Außerordentliche betriebsbedingte Kündigung mit sozialer
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Außerordentliche betriebsbedingte Kündigung mit sozialer
Außerordentliche betriebsbedingte Kündigung mit sozialer Auslauffrist bei ordentlicher Unkündbarkeit Eine außerordentliche betriebsbedingte Kündigung mit sozialer Auslauffrist, die eine tariflich ausgeschlossene ordentliche Kündigung ersetzt, ist auf extreme Ausnahmefälle begrenzt und kommt nur dann in Betracht, wenn alle zumutbaren, eine Weiterbeschäftigung ermöglichenden Mittel und Maßnahmen – ggf. auch durch Umorganisation des Betriebs, unter Berücksichtigung alternativer Konzepte oder nach Umschulung – ausgeschöpft sind. Das Fehlen jeglicher, auch anderweitiger sinnvoller Beschäftigungsmöglichkeiten zählt dabei zum wichtigen Grund iSd. § 626 Abs. 1 BGB und ist vom Arbeitgeber darzulegen1. Die tarifvertragliche Vereinbarung ordentlicher Unkündbarkeit in § 4.4 des Manteltarifvertrags für Beschäftigte zum ERA-Tarifvertrag Metall- und Elektroindustrie Südwürttemberg-Hohenzollern vom 14. Juni 2005, die an die Vollendung des 53. Lebensjahres und an eine dreijährige Betriebszugehörigkeit anknüpft, ist – unter Beachtung einer verfassungs- und richtlinienkonformen Einschränkung für den Extremfall grob fehlerhafter Sozialauswahl – wirksam und mit den europarechtlichen Vorgaben der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf und den Regelungen zur Altersdiskriminierung zu vereinbaren. Bei dieser Beurteilung ist in besonderem Maße die verfassungsrechtlich durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistete Tarifautonomie und der daraus folgende weite Ermessensspielraum der Tarifvertragsparteien zu berücksichtigen. Gemäß § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis von jedem Vertragsteil aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, auf Grund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile nicht zugemutet werden kann, das Arbeitsverhältnis bis zum Ablauf der Kündigungsfrist fortzusetzen. Eine betriebsbedingte außerordentliche Kündigung mit sozialer Auslauffrist, die eine tariflich ausgeschlossene ordentliche Kündigung ersetzt, kommt nur in extremen Ausnahmefällen in Betracht, wenn der Arbeitgeber ohne eine außerordentliche Kündigungsmöglichkeit trotz Wegfalls der Beschäftigungsmöglichkeit gezwungen wäre, ein sinnentleertes Arbeitsverhältnis über viele Jahre hinweg – ggf. bis zur Pensionsgrenze – allein durch Gehaltszahlungen, denen keine entsprechende Arbeitsleistung gegenübersteht, aufrechtzuerhalten, und ihm dadurch Unmögliches oder evident Unzumutbares aufgebürdet würde2. Dabei ist ein strenger Prüfungsmaßstab anzulegen3. In erheblich weiterem Umfang als bei einer ordentlichen Kündigung ist es dem Arbeitgeber bei einer außerordentlichen Kündigung mit Auslauffrist zumutbar und ist er dazu verpflichtet, die Kündigung durch geeignete andere Maßnahmen zu vermeiden4. Anders als bei einer ordentlichen betriebsbedingten Kündigung reicht es nicht aus, dass der Arbeitgeber nur darlegt, eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers sei infolge des Wegfalls seines Arbeitsplatzes nicht mehr möglich5. Er hat vielmehr im Einzelnen aufzuzeigen, warum eine Weiterbeschäftigung nicht möglich ist6. Besteht noch irgendeine Möglichkeit, das Arbeitsverhältnis sinnvoll fortzusetzen und den Arbeitnehmer, ggf. nach entsprechender Umschulung, anderweitig weiterzubeschäftigen, wird es ihm regelmäßig zumutbar sein, den Arbeitnehmer entsprechend einzusetzen7. Erst wenn alle denkbaren Lösungsversuche ausscheiden, kann ausnahmsweise ein wichtiger Grund zur außerordentlichen betriebsbedingten Kündigung mit Auslauffrist vorliegen8. Bei einer außerordentlichen betriebsbedingten Kündigung mit sozialer Auslauffrist gehört das Fehlen jeglicher, also auch anderweitiger Beschäftigungsmöglichkeiten schon zum wichtigen Grund im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB und ist deshalb vom Arbeitgeber darzulegen9. Der Arbeitgeber hat also nicht nur vorzutragen, dass eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers infolge einer Änderung des Anforderungsprofils am bisherigen Arbeitsplatz nicht mehr möglich ist; er hat zudem von sich aus darzulegen, dass und weshalb es an jeglicher Möglichkeit einer sinnvollen Beschäftigung fehlt10. Auch bei der Prüfung alternativer Konzepte zur Weiterbeschäftigung ist ein besonders strenger Maßstab mit verschärften Anforderungen an die Darlegungslast des Arbeitgebers anzulegen, um die außerordentliche Kündigung eines tariflich ordentlich unkündbaren und besonders geschützten Arbeitnehmers zu vermeiden; der Arbeitgeber muss vor Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung alle zumutbaren, eine Weiterbeschäftigung ermöglichenden Mittel, ggf. auch durch eine Umorganisation seines Betriebs, ausgeschöpft haben11. Eine außerordentliche Kündigung aus betriebsbedingten Gründen mit sozialer Auslauffrist ist also auf extreme Ausnahmefälle begrenzt und unterliegt strengen Voraussetzungen. Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 9. Dezember 2011 – 20 Sa 85/10 1. Bisherige ständige Rechtsprechung des BAG, zuletzt BAG 18.03.2010 – 2 AZR 337/08↩ 2. BAG 18.03.2010 – 2 AZR 337/08; BAG 29.03.2007 – 8 AZR 538/06; BAG 08.04.2003 – 2 AZR 355/02; Schaub/Linck, Arbeitsrechts-Handbuch, 14. Aufl., § 128 Rn. 30↩ 3. BAG 18.03.2010 – 2 AZR 337/08; BAG 29.03.2007 – 8 AZR 538/06; BAG 08.04.2003 – 2 AZR 355/02; APS/Kiel, Ascheid/Preis/Schmidt, Kündigungsrecht, 3. Aufl., § 626 BGB Rn. 318 b↩ 4. BAG 18.03.2010 – 2 AZR 337/08; BAG 29.03.2007 – 8 AZR 538/06; BAG 08.04.2003 – 2 AZR 355/02↩ 5. BAG 29.03.2007 – 8 AZR 538/06; Schaub/Linck, aaO, § 128 Rn. 31↩ 6. Schaub/Linck, aaO, § 128 Rn. 31↩ 7. BAG 18.03.2010 – 2 AZR 337/08; BAG 29.03.2007 – 8 AZR 538/06; BAG 08.04.2003 – 2 AZR 355/02; Schaub/Linck, aaO, § 128 Rn. 31↩ 8. BAG 18.03.2010 – 2 AZR 337/08; BAG 08.04.2003 – 2 AZR 355/02; Schaub/Linck, aaO, § 128 Rn. 31↩ 9. BAG 29.03.2007 – 8 AZR 538/06; HaKo-Gallner/Mestwerdt, Fiebig/Gallner/Mestwerdt/Nägele, Kündigungsschutzrecht, 4. Aufl., § 1 KSchG Rn. 753↩ 10. BAG 18.03.2010 2 AZR 337/08↩ 11. BAG 29.03.2007 – 8 AZR 538/06; BAG 26.04.2004 – 2 AZR 215/03; APS/Kiel, aaO, § 626 BGB Rn. 318 d; Schaub/Linck, aaO, § 128 Rn. 30↩ Rechtslupe » 15. Mai 2012 | Arbeitsrecht