Einführung - Bertz + Fischer Verlag

Transcription

Einführung - Bertz + Fischer Verlag
Kino und Identität
Einführung
»In Italien zuerst [...] erhebt sich mit
voller Macht das Subjektive; der Mensch
wird geistiges Individuum und erkennt
sich als solches.«
Jacob Burckhardt, Die Kultur der
Renaissance in Italien (1860)
F
ür Michel Foucault beginnt die Krise der
Identität im 18. Jahrhundert, mit dem
Aufkommen des Kapitalismus und dem Erstarken der Bourgeoisie, gleichzeitig mit einer
Reglementierung des Sex, worunter Umfassenderes zu verstehen ist, etwa im Sinne von
Sexus, denn »wenn der Sex mit solcher Strenge unterdrückt wird, so deshalb, weil er mit
einer allgemeinen und intensiven Arbeitsordnung unvereinbar ist; wie konnte man in einer Epoche, wo man systematisch die Arbeitskraft ausbeutete, zulassen, dass sie sich
in Lüsten erging – außer in jenen minimalen,
die für ihre Reproduktion sorgten?«, heißt in
Sexualität und Wahrheit.
Die Krise der Identität wurde spätestens
mit der Romantik offenbar und durch die von
ihr geschaffenen Gestalten populär. Im Zentrum das gespaltene Ich. Dr. Jekyll und Mr.
Hyde. Der Doppelgänger. Der Mann ohne
Schatten. Frankenstein. Die Puppe Olimpia,
die immer nur »Ach, ach« sagt, in die sich
aber ein Nathanael wider alle Logik zum Sterben verliebt – alles Sujets, die sich ein Jahrhundert später in neuer Frische, als wären sie
von heute, im Kino wiederfinden. Ganz offensichtlich ist das Kino selbst ein Kind der Iden-
Einführung
titätskrisen der Epoche, ein Wechselbalg, gezeugt aus der Sehnsucht nach Verdoppelung
und Festnageln der Zeit – das Vergangene noch
einmal und noch einmal in Bewegung setzen
– und geboren aus der Vernunft einer fortschreitenden Technik, die für sich keine Grenzen anerkennt und ja inzwischen schon, wie
bekannt, beim Cyberspace angekommen ist.
Von Anfang an war das Kino ein Mehrfaches: Abbild und Illusion. Magie und Entzauberung. Täuschung und Vortäuschung. Und
im Gegensatz zum Theater, das immer ein
symbolischer Raum war, die Behauptung von
Realität und Gegenwart. Und außerdem und
überdies nichts weiter als ein Bündel Licht.
Trotzdem kann ich mich im Kino an fremde
Identitäten ja auch verlieren; ich kann mich in
Bewegung setzen, ohne mich selbst bewegen
zu müssen, »frei fast wie im Traum« (Irmbert
Schenk im Vorwort). Kann diesen fremden
Identitäten beim Wechseln ihrer Identität zusehen und meine Identität mit ihnen wechseln, ohne dass es Folgen für mich hat. Und
was ich sehe im Kino, sind Körper, immer nur
Körper, ob nackt oder bekleidet; Körper besitzen eine Ausstrahlung, sie haben Sinnlichkeit, die ist nicht immer Sex, aber oft auch
dies. Vielleicht ist Kino auch dazu da, die
eigene Sinnlichkeit, den eigenen Körper von
Zeit zu Zeit neu zu finden.
Aber ein Körper ist noch etwas ganz Anderes: Er »ist nicht mehr länger der Ort des
Natürlichen, Authentischen, Eigentlichen, zu
dem ihn das aufkommende bürgerliche Denken im 18. Jahrhundert stilisierte; er ist vielmehr ein Konstrukt, eine offene Projektionsfläche für historisch wechselnde Einschreibungen, die sich in dem weiten Spannungsfeld zwischen Natur und Artefakt bewegen.
9
Willi Karow
Die biologisch-anatomische Basis des Körpers
verliert im Zuge dieser programmatischen
Entgrenzung an Stabilität; seine materielle
Seite verflüssigt sich. Gleichzeitig wird der
Körper aus seiner passiven Fixierung entlassen; er wird als potentiell veränderbar begriffen und kann in Akten der Grenzüberschreitung zwischen Realität und Fiktion partiell
neu entworfen werden.« (Pia Müller-Tamm
und Katharina Sykora in dem von ihnen herausgegebenen Buch/Katalog Puppen Körper
Automaten. Phantasmen der Moderne)
Es ist schon paradox: Es gibt keine Identität, aber wir können uns ohne eine trotzdem
nicht denken. Aufgrund dieses Widerspruchs
befindet sie sich in der Krise und auch, weil
sie aus vielen verschiedenen Identitäten besteht, die sich alle auch in verschiedenen Krisen befinden – wo ist da noch das Individuum
zu finden, bei soviel Wirrwarr? (Wo bleibt die
Gesellschaft, sofern sie ein kollektives Individuum ist?)
Folgende Anekdote erzählt Siegfried Kaltenecker (in spiegelformen. männlichkeit und
differenz im kino): »Zwei kleine Kinder betrachten ein Gemälde von Adam und Eva.
›Welcher von den beiden ist der Mann und
welche die Frau?‹, fragt das eine Kind, worauf
das andere entgegnet: ›Ich kann es nicht sagen
– sie haben keine Kleider an.‹« Die Nutzanwendung verschweigt Kaltenecker nicht: »Die
kindliche Unfähigkeit, das Bild der nackten
Körper ›richtig‹ zu lesen, entspringt nämlich
einem Verkennen, dem eine heimliche Erkenntnis innewohnt. Ideologiekritisch gewendet, entpuppt sich ihre vermeintliche Blindheit als eine Art von seherischer Gabe, die die
sexuelle Identifikation als herrschaftliches
Konstrukt zu entlarven vermag.« Mit anderen
10
Wo/Man
Worten: Erst die Kleider machen Mann und
Frau. Oder mit Kaltenecker: »Durch die Brille der Dekonstruktion betrachtet, ist die Natur des Geschlechts, die die Kinder nicht zu
identifizieren vermögen, tatsächlich nicht da,
denn sie entspringt keiner biologischen Wahrheit, sondern einer soziokulturellen Normierung.«
Er spricht in diesem Zusammenhang von
der »Zwanghaftigkeit der patriarchalen ZweiGeschlechter-Ordnung«. Das ist nun – wie
die »Identität« – auch wieder so eine Konstante, nur dass diese Konstante, verglichen
mit der sich in viele Identitäten auffächernden Identität, äußerst stabil zu sein scheint.
Was bedeutet das für die Filme von heute,
speziell für die des Mainstream? Spiegeln sie
diese »Zwanghaftigkeit der patriarchalen ZweiGeschlechter-Ordnung« unverwandt wider,
oder gibt es inzwischen Differenzierungen?
Und welche Modelle des Zugangs, der Interpretation, der Analyse werden neu entwickelt
oder bevorzugt eingesetzt bei der Betrachtung
der Kinolandschaft der Gegenwart? Man kennt
beispielsweise den ideologiekritischen oder
den feministischen Ansatz. Welche Rolle spielen sie heute noch?
Dass ein Symposium zum Thema »Kino
und Identität«, auch wenn es sich, wie Schenk
im Vorwort ausführt, auf »die Frage des Geschlechterverhältnisses und der Veränderungen oder Brüche der filmisch präsentierten
Geschlechterrollen [...] konzentriert«, keine
endgültigen oder auch nur umfassenden Antworten geben kann, versteht sich von selbst.
Der Reiz dieser seit sieben Jahren jährlich
vom Kommunalkino Bremen (dem Kino 46),
der Universität Bremen, dem Nordwest Radio und dem Medienzentrum Bremen ge-
Kino und Identität
meinsam verantworteten Veranstaltung, an
der neuerdings auch die Universität Oldenburg beteiligt ist, liegt ja gerade darin, dass ein
breites Spektrum unterschiedlicher Positionen angeboten wird, die – und das erhöht
noch ihren Reiz – zu lebhaften Debatten führen, die im Buch wiederzugeben verständlicherweise nicht möglich ist. Der vorliegende
Band versammelt vielmehr die in Bremen gehaltenen Referate, meist leicht von der Redein die Schriftform verändert, ergänzt durch
zwei Beiträge – von Claudia Lenssen und Sabine Nessel –, die eigens für dieses Buch geschrieben wurden.
Der Leser wird rasch herausfinden, dass
es keine einheitliche Position in diesen Texten gibt. Die Ansätze sind unterschiedlich,
die Wege der Darbietung ebenfalls, neben
analytischen stehen solche, die ihren Gegenstand eher reflektierend behandeln; detailpräzise Darlegungen einzelner Filme auf der
einen Seite, generalisierende Überblicke auf
der anderen. Jedoch herrscht trotzdem keine
postmoderne Beliebigkeit. Die Autoren entwickeln und entfalten unabhängig von gängigen Theorien eine je eigene Sichtweise. Diese
unterschiedlichen Perspektiven, filmisch gesprochen: Blicke, auf ein und dasselbe Thema
machen die Lektüre für den Leser, wie zu
hoffen, so spannend, dass er zu eigenem Weiterdenken sich angeregt findet. Das wäre
nicht das schlechteste Ergebnis eines solchen
Symposiums.
Elisabeth Bronfen, mit deren Beitrag der
Reigen der Texte eröffnet wird, spürt »männlichen Halluzinationen« und »weiblicher Vernunft« nach. Sie geht von E.T.A. Hoffmanns
Erzählung Der Sandmann aus, in welcher der
Student Nathanael sich unsterblich in die
Einführung
Puppe Olimpia, verliebt, eine Halluzination,
die Klara, seine Braut, ihm (vergeblich) auszureden sucht. Für Bronfen ist diese Klara
eine bisher von der Literaturbetrachtung noch
nicht genügend gewürdigte Figur. Sie stellt
neben der hysterischen Tochter und dem in
ständiger Krise befindlichen Sohn der bürgerlichen Familie die vernünftige und lebensfähige Tochter dar, ein Korrektiv und Gegenentwurf, vor allem in Bezug auf die in Krise
geratene Männlichkeit. Eine zeitgenössische
Umschrift der Figur der Klara findet Bronfen
in EYES WIDE SHUT (1999), dem letzten Film
von Stanley Kubrick, in der Figur der Alice
(Nicole Kidman), der Frau von Bill (Tom
Cruise), dessen unreifen Träumen sie mit
Langmut und Überlegenheit begegnet. Auch
Marla Singer (Helena Bonham Carter) in David Finchers FIGHT CLUB (1999) stellt eine
Intervention in die Halluzinationen des Helden (Edward Norton) dar. Nur sind die Verhältnisse hier komplexer, denn Marla ist ebenso eine Projektion des Ich-Erzählers (Norton)
wie sein Doppelgänger Tyler (Brad Pitt).
Für Richard Dyer besteht der Verdacht,
»dass Serienmord etwas mit Weiß-Sein zu
tun haben müsse. Etwas, das auf nette normale Männer zutrifft, die weder Genies sind
noch Abschaum, sondern schlicht weiße
Durchschnittstypen.« Er stellt deshalb die
Frage: »Warum sind Serienmörder weiß?«
Und spezifiziert sie: »Warum sind so viele
unter ihnen homosexuell?« Und er weiß –
nicht nur aus den Filmen, die er zitiert, sondern auch aus vielen Berichten über Serienmörder –, dass die Opfer unerwähnt oder
anonym bleiben, jedenfalls spielen sie keine
Rolle: »Warum sind die Opfer nicht interessant?« Serienmörder sind trotzdem eher sel11
Willi Karow
ten, dennoch: »Serienmord wirft ein grausiges Licht – [...] auf die spezifische Konfiguration von Werten in der heutigen Gesellschaft.« So einer seiner Schlüsse.
Eine der schönsten Darstellungen des Liebesaktes findet sich nach Thomas Koebner in
Nicolas Roegs DON’T LOOK NOW (Wenn die
Gondeln Trauer tragen; 1973), wo die beiden
Schauspieler, Julie Christie und Donald Sutherland, weil beide ähnlich schlank sind, auch
ihr Teint annähernd derselbe, und das Licht
entsprechend gedämpft, so miteinander zu
verschmelzen scheinen, »dass ein intensives
Erlebnis erotisch-sexueller Übereinstimmung«
entsteht. Eine Ausnahme nach Koebner. In
der Regel bleiben Mann und Frau, was sie
sind: Mann und Frau. Da hilft auch kein crossdressing, oder es hilft nur scheinbar, für den
Augenblick, und meist nur in der Komödie.
In die Tiefe der Filmgeschichte kehrt Koebner
zurück, zu CHARLEYS TANTE (1955; R: Hans
Quest), VIKTOR UND VIKTORIA (1933; R: Reinhold Schünzel), TOOTSIE (1982; R: Sydney
Pollack), MOROCCO (Marokko; 1930; R: Josef
von Sternberg). Existentiell wird crossdressing
beispielsweise in dem Dokumentarfilm PARIS
IS BURNING (Paris brennt; 1990; R: Jennie
Linvingston), tragische Dimensionen erhält es
in den Spielfilmen THE CRYING GAME (1992;
R: Neil Jordan) und M. BUTTERFLY (1993;
R: David Cronenberg).
Während für Koebner M. BUTTERFLY eine
Spielart des amour fou verkörpert, geht es
Eva Warth in ihrer umfangreichen Analyse
dieses Films von Cronenberg um die Inszenierung von Fantasien und die »Verschränkung von öffentlicher und subjektiver Fantasie«. Dies im Kontext des individuellen Begehrens und der Geschlechterdifferenz. Der
12
Wo/Man
andere von ihr auf Blickrichtung und Begehren hin analysierte Film ist STRANGE DAYS
(1995) von Kathryn Bigelow. Beides sind für
Warth nicht bloß Filme, die den Geschlechterdiskurs thematisieren, in ihnen wird mithilfe »von Geschlechterdifferenz beziehungsweise geschlechtsspezifisch codierter Blickorganisation« das Medium Film selbst zum
Thema. Besonders deutlich wird dies in
STRANGE DAYS, wo die Darstellung von Zeit,
die Tatsache also, dass es Vergangenheit und
Zukunft gibt, mithilfe des Films geschieht,
während die technische Innovation SQUID
ein Medium darstellt, in dem alles nur noch
simultan, also Gegenwart ist.
Jens Thiele beschreibt die Filme BILLY
ELLIOT (2000; R: Stephen Daldry) und GIRLFIGHT (2000; R: Karyn Kusama) im Hinblick
auf das Erwachsenwerden zweier Jugendlicher Ende des 20. Jahrhunderts. Er konstatiert eine veränderte Perspektive, denn der
»filmische Blick auf Körper und Geschlecht
verläuft [...] weniger spektakulär als etwa
noch in den 90er Jahren«. Weniger aufs Exotische, Fremde, Andere gerichtet. Dabei sind
Billy Elliot, weil er tanzen lernen will, was
man in seiner Umgebung als Junge nicht wollen sollte, und Diana Guzman, die als Mädchen boxen lernen möchte, durchaus Außenseiter in ihrem Milieu. Das für Thiele jedoch
Entscheidende: »Konflikte um Körper, Geschlecht und Identität werden [...] aus dem
Alltag heraus begründet, aus sehr genauen,
individuellen Milieustudien heraus, die weit
entfernt sind von universellen Weiblichkeitsund Männlichkeitsmodellen.«
Es geht in den Filmen von Pedro Almodóvar nicht primär um Körper und Geschlecht,
so Josep Lluis Fecé Gómez in seinem Beitrag.
Kino und Identität
Nicht jedenfalls für ihn und andere Spanier.
Für sie ist Almodóvar vor allem der Schöpfer
spanischer Identitäten. Seine Filme, aus bestimmten kulturellen Quellen schöpfend, spiegeln, so Fecé Gómez, die Identität bestimmter spanischer Klassen wieder. Ein Film wie
PEPI, LUCI, BOM Y OTRAS CHICAS DEL MONTON (Pepi, Luci, Bom; 1980; R: Pedro Almodóvar) (den die Teilnehmer des Symposiums zu sehen bekamen, wie überhaupt die
meisten der in den Referaten eingehender vorgestellten Filme) spiegelt somit in erster Linie
das Lebensgefühl der jungen Generation in
der frühen Nach-Franco-Zeit, die neue (nicht
für politische Zwecke genutzte) Freiheit, eine
Freiheit von Zwängen, eine, die sich weitgehend auf den Gebrauch von Drogen und das
ungehemmte Ausleben von Sexualität beschränkt. Nach Fecé Gómez sind Bom und
Pepi, die beiden eigenwilligen, lebenssprühenden jungen Frauen, die zentralen Leitfiguren; mit ihnen, ihrer Lebensweise hat sich die
Generation von damals identifiziert.
Den eigenen Körper wieder spüren, ihn
wieder in seiner Geschlechtlichkeit spüren,
sich selbst dadurch neu empfinden sowie erkennen dürfen, dass Altern und Sexualität
nicht notwendig unvereinbar miteinander
sind, das zu erleben war das Motiv für Birgit
Heins Reisen nach Jamaika. In einem Film
gab sie ihren Erfahrungen Gestalt: BABY I
WILL MAKE YOU SWEAT (1995). Der Film
sorgte (wie die meisten Filme von Hein) für
heftige Kontroversen. Auch Robin Curtis
macht in ihrer Analyse des Films aus ihrer
ambivalenten Haltung keinen Hehl. Das hindert sie indes keineswegs, ausführlich auf die
Intentionen des Films einzugehen. Sie interpretiert ihn als ein Beispiel für »die Bedeu-
Einführung
tung des Körpers in autobiografischen Werken der Avantgarde«.
»Vor acht Jahren habe ich wie alle anderen
über den BEWEGTEN MANN [1994; R: Sönke
Wortmann] gejubelt.« Heute ist Dietrich
Kuhlbrodt das peinlich. Er erläutert, warum.
Und er meint dabei nicht nur diesen einen
Film, sondern den ganzen Schwung der sich
so schwungvoll gebenden neudeutschen Komödien der 90er Jahre. Er wirft ihnen vor,
dass sie nur so taten, als würden sie die Karten im Geschlechterpoker neu mischen, in
Wirklichkeit sind sie »altbacken«, »altneue buddie movies«, »moralische und ästhetische Fastfoodkultur«. Er greift drei Beispiele heraus:
DIE MUSTERKNABEN (1998; R: Ralf Huettner), ROSSINI (1997; R: Helmut Dietl) und
HÄRTETEST (1998; R: Janek Rieke) – letzteren lässt er allerdings partiell gelten – und
setzt dagegen drei ältere Filme: WIE SICH
DER KIENTOP RÄCHT (1912/13; R: Gustav
Trautschold), EKSTASE (1932; R: Gustav Machatý) und HOTEL SACHER (1939; R: Erich
Engel), Filme, die das enthalten, was die neudeutsche Komödie vermissen lässt: Engagement, Tabubruch und/oder den doppelten
Boden, den Subtext.
Ähnlich wie in den Filmen, die Jens Thiele
analysiert, geht es auch in Laetitia Massons
Arbeiten, deren Analyse Sabine Nessel mit
ihrem Text beisteuert, um Menschen, die ihren Platz im Leben erst noch finden müssen.
Das ist freilich schon fast die ganze Übereinstimmung, denn es handelt sich bei den Frauen in EN AVOIR (OU PAS) (Haben [oder nicht];
1995), A VENDRE (Zu verkaufen; 1998) und
LOVE ME (2000) nicht mehr um Jugendliche,
sondern um junge Erwachsene, und die Filme
sind auch keine Biografien, sondern vielmehr
13
Willi Karow
eher Situationsbeschreibungen, Ausschnitte
aus einem Leben, das sich schon vorher entwickelt hat. Sie bilden eine Trilogie; Sandrine
Kiberlain verkörpert jeweils die Protagonistin,
und es ist wieder jeweils eine Krise der Identität, eine »Schräglage«, wie Nessel es nennt, in
welche die junge Frau gerät. Die Geschichten
werden von der Regisseurin mit von Film zu
Film wechselnder Akzentuierung und aus anderen Blickwinkeln geschildert. Dabei wird
die Struktur der Filme zunehmend komplexer. Kein Mainstream-Kino.
Inwieweit die Filme, über die Claudia
Lenssen einen Überblick gibt, dem Mainstream angehören, spielt nur am Rande eine
Rolle. Ihr geht es eher darum, einen Trend zu
markieren, egal wo er sich manifestiert, ob im
Mainstream, im Kurzfilm oder im AutorInnen-Kino. Dieser Trend besagt, dass in den
Filmen nach der Jahrtausendwende die Familie als Hort oder Bleibe, aber auch als Ort der
Auseinandersetzung immer unwichtiger wird.
Schon in den Filmen, die Jens Thiele beschreibt, ist die Familie nur noch rudimentär,
bei Masson kommt sie auch nur am Rande
vor. Lenssen führt eine Fülle von Beispielen
an, die das Verschwinden der Familie belegen. »Losgelassene Mädchen« nennt sie diese
Halbwüchsigen, die als Vertraute nur noch
die Freundin akzeptieren und ansonsten ihren
Weg lieber alleine gehen.
Den Zusammenhängen zwischen Geschlecht, Gewalt und Geschäft spürt Georg
Seeßlen nach. Sein Essay geht dabei weniger
auf einzelne Filmbeispiele ein, vielmehr bringt
er Grundsätzliches zur Sprache. Er beschreibt
die Produktion populärer Kultur als einen
Kreislauf. Vereinfacht ausgedrückt, produziert die Gesellschaft die Massenkultur, diese
14
Wo/Man
ihrerseits produziert aber wieder auch die
Gesellschaft. Seeßlen verweist auf zahlreiche
Paradoxien der Bilder-Fabrikation, die sich,
wieder verkürzt gesagt, spiralförmig entwickelt und dadurch an Dynamik gewinnt, denn
um attraktiv zu bleiben und nicht an Reiz zu
verlieren, radikalisiert sich die Bilder-Produktion zunehmend, obwohl sie doch eigentlich
dazu da ist, die Paarbildung und damit die
bürgerliche Ordnung zu garantieren. »Was
aber tut die so paradox pornografisierte und
gewaltkranke Maschine zur Produktion der
Geschlechter, der Paare, der Familien und
Ordnungen? Sie produziert weiter [...]. Als
wäre es das Normalste der Welt. Sie produziert Hysterie und Langeweile, das Paar und
seinen Zerfall, die Ordnung und ihre innere
Leere.« – Fürwahr, ein finsterer Abgesang.
Kann uns Edgar Morin trösten, der 1956
in Der Mensch und das Kino in Hinblick auf
uns Zuschauer schrieb: »Die Identifikation
mit dem Ähnlichen und die Identifikation mit
dem Wesensfremden werden also beide durch
den Film erregt, und dieser zweite Aspekt
sticht sehr scharf gegen die Partizipationen
des realen Lebens ab [...]. Das Kino ebenso
wie der Traum, wie die Phantasie weckt und
enthüllt schambehaftete, heimliche Identifikationen [...]«? Wenigstens das?
Willi Karow