Kompass» zeigt den Weg zur Integration

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Kompass» zeigt den Weg zur Integration
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AARGAU
MZ Dienstag, 12. Januar 2010
«Kompass» zeigt den Weg zur Integration
Sie sind Raumpflegerinnen, Dachdecker oder Lageristen – und einmal die Woche Radiomoderatoren
Die multikulturelle Schweiz hallt
durch den Äther. Sieben freie
Radios senden jeden Monat rund
350 fremdsprachige Programme.
Ihr Ziel: Integration. «Kompass»
heisst seit 1997 das Gefäss für
Migranten beim Aarauer Kanal K.
Ein Lokaltermin.
chen Nationen, die zum Teil Krieg gegeneinander führen, hier zusammensitzen und sich im täglichen Leben sehr
stark unterstützen.» Nicht alle ihre Erlebnisse sind schön. Ihr sonst offener
Blick wird trüb, nachdenklich. Sie versuche, Behörden zu involvieren, lade sie in
Sendungen ein, damit sie wichtige Infos,
etwa zu Steuerfragen verbreiten können. Nicht alle Einladungen werden angenommen. «Spricht man von Integration», sagt sie, «wird zwar viel von den
Ausländern verlangt. Andererseits weigern sich Behörden, zu uns zu kommen
und Auskunft zu geben.»
M I C H E L E C O V I E L L O * ( TE X T U N D B I L D E R )
Wir kennen uns seit knapp einer Stunde. Der Abschied überrascht. Sylvain Agnithey drückt fest die Hand, zieht mich
an sich heran. Weisse und schwarze
Wange reiben aneinander. «Ich gehe auf
die Menschen zu», sagt der 35-jährige
Togolese.
Soeben hat er seine Sendung «Fenêtre sur l’Afrique» im Studio 2 von Kanal K in Aarau beendet. 21 Uhr. Er schaltet das Mikrofon aus, hebt die Kopfhörer vom kurzen krausen Haar und legt
sie aufs Mischpult. Dunkel ist es draussen im Industriequartier am Rande der
Stadt, wo die Züge quietschend in den
Bahnhof einfahren und Autos in Richtung Schnellstrasse beschleunigen. Nur
Sylvains Augen und hellen Handflächen leuchten in der Nacht. Er macht
sich zur Familie nach Freiburg auf. Jeden Samstag reist der Vater zweier kleinen Kinder in den Aargau und wieder
nach Hause. Anderthalb Stunden hin,
anderthalb zurück.
IST SYLVAIN AGNITHEY einer jener
Schwarzen, die nur an Bahnhöfen rumstehen, sich nicht um Arbeit bemühen
und gut vom Sozialstaat leben, wie neulich SVP-Mann This Jenny in einer Arena-Sendung pauschalisierte? Auch unser
zweites Treffen zeigt ein anderes Bild.
Sylvain will etwas. Zackig geht er durch
die Räume von Kanal K, bedient die unzähligen Regler im Radiostudio so spielend, als würde er sich ein Hemd zuknüpfen, hilft unverzüglich einer Praktikantin, die mit einem technischen Problem zu ihm kommt. 2005 fand er im Aargau Asyl, sechs Monate später sprach er
deutsch. Manchmal reicht die eigene Initiative aber nicht. Sylvain hebt die Ellbogen vom Pult, verschränkt die Arme und
lehnt sich in den Stuhl zurück. Er schüttelt den Kopf und beisst sich auf die grosse Unterlippe: «Keine Ahnung, wie viele
Bewerbungen ich schon geschrieben habe. Wenn sie das schwarze Gesicht auf
dem Foto sehen, kommst du gleich zuunterst auf den Stapel.» Heute hat er eine Stelle im Lager einer Schokoladenfabrik in Freiburg, eine befristete.
HAUT UND HERKUNFT sind in den
Gängen von Kanal K egal. Mittwoch,
20.05 Uhr. Die bosnische Sendung «Radio Studio B» hat begonnen. Moderator
Mirnaet Tutnjic sitzt in einer blauen
Trainerjacke vor dem Mikrofon. Auf
dem Rücken steht in weiss «Bosna i Hercegovina». Er ist nervös. In weniger als
einer Stunde spielt seine Fussball-Nationalmannschaft die entscheidende Barrage um die WM-Teilnahme. «Meine
Stammzuhörer drehen durch.» Während das erste Musikstück läuft, schaut
Giuseppe Collesano kurz im Studio vorbei. Von 19 bis 20 Uhr hat er im Raum
gegenüber das italienische Programm
«Radio Pendolino» gesendet. Die Spannung löst sich kurz. Sie begrüssen sich,
lachen, posieren spontan und Arm in
Arm vor der Kamera.
Der graue Betonklotz im Aarauer Industriequartier ist im Innern eine farbige Schatulle. Jeden Abend von 19 bis
«Diskriminierung
darf die Integration
nicht aufhalten»
Sylvain Agnithey, Togo
DAS SPÜRT AUCH der Togolese Sylvain Agnithey. «Wenn ich als Ausländer
auf die Leute zugehe und sie mich
nicht akzeptieren, wo bleibt dann die
Integration?» Viele sprächen von den
Fremden, die sich nicht anpassen wollten, aber sie würden die andere Seite
vergessen, welche sie nicht aufnimmt.
Agnithey sagt, was er denkt. Früher
schrieb er es. In Togo war er Journalist
in der Hauptstadt Lomé. Er gehörte
nicht zu denen, die sich bestechen liessen. «Ich arbeite mit meinem Herzen»,
sagt er. Deshalb musste er flüchten. Seine Artikel über einen Wahlbetrug
brachten ihn und seine Frau in Lebensgefahr. Seit Winter 2005 hat die Familie
in der Schweiz Asyl gefunden, zuerst
im Aargau. «Wenn du die N-Bewilligung hast, dann gibt es Menschen, die
nicht mit dir sprechen wollen. Erst mit
dem B-Ausweis beginnt das Vertrauen –
das ist nur die Wahrheit.» Sylvain Agnithey hat nicht resigniert. Auch wenn
er harte Äusserungen macht, wirkt er
nicht arrogant. Die Diskriminierung
sei stark verbreitet, sagt er. «Afrikaner
werden in jeder Hinsicht als Nullen angesehen.» Sie wollten nicht arbeiten,
seien Drogendealer und kämen in die
Schweiz, weil sie daheim nichts zu essen hätten. «Ich will das Gegenteil beweisen.»
KOPFTUCH UND KOPFHÖRER «Dank den Radiokursen habe ich viele Schweizer kennen gelernt und kann mein Deutsch
verbessern», sagt Ayse Azezler, Moderatorin der türkischen Sendung «Radyo ATA».
21 Uhr strömen aus ihr zwei fremdsprachige Sendungen. Wie die anderen freien und nichtkommerziellen Radios erfüllt Kanal K damit die Vorgaben des
Bundesamtes für Kommunikation (Bakom): Minderheiten sollen einen Sendeplatz haben. «Kompass» heisst dieses Gefäss bei Kanal K und «bringt frömdi Kulture is Rüebliland», wie der Jingle ankündigt. Menschen mit über 30 verschiedenen Muttersprachen produzieren hier
Sendungen in ihrem Idiom. Sie sind Türken und Tamilen, Kroaten und Kubaner,
Iraner und Italiener, Albaner und Afrikaner. Die meisten senden eine Stunde die
Woche, Araber, Äthiopier, Chinesen, Indonesier, Singhalesen und Turkmenen
sprechen monatlich zu ihrem Publikum. Sie bieten ihren Landsleuten Nachrichten und Melodien aus ihrer Heimat
– aber vor allem informieren sie sie über
ihr Leben in der Schweiz: Wo findet ein
guter Deutschkurs statt, wann ist der
nächste Anlass im serbischen Klublokal,
«Dieses Studio ist
der Melting-Pot
von dem, was ich
bin»
Michele Puleo, Italien
wo stellt der dominikanische Künstler
seine Werke aus, worüber stimmen die
Schweizer ab, wie kann man sich mit einer Versicherung die teure Mietkaution
ersparen? Die «Kompass»-Redaktorinnen
und -Redaktoren wissen und verbreiten
es. Sie setzen sich nicht nur ohne Lohn
für das Projekt ein: sie zahlen Jahresbeiträge, kaufen sämtliche CDs für die Sendungen aus der eigenen, oft bescheidenen Kasse. Selbst Ausgesteuerte versuchen alles, um ihre Stunde zwischen
Kabeln und Kopfhörern nicht aufgeben
zu müssen.
AUS AARAU, BASEL, Bern, Genf, Schaffhausen, Winterthur und Zürich rauschen
jeden Monat rund 350 Sendungen ausländischer Gemeinschaften durch den
Äther. Und sie werden gehört. Spielen die
türkischen Redaktoren zu viel Musik und
vernachlässigen die Information, beklagen sich ihre Hörer. Lassen die albanischen Macher das wöchentliche Kinder-
märchen aus, klingelt das Telefon bei Kanal K. In den Jahren 2007/08 untersuchten das Bakom und die eidgenössische
Ausländerkommission diese Programme
bei allen sieben nichtkommerziellen Sendern der Schweiz in einer Studie. «Die
fremd- und mehrsprachigen Radiosendungen der freien Radios fördern die Integration auf mehreren Ebenen», lautet
der Befund.
Doch was ist «Integration»? Mehr als
die Statistiken sagen Menschen aus. Gisella Rosato zählte 1997 zu den «Kompass»-Gründern. Die Tessinerin sitzt im
Eingangsbereich von Kanal K. Wie das
ganze Haus ist er einfach eingerichtet.
Der runde Tisch aus Metall wankt und
scheppert unter dem Druck des Kugelschreibers. Ein farbiges Grafitti an der
Wand lockert den sonst sterilen Raum
auf. Ruhig erzählt die Menschenrechtlerin aus ihrer jahrelangen Erfahrung.
«Das Schönste ist», sagt Gisella Rosato,
«dass Menschen aus so unterschiedli-
«Wer kommuniziert, «Ich mache meinen
kann Menschen
Landsleuten Mut
besser verstehen» zur Integration»
Susi Lucas, Spanien
Fiordaliza Schaller, Dominikanische
Republik
DAS TUT ER. Hier in der Schweiz muss
sich der Journalist mit befristeten Stellen zufrieden geben. Trotz seinen Fortschritten in Deutsch zog er in die Westschweiz, wo er sich in seiner Muttersprache Französisch weiterbilden kann.
Einen Kurs als Lagerist hat er bereits absolviert. «Auch wenn man diskriminiert wird, darf man sich nicht entmutigen lassen und die Arme verschränken, das will ich meinen afrikanischen
Hörern zu verstehen geben. Diskriminierung darf kein Hindernis für unsere
Integration sein.»
Was ist Integration? Das Bundesamt
für Migration definiert: «Integration
präsentiert sich als ein gegenseitiger
Prozess. Sie setzt die Offenheit der
Schweizer Bevölkerung und ein Klima
der Anerkennung voraus.» Kanal K und
die freien Radios geben das, was Schäfchen- und Anti-Minarett-Plakate nicht
geben: Anerkennung. Sylvain Agnithey
spürt das. «Senden zu dürfen bedeutet,
dass ich akzeptiert werde.»
* Der Stagiaire dieser Zeitung absolviert die
Diplomausbildung Journalismus am Medienausbildungszentrum (MAZ) in Luzern.
Diese Reportage ist seine Diplomarbeit.
www.a-z.ch
Hören Sie auf www.a-z.ch wie die KompassSendungen klingen und wie die ausländischen
Radio-Macher über die Ziele ihrer Programme
sprechen.
«Proaktiv auf
Leute zugehen und
nicht warten, dass
man integriert wird»
«Wer nicht
Deutsch kann, der
bekommt die Infos
von uns»
Agustin Sanchez, Spanien
Krist Kqira, Kosovo