Bormuth, Ich habe immer an meine Rettung geglaubt.pmd

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Bormuth, Ich habe immer an meine Rettung geglaubt.pmd
Lotte Bormuth
ICH HABE IMMER AN MEINE
RETTUNG GEGLAUBT
Lotte Bormuth
Ich habe immer an
meine Rettung geglaubt
Wahre Geschichten
In großer Schrift
Über die Autorin:
Lotte Bormuth ist eine der erfolgreichsten christlichen Autorinnen des deutschsprachigen Raumes. Fast eine Million Exemplare ihres mehr als 60 Titel umfassenden Werkes haben mit Lebensbildern, Berichten und selbst erlebten
Begebenheiten unzähligen Menschen Trost, Mut und Freude am Glauben
vermittelt. Sie hat 5 Kinder und 14 Enkelkinder und lebt mit ihrem Mann in
Marburg.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.ddb.de abrufbar.
ISBN 978-3-86827-069-3
Alle Rechte vorbehalten
© 2009 by Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH
35037 Marburg an der Lahn
Umschlaggestaltung: Henri Oetjen, DesignStudio Lemgo
Satz: Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH
Druck und Bindung: CPI Moravia Books, Korneuburg
www.francke-buch.de
Inhaltsverzeichnis
Ein Anruf von den Färöer Inseln .......................................... 7
Nichts kann mich von Gottes Liebe scheiden ....................... 9
Wladyslaw Szpilman und sein Retter ................................. 13
Margot Friedlander – untergetaucht in Berlin ..................... 24
Zivilcourage ...................................................................... 44
Was betrübst du dich, meine Seele? .................................... 51
Gott erlebt ........................................................................ 55
Helmut Rensch – ein begeisterter Häuslebauer ................... 57
Arm und doch reich .......................................................... 74
Mama, das Lied macht mich so traurig .............................. 81
Tränen über dem Taufbecken ............................................. 88
Christian – ein bewundernswerter Mensch ......................... 95
Ein Liebesbrief besonderer Art ......................................... 100
In Krankheitsnot von Gott gehalten –
Die Geschichte einer Herztransplantation ......................... 102
Wer glaubt, der flieht nicht .............................................. 123
Woher nehme ich neuen Lebensmut? ............................... 129
Eine Waffe gegen die Angst .............................................. 135
Eine überraschende Entdeckung ....................................... 139
Ich habe immer an meine Rettung geglaubt ..................... 142
Ich war ein Klotz am Bein ............................................... 146
Es begann in Wolhynien .................................................. 150
Kohlen am Bahndamm ................................................... 189
Heute ist nicht mein Tag – oder doch? ............................. 192
Jennifers großes Fest ........................................................ 197
Eine schwere Entscheidung .............................................. 201
Vom Bombenleger zum Missionar ................................... 205
Mutter ............................................................................ 221
Drei Schätze in meiner Hand ........................................... 240
Ein Anruf von den Färöer Inseln
Eben hat bei mir das Telefon geklingelt. Annette rief
mich an. Sie ist mit einem Dänen verheiratet und auf
die Färöer Inseln ausgewandert. Ab und an bittet sie
mich, ich möchte ihr deutsche Literatur auf die Inseln schicken. Sie will auch meine Bücher lesen und
sie dann an andere deutsche Frauen, die sie kennt,
weitergeben. Diesmal wird es ein richtig großes Paket. Aber es geht ihr nicht nur um guten Lesestoff,
sondern sie will einfach mit mir reden. So erzählt sie
mir von der glücklichen Geburt ihres ersten Enkelsohnes. Sein Name ist Baraldur, das bedeutet Meereswelle. In Dänemark erblickte er das Licht der Welt.
Annette ist Musiklehrerin und sie hat diese Begabung
wohl an ihre Tochter weitergegeben. Denn die junge
Mutter ist eine weithin bekannte und großartige
Geigerin geworden. Aber was Annette am meisten
umtreibt, ist eine Freundin, die schwer krank in einer
Klinik liegt. Mit etwas zaghafter Stimme bittet sie
mich: „Können Sie noch für Hanna beten?“
Gern komme ich ihrer Bitte nach. Dann aber nennt
sie mir noch den Namen eines Freundes aus Deutschland, dessen Leben an einem seidenen Faden hängt.
Ich falte meine Hände und bitte Gott, er möge dem
Kranken beistehen und ihm Heilung schenken. Wenn
er es aber anders beschlossen hat, dann möge er ihn
bereit machen und ihn in die neue Welt Gottes füh7
ren. Als sie mir den Namen dieses Freundes nennt,
bin ich allerdings sehr überrascht. Ich kenne ihn. Er
ist Schriftsteller und hat mir noch im vergangenen
Sommer eines seiner Bücher mit einer wunderbaren,
ermutigenden Widmung zugesandt.
Und wieder bete ich zu Gott und freue mich, dass
ich diesem so wertvollen Menschen den Liebesdienst
der Fürbitte tun darf.
„Hoffentlich habe ich Sie nicht zu lange aufgehalten, Frau Bormuth.“
„Aber nein. Zum Beten nehme ich mir immer gerne
die Zeit. Nichts ist wichtiger als das Gebet.“ Dann
verabschieden wir uns, und ich lege den Hörer auf.
Dieses Gespräch hat mir Mut gemacht. Ich weiß, ich
werde noch gebraucht, sogar auf den Färöer Inseln.
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Nichts kann mich von Gottes Liebe scheiden
Die folgenden Sätze hörte ich einmal in einem Gespräch, und sie bewegen mich noch immer: „Vor meinem eigenen Tod ist mir nicht bange, nur vor dem
Tod derer, die mir nahe sind. Wie soll ich leben, wenn
sie nicht mehr da sind? Den eigenen Tod stirbt man
nur, doch mit dem Tod der anderen muss man leben.“
Wer diese so bedeutungsvollen Sätze gesagt hat, ist
mir leider unbekannt. Dabei wurde ich jedoch an Frau
Maikranz erinnert. Ich hatte sie zu einem Wellness
Wochenende für junge Frauen eingeladen und ihr ein
Zimmer in einer Pension gebucht. Vergeblich wartete
ich auf die junge Mutter. Ihr Mann wollte mit den
beiden Töchtern zur Großmutter fahren, damit die
ermüdete Hausfrau sich mal richtig ausruhen konnte.
Aber Frau Maikranz kam nicht, und ich war in Sorge,
wo sie wohl verblieben war. Telefonisch konnte ich
sie nicht erreichen.
Erst als ich nach diesen Freizeittagen wieder zu Hause
war, rief sie mich an. Sie war am Telefon ganz aufgelöst und konnte kaum sprechen. Stotternd teilte sie
mir mit, dass ihr Bruder auf tragische Weise ums Leben gekommen sei. Als ich Näheres wissen wollte,
erzählte sie mir, man habe einen Abschiedsbrief gefunden, in dem er mitteilte, dass er sich das Leben
nehmen wolle. Die Polizei wurde alarmiert, und eine
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Suchaktion begann. Aber der Bruder blieb unauffindbar. Erst neun Wochen später, als die Bäume ihr Laub
abgeworfen hatten, entdeckten Spaziergänger den
Selbstmörder. An einer Buche hatte er sich das Leben
genommen. Ich weiß nicht, was den jungen Familienvater in den Tod getrieben hat. Er hatte eine gut bezahlte Stelle als Informatiker und war erst vor zwei
Jahren in das neuerbaute Haus eingezogen. Über Krisen in der Ehe war nichts bekannt. Frau Maikranz
war über den Tod ihres jüngsten Bruders sehr verzweifelt. Ich musste Angst haben, dass sie selbst in
eine Depression verfiel, und telefonierte täglich mit
ihr. Viel konnten wir nicht miteinander reden. Was
hätte ich ihr zu all dem Elend sagen sollen? Das Gebet
war mir in dieser Lage das Wichtigste. Ich nannte ihr
auch ein Wort des Trostes aus der Bibel, das sie sich
aufschreiben sollte. Ich selbst brauchte aber auch das
göttliche Wort, denn dieser so plötzliche Selbstmord
hatte in mir viele Fragen aufgeworfen.
26 Jahre lang habe ich in der Telefonseelsorge in
Marburg mitgearbeitet. Ich habe besonders viele
Nachtdienste übernommen, und so kam es öfter vor,
dass mich suizidgefährdete Menschen anriefen. Ich
habe mich daraufhin stark mit der Frage der Selbsttötung auseinandergesetzt und Hilfe in der Literatur
bedeutender Psychiater gesucht. So kam es fast zwangsläufig, dass ich zur Beraterin für Suizidfragen in der
Telefonseelsorge eingesetzt wurde. Oft habe ich auch
in Schulen darüber Vorträge gehalten. Von Mitarbei10
tern wurde ich zu Rate gezogen, wenn depressive
Menschen Hilfe suchten.
Wie dankbar war ich, wenn mein Mann mich dabei
begleitet hat, und wir gemeinsam versuchten, die Verzweifelten aus ihren Wohnungen zu holen und sie zu
betreuen. Meist gelang es uns, sie davon abzuhalten,
dass sie sich vor einen Zug warfen oder eine Überdosis Schlaftabletten schluckten. Wie sehr haben mir auch
die Polizei und die Notärzte beigestanden, die schnell
zur Stelle waren. Wusste ich dann die Verzweifelten in
ärztlicher Obhut, konnte ich tief durchatmen. Es gab
aber auch Fälle, bei denen jede Hilfe zu spät kam.
Dann war ich oft selbst verzweifelt. Einmal wollte ich
sogar meinen ehrenamtlichen Dienst aufgeben. Er war
mir zu schwer geworden.
Ich erinnere mich, wie sich in unserer Stadt eine 21jährige Studentin das Leben genommen hat. Als der
Notarzt bei ihr eintraf, atmete sie noch, aber schon
auf dem Weg in die Klinik verstarb sie. Wie schwer
war es für die Eltern, ihr einziges Kind hergeben zu
müssen. Vorwürfe plagten sie. Da begriff ich, wie es
ist, wenn man mit dem Tod des andern leben muss.
In solchen Situationen habe ich das Trösten gelernt
und bin dankbar, dass das Evangelium uns nicht ohne
Hoffnung lässt.
So habe ich auch Frau Maikranz diesen Trost zugesprochen und ihr Worte aus Römer 8,35-39 vorgelesen: „Wer will uns scheiden von der Liebe Gottes?
Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder
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Blöße oder Gefahr oder Schwert? ... Aber in dem allen überwinden wir weit durch den, der uns geliebt
hat. Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder
Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch
Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann
von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“
Das sind Worte göttlicher Kraft.
Nach zwei Jahren schwerer Trauer geht es Frau Maikranz heute viel besser. Ja, sie hat es sich zur Aufgabe
gemacht, andere Menschen, die in ähnlichen Situationen leben, zu trösten und ihnen beizustehen.
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Wladyslaw Szpilman und sein Retter
Vielen aus der älteren Generation klingt noch der
schreckliche Satz in den Ohren, mit dem der Zweite
Weltkrieg seinen Anfang nahm. Laut ließ Adolf Hitler
am 1. September 1939 über den Rundfunk verkünden: „Seit heute Morgen um fünf Uhr wird zurückgeschossen.“ Damit begann der Überfall auf Polen,
der zunächst schweres Leid über dieses Land, dann
aber über die ganze Welt gebracht hat.
Besonders hat es die jüdischen Mitbürger getroffen,
denn für sie begann jetzt die systematische Vertreibung und Ausrottung. Der eigentliche Krieg gegen
Polen, mit der Zerstörung vieler Städte und Dörfer,
war schon nach 18 Tagen vorüber. Doch dann drohte
für viele Juden das Schlimmste: Sie wurden in die
Sammellager und Gettos abtransportiert. Für die meisten von ihnen folgte der Tod in den Gaskammern. In
Treblinka und Auschwitz wurden Millionen von ihnen ermordet. Von dreieinhalb Millionen Juden in
Polen überlebten nur 240 000 die Konzentrationslager. Zu diesen gehörte auch Wladyslaw Szpilman. Er
war Pianist beim Warschauer Rundfunk. Als der Krieg
losbrach und überall die Bomben explodierten, die
diese schöne, alte Stadt in Schutt und Asche legten,
wurden die Sendungen des Rundfunks eingestellt. Nun
begann für den Musiker der Kampf ums Überleben.
Die gesamte Familie Szpilman musste damit rechnen,
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ins Warschauer Getto abtransportiert zu werden, was
schließlich auch geschah. Vater, Mutter, zwei Schwestern, einem Bruder und ihm selbst blieb dieses Schicksal
nicht erspart. Szpilmans Familie wurde dann ins Konzentrationslager Treblinka gebracht, wo sie ermordet
wurden. Wie durch ein Wunder blieb er selbst davon
verschont. Im Getto hatte er Schreckliches erlebt, und
in seiner Erinnerung konnte er die Bilder des Grauens
nie mehr auslöschen. Täglich wurden Menschen geschlagen und gemordet. Hungrig standen sie am Morgen auf und hungrig gingen sie am Abend zu Bett.
Krank und ausgemergelt wurden diese Elendsgestalten
noch zu Arbeiten herangezogen. Wer dabei zusammenbrach, wurde ins KZ abtransportiert.
Wladyslaw Szpilman gelang schließlich die Flucht.
Kurz vor dem Aufstand der Juden im Warschauer Getto schlug er sich auf die arische Seite. Aber nun begann sein Kampf erst recht. Wie sollte er im Untergrund überleben? Freunde nahmen ihn bei sich auf,
manchmal für einige Tage. Sie riskierten damit ihr
eigenes Leben. Denn wer einem Juden Unterschlupf
bot, konnte auf der Stelle erschossen werden.
Zu seinen Rettern gehörte auch der deutsche Hauptmann Wilm Hosenfeld. Er hatte Szpilman in einem
abbruchreifen, ausgebrannten Haus entdeckt und war
bereit, für ihn zu sorgen, bis der Zweite Weltkrieg
vorüber war. Hosenfeld war ein frommer Katholik
und stammte aus dem kleinen Dorf Mackenzell in der
Rhön. In Thalau wirkte er als Lehrer, bis er eingezo14
gen und nach Polen in den Krieg abkommandiert
wurde. Ihm war die Sportschule Warschaus unterstellt.
Schon als junger Pädagoge zeigte er Verständnis und
Liebe für die ihm anvertrauten Kinder. Damals war es
noch üblich, die Mädchen und Jungen mit Stockschlägen zu traktieren, wenn sie aufsässig waren oder
nicht gelernt hatten. Das hat Hosenfeld aber nie getan. Und deshalb war er bei den Eltern wie auch bei
den Schulkindern ein sehr beliebter Lehrer. Wenn
beispielsweise ein Kind Mühe hatte, das Lesen zu lernen, nahm er sich dessen besonders an, setzte es auf
seinen Schoß und übte mit ihm intensiv das Buchstabieren. Es wird von ihm erzählt, dass er immer zwei
Taschentücher in seiner Hose trug. Eins für sich und
eins für seine kleinen Schützlinge.
In der Zeit, als er in Warschau stationiert war, hat er
Tagebucheintragungen vorgenommen und diese Aufzeichnungen seiner Frau mit der Feldpost nach Hause
geschickt. Wären diese Berichte entdeckt worden, dann
hätte Hosenfeld den Krieg nicht überlebt. Man hätte
ihn auf der Stelle erschossen, denn er sprach offen
über die Missstände in dem besetzten Land. So aber
sind uns diese Dokumente über die Brutalität und
Scheußlichkeit des Krieges erhalten geblieben.
Er schrieb: „Tatsache ist, dass Schufte und Übeltäter auf freiem Fuß sind und ein Mensch, der eine
Auszeichnung verdient, leiden muss.“ Ein stilles Heldentum und ein mitmenschliches Engagement bestimmten sein Denken. An anderer Stelle ist er erbost
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und merkt an: „Und wir Toren glaubten, die Nationalsozialisten könnten uns eine bessere Zukunft bringen. Als Schande muss jeder Mensch es heute empfinden, dass er auch nur im Geringsten dieses System
bejahte.“
Im Gegensatz zu anderen deutschen Soldaten hatte
Hosenfeld gerne Kontakt zu den Polen in seiner Umgebung. Als er einmal an einer katholischen Kirche
vorbeikam und Orgelmusik und Gesang vernahm,
betrat er das Gotteshaus. Es wurde gerade Erstkommunion gefeiert, und die Mädchen standen in weißen
Kleidern vor dem Altar. So stellte sich der deutsche
Offizier zu den Gläubigen und empfing auch den Segen des Herrn. Welch ein beeindruckendes Bild war
dies. Ein Deutscher kniete vor einem polnischen Geistlichen und ließ sich von diesem „slawischen Untermenschen“ den Leib Christi als Oblate auf die Zunge
legen. Natürlich durfte diese Gottesdienstfeier nie bekannt werden. Hosenfelds Vorgesetzte hätten ihm, im
wahrsten Sinne des Wortes, einen Strick daraus drehen können.
Unzählige Gräueltaten geschahen in dieser Zeit, aber
Wilm Hosenfeld war für einige Menschen wie ein rettender Engel. So auch für Wladyslaw Szpilman. Der
Offizier hatte den Pianisten in einem halb niedergebrannten Haus aufgestöbert, wo dieser sich versteckte. Mächtig erschrocken stand der Flüchtende plötzlich vor dem deutschen Hauptmann und dachte: „Nun
werde ich diesen brutalen Krieg doch nicht mehr über16
leben, obwohl die russische Armee schon ganz nahe
ist. Welch ein Wahnsinn! Wo mir meine Rettung schon
vor Augen steht, muss ich doch noch entdeckt und an
die Wand gestellt werden.“
Szpilman war so erschöpft, dass er nur noch sagen konnte: „Machen Sie mit mir, was Sie wollen. Ich bin mit
meiner Kraft am Ende und rühre mich nicht mehr vom
Fleck.“ Verzweifelt ließ er sich auf einen Stuhl sinken.
„Ich tue Ihnen nichts“, beruhigte ihn Hosenfeld und
fragte dann: „Was sind Sie von Beruf?“
Schnell kam die Antwort: „Pianist.“
Hosenfeld führte Szpilman in ein Zimmer nebenan,
in dem noch ein altes Klavier stand. „Spielen Sie“, bat
er den Juden.
„Das geht nicht. Ich bin doch nicht verrückt. Damit werden noch mehr deutsche Soldaten auf mich
aufmerksam.“
Er zögerte, aber Hosenfeld ermutigte ihn: „Spielen
Sie ruhig. Sollte jemand kommen, dann verschwinden Sie schnell in Ihrem Versteck, und ich werde sagen, dass ich gespielt hätte.“
Szpilman legte seine Finger auf die Tasten. Sie zitterten. Fast drei Jahre hatte er nicht mehr spielen dürfen. Seine Hände waren unbeweglich, fast steif und
total verdreckt. Die Fingernägel waren hässlich und
lang. Schon lange hatte er sie nicht mehr schneiden
können. Doch er spielte wie schon beim letzten Mal,
als der Warschauer Rundfunk nicht mehr weiterexistieren konnte, Chopins Nocturne in cis-Moll.
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Der Offizier sah ihn eine Weile lang schweigend an
und murmelte dann vor sich hin: „Ich werde Sie aus
der Stadt aufs Land bringen.“
„Aber das geht nicht“, begehrte Szpilman auf und
schüttelte den Kopf.
„Ach so, Sie sind Jude“, überlegte der Deutsche. „Jetzt
verstehe ich Ihre Lage. Sie können nicht weg von hier.
Dann müssen Sie in Ihrem Versteck bleiben.“ Szpilman
führte den Hauptmann auf den Speicher. Dabei entdeckte er einen Hängeboden direkt unter dem Dach,
den er bisher noch nicht wahrgenommen hatte. Er
kletterte hoch und zog die Leiter nach oben. So fühlte er sich sicherer in seinem Versteck.
„Haben Sie noch etwas zu essen?“, fragte der Offizier.
„Nein“, schüttelte der Musiker den Kopf.
„Ich werde jetzt gehen, aber ich komme wieder und
werde Ihnen Lebensmittel bringen.“ Mit diesen Worten verschwand Hosenfeld und ließ sich drei Tage lang
nicht mehr blicken. Aber dann erschien er doch wieder.
Er versorgte Szpilman mit Brot und Marmelade, die
er in eine Zeitung gewickelt hatte.
„Halten Sie bloß durch. Die Front steht schon kurz
vor Warschau.“ Er brachte Szpilman noch einen
Militärmantel und ein dickes, warmes Federbett.
Szpilman hatte in dem Deutschen einen Freund gefunden, der ihn sehr oft mit Lebensmitteln versorgte.
Er hatte sie immer in alte Zeitungen eingewickelt,
und so konnte der Jude den Frontverlauf verfolgen.
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Szpilman war oft verzweifelt und glaubte nicht mehr
an seine Rettung, aber Hosenfeld sprach ihm immer
wieder Mut zu: „Halten Sie nur durch. Jetzt können
Sie im Dunkeln schon die ersten Lichtblitze der russischen Armee sehen. Nur nicht aufgeben!“ Neben den
Lebensmitteln waren es besonders die ermutigenden
Worte des Deutschen, die Szpilman das Leben retteten. So konnte für ihn ein neues Dasein beginnen.
Der Weg des deutschen Offiziers aber endete im
Dunkel. Der Held, der neben Szpilmann noch viele
andere Juden gerettet hatte, geriet in russische Gefangenschaft und saß in einem Lager in Warschau ein.
Es wird berichtet, dass ein polnischer Geiger an diesem Lager vorbeikam. Ein deutscher Wehrmachtsoffizier sprach ihn an und fragte nach dem Pianisten
Szpilman vom polnischen Rundfunk. Aber in der Aufregung vergaß der Pole, den Deutschen nach seinem
Namen zu fragen. So wurde auch diese Chance vertan, dass Szpielman seinem Retter begegnen konnte.
Er hat es noch einmal versucht und ist zu diesem
Gefangenenlager gegangen, aber da war es schon aufgelöst. Hosenfeld war in ein Lager in die Nähe
Stalingrads gekommen.
Hosenfeld konnte noch aus der Gefangenschaft eine
Liste mit Namen von Polen an seine Frau schicken,
die ihn vor dem sicheren Tod hätten retten können.
Es waren Juden. Hosenfeld bat seine Frau, ob sie nicht
diese Menschen anschreiben könnte, um so seine Freilassung aus dem russischen Gefangenenlager zu bewir19
ken. Aber darauf ließen sich die Sowjets nicht ein.
Sogar Szpilman hatte über die polnische Regierung
einen Rettungsversuch gestartet, aber auch dieser verlief im Sande. Das ist überaus tragisch.
Die geretteten Juden schickten in der Zeit, da die
Deutschen nach dem verlorenen Krieg hungern mussten, Lebensmittelpakete an Frau Hosenfeld. So konnte sie mit ihren fünf Kindern überleben. Butter, Fleisch,
Wurst, Zucker, Mehl und andere wertvolle Naturalien
haben der kinderreichen Familie geholfen zu überleben. Die Polen hatten nicht vergessen, was der deutsche Offizier für sie getan hatte, und so erreichten die
Pakete die Lehrerwohnung in Thalau in der Rhön.
Bis zum Jahr 1949 hörte der Pianist Szpilman nichts
mehr von seinem Retter.
Hauptmann Hosenfeld ist schließlich im Gefangenenlager ums Leben gekommen. Zuvor war er von
den Russen gefoltert worden. Danach erlitt er drei
Gehirnschläge. Er starb als ein körperlich und auch
seelisch gebrochener Mensch.
Seine Taten, die er als entschiedener Christ vollbracht
hatte, ehren ihn. Leider traten sie erst später ans Licht
der Öffentlichkeit. Doch schließlich wurde bekannt,
wie vielen Menschen – Juden und Polen – er ein wahrer Nächster geworden ist. Ein Happy End gibt es im
Leben von Wilm Hosenfeld nicht, aber Gott zählt
ihn zu seinen Glaubenshelden. Das Wort der Bibel
mahnt uns: „Was ihr getan habt einem von diesen
meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“
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(Matthäus 25,40). Von Wilm Hosenfeld fiel mir ein
Gedicht in die Hände, das er aus seiner russischen
Gefangenschaft 1949 nach Hause geschickt hat:
Du Mensch bist
wie die Glocke,
die nur klingt,
wenn der eherne Klöppel
mit hartem Schlag sie trifft.
So schlägt dich Gottes Hand
im Leid, deines Herzens
Wohltat zu prüfen
und deiner Seele Schönheit
den Freunden kundzutun.
Ich will einige Beispiele anfügen, wie Hosenfeld Menschen gerettet hat. Sie sind mir durch Briefe bekannt
geworden.
Einige Mitglieder der Familie Cieciora berichteten,
was sie an Hilfe durch Hosenfeld erlebt hatten. Die
Frau des Polen Stanislaw Cieciora war auf dem Weg
zu einem Gefangenenlager, in dem ihr Mann als Verwundeter lag. Dieser polnische Soldat musste Angst
haben, von den deutschen Besatzern erschossen zu
werden. Auf dem Weg zu ihm traf seine Frau den
deutschen Offizier Wilm Hosenfeld. Er fragte sie,
wohin sie denn so schnell mit ihrem Fahrrad wollte
und warum sie so erregt sei. Die Frau hatte große
Angst und sagte vor Schreck die ganze Wahrheit.
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„Mein Mann liegt verwundet im Lager, und ich erwarte in den nächsten Tagen unser Kind. Ich habe
Angst um meinen Mann.“ Wilm Hosenfeld notierte
sich den Namen des verletzten Polen und schickte die
Frau nach Hause. Er versprach ihr noch, dass ihr Mann
spätestens in drei Tagen wieder daheim sein werde.
So geschah es denn auch, und der Pole erlebte die
glückliche Geburt seines Kindes.
Die Familie Cieciora bangte auch um das Leben eines anderen Angehörigen. Er war Priester und lebte
im polnischen Untergrund. Von den Deutschen wurde er gesucht. Es gelang Hosenfeld, den Priester zu
retten.
Und noch einem Priester konnte Hosenfeld helfen
unterzutauchen. Er hatte vor dem Einmarsch der Deutschen fliehen können und musste sich versteckt halten. Hosenfeld, dem die Sportanlagen in Warschau
unterstellt waren, konnte diesem Priester Unterschlupf
gewähren, indem er ihm einen anderen Namen und
die dazugehörigen Papiere besorgte. Von einem Tag
auf den andern hatte er eine neue Identität, und Hosenfeld gab ihm eine Stelle als Arbeiter auf einem Sportgelände. Es entwickelte sich eine herzliche Freundschaft zwischen dem deutschen Offizier und dem polnischen Geistlichen. Dadurch lernte Hosenfeld auch
dessen Schwager Koschel kennen. Folgendes wird uns
in Briefen von diesem Mann berichtet:
In einem Warschauer Stadtteil hatten Polen deutsche Soldaten erschossen. Daraufhin nahm ein SS22
Kommando eine Reihe von Polen, die aber an der
Bluttat gar nicht beteiligt gewesen waren, als Geiseln
fest. Sie wurden auf Lastwagen verfrachtet. Vor der
Stadt sollten sie erschossen werden. Unter ihnen war
auch Koschel, ein Schwager des Priesters, den Hosenfeld kennengelernt hatte. An einer Kreuzung fuhr der
Lastwagen ganz langsam, und so erkannte der unglückliche Pole, der jetzt mit seinem Tod rechnen musste,
Hosenfeld, wie er zufällig auf dem Bürgersteig entlangging. Der Pole winkte verzweifelt Hosenfeld zu.
Dieser erkannte die Situation und wusste sie schnell
einzuschätzen. Hosenfeld ließ den Lastzug stoppen.
Der Fahrer musste anhalten. Im Befehlston rief der
deutsche Offizier: „Ich brauche dringend einen Mann!“
Er musterte die Insassen und zeigte auf Koschel, der
ihm ja bekannt war. Der Pole durfte vom Todestransport herabspringen und wurde auf diese Weise
gerettet.
Wie vielen anderen Menschen Hosenfeld noch das
Leben retten konnte, das weiß Gott allein.
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