähigkeiten gefördert und gepflegt.
Dies wissen auch die mit dem CJD BBW Niederrhein eng kooperierenden Gastronomiebetriebe in der Region zu schätzen und heißen
gerne die erfolgreichen Absolventen als Mitarbeiter in ihren Betrieben willkommen.
Aktuell werden 38 Auszubildende in den
Berufen Teil-/Beikoch und Koch/Köchin im
Dienstleistungszentrum des CJD BBW Niederrhein ausgebildet, von denen fast jeder damit
rechnen kann, eine Anstellung zu bekommen.
Weitere Informationen gibt’s im Internet
unter www.cjd-bbw-niederrhein.de
Das neue Dienstleistungszentrum
Nach dem Kochen wird die Küche gereinigt
In dieser modernen Küche lernen und
arbeiten die Auszubildenden
Einsatz der Auszubildenden während der Jazztage
im Alten Lehrerhaus Friemersheim
433
Esskultur
damals am
Niederrhein
Ein „Schlüsselerlebnis“
der besonderen Art
Die JVA Moers-Kapellen
Schlüsselerlebnis 1
So kochen wir am Niederrhein …
wirkenden, schlanken und lebhaften Regierungsdirektorin spricht, lässt einen das
Beklemmende, das sich mit dem Begriff Gefängnis verbindet, rasch vergessen.
Der anfängliche Eindruck einer Idylle
verstärkt sich, wenn man das Innere der JVA
betreten hat. Ein Rundgang mit Frau Krüger
durch die um eine kleine gepflegte Parkanlage gruppierte Wohnanlage verdrängt vollends den Gedanken, in einer bewachten
Haftanstalt zu sein. Die Gefangenen, wie sie
hier genannt werden, bewegen sich wie „normale“ Menschen frei auf dem Gelände und
in den Häusern, doch nicht nur dort. Die
meisten gehen außerhalb der Anstalt einer
Arbeit nach – denn alle, die hier leben, sind
Freigänger, Menschen also, die zwar eine
Strafe verbüßen, aber im offenen Vollzug und
mit einem Rundumangebot sozialer und
menschlicher Betreuung. So verstehen sich
die meisten Bediensteten hier nicht in erster
Linie als Aufseher und Wächter, sondern als
Sozialarbeiter.
Elke Krüger in ihrer „Justizvollzugsoase“
Gefangen in ländlicher Idylle
Niemand würde vermuten, dass die kleine
Wohnanlage, die sich idyllisch zwischen Pferdeweiden und Bauernhöfen versteckt, ein
Gefängnis ist. Da gibt es keine Wachttürme
und mit Stacheldraht bewehrte Mauern und
auch keine Gitter vor den Fenstern. Nur die
Tafel vor dem mit Blumenbeeten geschmückten Pförtnerhaus verrät, dass man hier vor der
„Justizvollzugsanstalt Moers-Kapellen“ steht.
Erst wenn man die Eingangsschleuse passiert
und sich vor den uniformierten Beamten ausweisen muss, mag sich eine gewisse Beklemmung einstellen. Doch spätestens, wenn die
Anstaltsleiterin, Elke Krüger, den Besucher begrüßt, ist alle Bänglichkeit verflogen. Die Herzlichkeit, die aus jeder Geste dieser jugendlich
434
So kochen wir am Niederrhein …
Seinen sinnfälligsten Ausdruck findet dieses bemerkenswerte Selbstverständnis in dem
nicht minder bemerkenswerten Logo, das
sich auf Anregung von Elke Krüger die Anstalt,
genauer gesagt deren Bewohner und Bedienstete, selbst gegeben hat. JVA heißt in MoersKapellen: Jeder Verdient Achtung. Die Freundlichkeit des Umgangs miteinander und der
gegenseitige Respekt schaffen ein Klima der
Offenheit und Wärme, das Menschen gedeihen lässt. „Justizvollzugsoase“ wird sie denn
auch immer wieder genannt, und dies keineswegs abschätzig, sondern mit staunendem
Respekt. Und so hat es seit vielen Jahren keine
Gewalttätigkeiten unter den ca. 300 Gefangenen gegeben und auch sonst nur wenig, was
den inneren Frieden hätte ernsthaft gefährden
können.
Freier Blick ins Freie
Schlüsselerlebnis 2
In jedem Unternehmen ist die Küche außer
dem Arbeitsplatz der Ort, an dem sich entscheidet, wie ernst es die Unternehmensleitung mit ihren guten Vorsätzen wirklich
meint. So auch in Moers-Kapellen. Auch hier
ist es der Chef, der schon bei der Begrüßung
alle Zweifel an der J-V-A-Selbstverpflichtung
ausräumt.
Durchaus kein Mann der großen Worte
und dem Besucher gegenüber anfänglich eher
abwartend, sieht man Roland Bauer, den gelernten Bäcker und geschulter Koch, schon
bald lachen und den Humor in seinen Augen
Esskultur
damals am
Niederrhein
Roland Bauer beim „Schmieden“ der Teigschlüssel
blitzen, wenn es an die Arbeit geht. Doch
außer der täglichen Arbeit, die vor allem in
der Zubereitung von Frühstück, Mittagessen
und Abendbrot für die Häftlinge besteht, gibt
es in jedem Jahr etwas, auf das er sich mit
seinen 16 im Küchendienst tätigen Gefangenen besonders freut: das „Schmieden“ der
Teigschlüssel (siehe Rezept S. 314). Warum
ausgerechnet Schlüssel? „Weil sich gerade für
Gefangene mit dem Wort Schlüssel etwas
Besonderes verbindet“, erklärt Roland Bauer.
Und so sollte jeder hier seinen eigenen
Schlüssel haben – oder besser noch zwei:
einen zum Reinbeißen und einen zum Weitergeben. Welche Zeit könnte dafür besser geeignet sein als die Zeit um St. Martin, der sein
Herz aufschließt für fremde Not. Wo anderswo der „Weckmann“ die Kinderherzen erfreut,
sind es in Moers-Kapellen vor allem die „Teigschlüssel“, mit denen man zu den Kindern
draußen kommt.
Schlüsselerlebnis 3
Die „kleine Anstalt am Rande der Stadt“ –
eine liebevoll gemeinte Bezeichnung Elke
Krügers, die damit bisweilen ihre E-Mail-
435
Esskultur
damals am
Niederrhein
So kochen wir am Niederrhein …
Empfänger grüßt – hat jedoch noch ein Herz
im Zentrum von Moers schlagen, dort nämlich, wo bis Anfang 2005 der „Familienknast“
(der Name kommt von der familiären Atmosphäre, die dort herrschte) seinen Ort hatte:
im alten Hafthaus in der Haagstraße. Das
alte Gebäude mit seinen wuchtigen Mauern
sieht tatsächlich ein wenig aus wie ein Gefängnis; einige Fenster sind noch von innen
vergittert. Aber man stutzt und staunt: Da
hängt doch tatsächlich unter einem vergitterten Fenster frech ein Schild mit der Aufschrift
„Gitterstübchen“ und ein Fenster weiter steht
gar groß und einladend zu lesen: „geöffnet“.
Und so ist es auch. Dienstag und Donnerstag
von 10 bis 14.30 Uhr steht die Tür zum „Gitterstübchen“ für jedermann offen. Und auch
das hat’s schon gegeben, dass man „Schlange
stehen (musste) vor dem Knast“, wie eine örtliche Zeitung groß titelte. Das ist durchaus
keine Seltenheit. In der Adventszeit, wenn es
Geschenke zu kaufen gilt, können sich die „Insassen“ des Gitterstübchens bisweilen kaum
vor dem Ansturm retten. Hier werden nämlich
all die schönen Sachen verkauft, die die Gefangenen in liebevoller Kleinarbeit gebastelt
haben.
Besonders begehrt aber sind in diesen
Tagen neben den Weckmännern vor allem die
Teigschlüssel aus der Backstube von Roland
Bauer und seinen eifrigen Helfern. Als wohne
ihnen ein besonderer Zauber inne, gelingt es
der JVA Moers-Kapellen just mit ihnen, die
Türen zu den Herzen der Menschen aufzuschließen. Ein echtes Schlüsselerlebnis für die
Menschen in Moers!
Die selbst gebastelten Raben auf der Gartenbank
Blick durch das Fenster des Gitterstübchens
Sparstrümpfe warten auf kleine Sparer
436
So kochen wir am Niederrhein …
Beim Essen reden wir vom Sterben
und beim Sterben vom Essen
Hanns Dieter Hüsch
Luise, das Dienstmädchen bei Tante Liese
auf der Uerdingerstraße 21, blieb immer nur
bis nach dem Mittagessen, danach räumte
sie alles noch weg und spülte und fegte die
Küche aus, und dann fuhr sie nach Schwafheim zurück. Sie war scheu wie ein Reh, und
wenn Onkel Hein, der Schneider, beim Mittagessen mal einen Witz machte, wurde sie über
und über rot im Gesicht und am Hals. Sie
scheuerte nach dem Mittagessen auch noch
den Herd blitzblank, und zwar fuhr sie zuerst
mit einem dunkelgrünen, dicken Stift über
den Herd, schmierte damit die ganze Herdplatte ein, das stank zum Himmel, und dann
wienerte sie mit einem Tuch die Platte so
blank, daß man sich drin spiegeln konnte.
Neben dem alten Herd, der noch mit einer
Kohlenschaufel bedient wurde, und unter dem
Herd stand noch ein Kohlenkasten, neben
dem Herd stand eine Topfbank mit einer Gardine davor, und darüber hing der Handtuchhalter. Halt, zwischen der Topfbank und dem
alten Herd stand noch ein neuer Gasherd, auf
dem Tante Liese immer Unmengen von Obst
einmachte, in so einem ganz großen Kessel,
und da war ein Einsatz drin, wo man die Einmachgläser mit Kirschen, Pflaumen, Pfirsichen und Stachelbeeren unterbringen konnte.
Und zwischen dem Einmachglas und dem
Deckel mußte immer ein Weckgummi sein,
damit alles schön dicht hielt. Und Tante Liese
machte auch Schnibbelbohnen in einem ganz
Esskultur
damals am
Niederrhein
großen Tontopf ein, das gab dann später
Schnibbelbohnen mit Rindfleisch und Kartoffeln, und das Ganze war immer ein bißchen
säuerlich und schmeckte durcheinander besonders himmlisch. Auf dem neuen Gasherd
kochte Tante Liese auch immer die Muscheln
im November, und auch noch im Dezember.
Muscheln kann man ja in allen Monaten
essen, die ein R im Namen haben. Nachmittags wurden die Muscheln erst mal geschrappt, saubergemacht, und abends saßen
wir Männer um den Tisch herum, der jetzt
wieder an seinem richtigen Platz stand, und
warteten auf die Muscheln. Onkel Hein und
ich, wir saßen auf dem Sofa, er saß rechts,
und ich saß links, und neben mir am Kopfende saß mein Vater, und Tante Liese, wenn
sie sich überhaupt bei Muscheln setzte, saß
mir gegenüber und schmierte unzählige
Scheiben Schwarzbrot mit dick Butter.
Schwarzbrot mit dick Butter ist schon für sich
eine Delikatesse, aber zusammen mit Muscheln, die in einer feinen Soße mit viel Zwiebeln und Pfeffer lagen, ist das eine Lebensnotwendigkeit, und wir Männer lagen unverschämt nach immer neuen Muschelportionen
auf der Lauer, und Tante Liese war sehr guter
Dinge, wenn sie für ihre Männer kochen
konnte, und die fielen dann wie die Haie über
ihr Essen her. Und ich aß ja wie ein Landsknecht. Auch heute noch. Ich bin für eine
feine Gesellschaft ein Risiko. Ich weiß schon,
wie man sich benimmt, aber ich vergesse es
immer, wenn feine Dinge aufgetragen werden, und möchte dann am liebsten wie Burt
Lancaster in dem berühmten Film „Vera Cruz“
mir so einen knusprigen Hühnerschenkel
durch die Zähne ziehen, daß das Fett mir in
den Bart läuft, und möchte auch meinem reizenden Gegenüber, der Komtesse von Pfirsichburg, eine dunkelblaue Traube ins Dekollete
werfen, oder dem Geheimrat Kalk von Kalkstein langsam die Smokingfliege aufblättern
und ein Trostpflaster über seinen Mund kle-
437
Esskultur
damals am
Niederrhein
So kochen wir am Niederrhein …
ben, damit er zu kommandieren aufhört, und
dann möchte ich mich noch an den Kronleuchter hängen, hin und her schaukeln, um dann
schließlich mitten in die große Geburtstagstorte hineinzuspringen. So einer bin ich heute.
Und das hat am Tisch bei Tante Liese mit den
Muscheln angefangen. Lang, lang ist’s her,
aber immerhin einmal sittenlos, immer sittenlos. Ich hab nämlich damals die Muscheln,
wie es die meisten sonst handhaben, nicht
mit einer leeren Muschel als Zange aus ihrem
Gehäuse gezupft, sondern die Muschel schön
in ihrem Teil des Gehäuses gelassen, die Schale samt Muschel dann durch den pikanten Sud
gezogen, und dann die Muschel samt Sud, wie
die Auster des kleinen Mannes, locker heruntergeschlürft. Lecker. Dieserhalb bin ich mal in
Essen in einer einfachen Wirtschaft rausgeflogen, weil der Wirt mir beibringen wollte, wie
man anständig Muscheln ißt, eben, daß man
das leere Gehäuse als Zange benutzt und
dann möglichst mit spitzen Fingern die Muschel herbei-, also an sich heranzieht, um sie
dann dezent in den Mund zu geben.
Sehen Sie, hab ich diesem Pädagogen
unter den Gastronomen gesagt, sehen Sie,
Hanns Dieter Hüsch.
Gemälde von
Gerhard Wurzler, Moers
438
und genau das mache ich nicht, ich bin nicht
jahrelang bei meiner Tante Liese in Moers auf
der Uerdingerstraße 21 in die Muschellehre
gegangen, daß Sie mir jetzt in Essen Ihre bezaubernden Ratschläge, wie man Muscheln
adäquat ißt, um die Ohren hauen.
Da hätten Sie was erleben können. Da hat
dieser Wirtschaftserzieher, dieser Muschelgesellschaftslehrer, sich aufgebäumt und hat um
sich gerudert und vor lauter Entrüstung drei
Worte auf einmal gesagt, das könne er in seinem Haus nicht einreißen lassen, wir sollten
gefälligst woanders hingehn, mein alter Freund
Helmut Ruge, Kabarettist und Feinschmecker,
war noch dabei, und wir bräuchten uns in seinem Lokal nicht mehr blicken zu lassen, Muscheln esse man auf der ganzen Welt anders,
und das müsse er sich nicht antun, und auf
Nimmerwiedersehen, die Herren. Ich kann
Ihnen das Lokal zeigen. Es liegt ganz in der
Nähe vom Essener Jugendzentrum in der
Papestraße. War das ein Spaß. Und vielleicht
ißt man Muscheln wirklich anders, aber mir
schmecken sie so gegessen am besten, und
man ißt ja auch immer ein Stückchen Erinnerung mit. Und auf dem Sofa an Tante Lieses
Hanns Dieter Hüsch-Stele
vor der Buchhandlung
Spaethe in Moers
So kochen wir am Niederrhein …
Tisch in der gemütlichen Wohnküche hat mir
sowieso damals alles am besten geschmeckt,
obwohl die Linsensuppe bei Tante Anna, wo
ich samstags zum Baden hinging, denn die
hatten in der Lessingstraße 25 schon ein richtiges Bad, die Linsensuppe, ein ganzer Teller,
der extra immer samstags für mich übriggelassen wurde, mit einem Schuß Essig dran,
war ganz große Klasse. Aber Tante Liese
machte auch alles so raffinierte Geschichten.
Es waren eigentlich alles ganz einfache Sachen, wie Hasenpfeffer und Kuschelemusch,
aber wie sie das machte und was sie darantat,
das schmeckte einfach alles. Kuschelemusch,
das war eine Mischung aus Stockfisch und
Kartoffeln, und ich konnte davon Berge essen.
Linsensuppe mit Blutwurst
•
500 g Linsen
•
500 g Kartoffeln
•
Suppengrün
•
500 g Blutwurst
•
Salz, Pfeffer
Die Linsen in reichlich Wasser möglichst über
Nacht einweichen. Die Kartoffeln schälen und
würfeln und mit den Linsen und dem Suppengrün in 1 Liter kaltem Wasser aufsetzen, aufkochen und langsam gar köcheln.
Anschließend die Blutwurst dazugeben
und mit Salz und Pfeffer kräftig abschmecken.
Esskultur
damals am
Niederrhein
rheiner können doch stundenlang erzählen,
was wir gern essen und was wir nicht so gern
essen und wie der gestorben ist und woran,
und wie lang das gedauert hat, und welcher
Arzt das alles verpfuscht hat, und wer schließlich das Ganze erbt, und daß gar nichts mehr
da ist, weil, alles ist für die Operation draufgegangen, und wir hatten am Sonntag Dicke
Bohnen. Das wird alles durcheinandererzählt,
genauso wie ich hier mein Leben erzähle.
Beim Essen reden wir vom Sterben, und beim
Sterben reden wir vom Essen:
Du mußt jetzt tüchtig was essen, es kommen jetzt schwere Tage auf dich zu. Und gerade wer trauert, muß zwischendurch tüchtig
was essen, sonst stehst du das gar nicht durch.
Und vom Hungern wird der Hein ja auch
nich wieder lebendig. Da mußt du schon was
zwischen den Rippen haben.
Ja, beim Sterben reden sie vom Essen,
und auf den großen Familiengeburtstagsfesten, wo immer viel gegessen wird, da reden
sie vom Sterben. Das kommt wohl, weil wir
alle immer aus einem Dorf sind. Das wird es
sein, und deshalb ist das in anderen Landstrichen genauso.
Aus: Hanns Dieter Hüsch, Du kommst auch drin vor.
Gedanken eines fahrenden Poeten, Klartext Verlag,
Essen 2008. Abdruck mit freundlicher Genehmigung
von Chris Rasche-Hüsch.
Warum erzähle ich eigentlich immer so viel
vom Essen? Ich weiß nicht, ob es ganz stimmt,
aber mein saarländischer Freund aus Dortmund, Karl-Heinz Schmieding, Hauptabteilungsleiter beim Saarländischen Rundfunk,
Unterhaltung, hat mal zu mir gesagt: Ihr Niederrheiner habt, genau besehen, immer nur
zwei große Themen: Essen und Sterben.
Zuerst hab ich einen Schrecken bekommen, aber nach ein paar Tagen mußte ich mir
sagen, etwas ist da dran: Essen als Verdauung
und Sterben als Verwesung. Denn wir Nieder-
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Freunde
und
Förderer
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