Der Letzte Ringträger

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Der Letzte Ringträger
Kirill Yeskov
Der Letzte Ringträger
© 1999 Kirill Yeskov, [email protected]
© 2010 Yisroel Markov (English translation), [email protected]
© 2011 Rafael Zilliken (Deutsche Übersetzung), [email protected]
Nur zur nicht – kommerziellen Verbreitung bestimmt
1
Erstes Buch
Vae Victis
Kapitel 1
8
Kapitel 2
11
Kapitel 3
14
Kapitel 4
16
Kapitel 5
20
Kapitel 6
23
Kapitel 7
26
Kapitel 8
29
Kapitel 9
32
Kapitel 10
36
Kapitel 11
41
Kapitel 12
45
Kapitel 13
49
Kapitel 14
53
Kapitel 15
56
Kapitel 16
62
Kapitel 17
67
Kapitel 18
71
Kapitel 19
75
2
Zweites Buch
Der König und der Statthalter
Kapitel 20
80
Kapitel 21
84
Kapitel 22
88
Kapitel 23
94
Kapitel 24
97
Kapitel 25
102
Kapitel 26
107
Kapitel 27
111
Kapitel 28
115
Kapitel 29
120
Kapitel 30
125
Kapitel 31
130
Kapitel 32
136
Kapitel 33
139
Kapitel 34
142
Kapitel 35
145
3
Drittes Buch
Umbarisches Glücksspiel
Kapitel 36
152
Kapitel 37
156
Kapitel 38
161
Kapitel 39
164
Kapitel 40
168
Kapitel 41
173
Kapitel 42
177
Kapitel 43
183
Kapitel 44
187
Kapitel 45
192
Kapitel 46
196
Kapitel 47
201
Kapitel 48
207
Kapitel 49
212
Kapitel 50
216
Kapitel 51
220
Kapitel 52
224
Kapitel 53
229
Kapitel 54
234
4
Viertes Buch
Lösegeld für einen Schatten
Kapitel 55
239
Kapitel 56
243
Kapitel 57
248
Kapitel 58
253
Kapitel 59
256
Kapitel 60
260
Kapitel 61
264
Kapitel 62
268
Kapitel 63
273
Kapitel 64
276
Kapitel 65
279
Kapitel 66
283
Kapitel 67
286
Kapitel 68
291
Kapitel 69
295
Epilog
300
5
Nein wirklich! Stark, das sind wir nicht,
Doch kennen Völker, die es sind bei zeit.
Ja, wir werden sein ihr führend Licht
Euch zu zerschmettern und vernichten im Streit!
Sollen wir genauso ein Sklavendasein erben?
Ja, Sklaven sind wir schon immer gewesen,
Doch ihr – ihr werdet durch die Schande sterben
Und dann werden wir tanzen, wo ihr werdet verwesen!
Rudyard Kipling
Noch nie auf dem Gebiet des Konflikts unter Menschen hatten so viele so wenigen zu
verdanken.
Winston Churchill
6
Erstes Buch
Vae Victis1
„Gold für die Herrin – Silber der Maid –
Kupfer dem Meister, der weiß Bescheid.“
„Gut!“ sprach der Baron in seiner Halle,
„Doch das kalte Eisen herrscht über alle.“
Rudyard Kipling
1 Latein: „Wehe den Besiegten!“
7
Kapitel 1
Mordor, Wüste von Hutel-Hara
6. April 3019 des Dritten Zeitalters
Gibt es einen schöneren Anblick als einen Sonnenuntergang in der Wüste, wenn die Sonne,
wie beschämt ob ihrer weiß brennenden Strenge am Tage, einen Schatz von unvorstellbar
weichen und reinen Farben über ihren Besuchern ausstreut? Besonders schön die zahllosen
Schattierungen von Purpurrot, die die Dünen in ein verzaubertes Meer verwandeln – versäumt diese Minuten nicht, denn so werden sie sich nie wieder ereignen... Oder der letzte Moment vor Sonnenaufgang, wenn das erste Licht des Morgens das stete Menuett der Mondschatten auf der Sandkruste inmitten der Bewegung anhält – denn diese Tänze sind auf immer
vor den Uneingeweihten, denen, die den Tag der Nacht vorziehen, verborgen... Oder die unendliche Tragödie der Stunde, wenn die Macht der Dunkelheit zu schwinden beginnt und die
weichen Haufen der abendlichen Sternbilder plötzlich zu stechenden, eisigen Krümeln werden, die des Morgens den bronzenen Kies der Hamada erleuchten?
Es war zu solch einer mitternächtlichen Stunde, als zwei Männer sich wie graue Schatten entlang der kiesbestreuten inneren Kante eines sichelförmigen Tals zwischen zwei flachen Dünen
bewegten, und der Abstand zwischen ihnen entsprach genau den Vorschriften des Gefechtshandbuchs für solche Gelegenheiten. Dennoch, entgegen der Vorschrift, trug die größte Ladung nicht der Soldat der rückwärtigen 'Hauptstreitmacht', sondern derjenige der 'Kundschaftervorhut', aber dafür gab es gute Gründe. Der hintere hinkte merklich und hatte fast keine
Kraft mehr; sein Gesicht – schmal und hakennasig, mit Zügen, die einen großzügigen Anteil
umbarischen Blutes aufwiesen – war von einem klebrigen Schweißfilm überzogen. Der Führer
sah nach einem echten Orozenen aus, klein und breitgesichtig – in anderen Worten der
typische 'Ork', mit dem die Mütter von Westernis ihre unartigen Kinder erschreckten; dieser
hier bewegte sich in einem schnellen Zickzackmuster, jede Bewegung geräuschlos, präzise und
sparsam, wie ein Raubtier, das Beute gewittert hat. Seinen Mantel aus baktrischer Wolle, die
immer dieselbe Temperatur behält – ob in der Mittagshitze oder der Abendkühle – hatte er
seinem Begleiter überlassen und begnügte sich mit einem erbeuteten Elbenmantel, unendlich
wertvoll in einem Wald, jedoch vollkommen nutzlos hier in der Wüste.
Aber momentan war es nicht die Kälte, die den Orozenen störte: scharf in die Stille der Nacht
hinaus lauschend wand er sich wie mit Zahnschmerzen bei jedem Knirschen des Kieses unter
den unsicheren Füßen seines Begleiters. Sicher, hier mitten in der Wüste über eine Patrouille
der Elben zu stolpern war fast unmöglich, und nebenbei bemerkt ist für Elben Sternenlicht
überhaupt kein Licht, sie brauchen den Mond... Trotz alledem verließ sich Feldwebel Tzerlag,
Befehlshaber einer Kundschafterabteilung der Jäger von Cirith Ungol, sich nie auf das Glück
bei seiner Arbeit und wurde nie müde dabei, neuen Rekruten einzuschärfen: „Merkt euch eins,
Leute: Das Gefechtshandbuch ist ein Buch, in dem jeder Strich und Punkt mit dem Blut von
Schlaumeiern geschrieben ist, die es auf ihre Weise machen wollten.“ Das dürfte der Grund
gewesen sein, weswegen er im ganzen drei Jahre langen Krieg nur zwei Männer verloren
hatte, und darauf war er vor sich selbst stolzer als auf den Orden des Auges, den er im letzten
Frühjahr vom Generalkommandanten der Südlichen Armee erhalten hatte. Sogar jetzt, daheim
in Mordor, benahm er sich wie auf einem Langstreckenüberfall auf die Ebenen von Rohan;
obwohl, was für ein Zuhause ist es denn jetzt wirklich noch?...
Von hinten kam ein neues Geräusch: etwas zwischen Klagen und Seufzen. Tzerlag blickte zurück, schätzte die Entfernung ab, warf sein Gepäck ab, ohne dass auch nur eine Schnalle ein
Geräusch machte und erreichte seinen Gefährten gerade noch rechtzeitig. Der Mann klappte
im Kampf mit der Bewusstlosigkeit langsam zusammen und wurde gerade in dem Moment
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ohnmächtig, als der Feldwebel ihn unter den Armen hatte. Lautlos fluchend kehrte der
Kundschafter zu seinem Rucksack zurück, um die Feldflasche zu holen. Was für ein Partner,
verflucht...so nützlich wie ein Türkeil...
„Da, trinken sie was, Mann. Wieder schlimmer?“
Kaum hatte der liegende ein paar Schlucke geschafft, verkrampfte sich sein Körper unter einem qualvollen Brechreiz.
„Tut mir leid, Feldwebel“, murmelte er beschämt. „Ist nur Wasserverschwendung.“
„Keine Sorge, die Wasserstelle ist nicht mehr weit. Wie haben sie das Wasser damals genannt,
Doc? Irgend so ein komisches Wort.“
„Adiabatisch.“
„Man lernt nie aus. Also, Wasser ist kein Problem. Macht das Bein nicht mehr mit?“
„Leider ja. Hören sie, Feldwebel...lassen sie mich hier und machen sie, dass sie in ihr Zeltlager
kommen – sie sagten, es sei nah, so etwa fünfzehn Meilen. Dann kommen sie zurück. Wenn wir
auf Elben stoßen, sind wir beide erledigt. Ich bin im Moment nutzlos...“
Tzerlag dachte eine Weile nach, während er Zeichen des Auges in den Sand malte. Dann glättete er diesen wieder und erhob sich entschlossen.
„Wir lagern unter der Düne da drüben, sieht aus, als wäre der Boden dort fester. Schaffst du es
allein, oder wäre es einfacher, dich zu tragen?“
„Hören sie, Feldwebel...“
„Ruhe, Doktor! Tut mir leid, aber im Moment sind sie wie ein Kleinkind: sicherer unter Aufsicht. Sollten die Elben sie erwischen, kriegen sie in einer Viertelstunde alles raus: Wie viel
Mann, wohin unterwegs und was sonst noch alles. Dafür ist mir meine Haut zu kostbar... Also –
schaffen sie hundertfünfzig Schritt?“
Er trottete dahin, wo er sollte; flüssiges Blei stieg bei jedem Schritt sein Bein hinauf. Direkt unter der Düne kippte er wieder um und bekam nicht mehr mit, wie der Kundschafter sorgfältigst das Erbrochene und die Fuß- und Körperspuren verwischte und mit der Schnelligkeit
eines Maulwurfs ein Tagesversteck grub. Erst als der Feldwebel ihn vorsichtig zu dem mit Stoff
gepolsterten Loch brachte, wurde er wieder wach. „Denken sie, in ein paar Tagen geht’s
wieder?“
Inzwischen erhob sich ein widerwärtig wie Blut und Eiter gefärbter Mond über der Wüste.
Jetzt gab es genug Licht, um das Bein zu untersuchen. Die Wunde selbst war nur oberflächlich,
aber sie wollte nicht verschorfen und blutete bei der geringsten Berührung – der Elbenpfeil
war vergiftet gewesen, wie üblich. An diesem schrecklichen Tag hatte er all seine Vorräte an
Gegengiften für die Schwerverletzten gebraucht, in der Hoffnung auf eine Pause. Es gab keine.
Tzerlag hatte ihm ein Versteck unter einer gestürzten Eiche in einem Wald ein paar Meilen
nordöstlich von Osgiliath gegraben, und fünf Tage lang lag er dort und krallte sich mit den Fingernägeln an die letzten Reste seiner Lebenskraft. Am sechsten Tag schaffte er es, aus dem
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purpurnen Meer der unerträglichen Schmerzen aufzutauchen und sich die Geschichten des
Feldwebels bei einem Schluck bitteren Wassers aus Imlad Morgul anzuhören, das nach unbekannten Chemikalien stank (anderes Wasser war nicht in sicherer Reichweite) Die Überlebenden der Südarmee, im Morgultal eingeschlossen, hatten die Waffen niedergelegt und wurden
von den Elben und Gondorern irgendwohin über den Anduin getrieben; ein wild gewordener
Mûmak des geschlagenen Harad – Bataillons hatte sein Feldlazarett mitsamt den Verletzten zu
blutigem Matsch getrampelt; es sah so aus, als gebe es nichts mehr zu retten, Zeit heim zu gehen, nach Mordor.
In der neunten Nacht brachen sie auf, sobald er wieder gehen konnte. Der Kundschafter entschied sich für den Pass von Cirith Ungol, in der Vermutung, dass nicht mal eine Maus es jetzt
unbemerkt über die Ithilienstraße schaffen würde. Das schlimmste war, dass er seine Vergiftung nicht identifizieren konnte (welch ein Giftexperte!): die Symptome deuteten auf etwas
neues hin, frisch von den Elben entwickelt. Sein Medikamentenkoffer war sowieso fast leer.
Am vierten Tag kam die Krankheit zurück, und das zum unpassendsten Zeitpunkt: gerade als
sie am neu errichteten Militärlager der Westlichen Allianz am Fuß von Minas Morgul vorbei
schlüpfen wollten. Drei Tage lang mussten sie sich in den geheimnisvollen Ruinen verbergen,
und am dritten Tag flüsterte der überraschte Feldwebel ihm zu: „Ihr Haar wird ja weiß, Mann!“
Vermutlich waren die Schuldigen nicht die sagenhaften untoten Wächter der Ruinen, sondern
der ziemlich reale Galgen, den die Sieger etwa zwanzig Schritt von ihrem Versteck am
Straßenrand aufgestellt hatten. Die sechs Leichen in zerrupften Uniformen von Mordor (ein
großes Schild informierte in elbischer Schönschrift, dass dies „Kriegsverbrecher“ seien) zogen
die gesamte Rabenpopulation des Schattengebirges für ein Festmahl an, und dieser Anblick
dürfte ihn bis zum Ende seiner Tage verfolgen.
…der heutige Kampf war der dritte. Vom Fieber geschüttelt kroch er in das mit Segeltuch ausgepolsterte Loch und dachte wieder einmal: Wie geht es wohl Tzerlag in seinem Elbenfetzen?
Etwas später kroch der Kundschafter in das Versteck; Wasser gluckerte leise in einer seiner
Feldflaschen, dann rieselte Sand von der Decke – der Orozene verstopfte die Öffnung von innen. Als er sich an diesem verlässlichen Rücken ausruhte, begannen Kälte, Furcht und
Schmerz von ihm abzufallen, und eine ruhige Sicherheit, dass die Krisis überstanden war,
überkam ihn. Jetzt brauche ich nur noch etwas Schlaf, und dann werde ich Tzerlag nicht mehr
zur Last fallen...etwas Schlaf...
„Haladdin! He, Haladdin!“
Wer ruft da? Und wie bin ich nach Barad-Dur gekommen? Na gut, soll es Barad-Dur sein...
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Kapitel 2
Fünfzig Meilen östlich vom Orodruin, wo die leichtfüßigen plappernden Bächlein aus dem
Schnee des Aschengebirges zu beständigen, respektablen Kanälen werden und sich dann leise
der pulsierenden Hitze der Mordorebene ergeben, liegt die Oase von Gorgoroth. Jahrhundertelang konnte man hier zwei mal im Jahr Baumwolle, Reis, Datteln und Trauben ernten, und die
Handarbeiten der örtlichen Weber und Waffenschmiede wurde in ganz Mittelerde gerühmt.
Natürlich blickten die nomadischen Orozenen immer voll Verachtung auf ihre Stammesmitglieder herab, die sich für das Leben als Bauer oder Handwerker entschieden hatten: Jeder
wisse doch, dass nur die Viehzucht eine würdige Beschäftigung für einen Mann sei; das heißt,
wenn man die Karawanenräuberei nicht mitrechnet. Aber diese Einstellung hatte sie dennoch
nie davon abgehalten, ihre Herden regelmäßig auf die Märkte von Gorgoroth zu treiben, wo
die schönredenden umbarischen Kaufleute, die schnell begannen, den örtlichen Handel zu beherrschen, sie ihnen unterschiedslos abnahmen. Diese geschickten Gesellen, stets bereit, ihre
Köpfe für eine Handvoll Silber zu riskieren, trieben ihre Karawanen durch den gesamten Osten
und verachteten weder Sklavenhandel noch Schmuggel, oder auch simple Raubüberfälle, so es
konvenierte. Aber ihr Haupteinkommen bezogen sie aus der Ausfuhr von seltenen Metallen,
die in den Aschenbergen im Überfluss von den steifen, nie lächelnden Trollen abgebaut wurden – unvergleichliche Bergleute und Erzschmelzer, die später auch alle Steinmetzarbeiten in
der Oase alleine übernahmen. Das Leben Seite an Seite hatte lange Zeit Söhne aller drei Völker
dazu gebracht, sich mehr für die Töchter der Nachbarn als die der eigenen Leute zu interessieren, sich übereinander lustig zu machen („Ein Orozene, ein Umbarer und ein Troll gehen in
eine Kneipe...“) und gemeinsam die Pässe des Aschengebirges und des Morannon gegen die
Barbaren aus dem Westen zu verteidigen.
Das war damals die Hefe, aus der sich Barad-Dur vor sechs Jahrhunderten erhob, diese erstaunliche Stadt aus Alchemisten und Poeten, Mechanikern und Astronomen, Philosophen und
Physikern, das Herz der einzigen Zivilisation in Mittelerde, die auf rationales Wissen setzte
und tapfer seine kaum den Kinderschuhen entwachsene Technologie gegen altertümliche Zauberei setzte. Der leuchtende Turm der Zitadelle von Barad-Dur erhob sich über die Ebene von
Mordor fast so hoch wie der Schicksalsberg Orodruin wie ein Monument für den Menschen –
den freien Menschen, der höflich, aber bestimmt die Wächterschaft der Herrscher In Der Höhe
abgelehnt hatte und begann, nach seiner eigenen Vernunft zu leben. Es war ein Fehdehandschuh für den starrköpfigen, aggressiven Westen, wo man sich in seinen hölzernen 'Schlössern' die Läuse aus dem Haar pickte und dem monotonen Singsang der Skalden von den Wundern von Numenor, das nie existiert hatte, lauschte. Es war eine Herausforderung an den Osten, gebeugt unter der Last seiner eigenen Weisheit, wo sich Yin und Yang schon vor langer
Zeit gegenseitig verzehrt hatten, nur um die verfeinerte, statische Schönheit des Gartens der
Dreizehn Steine hervorzubringen. Und es war eine Herausforderung an einen bestimmten Anderen, denn die ironischen Gelehrten der Akademie von Mordor hatten ahnungslos die Linie
berührt, hinter der das Wachstum ihrer Macht versprach, sowohl unumkehrbar als auch unbeherrschbar zu werden.
...Und Haladdin ging über die Straßen, die er seit seiner Kindheit kannte – von den drei Steinstufen seines Elternhauses in der Sackgasse hinter dem Alten Observatorium, vorbei an den
Platanen der Königsallee, die am Ziggurat mit seinen Hängenden Gärten endet – in Richtung
des flachen Gebäudes der Universität. Dort war es, wo seine Arbeit ihm mehrmals den höchsten menschenmöglichen Moment der Freude gewährt hatte: Wie einen Setzling eine Wahrheit
in der Hand zu halten und darin das Gefühl zu haben, reicher und großmütiger als alle Herrscher der Welt zu sein... und eine Flasche prickelnder Núrnenwein machte die Runde zum
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Klang vieler Stimmen, Schaum floss die Seiten nicht zusammenpassender Becher und Gläser
unter den fröhlichen Sprüchen der Trinker herab, und eine ganze Aprilnacht lag vor ihnen, mit
ihren endlosen Disputen über Wissenschaft, Poesie, Kosmologie und wieder Wissenschaft...
Und Sonya sah ihn mit diesen unglaublich trockenen Augen an – nur die Augen der Trollfrauen
haben manchmal diesen flüchtigen Schatten von Farbe – Dunkelgrau? Durchscheinendes
Braun? - und machte diesen tapferen Versuch eines Lächelns: „Halik, Liebling, ich will keine
Last sein“ - und ihm war vom Liebreiz, der seinen Geist überflutete, zum Weinen zumute.
Doch die Flügel seines Traums trugen ihn schon wieder zurück in die nächtliche Wüste, erstaunlich für jeden, der nicht mit der Vielfalt seiner Bewohner vertraut war, welche beim ersten Sonnenstrahl buchstäblich durch die Erde tropfen. Tzerlag hatte ihm erzählt, dass diese
Wüste wie alle anderen auf ewig in Reviere aufgeteilt worden war: jeder Busch, jeder Flecken
spitzen Grases, jede Ansammlung essbarer Flechten (Manna) hatte seinen Eigentümer. Der
Orozene benannte mit Leichtigkeit jeden Clan, dem eine Senke, durch die sie marschierten,
gehörte, und konnte aufs genaueste ihre Verbündeten benennen, wobei er sich eindeutig auf
nur für ihn sichtbare Hinweise bezog statt auf die kleinen Abo – Steinpyramiden. Das einzige,
was hier allen gehörte, waren die Viehtränken – große Vertiefungen im Sand voller bitterem,
salzigen, aber noch trinkbarem Wasser. Haladdin war höchst verblüfft über das Tzandoi – System aus adiabatischen Wasserkollektoren, von dem er bisher nur gelesen hatte. Er bewunderte das unbekannte Genie, das zuerst entdeckt hatte, dass man mit der einen Geißel der Wüste
– der nächtlichen Kälte – die andere – Trockenheit – bekämpfen kann: schnell abkühlende
Steine wirken als Kondensatoren, die das Wasser aus der scheinbar trockenen Luft
'quetschten'.
Natürlich kannte der Feldwebel das Wort 'adiabatisch' nicht (er las nicht viel, wenn es ihm
nicht nützlich oder lustig erschien), aber manche der Sammler, an denen sie vorbei kamen,
waren sein Werk. Tzerlag hatte seinen ersten Tzandoi mit fünf Jahren gebaut; voller Bestürzung, als am nächsten Morgen kein Wasser darin war, hatte er das Problem selbst erkannt (der
Steinhaufen war zu klein) und verspürte zum ersten Mal den Stolz des Meisters. Merkwürdigerweise verspürte er keinen Drang, Vieh zu hüten und tat es nur, wenn er musste, wohingegen es fast unmöglich war, ihn von den Werkstätten für Zaumzeug und ähnlichem loszureißen.
Die Verwandtschaft schüttelte ablehnend den Kopf - „wie ein Städter!“ - aber sein Vater, der
sein beständiges Werkeln beobachtete, ließ ihn lesen lernen. So wurde er ein Mantzag – ein
reisender Handwerker; beim Umherziehen von Lager zu Lager lernte er in zwei Jahren, alles
mögliche herzustellen. Einmal in der Armee (Nomaden wurden entweder zur leichten Reiterei
oder Späheinheiten zugeteilt), kämpfte er genau so methodisch wie er Tzandois baute oder
baktrisches Zaumzeug zusammensetzte.
Ehrlich gesagt hatte er die Schnauze voll vom Krieg. Ja, der Thron, das Mutterland und all das...
aber die Generäle machten weiterhin Sachen, deren Dummheit sogar einem Feldwebel klar
waren. Man brauchte keine Ausbildung an einer Militärakademie; der gesunde Verstand eines
Handwerkers war (seiner Meinung nach) vollkommen ausreichend. Wie zum Beispiel nach
der Flucht von Pelennor, als seine Kundschafterkompanie mit anderen noch kampfbereiten
Einheiten eingesetzt wurde, um den Rückzug (beziehungsweise die panische Flucht) der
Kerntruppen zu decken. Seine Kundschafter sollten eine Stellung inmitten einer Ebene ohne
einen einzigen Langspeer halten, und so geriet seine Eliteeinheit aus Kommandosoldaten, jeder einzelne mit mehr als zwei Dutzend Abzeichen für erfolgreiche Einsätze in feindlichem Gebiet, sinnlos unter die Hufe der Rohaner Kavallerie, die noch nicht mal nachsah, wen sie da gerade zertrampelte.
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Tzerlag entschied damals, dass bei den Generälen Hopfen und Malz verloren war; ins Feuer
mit ihnen und diesem Krieg! Genug davon, Leute – wir haben keine Lust mehr! Dem Einen
zum Dank hatten sie es aus diesem Wald hinaus geschafft, wo man noch nicht einmal bei
Bewölkung eine Richtung bestimmen kann und wo jeder Kratzer sofort zu faulen beginnt, so
dass es ihnen hier, daheim in der Wüste, gut ging. In seinen Träumen war der Feldwebel schon
im altbekannten Lager der Teschgol, das nur noch eine gute Nachtreise entfernt war. Er malte
sich schon aus, wie er in aller Ruhe überprüfen würde, was reparaturbedürftig war, dann
würde man sie zu Tisch laden, und nach dem zweiten Humpen würde die Gastgeberin
beiläufig darauf zu sprechen kommen, wie schwer ein Haushalt ohne Mann zu regeln war,
während die finster blickenden Jünglinge (vier, oder doch fünf?) um ihn herumkreisten und
darum bettelten, doch mal seine Waffen anfassen zu dürfen... Der andere Gedanke, der ihn
beim Einschlafen beschlich, war: Wäre es nicht nett, herauszufinden, wer so scharf auf diesen
Krieg war, und sich mit ihm irgendwo in einer dunklen Ecke zu treffen...
Nein, ernsthaft – wer hatte den gewollt?
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Kapitel 3
Mittelerde, der Trockengürtel
Kurze naturgeschichtliche Zusammenfassung
Zwei Arten klimatischer Epochen wechseln einander in der Geschichte jeder Welt ab, auch in
Mittelerde – feuchte und trockene Periode; Wachstum und Schrumpfen der polaren Eiskappen
folgen einem bestimmten Rhythmus, der sozusagen der Pulsschlag des Planeten ist. Dieser natürliche Zyklus ist den Augen von Historikern und Skalden durch die kadeiloskopartige Vielfalt
der Völker und Kulturen verborgen, obwohl es genau dieser Wechsel ist, der hauptsächlich
diese Vielfalt hervorruft. Der Klimawandel kann eine größer Rolle in der Geschichte eines Volkes oder gar einer Zivilisation spielen als die Taten eines großen Reformierers oder eine verheerende Invasion. Nun, in Mittelerde ging das Dritte Zeitalter zusammen mit einer Feuchtperiode auf das Ende zu. Die Wege der feuchtigkeitsbeladenen Zyklone wichen immer mehr zu
den Polen ab, und die Handelswindgürtel, die sich jeweils um den dreißigsten Breitengrad einer Hemisphäre erstrecken, wurden schnell zu Wüsten.Vor gar nicht langer Zeit waren die
Ebenen von Mordor eine Savanne, während die Abhänge des Orodruin mit Wacholder und Zypressenwäldern bewachsen waren; nun drang die Wüste pausenlos in die trockenen Steppen
um die Berglandschaften vor und verschlang Acker um Acker. Die Schneegrenze in den
Aschenbergen wanderte immer höher, und die Ströme, die die Oase von Gorgoroth nährten,
ähnelten immer mehr einem Kind, das an einer unbekannten Krankheit stirbt. Wäre die örtliche Zivilisation etwas primitiver gewesen und das Land ärmer, wäre es auch so weitergegangen; der Vorgang hätte Jahrhunderte gedauert, und irgendetwas passiert immer in solchen
Zeiträumen. Doch Mordor war über alle Maße hinaus mächtig, also entschlossen sich die
Mächtigen dieser Zeit, nicht „die Natur um Gnade anzuflehen“, sondern ein weitläufiges Bewässerungssystem aufzubauen, das die Zuflüsse zum Meer von Núrnen anzapfte.
Hier ist eine Erklärung angebracht. Bewässerter Landbau in Trockengebieten ist sehr produktiv, aber muss mit äußerster Vorsicht durchgeführt werden. Das Problem ist der hohe Salzgehalt des Grundwassers; die größte Herausforderung ist es, einen Anstieg bis an die Oberfläche
um Himmels Willen zu vermeiden, da sonst die obere Scholle versalzt. Genau das wird passieren, wenn die Bewässerung zu viel Wasser auf die Felder kippt und die Bodenkapillaren sich
soweit füllen, dass sie das Grundwasser mit der Oberfläche verbinden. Kapillareffekt und Austrocknung der Oberfläche bewirken unmittelbares Hochpumpen dieses Wassers an die Oberfläche (wie das Öl im Docht einer brennenden Lampe), und dieser Prozess ist irreversibel: in
einem Augenblick wird aus deinem Feld eine leblose Salzpfanne. Der traurigste Teil davon ist,
dass es keinen Weg gibt, das Salz wieder nach unten zu drängen, sobald man es vermasselt
hat.
Es gibt zwei Arten, diese Katastrophe zu vermeiden. Eine ist, Wasser sehr sparsam zu verwenden, damit das Wasser in den Bodenkapillaren den Grund nicht erreicht. Die andere ist ein sogenannter Flutzyklus, bei dem man eine regelmäßige Überflutung auslöst, die das ständig
nach oben dringende Salz in das Meer oder einen anderen Abfluss spült. Aber das funktioniert
nur in Flusstälern, die regelmäßig überflutet werden – die Frühjahresfluten waschen dann das
Salz weg, das sich im letzten Jahr angehäuft hat. Genau so läuft es beispielsweise in Khand ab,
und genau dieses Bewässerungsmodell hatten die unerfahrenen Ingenieure von Mordor kopiert im festen Glauben, dass die Qualität der Bewässerung sich an der Anzahl von Kubikfuß
bewegter Erde bestimmen lässt.
Aber einen Flutzyklus im geschlossenen Becken von Mordor herzustellen ist unmöglich, da
kein einziger Fluss hindurch läuft und der einzige mögliche Abfluss das Meer von Núrnen ist –
genau das gleiche Núrnen, dessen Zuflüsse umgeleitet wurden, um weitläufige Felder zu be14
wässern. Der vernachlässigbare Höhenunterschied bedeutete, dass es in diesen Kanälen nicht
möglich war, so etwas wie eine Flut zu erzeugen, also gab es keinen Weg, das Salz wegzuspülen und keinen Ort, an den man es hätte spülen können. Nach ein paar Jahren mit ausreichenden Ernten geschah das unvermeidliche – riesige Landflächen versalzten rapide, und der
Versuch, eine Drainage einzurichten, schlug wegen des hohen Grundwasserspiegels fehl. Am
Ende stand eine enorme Ressourcenverschwendung und massiver Schaden für die Wirtschaft
und die Umwelt des Landes. Das umbarische System der Minimalbewässerung wäre für Mordor perfekt geeignet gewesen (und wäre wesentlich billiger einzurichten gewesen), aber diese
Gelegenheit war unwiederbringlich dahin. Die führenden Köpfe hinter dem Bewässerungsprojekt und die Ausführenden wurden jeweils zu fünfundzwanzig Jahren in den Bleiminen verurteilt, aber wie vorhergesagt half das niemandem.
Dieses Ereignis war ein größerer Rückschritt gewesen, aber immer noch keine Katastrophe.
Um diese Zeit hieß Mordor verdientermaßen die Schmiede der Welt, und es konnte seine erzeugten Waren gegen alle benötigten Mengen an Lebensmitteln in Khand oder Umbar eintauschen. Handelskarawanen gingen Tag und Nacht über die Ithilienkreuzung hin und zurück,
und mehr und mehr Stimmen in Barad-Dur meinten, das Land habe lange genug mit der Landwirtschaft herumgestümpert, die nichts weiter als ein Verlustgeschäft sei, und der richtige
Weg sei, das zu entwickeln, was niemand sonst hatte – besonders Chemie und Metallurgie.
Tatsächlich war die Industrielle Revolution bereits voll angelaufen: Dampfmaschinen liefen in
den Minen und Fabriken, während die ersten Versuche mit Elektrizität und Erfolge in der Luftfahrt das Gesprächsthema der gebildeten Klassen war. Gerade war ein allgemeines Bildungsgesetz erlassen worden, und Seine Majestät König Sauron der VIII. erklärte in einer Parlamentssitzung (mit seinem üblichen durchschlagenden Witz), er habe die Absicht, Schulschwänzen und Verrat gleichzusetzen. Die exzellente Arbeit eines erfahrenen diplomatischen
Corps und ein mächtiger Geheimdienstapparat erlaubten eine drastische Verkleinerung der
Armee, die damit nicht länger eine Last für die Wirtschaft wurde.
Aber zu dieser Zeit wurden die Worte gesprochen, die die gesamte Geschichte von Mittelerde
verändern sollten; merkwürdigerweise wiederholten sie fast wörtlich einen prophetischen
Ausspruch in einer anderen Welt auf einen vollständig anderen Staat bezogen: „Ein Staat, der
sich nicht selbst ernähren kann und von Nahrungsmittelimporten abhängt, kann nicht als gefährlicher Feind betrachtet werden.“
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Kapitel 4
Arnor, Turm des Weißen Rates
November, im Jahr 3010 des Dritten Zeitalters
Diese Worte sprach ein großer, weißbärtiger Mann in einem silbergrauen Mantel mit zurückgeschlagener Kapuze; er stand mit den Fingerspitzen auf einen schwarzen ovalen Tisch gestützt, der von vier Personen in hochlehnigen Armsesseln umgeben war, halb im Schatten. Einiges deutete darauf hin, dass seine Rede ein Erfolg gewesen war und der Rat auf seiner Seite
stand, so dass seine stechend blauen Augen, die einen merkwürdigen Gegensatz zu seiner pergamentartig gelben Gesichtshaut bildeten, sich auf nur einen der vier konzentrierten – denjenigen, den er jetzt bekämpfen müssen würde. Dieser Mann, der sich eng in seinen blendendweißen Mantel hüllte, saß etwas abgewandt, als wolle er jetzt schon vom Rat Abstand nehmen; er schien von starkem Fieber befallen. Im Moment richtete er sich auf, die Armlehnen
umklammernd, und seine tiefe und glatte Stimme ertönte unter der düsteren Decke:
„Verspürst du auch nur einen Hauch von Mitleid mit ihnen?“
„Mit wem denn?“
„Mit den Menschen, Gandalf, den Menschen! Wie ich es sehe, hast du gerade die gesamte Bevölkerung von Mordor zum Tode verurteilt, im Namen des Größeren Guten. Aber jede Bevölkerung besteht doch aus Lebewesen, also müsste man sie ausrotten, und zwar vollständig,
ohne Hoffnung auf Wiederkehr. Richtig?“
„Mitleid ist ein schlechter Ratgeber, Saruman. Hast du denn nicht mit uns in den Spiegel gesehen?“ Gandalf wies auf den Gegenstand in der Mitte des Tisches, der am ehesten noch einer
riesigen Schale voll Quecksilber ähnelte. „Es gibt viele Pfade in die Zukunft, aber egal welchen
von ihnen Mordor einschlägt, werden sie in spätestens drei Jahrhunderten Kräfte der Natur
entfesseln, die keiner zu bändigen in der Lage ist. Würdest du gerne noch einmal sehen, wie
sie in einem Augenblick ganz Mittelerde und den Weiten Westen in Schutt und Asche legen?“
„Du hast recht, Gandalf, und diese Möglichkeit zu leugnen wäre unehrlich. Aber nach dieser
Logik müsstest du auch die Zwerge ausrotten: Sie haben schon einmal den Schrecken der Tiefe
geweckt, und es war unser aller Zaubermacht nötig, ihn am Ausbruch zu hindern. Du weißt,
dass diese bärtigen Pfennigfuchser stur sind wie die Maultiere und nicht geneigt, aus Fehlern
zu lernen...“
„Gut, reden wir nicht von dem, was möglich ist, und reden wir nur vom Unausweichlichen.
Wenn du nicht in den Spiegel zu blicken wünschst, betrachte den Rauch aus ihren Kohleöfen
und Kupferhütten. Wandere in den Salzpfannen, in die sie die Ländereien westlich des Núrnen
verwandelt haben, und versuche, eine lebende Pflanze in diesem halben Tausend Quadratmeilen zu finden. Aber achte darauf, das nicht an einem windigen Tag zu tun, wenn der Salzstaub
sich wie eine Mauer über die Ebene von Mordor erhebt und alles in seinem Weg erstickt... Und
dann sieh, dass sie das alles von zuhause aus geschafft haben; was glaubst du wohl, was sie
später tun werden?“
„Gandalf, ein Kind ist stets eine Katastrophe im Haus. Erst schmutzige Windeln, dann zerbrochenes Spielzeug; irgendwann nehmen sie die Familienuhr auseinander; von dem, was sonst
noch passiert, wenn es größer wird, ganz zu schweigen. Ein Haus ohne Kinder andererseits ist
ein Musterbild an Ordnung und Reinlichkeit, dennoch sind seine Besitzer gerade mit wachsendem Alter irgendwie nicht wirklich glücklich damit.“
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„Saruman, stets war ich erstaunt über deine Fähigkeit, anderen Leuten das Wort im Munde
umzudrehen, und eindeutige Wahrheiten mit verschlagener Kasuistik zu leugnen. Aber bei
den Hallen von Valinor, heute wird dir das nicht gelingen! Die Bevölkerung von Mittelerde ist
zur Zeit eine Vielfalt von Völkern, die im Einklang mit Natur und Erbe ihrer Vorfahren leben.
Sie und ihre ganze Lebensart werden nun ernsthaft bedroht, und es ist meine Pflicht, das um
jeden Preis zu verhindern. Ein Wolf, der meine Schafe reißt, mag seine Gründe haben, aber ich
habe kein Interesse, sie herauszufinden!“
„Ich mache mir, nebenbei erwähnt, ebensolche Sorgen um das Schicksal von Gondor und der
Rohirrim wie du, aber ich sehe weiter in die Zukunft. Weißt du, ein Mitglied des Mitglied des
Weißen Rates, denn nicht, dass die Gesamtheit des magischen Wissens in seinem Kern nicht
über das, was einst von Aulë und Oromë empfangen wurde, hinauswachsen kann? Es kann
schneller oder langsamer verloren gehen; doch die Macht, den Verlust umzukehren, besitzt
keiner. Jede Generation von Magiern ist schwächer als die vorhergehende; früher oder später
steht die Menschheit alleine gegen die Natur. Und dann werden sie Wissenschaft und Technologie brauchen – vorausgesetzt, du hast sie dann noch nicht ausgerottet.“
„Sie brauchen deine Wissenschaft nicht, denn sie zerstört die Harmonie der Welt und verzehrt
die Seelen der Menschen!“
„Seltsam klingen die Worte von Seele und Harmonie aus dem Munde des Kriegstreibers. Was
die Wissenschaft angeht, so ist sie nicht ihnen gefährlich, sondern dir – oder eher deinem verdrehten Selbstwertgefühl. Was tun wir Magier denn anderes als von der Schöpfung unserer
Vorfahren zehren, wo sie die Zukunft erschaffen? Wir sehen die Vergangenheit, sie die Zukunft. Du hast dich einst für die Magie entschieden und wirst die Grenzen, die die Valar gesetzt
haben, darum nie überschreiten, während in ihrer Wissenschaft der Zuwachs an Wissen – und
damit Macht – wahrhaftig unbegrenzt ist. Dich verzehrt die schlimmste Form des Neides – die
des Handwerkers auf den Künstler...Nun, ich vermute, dass das ein ausreichend
schwerwiegender Grund zum Mord ist; du bist weder das eine noch das andere.“
„Das glaubst du doch selbst nicht“, zuckte Gandalf mit den Schultern.
„Nein, ich fürchte nicht,“ schüttelte Saruman traurig den Kopf. „Weißt du, diejenigen, die von
Gier, Machthunger oder verletztem Stolz getrieben werden, kann man wenigstens teilweise ertragen, denn wenigstens manchmal verspüren sie Gewissensbisse. Aber nichts ist furchtbarer
denn ein Enthusiast mit strahlenden Augen, der entschlossen ist, die Menschheit zu retten; ein
solcher ersäuft die Welt in Blut, ohne zu zögern. Ihr Lieblingsspruch ist: 'Es gibt wichtigeres
als Frieden und schlimmeres als Krieg' – ich glaube, den hast du auch schon gehört, oder?“
„Ich nehme die Verantwortung an, Saruman; die Geschichte wird mich freisprechen.“
„Ohne Zweifel wird sie das, denn sie wird von denjenigen geschrieben werden, die unter deinem Banner siegen werden. Es gibt erprobte Rezepte dafür: macht Mordor zum Reich des Bösen, das ganz Mittelerde versklaven will und seine Bewohner zu menschenfressenden Unholden, die Werwölfe reiten... Ich spreche jetzt nicht von der Geschichte, sondern von dir. Erlaube
mir, meine unhöfliche Frage nach den Menschen, die das Wissen der Zivilisation von Mordor
hüten, zu wiederholen. Dass sie zu vernichten sind, und zwar wörtlich, steht unzweifelhaft fest
– 'das Unkraut mit Stumpf und Stiel ausrotten' – sonst ist das gesamte Unterfangen sinnlos.
Dann möchte ich wissen, ob du – ja, du persönlich – dich an der Ausrottung beteiligen wirst;
wirst du sie höchstselbst umbringen?.. Schweigen? Ja, so seid ihr, ihr Wohltäter der
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Menschheit! Schafft die Endlösung der Mordorfrage, sicher, aber wenn es an die Umsetzung
geht, schlagt ihr euch in die Büsche. Ihr braucht die Henker, damit ihr später angewidert auf
sie zeigen könnt: Das war alles ihr Übereifer...“
„Lass das demagogische Geschwätz, Saruman,“ sprach ein sichtlich beleidigter Sitzender im
blauen Mantel dazwischen, „und sieh in den Spiegel. Sogar ein Blinder sieht die Gefahr! Wenn
wir Mordor jetzt nicht aufhalten, werden wir es nie schaffen; in fünfzig Jahren oder so werden
sie erkennen, dass Salpetermischungen auch noch zu anderem als Feuerwerk taugen, und das
wird das Ende sein. Ihre Heere werden unbesiegbar werden, während andere Länder über
ihre eigenen Füße stolpern werden im Versuch, ihre 'Errungenschaften' zu kopieren, mit sämtlichen Folgen... Rede, wenn du irgendwas Wichtiges beizutragen hast!“
„Solange ich den weißen Mantel des Ratsvorsitzenden trage, wirst du dir alles anhören, was
ich zu sagen habe,“ antwortete dieser höflich „Ich werde nicht weiter darauf eingehen, dass ihr
vier euch das Recht anmaßt, den Lauf der Welt zu bestimmen, wozu die Magier nie berechtigt
waren, ich sehe, dass das nutzlos ist. Ich werde also so sprechen, dass selbst ihr es versteht.“
Die Körpersprache aller Gegner wies lebhafte Entrüstung auf, aber Saruman war schon entschlossen, alle Diplomatie fahren zu lassen.
„Vom rein technischen Standpunkt her scheint Gandalfs Plan, Mordor durch Abschneiden von
Lebensmittelzufuhr und lang andauerndem Krieg abzuwürgen, Erfolg versprechend, aber er
hat einen kapitalen Fehler. Um so einen schwierigen Konflikt zu gewinnen, braucht die Koalition gegen Mordor mächtige Verbündete, darum schlägt der Plan vor, die Mächte zu wecken, die
seit der vergangenen, vormenschlichen Zeit schlafen; als da wären die Bewohner der Verzauberten Wälder. Das allein ist schon Irrsinn genug, denn diese Mächte haben nie jemand anderem als sich selbst gedient, aber euch reicht das noch nicht. Um den Sieg sicherzustellen, wollt
ihr ihnen auch noch den Spiegel für die Dauer des Krieges überlassen, weil nur Teilnehmer
das Recht auf die Nutzung haben, um militärische Aktionen zu planen. Das ist Irrsinn zum
Quadrat, aber ich bin bereit, sogar diese Option in Betracht zu ziehen, wenn Gandalf mir eine
Frage vernünftig beantworten kann: Wie will er den Spiegel hinterher zurückbekommen?“
Gandalf winkte herablassend ab. „Ich glaube, Probleme sollte man lösen, wenn sie auftauchen.
Nebenbei, warum sollten wir annehmen, dass sie ihn nicht zurückgeben wollen? Wofür zur
Hölle sollten sie ihn denn brauchen?“
Schweigen. Saruman hatte tatsächlich nicht mit solch monumentaler Dummheit gerechnet.
Also alle, jetzt scharf nachdenken... Er kam sich vor, als schwämme er im Eiswasser eines Flusses im März; noch eine Weile, und die Strömung würde ihn unter das Eis ziehen.
„Radagast! Willst du denn gar nichts sagen?“ Es klang wie ein Hilferuf.
Die braun gekleidete Figur schrak zusammen wie ein Schüler, den man beim Abschreiben erwischt hat, und versuchte unbeholfen, etwas auf dem Tisch zu bedecken. Ein empörtes Quietschen, dann flitzte ein kleines Eichhörnchen, mit dem er die ganze Zeit gespielt haben musste,
seinen Ärmel hinauf. Es setzte sich auf seine Schulter, aber der beschämte Waldmagier flüsterte ihm etwas zu, bog eine buschige Augenbraue, und das Tier sank gehorsam in seinen Mantel
hinab.
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„Mein lieber Saruman... vergib einem alten Mann, aber... äh... ich habe nicht so genau
zugehört... Lass doch die Streitereien, in Ordnung? Ich meine, wenn sogar wir uns zu zanken
anfangen, was wird dann aus der Welt, hä? Sieh mal... Und wegen dieser Typen aus den Verzauberten Wäldern, will sagen... bist du...du weißt schon... nicht etwas hart zu denen? Ich hab
sie in meiner Jugend gesehen, wenn auch nur von weitem, aber so verkehrt sahen sie doch
nicht aus; sie spinnen schon etwas, aber wer denn nicht? Und sie sind immer so nett zu den
Vögeln und Tierchen, nicht so wie deine Mordorer... also ich denke, das wird schon gutgehen,
ja?“
Das war es also, schloss Saruman und strich sich langsam mit der Hand über das Gesicht, als
wolle er ein Spinnennetz von ungeheurer Müdigkeit entfernen. Der einzige, der ihn vielleicht
unterstützt hätte. Er hatte keine Kraft mehr zum Kämpfen, es war vorbei, er war unter dem
Eis.
„Du bist nicht nur in der Minderheit, du stehst alleine da, Saruman. Aber natürlich haben deine Vorschläge enormen Wert für uns.“ Gandalfs Stimme triefte jetzt geradezu vor geheucheltem Respekt. „Lass uns gleich jetzt die Frage des Spiegels besprechen – sie ist in der Tat kompliziert...“
„Das ist jetzt dein Problem, Gandalf,“ sprach Saruman leise aber fest, während er die Fibel aus
Mithril an seinem Hals losmachte. „Du warst so lange hinter dem weißen Mantel her – da hast
du ihn. Tu was du für nötig hältst, aber ich verlasse deinen Rat.“
„Dann wird dein Stab seine Macht verlieren, hörst du?“ brüllte Gandalf seinem Rücken zu; es
war deutlich, dass er wie gelähmt war und seinen jahrhundertelangen Rivalen nicht mehr verstand.
Saruman wandte sich um und betrachtete ein letztes Mal die düstere Halle des Weißen Rates.
Ein Eck des weißen Mantels war vom Lehnstuhl auf den Boden gefallen, wie vom Mond silbern
glänzendes Wasser in einem Brunnen; die Mithrilfibel sandte ihm ein letztes Aufblitzen zu und
zwinkerte hinaus. Radagast, der sich erhoben haben musste, um ihm zu folgen, war inmitten
der Bewegung erstarrt, mit ungeschickt ausgebreiteten Armen; der Magier sah plötzlich klein
und erbärmlich aus, wie ein Kind inmitten streitender Eltern. Da sprach er etwas aus, das auf
das Erstaunlichste mit Worten übereinstimmte, die bei einem ähnlichen Anlass in einer
anderen Welt ausgestoßen worden waren:
„Was ihr da vorhabt, ist schlimmer als ein Verbrechen. Es ist ein Irrtum.“
Ein paar Wochen später meldete die Aufklärung von Mordor an den Rändern der nördlichen
Wälder das plötzliche Auftauchen von 'Elben' – schlanken goldhaarigen Kreaturen mit honigsüßer Stimme und Dauerfrost in den Augen.
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Kapitel 5
Mittelerde, der Krieg des Rings
Historischer Abriss
Sollte der Leser auch nur das geringste Verständnis für größere Feldzüge besitzen und ist er
mit der Karte von Mittelerde vertraut, dürfte ihm leicht klar werden, dass alle Taten beider
neuen Koalitionen (Mordor-Isengard und Gondor-Rohan) durch gnadenlose strategische
Zwänge diktiert wurden, unterfüttert durch Mordors Furcht, von seinen Nahrungsquellen abgeschnitten zu werden. Gandalfs Bemühungen hatten aus dem Zentrum von Mittelerde ein
höchst instabiles „Brötchen“ gemacht, wobei Mordor und Isengard das Brot und Gondor und
Rohan der Schinken waren. Am ironischsten mutete die Tatsache an, dass die Mordor-Koalition, die nur auf Erhaltung des Status Quo aus war, sich in der perfekten Position für einen
Angriffskrieg befand (wodurch es seinen Feinden sofort einen Zweifrontenkrieg hätte aufzwingen können), aber in einer äußerst ungünstigen Verteidigungsposition (wenn die vereinten Feinde einen Blitzkrieg geführt hätten und die Gegner einzeln zerschmettert hätten).
Aber auch Saruman verlor seinerseits keine Zeit. Er besuchte Theoden von Rohan und Denethor von Gondor und setzte seinen persönlichen Charme und seine Redegewalt ein, um beide
Könige von den friedlichen Absichten Mordors und Isengards zu überzeugen. Zusätzlich enthüllte er Sauron und Denethor teilweise das Geheimnis der zwei Palantíri, die seit undenklichen Zeiten in beiden Palästen aufbewahrt wurden, und lehrte sie, diese alten magischen Kristalle als direkte Gesprächsverbindung zu nutzen; dieser einfache Zug trug viel dazu bei, Vertrauen zwischen den benachbarten Herrschern zu schaffen. In Edoras am Hofe König Theodens wurde ein Konsulat Isengards eingerichtet unter Leitung von Grima, einem hervorragenden Diplomaten, erfahrenem Geheimdienstler und Meister der höfischen Intrige. Eine ganze
Zeit lang tasteten Saruman und Gandalf die Positionen ab, strikt im Bereich der dynastischen
Beziehungen.
Dann wurde bekannt, dass Theodens einziger Sohn Theodred, bekannt für seinen nüchternen
Verstand und Mäßigung, im Norden unter verdächtigen Umständen umgekommen war; man
nahm einen Überfall der Orks an. Als Ergebnis wurde als Thronerbe Theodens Neffe Éomer
bestimmt – ein brillanter Feldherr, Liebling des Offizierscorps und ganz offensichtlich einer
der Kriegsbefürworter. Ein Rückschlag für Gandalf wurde es aber, als Éomer ganz offen mit
seinen Freunden 'die Einrichtung des Thronsaals überdachte'. Grima, der über ein hervorragendes Netz von Informanten verfügte, hatte kein Problem damit, eine gute Sammlung aller
Prahlereien im Rausch zusammenzutragen und sie Theoden über einen Mittelsmann zukommen zu lassen. In der Folge wurde Éomer von allen politischen Entscheidungen so weit ausgeschlossen, dass Grima ihn nicht mehr beachtete (was sich als großer Fehler herausstellen sollte). In Gondor gelang es Saruman, die Stellung von Prinz Boromir, einem anderen bekannten
Schläger, zu untergraben und ihn vom Hofe entfernen zu lassen: der Prinz ging im Streit auf
Abenteuersuche im Norden (mit ziemlich unerfreulichen Folgen, aber davon später). Im allgemeinen ging die erste Runde an Saruman.
Aber obwohl alle drei Könige eindeutig der Meinung waren, 'ein schlechter Frieden sei besser
als ein guter Krieg', blieb die Lage höchst unbeständig. Die Ernährungslage in Mordor wurde
immer schlechter, so dass die Sicherheit der Handelslinien in den Süden durch Ithilien zu dem
wurde, was man als 'nationale Paranoia' kennt. Unter solchen Umständen kann die kleinste
Provokation eine Kettenreaktion auslösen, und an diesen war kein Mangel. Als mehrere Karawanen nacheinander an der Ithilienkreuzung von Männern, die aus dem Nichts gekommen
waren und die die grünen Mäntel von Gondor trugen (obwohl sie alle mit einem dicken nördlichen Akzent sprachen), ausgelöscht worden waren, folgte eine vollständige Antwort.
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Saruman kontaktierte Sauron sofort über seinen Palantír, er beschwichtigte, bat und bettelte,
aber ohne Nutzen. Logische Argumente richteten nichts mehr aus, und der König, dessen
Macht schon immer eher repräsentativ war, konnte nichts gegen die angstgeschüttelten Kaufleute im Parlament tun. Also geschah es am Morgen des vierzehnten April des Jahres 3016 des
Dritten Zeitalters, dass die Armee von Mordor mit zweihundert leichten Reitern in das (per
Vertrag mit Gondor) entmilitarisierte Ithilien einmarschierte, „um die Sicherheit der Handelsrouten gegen Räuber zu garantieren.“ Im Gegenzug befahl Gondor die Mobilmachung und
nahm Osgiliath ein. Die Falle war zugeschnappt.
Dann unterlief Mordor ein weiterer Fehler, obwohl diese Beurteilung wie bei allen strategischen Entscheidungen nur im Nachhinein gefällt werden kann; wäre der Zug gelungen, was
durchaus nicht unwahrscheinlich gewesen wäre, wäre er als brillant in die Geschichte eingegangen. Man versuchte, das Feindeslager zu spalten, indem man Rohan aus dem Ithilienkonflikt herauszudrängen versuchte, das eigentlich an diesem Streit kein Interesse hatte. Dazu
wurden vier der besten Bataillone der Armee Mordors über den Anduin geschickt. Diese Expeditionsstreitmacht sollte insgeheim am Nordrand des Gebiets von Rohan, wo die Aufklärung
keine regulären Streitkräfte gemeldet hatte, entlangziehen und sich mit der Armee von Isengard vereinigen. Das Risiko war groß, aber es war kleineren Abteilungen schon ohne Vorfälle
gelungen. Wäre es gelungen, im Hinterland der Rohirrim eine Streitmacht aufzustellen, die in
fünf Tagesmärschen vor Edoras hätte auftauchen können, hätten letztere sich zweifellos darauf beschränkt, den Eingang zu Helms Klamm zu bewachen und hätten jeden Gedanken an
einen Überfall gen Süden fallengelassen.. Dann hätte Mordor freie Bahn für einen Kompromiss
mit dem plötzlich isolierten Gondor gehabt.
Da kam der Spiegel erstmals ins Spiel; man stelle sich einen zeitgenössischen Krieg voll
schneller Vorstöße vor, in dem eine Seite Zugriff auf Satellitenüberwachung gehabt hätte.
Éomer, der damals quasi unter Hausarrest stand, erhielt alle Informationen über Mordors
Schachzug von Gandalf und erkannte eine einmalige Gelegenheit für einen Heerführer. Unter
Ausnutzung von Theodens Krankheit und seinem hohen Ansehen unter den Soldaten zog er
die Elite der Streitkräfte Rohans nach Norden. An diesem Punkt hatte er nichts mehr zu verlieren; ein Versagen hätte ihn als Verräter den Kopf gekostet.
Doch der Spiegel hatte wahr gesprochen. Fünf Tage später griff Rohans gepanzerte Kavallerie
die Expeditionsstreitmacht Mordors überraschend aus dem Fangornwald an; der Feind hatte
noch nicht einmal Zeit, die Marschkolonne aufzulösen. Der Blitzangriff war verheerend, trotzdem gelang es einem beträchtlichen Teil der schweren Infanterie (hauptsächlich Trolle), sich
zu ihren berühmten 'Granitblöcken' zu formieren und mehrere Stunden lang zurückzuschlagen, sehr zum Schaden der Angreifer. Bei Anbruch der Nacht versuchten sie, in den Fangornwald zurückzufallen und dort ihren berittenen Gegnern im Dickicht zu entkommen, aber alle
fielen unter den Giftpfeilen der in den Baumkronen versteckten elbischen Schützen.
Die Rohirrim entrichteten einen enormen Blutzoll für ihren Sieg, aber die Elite der Truppen
Mordors war nicht mehr; nur die leichten orozenischen Reiter waren entkommen. Éomer
kehrte im Triumph nach Edoras zurück, und Theoden musste behaupten, das sei alles so geplant gewesen. Gleichzeitig legte man dem König öffentlich Beweise vor, dass der Konsul Isengards Rohan ausspionierte; obwohl das fast alle Diplomaten seit Anbeginn der Welt getan hatten, musste Theoden den Kriegsbefürwortern Unterstützung gewähren und war gezwungen,
Grima zur persona non grata zu erklären.
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Inzwischen füllten die vom Fangornwald siegestrunkenen Truppen Rohans den Palastplatz,
schlugen Schwerter gegen Schilde und verlangten von ihrem geliebten Éomer, er solle sie führen, ganz egal wohin. Der General erhob das Schwert, als wolle er die untergehende Sonne aufspießen, und rief „Nach Isengard!“ - worauf Gandalf, der nicht weit entfernt im Schatten der
Befestigungen stand, wusste, dass er sich etwas Ruhe verdient hatte. Seine Arbeit war getan.
22
Kapitel 6
Unterdessen ging im Süden ein 'seltsamer Krieg' weiter. Obwohl die Osgiliathkreuzung in zwei
Jahren dreimal den Besitzer gewechselt hatte, hatte keiner der Feinde versucht, seinen Erfolg
auszunutzen und den Kampf auf die andere Seite des Anduin zu tragen. Die Kämpfe beschränkten sich auf eine Reihe „edler Wettbewerbe“ - ein Zwischending zwischen Gladiatorenspielen und Ritterturnier. Die besten Kämpfer waren auf beiden Seiten namentlich bekannt
und Wetten auf die Kämpfer wurden ungeachtet der Seitenzugehörigkeit abgeschlossen. Die
Offiziere überboten sich in Höflichkeit und versäumten es nie, dem Gegner Glückwünsche zum
Geburtstag seines Monarchen oder anderer offizieller Anlässe zukommen zu lassen, bevor sie
ihn erledigten. Der einzige Misston in dieser einzigartigen Symphonie des höflichen Mordens
ging von den Banden der „Waldläufer“ oder Dúnadan aus, die hier wie Fliegen auf dem Aas
versammelt waren. Diese waren hauptsächlich damit beschäftigt, „feindliche Nachrichtenlinien zu stören“, oder, direkter ausgedrückt, Karawanen auszurauben. Die Truppen von Mordor
betrachteten sie eher als Banditen denn als feindliche Kämpfer, mit denen man in Kriegszeiten
nicht allzu sanft verfahren zu brauche, und knüpften nicht gerade wenige an den Ästen der Eichen entlang der Ithilienstraße auf. Die Nordlinge zahlten nach Vermögen in derselben Münze
zurück, und so war es kein Wunder, dass arbeitende Männer wie Tzerlag diesen 'Krieg' für absoluten Quatsch hielten.
Die Schlacht am Fangorn änderte die Situation dramatisch. Sogar vorher waren die Armeen
von Mordor und Isengard den vereinigten Streitkräften von Gondor und Rohan mindestens
eins zu drei unterlegen. Nach dem Untergang der Heeresgruppe verfügte Mordor über keinerlei Defensivstrategie mehr; es war unmöglich, Ithilien mit den verfügbaren Kräften zu halten.
Natürlich wären sie mehr als ausreichend gewesen, um die Festungen in den Pässen der
Aschen- und der Schattenberge zu halten, aber wozu? Gondor und Rohan hatten es nicht nötig,
diese Befestigungen zu stürmen, es war vollkommen ausreichend, einfach eine Blockade einzurichten und darauf zu warten, dass Mordor entweder sich ergab oder verhungerte. Die
Machthaber in Barad-Dur unterwarfen die Lage einer nüchternen Betrachtung und kamen zu
dem Ergebnis, dass es nur eine Möglichkeit gab, diesem Würgegriff zu entkommen.
Solange Isengard in Rohans Rücken frei ist, werden die Rohirrim es nicht wagen, ihre Kräfte
nach Südosten jenseits von Anorien zu verlegen. Obwohl die Armee von Isengard klein ist, ist
die Einnahme der Stadt nicht leicht, denn das primitive Rohan hat kein nennenswertes Belagerungsgerät. Also hat Mordor noch etwas Zeit, mindestens sechs Monate. Unter der Deckung
des niedrigstufigen Konflikts in Ithilien musste diese Zeit genutzt werden, um alle Reserven
des Landes in eine Speerspitze zu sammeln – alle waffenfähigen Männer einzuziehen, Söldner
anzuheuern und Verbündete zu rekrutieren (bei den Ostlingen und vor allem den Haradrim).
Dann muss diese gesamte Armee Gondors Truppen überraschend in einem Blitzkrieg
zerschlagen, solange Rohan nicht zu Hilfe kommen konnte. Danach wird Mordor den Krieg
schnell mit dem wohlbekannten 'Land gegen Frieden' – Szenario beenden, wobei ihnen die
Kontrolle über die Ithilienkreuzung bleiben sollte. Ein gewaltiges Risiko, aber eine Alternative
gibt es nicht!
Der Spiegel gab dem Vorhaben eine gute Erfolgschance. Gandalf war in großer Sorge, denn der
Krieg im Nordwesten verlief nicht so gut wie erwartet. Éomer war schnell nach Westen vorgestoßen, schaffte es nach einer blutigen Schlacht an der Hornburg die strategisch wichtige
Helmsklamm zu erobern und ins Tal des Isen durchzubrechen. Aber das war ein Pyrrhussieg,
denn die Verluste der Angreifer waren so groß, das an eine Erstürmung Isengards nicht mehr
zu denken war. Es blieb nur die Belagerung, auf die Mordor hoffte.
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Die Elben fanden eine Lösung. Als die Rohirrim Isengard erreichten, sahen sie zu ihrer Verblüffung nur einen großen See, wo die Stadt gewesen war; der Orthanc ragte aus seiner Mitte
hervor wie ein seltsamer Baumstamm aus einem Sumpf. Die Elben waren das Problem auf radikale Art angegangen, hatten in der Nacht zuvor den Damm des Isen durchbrochen und die
schlafende Stadt mit all ihren Verteidigern ersäuft. Der zutiefst angewiderte Gandalf und der
vor Wut schäumende Éomer (die Reichtümer von Isengard, die der Grund für seinen Feldzug
gewesen waren, ruhten jetzt auf dem Grund eines Sees) statteten den Elben einen Besuch ab,
um einiges klarzustellen.
Sie kamen spät in der Nacht zurück, kleinlaut, schweigend und ohne sich gegenseitig anzusehen. Die überraschten Offiziere fragten Éomer ob man den Sieg feiern solle; der General
knurrte: „Was auch immer,“ ging in sein Zelt und betrank sich entgegen aller Gewohnheit bis
zur Besinnungslosigkeit. Gandalf eilte aus unerfindlichen Gründen zum Orthanc und versuchte, mit Saruman zu sprechen; nach einer mehr als eisigen Zurückweisung brach er kraftlos am
Ufer zusammen und starrte auf die Spiegelung des Mondes. Wenn das alles geklärt ist, haben
die Elben wohl recht – am wichtigsten ist es jetzt, Truppen im Norden freizumachen und die
Rohirrim nach Süden zu bringen...aber der Spiegel...hatte Saruman der Meckerer damals doch
recht gehabt?...lieber nicht darüber nachdenken, jetzt gibt es kein Zurück mehr... und dieser
Dúnadan, dieser Streicher, wie heißt er? Aragorn? Arathorn? Zu was brauchen die Elben den
denn so plötzlich?
Währenddessen nahm der Krieg im Süden an Fahrt auf. Es war natürlich unmöglich, Truppenbewegungen der Größe der von Mordor begonnenen vor den feindlichen Spähern geheimzuhalten, selbst ohne dass diese den Spiegel besessen hätten. Auch Gondor zog seine verbündeten Truppen aus Anfalas, Ethir und Dol Amroth auf Minas Tirith zu, aber Mordor war schneller. Nach einem erfolgreichen Ausfall nach Norden (Richtung Lorien und weiter nach Esgaroth), der den Großteil der elbischen Kräfte gebunden hatte, hämmerte die Hauptstreitmacht
Mordors auf Gondor ein. Osgiliath wurde im Vorbeimarsch eingenommen; sechs Tage später
waren die zahlenmäßig überlegenen, aber schlecht aufgestellten Einheiten Gondors überrannt
und zerstreut und die siegreiche Südliche Armee lagerte mit all ihren Kriegsmaschinen vor
den Mauern des darauf überhaupt nicht eingerichteten Minas Tirith. Die erstklassigen Befestigungen des Pelennor waren vorher in nur wenigen Stunden erstürmt worden. So kam es, dass,
als der Palantír in Denethors Palast plötzlich zum Leben erwachte und Sauron ein sofortiges
Kriegsende im Tausch gegen die Berechtigung für Mordor, eine eingeschränkte Militärpräsenz
in Ithilien zu unterhalten, der König vom Fleck weg zustimmte, da er ziemlich korrekt dachte,
so ein Kalb für ein Küken zu bekommen. Dann geschah etwas seltsames.
Am nächsten Tag erschien ein Mann im weißen Mantel in Saurons Palantír . Er stellte sich als
Befehlshaber von Minas Tirith vor und erklärte, die Unterzeichnung des Friedensvertrages
müsse noch ein paar Tage warten, da der König von Gondor überraschend krank geworden
sei. Warum Prinz Faramir diese Verhandlungen nicht führe? Oh, der Prinz schwebe buchstäblich zwischen Leben und Tod, ein Giftpfeil habe ihn getroffen. Was solle das heißen „wessen?!“ Die Armee Mordors besitzt keine Giftpfeile? Wirklich? Hm... Ehrlich, er wisse es
nicht. Was Prinz Boromir beträfe, ginge leider das Gerücht, er sei irgendwo im Norden umgekommen. In anderen Worten, warten wir doch noch eine Woche oder so, während der König
sich erholt; ja, das sei nur eine Formalität.
Also warteten die Mordorer. Der Krieg ist vorbei, bald geht es nach Hause. Klar, Disziplin ist
wichtig, aber wie wäre es mit einer kleinen Siegesfeier, na? Auch wenn Isengard fallen sollte
und die Rohirrim nach Süden vorrücken würden, würde Saruman uns das doch mitteilen, also
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auch wenn es hart auf hart kommt, haben wir reichlich Zeit, eine eigene kleine Willkommensfeier vorzubereiten... Leider hatten sie keine Ahnung, dass Sarumans Palantír nur schwieg,
weil der übergelaufene Grima ihn als „Gastgeschenk“ mitgenommen hatte... und Rohans
Armee nur drei Tagesmärsche entfernt war.
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Kapitel 7
Gondor, das Feld von Pelennor
15. März 3019
Die Mordorer bemerkten erst, dass man sie hereingelegt hatte, als der braune Klecks der
Rohaner Reiter durch die nördliche Ecke der Nebelbank, die das Feld von Pelennor verhüllte,
sichtbar wurde, während Gondors Truppen aus dem geöffneten Tor von Minas Tirith stürmten
und schnellstens in Kampfformation gingen. Die Wut verdreifachte die Stärke der
übertölpelten 'Sieger;' sie trafen die Gondorer hart genug, um sie in die Flucht zu schlagen,
bevor die Rohirrim das Schlachtfeld erreichten und hätten bei der Verfolgungsjagd fast noch
die Stadttore erobert. Die gepanzerte Reiterei, die vom Marsch ermüdet war, erfüllte die
Erwartungen nicht; sie erwiesen sich als zu schwerfällig. So überschüttete die leichte
orozenische Reiterei sie mit einem Pfeilhagel und wich mit Leichtigkeit dem direkten
Zusammenstoß aus. Obwohl die Südliche Armee von Mordor zwei zu eins unterlegen war und
mit heruntergelassenen Hosen überrascht worden war, begann das Blatt sich zu wenden.
In diesem Moment landeten frische Truppen im Rücken der Mordorer am südöstlichen Rand
des Pelennorfeldes mit Schiffen, die gerade den Anduin herauf gesegelt waren. Die
angelandete Truppe war klein, und der Kommandant von Mordor schenkte den ersten
panischen Berichten über „unsterbliche Krieger“ keine Beachtung. Inzwischen wurde die
Schlacht immer härter. Im Norden banden die Bogenschützen aus Umbar und die geschickt
manövrierenden Orozenen die gesamten schweren Truppen Rohans; im Westen
zertrampelten und zerstreuten die Mûmakil der Haradrim die Fußsoldaten von Gondor aufs
neue, während die Pioniere die berüchtigten (und vermutlich aus Mithril gebauten) Tore der
Stadt in zehn Minuten in Stücke schlugen und den Katapultbeschuss der inneren Festungen
begann. Nur im Südosten geschah alarmierendes: die per Schiff angelandeten Truppen gingen
durch wie ein heißes Messer durch Butter. Als der Kommandant Süd die Bresche erreichte,
erblickte er folgendes.
Eine Phalanx, sechs Mann tief und etwa hundert Mann breit, bewegte sich ohne Eile in vollkommener Stille über das Schlachtfeld. Die Kämpfer trugen graue Kapuzenmäntel, die ihre Gesichter verdeckten, und waren nur mit langen, schmalen Elbenschwertern bewaffnet; sie trugen weder Rüstung noch Helme noch Schilde. Irgendetwas an den Soldaten der ersten Reihe
schien unpassend, und der Kommandant brauchte ein paar Sekunden, um zu erkennen, was:
sie waren förmlich mit den drei Fuß langen Pfeilen der Umbar gespickt, aber marschierten
trotzdem vorwärts. Ihr Befehlshaber war ein Reiter hinter ihnen, der den abgetragenen Tarnmantel eines dúnadanischen Waldläufers trug und das Visier geschlossen hatte. Die Sonne
stand fast genau über ihnen, aber der Reiter warf trotzdem einen langen, kohlschwarzen
Schatten – im Gegensatz zur Phalanx. Diese warf gar keinen Schatten.
Ein Adjutant berichtete dem Kommandanten, dass weder Kavallerie noch Mûmakil in der Lage
seien, diese Feinde anzugreifen; die Tiere würden bei Annäherung unbeherrschbar werden.
Inzwischen drängte die unbesiegbare Schlachtreihe nach Nordwesten – glücklicherweise
ziemlich langsam und zu direkt. Die Trollinfanterie konnte sie bremsen, während die Pioniere
zwei Batterien Feldkatapulte von den Stadtmauern abzogen. Die Einschätzung des Kommandanten erwies sich als richtig: im erwarteten Moment betrat die ganze Phalanx eine große, flache Senke, und die an ihrem Rand aufgestellten Katapulte eröffneten das Feuer in vorausberechneten Weiten und Winkeln. Die Bomben aus drei Eimern Naphtha verwandelten die Senke
in einen Vulkanausbruch, und der Siegesjubel stieg in den kalten Märzhimmel.
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Er verklang jedoch genau so schnell wieder, denn aus der orangefarbenen Höllenglut des
brennenden Naphtha erschien die Reihe der Grauen aufs Neue. Ihre Mäntel glommen und
qualmten, manche standen in Flammen; die Pfeilschäfte, die dutzendweise in ihnen steckten,
brannten ebenfalls lichterloh. Da hielt eine dieser lebenden Fackeln – der vierte von rechts in
der ersten Reihe – an und begann, in einem Funkenregen in Stücke zu brechen; seine Genossen schlossen die Reihen sofort. Man konnte sehen, dass das Bombardement den Grauen einiges abverlangt hatte: mindestens fünfzig ähnliche Brände loderten verstreut inmitten der Senke, wo die Bomben eingeschlagen waren.Doch einige von ihnen versuchten immer noch, aufzustehen und weiterzugehen.
Der General hieb mit der Faust auf den Sattelknauf – möge der Schmerz ihn in die Realität zurückbringen und alle Spuren dieses Albtraums aus seinem Hirn bannen... Kein Glück damit. Er
steht immer noch am Rand einer ausgebrannten Senke auf dem Feld von Pelennor, und seine
Soldaten, stets bereit, ihm durch Himmel und Hölle zu folgen, stehen kurz vor der Flucht, denn
das übersteigt ihrer aller Verstand! Ohne groß nachzudenken, donnerte er: „Für Mordor und
das Auge!“ und trieb sein Pferd mit erhobenem Skimitar auf die rechte Flanke der Grauen zu –
denn dorthin war aus irgendwelchen Gründen auch der Dúnadan mit dem geschlossenen
Helm geritten.
Als der Kommandant sich der Phalanx näherte, stieg sein Reittier vorne auf und warf ihn beinahe aus dem Sattel. Jetzt konnte er die feindlichen Krieger deutlich erkennen und wusste,
dass die Unmengen an 'Angsthasen' recht gehabt hatten. Es waren wirklich lebende Tote:
ehrfurchtgebietende, pergamenthäutige Mumien, deren Augen und Münder sorgfältig
zugenäht waren; schrecklich blasenübersäte Ertrunkene, die von grünlichem Schleim trieften;
Skelette, von denen schwarze Hautfetzen herabhingen und deren Todesursache nicht einmal
der beste Leichenbeschauer noch herausgefunden hätte. Die Leichen starrten ihn an, und ein
schauderhaftes tiefes Knurren erklang; so klingt ein Schäferhund, der seinem Gegner an die
Kehle will. Doch der General hatte keine Zeit für Furcht – ein Dutzend graue Gestalten haben
sich schon aus der hinteren rechten Ecke der Formation gelöst, mit der eindeutigen Absicht,
ihm den Weg zum unentschlossen dastehenden Dúnadan zu verlegen, und so gab er dem
Hengst erneut die Sporen.
Er brach mit überraschender Leichtigkeit durch die Reihe der Toten: sie erwiesen sich als
ziemlich langsam und keine Herausforderung für einen Kämpfer seiner Erfahrung im Einzelkampf. Ein Erhängter mit hängender Zunge und hervorquellenden Augen hatte kaum das
Schwert gehoben, als der Kommandant seinen Schwertarm mit einer blitzschnellen waagrechten Bewegung aus dem Handgelenk durchtrennte und ihn anschließend von der rechten
Schulter abwärts fast halbierte. Die anderen wichen aus irgendwelchen Gründen zurück und
versuchten nicht mehr, ihn aufzuhalten. Inzwischen hatte der Dúnadan offenkundig entschieden, entweder zu kämpfen oder zu fliehen, stellte fest, dass es kein Entkommen gab, stieg entschieden ab und zog sein Elbenschwert. So willst du es also, ja? Kampf zu Fuß – na gut. Das
traditionelle „Verteidigt euch, edler Herr!“ auf den Lippen, sprang der General von Mordors
Südlicher Armee geschickt vom Pferd, mit dem Gedanken, dass dieser Landstreicher aus dem
Norden wohl kaum ein 'Herr' zu nennen sei. Die Schlachtreihe war schon etwa hundert Schritt
weitermarschiert; sieben der Untoten standen abseits, den toten Blick auf die Zweikämpfer
gerichtet; Stille fiel über das Feld.
Mit überraschender Klarheit erkannte er plötzlich, dass dieses Duell nicht nur das Ergebnis
dieser Schlacht, sondern auch das Schicksal von Mittelerde auf Jahre hinaus bestimmen würde. Dann sprach seine innere Stimme in seltsam bittendem Tone: „Überdenke das noch einmal,
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solange es noch geht! Bitte!“ - als wolle sie ihn warnen, ohne zu wissen wie. Aber da gab es
nichts mehr zu überlegen! Sie sind beide leicht gepanzert, damit hat sein gebogener Skimitar
einen deutlichen Vorteil gegen jedes gerade westliche Schwert; der Kerl scheint kein
Linkshänder, also keine Überraschungen von dort; es wäre besser gewesen, zu Pferd zu
kämpfen, aber wozu gierig sein... Alles bereit – es kann aufgetischt werden, wie man so sagt!
Der Dúnadan erwartete ihn, ohne irgendeine Bewegung zu versuchen: Knie leicht gebeugt,
Schwert mit beiden Händen aufwärts gerichtet, Heft an der Gürtelschnalle; jegliche vorherige
Unentschlossenheit war verschwunden. Der General näherte sich schnell auf sieben Schritte,
gerade in die Maximalreichweite des Nordlings, und begann zu fintieren: rechts, links, dann
sein liebstes Ablenkungsmanöver – schneller Schwertwechsel in die Linke und zurück...
Ein fürchterlicher Hieb in den Rücken fällte ihn. Ihm gelang eine Seitwärtsdrehung („Rückgrat
noch da...“), er hob den Kopf und dachte entfernt: ja, ich hab diese Leichen unterschätzt...sie
können also wirklich schnell und leise sein, wenn es sein muss...nordischer Bastard... Überraschenderweise schaffte er es auf ein Knie mit dem Krummschwert als Krücke; die Leichen hatten ihn schon umzingelt und erwarteten mit erhobenen Schwertern einen Befehl ihres Befehlshabers. Der schien keinerlei Eile zu haben; den Helm in den Nacken geschoben und auf
einem Grashalm kauend betrachtete er seinen gefallenen Feind voll Neugierde. Dann brach
seine ruhige, weiche Stimme das Schweigen:
„Willkommen, Kommandant! Ich wusste, du würdest für'n Einzelduell herkommen, wie das
bei euch Adligen Sitte ist,“ feixte er. „Hab mir nur Sorgen gemacht, ob du auch absteigen
würdest, wie ich. Wärste im Sattel geblieben, hätte alles anders kommen können... Bin ich froh,
dass ich dich nicht überschätzt hab, edler Herr.“
„Ihr habt betrogen.“
„Narr! Ich bin gekommen, um einen Krieg zu gewinnen, nicht irgendein blödes Duell. Tulkas
sei mein Zeuge, ich hab schon oft mit dem Tod gespielt, aber immer mit einem Ziel, nicht aus
Jux und Dollerei!“
„Ihr habt betrogen,“ wiederholte der General und versuchte, das Blut aus seiner Lunge, das
sich in seinem Mund sammelte, nicht auszuhusten. „Noch nicht einmal die Ritter des Nordens
werden Euch die Hand reichen.“
„Natürlich werden sie das nicht,“ lachte der Dúnadan, „die werden vor dem neuen König von
Gondor niederknien! Ich hab dich ehrlich einer gegen einen geschlagen, so wird es in den Geschichtsbüchern stehn. Was dich angeht, wird man sich nicht mal an deinen Namen erinnern,
dafür werd ich sorgen. Obwohl,“ hielt er mitten in der Bewegung an, auf der Suche nach dem
Steigbügel, „das könnten wir doch etwas interessanter machen: getötet von einem Kleinwüchsigen, irgendeinem kleinen Zwerg mit haarigen Pfoten. Oder nem Weibsstück... jep, so machen
wir's.“
Er stieg schnell auf, gab seinen toten Männern ein Zeichen und leitete sein Pferd der entfernten Phalanx hinterher. Nur einmal drehte er um und prüfte ungeduldig: kommen die endlich
nach oder wie? Doch die Leichen standen immer noch im Kreis und schwangen die Schwerter
auf und ab wie Dreschflegel.
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Kapitel 8
Inzwischen lief die Schlacht weiter. Wahrlich, die Truppen Mordors teilten sich nun vor den
Reihen der Untoten ohne zu kämpfen, aber im südöstlichen Teil des Schlachtfeldes gab es keine westlichen Koalitionstruppen mehr, die von dieser Bresche, die Aragorn geschlagen hatte,
hätten profitieren können. Nebenbei hatte der Zusammenstoß an der Senke bewiesen, dass
die grauen Krieger nicht vollkommen unbesiegbar waren; sie waren schwer, aber nicht
unmöglich zu vernichten. Die Phalanx, die für ein paar Minuten führungslos gewesen war,
stieß weiter vor, bis sie aus purem Zufall in die Reichweite der stationären Katapulte geriet,
die auf die Zitadelle von Minas Tirith gerichtet waren. Die Artilleristen Mordors verloren keine
Zeit, drehten die Geschütze und eröffneten das Feuer – diesmal nicht mit kleinen Drei – Eimer
– Bomben, sondern mit Brandfässern, die jedes vierzig Eimer Naphtha fassten. Von
monströsen flammenden Wirbelwinden umgeben und ohne freie Sicht auf den Feind (der aus
der Deckung schoss) marschierte die Einheit ohne Besinnung weiter, Schritt für Schritt tiefer
in die Todeszone. Als Aragorn auf seinem schweißgebadeten Pferd sie endlich eingeholt hatte
und den sofortigen Rückzug befahl, musste die Phalanx daher das gleiche tödliche Gebiet
nochmals durchqueren.
Diesmal waren die Verluste so hoch, dass der Dúnadan sich entschloss, zu der
Hauptstreitmacht im Westen zurückzufallen, bevor es zu spät war; das aber erwies sich als
schwierig. Jetzt bedrängten die orozenischen Reiter die dezimierte Phalanx wie Piranhas:
geschickt fingen sie einzelne Untote vor allem in den hinteren Reihen mit Fangseilen, zogen
sie aus der Linie und schleppten sie weg, um sie anschließend sorgfältigst in kleine Stücke zu
hacken. Beim Versuch, ihre gefangenen Kameraden zu retten, mussten die Grauen die Reihen
auflösen, was ihre Lage nur noch verschlimmerte. Hier muss man Aragorn Respekt zollen: es
gelang ihm, die Reihen zusammen zu halten und unter Deckung durch kurze Gegenangriffe zu
den Truppen Gondors durchzubrechen, wobei er selbst zwei Offiziere Mordors niedermachte.
Die letzten hundertfünfzig Schritt gerieten sie erneut unter Beschuss durch tragbare
Katapulte, so dass es nur ein paar Dutzend Untote zu den Gondorern schafften, was diese fast
zur Flucht veranlasst hätte.
Aragorns graue Phalanx war fast vollständig untergegangen, aber sie hatte ihre Arbeit erledigt. Zuerst hatte sie beträchtliche Teile der Armee Mordors gebunden, vor allem die Katapulte, ohne die die inneren Befestigungen von Minas Tirith nicht zu nehmen waren. Was noch
wichtiger war: nach dem Tod des Kommandanten hatte die Südliche Armee keine Leitung
mehr und ließ sich in direkte Kämpfe bis zur gegenseitigen Vernichtung verwickeln – eine Einladung zur Niederlage, wenn der Feind soviel zahlreicher ist. Trotzdem kämpfte Mordor mit
allem Geschick und aller Entschlossenheit weiter; der Märztag ging dem Ende zu, aber die
Westländer konnten ihre doppelte Überlegenheit nicht ausspielen. Der Großteil des Gefechts
spielte sich im Norden ab, wo die trollische Infanterie und die umbarischen Bogenschützen jeden Durchbruchsversuch der Rohirrim trotz großer Verluste vereitelten.
...Éomer passierte langsam die Linie der Reiter von Rohan und Dol Amroth, die gerade von einem weiteren erfolglosen Angriff zurückkehrte, dem vierten an diesem Tag. In Wirklichkeit
war es eine ganz schöne Übertreibung, diesen düsteren Haufen Pferde und Männer, zum Teil
verletzt und allesamt am Ende ihrer Kraft, eine Linie zu nennen. Er hatte gerade versucht, sein
Helmvisier, das Kontakt mit der Keule eines Haradi gehabt hatte, wieder zurechtzubiegen, als
man ihm mitteilte, dass König Theoden beim letzten Angriff gefallen sei. Nach dem siegreichen
Marsch auf Isengard war der alte Mann überzeugt, Éomer würde seinen kommenden Ruhm
als Sieger über Mordor ausnutzen, um ihm die Krone abzujagen, und beobachtete seinen Nef29
fen mit Argusaugen. Darum hatte er den Marsch nach Südosten persönlich angeführt und
seinen beliebtesten General kurz vor der Schlacht des Kommandos enthoben. Der König war
entschlossen, die Schlacht alleine „ohne das rotznäsige Jungvolk“ zu gewinnen, verwarf alle
taktischen Ratschläge und opferte die Besten der Reiter von Rohan in sinnlosen Sturmangriffen. Jetzt hatte es ihn selbst erwischt.
Éomer hatte jetzt die Verantwortung. Er betrachtete die niedergeschlagenen Reihen der Rohirrim, die im brutalen Märzenwind zitterte. Ihm war zumute wie einem Arzt, dem man gnädigerweise die Behandlung eines Patienten erlaubt hatte, nachdem dieser schon ins Koma gefallen war. Das Schlimmste dabei war, dass es der Armee von Mordor genau so oder sogar noch
schlimmer ging; Erfahrung und Gefühl für die Schlacht des Generals sagten ihm in aller Klarheit, dass ein entschiedener Schlag die Schlacht jetzt wenden konnte. Er sah deutlich die
Schwachpunkte in den feindlichen Linien, wusste genau, wo er zuschlagen musste und wie
man eine erfolgreiche Bresche schlagen konnte, aber er wusste auch, dass er es nicht wagen
durfte, seine Leute nach vorne zu beordern. Es gibt ein ungeschriebenes Gesetz, das niemand
zu brechen wagt: man darf nur dann einen Befehl erteilen, wenn man auch sicher ist, dass er
befolgt wird, ansonsten bedeutet es das Ende von allem, was eine Armee zusammenhält. Genau so klar sah er, dass diese Männer nicht zu einem weiteren Angriff in der Lage waren, nicht
heute.
Also hielt er sein Pferd an, befahl allen, abzusitzen – um von mehr Männern gesehen zu werden – und begann eine Rede, die sich für einen Soldaten ziemlich seltsam anhörte:
„Jungs, wir sind alle sterblich; was zur Hölle macht es, ob es früher oder später passiert? Mich
interessiert viel eher das, was danach mit uns passiert. Wahrscheinlich meint ihr, euer General
sei durchgedreht, wenn er jetzt vom Jenseits zu reden beginnt, aber ich glaube – wann wäre es
passender? Seht mal, wir sind einfache Leute – leben auf dem Feld und beten zum Schutze,
und wenn die Gefahr vorbei ist, vergessen wir bis zum nächsten Mal... Na ja, Männer, es gibt
jede Menge Ansichten über das, was kommt, aber alle sagen, dass wir das bekommen, an das
wir glauben. Wenn ihr also glaubt, dass von euch nichts als eine Handvoll Staub übrigbleibt,
während eure Leiche verrottet, dann wird genau das passieren. Manche Glaubensrichtungen
sind noch schlimmer – ewiges Umherwandern als Schatten in der Unterwelt – dann doch lieber zu einem Nichts verschimmeln als so ein Schicksal! Manche erwarten, auf dem grünen
Gras eines schönen Gartens zu liegen, himmlischen Nektar zu trinken und Harfe zu spielen;
auch nicht schlecht, aber für meinen Geschmack ziemlich langweilig. Aber im Osten gibt es
einen wundervollen Glauben – ein reisender Missionar hat mir vor ein paar Tagen davon erzählt – und der ist so schon verdammt gut, ernsthaft, aber sein Paradies ist das Beste, genau
mein Geschmack.“
Er sah um sich – die Leute schienen zuzuhören – und machte weiter:
„Ein Palast im Himmel und in ihm ein Festmahl, das jede Königshochzeit schäbig aussehen
lässt, der Wein fließt wie Wasser aus einer Quelle, aber das beste sind die Houranis. Das sind
Mädchen, die ewig achtzehn Jahre alt sind, unglaublich hübsch, und das kann keiner anzweifeln, denn mehr als ein, zwei Armreifen haben sie nicht an. Und was Sex angeht – solche
Leistungen wie die bringt hier unten keine! Da gibt es nur einen Haken – nur rechtgläubige
Männer dürfen rein, Typen wie wir haben keine Chance...“
Bewegung kam in die Reihen, ein Poltern erklang und verhallte wieder, jemand spuckte aus:
schon wieder angeschmiert! Éomer erhob die Hand und es wurde wieder still, nur das müde
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Rascheln toten Grases war zu hören.
„Das heißt – eine Möglichkeit gibt es. Ein Schlupfloch für Verlierer wie uns. In diesem herrlichen Glauben werden jedem, der im Kampf für eine gerechte Sache stirbt – und wer würde behaupten, unsere sei das nicht – alle Sünden vergeben und er wird von selbst zum Rechtgläubigen. Also, wenn irgendeiner von euch dieses Paradies durch Rechtgläubigkeit erreichen will –
viel Glück! Was mich angeht, habe ich keine solche Hoffnung, also werde ich gleich hier und
jetzt als tapferer Märtyrer bei den Houranis landen – wann habe ich sonst so eine Gelegenheit?
Also, wer will und wer kann – folgt mir und dem Rest viel Glück!“
Er erhob sich in den Steigbügeln und brüllte mit dem Panzerhandschuh als Schalltrichter gen
Himmel: „Heda, Mädels! Macht den Himmlischen Puff auf, kümmert euch nicht um die Stunde!
Macht euch bereit, drei erstklassige Bataillone der Reiter Rohans zu empfangen – ich wette
meinen Schwanz gegen einen zerbrochenen Pfeil, dass ihr diese Kundschaft nie vergessen
werdet! Wir greifen an, also sind wir in zehn Minuten bei euch im Himmel, das sollte für die
Vorbereitungen reichen!“
Und das Wunder geschah: die Männer erhoben sich! Gelächter und ausführliches Fluchen ertönte in den Reihen, irgendwer auf der rechten Flanke erkundigte sich, ob man sich bei einer
Hourani den Tripper holen könne und falls ja, wie lange die Heilung im Himmel wohl dauern
möge. Imrahil, der Prinz von Dol Amroth, ein schöner Mann und bekannter Schürzenjäger,
sprach zu einem errötenden Jüngling auf der rechten Flanke:
„Kopf hoch, Kornett! Die Gelehrten sagen, da oben gäbe es Schönheiten für jeden Geschmack.
Sie haben wohl schon ein paar Romantikerinnen für dich zusammengesucht, die ganz heiß
darauf sind, dass du ihnen im Mondlicht ein paar Verse vorträgst!“
Der junge Mann errötete sogar noch mehr unter dem schallenden Gelächter und starrte den
Prinzen voller Wut durch die (eindeutig weiblichen) Wimpern an. Éomer riss das Pferd herum, dass dem der Dreck von den Hufen schleuderte und rief aus:
„In den Sattel, Jungs! Die Hausdame da oben hat wohl schon nach mehr Wein für die neuen
Kunden geschickt. Beim Gelächter Tulkas, heute kriegt jeder einzelne von euch genug Núrnenwein, um darin zu ersaufen, ob im Himmel oder hier unten! Die Valar sollen sich um die Toten
kümmern, der König von Rohan um die Lebenden! MIR NACH!
Er warf den zerschlagenen Helm beiseite und warf keinen Blick zurück, als er das Pferd dahin
trieb, wo sein geübtes Auge einen kleinen Fleck fremder Farben in der undurchdringlichen
Reihe der trollischen Infanterie erspäht hatte – die dunklen Rundschilde von Speerträgern der
Ostlinge. Der Wind pfiff in seinen Ohren und zerzauste sein verschwitztes flachsblondes Haar;
Imrahil galoppierte rechts von ihm fast auf gleicher Höhe.
„Verdammt, Prinz, Helm auf – Bogenschützen von rechts!“
„Nach Euch, edler Herr!“ grinste der Prinz zurück, schwang das Schwert über dem Kopf und
rief in vom Brüllen der Befehle heiserer Stimme: „Für Dol Amroth und den Schwan!“
„Für Rohan und das Weiße Ross!“ kam das Echo von Éomer, als hinter ihnen der Donner von
tausenden Hufen zu einem majestätischer Stakkato anschwoll: die Reiter von Rohan und Dol
Amroth setzten zum letzten Sturmangriff an, zum Sieg oder Tode.
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Kapitel 9
Jeder weiß, dass die Infanterie der Ostlinge der von Mordor weit unterlegen ist; Éomers
Sturmangriff zerstreute sie wie Kegel, und die glänzende Klinge der Reiterei des Westen rannte durch die Verteidigungslinie Mordors. Kurze Zeit später platzte eine weitere Streitmacht in
ihre Rückseite – eine Speerspitze aus Aragorns verbliebenen grauen Kriegern, verstärkt durch
gepanzerte Infanterie aus Gondor. Etwa zur sechsten Stunde abends schlossen sich diese
Klauen tief im Herzen der Südlichen Armee, in der Nähe ihres Lagers. An diesem Punkt war
die Schlacht vorbei, und das Abschlachten begann. Die stillgelegten Kriegsmaschinen wurden
angezündet, und die tanzenden Flammen beleuchteten hier einen Krankentransport der Orozenen, der im Schlamm feststeckte, dort ein mit Pfeilen gespicktes Mûmak, das über das Feld
rannte und Freund und Feind gleichermaßen zertrampelte. Éomer war in diesem Chaos des
Sieges gerade über Aragorn gestolpert und umarmte seinen Waffenbruder zeremoniell unter
dem Siegesgeschrei ihrer beider Truppen, als ihm ein herangaloppierender Reiter auffiel – der
Kornett, der so rot geworden war. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, hatte sich der Junge
mehr als bewährt und hatte einen Orden redlich verdient. Als die Rohirrim die Reste der Südlichen Kavallerie beim Lager überrannten, hatte er sich alleine einen Leutnant der Haradi vorgenommen, den schwarzen Hünen (zur Verblüffung aller) aus dem Sattel gehoben und sich
den roten Mantel mit dem Schlangenemblem des Feindes geholt – dasselbe, das er nun im Triumph schwenkte. Ein Dutzend Schritte vor den wohlwollend blickenden Anführern stieg der
Kornett ab, zog den Helm herunter, schüttelte den Kopf wie ein unwilliges Pferd – und plötzlich ergoss ein Schwall Haare von der Farbe des sonnenverbrannten Präriegrases von Rohan
sich über seine Schultern.
„Éowyn!“ war alles, was Éomer herausbrachte. „Was zum Henker!..“
Die Schildmaid streckte ihm die Zunge heraus, warf ihm im Vorbeigehen den Haradimantel zu
– er stand völlig gelähmt an der Seite, die Trophäe seiner Schwester umklammernd – und
blieb vor Aragorn stehen.
„Hallo, Ari!“ sagte sie in aller Seelenruhe; Nienna weiß woher sie die hatte. “Glückwunsch zum
Sieg. So wie es aussieht, sind jetzt alle deine Ausreden wegen Kriegszeiten überflüssig. Also
wenn du mich nicht mehr brauchst, sag es jetzt und ich werde, bei den Sternen von Varda, sofort aufhören, dich zu belästigen!“
„Wie kannst du das sagen, meine Amazone!“ und schon war sie in seinem Sattel, starrte ihn
mit glänzenden Augen an, stammelte Unsinn und küsste ihn vor allen Umstehenden – die Mädchen von Rohan halten nicht viel von der südlandischen Zeremonie, und eine Heldin des Pelennor scherte sich nicht darum... Alles, was Éomer tun konnte, war, das Idyll mit anzusehen
und sich von Minute zu Minute mehr aufzuregen: „Närrin! Mach die Augen auf und schau sein
Gesicht an, da steht alles geschrieben – was er dir bedeutet und was du ihm bedeutest!
Warum, warum stehen die dummen Weiber bloß immer auf die Gauner – der ist ja noch nicht
mal ansehnlich...“ Nicht dass er darin der erste oder letzte in dieser Welt oder in allen anderen
gewesen wäre...
Natürlich sprach er nichts davon aus aus und verlangte nur: „Zeig mir deinen Arm.“ Erst als
Éowyn protestierte, sie sei groß genug, um damit fertig zu werden und dass es nicht einmal
eine Schramme sei, ließ er etwas von seiner Frustration ab, indem er sie so laut und vulgär
ausschimpfte, dass einem die Ohren klingelten. Er beschrieb der Heldin von Pelennor auf das
ausführlichste, was er mit ihr anstellen würde, wenn sie sich nicht spätestens bei Drei bei den
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Ärzten melden würde. Éowyn lachte und salutierte ihm: „Jawohl, mein Feldherr!“ und nur die
ungewöhnliche Vorsicht, mit der sie auf sein Pferd stieg, verriet ihm, dass es doch viel mehr
als eine Schramme war. Aber da lehnte sich das Mädchen schon an die Schulter des Bruders:
„Eom, mein Lieber, sei nicht eingeschnappt, von mir aus verhau mir den Hintern, aber sag
Tantchen bitte nichts, in Ordnung?“ und rieb ihre Nase an seiner Backe, wie in ihrer Kindheit...
Aragorn sah ihnen mit einem Lächeln zu, und Éomer erschauderte, als er seinen Blick bemerkte: so sah ein Bogenschütze aus, kurz bevor er den Pfeil von der Sehne ließ.
Die Absichten hinter diesem Blick begriff er erst am nächsten Tag, als es schon zu spät war. Ein
Kriegsrat wurde an diesem Tag in Aragorns Zelt abgehalten, an dem auch Imrahil, Gandalf-Mithrandir und ein paar elbische Adlige (deren Armee erst in der Nacht zuvor, als alles schon
vorbei war, eingetroffen war) teilnahmen. Dort erklärte der Dúnadan dem Erben Rohans (der
jetzt König war) ohne jede Höflichkeiten, dass er ab jetzt ein Untergebener und kein Verbündeter mehr war, und dass das Überleben von Éowyn, die im Lazarett von Minas Tirith unter
strengster Bewachung lag, nur von seinem Wohlverhalten abhinge.
„Tja, lieber Éomer, du kannst mich zweifellos hier und jetzt durchbohren – und dann in diesem
Palantír zusehen, was deiner Schwester passieren wird; wird kein schöner Anblick sein. Nein,
natürlich ahnt sie nichts davon; sieh mal, wie anrührend bemüht sie mit der Pflege für den
verletzten Prinz Faramir ist... Welche Garantien? Da gibt es nur gesunden Menschenverstand:
sobald ich König von Gondor und Arnor bin, habe ich niemand mehr zu fürchten... Wie? Ganz
einfach. Du weißt, Gondors König ist tot. Schlimme Sache, wirklich – denk mal, er ist durchgedreht und hat sich selbst auf einem Scheiterhaufen verbrannt. Prinz Faramir hat einen Giftpfeil
abbekommen und wird sich lange nicht erholen, wenn überhaupt; das kommt auf... äh... mehrere Dinge an. Prinz Boromir? Leider gibt es da auch keine Hoffnung – der ist im Kampf gegen
die Orks am Anduin unterhalb der Raurosfälle gestorben; ich hab ihn eigenhändig ins Begräbnisboot gelegt. Und da wir im Krieg sind, darf das Erbe Isildurs das Land nicht ohne Anführer
verlassen. Darum nehme ich den Befehl über die Streitkräfte Gondors und die gesamte Westliche Koalition an... Hast du was gesagt, Éomer? Nicht?..
Wir ziehen sofort gegen Mordor, denn die Krone Gondors kann ich erst akzeptieren, sobald
wir siegreich zurückkehren. Was Faramir angeht, bin ich geneigt, ihm eines von Gondors Herzogtümern zu überlassen...hm, sagen wir mal Ithilien. Er hat sich sowieso immer eher für Poesie und Philosophie interessiert als für Staatsangelegenheiten. Aber wir sollten nicht soweit
vorgreifen, denn er ist in kritischem Zustand und überlebt vielleicht nicht, bis wir wieder da
sind. Also, mein lieber Imrahil, bete fleißig für seine Gesundheit während unseres Feldzugs,
man sagt, die Valar schätzen die Gebete eines besten Freundes am meisten... Wann wir ausrücken? Sofort nachdem wir die letzten Reste der Südlichen Armee bei Osgiliath ausgelöscht
haben. Noch Fragen? Gut!“
Sobald das Zelt leer war, sprach die Person im grauen Mantel hinter Aragorn diesen voll Respekt an: „Ihr habt ein unnötiges Risiko auf Euch genommen, Euer Majestät. Dieser Éomer war
eindeutig von Sinnen; er hätte alles beiseite stoßen und zuschlagen können...“
Der Waldläufer drehte sich zu ihm und schnappte: „Mich erstaunt deine Geschwätzigkeit und
deine Achtlosigkeit als Angehöriger meiner Geheimen Wacht.“
„Vergebt mir, Euer Majestät – ein Mithril – Kettenhemd unter eurer Bekleidung?“
Aragorns spöttischer Blick wanderte über das dunkle, vertrocknete Gesicht des Sprechers und
blieb an den Reihen kleiner Löcher um dessen Lippen hängen. Für fast eine Minute herrschte
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Schweigen.
„He, ich dachte schon, dein Hirn sei in der Gruft ausgetrocknet und du würdest nun seine Herkunft bezweifeln... Was ich nebenbei schon lange mal wissen wollte: warum werden eure Münder eigentlich zugenäht?“
„Nicht nur diese, Euer Majestät. Der Glaube sagt, man müsse alle Körperöffnungen einer Mumie verschließen, sonst kehre der Geist des Verschiedenen am vierzigsten Tage in ihn zurück
und er würde dann an den Lebenden Vergeltung üben.“
„Ziemlich naive Art der... ähm... Verhütung.“
„Wahrhaftig, Euer Majestät,“ erlaubte sich der graue Mann zu lächeln, „und ich bin der lebende
Beweis dafür.“
„Ach, lebend? Was ist mit dieser 'Vergeltung an den Lebenden'?
„Wir befolgen nur Befehle. Unser Schatten ist Euer Schatten.“
„Also es ist dir egal, wenn ich dir befehle, ein Kind zu töten oder wie ein Vater für es zu werden?“
„Vollkommen. Ich werde jegliche Verpflichtung nach bestem Wissen erfüllen.“
„Gut, das passt mir. Erstmal habe ich Arbeit für dich. Vor kurzem hat einer meiner Waffenbrüder aus dem Norden, ein gewisser Anakit, sich betrunken und vor seinen Freunden geprahlt,
er wäre bald so reich wie Tingol. Wahrscheinlich hat er Informationen über ein legendäres
Schwert, für das ein gewisser Jemand jeden Menge zu zahlen bereit wäre. Dieses Geschwätz
muss sofort aufhören.“
„Jawohl, Euer Majestät. Diejenigen, die diese Angebereien gehört haben...“
„Wozu soll das gut sein?“
„Denkt Ihr?..“
„Merk dir eins, Freundchen: Ich töte ohne zu zögern, aber ich töte niemals – niemals, verstanden? – wenn es nicht wirklich sein muss. Kapiert?“
„Dies ist wahrhaft weise, Euer Majestät.“
„Du nimmst dir zu viel heraus, Leutnant,“ entgegnete der Waldläufer in einem Tonfall, der vielen anderen das Blut gefrieren ließe.
„Unser Schatten ist Euer Schatten,“ wiederholte der andere in aller Ruhe. „Also sind wir und
Ihr auf eine bestimmte Art eins. Darf ich Eure Befehle ausführen?“
***
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Viel gibt es nicht hinzuzufügen. Die Armee der Westlichen Koalition (und der übergelaufenen
Ostlinge, die von den Siegern 'begnadigt' worden waren) rückte für ihren letzten Feldzug aus.
Ihr Höhepunkt war die Meuterei der Rohirrim der Westmark und der Milizionäre von Lossarnach am 23. März, die um ihr Leben nicht verstanden, warum sie fern der Heimat für Aragorns
Krone sterben sollten. Nachdem er die Revolte erbarmungslos niedergeschlagen hatte, brachte
der Dúnadan seine Armee zum Feld von Cormallen am Eingang zum Morannon, wo er die letzten Verteidiger Mordors vorfand. Diese hatten schon alle Reserven aufgebraucht, weil sie alles
in die Südarmee gesteckt hatten. Die Koalition siegte, soll heißen, die Männer Gondors, Rohans
und des Ostens übersäten die Festungen des Morannon einfach mit ihren Leichen. Wie gewöhnlich tauchten die Elben erst dann auf, als die Schlacht schon entschieden war. Die Verluste der Sieger waren so massiv, dass man in der Eile eine Legende über eine riesige Ostarmee
erfinden musste. Mordor starb bis zum letzten Mann, einschließlich König Sauron; letzterer
kämpfte in den Reihen seiner Königlichen Reitergarde in der Uniform eines Kapitän, deshalb
wurde seine Leiche nie identifiziert. Die Chroniken des Westens verschweigen in der Regel die
Taten der Koalition nach dem Sieg, denn das Blutbad, das sie in Mordor veranstalteten, war
selbst für die damaligen nicht gerade menschenfreundlichen Zeiten zu grausig.
Wie es auch sein mag, Gandalfs Plan war erfolgreich (wenn man das kleine Problem mit dem
Spiegel, den zurückzugeben die Elben nicht die Absicht hatten): die Zivilisation von Mordor
hatte aufgehört zu existieren. Doch die Magier des Weißen Rates hatten irgendwie eines vergessen: es gibt Einen auf der Welt, Der Endsiege und ausgesuchte 'Endlösungen' eher verabscheut und in der Lage ist, Sein Missvergnügen darüber auf unvorstellbar erschreckende Art
zu zeigen. Selbst jetzt betrachtete dieser Jemand leidenschaftslos die Geschlagenen – all das
Treibholz, das der Sturm an Land gespült hat – als plötzlich Sein Blick auf zwei Soldaten der
ausgelöschten Südarmee in den Dünen der Wüste Mordors fiel.
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Kapitel 10
Mordor, Gebiet der Teschgol
9. April 3019
„Also warum warten wir nicht bis zur Nacht?“ flüsterte Haladdin.
„Wenn das wirklich eine Falle ist und die Jungs, die sie gestellt haben, keine kompletten Idioten sind, erwarten sie gegen Abend Gesellschaft. Was sagt das Gefechtshandbuch, Doktor?“
Tzerlag hob den Finger. „Richtig – immer das Gegenteil von dem tun, was der Feind erwartet.
Also, stillhalten bis zu meinem Zeichen, und wenn ich verlorengehe, was der Eine verhüten
möge, auch noch länger. Klar?“
Er warf noch einen Blick auf das Lager und murmelte: „Verdammt, das gefällt mir gar nicht.“
Das Gebiet der Teschgol bestand aus festem Sand gesprenkelt mit ziemlich dichten Wäldchen
aus weißem Saxaul in flachen Senken zwischen kleinen Hügeln, die mit Wüstensegge und Sakaton bedeckt waren. Das Zeltlager bestand aus drei Jurten, die im Dreieck aufgestellt waren,
mit den Eingängen nach innen. Alles auf einer kleinen windgeschützten Lichtung etwa hundertfünfzig Schritt von ihrem Versteck entfernt, so dass alles darin sichtbar war. Tzerlag hatte
es eine geschlagene Stunde beobachtet, aber keine verdächtigen Bewegungen gesehen. Aber
eben auch keine unverdächtigen – das Lager schien komplett verlassen. Das war sehr merkwürdig, aber es war Zeit, etwas zu unternehmen.
Eine Minute später beobachtete Haladdin mit angehaltenem Atem den Kundschafter in seinem
braunen Mantel dabei, wie er an den kaum unterscheidbaren Falten im Boden geradezu entlang floss. Natürlich hatte er recht: das Einzige, was ein Feldmediziner hier beitragen konnte,
war, den Profi nicht beim Werk zu stören. Wahr, aber es war trotzdem kein angenehmes Gefühl, im relativ sicheren Versteck zu sitzen und zuzusehen, wie dein Kamerad ein paar Schritte
weiter sein Leben riskiert. Er suchte noch einmal den Horizont ab und stellte dann zu seinem
Erstaunen fest, dass der Feldwebel inzwischen verschwunden war. Spinner! Man hätte fast
glauben können, der Kundschafter sei zu einer Agamaechse geworden und wie diese im Sand
versunken, oder, was passender schien, gleite als tödliche Sägeschuppenviper umher. Der
Doktor hatte die Hügel um das Lager fast eine halbe Stunde lang angestarrt, bis ihm die Augen
wehtaten, als er plötzlich Tzerlag zwischen den Jurten aufrecht stehen sah.
Dann ist ja alles in Ordnung! Das Schwinden des Gefühls der Gefahr war fast schon ein körperliches Vergnügen; jeder einzelne Muskel, zuvor angespannt, entspannte sich wohlig und die
Welt, vom Adrenalin entfärbt, bekam ihre natürlichen Farben wieder. Beim Hinaus klettern
aus einer Grube unter einem Saxaulbaum, der fast auf dem Boden lehnte, schulterte Haladdin
mühelos die Tasche mit Ausrüstung und marschierte los, wobei er den Boden sorgfältig im
Auge behielt – der Abhang war stark von Wüstenratten aufgewühlt worden. Fast schon am Boden angelangt sah er endlich auf und bemerkte, dass etwas nicht stimmte. Absolut nicht
stimmte, wenn man sich den Orozenen ansah: nachdem er lange am Eingang zur linken Jurte
gestanden hatte, trottete er zur nächsten, ohne hineinzugehen. Ja, er trottete – irgendwie hatten die Bewegungen des Feldwebels allen Schwung verloren. Nur ein kaum wahrnehmbares
Summen störte die unnatürliche Ruhe im Lager, so wie kleine Wellen auf der öligen Oberfläche
eines Sumpfes... Dann verstand er alles, als er das Geräusch einer Myriade von Fliegen erkannte.
Auch im sandigen Wüstenboden dauert es mehr als ein paar Minuten, ein Grab für vier Erwachsene und sechs Kinder zu schaufeln; sie mussten sich beeilen, hatten aber nur einen Spa36
ten gefunden und mussten sich also einteilen. Haladdin war etwa hüfttief gekommen, als
Tzerlag zu ihm hinüber kam.
„Hör mal, grab du weiter, ich gehe nochmal herum und überprüfe was.“
„Meinst du, da hat jemand überlebt und versteckt sich jetzt da draußen?“
„Unwahrscheinlich, sie sind alle da. Aber da drüben ist Blut auf dem Sand.“
„Sind sie nicht alle in den Zelten umgebracht worden?..“
„Das ist es ja. Mach weiter, aber halt die Augen offen. Ich pfeife, wenn ich dich brauche – einmal lang, zweimal kurz.“
Kaum fünf Minuten später ertönte das Signal. Der Feldwebel winkte ihm von einer kleinen
Düne in der Nähe des Pfades zur Handelsstraße, dann verschwand er hinter der Kuppe. Als er
ihm folgte, fand er den Feldwebel vor einem dunklen, runden Gegenstand kauernd; erst als er
fast davor stand, erkannte er den Kopf eines bis zum Hals im Sand eingegrabenen Mannes,
und dieser schien noch am Leben. Ein paar Zoll von seinen Lippen, gerade außer Reichweite
für ihn, stand eine kleine Schüssel mit Wasser.
„Das ist der, der sich da hinten gewehrt hat. Kommen wir zu spät, Doktor?“
„Nein, es geht noch, Sieh mal her, er schwitzt noch, also nicht mehr als zweites Stadium der
Austrocknung, und kein Sonnenbrand, dem Einen sei Dank.“
„Jep, sie haben ihn im Schatten der Düne verbuddelt, gerade so, dass er langsamer verreckt. So
wie es aussieht, hat er sie ganz schön geärgert... Kann ich ihm Wasser geben?“
„Im zweiten Stadium – ja, aber nur kleine Portionen. Aber woher wusstest du?..“
„Ehrlich gesagt hab ich eine Leiche gesucht.“
„Mit diesen Worten hielt Tzerlag seine lederne Feldflasche an die geschwärzten und aufgesprungenen Lippen des Vergrabenen. Der Mann erschauderte und schluckte das Wasser, aber
seine kaum geöffneten Augen blieben getrübt und leblos.
„Warte, Kumpel, nicht so schnell! Hör auf den Onkel Doktor: nicht alles auf einmal. Na gut, ziehen wir ihn raus. Der Sand ist so locker hier, da brauchen wir keinen Spaten... Hast du ihn?“
Sie schoben den Sand etwas beiseite, dann fassten sie den Mann an den Unterarmen und: „eins
– zwei!“ zogen ihn aus dem Boden wie eine Mohrrübe aus dem Feld. „Scheiße!“ entschlüpfte
dem Orozenen und die Hand ging zum Krummsäbel, denn der Sturzbach an Sand von den
Kleidern des Geretteten enthüllte ihren erstaunten Blicken die grüne Uniformjacke eines Offiziers von Gondor.
Allerdings hatte das keinen Einfluss auf die Rettungsaktion, und ein paar Minuten später war
der Gefangene, wie Tzerlag sich ausdrückte, „gebrauchsfertig.“ Die Trübung seiner grauen Augen war verschwunden, und nun war sein Blick klar und leicht aufmüpfig. Nach einem schnellen Blick auf die Uniformen seiner Retter war er sich über die Lage im Klaren und stellte sich
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zu ihrer Überraschung in gutem, wenn auch etwas eingefärbten, Orozenisch vor: „Baron
Tangorn, Leutnant des Regiments Ithilien. Mit wem habe ich die Ehre zu sprechen?“
Für einen Mann, der gerade auf wundersame Art einem qualvollen Tod entronnen war, nur um
ihm jetzt erneut ins Gesicht zu starren, hielt sich der Gondorer sehr gut. Der Kundschafter
schenkte ihm einen respektvollen Blick und trat beiseite, um Haladdin weitermachen zu lassen.
„Feldarzt zweiter Klasse Haladdin und Feldwebel Tzerlag von den Gebirgsjägern von Cirith
Ungol. Auch wenn das jetzt egal ist.“
„Weshalb?“ hob der Leutnant eine Augenbraue. „Ein sehr achtenswertes Regiment. Wenn mich
meine Erinnerung nicht trügt, sind wir uns letzten Herbst bei Osgiliath begegnet – die Männer
Ithiliens hielten damals die Südflanke. Bei der Faust Tulkas, was für eine Schlacht!“
„Leider haben wir keine Zeit, uns an die guten alten Zeiten zu erinnern – wir müssen mehr
über neuere Ereignisse wissen. Wer hat dieses Lager abgeschlachtet? Befehlshabender Offizier, Anzahl, Auftrag, Marschrichtung? Und keine Tricks: wir neigen nicht dazu, lange zu fackeln, wie Sie sich denken können.“
Der Baron zuckte mit den Achseln: „Berechtigte Fragen. Die Einheit besteht aus Söldnern der
Ostlinge und wird von Eloar, einen Elben, befehligt; wie ich verstanden habe, ein Verwandter
eines Hochadligen aus Lorien. Anzahl: Neun Personen. Ihr Auftrag ist, Streife im Wüstenabschnitt entlang der Handelsstraße zu laufen und das besagte Gebiet zur Aufstandsbekämpfung
aufzukehren. Stellt Sie das zufrieden?“
Haladdin schloss unbeabsichtigt die Augen und sah wieder ein Kinderspielzeug, ein Zaumzeug
aus Wollfäden, vor sich, in eine Lache geronnenen Blutes getreten. So nennen sie es also: 'Gelände aufkehren.' Gut zu wissen.
„Und wie sind Sie in die bedauerliche Lage gekommen, in der wir Sie gefunden haben, Baron?“
„Ich befürchte, diese Geschichte ist so unwahrscheinlich, dass Sie sie mir nicht glauben werden.“
„Dann sage ich es Ihnen. Sie wollten dieses 'Aufkehren' aufhalten und haben einen Söldner
verletzt, vielleicht sogar getötet. Korrekt?“
Der Gondorer sah sie in offenkundiger Konsternation an. „Woher zur Hölle wissen Sie das?“
„Unwichtig. Aber trotzdem ein seltsames Benehmen für einen Leutnant Gondors.“
„Es ist das richtige Verhalten für einen Soldaten und einen Mann mit Manieren,“ antwortete
der Gefangene trocken. „Hoffentlich sehen Sie mein versehentliches Geständnis nicht als Versuch, um mein Leben zu flehen.“
„Machen Sie sich keine Sorgen, Baron. Ich glaube, der Feldwebel und ich schulden Ihnen wenigstens eine teilweise Bezahlung dieser Schuld; jetzt sind wir dran, etwas Dummes zu tun...“
Er sah zurück zu dem Orozenen; dieser zögerte, signalisierte aber dann Zustimmung: Mach,
was du für das Beste hältst.
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„Vergeben Sie mir meine nicht ganz unnütze Neugier: Was haben Sie vor, wenn wir Sie freilassen?“
„Ehrlich gesagt weiß ich das nicht. Wenn mich die Elben hier in Mordor erwischen, werden sie
das Werk von Eloars Männern vollenden, wenn auch nicht auf ganz so exotische Art und Weise. Nach Gondor zieht mich nichts zurück: Mein König ist tot, und ich habe nicht, die Absicht,
seinem Mörder und Thronräuber zu dienen...“
„Was heißt das, Baron? Wir haben seit Pelennor keine Neuigkeiten mehr erfahren.“
„Denethor starb einen furchtbaren Tod; vermutlich hat er sich selbst auf einem Scheiterhaufen
verbrannt. Schon am nächsten Tag gab es einen neuen Anwärter auf den Thron. Wissen Sie, es
gibt da eine alte Sage, die vorher niemand ernst genommen hatte, dass die herrschende Dynastie Anarion nur den Thron für die Nachkommen des sagenhaften Isildur hüte. Solch ein
Nachkomme ist erschienen, ein gewisser Aragorn, ein Waldläufer aus dem Norden. Um seinen
Erbanspruch zu belegen, wies er ein Schwert vor, angeblich das legendäre Anduril, aber wer
könnte das bestätigen? Er hat auch ein paar Heilungen durch Handauflegen vollbracht, auch
wenn alle so Geheilten seine Gefolgsleute aus dem Norden waren... Prinz Faramir, der rechtmäßige Erbe, hat sich nach Ithilien zurückgezogen und ist vermutlich ein Prinz unter der
Wacht von Hauptmann Beregond – demselben, der Denethors 'Selbstverbrennung' bezeugt
hat.“
„Und niemand im Westen hat protestiert?“
„Aragorns Geheimwache – Gerüchten zufolge allesamt lebende Tote, von Elbenmagie auferweckt – hat die Bewohnern von Gondor schnell gelehrt, keine solchen Fragen zu stellen. Was
Éomer angeht, muss er ihnen zu Willen sein, denn seine Schwester steht mit Faramir in
Ithilien unter Arrest. Es scheint sogar so, als sei dieser Aragorn selbst eine Marionette der
Elben, und der wahre Herrscher über Gondor ist Arwen – seine Ehefrau aus Lorien.“
„Und Mordor, unsere Heimat?“
„Barad-Dur wurde bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Die Elben bilden nun eine Art
örtliche Verwaltung aus allem möglichen Abschaum. Es sieht so aus, als wollten sie alle Reste
der Zivilisation ausmerzen und systematisch jeden gebildeten Menschen zur Strecke bringen.
Ich denke, sie planen, Ihr Volk in die Steinzeit zurückzutreiben.“
„Und Ihr Volk?“
„Ich denke, irgendwann sind wir an der Reihe, aber zur Zeit brauchen sie uns.“
Tzerlag brach die folgende Stille. „Na gut. Erst müssen wir damit fertig werden, die Leute dieses Lagers zu begraben. Dann könnt ihr machen, was ihr wollt, aber ich denke, ich werde von
diesem – wie heißt er noch? - Eloar ein paar Schulden eintreiben. Die Besitzerin der blauen
Jurte war meine Tante über zwei Ecken, also ist es jetzt eine Blutfehde.“
„Gestatten Sie mir, mitzukommen, Feldwebel?“ fragte Tangorn unerwarteterweise, und erklärte dem verwirrten Orozenen: „Sie haben mein Schwert gestohlen, ein Erbstück meiner Familie.
Es wäre schön, den Einschläferer zurück zu erhalten; nebenbei würde ich gerne diesen Kerlen
schöne Grüße aus dem Jenseits ausrichten.“
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Der Kundschafter musterte den Gondorer unverblümt eine Weile, dann nickte er: „Tangorn...
Ich erinnere mich an Sie, letztes Jahr in Osgiliath. Sie waren es, der Detz-Zeveg, den 'König der
Speerträger' besiegt hat.“
„Richtig, ich hatte diese Ehre.“
„Das Problem ist, wir haben kein passendes Schwert für sie. Schon mal einen Krummsäbel
verwendet?“
„Ich werde schon irgendwie damit zurechtkommen.“
„Also gut.“
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Kapitel 11
Mordor, an der alten Núrnenstraße
11. April 3019, nachts
„Wo haben Sie die Sprachen gelernt, Baron?“
„Nun, ich habe über sechs Jahre in Khand und Umbar verbracht, falls Sie das meinen, aber begonnen habe ich zu Hause. Prinz Faramir – wir sind Jugendfreunde – besitzt eine exzellente
Büchersammlung, natürlich größtenteils in den östlichen Sprachen geschrieben; wie könnte
ich diese unbenutzt lassen? Deshalb kam ich auch nach Mordor, um der Wahrheit die Ehre zu
geben – ich wollte die Ruinen durchforsten. Ich habe einen ganzen Rucksack voll Bücher gesammelt; die Gauner, die mir den Einschläferer genommen haben, haben sie übrigens mitgenommen,“ nickte Tangorn in Richtung der Doppeldüne, wo die Dunkelheit das Lager von
Eloars Einheit verbarg; Tzerlag hatte es aufgespürt.
„Unter anderem fand ich ein loses Blatt mit wunderbaren Versen, die ich vorher noch nie gesehen habe:
Ich schwöre bei allem, was nah und was fern,
Ich schwöre bei Schwert und Kampf, der gut,
Ich schwöre bei dem leuchtenden Morgenstern
Ich schwöre bei dem Gebet, das man abends tut...
Sie kennen den Urheber nicht zufälligerweise?“
„Das ist von Saheddin. Strenggenommen ist er Magier und Alchemist, kein Poet. Er veröffentlicht von Zeit zu Zeit Verse und behauptet, er wäre nur ein Übersetzer von Texten, die in anderen Welten entstanden sind. Ihr habt Recht, es ist wunderbare Poesie.“
„Verflucht, was für eine tolle Idee! Ja, man kann die Welt in Myriaden von Arten beschreiben,
aber ein wirklich dichterischer Text, in dem man keinen einzigen Buchstaben ändern kann,
muss der genaueste und wirkungsvollste sein, und allein deshalb universell! Sollte es irgend
etwas geben, was die vielen Welten gemeinsam haben, muss es die Dichtkunst sein... und
selbstverständlich die Musik. Solche Texte müssen schon vor uns existieren, eingeschrieben
ins innerste Gewebe dessen, was Ist und was Sein Könnte durch den Klang des Muschelhorns,
die Schmerzen unerwiderter Liebe, dem Geruch des Frühlingswaldes – man muss nur lernen,
dies wahrzunehmen... Dichter können dies ohne nachzudenken, aber was wäre, wenn dieser
Saheddin eine Formel dafür entwickelt hätte? Warum nicht?“
„Ja, etwas wie die moderne Gesteinskunde, um Erze zu finden, im Gegensatz zu den unzuverlässigen Ratereien der Wahrsager. Sie denken also auch, die Welt stehe geschrieben?“
„Meine Welt ist dies sicherlich, aber das ist eine Geschmacksfrage.“
Ja, die Welt steht geschrieben, dachte Haladdin. Wäre es nicht schön, eines Tages den Abschnitt zu lesen, wie ich mit zwei liebenswerten Berufsmördern – was sonst sind sie? - auf die
Jagd gehe nach neun Unmenschen – warum, was unterscheidet sie von all den anderen? - und
eine profunde Diskussion über Poesie direkt vor der Schlacht führe, um den Kupfergeschmack
in meinem Mund und das widerliche Gefühl kalter Angst in meinen Eingeweiden unter Kontrolle zu halten? Wirklich und wahrhaftig, der Autor eines solchen Werkes hätte eine große
Vorstellungskraft und eine große Zukunft.
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Seine Gedankenspiele brachen ab, als ein heller Doppelstern über der Düne, die sie verbarg,
blinkte, als ob ein Nachtvogel ihn verdeckte. Es ist also soweit... hätte er doch nur einen
Schnaps... Er erhob sich auf die Knie und begann, seine Waffen für den heutigen Abend – einen
orozenischen Kurzbogen unbekannter Bauart und einen Köcher mit sechs ausgesuchten Pfeilen – in seine Schultertasche zu stopfen. Inzwischen starrte Tangorn, der mit Tzerlags Fähigkeiten immer noch nicht vertraut war, in stummem Erstaunen auf den Kundschafter, der ein
paar Schritte entfernt wie aus dem Nichts aufgetaucht war.
„Edle Herren, euer Geflüster kann man noch in dreißig Schritt Entfernung hören. Wenn wir es
hier mit meinen Jungs zu tun hätten statt mit diesen Würmern, würdet ihr jetzt schon die Sterne auf der Robe des Einen zählen... Aber das ist jetzt unwichtig. Scheint, als hätte ich meine
Beute schon beim Schwanz. Sieht mir so aus, als wollten sie zu diesem Außenposten an der
Handelsstraße, den der Baron erwähnt hat, und der ist, schätze ich, nicht mehr als fünf oder
sechs Meilen weg; da werden wir sie nicht erwischen. Also machen wir folgendes...“
Hier grenzte der Sand der Erg an die Westseite einer einige Quadratmeilen großen hamada an
– ein stummes Meer, dessen Wellen auf einen grimmigen steinernen Strand stießen. Die größte Welle befand sich passenderweise direkt an der Küstenlinie – eine riesige Düne, die sich von
einem Lagerfeuer in der Mitte jeweils eine gute halbe Meile ausstreckte. Der Elb hatte seinen
Lagerplatz gut gewählt: hinter sich den vierzig Fuß langen Hang der Düne und vor sich die
weite Fläche der hamada, so dass die zwei Wachen zwanzig Schritt nördlich und südlich des
Feuers alle möglichen Angriffswege decken konnten. Brennbares gibt es nicht viel, aber Saxaul
brennt lange und heiß, fast wie Kohle; ein Dutzend armdicker Stämme von jedem Gruppenmitglied liefern Wärme genug, um die Nacht auszuhalten.
Wenn das jetzt eine Falle ist? fragte sich Haladdin plötzlich. Sicher, Tzerlag hatte alles in der
Nähe ausgeschnüffelt, aber waren diese Kerle nicht zu sorglos? Das Feuer ist egal, das sieht
man nur von der hamada, wo sowieso niemand sein sollte, aber dass der Wachposten zum
Feuer geht, um Brennstoff nachzulegen und sich etwas aufzuwärmen – das ist heller
Wahnsinn, danach kann er im Dunkeln mindestens drei Minuten lang nichts mehr sehen...
Gerade während solch einer Abwesenheit des südlichen Wachpostens waren sie bis auf
zwanzig Schritte an seinen Platz herangeschlichen. Der Kundschafter hatte sie dort verlassen
und war mit der Dunkelheit verschmolzen: er sollte das Lager über die hamada umgehen und
den nördlichen Posten beschleichen. Nein, beruhigte er sich selbst; nur keine Angst vorm
eigenen Schatten. Sie haben in letzter Zeit so wenig Widerstand erlebt, dass die Lagerwache
für sie nur noch eine Formalität darstellt. Außerdem ist das ihre letzte Nacht auf Patrouille,
morgen gibt es Bäder, Alkohol und all das... und einen Bonus für jedes Orkenohr... Ob
Kinderohren wohl das gleiche Kopfgeld bringen, oder sind die etwas billiger? Halt, hör sofort
damit auf! Er biss sich hart auf die Lippen, als er das Zittern wiederkommen fühlte – so wie
bei den Teschgol, als er die verstümmelten Leichen zum ersten Mal gesehen hatte. Sei ganz
ruhig, bald wirst du schießen müssen... ja, genau so, entspannen und meditieren... genau so...
Er lag flach auf dem kalten Sand, jede Minute die Silhouette des Postens im Auge. Kein Helm
(recht so, in den Dingern hört man auch gar nichts) also zielt man am besten auf den Kopf. Interessant, oder? - hier steht einer und sieht zu den Sternen, in Gedanken an (für ihn) erfreuliche Dinge, ohne zu wissen, dass er schon tot ist.Inzwischen sah der 'Tote' neidisch zu seinen
sieben Gefährten am Feuer hinüber (drei im Süden, drei im Norden und einer im Westen, zwischen dem Hang und dem Feuer), dann drehte er sich verstohlen weg, holte eine Flasche heraus, nahm einen Schluck, rülpste und wischte sich geräuschvoll die Lippen. Wunderbar!...
ziemlich schlampig... wie das wohl seinem Gegenstück im Norden gefallen würde? Plötzlich
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rutschte Haladdin das Herz in die Hose: es geht los! Und das schon seit einiger Zeit, während
er wie ein Idiot beinahe seinen Einsatz verpasst hätte, genau wie der Baron, noch so ein
Gimpel... Denn der nördliche Posten fiel bereits leblos zu Boden, in Tzerlags festem Griff
ruhend. Noch eine Bewegung, und der Kundschafter legte die Leiche des Ostlings vorsichtig
und lautlos in den Sand und floss geradezu, wie ein Fuchs in einen Kaninchenbau, in den
Lichtkreis voller schlafender Gestalten.
Langsam, fast wie im Traum, erhob sich Haladdin auf ein Knie und zog den Bogen; aus dem
rechten Augenwinkel sah er den Baron in der Hocke, bereit zum Sprung. Der Posten musste
doch irgend eine Bewegung im Dunkel bemerkt haben, aber statt Alarm zu schlagen, begann
er reflexartig (man stelle sich so einen Glücksfall von Dummheit vor!) seine verbotene Flasche
zu verstauen. Diese Verzögerung reichte Haladdin, das Ende des Pfeils bis ans Kinn zurückzuziehen und gewohnheitsmäßig den Zielpunkt um einen Zoll fallenzulassen – unter den hell erleuchteten Hinterkopf des Postens; zwanzig Schritte auf ein festes Ziel, nicht mal ein Kleinkind
könnte verfehlen. Er fühlte noch nicht einmal den Schmerz, als die Bogensehne in seinen linken Arm schlug, denn dem folgte unmittelbar der wie in ein Stück Holz laute und trockene
Schlag des Pfeils, direkt ins Schwarze. Der Ostling warf die Hände hoch – eine umklammerte
immer noch die unselige Flasche – drehte sich auf einem Absatz und fiel langsam um. Der Baron spurtete vorwärts und war schon an der Leiche vorbei, als ein gedämpfter Schrei vom Feuer herüberklang – der Krummsäbel des Feldwebels hatte sein Opfer in einem der drei nördlich
vom Feuer gefunden, und die Stille zersprang augenblicklich in tausend kreischende, heulende
Splitter.
Haladdin hielt sich an seine Befehle, das Lager zu umkreisen, aus dem Licht heraus zu bleiben
und in verschiedenen Stimmlagen zu brüllen: „Umzingeln, Männer, lasst keinen Hund entkommen!“ und dergleichen. Statt sich zu verteilen, blieben die schlaftrunkenen Söldner instinktiv
beim Feuer. Tangorn erwischte bei seiner Annäherung von Süden drei von ihnen; einer klappte sofort zusammen, sich den Bauch haltend, und der Baron griff sich sein Schwert - ein breites
und, Tulkas sei gepriesen, gerades – als er das Krummschwert, das er ursprünglich benutzen
musste, fahrenließ. Das Licht des Feuers fiel auf sein Gesicht, und plötzlich warfen die zwei übrigen Ostlinge ihre Waffen weg und rannten davon, unter panischen: „Gheu, Gheu!“ - Rufen
(eine Art Vampir, in die sich ausgegrabene Tote angeblich verwandeln sollte). Davon überrascht war Haladdin zu langsam und verfehlte offenbar beide – jedenfalls verschwanden sie in
der Dunkelheit. Im Gedränge hatte Tzerlag einen weiteren nordwärtigen Ostling erwischt und
rief jetzt von der Seite her: „He, Eloar, du Feigling, wo steckst du? Ich bin gekommen, um den
Blutpreis für Teschgol einzutreiben!“
„Hier bin ich, Ausgeburt Mordors,“ antwortete eine verächtliche Stimme, „komm herüber und
lass dich hinter den Ohren kratzen!“ und, an seine Truppen gerichtet: „Keine Panik jetzt, Aasfresser! Es sind nur drei, und die werden wir erledigen wie die Säuglinge! Tötet den Schlitzäugigen, das ist ihr Kommandant, und haltet euch von ihren Schützen fern!“
Der Elb erschien rechts neben dem Feuer – groß, goldhaarig und in leichter Lederrüstung – jeder Zug und jede Bewegung ein geradezu bezauberndes Sinnbild geschmeidiger tödlicher
Macht. Er ähnelte seinem Schwert – ein dünner, schimmernder Strahl bläulichem sternenglitzernden Eises, allein der Anblick ließ Haladdin erschauern. Tzerlag schwang den Skimitar mit
einem heiseren Schlachtruf – eine Finte auf das Gesicht und ein augenblicklicher rechter
Schwung auf das Knie; Eloar parierte den Hieb beiläufig, und sogar ein Feldarzt (zweiter Klasse) sah sofort, dass der Feldwebel sich zu viel vorgenommen hatte. Der Meister der Tarnung
und des Anschleichens war auf einen Schwertmeister getroffen, und die Frage war nur noch,
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ob er nach dem zweiten oder dritten Hieb erledigt sein würde. Tangorn war das am ehesten
klar, also legte er die fünfzehn Schritt, die ihn von dem Kampf trennten, wie der Blitz zurück
und fiel in die linke Flanke des Elben, während er den zögernd zurückweichenden
Kundschafter anbrüllte: „Halt mir den Rücken frei, Knallkopf!“
Ein Meister am Werk (egal welcher Profession) ist ein faszinierender Anblick, und hier standen sich zwei Profis höchster Güte gegenüber. Zu schade, dass alle Zuschauer zu sehr mit ihren
eigenen Angelegenheiten beschäftigt waren – größtenteils versuchten sie sich gegenseitig umzubringen, was einen bestimmten Grad an Konzentration erfordert. Trotzdem gaben beide
Partner alles, was sie hatten; ihre eng abgestimmten Bewegungen passten genau in die Lücken
des tödlichen Gewebes, das ihre leuchtenden Klingen häkelten. Tangorns Anmerkung wegen
der Rückendeckung war ziemlich beiläufig – der Feldwebel bekam es sofort mit beiden verbleibenden Ostlingen zu tun, von denen einer zum Glück lahmte. Haladdin, der nur den Bogen
besaß, hatte strikten Befehl, aus dem Nahkampf heraus und im Dunklen zu bleiben; auf dieses
Durcheinander aus Freund und Feind zu schießen wäre schiere Dummheit, also hielt er sich
am Rand und suchte nach einem guten Ziel.
Nach kurzer Zeit wurde es offenbar, dass Tangorn siegen würde. Obwohl sein Schwert gut drei
Zoll kürzer war, traf er seinen Gegner zweimal, am rechten Arm und über dem Knie. Bekannterweise vertragen Elben Blutungen schlecht, und Eloars Stöße verloren von Mal zu Mal mehr
von ihrer schnellen Genauigkeit; der Baron engte ihn ein, voll Ruhe auf den richtigen Moment
für den Todesstoß wartend, als etwas unerklärliches geschah. Die Elbenklinge fiel plötzlich
und zeigte zur Seite, was die Deckung über dem Brustkasten Eloars öffnete, und sofort traf ihn
blitzschnell des Gondorers Klinge an den unteren Rippen. Haladdin schluckte unfreiwillig, in
der Erwartung, dass die Klinge am Rücken des Elben wieder austreten würde, dampfend vom
Blut – kein Panzer hätte so einen Stoß gebremst, und Leder erst recht nicht. Aber Tangorns
Schwert prallte einfach vom Leder ab, als sei es verzaubert, und der Elb, der offenbar genau
das erwartet hatte, nahm sein Schwert beidhändig und führte sofort einen üblen Spaltschlag
von oben. Der Baron konnte weder ausweichen noch parieren. Er konnte nur auf ein Knie heruntergehen und Eloars Schwert mit seinem abfangen – 'Spitze gegen Spitze;' schlechter Stahl
aus dem Osten zerschellte wie Glas, und die Elbenklinge ging zu etwa einem Drittel in seine
Wade. Tangorn konnte sich noch aus dem Weg des nächsten Stoßes, der ihn aufspießen sollte,
hinaus rollen, aber mit einem Satz war der Elb bei ihm und... da ließ Haladdin in der Annahme,
dass es nichts mehr abzuwarten gebe, los.
Erst später wurde ihm klar, dass er das unmögliche geschafft hatte. Der Doktor war noch nie
besonders zielsicher mit dem Bogen gewesen und hatte keine Ahnung von Laufschüssen, vor
allem nicht auf bewegte Ziele und vor allem weil Tzerlag und seine zwei Gegner zwischen ihm
und Eloar standen. Aber die Tatsache bleibt: er hatte ohne zu zielen geschossen und Eloar direkt ins Auge getroffen; so war der Elb tot, wie man so sagt, „bevor er auf dem Boden aufschlug.“
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Kapitel 12
Das Feuer war da schon fast erloschen, aber der Kampf ging im Dunkeln weiter. Beide Ostlinge
griffen Tzerlag weiter an; zweimal schoss Haladdin auf sie, als sie einen Moment Pause machten, und beide Male – so eine Schande! - schoss er daneben. Letztlich ließ der lahme Ostling
einen weiteren Hieb durch; er ließ das Schwert fallen, fiel auf die Knie und kroch jammernd
beiseite, das verletzte Bein nachziehend. Haladdin hätte ihn fast gehen lassen – es gab noch
genug zu versorgen – aber hatte das Glück, zu bemerken, dass der Mann zu einem der Rucksäcke gekrochen war und schon einen Bogen herausgezogen hatte; in seinem eigenen Köcher
fand er zu seinem Schreck nur noch einen Pfeil. Beide zielten gleichzeitig, aber die Nerven des
Doktors versagten; er ließ den Pfeil von der Sehne und sprang zur Seite; das tödliche Zischen
verfehlte seinen Magen um anderthalb Fuß. Der Ostling hatte weniger Glück: nach seinem
Schuss konnte er nicht mehr ausweichen und lag nun flach auf dem Rücken mit Haladdins
Pfeil im Schlüsselbein. Inzwischen gelang es Tzerlag, die Deckung seines Gegners zu öffnen
und ihn in den Hals zu treffen; das Gesicht des Orozenen war nun mit klebrigen Tröpfchen
übersät, und auch sein Arm triefte. Das waren also alle? Gewonnen, verflucht noch eins...
Haladdin verlor keine Zeit und warf mehr Holz ins Feuer, dann setzte er sich so, dass er das
Licht nicht blockierte und schnitt Tangorns klebriges Hosenbein mit einer einzigen geübten
Bewegung auf. Ziemlich viel Blut, aber nicht zu viel für so eine tiefe Wunde. Wenigstens ist die
Hauptarterie im Schenkel unverletzt, dem Einen sei Dank, dass Elbenschwerter so schmal
sind, etwa ein Drittel der Breite der Ostlingsschwerter. Gut, eine Aderpresse...jetzt einen
Tampon... Der Feldwebel umkreiste den Lagerplatz, erledigte die zwei Ostlinge, die noch Leben
zeigten, und hockte sich neben den Sanitäter.
„Wie sieht's aus, Doc?“
„Nun, hätte schlimmer ausgehen können. Der Knochen ist heil, ebenso die meisten Sehnen, soweit ich das überblicken kann, ebenso die Hauptadern. Gebt mal den Lumpen her.“
„Bitte sehr. Kann er gehen?“
„Soll das ein Scherz sein?“
„Dann,“ erhob sich der Feldwebel und klopfte sich wer weiß warum sorgfältig den Sand von
den Knien, „ist alles aus, Jungs. Zwei sind abgehauen, und in der Dunkelheit ist Suchen sinnlos.
Vor Sonnenaufgang sind sie am Außenposten, verirren ist unmöglich – sie müssen nur den
Nordrand der Hamada entlang. Sobald es hell wird, beginnt die Treibjagd, kapiert?“
Tangorn stemmte sich plötzlich auf einen Ellbogen hoch; Haladdin erkannte voll Schrecken,
dass der Baron während der ganzen Wundversorgung bei vollem Bewusstsein gewesen war.
Im Licht des Feuers war das Gesicht deutlich zu sehen, schweißglänzend, aber die Stimme war
fest wie immer, wenn auch etwas heiser:
„Keine Sorge, Jungs. Ich sollte eigentlich schon seit zwei Tagen tot sein; wenn ich die Runde
noch einmal spielen müsste, würde ich die Pause genau so nutzen...“ Mit diesen Worten zog er
den Kragen herunter und legte seine Halsschlagader frei. „Also, Feldwebel, tun sie es: einszwei, und alles ist erledigt. Ich habe keine Lust darauf, mich noch mal eingraben zu lassen.
Dann verschwinden Sie, und viel Glück Ihnen beiden. Zu schade, dass unsere Bekanntschaft
von so kurzer Dauer war, aber so ist das Leben.“
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„Baron, ich bin ein einfacher Soldat,“ antwortete Tzerlag ruhig, „und ich bin es gewohnt, nach
Vorschrift zu handeln. Das Gefechtshandbuch sagt in Abschnitt Zweiundvierzig deutlich, dass
der 'Gnadenstoß' nur gestattet ist, wenn die Gefahr, dass der Verletzte in Feindeshand fällt,
unmittelbar ist. Wenn diese Gefahr besteht – sagen wir, morgen – werden wir uns damit befassen.“
„Lassen Sie die Narreteien, Feldwebel! Warum zum Henker wollen Sie uns alle drei verdammen, wenn mir sowieso nicht mehr zu helfen ist?“
„Ruhe im Glied! Wir sind zusammen hergekommen und gehen auch zusammen; alles andere
sei dem Einen überlassen. Doktor, sehen sie das Gepäck von diesem Elben durch, hat er
vielleicht einen Erste – Hilfe – Kasten dabei?“
Haladdin nannte sich selbst einen Trottel; er hätte daran denken sollen, nachzusehen. Was hat
er da drin? Aha, einen hervorragenden Bogen und einen Köcher mit dreißig Pfeilen, die Spitzen stecken alle in Lederscheiden, also wahrscheinlich vergiftet; eine wundervolle Waffe, die
behalte ich. Eine Rolle Elbenseil: wiegt ein halbes Pfund, nimmt ein Pint Raum weg, hundert
Fuß lang und hält drei Mûmakil aus; das wird nützlich sein. Elbenbrot und eine Flasche Elbenwein, der überhaupt kein Wein ist; wunderbar, der Baron kann was davon vertragen. Ein Beutel mit Gold und Silber in Münzen, wohl die Bezahlung der Ostlinge, schließlich verwenden die
Elben wohl kein Geld; behalten wir, Geld kann man nie genug haben. Schreibzeug und ein paar
Aufzeichnungen in Elbenrunen... verflixt, in der Dunkelheit kann ich das nicht lesen; wenn wir
überleben, können wir uns immer noch darum kümmern. Oh, das ist es, der Eine sei gepriesen! Als er den Kasten offen vor sich hatte, war Haladdin wie gelähmt: es gab alles, woran er
denken konnte, und in bester Qualität. Antiseptikum – Spinnweben bedeckt mit graugrünen
Flecken von Heilflechte; Schmerzmittel – kleine Kugeln aus getrocknetem Purpurmohnsaft aus
Khand; Blutstiller – gemahlene Alraunenwurzel von den Hochalmen des Nebelgebirges; Stimulanzien – Colanüsse aus den sumpfigen Urwäldern Harads; Geweberegenerierer – eine
braune harzige Substanz, die einen gebrochenen Knochen oder eine unversorgte Wunde in
fünf Tagen heilt; und noch viel mehr, das er im Moment nicht einordnen konnte. Tzerlag
musste nur herausfinden, wie sie die Verfolger loswerden konnten, und dann würde er den
Baron in nicht mehr als einer Woche wieder fit bekommen können.
Inzwischen durchsuchte der Orozene das Gepäck der Söldner nach Feldflaschen und Essensrationen – in ihrer Lage kam es auf zehn oder fünfzehn Minuten nicht an. Was sie brauchten,
war eine Idee; ohne eine solche waren sie am Ende. Sie könnten in die hamada flüchten, er
kannte ein paar Felsnasen in der Nähe mit geeigneten Spalten, aber die würden als erstes
durchsucht werden. Im Sand verstecken ist keine Option – ohne Wind war es unmöglich, ihre
Spuren zu verwischen, und dann hätte man sie in kürzester Zeit. Das einzige, was ihm einfiel,
war, so schnell wie möglich nach Westen zu ziehen, in Richtung der Berge, und zu versuchen,
das Morgaiplateau mit seinen vom Wind ausgehöhlten Kavernen zu erreichen, aber wie sollte
man mit einem Verletzten, der nicht laufen konnte, diese mehr als dreißig Meilen schaffen?..
Der Baron, irgendwie durch ein paar Schlucke Elbenweins wieder zu Kräften gekommen, unterbrach seine Gedanken: „Feldwebel, haben Sie einen Moment? Bitte untersuchen Sie den Elben.“
„Wozu denn das?“ meinte der überraschte Kundschafter. „Ich hab nachgesehen – tot wie ne
Schlangenhaut.“
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„Das meine ich nicht. Ich komme nicht über diesen ledernen Harnisch von ihm hinweg, den
kein Schwert durchdringen kann. Seht doch bitte mal nach, ob da noch etwas besonderes darunter ist.“
Tzerlag grunzte, aber erhob sich von seiner Aufgabe und ging hinüber zu der Leiche. Er zog
das Krummschwert, steckte die Klinge unter die Unterkante der Rüstung des Elben und
schnitt sie in einem Zug vom Schritt zum Hals auf, wie man einen Fisch ausweidet.
„Sieh an, ein Kettenhemd! Und was für ein seltsames Teil, so was hab ich ja noch nie gesehen...“
„Es scheint leicht zu glühen, richtig?“
„Stimmt. Wussten sie das, oder haben sie das gerade erraten?“
„Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich nicht auf seinen Trick mit der offenen Deckung reingefallen,“ grummelte Tangorn. „Das ist Mithril. Da wäre ich nie durchgekommen, und auch niemand sonst in Mittelerde .“
Tzerlag warf dem Baron einen scharfen Blick zu – ein Salut eines Profis vor einem anderen.
Haladdin kam dazu, half dem Feldwebel, den toten Elb aus der wertvollen Schuppenhaut zu
schälen und untersuchte diese sorgfältig. Tatsächlich, das Material leuchtete schwach, ähnlich
einem Flecken Mondlicht, und fühlte sich warm an. Der Mithril – Kettenmantel wog etwa ein
Pfund und war so dünn, dass man ihn auf die Größe einer Orange zusammenrollen konnte; als
er ihm versehentlich aus den Fingern rutschte und sich als silbrige Pfütze zu seinen Füßen
ergoss, hielt er es für unmöglich, es in einer mondhellen Nacht wiederzufinden.
„Und ich habe Mithril immer für ein Märchen gehalten.“
„Hier ist der Gegenbeweis. Ich schätze, mit einem solchen Hemd könnte man halb Minas Tirith
und ganz Edoras mit Kind und Kegel aufkaufen. In ganz Mittelerde gibt es nicht mehr als
zwanzig davon und es wird auch nie mehr geben, das Geheimnis ist verloren.“
„Aber warum hat er es unter diesem Lederkostüm versteckt?“
Der Kundschafter antwortete für Tangorn: „Weil nur ein Narr seine Trumpfkarten aufdeckt.
Das Prinzip Uruk-Hais des Großen: bist du schwach, zeige dem Feind Stärke; bist du stark, zeige Schwäche.“
„Richtig,“ nickte der Baron, „und dann waren da noch die Ostlinge. Wenn diese Leichenfledderer von dem Mithrilpanzer gewusst hätten, hätten sie ihm wohl in der ersten Nacht die Kehle
durchgeschnitten und nach Süden abgehauen – sagen wir, nach Umbar – um dort reiche Leute
zu werden. Vorausgesetzt, sie hätten sich nicht im Streit um die Beute gegenseitig abgemurkst.“
Der Feldwebel ließ ein düsteres Pfeifen hören. „Oh Mist. Dann war dieser Eloar bei den Elben
ne richtig große Nummer. Das heißt, die Elben werden auf der Suche nach uns jeden Stein dieser hamada umdrehen und jede Düne durchsieben und weder Zeit noch Mühen sparen...“
Ihm war glasklar, wie das vor sich gehen würde, er hatte die Rolle des Jägers und des Gejagten
in vielen solchen Suchaktionen innegehabt. Wahrscheinlich werden sie mindestens einhun47
dertfünfzig Mann dafür zusammenziehen, Berittene und Fußsoldaten, so viele wie sie hier auftreiben können. Erst schneiden die Berittenen die Route nach Morgai ab und bilden einen
Halbkreis gegen die unerreichbare Ecke der Hamada, während die Fußsoldaten im Schleppnetz vom zerstörten Lager aus abmarschieren und jedes Rattenloch in der Wüste durchsuchen werden. Damit brauchen sie nicht mal erfahrene Fährtensucher, die zahlenmäßige Überlegenheit wird wie immer ausreichen. Die ganze Truppe wird am nächsten Außenposten zusammengezogen, wo als einziges ein ausreichend großer Brunnen verfügbar ist, dort wird
auch der Befehlsstand eingerichtet...
Tzerlag kannte diesen 'Außenposten' gut – ein alter Karawanenhof, der zusammen mit der alten Núrnischen Handelsstraße aufgegeben worden war, als die Bemühungen der Bewässerer
das ganze westliche Núrnen in eine tote Salzpfanne verwandelt hatte. Ein großes quadratisches Gebäude aus Lehmziegeln, von jeder Menge Außengebäuden umgeben, mit den Ruinen
des alten Hofs im hinteren Teil, der von einem Erdbeben zerstört worden war und jetzt mit
Dornbüschen und Segge überwuchert ist... Moment – diese Ruinen werden der letzte Ort sein,
an dem sie suchen! Richtig, der letzte – früher oder später werden die auch durchkämmt, nach
dem Ausschlussverfahren. Schade, zuerst sah die Idee ganz gut aus... wie wäre es mit einer Ablenkung, eine falsche Fährte mit einer Abweichung zur Seite... aber wo?..
Die Zeit verrann wie Wasser aus einem zerrissenen Schlauch, und plötzlich veränderte sich
die Haltung und das Gesicht des Kundschafters auf eine Art, die Haladdin mit eisiger
Gewissheit verkündete, dass der andere auch keinen Ausweg mehr sah. Eine weiche, eisige
Hand bewegte sich in Haladdins Gedärme und begann gemütlich, sie zu durchsuchen, wie
frisch gefangene Fische am Boden eines Boots. Es war nicht die Furcht des Soldaten vor der
Schlacht (die hatte er heute schon durchlaufen), sondern etwas ganz anderes, eher wie der
schwarze irrationale Schrecken, der ein plötzlich verlorengegangenes Kind im Griff hat. Erst
jetzt begriff er, dass Tzerlag ihm nicht nur Wasser durch den elbenverseuchten Wald bei
Osgiliath gebracht hatte, ihn nicht nur auf seinem Rücken unter der Nase der Wächter bei
Minas Morgul vorbei geschmuggelt hatte – die ganze Zeit hatte er ihn auch mit seiner
kräftigen und beruhigenden Aura des 'Manns im Hause' abgeschirmt, und dieser Schutz war
jetzt in Fetzen. Ehrlich gesagt war Haladdin nur auf diesen Rachefeldzug mitgegangen, weil er
fest entschlossen war, in jeder Art Verbindung mitzumachen, solange Tzerlag dabei war – und
jetzt hatte er sich verrechnet. Der Kreis war geschlossen: Eloar hatte für Teschgol bezahlt, in
ein paar Stunden würden sie für dieses Lager bezahlen... Da schrie er vor Angst und
Verzweiflung dem Orozenen ins Gesicht:
„Bist du jetzt glücklich?! Erstklassige Rache, reicht's dir immer noch nicht?! Du hast uns alle
für diesen einen Elbenbastard verschachert, möge die Erde ihn und seinesgleichen auf ewig
verschlingen!“
„Wie war das?“ echote der Kundschafter in seltsamem Ton. „Möge die Erde diesen Elb auf ewig
verschlingen?“
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Kapitel 13
Plötzlich bemerkte Haladdin trotz seiner Aufgebrachtheit, dass der alte Tzerlag wieder da war
– der, der immer wusste, was zu tun war.
„Entschuldigung,“ murmelte er beschämt und sah zu Boden.
„Kommt vor und ist vorbei. Also, versucht euch zu erinnern – sie auch, Baron – ob diese Ostlinge vor oder nach Eloars Eingreifen abgehauen sind.“
„Vorher, glaube ich...“
„Eindeutig vorher, Feldwebel – darauf kann ich Ihnen Brief und Siegel geben.“
„Gut. Dann wissen sie wohl nicht, dass er tot ist oder sogar gekämpft hat... Schön. Also, Doktor
– kann der Baron mit Krücken ein paar Meilen zurücklegen?“
„Mit Krücken – ja, ich denke schon. Wenn ich ihn mit Schmerzmitteln vollpumpe... Das gibt
aber hinterher unangenehme Nebenwirkungen.“
„Tun sie es, Doc, oder es gibt kein 'hinterher'. Packen sie die Medis ein, etwas Wasser und diese Brote, sonst nichts. Oh, und ein paar Waffen, für den Notfall.“
Ein paar Minuten später reichte der Feldwebel Tangorn ein Paar kreuzförmiger Krücken, improvisiert aus gekürzten Ostlingsspeeren und begann, Anweisungen zu erteilen.
„Wir teilen uns auf. Ihr zwei marschiert am Rand der Hamada nordwärts...“
„Nach Norden? Aber da ist der Außenposten!“
„Ganz genau.“
„Ah, ich verstehe – mach das Gegenteil von dem, was der Feind erwartet?“
„Sie haben es begriffen, Doc. Also. Weicht nicht von der Hamada in den Sand ab. Falls – nein,
sobald – der Baron ausfällt, müssen sie ihn tragen. Verliert die Krücken nicht, verstanden?
Passt auf, dass die Wunde nicht wieder aufgeht, sonst hinterlasst ihr Blutspuren auf den
Steinen. Eure Hauptsorge ist, keine Spuren zu hinterlassen – das ist auf der Hamada einfach,
die besteht nur aus Kies. Ich komme in zweieinhalb Stunden nach.“
„Was haben sie vor?“
„Ich erkläre es später, jetzt geht es um jede Minute. Vorwärts marsch, Soldaten!.. Moment –
lasst mir ein paar Colanüsse da, könnten nötig werden.“
Sobald seine Kameraden außer Sicht waren, wurde der Kundschafter geschäftig. Es gab jede
Menge Arbeit, das meiste waren Kleinigkeiten, die man leicht übersah. Er musste zum Beispiel
alles Brauchbare – von den Elbenwaffen bis zu Tangorns Büchern – für den Fall, dass sie das
hier überleben sollten, einsammeln und vergraben, wobei er sich die Stelle genau einprägte.
Dann sein eigenes Bündel schnüren – Wasser, Rationen, warme Mäntel, Waffen – und auf der
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Hamada lagern. Jetzt zur Hauptsache.
Tzerlags Idee, die ihm unerwarteterweise bei Haladdins Ausbruch gekommen war, war einfach. Angenommen, Eloar war nicht beim Angriff umgekommen, sondern in die Wüste geflüchtet und hatte sich verirrt? Das war sogar ziemlich wahrscheinlich – ein Elb in der Wüste ist so
verkehrt wie ein Orozene im Wald – und seine Kameraden würden zuerst und vorrangig nach
ihrem Prinzen – oder was auch immer er war – suchen, dann erst nach den Widerständlern,
die sechs Ostlingssöldner zerlegt hatten (die kein großer Verlust waren). Jetzt musste er nur
noch diese gewagte Annahme zur Tatsache machen.
Er nahm die Schuhe des Elben und den zerschnittenen Lederharnisch, sah einen einfachen Silberring an der linken Hand der Leiche und steckte ihn für alle Fälle auch ein. Dann hob er eine
etwa zwei Fuß tiefe Grube aus, legte die Leiche hinein und deckte alles mit sorgfältig geglättetem Sand zu. Für sich alleine ist das ziemlich schwach, es sei denn, man erweckt den Eindruck,
der Sand wäre nicht angerührt worden. Dafür braucht es noch eine Leiche, so unbeschädigt
wie möglich; der Posten, den Haladdin erschossen hat, ist genau das richtige. Vorsichtig zog
Tzerlag die Leiche dorthin, wo er den Elb verscharrt hatte, schlitzte dem Ostling die Kehle von
Ohr zu Ohr auf und ließ ihn wie ein erlegtes Großwild ausbluten, dann warf er die Leiche in
die Blutlache und legte ihn so zurecht, dass es natürlich aussah. Jetzt sah es aus, als sei der
Söldner hier gestorben; ein normaler Mensch würde keine Leiche unter einer anderen im
blutgetränkten Sand suchen, es sei denn, er wüsste genau, was er suchte.
So, die Hälfte ist erledigt – der Elb ist weg, und jetzt bekommt er einen quicklebendigen Doppelgänger. Der Orozene zog die Mokassins des Elben an (Mann, wie können die nur in so was
laufen, ohne richtige harte Sohle!) und rannte am Fuß der Düne entlang nach Süden, wobei er
auf härterem Grund gute Spuren zu hinterlassen versuchte. Er trug den aufgeschlitzten Brustpanzer des Elben wie eine Weste und hielt seine eigenen unverzichtbaren Wüstenstiefel in den
Händen. Etwa anderthalb Meilen vom Lager entfernt hielt der Feldwebel an; er war noch nie
ein guter Sprinter gewesen und jetzt schlug ihm das Herz irgendwo am Hals, bemüht zu entkommen. Die Entfernung war schon ausreichend; der 'Elb' würde jetzt in die Hamada ausweichen, wo er keine Spuren hinterlassen würde. Der Kundschafter schubste Eloars Lederpanzer
etwa fünfzehn Schritte über den Punkt hinaus, wo die Fährte endete; das würde sowohl die
Identität als auch indirekt die Richtung des Flüchtlings (nach Süden) bestätigen.
Halt, erst nochmal nachdenken, sagte er sich. Vielleicht sollte der Panzer überhaupt nicht hierbleiben – zu offensichtlich. Was würde er wohl machen? Ich bin ein Flüchtling, der nicht weiß,
wohin er jetzt soll; meine Verfolger scheine ich abgeschüttelt zu haben, aber jetzt muss ich
wer weiß wie lange durch diese schreckliche Wüste laufen, und das macht mir mehr Angst als
jeder Feind. Höchste Zeit, allen unnötigen Ballast abzuwerfen; so nötig habe ich das Ding
nicht, wenn ich überlebe, besorge ich mir einfach einen neuen... Klingt vernünftig? Jau. Warum
habe ich das Teil erst jetzt weggeworfen? Hatte einfach keine Zeit bisher, aber jetzt wo ich
stehe und mich umsehe... Klingt vernünftig? Und wie. Warum ist sie so zerschnitten? Weil sie
am ehesten von den Feinden auf meiner Spur gefunden wird und nicht von Verbündeten; und
übrigens sind sie mir auf den Fersen, also so schnell wie möglich auf den Kies. Klingt
vernünftig? Ja... Na ja, man soll den Feind nicht für blöde halten, aber auch nicht für einen
Intelligenzbolzen.
Er war schon für den Lauf zurück bereit – hatte die Stiefel an und eine bittere Colanuss
genommen – als sein Blick zurück auf den Harnisch auf den Steinen der Hamada fiel, der wie
eine zerbrochene Eierschale dalag, und die Erkenntnis, fast einen Fehler gemacht zu haben,
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verursachte einen kalten Schweißausbruch. Eine Eierschale – wie ist der Elb da raus
gekommen? Selbst raus geschnitten? Genau solche Kleinigkeiten können alles verderben! Also,
aufschnüren... Nein! Ich Elb hab es zu eilig, die Rüstung brauche ich nicht mehr – also die
Schnüre durchtrennen. Jetzt passt alles.
Er lief über die Hamada zurück, in Richtung des kaum mehr sichtbaren Glimmens des erlöschenden Feuers, wo sein Gepäck wartete. Die Cola füllte ihn mit trügerischer Leichtigkeit, so
dass er sich selbst bremsen musste, bevor ihm das Herz zersprang. Als er den Rucksack aufnahm, zwang er sich zu ein paar Minuten Pause und lief dann weiter; jetzt musste er nach Tangorn und Haladdin Ausschau halten, was ihn bremste. Es zeigte sich, dass die beiden schon
über zwei Meilen geschafft hatten – eine hervorragende Geschwindigkeit, die er nicht erwartet
hatte. Der Kundschafter sah Haladdin zuerst – er ruhte aus und starrte mit ausdruckslosem,
blutleerem Gesicht auf die Sterne. Er hatte den Baron die letzte halbe Meile getragen, und jetzt
war Tangorn wieder auf seinen Krücken und versuchte verbissen, ihnen noch ein paar Schritt
zu verschaffen.
„Habt ihr zwei schon den ganzen Elbenwein vertilgt?“
„Nein, wir haben dir noch was übrig gelassen.“
Tzerlag inspizierte seine Kameraden, schätzte den verbleibenden Weg ab und befahl ihnen,
Cola zu nehmen. Ihm war klar, dass ihre Körper morgen (falls es ein Morgen gab) einen fürchterlichen Preis bezahlen würden müssen sowohl für diese Droge als auch für die Mohnkugeln,
aber anders war die Reise nicht zu schaffen. Später bemerkte Haladdin, dass er sich an nichts
erinnerte. Er erinnerte sich deutlich, wie das Cola nicht nur seinen müden Muskeln neues Leben eingehaucht hatte, sondern auch seine Sinne aufs Erstaunlichste geschärft hatte und ihre
Reichweite unglaublich erhöht hatte – von den bekannten Sternbildern, in denen plötzlich Unmengen vorher nicht sichtbarer kleiner Sterne auftauchten bis zum Geruch von brennendem
Mist eines unglaublich weit entfernten Feuers – aber er erinnerte sich nicht an ein einziges
Detail ihrer Reise.
Der Filmriss endete genau so plötzlich wie er begann; die Welt wurde wieder real und die Realität brachte den Schmerz zurück, und eine Müdigkeit, so groß, dass sie sogar den
Gefahrensinn irgendwo nach hinten ins Bewusstsein schob. Er fand sich flach auf dem Boden
hinter einem kleinen Vorsprung etwa dreißig Schritt von ihren ersehnten Ruinen wieder,
während der massive Würfel des Vorpostens dahinter im frühmorgendlichen Licht drohte.
„Sollten wir nicht losrennen?“ fragte er mit kaum hörbarem Flüstern.
„Direkt in die Hölle!“ zischte der Kundschafter wütend, „da steht ein Wächter auf dem Dach!“
„Sieht er uns?“
„Noch nicht; er hebt sich gegen den grauen Himmel ab, wir liegen am dunklen Boden. Aber sobald du dich bewegst, hat er dich.“
„Aber es wird schon hell...“
„Schnauze, verstanden? Ist so schon schlimm genug...“
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Plötzlich bebte der Steinboden unter Haladdin von einem neuen, unheilvollen Geräusch: ein
trockenes, schnelles Trommeln, welches schnell zu einem Poltern ähnlich einem Erdbeben
wurde. Eine große Reiterhorde kam die Handelsstraße entlang, und die aufkommende Panik
schrie ihm zu: „Sie haben dich gesehen! Sie umzingeln dich! Lauf!..“ als das ruhige Flüstern des
Feldwebels ihn wieder zu Verstand brachte:
„Bereit! Auf mein Zeichen – und nicht früher! - lauf was du kannst. Nimm das Gepäck, die
Krücken und die Waffen, ich nehme den Baron. Das ist unsere einzige Chance.“
Inzwischen war die Truppe am Posten angekommen und das übliche Gedränge entstand – fluchende Reiter drängten sich durch Gruppen umher stehender Fußkämpfer, ihr Kommandant
stritt sich mit dem örtlichen Befehlshaber, die kehligen Rufe der Ostlinge vermischten sich mit
dem alarmierten Zwitschern der Elben, auf dem Dach standen plötzlich drei Umrisse statt einem – und dann hörte der ungläubige Haladdin ein leises „Jetzt!“
Er war noch nie in seinem Leben so schnell gelaufen, ohne Rücksicht auf versagende Kraft. Er
schaffte es in kürzester Zeit in den Sichtschatten unter der zerfallenen Mauer, warf seine Last
ab und schaffte es trotzdem noch zurück, um Tzerlag zu helfen, der immer noch halb draußen
mit dem Baron auf dem Rücken war. Dieser schüttelte den Kopf - keine Zeit, wechseln dauert
zu lang. Schneller, schneller! Oh Einer, wie lange werden die blöden Wachposten die Neuankömmlinge noch anstarren? Eine Sekunde? Drei? Zehn? Sie erreichten die Ruine in der Erwartung, dass jeden Moment Alarm gegeben würde, und warfen sich sofort zu Boden; Tangorn
musste es ziemlich schlecht gehen, denn er gab nicht mal Schmerzenslaute von sich. Sie zerkratzten sich Gesichter und Hände an den Dornbüschen, quetschten sich durch einen breiten
Riss in einer Mauer und fanden sich plötzlich in einem fast intakten Raum wieder. Alle Wände
waren ganz, nur die Decke hatte einen großen Spalt, durch den der schnell aufhellende Morgenhimmel sichtbar war; der Eingang war durch einen Haufen zerbrochener Ziegel versperrt.
Erst da erkannte Haladdin es: sie hatten es wirklich geschafft! Jetzt saßen sie im besten möglichen Versteck, wie eine Ente auf den Eiern unter einem Falkennest.
Er lehnte sich an eine Mauer und schloss nur kurz die Augen, und sofort trugen sanfte Wellen
ihn hinfort, flüsternd: es ist vorbei, ruh dich nur kurz aus, du hast es verdient... hoch, runter,
hoch, runter... was soll das denn? Tzerlag? Was schüttelt der mich denn so wild? Oh Mist! Klar,
mein Freund, ich muss mich auf der Stelle um Tangorn kümmern. Keine Pause jetzt – die Wirkung der Colanüsse lässt bald nach, und dann haut's mich einfach um... wo ist der verfluchte
Arzneikoffer?
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Kapitel 14
Mordor, Morgaiplateau
21. April 3019
Der Abend kam. Das geschmolzene Gold der Sonne brodelte noch im Kessel, geformt aus zwei
Gipfeln des Schattengebirges, und von Zeit zu Zeit sprang noch ein hell leuchtender Funken
daraus hervor. Doch die Hügel waren bereits in durchscheinendes Purpur des Sonnenuntergangs getaucht. Das kalte Blau des Himmels, am Ostrand beinahe schon meerblau, unterschied
sich auf das herrlichste von den gelblich – rosafarbenen (ähnlich einer khandischen Melone)
Gesteinszacken von Morgai, durchzogen von tiefen tintenschwarzen Schluchten. Die Seiten der
abgeplatteten Lehmhügel am Rande der Ebene waren mit aschgrauer Segge und Salsola bedeckt und hier und da rot gesprenkelt – Flecken aus Wildtulpen.
Haladdin war geteilter Meinung über diese Blumen. So wunderschön jede von ihnen einzeln
betrachtet auch war, so schienen die bis zu einem halben Hektar großen Felder eine geradezu
unnatürliche und unheilkündende Form anzunehmen. Das musste davon kommen, dass ihre
Farbe im Sonnenlicht genau das Hellrot arteriellen Blutes und im Schatten, wie jetzt, das
dunklere Rot venösen Blutes war. Segge und Tulpen; Asche und Blut. Vielleicht wäre er zu anderer Zeit zu anderen Bildern gelangt.
„Noch gute anderthalb Meilen.“ Tzerlag, der vorausging, drehte sich zu seinen Kameraden um
und deutete mit dem Kopf auf einen hellen Fleck frischen Grüns, der aus einem größeren Tal
auf den gelben Lehm der Hügel troff. „Was meinen Sie, Baron – machen wir jetzt eine Pause
oder legen wir noch einen letzten Schub ein und machen dann ein anständiges Lager?“
„Jungs, ihr bemuttert mich schon genug,“ antwortete der Gondorer irgendwie gereizt. Er konnte sein Bein schon fast wieder normal verwenden, obwohl er noch an Krücken ging, und hatte
sogar darauf bestanden, einen Teil des Gepäcks zu tragen. „So komme ich nie mehr wieder in
Form.“
„Beschwerden gehen bitte an die medizinische Abteilung; ich bin hier nicht zuständig. Was
meint denn die Medizin dazu?“
„Nehmt Cola und fragt mich morgen nochmal, natürlich.“ parierte Haladdin.
„Ach, verzieh dich!“
Der Witz war wirklich nicht der beste gewesen; keiner von ihnen erinnerte sich an das Ende
ihres Zwangsmarsches zu den Ruinen ohne Schaudern. Cola verleiht dem Körper keine neuen
Kräfte, es macht nur die Reserven verfügbar, die man noch besitzt. So etwas ereignet sich
sonst nur spontan, wenn ein Mensch ein Dutzend Meter weit springt, um sein Leben zu retten,
oder mit bloßen Händen einen zentnerschweren Felsbrocken aus dem Boden zieht; Cola
macht solche Dinge auf Abruf möglich, aber dann kommt die Kehrseite: durch den Verbrauch
aller Reserven in einer kritischen Minute wird man einen Tag und einen halben zu Matsch, sowohl körperlich als auch geistig.
Genau das war ihnen an jenem Morgen passiert, gerade als Haladdin Tangorns Schenkel geflickt hatte. Der Baron verfiel bald in Schüttelfrost, als das Wundfieber mit dem Opiumentzug
zusammen einsetzte, er brauchte dringendst Hilfe, aber weder der Arzt noch der Kundschafter
brachten mehr als ein Blinzeln zustande, nicht unähnlich gestrandeter Quallen. Gute zehn
Stunden später schaffte es Tzerlag auf die Beine, aber alles, was er tun konnte, war, dem Mann
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den Rest Elbenwein einzuflößen und ihn in alle Mäntel, die sie hatten, einzupacken; Haladdin
erwachte zu spät wieder zum Leben, um die Krankheit im Keim zu ersticken. Er konnte eine
allgemeine Sepsis verhindern, aber die Wunde entwickelte eine schwere örtliche Entzündung;
Tangorn bekam Fieber und delirierte lautstark, was am schlimmsten war – die Feinde nutzten
die Rückseite der Ruinen als Latrinen, wo ein ständiges Kommen und Gehen herrschte. So
schlimm war es, das der Feldwebel ernsthaft erwog, den Mann von seinem Elend zu erlösen,
bevor er sie mit seinem Gefasel alle verriet.
Dem Einen zum Preise war das nicht nötig – am Ende des zweiten Tags schlugen die elbischen
Antiseptika an, Tangorns Fieber ging zurück und die Wunde begann schnell zu verheilen. Allerdings war das Abenteuer noch lange nicht vorbei. Es stellte sich heraus, dass die Söldner
ohne Wissen ihrer Vorgesetzten in einem Nebenraum einen großen Bottich Araka – ein
lokaler Alkohol aus Manna – angesetzt hatten und jede Nacht auf ein paar Gläser
vorbeikamen. Die Gruppe gewöhnte sich ziemlich an die Soldaten (man musste nur mucksmäuschenstill in seinem gut abgeschirmten Zimmerchen dasitzen, sobald das Trinken
begann), aber Haladdin hatte lebhafte Phantasien, wie ein übereifriger Gefreiter die Quelle des
'Wassers des Lebens' entdeckte und sich die Mühe machte, jeden angrenzenden Raum zu
untersuchen: „He, ihr drei! Stillgestanden, ihr Luschen! Zu welcher Einheit gehört ihr? Wo sind
die Uniformen, Arschlöcher?“ Man stelle sich einmal vor, alles gehe wegen so was den Bach
runter...
Auch wenn das Versteck in den Ruinen gefährlich war, eine Weiterreise wäre vollkommener
Wahnsinn gewesen: berittene und abgesessene Patrouillen aus Ostlingen und Elben durchkämmten die Wüste und gingen jeder Fährte nach, egal von was sie herrührte. Inzwischen
kam ein neues Problem auf: Wassermangel. Sie hatten zu viel ihrer Vorräte auf den Verwundeten verwenden müssen, und es gab keine Möglichkeit, sie wieder aufzufüllen, denn um den
Brunnen des Postens herrschte Tag und Nacht reger Verkehr. Nach fünf Tagen wurde es kritisch – sie hatten für drei Personen nur noch einen halben Liter. Der Baron erinnerte sich an
sein Abenteuer bei den Teschgol und sprach finster von Bratpfanne und Feuer. Was sind wir
doch für Glückspilze, dachte Haladdin bei sich: Nach drei Wochen in der Wüste sind wir jetzt
am Verdursten, und das auch noch weniger als hundert Meter vom nächsten Brunnen weg!
Die Rettung kam von unerwarteter Seite – am sechsten Tag erhob sich der erste Sandsturm
der Jahreszeit. Ein gelber Wall kam vom Süden herauf und erhob sich langsam nach oben – es
sah aus, als würde der Wüstenhorizont wie eine Schriftrolle aufgerollt; der Himmel wurde
schwarz, und die Mittagssonne war nur noch so hell wie der Mond – man konnte hinsehen,
ohne geblendet zu werden. Dann verschwand die Grenze zwischen Himmel und Erde, als
kämen zwei riesige aufgeheizte Bratpfannen zusammen und zögen Unmengen von Sandkörnern zwischen sich; der verrückte Tanz dauerte drei volle Tage. Tzerlag wusste besser als alle
anderen, was ein Samoom bedeutete und richtete ein ernsthaftes Gebet an den Einen für all
jene, die schutzlos da draußen waren – noch nicht einmal der Feind verdiente solch ein
Schicksal. Der Eine musste den Teil mit den Feinden allerdings nicht beachtet haben; aus Gesprächen zwischen den Soldaten erfuhren sie später, dass ein paar Suchtrupps (so etwa zwanzig Mann) es nicht mehr rechtzeitig ins Lager geschafft hatten und jetzt mit Sicherheit tot waren. Es gab keinen Grund mehr, nach Eloar zu suchen, auch nicht nach seiner Leiche. Am
Abend wickelte sich Tzerlag in den elbischen Kapuzenmantel und schlich durch den
erstickenden gelben Nebel in den Hof. Und als Tangorn ein paar Minuten später eine noch
feuchte Feldflasche erhob und einen Trinkspruch auf das Wohl der Wüstendämonen ausbrachte, zog der Kundschafter zweifelnd die Stirn in Falten, aber lehnte nicht ab.
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Am letzten Tag des Sandsturms verließen sie ihr Versteck, als der Wind abgeflaut war und nur
noch Sandschwaden über den Boden schob, was alle Fährten vernichtete. Der Kundschafter
brachte seine Gefährten nach Westen Richtung Morgai, in der Hoffnung auf ein Treffen mit
wandernden Orozenen, die ihre Herden auf die Frühjahrsweiden trieben und auf etwas Ruhe
bei einem seiner zahlreichen Verwandten. Sie machten dem Umweg über Eloars Lager, wo sie
die Trophäen, die Tzerlag so vorausschauend vergraben hatte, wieder hervorholten. Tzerlag
nutzte das, um nach der Leiche zu sehen. Er fand sie fast vollständig mumifiziert vor; merkwürdig, dass weder Leichenfresser noch Maden tote Elben anrühren – sind sie giftig oder so?..
Ihr Eilmarsch in die Berge begann beim ersten Tageslicht: am Tag zu marschieren war zwar
gefährlich, aber sie mussten die kurze Zeit, in der sie ihre Spur nicht selbst verwischen
mussten, gut ausnutzen. Am Abend des zweiten Tages erreichte die Gesellschaft die
Hochebene, aber Tzerlag hatte keinen einzigen Nomaden gesehen, und das störte ihn
zunehmend.
Das Tal, in dem sie lagerten, war grün, weil dort eine kleine, aber geschwätzige Quelle lebte.
Sie musste einsam gewesen sein und beeilte sich, ihrem unerwartetem Besuch alle
Neuigkeiten ihrer kleinen Welt mitzuteilen: der Frühling kommt spät dieses Jahr, deshalb
blühen die blauen Iris an der dritten Biegung noch nicht, aber gestern waren ein paar
bekannte Gazellen zu Besuch, ein altes Männchen und ein paar Weibchen... man konnte
diesem leisen, melodischen Flüstern ewig lauschen. Nur einer, der wochenlang in der Wüste
seinen Durst mit bitterem, salzigem Wasser aus Viehtränken und mageren Tropfen faden
Tzandoi – Destillates gestillt hat, kann verstehen, was es bedeutet, sein Gesicht in lebendes,
fließendes Wasser zu halten. Man kann es nur mit der ersten Umarmung eines geliebten
Wesens nach langer Trennung vergleichen; was wunder, dass die Vorstellung der
Wüstenbewohner vom Paradies im Inneren keinen prachtvollen Kristallpalast erbaut hat,
sondern eher einen kleinen See unter einem Wasserfall...
Dann genehmigten sie sich Tee, zu öliger Schwärze gekocht; sie reichten feierlich ihre einzige
angeknackste Teeschale herum, die der Feldwebel irgendwie aus all dem Ärger gerettet hatte
(„Wisst ihr, die ist echte Handarbeit aus Khand“), und jetzt erklärte Tzerlag gemächlich dem
Baron, dass grüner Tee eine Vielzahl an Tugenden aufweise, die Frage, ob er besser als
schwarzer sei, aber von ähnlicher Lächerlichkeit war wie die Frage, ob man Vater oder Mutter
mehr liebe – jeder habe seine Zeit und seinen Platz. In der Mittagshitze zum Beispiel...
Haladdin lauschte nur halbherzig der Abhandlung, so wie er dem murmelnden Bach hinter
den großen Steinen zuhörte; er verspürte den angenehmen Moment stillen Glücks, so etwas
wie... Familienidyll, vielleicht?..
Das Feuer, das in aller Eile Salsoawurzeln verzehrte (deren graue Stöcke bedeckten den Großteil des nächsten Abhangs), warf helles Licht auf seine Kameraden: das fein gemeißelte Profil
des Gondorers war dem Mondgesicht des Orozenen, der damit einer mild gesinnten östlichen
Gottheit ähnelte, zugewandt. Ein Stich des Bedauerns durchfuhr Haladdin, als ihm klar wurde,
dass ihre seltsame Gemeinschaft fast am Ende war – schon in ein paar Tagen würden sich ihre
Wege wahrscheinlich auf immer trennen. Der Baron würde, sobald seine Verletzungen
ausgeheilt waren, in Richtung des Passes von Cirith Ungol aufbrechen – er hatte sich
entschlossen, Prinz Faramir in Ithilien aufzusuchen – wohingegen der Feldwebel und er
immer noch entscheiden mussten, was nun geschehen solle.
Merkwürdigerweise hatten sie gemeinsam mit Tangorn mehrfach in Lebensgefahr geschwebt,
aber hatten nie etwas über sein Vorleben erfahren. („Sind Sie verheiratet, Baron?“ - „Nun, das
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ist eine komplizierte Sache, die ich nicht mit Ja oder Nein beantworten kann.“ „Und wo liegt
Ihr Anwesen?“ - „Das dürfte nicht mehr wichtig sein. Sicherlich ist es inzwischen beschlagnahmt.“) Trotzdem empfand Haladdin mit jedem vergangenem Tag mehr Respekt, wenn nicht
sogar Zuneigung, für diesen mild ironischen Mann weniger Worte. Beim Anblick des Barons
konnte er sich zum ersten Mal mit der Idee eines 'angeborenen Adels' anfreunden. Etwas anderes, was er in Tangorn sah, war für einen Aristokraten recht ungewöhnlich – Verlässlichkeit,
von anderer Art als bei zum Beispiel Tzerlag, aber genau so sicher.
Im Dritten Stand geboren hatte Haladdin eher laue Ansichten über den Adel. Er hatte nie verstanden, wie man nicht auf die Erfolge eines Vorfahren in Krieg oder Frieden stolz sein konnte,
sondern auf die Länge seiner Ahnenreihe, vor allem weil die meisten dieser „edlen Ritter“
nichts anderes gewesen waren als glückliche und erbarmungslose Straßenräuber, mit Mord
als Tagesgeschäft und Verrat als Berufung. Außerdem hatte der Doktor Müßiggänger schon
seit seiner Kindheit verabscheut. Trotzdem fühlte er unbewusst, dass die Welt, sollte der nutzlose und verdorbene Adel verschwinden, unwiederbringlich an Farbe verlieren würde. Wohl
würde sie gerechter werden, vielleicht sauberer, aber sicher langweiliger, und das wäre es einfach nicht wert! Schließlich gehörte er einer Bruderschaft an, die noch viel exklusiver war als
eine auf Erbrecht gegründete; Haladdin war sich vollkommen sicher, dass ihn Irgendeiner, der
noch mächtiger war als der König des Wiedervereinten Reiches oder der Kalif von Khand, zum
Ritter geschlagen hatte. Seltsam, dass fast niemand erkennt, wie undemokratisch
Wissenschaft und Kunst durch ihre Art sind...
Der Feldwebel unterbrach seine Gedankengänge mit dem Vorschlag, die erste Wache aus
zulosen. Eine kleine Wüsteneule trieb wie eine übergroße Feder gut fünfzehn Fuß über ihnen
und erinnerte mit ihrem Ruf alle braven Kinder daran, dass es Schlafenszeit war. „ Schlaft ihr
erst mal, Jungs,“ bot Haladdin an, „Ich muss sowieso noch saubermachen.“ Genaugenommen
war der ganze Abend – mit dem Feuer, egal wie verborgen es brannte, und eine ganze Zeit lang
ohne Wache – eine größere Missachtung aller Vorsichtsmaßregeln. Aber Tzerlag hatte das
Risiko als sehr gering eingeschätzt, weil die Suche nach Eloar abgeblasen worden war und die
Elben nicht allzu weit von der Handelsstraße abweichen würden. Schließlich muss der
Mensch auch gelegentlich ausspannen; ständige Wachsamkeit kann auch nach hinten
losgehen.
Das Feuer war inzwischen herunter gebrannt – Salsolas erzeugen fast keine Funken und werden direkt zu Asche – und Haladdin legte Tzerlags 'khandische' Teeschale in den Kochtopf und
nahm sie hinab an den Bach zum Auswaschen. Er hatte den sauberen Topf schon auf den Uferkies gelegt und versuchte, seine vom kalten Wasser taub gewordenen Finger mit seinem Atem
aufzuwärmen, als ein Flackern auf den Felsen umher verriet, dass da jemand das Feuer neu
schürte. Wer ist denn da noch auf? - wunderte er sich, - kann gegen das Feuer nichts erkennen... Der schwarze Schatten am Feuer saß bewegungslos, die Hände den schnell auflodernden
orangenen Flammen entgegengestreckt. Der Lichtkreis dehnte sich langsam aus und beleuchtete ihr Gepäck, Tangorns Krücken an einem Felsen und beide schlafenden Gestalten... Beide?!
Wer ist dann das am Feuer? Plötzlich bemerkte der Doktor noch etwas: er war unbewaffnet zu
seinem Geschirrspülauftrag aufgebrochen. Er war komplett unbewaffnet und hatte damit
seine Freunde wahrscheinlich gerade ins Verderben gebracht.
Die Person am Feuer drehte sich gemütlich zu der atemlosen Wache um und winkte ihn befehlend herbei. Es war eindeutig, dass sie alle drei jetzt totes Fleisch wären, wenn das in ihrer Absicht gelegen hätte. Haladdin kam in einer Art Benommenheit ans Feuer zurück, setzte sich gegenüber dem Eindringling im schwarzen Mantel hin – und hielt den Atem an, als hätte man
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ihm einen Schlag verpasst: die eng zusammengezogene Kapuze verbarg nichts als Dunkelheit
bis auf zwei rot leuchtende Funken, die ihn eindringlich von innen musterten. Er saß einem
Nazgúl gegenüber.
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Kapitel 15
Die Nazgúl! Ein uralter magischer Orden, immer von den unheilvollsten Gerüchten umschwirrt. Schwarze Geister, vermutlich in Kontakt mit den höchsten Mächten Mordors; die ihnen zugeschriebenen Wunder waren solcherart, dass kein verständiger Mensch sie je geglaubt
hätte. Auch Haladdin hatte kein Wort geglaubt, aber hier war ein Nazgúl erschienen, seine Seele einzufordern... Als ihm dieser Spruch durch den Kopf ging, biss er sich fast in die Zunge.
Auch als Zweifler und Rationalist war Haladdin klar, dass es Dinge gibt, in die man seine Nase
besser nicht hineinsteckt, wenn man sie nicht verlieren will... Plötzlich vernahm er eine Stimme, leise und etwas heiser und mit einem schwer einzuordnenden Akzent behaftet; sie erklang scheinbar nicht aus der Finsternis unter der Haube, sondern von irgendwoher abseits
oder oberhalb:
„Fürchtest du mich, Haladdin?“
„“Nun, um ehrlich zu sein...“
„So sprich frei heraus: Ja, ich habe Angst. Sieh, ich hätte eine... äh...neutralere Gestalt annehmen können, aber ich habe nicht mehr genug Kraft dafür. Also ertrage mich, es wird nicht lange dauern. Auch wenn es noch so grausig für jemanden ist, der solche Dinge nicht gewohnt
ist.“
„Danke sehr,“ antwortete Haladdin knurrig, als er merkte, dass seine Angst spurlos verschwand. „Würdet Ihr Euch wenigstens vorstellen? Schließlich kennt Ihr mich, aber ich nicht
Euch.“
„Oh, du kennst mich schon, wenn auch nur vom Hörensagen: Sharya-Rana, zu deinen Diensten.“ Die Kante der Kapuze kippte wie von einer kleinen Verbeugung. „Um exakt zu sein, war
das mein Name in meinem ehemaligen Leben.“
„Unfassbar!“ Jetzt war Haladdin sicher, dass er träumte, und versuchte, sich entsprechend zu
verhalten. „Ein persönliches Gespräch mit Sharya-Rana selbst – dafür hätte ich fünf Jahre meines Lebens hergegeben. Nebenher, Ihr besitzt einen ungewöhnlichen Wortschatz für einen
Vendotenier, der vor mehr als hundert Jahren gelebt hat.“
„Es ist dein Wortschatz, nicht meiner.“ Haladdin hätte schwören können, dass die Finsternis
unter dem Mantel für den Bruchteil einer Sekunde sich zu einem Grinsen geformt hatte. „Ich
nutze einfach deine Worte, das macht mir keine Mühe. Aber wenn du es vorziehst...“
„Nein, das geht schon.“ Vollkommen verrückt! „Aber, verehrter Sharya-Rana, heißt es nicht, alle
Nazgúl seien ehemalige Könige?“
„Unter uns gibt es auch Könige, ebenso wie Ärzte, Anwälte, Kaufleute, Häuptlinge und dergleichen. Wie du siehst, sind manche von uns Mathematiker.“
„Und ist es wahr, dass Ihr euch nach der Veröffentlichung von 'Natürliche Grundlagen Der
Himmlischen Mechanik' vollständig der Theologie zugewandt habt?“
„Ja, aber auch das liegt hinter mir, in meinem ehemaligen Leben.“
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„Und wenn man diese ehemaligen Leben verlässt, wirft man also einfach das ermüdete Fleisch
ab und erhält grenzenlose Macht und Unsterblichkeit?“
„Nein. Wir sind langlebig, aber sterblich. Wir sind tatsächlich immer neun – so ist die Tradition
– aber die Mitglieder der Neun wechseln. Was unbegrenzte Macht angeht... eigentlich ist es
eher eine unfassbar schwere Last. Wir sind der magische Schild, der so lange die kleine Insel
der Vernunft geschützt hat, in der eure leichtfertige Zivilisation es sich so gemütlich gemacht
hat. Sie ist der Welt, in die wir geboren werden mussten, vollkommen fremd, und Mittelerde
wehrt sich mit all seiner Zaubermacht gegen diese fremde Präsenz. Wenn es uns gelingt, einen
Schlag aufzufangen, lösen wir uns auf, und das ist dann einfach sehr schmerzhaft; aber wenn
wir einen Fehler machen und ein Schlag eure kleine Welt erreicht... was wir dann spüren, hat
keinen Begriff in irgendeiner menschlichen Sprache: alle Schmerzen, alle Furcht, alle Verzweiflung der Welt ist der Lohn unserer Mühen. Wenn du wüsstest, wie sehr die Leere
schmerzen kann...“ Die brennenden Kohlen unter der Kapuze schienen kurz von Asche
überzogen. „In anderen Worten solltest du uns nicht um unsere Macht beneiden.“
„Vergebt mir,“ murmelte Haladdin. „Keiner von uns vermutet auch nur... man erzählt alles mögliche über Euresgleichen... ich hielt euch immer für Phantome, denen die wahre Welt egal ist.“
„Im Gegenteil, wir sind sogar sehr daran interessiert. Beispielsweise bin ich mit deinen Arbeiten sehr vertraut.“
„Wirklich?!“
„Oh ja. Meinen Glückwunsch; deine Studie über Nervengewebe vorletztes Jahr wird ein neues
Zeitalter der Physiologie einläuten. Vielleicht wirst du es nicht in die Schulbücher schaffen,
aber in die Seminare der Universitäten sicherlich. Natürlich unter der Prämisse, dass diese
Welt im Lichte der neueren Ereignisse überhaupt jemals wieder Schulbücher oder Universitäten kennen wird.“
„Ach?“ Haladdin zweifelte. Sicher war diese Lobpreisung durch Sharya-Rana persönlich (vorausgesetzt, er war es wirklich) über alle Maßen schmeichelhaft, aber in anderen Fachgebieten
schien der große Mathematiker nicht ganz so kompetent zu sein. „Leider verwechselt Ihr da
ein paar Dinge. Ich habe wirklich gute Resultate in meinen Studien über die Wirkung von Giften und Antidoten erzielt, aber diese Arbeit mit Nervenfasern war nur eine akademische Plauderei. Ein paar schicke Experimente, eine Hypothese, die noch sehr der Überprüfung bedarf...“
„Ich verwechsele niemals etwas,“ schnappte der Nazgúl kühl. „Dieses kleine Papier ist das Beste, was du je geschrieben hast und schreiben wirst; mindestens hast du dich damit unsterblich
gemacht. Und das ist nicht nur meine Meinung, sondern sicheres Wissen. Wir haben einige
Wege, die Zukunft zu sehen, und manchmal nutzen wir sie.“
„Nun, ihr müsst wohl wirklich an der Zukunft der Wissenschaft interessiert sein.“
„In diesem Falle war unser Hauptinteresse eher du als die Wissenschaft.“
„Ich?!“
„Ja, du. Allerdings ist noch nicht alles eindeutig, deshalb muss ich noch ein paar Fragen stellen.
Die meisten sind... persönlicher Art, und ich bitte nur um eines: antworte so ehrlich wie du es
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für nötig hältst, aber erfinde nichts; das wäre sowieso nutzlos. Und bitte hör auf, dich ständig
umzusehen! Im Umkreis von...“ - der Nazgúl pausierte kurz – mindestens dreiundzwanzig Meilen befindet sich niemand, und deine Freunde werden fest weiterschlafen, bis wir hier fertig
sind. Nun – bist du bereit, unter diesen Umständen zu antworten?“
„So wie ich das verstehe,“ antwortete Haladdin mit einem schiefen Grinsen, „könnt Ihr meine
Antworten auch ohne meine Zustimmung erhalten.“
„Ja, das kann ich,“ stimmte der Nazgúl zu, „aber ich werde es nicht. Nicht bei dir. Der Haken ist,
dass ich einen bestimmten Vorschlag zu machen habe, also müssen wir einander wenigstens
vertrauen können... He, glaubst du, ich wäre hier, um deine unsterbliche Seele zu kaufen?“ Haladdin murmelte irgendetwas unverständliches. „Ach bitte – das ist vollständiger Unfug!“
„Was ist Unfug?“
„Das mit dem Seelen verkaufen. Lass dir gesagt sein, dass man eine Seele als Geschenk oder als
Opfer erhalten kann, man kann sie auch verlieren – aber sie kann weder gekauft noch verkauft
werden. Es ist wie mit der Liebe: kein Geben-und-Nehmen, sonst ist es einfach keine Liebe.
Und nebenher, so groß ist mein Interesse an deiner Seele wirklich nicht.“
„Wirklich?“ Komisch, der Stachel saß. „Was interessiert Euch dann?“
„Zunächst will ich wissen, warum ein brillanter Wissenschaftler seine Arbeit, die für ihn eher
Lebenssinn denn Broterwerb ist, einfach hinschmeißt und sich freiwillig als Feldarzt zum Militär meldet.“
„Nun, er könnte beispielsweise Interesse daran gehabt haben, seine Theorien über Giftwirkungen in der Praxis zu überprüfen. Das ist ein Schatz an Daten, der da verlorenging, wisst Ihr...“
„Die von den Elben verletzten Soldaten der Südarmee waren also deine Laborratten? Das ist
gelogen! Ich kenne dich wie meine beiden eigenen Hände, von deinen dämlichen Selbstversuchen bis hin zu... warum zum Henker tust du zynischer als du bist?“
„Die medizinische Praxis macht einen zum Zyniker, vor allem beim Militär. Wisst Ihr, alle Neulinge in Feldmedizin bekommen einen bestimmten Test. Sagen wir, man hat drei Verletzte vor
sich: eine Bauchwunde, eine schwere Beinverletzung – offener Bruch, Blutverlust, Schock, all
das – und einen mit einer klaffenden Schulterwunde. Man kann nur einzeln operieren, also wo
fängt man an? Klarer Fall, sagen die Neulinge, die Bauchwunde. Falsch, sagt der Prüfer. In der
Zeit, in der ihr euch mit dem beschäftigt, der sowieso in neun von zehn Fällen draufgeht,
könnten bei dem mit der Schenkelwunde Komplikationen auftreten, infolgedessen er mindestens das Bein, wahrscheinlich auch das Leben verlieren wird. Also beginnt man mit der
schwersten Verletzung desjenigen, der eher überlebt – hier ist das die Beinverletzung. Was die
Bauchwunde angeht, na ja... gebt ihm Schmerzmittel und überlasst ihn der Gnade des Einen.
Einer normalen Person mag das zynisch und grausam erscheinen, aber im Krieg kann man nur
zwischen schlimm und schlimmer wählen, also geht es nur so. Nur in Barad-Dur konnten wir
gemütlich bei Tee und Keksen über die Unersetzlichkeit jedes einzelnen Menschenlebens
plaudern...“
„Die Rechnung stimmt immer noch nicht. Wenn alle deine Überlegungen rein praktischer Natur sind, warum hast du dann den Baron getragen und die ganze Gruppe gefährdet, statt ihm
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den Gnadenstoß zu geben?“
„Wo ist da ein Widerspruch? Es ist offensichtlich, dass man seinen Kameraden mit allem
helfen muss, sogar in größter Gefahr: du rettest ihn heute, morgen rettet er dich. Was den
Gnadenstoß angeht, keine Sorge – wäre es nötig gewesen, hätten wir es ihm so angenehm wie
möglich gemacht. In den alten Zeiten war es wohl besser, als Kriege noch im Voraus erklärt
wurden, keine Bauern beteiligt waren und ein Verletzter sich einfach ergeben konnte. Schade,
dass wir nicht damals geboren wurden, aber keiner dieser Bewohner von Glashauszeiten
sollte uns mit Steinen bewerfen.“
„Eine schöne Eröffnung, Herr Feldarzt, aber irgendwie glaube ich, sie hätten den Feldwebel
mit dem Gnadenstoß beauftragt. Nein? Nun gut, eine weitere Frage, wieder über praktische
Logik. Ist dir je in den Sinn gekommen, dass ein leitender Physiologe, der in Barad-Dur sitzt
und professionell Gegengifte studiert, wesentlich mehr Leben retten könnte als ein Feldarzt?“
„Ja, natürlich habe ich das. Aber manchmal – da muss ein Mann einfach etwas offensichtlich
Dummes tun, wenn er seine Selbstachtung behalten will.“
„Auch wenn diese Selbstachtung letzten Endes mit anderer Menschen Leben erkauft ist?“
„Nun...ich weiß nicht. Es könnte sein, dass der Eine Seine eigenen Vorstellungen dazu hat.“
„Also du entscheidest, aber der Eine ist verantwortlich? Wundervoll! Hast du genau das nicht
in fast genau denselben Worten, die ich gerade verwendet habe, Kumai gesagt? Du erinnerst
dich? Natürlich hattest du keine Chance – wenn ein Troll sich entschieden hat, ist die Debatte
beendet. „Wir dürfen die Schlacht, die das Schicksal des Vaterlandes entscheidet, nicht aus
sitzen“ - und so wurde ein exzellenter Mechanikus ein Ingenieur Zweiter Klasse. Welch ein
Erwerb für die Südarmee! Und inzwischen scheint es dir, als sähe dich Sonya merkwürdig an:
klar, ihr Bruder kämpft an der Front und ihr Verlobter seziert an der Universität Kaninchen,
als gebe es den Krieg nicht. Und da fällt dir nichts besseres ein, als Kumai hinterherzulaufen
(offenbar ist Dummheit wirklich ansteckend), so dass das Mädchen sowohl des Bruders als
auch des Verlobten beraubt ist. Liege ich richtig?“
Eine Zeitlang starrte Haladdin in die Flammen, die über die Kohlen tanzten (merkwürdig: das
Feuer brennt weiter, obwohl der Nazgúl gar kein Holz nachzulegen scheint). Er hatte das eigenartige Gefühl, aufs unangenehmste bloßgestellt worden zu sein. Zum Teufel!
„Kurz gesagt: Doktor, sie sind komplett verpeilt, wenn sie mir den Ausdruck gestatten. Sie können Entscheidungen treffen, das steht außer Frage, aber sie können kein logisches Konstrukt
aufbauen; stattdessen rutschen sie in Emotionales ab. Das ist in unserem Fall aber gar nicht
schlecht.“
„Was ist nicht schlecht?“
„Solltest du mein Angebot annehmen, stehst du einem Gegner gegenüber, der dir absolut überlegen ist. Aber da deine Handlungen oft komplett irrational sind, wird er eine Heidenarbeit damit haben, dein Verhalten vorauszusagen. Gut möglich, dass das unsere letzte Hoffnung ist.“
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Kapitel 16
„Interessant,“ meinte Haladdin nach kurzem Nachdenken. „Nur zu, sagt Euren Vorschlag, ich
bin neugierig.“
„Warte einen Moment, alles zu seiner Zeit. Zunächst solltest du wissen, dass Sonya lebt und es
ihr gut geht, sie ist sogar ziemlich sicher aufgehoben. Also könntest du sie auch nehmen und
nach Umbar oder Khand gehen, um deine Studien fortzuführen; diese Anhäufung und Rettung
von Wissen hat dich...“
„Es reicht!“ Haladdin schnitt eine Grimasse. „Ich gehe nirgendwo hin... das wolltet Ihr doch hören, oder?“
„Richtig,“ stimmte Sharya-Rana zu. „Aber ein Mann sollte die Wahl haben, und vor allem solche, wie du.“
„Ja, ja – damit ihr später nur mit den Achseln zucken braucht und sagen könnt: 'Da haste dich
selbst reingeritten, Kumpel – hat dir keiner das Messer an die Kehle gesetzt!' Also, nehmen wir
an, ich sage, Verzieht euch, und mache mich nach Umbar davon – was dann?“
„Wirst du nicht. Haladdin, glaube nicht, dass ich dich auf die Probe stelle. Es gibt hier viel zu
tun, harte und lebensgefährliche Arbeit, also brauchen wir alle: Soldaten, Mechaniker,
Dichter...“
„Dichter? Warum das?“
„Scheinbar brauchen wir sie mehr als alle anderen. Wir müssen alles retten, was auf dieser
Erde noch zu retten ist, aber vorrangig – die Erinnerung an das, was wir sind und was wir waren. Wir müssen es retten wie die Funken unter der Asche – in den Katakomben, in der Fremde – und dafür sind Poeten unverzichtbar.“
„Also soll ich an dieser Rettung teilnehmen?“
„Nein, nicht du. Ich muss dir ein trauriges Geheimnis offenbaren: alles, was wir derzeit in Mordor tun, ist nicht in der Lage, etwas zu ändern. Wir haben die wichtigste Schlacht in der Geschichte Ardas verloren – die Magie der Elben und des Weißen Rates hat die Magie der Nazgúl
überwältigt – und jetzt werden die grünen Triebe von Vernunft und Fortschritt, unseres Schutzes beraubt, in ganz Mittelerde ausgerissen werden. Die Kräfte der Magie werden diese Welt
nach ihrem Geschmack neu gestalten, und für technologische Gesellschaften wie Mordor wird
dann kein Platz mehr sein. Die dreidimensionale Spirale der Geschichte wird seine vertikale
Dimension verlieren und in einen geschlossenen Kreis zusammenfallen; Jahrhunderte und
ganze Zeitalter werden vergehen, aber alles, was sich ändern wird, werden die Namen der Könige und ihre Schlachten sein. Was die Menschheit angeht... die Menschen werden bedauernswerte rückständige Kreaturen bleiben, die es nicht wagen, zu den Herren der Welt aufzublicken – den Elben; nur in einer unbeständigen Welt können die Sterblichen ihren Fluch in
einen Segen verwandeln und sich über die Unsterblichen durch Generationenwechsel erheben. In zwanzig oder dreißig Jahren werden die Elben Mittelerde in einen wohl gepflegten
Zierrasen verwandelt haben und die Menschen in putzige Haustiere; sie werden die Menschheit einer Kleinigkeit berauben – seinem Recht zur Schöpfung, und ihm dafür zahllose kleine,
einfache Freuden bereiten... Und tatsächlich kann ich dir versichern, dass die Mehrheit diesen
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Handel sofort und ohne Reue abschließen würde, Haladdin.“
„'Die Mehrheit' interessiert mich nicht, die kann sich um sich selbst kümmern. Also sind die Elben unsere wahren Feinde, nicht Gondor?“
„Gondor ist ein Opfer wie ihr es seid, um diese geht es jetzt nicht. Im strengen Sinn sind auch
die Elben keine Feinde, nicht im üblichen Sinne; oder nennst du die Menschheit einen Feind
der Hirsche? Ja, Menschen jagen sie – aber was ist so schlimm daran? Sie hüten sie auch in königlichen Wäldern, besingen die Stärke des alten Leithirsches, werden gefühlsduselig, wenn
sie einer Hirschkuh in die Augen blicken, füttern verwaiste Kitze eigenhändig... Die aktuelle
Grausamkeit der Elben ist vorübergehend, in gewissem Sinne ist sie erzwungen. In einer statischen Welt werden sie leichter auftreten; schließlich ist Schöpfungsdrang zweifellos eine Abweichung von der Norm, also wird man sie behandeln und nicht wie jetzt keulen. Die
Unsterblichen müssen sich noch nicht einmal selbst die Hände schmutzig machen – es wird
jede Menge menschlicher Freiwilliger geben...es gibt sie schon... Nebenbei wird diese elbische
Zukunft ihre eigene Schönheit haben – ein abgestandener Teich ist ästhetisch weniger
befriedigend als ein Fluss, aber er bringt so schöne Seerosen hervor...“
„Verstehe. Also wie können wir sie davon abbringen, Mittelerde in diesen... Sumpf mit hübschen Seerosen zu verwandeln?“
„Das kann ich erklären, aber ich muss ganz vorne anfangen. Leider bist du kein Mathematiker,
die Erklärung wäre viel einfacher... frage einfach, wenn etwas unklar ist. Also: Jede bewohnte
Welt hat zwei Komponenten; eigentlich sind es zwei Welten mit eigenen Gesetzmäßigkeiten,
die aber in einem einzigen Umschlag koexistieren. Üblicherweise nennt man sie 'physisch' und
'magisch', obwohl diese Einteilung willkürlich ist, denn die magische Welt ist durchaus real
und in diesem Sinne physisch, während die physische Welt Eigenschaften hat, die man nicht
auf physische Gesetze zurückführen kann und deshalb als magisch betrachten kann. Im Fall
Arda sind das Mittelerde und Aman, bewohnt von ihren herrschenden Rassen Menschen und
Elben. Diese Welten existieren parallel, aber ihre Bewohner empfinden die Grenzen zwischen
ihnen eher als zeitlich denn als räumlich: jeder Mensch weiß, dass es jetzt keine Drachen, Magier, Kobolde und so weiter gibt, aber seine Großeltern haben sicher welche gesehen – und das
verbleibt in jeder Generation. Das ist auch keine Laune der Vorstellung, eher eine natürliche
Folge der zweigeteilten Struktur bewohnter Welten. Ich könnte dir die entsprechenden mathematischen Modelle zeigen, aber du könntest überhaupt nichts damit anfangen. Kannst du mir
soweit folgen?“
„Ja, einigermaßen.“
„Sehr gut. Aus irgendwelchen Gründen (nenn es den seltsamen Willen des Einen) ist es in unserer Arda, und nur in unserer Arda, möglich, direkten Kontakt zwischen der magischen und
der physischen Welt herzustellen, was den jeweiligen Bewohnern die Interaktion in Echtzeit
und Echtraum ermöglicht – oder einfach gesagt, aufeinander zu schießen. Die Existenz dieses
zwischendimensionalen Korridors wird vom sogenannten 'Spiegel' sichergestellt. Er ist vor einiger Zeit in der magischen Welt entstanden – eher gewachsen als hergestellt – gemeinsam
mit den sieben Sehenden Steinen, den Palantíri, und kann nicht ohne sie existieren, weil beide
ein Spaltungsprodukt derselben Substanz sind, nämlich des Ewigen Feuers...“
„Augenblick, ist ein Palantír nicht ein Gerät zur Langstreckenkommunikation?“
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„Ja, dazu kann man sie verwenden. Man kann auch Nägel damit in die Wand hauen... nein, das
wäre ungeschickt, sie sind rund und spiegelglatt. Aber sie wären tolle Gewichte für ein Fischernetz! Sieh, jedes dieser magischen Objekte hat zahllose Eigenschaften und
Nutzungsmöglichkeiten, aber in dieser Welt haben wir nicht einmal Namen für alle. Deshalb
verwendet man sie für allen möglichen Unsinn: Palantíri zur Verständigung, den Spiegel für
primitive Voraussagen der Zukunft...“
„Das ist primitiver Unsinn?“
„Glaube mir, im Vergleich zu einigen ihrer Möglichkeiten ist das vollständiger Blödsinn. Außerdem zeigt der Spiegel nicht die objektive Zukunft Ardas, sondern eine Reihe Alternativen – ja,
Alternativen – des persönlichen Schicksals des Betrachters. Du als
Experimentalwissenschaftler solltest wissen, dass jedes Messgerät den Zustand des
Gemessenen beeinflusst, und hier ist das 'Gemessene' eine Person, mit freiem Willen und
allem anderen.“
„Nun, was auch immer Ihr sagt, die Zukunft vorhersagen ist beeindruckend.“
„Du bist zu sehr auf die Weissagerei fixiert,“ meinte Sharya-Rana beleidigt. „Wie ist es mit der
Aufhebung des Gesetzes der Kausalität – beeindruckt dich das?“
„Das Gesetz der was?!“
„Kausalität – ja, genau dieses. Dazu kommen wir später. Woran du dich erinnern musst ist,
dass im Allgemeinen die Palantíri den Raum bestimmen und der Spiegel die Zeit. Das nächste:
die zwei Welten von Arda sind in allen Parametern asymmetrisch, also funktioniert der 'Kanal'
zwischen ihnen sehr selektiv. Zum Beispiel fühlen sich viele magische Kreaturen hier wie zuhause, aber nur wenige Sterbliche konnten je Aman besuchen, und auch nur für kurze Zeit.
Diese Menschen nennt man in Mittelerde Magier.“
„Sind die Nazgúl ebenfalls Magier?“
„Natürlich. Weiter: Diese Asymmetrie wurde von einem sehr wichtigen Faktum aufrecht erhalten. So schwer eingeschränkt die Fähigkeiten der Magier in der Nachbarwelt auch sind, geschah es trotzdem, dass sie den Spiegel und die Palantíri an sich bringen und hierher nach Mittelerde bringen konnten. Deshalb können Elben in Mittelerde siedeln, aber Menschen nicht in
Aman, doch die Kontrolle über das Tor zwischen den Welten verbleibt bei den Magiern, die
von dieser Welt sind. Das ermöglicht den Kontakt, schließt aber die Kolonisierung aus. Du
siehst, der Eine hat ein ausgeklügeltes System erschaffen.“
„Ja – das Doppelschlossprinzip.“
„Genau. Das einzige, womit er nicht gerechnet hatte, war, dass einige Magier so eingenommen
von Aman waren, dass sie beschlossen, Mittelerde um jeden Preis in dessen Form und Bild neu
zu gießen; sie bilden die Magier des Weißen Rates. Die anderen, die später den Orden der
Nazgúl bildeten, waren anderer Meinung: welcher vernünftige Mensch würde schon seine eigene Welt zerstören, um aus den Ruinen eine schlechte Kopie einer anderen zu bauen? Beide
Seiten hatten ihre Gründe, beide wollten ernsthaft das Glück der Menschen Mittelerdes...“
„Gut, ich habe begriffen.“
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„Schön. Als der Weiße Rat und die Nazgúl sich um die Zukunft Mittelerdes stritten, fanden beide Seiten schnell natürliche Verbündete. Wir begannen, den fortschrittlichen Völkern der zentralen Mittelerde beizustehen – in erster Linie Mordor, und Umbar und Khand in gewissem
Maße – während der Weiße Rat sich auf die traditionellen Gesellschaften des Nordens und
Westens verließ, und auf die Verzauberten Wälder natürlich. Zunächst waren die Weißen von
ihrem schnellen Sieg überzeugt, da sie den Spiegel und die Mehrzahl der Palantíri bei Kriegsausbruch besaßen. Sie haben vorsätzlich und zweckgebunden Mittelerde der Expansion der
Elben geöffnet, um alle Kräfte der Magie, fremde und eigene, gegen Mordor einzusetzen. Was
die weißen Magier nicht vorhergesehen hatten, war, dass unser Weg, der Weg der Freiheit und
des Wissens, so anziehend war, dass viele Menschen – die besten Mittelerdes – kamen und als
der magische Schild Mordors dienen wollten. Einer nach dem anderen verschwand unter den
Hieben der westlichen Magier, aber andere kamen nach. Anders gesagt, Haladdin, war euer
Frieden teuer erkauft. Einen höheren Preis gab es nicht.“
„Wieso wussten wir nichts davon?“
„Weil es euch nicht wirklich betraf. Ich erwähne es jetzt nur, weil ich dich bitte, dich daran zu
erinnern, dass du, wenn du bei dem Kampf mitmachst, auch für sie kämpfen wirst... aber das
ist nur sentimentaler Zuckerguss auf dem Kuchen. Um es kurz zu machen: die Lage war ungünstig, aber wir haben um den Preis all dieser Opfer, Mordor abgeschirmt und sie waren der
Krippe entwachsen. Noch fünfzig bis siebzig Jahre, und die Industrielle Revolution wäre abgeschlossen gewesen; dann hätte euch keiner mehr anrühren können. Die Elben hätten ab dann
in aller Stille in ihren Verzauberten Wäldern gehaust und sich aus allem herausgehalten, während der Rest von Mittelerde sich nach und nach auf euren Pfad begeben hätte. Und deshalb
beschlossen die Magier des Weißen Rates in der Erkenntnis, dass sie auf dem Weg zur Niederlage waren, einen monströsen Schritt: einen totalen Vernichtungskrieg gegen Mordor unter direkter Beteiligung der Elben, die als Bezahlung den Spiegel erhielten.“
„Sie haben die Elben mit dem Spiegel bezahlt?!“
„Ja. Es war vollkommener Irrsinn; der Leiter des Weißen Rates selbst, Saruman, ein weitsichtiger und bedächtiger Mann, wehrte sich bis zuletzt gegen diesen Plan und verließ den Rat, als
er doch angenommen wurde. Der Rat wird nun von Gandalf geführt, dem Architekten der
'Endlösung der Mordorfrage'.“
„Moment, welcher Saruman ist das? Der König von Isengard?“
„Eben der. Er verbündete sich auf Zeit mit uns, weil er verstanden hatte, was diese Spiele mit
den Einwohnern der Verzauberten Wälder für Mittelerde bedeuteten. Er hat den Weißen Rat
immer wieder gewarnt: 'Die Elben in unserem Kampf gegen Mordor einzusetzen ist wie das
Niederbrennen des Hauses, um Schaben loszuwerden.' Und genau so kam es auch. Mordor
liegt in Trümmern, und der Spiegel ist in Lorien, bei der Elbenkönigin Galadriel; bald werden
die Elben den Weißen Rat wie Brotkrumen vom Tisch fegen und Mittelerde nach ihren Vorstellungen regieren. Erinnerst du dich, dass ich das Gesetz der Kausalität erwähnt hatte? Der
Hauptunterschied zwischen den magischen und unseren Welten ist, dass dieses Gesetz dort
nicht gilt, oder doch sehr eingeschränkt. Wenn die Elben die Eigenschaften des Spiegels entdecken (was auch ihnen schwierig werden wird, denn bisher kannten sie ihn nicht) und
verstehen, dass damit das Gesetz der Kausalität beeinflusst werden kann, werden sie sofort
und auf ewig unsere Welt in den dreckigen Hinterhof Amans verwandeln.“
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„Das heißt also... es gibt keinen Ausweg?“ fragte Haladdin leise.
„Es gibt einen. Bis jetzt noch. Der einzige Weg, Mittelerde zu retten, ist, sie vollständig von der
magischen Welt zu trennen. Dazu muss Galadriels Spiegel zerstört werden.“
„Können wir das?“ schüttelte der zweifelnde Doktor den Kopf.
„Wir – wenn du die Nazgúl meinst – nicht. Nicht mehr. Aber Ihr, Feldarzt Zweiter Klasse Haladdin, könnt es. Ihr und kein Anderer,“ unirdische Kälte wallte ihm von Sharya-Ranas auf ihn
deutenden Arm entgegen, „seid in der Lage, das innerste Fundament der elbischen Zauberkraft zu zerschmettern und die Welt so zu erhalten, wie sie ist.“
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Kapitel 17
Schweigen. Haladdin starrte den Nazgúl wie versteinert an in Erwartung einer Erläuterung.
„Ja, Sie haben richtig gehört, Doktor. Es ist so, dass gerade jetzt in ganz Mordor hunderte wunderbarer Menschen – auch deine Sonya – unsere gemeinsame Aufgabe ausführen. Sie kämpfen
im Widerstand, bringen Kinder an sichere Orte, richten sichere Lager mit Wissen für zukünftige Generationen ein... sie riskieren in jeder Stunde ihr Leben in den Ruinen von Barad-Dur, erniedrigen sich vor den Besatzern, sterben unter der Folter. Sie tun alles Menschenmögliche,
ohne an sich zu denken und ohne Dank von anderen zu erwarten. Aber es liegt an dir – dir allein, Haladdin! - zu entscheiden, ob all diese Opfer eine Vorleistung auf einen Sieg oder nur
eine Verlängerung der Qualen sein werden. Ich würde dich gerne von dieser Last befreien,
aber das kann ich nicht. Sie ist dein, so ist das Ergebnis.“
„Nein, das muss ein Irrtum sein!“ Er schüttelte heftigst protestierend den Kopf. „Da ist irgendetwas durcheinandergeraten. Du sagst 'zerschmettere die Elbenmagie', aber ich weiß nicht
das Geringste über Magie! Ich hatte noch nie auch nur die geringste Begabung dafür; ich beherrsche noch nicht einmal den einfachsten Trick – das Suchen mit der Wünschelrute.“
„Du weißt gar nicht, wie recht du hast! Komplettes Fehlen jeder magischen Begabung so wie
bei dir ist unglaublich selten und fast unmöglich. Sieh es so: Die Natur hat dir ein Schwert verweigert, dir aber gleichzeitig einen wundervollen Schild geschenkt: Jemand, der absolut unfähig ist, Magie zu wirken, kann auch nicht von anderen bezaubert werden. Die Elben haben
jetzt soviel Macht, dass sie jeden Magier in Mittelerde auslöschen können, aber bei dir werden
sie sich an die Regeln der rationalen Welt halten müssen, was für mehr Chancengleichheit
sorgt. Und deine Tendenz zu unvorhersehbaren gefühlsmäßigen Entscheidungen macht das
auch nicht einfacher... Offen gesagt sind die Erfolgsaussichten schlecht, aber in allen Alternativen gleich Null.“
„Aber ich kann doch nicht etwas tun, wovon ich nichts verstehe!“ Er war verzweifelt. „Mein
Tod ist ja nicht so wichtig, aber die Mühen so vieler Anderer zum Scheitern zu bringen? Das
kann ich einfach nicht! Und – hast du nicht gesagt, Sonya sei in Sicherheit und ich könne sie
nach Umbar bringen, und jetzt arbeitet sie auf einmal auch für euch? Was soll das?“
„Keine Sorgen wegen Sonya, ihr geht es blendend. Ich habe sie in Barad-Dur gesehen. Die Stadt
brannte einige Tage lichterloh, die Männer des Westens konnten sie nicht einmal betreten, und
in den Kellern versteckten sich unzählige Leute – Kinder, Verwundete... Sie suchte unter den
Trümmern nach Menschen und hat manchmal das Unmögliche zustande gebracht. Du solltest
wissen, dass sie die Gabe der vollkommenen Furchtlosigkeit hat; sie kann zwar um andere
fürchten, aber nie um sich selbst. Hast du übrigens einmal bemerkt, dass diese Gabe bei
Frauen so unendlich öfter als bei Männern vorkommt? Verstehe dieses: nichts kann einer
Person widerfahren, die sich nicht fürchtet; ihre Medizinergruppe sieht sie nicht umsonst als
lebenden Talisman. Das ist wahre, uralte Magie, kein billiger Spruch, vertrau einem Fachmann.
Im Moment ist sie in einem unserer Verstecke in den Aschenbergen – sechsunddreißig Kinder
und Mama Sonya. Das ist so sicher wie nur irgend möglich.“
„Danke.“
„Nicht nötig, sie ist an ihrem rechtmäßigen Platz. Höre, Haladdin, ich denke, ich habe dir zu
viel Angst mit meinen Worten gemacht. Schau nicht so niedergeschlagen! Nimm all deinen ge67
sunden Zynismus zusammen und betrachte die Sache als eine rein theoretische, wissenschaftliche Herausforderung. Eine geistige Übung, wenn du willst – wie ein Puzzlespiel.“
„Du solltest wissen,“ antwortete Haladdin düster, „dass ein Wissenschaftler keinen Finger
rührt, bevor er nicht sicher ist, dass er alle Puzzleteile hat und es tatsächlich eine Lösung gibt.
Dunkle Zimmer nach schwarzen Katzen zu durchsuchen, die es noch nicht einmal gibt, ist
nichts für uns, das ist was für Theologen.“
„Ich versichere dir, dass in diesem Zimmer definitiv eine Katze ist, das Problem ist nur, sie zu
fangen. Hier ist die Aufgabe. Gegeben: ein großer magischer Kristall, im Folgenden 'Spiegel'
genannt. Zu finden inmitten des Verzauberten Waldes von Lorien, im Palast Galadriels. Gesucht: Ein Weg, den Kristall zu zerstören. Willst du es nicht versuchen?“
„Parameter des Kristalls?“ machte Haladdin ohne viel Begeisterung mit.
„Frag nur!“
„Hm... Für den Anfang: Form, Größe, Gewicht?“
„Geformt wie eine Linse. Dimensionen: Eineinhalb Schritt im Durchmesser und einen Fuß
dick. Gewicht: etwa eintausend Pfund, für einen einzelnen nicht zu schaffen. Außerdem vermutlich in Metall gefasst.“
„Aha... Mechanische Stärke?“
„Absolut, wie die der Palantíri.“
„Was soll das heißen – absolut?“
„Ich meine wörtlich absolut – unmöglich zu zerbrechen.“
„Oha! Aber wie?...“
„Diese Information,“ schnarrte der Nazgúl plötzlich im metallischen Befehlston, „ist bereits in
deinem Besitz, also streng dein Gedächtnis bitte an.“
Verdammt, das ist gerade nötig... schwirr ab, Mann? Halt, was hat er über den Spiegel und die
Palantíri gesagt?
„Der Spiegel und die Palantíri entstanden beim selben Scheideprozess aus dem Ewigen Feuer,
also würde dasselbe Feuer sie zerstören, richtig?“
„Bravo, Haladdin! Genau so und nicht anders.“
„Einen Moment, woher bekomme ich dieses Feuer?“
„Der gesamte Orodruin steht zu deiner Verfügung.“
„Soll das ein Witz sein? Wo ist der Orodruin und wo ist Lorien?“
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Sharya-Rana spreizte die Hände. „Genau das ist dein Problem.“
Haladdin schüttelte den Kopf. „Gut, kein Witz Also erstens sich in die Hauptstadt der Elben
schleichen, zweitens ihre Königin bezaubern, drittens ein tausend Pfund schweres Medaillon
stehlen, viertens es zum Orodruin schleppen... das Hochschleppen zum Krater will ich mal
nicht separat aufführen... und wie viel Zeit habe ich dafür?“
„Drei Monate,“ antwortete der Nazgúl trocken. „Einhundert Tage, um präzise zu sein. Wenn du
es nicht bis zum ersten August geschafft hast, kannst du die Operation abbrechen – das wird
dann auch nichts mehr ausmachen.“
Um sein Gewissen zu beruhigen, versuchte Haladdin tatsächlich, das Rätsel zu lösen und wälzte es zwei oder drei Minuten in seinem Kopf umher – kein Weg, kein Wie! - und fragte endlich
erleichtert: „Na gut, Sharya-Rana, ich gebe auf. Was ist deine Lösung?“
„Ich habe keine,“ antwortete dieser in aller Ruhe, drehte das, was einmal ein Gesicht gewesen
war, zu den Sternen und murmelte seltsam traurig: „Wie die Zeit fliegt...weniger als eine Stunde übrig...“
„Was soll das heißen, du hast keine?“ brachte Haladdin endlich heraus. „Hast du nicht gesagt,
es gebe eine Lösung?“
„Ja, die gibt es, aber ich kenne sie nicht. Sogar wenn ich sie kennen würde, dürfte ich sie nicht
preis geben, weil das das ganze Unternehmen zum Scheitern bringen würde. Denn die Spielregeln hier verlangen, dass du den ganzen Weg alleine gehst. Du musst es nicht alleine tun, du
darfst jede technische Hilfe von Außenstehenden deines Vertrauens annehmen, aber du musst
jede Entscheidung allein treffen. Was mich betrifft, stehe ich für jede nützliche Information zur
Verfügung, aber nicht für konkrete Hinweise; betrachte mich als eine Art Enzyklopädie von
Arda, aber bedenke, dass du keine Stunde mehr hast.“
„Jede Information?“ Die Neugierde war stärker als alles andere.
„Jede nicht magische Information,“ korrigierte der Nazgúl. „Was immer du wissen willst:
Mithrilherstellung, elbische Dynastien, der Eine Ring , Schläferagenten Mordors in Minas
Tirith und Umbar – frag nur, Haladdin.“
„Moment mal – du sagst 'nicht magisch' und redest vom Einen Ring! Was soll das heißen?“
„Höre,“ bemerkte Sharya-Rana in einiger Verärgerung und blickte erneut zum Himmel, „du
hast etwa fünfzig Minuten. Ehrlich, diese dumme Sache hatte nichts mit Magie zu tun und betrifft deine Mission nicht im Geringsten!“
„Das war ein konkreter Hinweis!“
„Autsch. Na gut, wenn du die Zeit hast – hör zu. Es liegt an dir, was wichtig ist und was nicht.“
Er bereute seine Neugierde, als er verstand, dass diese Erinnerungen für Sharya-Rana eher
unangenehm waren. Aber der Nazgúl hatte schon begonnen, und erneut schien die Dunkelheit
unter der Kapuze sarkastisch zu grinsen.
69
„Das war einer unserer vielen Versuche, die Koalition der Westlande zu spalten, was leider
nicht geklappt hat. Wir ließen einen prächtigen Ring herstellen – die Goldschmiede hatten
eine Menge Spaß – verbreiteten das Gerücht, sein Besitzer hätte Macht über ganz Mittelerde
und schifften ihn über den Anduin. Wir hofften, Gondor und Rohan würden sich über diesem
kleinen Geschenk die Köpfe einschlagen. Die schluckten den Köder auch, komplett mit Haken,
Leine und Angel, aber Gandalf hat erraten, wessen Idee das war. Um die Westlande zusammenzuhalten, legte er sie alle rein: er schnappte sich den Ring, behielt ihn aber nicht, sondern
verlor ihn auf das Gründlichste.
Er hat ihn erstklassig versteckt; unser Geheimdienst brauchte zwei Jahre, um eine Spur zu finden. Es stellte sich heraus, dass er im Auenland war, ein Hinterland im äußeren Nordwesten:
weiß gescheuerte Fensterläden, Rosengärten, ein Schwein im Matsch mitten auf der
Hauptstraße... Was jetzt? Weder Gondor noch Rohan hatten je Fuß in dieses Auenland gesetzt.
Den Ring stehlen und wieder am Anduin liegenlassen – da wäre unsere Verwicklung glasklar
gewesen. Da hatte jemand eine glänzende Idee: So tun, als würden wir den Ring auch haben
wollen und seinen Faulpelz von Besitzer aufscheuchen. Aber in unserer Eitelkeit wollten wir
Nazgúl das selbst erledigen, schnell und einfach, heute hier und morgen dort... das lag
erheblich unter unserer Soldstufe, um es höflich auszudrücken, aber Stümper bleibt Stümper,
egal wie schlau er ist. Zwei richtige Spione hätten wesentlich besser gearbeitet als unser
ganzer Orden.
Eigentlich können wir Nazgúl jede Gestalt annehmen, aber damals benutzten wir unsere wahre Gestalt, so wie jetzt. Schau dich an – du bist ein gebildeter Mann und bist trotzdem ziemlich
blass geworden; jetzt stell dir mal diese Hinterwäldler vor. Um es kurz zu machen, wir brezelten uns auf und paradierten durch ein paar Dörfer dort, fehlte nur noch, dass wir von den Dächern gerufen hätten, sie sollten den Träger des Rings der Macht herausrücken. Zum Glück
gibt es dort keine Polizei, geschweige denn eine Spionageabwehr; Profis hätten sofort gemerkt, dass man so niemand fängt. Also diese Dorftrottel – der Ringträger und seine Saufkumpane – nahmen das ernst, also trieben wir sie langsam nach Osten und jagten ihnen gelegentlich etwas Angst ein, damit sie nicht in den Tavernen hängenbleiben würden. Inzwischen
brachten unsere Leute Prinz Boromir von Gondor auf ihre Fährte. Die ganze Operation drehte
sich eigentlich um ihn: der Kerl hätte Suppe aus seinem Vater gekocht, wenn er dafür den Ring
bekommen hätte. Als er sich also mit ein paar anderen der Gruppe anschloss, hielten wir alles
für erledigt – kein Grund mehr, die Bande zu beschatten und zu erschrecken. Jetzt sollte unser
Ring sauber nach Minas Tirith segeln... Wir beauftragten eine Kompanie Orozenen, den Ring
zu eskortieren, vergaßen das ganze – und zahlten dafür. Etwas später sichteten unsere Leute
an Anduin ein Grabboot und überprüften es – siehe da, es war Boromir! Sie schienen Streit in
der Gruppe gehabt zu haben, und jemand hatte ihn kaltgemacht. Seitdem hat keiner mehr den
Ring gesehen, aber es hat auch keiner mehr danach gesucht; wozu auch?..
Also, summa summarum haben wir das ganze königlich vermasselt, keine Frage. Ich könnte
beim Gedanken daran glatt schamrot werden, wenn das ginge... Na, Doktor, hat dich diese
moralische Geschichte erbaut? Hörst du überhaupt zu?“
„Meine aufrichtigste Entschuldigung, Sharya-Rana!“ Haladdin riss seinen Blick endlich von
den orangefarbenen Funken weg und lächelte plötzlich. „Diese Geschichte hat mich auf eine
Idee gebracht. Es könnte sein, dass ich eine Lösung habe... oder wenigstens den Ansatz dazu.
Sag mir – erlauben die Regeln, dass ich es dir erkläre, oder wäre das ein Hinweis?“
70
Kapitel 18
„Nein,“ erwiderte Sharya-Rana nach kurzem Nachdenken. „Ich meine – nein, das wäre kein
Hinweis. Sag mir deine Lösung.“
„Erzähl mir erst alles Wichtige über die Palantíri, in Ordnung?“
„Wie du willst. Auch sie sind magische Kristalle; deine magische Einschränkung macht sie nur
als Kommunikationsmittel interessant. Alles um einen Kristall herum kann an einen anderen
übertragen werden – Bilder, Töne, Gerüche. Ich betone: Es ist das Phänomen selbst, das übertragen wird, kein bloßes Abbild. Wie das geht, ist schwer zu erklären, und verstehen musst du
es nicht. Gedanken und Gefühle werden nicht übertragen, das ist ein Ammenmärchen. Ein
Palantír kann senden, empfangen, oder beides gleichzeitig; prinzipiell kann man Kontakt zwischen mehr als zwei herstellen, aber das ist sehr kompliziert.“
„Wie sehen sie aus?“
„Eine Kugel aus rauchigem Kristall, etwa so groß wie ein Kinderkopf.“
„Sie sind also wenigstens tragbar, das ist ein Vorteil. Hier meine Idee. Die sieben Steine und
der Spiegel sind ein komplementäres Paar und können nicht ohne einander existieren, richtig?
Wir müssen also nur die sieben Palantíri im Orodruin versenken und hätten dasselbe Ergebnis! Du wirst mir die Fundorte verraten, wäre das erlaubt?“
„Hm... Genial! Aber leider technisch unmöglich, soweit ich das sehe. Leider braucht man alle
sieben, und einige sind so gut wie unerreichbar. Einer ist in Mordor, das wäre kein Problem.
Ich schätze, Aragorn hat sich Denethors Stein geschnappt und Gandalf den von Saruman. Die
wären wenigstens theoretisch erreichbar, damit haben wir drei. Aber der Stein der Elben des
Westens – den hat ihr Herrscher Kirden im Turm von Elostirion in Emyn Beraid. Auch nicht
besser als Lorien, nur weiter weg. Der Palantír von Osgiliath ist vor Urzeiten in den Anduin gefallen – wer weiß, wo der jetzt ist? - und die beiden von Arnor, von Anuminas und dem Turm
von Amon Sul liegen in einem gesunkenen Schiff auf dem Grunde der Bucht von Forochel. Ich
kann dir die genauen Koordinaten nennen, wenn du willst, aber sie werden dir kaum nützen.“
Haladdin brannten die Ohren. So eine Unverschämtheit – in drei Minuten ein Problem lösen zu
wollen, das einer der brillantesten Rechenkünstler aller Zeiten jahrhundertelang ergebnislos
gewälzt haben musste... Überraschenderweise hörte er Sharya-Rana sagen:
„Gute Arbeit, Haladdin. Jetzt erst bin ich wirklich beruhigt. Das heißt, du hast ernsthaft angefangen, dich damit zu beschäftigen, und jetzt hält dich nichts mehr.“
„Ja, hast mich ganz schön auf den Leim geführt, keine Frage,“ brummelte er. „Wo ist eigentlich
unser Palantír, der von Mordor? Nur für den Fall dass.“
„Rate. Tzerlag muss dir in den letzten Monaten ein paar Dinge beigebracht haben, oder?“
„Das ist ein Brocken! Sag mir wenigstens, wann er versteckt wurde.“
„Direkt nach Cormallen, als klar war, dass Mordor fallen würde.“
71
„Gut...“ er dachte nach. „Also für den Anfang ist er in keinem eurer Verstecke, Widerstandslager und dergleichen. Soll ich erklären?“
„Mir nicht. Weiter?“
„Auf keinen Fall in Barad-Dur, trotz all der tollen Verstecke, wegen der kommenden Belagerung und der Brände.“
„Das ist logisch.“
„Im Ausland ist riskant. Genau um die Zeit direkt nach der Schlacht waren die Straßen am unsichersten, außerdem war den Agenten vor Ort nach der Niederlage nicht mehr zu trauen. Obwohl ein Versteck in Minas Tirith seinen Reiz hätte.“
„Nun... korrekt. Angenommen.“
„Höhlen, verlassene Minen, alte Brunnen fallen aus: dort gibt es wesentlich mehr zufällige Beobachter als man normalerweise glaubt. Deshalb kann man ihn auch nicht unter irgendeiner
Boje in einer Lagune von Núrnen verbuddeln – die Fischer sind zu neugierig.
„Wieder richtig.“
„Also bleiben nur noch abgelegene, unbevölkerte und unkenntliche Orte, in den Bergen oder
in der Wüste, deren Umgebung man ganz genau kennt. Aber darin liegt ein anderes Risiko – in
ein paar Jahren könnte der Felsen, unter dem er liegt, mit der ganzen Umgebung in einem
Fluss gelandet sein, zum Beispiel nach einen Erdrutsch... Aber da kommt mir eine bessere
Alternative in den Sinn! Verlassene Ruinen mit echten Verstecken, weitab von der Zivilisation,
wo sich kein normaler Mensch hin traut, wie Minas Morgul oder Dol Guldur.“
„Ja...“ entgegnete der Nazgúl, „du bist ein heller Kopf. Dol Guldur stimmt. Ich habe ihn selbst
hingebracht. Per Gleiter, allerdings musste ich zu Fuß zurück, weil keiner da war, der das Katapult bedienen konnte. Der Palantír steht auf Empfang und ist damit für die anderen Kristalle
unsichtbar, das Versteck ist hinter einen sechsseitigen Stein in der Hinterwand der Feuerstelle
in der Haupthalle. Er ist in einem Beutel aus Sackleinen mit Silber verwoben, damit man ihn
sicher handhaben kann. Die Griffe, die das Versteck öffnen, erscheinen, wenn man zwei Steine
gleichzeitig drückt: einen rhombischen direkt daneben und den ganz unten links im Bogen des
Kamins, an den man nur mit dem Fuß herankommt. Merk dir das gut, ich werde es nicht wiederholen.“
„Könnte ich ihn verwenden?“
„Sicher, warum nicht?“
„Nun, es soll ein magischer Kristall sein und ich kann keine Magie verwenden.“
„Der Kristall ist magisch,“ erklärte Sharya-Rana geduldig, „aber die Verständigung nicht. Wenn
du zum Beispiel mit einem Palantír angelst, werden die Fische nicht magisch.“
„Dann kannst du mir sagen, wie ich einen verwende?“
72
„Wen willst du denn kontaktieren? Gandalf? Aber das wäre deine Sache... Eigentlich ist es gar
nicht schwierig. Kennst du dich mit Optik aus?“
„Aus einem Seminar an der Universität, ja.“
„Dann halte ich es besser einfach. In jedem Palantír sieht man zwei permanent glühende orangefarbene Funken. Ihre Verbindungslinie bildet die optische Hauptachse des Kristalls...“
Haladdin hörte der Erläuterung schweigend zu, voll Bewunderung, wie der Nazgúl all die
komplexen und umfangreichen Informationen sauber in sein Gedächtnis sortierte. Dann begann es merkwürdig zu werden. Die Geschwindigkeit der Erklärungen von Sharya-Rana schienen zuzunehmen (oder die Zeit langsamer zu werden, wer weiß) und obwohl sein Gehirn in
jedem Moment nur eine Phrase wahrnahm – eine Glyphe ohne Zusammenhang – war er sich
vollkommen sicher, dass all die Informationen über den Widerstand in den Schattenbergen,
Palastintrigen in Minas Tirith, die Topographie von Lorien, Passwörter, um Kontakt zu den
ansässigen Spionen Mordors in jeder Hauptstadt Mittelerdes aufzunehmen und alles andere,
zu benötigter Zeit sofort in seinem Gedächtnis auftauchen würden. Als plötzlich alles vorbei
war und eine schwere Stille fast wie in der Morgenkälte erstarrt, das Lager erfüllte, war sein
erster Gedanke, sofort in Eloars Kasten nach einem Gift zu suchen und es immer bei sich zu
haben. Wer weiß was kommen möge – er wusste nun so viel, dass man ihn auf keinen Fall
lebendig fangen durfte.
„Haladdin!“ Sharya-Rana rief mit ungewöhnlich leiser und angestrengter Stimme, als ob der
Nazgúl einen langen Aufstieg hinter sich hatte und nach Luft rang. „Bitte komm herüber...“
Belämmert stellte er fest, dass der Nazgúl in einem wirklich schlimmen Zustand war. Wie
konnte ihm das nicht aufgefallen sein? Selbstsüchtiger Bastard schalt er sich... was hat er
denn? Sieht aus wie Herzprobleme. Irgendwie schien ihm die Idee eines Geistes mit Herzproblemen weder jetzt lächerlich noch im nächsten Moment, als er mit schrecklicher Klarheit erkannte: Das war es dann. Er hatte in den letzten Jahren zu viele Sterbende gesehen, um sich zu
täuschen. Der Kopf des Nazgúls hing müde herab, und er berührte die Schulter des Mannes,
der nun vor ihm kniete.
„Du hast alles verstanden, was ich gesagt habe?“ Haladdin konnte nur nicken; irgendetwas
steckte in seiner Kehle.
„Ich habe nichts mehr für dich. Vergib mir. Nur den Ring...“
„Ist das meinetwegen? Du... für mich...“
„Alles hat seinen Preis, Haladdin. Warte, lass mich ein wenig anlehnen...so...die Zeit war fast
um, aber ich habe es geschafft. Ich bin fertig. Der Rest ist unwichtig. Das ist jetzt dein Weg...“
Sharya-Rana schwieg einen Moment, um Kraft zu sammeln. Dann sprach er wieder, und seine
Stimme war fast wieder so fest wie vorher:
„Ich werde jetzt den Zauber von meinem Ring entfernen, und dann... nicht mehr sein. Du sollst
ihn nehmen; er wird dich ermächtigen, notfalls im Namen des Ordens der Nazgúl zu handeln.
Unsere Ringe sind aus Inoceramium, dem seltensten aller Edelmetalle, um ein Drittel
schwerer als Gold und unmöglich zu verwechseln. Man fürchtet diese Ringe aus gutem Grund.
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Deiner wird sauber sein, frei von aller Magie, aber du wirst der einzige sein, der das weiß.
Wirst du Angst haben?“
„Nein. Ich erinnere mich gut: nichts kann einer Person widerfahren, die sich nicht fürchtet. Ist
das wirklich so alte Magie?“
„Es gibt keine ältere.“
Plötzlich wurde ihm klar, dass Sharya-Rana zu lächeln versuchte, aber nicht konnte: die Finsternis unter seinem Mantel, die noch vor kurzem in der Nacht so quicklebendig gewesen war,
erinnerte jetzt an einen Ziegel aus Kohlenstaub.
„Lebe wohl, Haladdin, und erinnere dich: du hast alles, was du zum Sieg brauchst. Mach daraus deinen Leitspruch und fürchte nichts. Nun nimm dies...und dreh dich um.“
„Lebe wohl, Sharya-Rana. Keine Sorge, alles wird sein wie es soll.“
Er nahm sorgfältig den schweren, dunklen Ring aus der Hand des Nazgúl und trat gehorsam
zur Seite, so dass er nicht sah, wie der Magier langsam die Kapuze zurückschlug. Erst als er
einen Schrei so voller Qual hinter sich hörte, dass ihm fast das Herz stehenblieb (also das bedeuteten „alle Schmerzen, alle Furcht, alle Verzweiflung der Welt“!) drehte er sich um – aber
da waren nichts als ein paar schnell dahinschmelzende Fetzen des schwarzen Mantels dort,
wo Sharya-Rana gesessen hatte.
„Hast du geschrien?“
Haladdin drehte sich erneut. Seine Kameraden waren wie der Blitz hochgefahren (der Baron
wirbelte noch seinen bösartig glänzenden Einschläferer über dem Kopf) und sahen ihn finster
an, in der Erwartung einer Erklärung.
74
Kapitel 19
Vielleicht hätte ein Fachmann für Geheimoperationen es anders angefangen, aber er war keiner. Also erzählte er ihnen einfach alles (außer dass er Tzerlag nicht mit all dem 'Parallelweltkram' belastete). Er hatte Besuch von einem Nazgúl (hier war der Ring), der ihm offenbart
hatte, dass er, Haladdin, der einzige Mensch sei, der die Elben davon abhalten könne, Mittelerde zu ihrem Hoheitsgebiet und die Menschen zu ihren Sklaven zu machen. Dazu müsse er innerhalb von einhundert Tagen Galadriels Spiegel zerstören. Er habe die Mission angenommen,
weil sonst niemand es könne. Im Moment habe er noch keine Vorstellung, wie dies oder was
dazu nötig sei, aber ihm werde hoffentlich noch etwas einfallen.
Tzerlag beäugte den Ring misstrauisch und wollte ihn natürlich nicht berühren (da sei der
Eine vor!); offenbar war der Doktor in seiner Wertschätzung geradezu in die Wolken gestiegen
– im Gegensatz zu den Nazgúl, die in etwa genauso weit gefallen waren. Jemanden in den
sicheren Tod zu schicken war das eine – Krieg ist Krieg – aber einem Untergebenen etwas
unmögliches aufzutragen etwas ganz anderes. Ein echter Frontoffizier würde so was nicht tun.
Sich nach Lorien schleichen, was noch keinem Mann gelungen war, in einer feindlichen Stadt
ein zweifellos gut bewachtes Objekt finden, das zu allem Überfluss auch nicht vor Ort zerstört
werden konnte, sondern noch eine höllische Distanz geschleppt werden musste... Jedenfalls
würde er, Feldwebel Tzerlag, Kundschafterführer der Gebirgsjäger von Cirith Ungol, keinen
Finger rühren, bis er einen greifbaren Auftrag vor sich habe; all diese 'da rüber – keine
Ahnung wohin' – Spielchen waren nichts für ihn. Was? Nun, das ist Ihr Problem , Herr Feldarzt
– Sie sind hier der Senioroffizier.
Tangorns Äußerung war knapp: „Ich stehe doppelt in deiner Schuld, Haladdin. Sobald das Dritte Schwert Gondors deinem Auftrag irgendwie helfen kann, steht es dir zu Diensten. Aber der
Feldwebel hat Recht – direkt nach Lorien zu schleichen ist Selbstmord, das schaffen wir nie.
Wir brauchen irgendeinen Schwindel; so wie ich verstehe, ist das deine Sache.“
So war er beim Schlafen gehen Anführer einer Kompanie von drei Mann geworden, während
die anderen beiden (im Gegensatz zu ihm Veteranen) in Erwartung einer erfüllbaren Aufgabe
zu ihm aufsahen – leider hatte er keine zu bieten.
Haladdin verbrachte den ganzen nächsten Tag am Fluss; ihm fiel auf, dass seine Kameraden
ihn freundlicherweise von allen Haushaltspflichten entbunden hatten („Deine Aufgabe ist das
Nachdenken“), und erkannte zu seinem Missvergnügen, dass er keinen klaren Gedanken
fassen konnte. Der Feldwebel hatte ihm ein paar Dinge über Lorien erzählt (er war an einem
Überfall am Rand des Verzauberten Waldes beteiligt gewesen): über die Pfade, ordentlich mit
den auf Pfählen gespießten Köpfen der Möchtegern - Eindringlinge gesäumt; die tödlichen
Fallen und umherziehenden Gruppen von Bogenschützen, die einen mit Giftpfeilen
überschütten und sofort wieder im unpassierbaren Dickicht verschwinden; über Bäche, deren
Wasser Menschen einschläfern und grün – goldene Vögel, die sich um jede Kreatur sammeln,
die den Wald betritt, und seinen Aufenthaltsort mit lieblichem Gesang preisgeben. Nachdem
er dieses Wissen mit dem zusammengebracht hatte, was Sharya-Rana ihm über die Sitten und
Gebräuche der Waldelben mitgegeben hatte, war ihm klar, dass die Gesellschaft der Elben
vollkommen abgeschottet und jeder Versuch, ohne einheimischen Führer in den Wald
einzudringen, nach der ersten Meile zum Scheitern verurteilt war.
Er überlegte eine Weile, den Gleiter zu verwenden, den Sharya-Rana in Dol Guldur zurückgelassen hatte, von wo aus Mordor gelegentlich Luftaufklärung von Lorien betrieben hatte.
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Angenommen, er flöge zur Hauptstadt der Elben (oder eher: ließ sich von einem Piloten
fliegen) und schaffe es, auf einer unverdächtigen Lichtung zu landen; angenommen, es gelänge
ihm, den Spiegel zu erobern oder zu stehlen; was dann? Wie könnte man ihn wieder hinaus
bringen? Es gibt dort kein Startkatapult und keinen, der es bedienen könnte, außerdem kann
kein Gleiter tausend Pfund heben. Noch eine Sackgasse. Wie wäre es, einen elbischen Offizier
einzufangen und ihn zu zwingen, sie durch die Fallen des Verzauberten Waldes zu bringen?
Schlecht. Er würde sie wohl direkt in die Falle führen; wenn das stimmen sollte, was er über
die Bewohner Loriens gehört hatte, würde ein Elb den Tod eher als den Verrat wählen.
Die Notizen aus Eloars Besitztümern entgingen seiner Aufmerksamkeit ebenfalls nicht. Das
meiste waren Reiseaufzeichnungen; das einzige nützliche Dokument war ein nicht verschickter Brief, der mit 'Liebste Mutter!' begann und an die 'Hohe Frau Eornis, Clofoel der Herrin'
adressiert war. Etwa die Hälfte davon war eine in ihrer künstlerischen Ausdruckskraft bemerkenswerte Beschreibung des Tals des Nimrodelflusses – offenbar hatten sowohl der Elb als
auch seine Mutter eine besondere Bindung an diesen Ort. Allgemein schien die Erinnerung an
diese Wälder mit in den Himmel ragenden Mellyrn und Flecken goldener Elanor im smaragdgrünen Gras den Elben im verhassten Sand Mordors aufrecht gehalten zu haben. Eloar äußerte
Besorgnis über die angebliche Trennung seiner Kusine Linoel von ihrem Verlobten, kritisierte
seine älteren Bruder Elandar, er 'schüre vergebliche Hoffnungen in den Herzen seiner Schützlinge in Gondor und Umbar', gratulierte seiner Mutter zu der hohen Ehre, dieses Jahr das Fest
der Tanzenden Feuerfliegen ausrichten zu dürfen, und noch mehr davon. Sie hatten schon gedacht, dass Eloar zur absoluten Oberschicht Loriens gehören müsse (Sharya-Rana hatte erklärt, dass der elbische Titel eines Clofoel schwierig zu übersetzen war – ein Mittelding zwischen Kammerfrau und königlichem Berater). Dass die Elben sich heimlich in alle Teile Mittelerdes einschlichen und dass einer von den damit Beauftragten ein gewisser Elandar war, dürfte die örtlichen Behörden und die Gegenspionage brennend interessieren, aber war für ihre
Mission unwichtig. Also noch eine Sackgasse.
Haladdin durchlitt solcherart den Tag, verbrachte die halbe Nacht mit einer Tasse furchtbar
starken Tees und weckte schließlich Tzerlag, um ohne einen Einfall schlafen zu gehen. Es muss
gesagt werden, dass er am Vortag, als er sah, wie sich seine Kameraden ruhig und gefasst auf
den Marsch vorbereiteten, er den festen Entschluss gefasst hatte, sich den Kopf zu zerbrechen,
bis er wenigstens eine Zwischenlösung vorweisen konnte. Sogar ihm war bewusst, dass eine
Armee ohne Auftrag schnell zu meutern anfängt.
In der Nacht schlief er schlecht, wachte immer wieder auf und schlief erst richtig, als die Sonne fast schon aufging. Er träumte von einem wundervollen Zirkus und sich selbst als Schulschwänzer aus der zweiten Klasse, mit großen Ohren und von Zuckerwatte klebrigen Fingern.
Mit stockendem Atem beobachte er eine unvorstellbare Schönheit in goldenem Umhang, die
einen dunklen Abgrund auf dünnen goldenen Strahlen überquerte; er hatte noch nie einen
Seiltänzer gesehen, der nebenher auch noch mit drei großen Kugeln jonglierte – wie war das
möglich? Halt – es ist Sonya! NEIN! Haltet sie – das kann sie doch gar nicht, sie kennt sich doch
gar nicht aus!.. Nein, ich verstehe – es gibt kein Zurück, Umdrehen wäre noch schlimmer... Ja,
wenn sie keine Angst hat, passiert ihr nichts, alte Magie. Natürlich Magie: sie jongliert mit
Palantíri! Alle drei Sehenden Steine, die in diesem Teil Mittelerdes erreichbar sind; wir haben
sie ja selbst gesammelt und ihr gegeben...Was wäre wohl, wenn wir beide einen solchen
Palantír hätten – könnten wir eine Berührung übertragen?
Mit diesem Gedanken wachte er auf; es war schon später Vormittag. Der Topf blubberte ruhig
über dem Feuer (Tzerlag hatte ein paar Rebhühner erwischt), während Tangorn damit be76
schäftigt war, seinen geliebten Einschläferer zu polieren. Das Sonnenlicht, das sich in der Klinge spiegelte, hatte ihn geweckt; offenbar hatten seine Kameraden ihn nicht wecken wollen, damit er genug Schlaf bekäme. Er folgte der Spiegelung über die Felsen auf die Schattenseite des
Tals mit den Augen und dachte traurig: das ist alles, was keine Probleme hätte, Galadriels Palast zu erreichen – ein Lichtstrahl!...
...Wie ein Blitz durchzuckte es alle Windungen seines müden Gehirns, als ein wunderbarer Zufall den letzten Gedanken seines Traumes und den ersten seines Wachens sich kurz streifen
ließ, um sich dann auf ewig zu trennen... Er hatte vorher schon solche Erleuchtungen gehabt
(wie als er erst erraten und dann bewiesen hatte, dass die Weiterleitung von Signalen über
Nervenzellen elektrisch und weniger chemisch vonstatten ging) und doch war es jedes Mal ein
magisches Gefühl der Neuartigkeit in der Erfahrung, wie beim Treffen zweier Liebender. Kreatives Schaffen besteht aus zwei Teilen: der ersten Eingebung und der anschließenden schweren, manchmal jahrelangen, Arbeit, anderen diese Eingebung verfügbar zu machen. Die Art
der Inspiration ist immer die gleiche, egal ob in der Dichtung oder der Kriminalistik, keiner
weiß, woher sie kommt (nur eines ist sicher – sie ist nicht logisch); und der Moment der Inspiration, in dem man für auch noch so kurze Zeit dem einen gleich ist, ist das einzige, für das es
sich zu leben lohnt.
„Meine Herren!“ gab er am Feuer bekannt. „Ich glaube, ich habe endlich die Antwort auf unser
Problem gefunden, oder wenigstens einen zentralen Teil der Lösung. Es ist ganz einfach: Statt
den Spiegel zum Orodruin zu bringen, werden wir den Orodruin zum Spiegel bringen.“
Tzerlag gefror förmlich mit einem vollen Löffel halb im Mund und warf dem Baron einen besorgten Blick zu: ist unser Kommandant vom Nachdenken durchgedreht? Dieser hob höflich
eine Braue und schlug vor, der Doktor solle doch erst mal die Rebhühner probieren, solang sie
noch heiß sind, und dann erst seine extravagante Hypothese ausbreiten.
„Zur Hölle mit den Hühnern! Hört einfach zu! Es gibt noch mehr magische Kristalle neben dem
Spiegel – die Palantíri. Einen davon haben wir oder können ihn uns leicht besorgen...“
Er gab alles Wissen über die Sehenden Steine preis und bewunderte die Fähigkeit seiner Kameraden, ohne Ausbildung in Wissenschaften oder Magie, sich aus der Sturzflut von Wissen
die für sie wichtigsten Teile herauszufischen. Nun waren sie mit vollem Ernst bei der Sache –
die richtige Arbeit hatte begonnen.
„...Also, wir haben zwei Steine – einen Empfänger und einen Sender. Wenn wir den Sender in
den Orodruin werfen, wird er vernichtet, aber vorher überträgt er noch einen Teil des Ewigen
Feuers an die unmittelbare Umgebung des Empfängers. Deshalb müssen wir so einen Empfänger beim Spiegel aufstellen.“
„Nun, edler Herr,“ meinte der Baron nachdenklich, „eurer Idee fehlt es nicht an dem, was man
'edlem Wahnsinn' zu nennen pflegt...“
Tzerlag kratzte sich am Hals. „Sagt mir lieber, wie wir einen Palantír nach Lorien und neben
den Spiegel kriegen sollen!“
„Das weiß ich auch noch nicht. Ich kann nur meine Worte von gestern wiederholen: Ich hoffe,
mir fällt etwas ein.“
77
„Gut, Haladdin,“ stimmte Tangorn zu. „Jetzt haben wir ein erstes konkretes Ziel: einen zweiten
Palantír zu finden. Wir sollten in Ithilien anfangen, denn Faramir müsste wissen, was mit dem
Kristall seines Vaters passiert ist. Außerdem bin ich mir sicher, dass du die Konversation mit
dem Prinzen aufs höchste genießen wirst...“
78
Zweites Buch
Der König und der Statthalter
„Und nebenbei, wenn wer von einer Gegend vollgepackt mit Truppen redet, ist das bestenfalls nicht mehr
als ein schönes Bild. Ein Soldat nimmt nae mair ein als Platz für seine Stiefelsohlen.“
Robert L. Stevenson
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Kapitel 20
Ithilien, Emyn Arnen
3. Mai 3019
„Wie spät ist es?“ fragte Éowyn schlaftrunken.
„Schlaf weiter, meine Holde.“ Faramir erhob sich etwas auf seinem Ellbogen und küsste sacht
ihre Stirn. Offenbar hatte er sich plötzlich im Schlaf bewegt und das Mädchen so aufgeweckt;
sein verletzter Arm wurde immer wieder taub, aber er ließ sich es nie anmerken, weil er
wusste, dass sie es liebte, an seinem Körper entlang ausgestreckt zu liegen, den Kopf auf seine
Schulter gebettet. Wie üblich waren sie erst kurz vor Sonnenaufgang eingeschlafen, und jetzt
badeten die Holzhäuser der Burg Emyn Arnen bereits im Sonnenlicht, welches auch durch ein
schmales Fenster in ihr 'prinzliches Schlafgemach' eindrang. In alten Zeiten war der Prinz
stets mit der Dämmerung wach; er war ein Morgenmensch und seine besten Stunden für Arbeiten lagen vor der Mittagszeit. Inzwischen schlief er aber mit ruhigem Gewissen länger: erstens sind Flitterwochen Flitterwochen und zweitens hat ein Gefangener keinen Grund zur Eile.
Aber sie war schon unter seinem Arm hervor geschlüpft, und ihre lächelnden Augen
betrachteten den Prinzen mit gespielter Strenge: „Hör mal, wir werden die öffentliche Moral
der Kolonie Ithilien untergraben.“
„Als ob die noch tiefer sinken könnte,“ grummelte er. Éowyn schlüpfte ans Fußende des Betts,
setzte sich dort hin, nackt und im Schneidersitz, und begann, ihre weizenblonde Mähne in
Form zu bringen, wobei sie ihn gelegentlich unter gesenkten Augenlidern hervor begutachtete. In einer ihrer ersten gemeinsamen Nächte hatte er ihr nur halb im Scherz erzählt, seiner
Geliebten morgens beim Bürsten ihrer Haare zuzusehen, sei eine der eindrücklichsten und
wunderbarsten Vergnügungen, die ein Mann kenne; und jetzt pflegte und perfektionierte sie
dieses ihr kleines Ritual, stets eifersüchtig auf seine Reaktion achtend: magst du es immer
noch, Liebling? Er lächelte vor sich hin, als ihm Prinz Imrahil in den Sinn kam. Der hatte immer darauf bestanden, dass die Frauen des Nordens trotz all ihrer Schönheit im Bett eine
Kreuzung aus einem toten Fisch und einem Holzklotz seien. Ich frage mich, ob ich Glück habe
oder ob er all die Jahre Pech hatte?
„Ich mache dir Kaffee.“
„Na, das ist gewiss ein Schlag für die öffentliche Moral!“ kicherte Faramir. „Die Prinzessin von
Ithilien am Küchenherd – der Alptraum der gesamten Aristokratie!“
„Sie werden wohl über meinen Mangel an Erziehung und Manieren hinwegkommen müssen.
Ich habe beispielsweise vor, heute jagen zu gehen und zum Mittag einen richtigen Wildbraten
zu machen, und wenn ihnen alle Dichtungen vor Empörung platzen! Ich habe genug von den
'Künsten' unseres Kochs, der an Gewürzen offenbar nur Arsen und Strychnin kennt!“
Soll sie nur gehen, dachte er, dann kann das Spiel vielleicht heute Nacht beginnen. In letzter
Zeit durften er und Éowyn einzeln die Burg verlassen – genug, um dankbar dafür zu sein; die
Geiselhaft hat ihre Vorteile.
„Willst du mir heute Abend vorlesen?“
„Gerne. Soll es wieder etwas über Prinzessin Allental sein?“
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„Nun...ja!“
Das abendliche Vorlesen war ein weiteres Ritual; Éowyn hatte ein paar Lieblingsgeschichten,
die sie immer wieder und wieder wie ein Kind hören wollte. Wie der Großteil der Oberschicht
von Rohan konnte sie nicht lesen und schreiben, und die zauberhafte Welt, die Faramir vor ihr
ausbreitete, erstaunte ihr Vorstellungsvermögen immer wieder. So hatte ihre Beziehung begonnen...oder war das vielleicht noch früher gewesen?
...Am Tag der Schlacht um die Befestigungen von Pelennor hatte der Prinz die rechte Flanke
der Verteidigungstruppen befehligt; er kämpfte an der vordersten Frontlinie, und merkwürdigerweise hatte ihn von hinten ein schwerer panzerbrechender Pfeil von hinten getroffen – in
den Trapezmuskel, links vom Nacken. Die dreieckige Spitze hatte Giftkanäle, und als der gute
Ritter Mithrandir ihn nach Minas Tirith schaffte, war er schon in einem schlimmen Zustand.
Aus irgendwelchen Gründen war er in ein entlegenes Zimmer des Krankenhauses geschafft
worden und, was äußerst verwunderlich war, dort vergessen worden. Er lag vollkommen hilflos direkt auf dem Steinboden – das Gift hatte Blindheit und vollkommene Lähmung verursacht, so dass er nicht einmal um Hilfe rufen konnte – und fühlte, wie die Grabeskälte sich vom
bereits gefühllosen linken Arm und dem Hals aus in seinem ganzen Körper ausbreitete. Sein
Gehirn arbeitete immer noch normal, und ihm wurde klar, dass man ihn für tot hielt.
Eine Ewigkeit verging, voller Einsamkeit und Verzweiflung, und dann spürte er den scharfen
Geschmack einer öligen Flüssigkeit auf den Lippen; das Gefühl schien vertraut und grub einen
halb vergessenen Namen aus: Athelas. Die Kälte zog sich wie unwillig etwas zurück, und aus
der Finsternis schwebte eine Befehlsstimme: „Prinz, wenn Ihr bei Bewusstsein seid, bewegt
die Finger Eurer rechten Hand.“
Wie sollte er Finger bewegen, die er nicht einmal spürte? Vielleicht sollte er sich an eine Bewegung erinnern, in allen Einzelheiten... da, er zog das Schwert aus der Scheide und spürte
das weiche Leder des Griffs...
„Sehr gut!“
Hatte es gewirkt? Es musste wohl so sein.
„Nun etwas schwierigeres. Eine Bewegung für 'ja', zwei für 'nein'. Versucht, 'nein' zu sagen.“
Er versuchte, zweimal die Faust zu ballen... wofür? Oh ja, da nahm er einen Federkiel vom
Tisch, schrieb ein Wort, legte ihn wieder hin; jetzt musste er ihn noch einmal aufheben, um
eine Korrektur zu schreiben...
„Wunderbar. Erlaubt mir, mich vorzustellen. Ich bin Aragorn, Sohn des Arathorn. Als direkter
Nachfahr Isildurs möchte ich Euch meine königliche Dankbarkeit ausdrücken: Die Linie der
Statthalter von Gondor, deren letzter Erbe Ihr seid, hat meinen Thron gut gehütet. Nun ist diese anstrengende Aufgabe beendet, denn ich bin gekommen, Euch von dieser schweren Bürde
zu erlösen. Von nun an wird Euer Name der Erste unter den ruhmreichen Familien des Wiedervereinten Reiches sein. Versteht ihr, was ich meine, Faramir?“
Die Worte hatte er wohl verstanden, aber er signalisierte dennoch 'nein' – sonst hätte das bedeutet, dass er all diesem Unsinn zugestimmt habe. Ein Nachkomme Isildurs, na klar – warum
nicht Ilúvatar persönlich?
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„Ihr wart ihnen immer fremd, Prinz.“ Aragorns Stimme war leise und mitfühlend, als sei er ein
Busenfreund. „Verständlicherweise haben sie Eure Studien immer abgelehnt, denn das ist keine Aufgabe für einen König. Aber man hat Euch auch beschuldigt, das Regiment Ithilien geschaffen zu haben und ein Spionagenetz jenseits des Anduin gespannt zu haben, oder?“
Stolz hatte ihn nicht mit 'ja' antworten lassen, ein 'nein' verbot ihm die Ehrlichkeit. All das war
die Wahrheit, dieser Aragorn kannte sich in der Politik Gondors gut aus. Als der Krieg ausbrach, hatte Faramir, der selbst ein hervorragender Jäger war, eine Sondereinheit für den
Waldkampf aus freien Schützen (und nicht gerade wenigen Gesetzlosen) ausgehoben – das Regiment Ithilien; die berühmten Gebirgsjäger von Cirith Ungol erfuhren bald, dass sie nicht
mehr die einzigen waren, die Blitzüberfälle in den Rücken der Feinde durchführen konnten.
Der Prinz hatte selbst einige Gefechte der Ithilier befehligt (wie den, in dem sie eine ganze Karawane Mûmakil festgesetzt und vernichtet hatten) und hatte sogar die Zeit gefunden, etwas
wie ein Handbuch für das zu schreiben, was man viel später „Kommandotaktiken“ nennen
würde. Als Ergebnis rissen die Adligen seiner Hauptstadt Witze, er wolle seinem Familienwappen Peitsche und schwarze Maske hinzufügen. Und lange vorm Krieg hatte Faramir aus ehrlichem und tiefem Interesse am Osten und seiner Kultur eine regelmäßige Sammlung militärischer und politischer Informationen aus dessen Ländern durch Gleichgesinnte veranlasst –
der erste richtige Geheimdienst der Westlichen Länder. Auf diese Berichte gestützt plädierte
der Prinz im Kronrat für Zusammenarbeit mit den Ländern jenseits des Anduin, was ihn zum
'Defätisten' abstempelte und ihn beinahe als feindlichen Kollaborateur gebrandmarkt hätte.
„Euer Vater hat Euch stets als Weichling betrachtet und hätte Euch sogar beinahe enterbt, als
Boromir starb... Aber das hat Euch niemals beunruhigt; ihr habt damals sogar gescherzt, die
Feder habe nur Eure Finger abgenutzt, aber das Zepter würde Eure Hand bis auf die Knochen
abtragen – gut gesagt, Prinz, kurz und treffsicher! Also -“ plötzlich war Aragorns Stimme trocken und hart, „sagen wir, dass wir wieder am Anfang sind: Ihr habt immer noch keinen Anspruch auf den Thron von Gondor, aber ich werde der neue König sein und nicht Euer verschiedener Bruder, mögen die Valar seine Seele hüten. Hört Ihr noch zu?“
'ja'
„Dann ergibt sich folgende Lage: Denethor ist tot. Das ist ein harter Schlag, aber Ihr werdet ihn
überleben, denke ich. Wir sind im Krieg, das Land ist führerlos, und deshalb habe ich, Aragorn,
Erbe Isildurs, heutiger Sieger über die Horden des Ostens auf dem Felde von Pelennor, auf
Wunsch der Armee die Krone des Wiedervereinten Reiches angenommen. Das ist fixiert, Alternativen betreffen nur Euer eigenes Schicksal, Prinz. Erste Möglichkeit: Ihr gebt den Thron
frei (erinnert euch, dass ihr eine Linie von Statthaltern und nicht Königen seid!) und verlasst
Minas Tirith als Prinz eines der Länder Gondors; ich glaube, Ithilien wäre passend. Zweite
Möglichkeit: Ihr lehnt ab, aber dann werde ich Euch nicht behandeln – wozu auch – und die
Krone nach Eurem bevorstehenden Ableben an mich nehmen. Übrigens weiß niemand außer
mir, dass Ihr noch lebt; Eure Beerdigung ist für heute angesetzt und ich werde sie einfach
geschehen lassen. Nach ein paar Stunden werdet Ihr hören, wie der Grabstein Eure
Familiengruft verschließt... und Eure Vorstellungskraft wird Euch den Rest erzählen. Ihr
versteht, Faramir?“
Die Finger des Prinzen hielten still. Er hatte stets den kalten Mut des Philosophen gehabt, aber
die Vorstellung, lebendig begraben zu werden, kann jede Seele mit zerschmetternder Furcht
erfüllen.
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„Oh nein, so kommt Ihr nicht davon. Wenn ich in einer halben Minute keine eindeutige Antwort habe, gehe ich, und in ein paar Stunden, wenn das Athelas nicht mehr wirkt, kommen die
Totengräber. Glaubt mir, Möglichkeit Eins wäre mir lieber, aber wenn Ihr die Gruft bevorzugt...“
'nein'
„Nein – also ja? Ihr nehmt mein Angebot an, Prinz von Ithilien zu werden?“
'ja'
„Dann sind wir uns einig. Euer Wort genügt mir – noch. In Kürze werdet Ihr wieder sprechen
können, und ich werde Euch mit Prinz Imrahil besuchen, der zeitweiliger Regent der Stadt und
des Landes ist, seitdem Denethor verschieden ist. Bis dahin wird er meine königlichen Beglaubigungen untersucht haben und Euch ihre Echtheit bestätigen, Ihr werdet Eurerseits Eure Entscheidung bestätigen, als Statthalter Gondors abzutreten und nach Ithilien zu übersiedeln.
Ganz Gondor kennt den Adel des Prinzen und seine Freundschaft zu Euch, also erwarte ich,
dass das Volk seine Ankündigung pflichtbewusst hinnehmen wird. Stimmt Ihr zu? Antwortet
jetzt: ja oder nein?!“
'ja'
„Übrigens werde ich Eure unausgesprochene Frage beantworten: warum entledige ich mich
nicht Eurer, wo Möglichkeit Zwei doch so einfach und zuverlässig ist? Ich sehe das ganz pragmatisch: ein lebender, abgedankter Faramir in Ithilien ist harmlos, aber seine Leiche in einer
Gruft der Statthalter Gondors würde ohne Zweifel eine Legion von Thronanwärtern erzeugen
– falsche Faramirs. Oh, noch etwas: Ich bin mir sicher, Ihr würdet Euer Wort niemals brechen,
aber nur für den Fall, dass, merkt Euch folgendes: Niemand außer mir in ganz Mittelerde kann
Euch heilen, und selbst diese Heilung wird lange dauern und kann unvorhergesehene Wendungen nehmen...versteht Ihr?“
'ja' (was gab es da nicht zu verstehen? Eine einfache Vergiftung war die geringste seiner Sorgen, was wenn er zur Pflanze werden würde und weder seinen Speichel noch seine Ausscheidungen für den Rest seines Lebens unter Kontrolle hätte?)
„Hervorragend! Ich werde zum Abschluss nur noch eines sagen, denn ich glaube, dass Euch
das wichtig ist...“ Zur beträchtlichen Verblüffung des Prinzen schwang nun ehrliches Gefühl in
Aragorns Stimme mit. „Ich verspreche, Gondor so zu regieren, dass selbst Ihr, Faramir, niemals
auch nur den geringsten Anlass haben werdet, zu denken, Ihr hättet es besser gemacht. Ich
verspreche, dass das Wiedervereinte Reich blühen und gedeihen wird wie nie zuvor. Und ich
verspreche auch, dass die Geschichte vom König und dem Statthalter in allen Chroniken Euch
auf ewig rühmen wird. Nun trinkt dies und schlaft.“
Er kam wieder zu Bewusstsein, immer noch von Dunkelheit und Sprachlosigkeit umfangen,
aber die schreckliche Kälte hatte sich auf den Ort der Wunde zurückgezogen und – welch
Glück! - er spürte Schmerzen und konnte sich sogar etwas bewegen. In der Nähe erklangen
Stimmen, aber sie verstummten wieder... und dann war Sie erschienen.
83
Kapitel 21
Zuerst war da nur ihre Hand – klein, aber auf unweibliche Art kräftig; die Hand einer Kavalleristin und Schwertkämpferin, wie er unmittelbar feststellte. Das Mädchen hatte nicht die Art
einer richtigen Krankenpflegerin, aber es war offensichtlich, dass die Versorgung von Verwundeten nichts neues für sie war. Aber warum macht sie wohl alles einhändig – vielleicht eine eigene Verletzung? Er versuchte, ihre Größe zu schätzen, indem er ihre Reichweite von einer
Stelle an der Bettkante aus überprüfte – er kam auf etwa fünfeinhalb Fuß. Einmal hatte er unglaubliches Glück: sie lehnte sich über ihn, und ihr seidiges Haar strich über das Gesicht des
Prinzen. So erfuhr er, dass sie das Haar nicht hochgesteckt trug (also kam sie aus dem Norden,
aus Rohan); aber noch wichtiger war, dass er jetzt diesen Geruch mit nichts anderem verwechseln würde, ein Aroma wie das einer Steppenbrise; die trockene Hitze der
sonnengeküssten Erde gemischt mit dem prickelnden, erfrischenden Geruch von Sagekraut.
Inzwischen tat die Medizin von Aragorn ihre Arbeit; schon am nächsten Tag konnte er die ersten Worte sprechen. Wenig überraschend lauteten sie: „Wie heißt du?“
„Éowyn.“
Éowyn. Wie der Ton einer Glocke – keiner aus der üblichen Bronze, sondern einer aus Porzellan, wie sie manchmal aus dem Fernen Osten mitgebracht werden. Ja, diese Stimme passte
wunderbar zu ihrer Besitzerin – zu mindestens dem Bild, das er sich von ihr gemacht hatte.
„Also, was ist mit deinem linken Arm nicht in Ordnung, Éowyn?“
„Oh, Ihr könnt schon sehen?!“
„Leider nicht; ich bin während meiner Gedankengänge zu diesem Schluss gekommen.“
„Wirklich? Erklärt!“
Er beschrieb ihr Erscheinungsbild, so wie er es aus seinem spärlichem Wissen zusammengesetzt hatte.
„Das ist erstaunlich!“ erklärte sie. „Na gut, sagt mir – wie sehen meine Augen aus?“
„Ziemlich sicher groß und weit auseinander.“
„Nein, ich meinte die Farbe?“
„Die Farbe... Hm... Grün!“
„Jetzt hätte ich Euch fast geglaubt!“ klang sie leicht verärgert, „aber Ihr habt mich wohl doch
vorher schon gesehen.“
„Ich schwöre bei allem, was mir heilig ist, Éowyn, dass ich nur meine Lieblingsfarbe genannt
habe. Ich habe also richtig geraten? Aber du hast immer noch nichts wegen dem Arm gesagt.
Bist du verwundet worden?“
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„Glaubt mir, das ist nur ein Kratzer, vor allem im Vergleich zu Euch. Es ist nur so, dass die Männer die Angewohnheit haben, uns einfach wegzuwischen, wenn es um die Verteilung der Beute
geht.“
Éowyn beschrieb die Schlacht um das Feld von Pelennor deutlich und lebendig, wie ein professioneller Krieger, alles während sie ihn versorgte, mal mit Medizin, mal mit frischen Verbänden. Faramir schien es, als strahle sie eine bestimmte Wärme aus; diese Wärme war es mehr
als die Medizin, die die tödliche Kälte, die seinen Körper quälte, vertrieb. Aber als er aus Dankbarkeit einmal Éowyns Hand in die seine nahm, entzog sie sie ihm höflich, aber bestimmt und
verließ ihn mit den Worten „Das ist vollkommen unangebracht, Prinz,“ und der Anweisung, sie
zu rufen, wenn es wirklich nötig sei. Traurig über diese merkwürdige Abweisung döste er ein
(inzwischen hatte er richtigen Schlaf, erfrischend und heilend) und bekam beim Erwachen das
Ende eines Gesprächs mit, in dem er Éowyn und – zu seiner großen Überraschung – Aragorn
erkannte.
„...also musst du mit ihm nach Ithilien.“
„Aber wieso, Ari? Du weißt doch, ich kann jetzt nicht ohne dich sein.“
„Es muss sein, Liebes. Es ist nicht für lange – drei Wochen, vielleicht ein Monat.“
„Das ist lange, aber ich werde tun, was sein muss, keine Sorge. Ich soll an seiner Seite sein?“
„Ja, du sollst die Behandlung zu Ende bringen, du bist gut darin. Und du sollst überwachen,
wie er sich in seiner neuen Stellung macht.“
„Weißt du, er ist ganz nett.“
„Sicher ist er das! Ihr werdet euch gut unterhalten können, ich glaube nicht, dass es dir mit
ihm langweilig wird.“
„Langweilig? Oh, zu liebenswürdig!..“
„Verzeih, so wollte ich es nicht klingen lassen...“ Die Stimmen verklangen, eine Tür knallte, und
Faramir überlegte, dass ihn das zwar nichts anginge, aber trotzdem... Plötzlich schrie er vor
Schmerzen auf: vorher nicht wahrgenommenes Licht überschwemmte seine Augen und schien
die Netzhaut zu versengen, die das Sehen schon nicht mehr gewohnt war. Da war sie auch
schon wieder an seiner Seite und hielt ihm alarmiert die Hand: „Was ist denn?“
„Nichts schlimmes, Éowyn – ich glaube, mein Augenlicht kommt zurück.“
„Wirklich?!“
Um ihn schwamm alles in Regenbogenfarben, aber die Schmerzen vergangen schnell. Als es
dem Prinzen endlich gelang, die Tränen wegzuwischen und seinen ersten Blick auf Éowyn zu
werfen, blieb ihm das Herz kurz stehen und ihm wurde heiß: er sah das Mädchen, das er sich
vorgestellt hatte. Nicht eines, das so aussah, sondern genau dasselbe, von der Augenfarbe bis
zu der Art, wie sie sich das Haar zur Seite strich. Ich habe sie erschaffen, dachte er resignierend, und jetzt werde ich nie mehr von ihr loskommen.
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...Die Burg Emyn Arnen, die jetzt offizielle Residenz Seiner Hoheit des Prinzen von Ithilien war,
war strenggenommen keine Burg. Es war ein Blockhaus von monumentalen Ausmaßen, mit
drei Stockwerken, einem unglaublichen irrgartenartigen Grundriss und einer Fülle an Ausschweifungen der Baumeister: alle möglichen Türme, Dachgiebel und Außengänge. Trotzdem
sah es erstaunlich harmonisch aus. Man konnte die Arbeit der Meisterhandwerker aus Angmar am Bau erkennen – dort, in den nördlichen Wäldern, ist diese Kunst des Holzbauens die
blühendste. Das Haus hatte eine unschätzbare Lage, was die Landschaft anging, aber eine
fürchterliche vom militärischen Standpunkt aus – es schützte überhaupt nichts. Außerdem
hatten die unbekannten Festungsbau- 'Meister', die die Anlagen umher entworfen hatten, dies
mit soviel Verachtung für ihr Gewerbe getan, dass die Anlage nur als Schaustück für einen
wichtigen Lehrgang an den Akademien der Militärbaukunde dienen konnte: „Wie man äußere
Verteidigungsanlagen nicht baut: Finde acht Fehler.“ Darum wohl hatte Mordor Emyn Arnen
kampflos als nicht zu verteidigen aufgegeben und seinen gegenwärtigen Besitzern intakt
überlassen.
Aber wer diese Besitzer waren, war auch nicht ganz geklärt. Den Prinz von Ithilien so zu nennen, war nur im Scherz möglich, denn er durfte die Anlage nicht einmal ohne Begleitung verlassen. Zu ihrer großen Überraschung stellte sein Gast Éowyn, Schwester des Königs der Mark
von Rohan, fest, dass sie die gleiche eigenartige Stellung hatte wie ihr 'Gastgeber'. Sie hatte
ohne große Gedanken ihr Schwert zurückverlangt und halb im Scherz dazu gefügt, sie fühle
sich halb nackt ohne es; als Antwort bekam sie einen Witz: „Ein schönes Mädchen ist halb
nackt noch schöner.“ Éowyn runzelte verwundert die Stirn: sogar nach ihren freien Maßstäben
grenzte dieses Kompliment eines Leutnants der Weißen Schar (Vierzig Mann, die Aragorn zu
ihrem Schutz abgestellt hatte) an eine Unschicklichkeit. Sie beschloss, von nun an förmlichere
Beziehungen zu diesem Haufen zu pflegen und verlangte ein Treffen mit dem Befehlshaber
der Schar, Hauptmann Beregond.
Schließlich hat ein jeder Witz seine Grenzen: wir sind nicht mehr in Minas Tirith, unbewaffnet
in diesen Wäldern unterwegs zu sein, wo es immer noch Goblins geben kann, ist einfach zu
unsicher. - Oh, Hoheit haben in dieser Beziehung nichts zu fürchten; die Goblins sind Sache ihrer Leibwächter. - Meint der Kapitän damit, dass diese vier Totschläger ihr überall hin folgen
werden? - Ja, sicherlich, und das ist ein persönlicher Befehl Seiner Majestät; aber man kann sie
austauschen, wenn Hoheit diese vier nicht wünscht. - Nebenbei, Aragorn ist weder mein Herrscher noch mein Wächter, und wenn die Sache sich so verhält, kehre sie sofort nach Minas
Tirith zurück... eigentlich nach Edoras, nicht Minas Tirith! - Leider wird das nicht möglich sein,
solange kein entsprechender schriftlicher Befehl Seiner Majestät vorliegt. - Also... Machen wir
uns nichts vor, ist sie eine Gefangene? - Aber Hoheit! Gefangene bleiben hinter Schloss und
Riegel, Ihr könnt gehen, wohin Ihr wollt. Sogar nach Minas Morgul, wenn es Euch beliebt, aber
nur mit Leibwächtern und unbewaffnet.
Merkwürdigerweise kam Éowyn erst jetzt auf den Gedanken, dass das Fehlen eines Schwertes
an Faramir eher weltliche Gründe als seine dichterischen Neigungen haben könnte.
Durch Ausschluss konnte es so aussehen, als sei Beregond der wahre Herr von Ithilien, aber
man musste nur zusehen, wie er durch die Gänge der Burg schlich und jeden Augenkontakt
mit seinen Gefangenen vermied, um zu verstehen, dass das absoluter Unsinn war. Der
Hauptmann war ein gebrochener Mann, der wusste, dass er Denethors Räume an jenem
tragischen Tag bewacht hatte und dass er den Selbstmord des Königs dem Volk verkündet
hatte – er wusste es, aber er erinnerte sich nicht daran. Seine Erinnerung an diesen Alptraum
war ein schwarzes, verkohltes Loch, in dem Mithrandirs weißlicher Schatten gelegentlich
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umher geisterte; irgendwie musste der Ritter seine Finger im Spiel gehabt haben, aber
Beregond wusste nicht, wie. Es war schwer zu sagen, was den Kapitän davon abhielt, sich das
Leben zu nehmen; vielleicht war ihm bewusst, dass er damit die Schuld für das Verbrechen auf
sich genommen hätte, sehr zur Freude der wahren Mörder. In Minas Tirith war er seit jenem
Tag von einer Mauer der Verachtung umgeben – kaum einer glaubte an die Selbstverbrennung
– also konnte Aragorn kaum einen besseren Kandidaten für die Führung der Weißen Schar
finden. Diese Arbeit erforderte jemanden, der sich nicht mit Faramir verschwören würde –
und hier hatte Aragorn einen Fehler begangen: trotz seiner Menschenkenntnis hatte er nicht
vorhergesehen, dass der Prinz, den Beregond so oft auf seinen Knien geschaukelt hatte,
wahrscheinlich der Einzige in ganz Gondor war, der an die Unschuld des Hauptmanns glaubte.
Was die Männer der Weißen Schar anging, die nicht nur die Burg bewachten, sondern auch
alle Hausarbeiten erledigten (vom Haushofmeister bis hin zum Koch), sprach kaum einer von
ihnen je mit dem Prinzen. 'Ja, Euer Hoheit; Nein, Euer Hoheit; ich weiß nicht, Euer Hoheit' –
das war alles, was sie an Konversation beherrschten, wobei 'ich weiß nicht' klarer Favorit war.
Ihr Befehl war es, Wache zu halten, also wachten sie; wäre ihr Befehl, ihn zu töten, würden sie
das zweifellos auch tun. Faramir konnte nicht herausfinden, wem diese Halsabschneider gehorchten, aber er glaubte keine Sekunde daran, dass es Beregond war. Zur gleichen Zeit schien
es auch keine Botschaften von Aragorn zu geben, außer sie hatten geheimen Kontakt mit Minas Tirith ohne Wissen des Kapitäns – aber warum sollte es so komplex sein?
Es war wahrhaftig eine bunte Truppe, die sich in diesem Frühling in Emyn Arnen einrichtete,
und das lustigste daran war, dass alle Darsteller im Theaterstück Der Prinz von Ithilien und
Sein Hofstaat eine rührend einmütige Anstrengung an den Tag legten, diese Komödie in den
Burgmauern zu halten und sie nicht zum Tagesgespräch außerhalb werden zu lassen, wo der
Alltag eingekehrt war.
Im Alltag verging kaum ein Tag, an dem Faramir nicht einer neue Gruppe Untertanen seinen
Segen erteilen musste – immer noch eine Schar Siedler aus Gondor. Viele legten überhaupt
keinen Wert auf eine Audienz bei Hofe und verzogen sich in die entferntesten Ecken des
Waldes; offenbar betrachteten sie Steuereintreiber als viel schlimmere und größere Gefahr als
die 'Goblins', die angeblich im Dickicht hausten. Im Krieg hatten diese Leute gelernt, die Waffe
zu schwingen und verlernt, das Haupt vor ihren Fürsten zu neigen, also hätte der Prinz von
Ithilien wohl kaum eine Möglichkeit gehabt, die befestigten Dörfer dieser Leute zu
kontrollieren, selbst wenn er es gewollt hätte; wonach ihm aber nicht der Sinn stand. Alles
was er tat war, die Neuankömmlinge zu überzeugen, dass sie unter seiner Herrschaft nicht
geschröpft werden würden, und diese Botschaft schien anzukommen: in letzter Zeit kamen
harte Männer in Waffen aus den abgelegenen Dörfern in die Hauptsiedlung, mit klaren
Anfragen über die Preise für Honig und geräuchertes Wildbret. In diesem Jahr ertönten in
ganz Ithilien Äxte und Hämmer: die Siedler bauten Häuser, rodeten Wälder, legten Felder an,
errichteten Mühlen und Brennereien. Sie besiedelten die Wälder jenseits des Anduin für
immer.
87
Kapitel 22
Vor mehr als einem Monat war der Feldzug gegen Mordor zu Ende gegangen, und Éowyn hatte
immer noch keine Nachricht von Aragorn. Nun, wer kennt schon die näheren Umstände... Falls
sie zu irgendwelchen Schlüssen gekommen war, hatte sie sie für sich behalten und ihr Benehmen war unverändert. Das einzige, was anders war, war, dass sie Beregond nicht mehr täglich
nach Neuigkeiten aus Minas Tirith fragte. Es kam Faramir auch so vor, als hätten ihre wundervollen graugrünen Augen einen neuen, kälteren, bläulichen Farbton angenommen, aber das
wäre wirklich übernatürlich gewesen. Sie behandelte den Prinzen mit der üblichen Wärme
und Freundlichkeit, aber ihre Nähe hatte sie von Anfang an in bloße Freundschaft geleitet, und
er musste das annehmen.
Sie saßen gerade am Esstisch in der Ritterhalle der Burg, die allein schon wegen ihrer Größe
nicht wirklich einladend war, als ein Leutnant aus Gondor eintraf, den Mantel voll Staub und in
Begleitung mehrerer Soldaten. Faramir bot gleich Wein und Wildbret an, aber der Bote schüttelte den Kopf. Sein Auftrag war eilig, also wollte er nur die Pferde wechseln und gleich zurückreiten. Er hatte Befehl vom König, Éowyn aus Emyn Arnen zu holen (hier lehnte sie sich
vor, und ihr leuchtendes Gesicht schien die Düsternis des Saals förmlich aufzulösen) und nach
Edoras zu begleiten, an den Hof von König Éomer.
Er schloss daran Nachrichten aus Minas Tirith an, aus denen Faramir nur einen unbekannten
Namen bewusst wahrnahm: Arwen. Arwen – ein Name wie ein Gongschlag, dachte er flüchtig;
was für einen Kampf mag dieser Gong wohl einläuten?.. Der Prinz sah auf zu Éowyn und sein
Herz setzte aus: Ihr Gesicht war eine blutleere Maske der Qual, ihre Augen schienen die Hälfte
davon einzunehmen – ein Kind, dem man gerade einen grausamen und gnadenlosen Streich
gespielt hat und das jetzt schutzlos dem Spott der Anderen ausgeliefert ist.
Aber diese Schwäche war nur kurz zu sehen. Dann hatte das Blut von sechs Generationen von
Steppenrittern wieder die Oberhand: die Schwester des Königs der Mark von Rohan darf sich
nicht aufführen wie eine Müllerstochter, die vom Lehnsherrn verführt worden ist. Mit bezauberndem Lächeln (das aber so warm ausfiel wie das Mondlicht auf einem zugeschneiten Pass
der Weißen Berge) erklärte Éowyn dem Leutnant, dass seine Befehle merkwürdig seien, da sie
kein Untertan des Mannes sei, der sich König von Gondor und Arnor nenne. Auf jeden Fall seien sie zur Zeit nicht auf dem Boden des Wiedervereinigten Königreiches, also würde sie, das
Einverständnis des Prinzen von Ithilien vorausgesetzt (ein Nicken in Richtung Faramirs), gerne noch ein wenig seiner Gastfreundschaft in Anspruch nehmen.
Natürlich hatte der Prinz von Ithilien keine Einwände, nur eine Sorge: er war unbewaffnet,
wenn also die Leute Aragorns den Befehl hätten, das Mädchen notfalls mit Gewalt zu entfernen, hätte er nur das Tranchiermesser, das er gerade für den Braten gebraucht hatte, zur Verfügung. Welch passendes Ende für den letzten Erben der unglücklichen Linie von Anarion!
Wenigstens endet diese tragische Farce dann so, wie sie bisher auch verlaufen ist... Der Prinz
äugte zu Beregond hinüber, der auf der rechten Seite des Tisches stand, und erschrak angesichts des erstaunlichen Wandels, der den Kapitän überkommen hatte: der Blick fest wie in alten Tagen, die Hand wie beiläufig am Schwertgriff. Keiner von beiden musste ein Wort sagen,
um zu erkennen, dass der alte Kämpfer sich entschieden hatte und bereit war, an Faramirs Seite zu sterben.
Wohingegen der Offizier aus Gondor offenbar vollkommen perplex war: offenbar beinhielten
seine Befehle nichts über Gewalt gegen Personen königlicher Abstammung. Éowyn lächelte er88
neut – diesmal mit echtem Charme – und ergriff die Initiative:
„Leider werden Sie noch bleiben müssen, Leutnant. Nehmen Sie doch vom Wildbret, es ist
heute besonders gelungen. Eure Soldaten brauchen ebenfalls Ruhe.“ Sie wandte sich an den
Diener: „Gunt! Bringt die Leute des Königs in die Küche und seht zu, dass sie nach der Reise
eine anständige Stärkung erhalten. Oh, und lasst die Bäder für sie vorbereiten!“
Éowyn hatte das Rückgrat, bis zum Ende des Mahls zu bleiben und sogar das Tischgespräch
aufrecht zu halten: „Das Salz, bitte... Dank Euch... Was gibt es an Neuigkeiten wegen Mordor,
Leutnant? Wir sind hier ziemlich abgeschnitten, in dieser Wildnis...“ Allerdings konnte man sehen, dass sie sich mit dem letzten Rest ihrer Kraft aufrecht hielt. Bei ihrem Anblick musste
Faramir an zu stark gehärtetes Glas denken: es sah vollkommen normal aus, aber ein leichter
Stoß hatte es in Stückchen zerspringen lassen.
Natürlich fand er keine Ruhe in dieser Nacht; beim Schein der Lampe zerbrach er sich den
Kopf vergeblich darüber, wie man ihr helfen könnte. Der Prinz war ein Fachmann in Philosophie und versiert in militärischen und geheimdienstlichen Angelegenheiten, aber ehrlich
gesagt hatte er von der weiblichen Seele nicht gerade viel Ahnung. Als sich seine Tür ohne
Klopfen öffnete und eine totenblasse Éowyn vor ihm stand, mit nichts als einem Nachthemd
am Körper und barfüßig, fiel ihm zunächst vor lauter Verblüffung der Unterkiefer herab. Aber
da war sie schon drinnen, fast wie eine Schlafwandlerin; dann fiel das Nachthemd zu Boden,
und sie befahl ihm mit erhobenem Kopf, aber geschlossenen Augen: „Nimm mich, Prinz! Jetzt
sofort!“
Er nahm sie hoch – oh Gott, sie zittert wie wahnsinnig, das muss ein hysterischer Anfall sein! trug sie zu seinem Bett und packte sie in zwei warme Decken. Was habe ich noch da? Er sah
sich um – aha, Elbenwein, genau das richtige.
„Hier, trink, das wärmt dich auf.“
„Willst du mich nicht lieber anders aufwärmen?“ Sie hatte immer noch die Augen geschlossen;
ihr Körper, gespannt wie eine Bogensehne, bebte immer noch.
„Ganz bestimmt nicht jetzt. Du würdest mich dein ganzes restliches Leben hassen, und das zu
Recht.“
Da wusste sie, dass es, endlich, in Ordnung war, zu weinen... Und das tat sie reichlich, wie ein
Kind, während er dieses zitternde, schniefende, unendlich geliebte Bündel umarmt hielt und
ihr ins Ohr flüsterte – er erinnerte sich nie, was er gesagt hatte, aber das war auch egal; seine
Lippen waren salzig von ihren Tränen. Und als sie all ihren Abscheu und ihren Schmerz ausgegossen hatte, kroch sie unter die Decken zurück, nahm seine Hand und bat leise: „Erzähl mir
etwas... schönes.“ Also hatte er die besten Gedichte, die er kannte, vorgetragen, und jedes Mal,
wenn er anhielt, drückte sie seine Hand, als hätte sie Angst, in der Nacht verloren zu gehen
und bat mit einer nicht wiederzugebenden Kinderstimme: „Mehr, bitte nur noch etwas
mehr!..“
Gegen Morgen schlief sie ein, immer noch seine Hand umklammernd, also wartete er, bis ihr
Schlaf tief genug war, am Bettrand; erst dann küsste er sacht ihr Handgelenk und zog sich in
einen Armsessel zurück. Ein paar Stunden später erwachte er wegen einem leisen Geräusch
und wurde sofort mit einem barschen: „Umdrehen!“ begrüßt, gefolgt von einem klagenden:
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„Hör mal. Gib mir was zum Anziehen – so kann ich doch nicht herumlaufen!“ ein paar Sekunden später. Dann, als sie in der Tür stand (in seinem Jagdgewand), sprach sie plötzlich leise
und aufrichtig: „Weißt du, die Gedichte... es ist unglaublich, ich habe so etwas noch nie erlebt.
Ich komme heute Abend wieder, und dann kannst du mir mehr davon vorlesen, wenn es recht
ist.“ Um es kurz zu machen: Als Faramir eine Botschaft nach Edoras schickte, um anzufragen,
ob Éomer irgendwelche Einwände gegen den Wunsch seiner Schwester, Prinzessin von Ithilien
zu werden, hätte, waren die abendlichen Lesestunden schon unverzichtbarer Bestandteil ihres
Zusammenlebens.
„...Hörst du zu?“
Éowyn war schon längst gewaschen und angezogen und betrachtete aufgeregt den Prinzen
„Tut mir leid, Liebes; ich war in Gedanken.“
„Etwas trauriges?“
„Eher etwas gefährliches. Wenn uns Seine Majestät der König von Gondor und Arnor jetzt ein
Hochzeitsgeschenk schickt? Dein Witz über Strychnin und Arsen könnte prophetisch sein.“
Damit hatte er ein unausgesprochenes Gebot gebrochen, Aragorn nie in diesen Räumen zu
erwähnen. Nur einmal, ganz zu Anfang ihrer Romanze, sprach Éowyn, abrupt und ohne Bezug
auf ihr bisheriges Gespräch: „Wenn du wissen willst, wie er so als Liebhaber war,“ sie sah dabei aus dem Fenster und bekam seine Geste des Protests nicht mit, „kann ich in aller Offenheit
sagen: Nicht besonders. Weißt du, er kann nur nehmen, die ganze Zeit und bei allem; ein richtiger Macker, eben...“ Sie verzog das Gesicht zu einem bitteren Lächeln. „Die meisten Frauen
wollen es auch nicht anders, aber so eine bin ich nicht...“
Sie sah Faramir eine Weile fragend an, dann nickte sie und meinte gedankenvoll, als sei sie zu
einem Schluss gekommen: „Ja, das wäre sein Stil... Hast du einen Plan, wie wir um so ein Geschenk herumkommen?“
„Habe ich, aber es hängt alles davon ab, wie Beregond sich entscheidet.“
„Vergib mir die Einmischung, aber... er hat deinen Vater getötet. Und Vater ist Vater, egal wie er
ist.“
„Ich denke, Beregond hat sich nichts vorzuwerfen. Und heute will ich den Beweis antreten, zunächst und vor allem ihm gegenüber.“
„Warum heute?“
„Vorher wäre es unklug gewesen. An diesem Tag im Speisesaal hat er sich rücksichtslos benommen. Seither habe ich nichts genaues mit ihm besprochen, damit die Männer der Weißen
Schar keinen Verdacht schöpfen, aber nun sieht es nach jetzt oder nie aus. In anderen Worten,
schick ihn unter irgendeinem harmlosen Vorwand zu mir, und sieh zu, dass du es vor Zeugen
tust – wir haben schließlich nichts zu verbergen! Und wenn du auf der Jagd bist, versuche unauffällig, deinen Leibwächter loszuwerden, und frag die Leute nach einer bestimmten Waldsiedlung...“
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Beim Eintritt schimmerte die Hoffnung in Beregonds Augen – vielleicht ist noch nicht alles
verloren?
„Heil, Eure Hoheit!“
„Hallo, Beregond; seien wir nicht so förmlich. Ich möchte, dass du mir hilfst, Seine Majestät zu
kontaktieren.“
Der Prinz kramte in einer Frachtkiste an der Wand und legte dann vorsichtig eine große Kugel
aus Rauchkristall auf den Tisch.
„Ein Seherstein!“ Der Kapitän war erstaunt.
„Ja, das ist ein Palantír. Der andere ist in Minas Tirith. Aus irgendwelchen Gründen will Aragorn nicht, dass ich ihn selbst verwende und hat ihn entsprechend verzaubern lassen. Also
sieh bitte hinein...“
„Nein!“ Beregorn schüttelte verzweifelt den Kopf, sein Gesicht voll Schrecken. „Alles, nur das
nicht! Ich will Denethors verkohlte Hände nicht sehen!“
„Hast du das also schon gesehen?“ Der Prinz verspürte eine plötzliche Todtraurigkeit – hatte
er ihn wirklich so falsch beurteilt?
„Nein, aber man hat mir erzählt... jeder, der in seinen Palantír blickt, sieht sie!“
„Keine Sorge, Beregond.“ Faramir klang erleichtert. „Das ist nicht Denethors Palantír; dieser ist
in Minas Tirith und du bist sicher vor ihm.“
„Wirklich?“ Mit leichtem Zittern nahm der Kapitän den Seherstein und sah eine Weile hinein,
dann legte er ihn seufzend wieder hin. „Vergebt mir, Prinz, aber ich sehe nichts.“
„Du hast schon alles nötige gesehen, Beregond. Du hast keine Schuld an Denethors Tod und
kannst ruhig schlafen.“
„Was?! Was sagt Ihr da?“
„Du hast keine Schuld an Denethors Tod,“ wiederholte der Prinz. „Vergib mir, aber ich musste
dich täuschen: das ist tatsächlich sein Palantír. Dass man seine verbrannten Hände darin sieht,
ist wahr, aber das gilt nur für diejenigen, die Schuld an der Ermordung des Königs von Gondor
haben. Du hast nichts gesehen, also bist du unschuldig. An jenem Tag hat irgend jemand deinen Willen gelähmt – mit mächtiger Magie, vermutlich der Elben.“
„Ist das wahr?“ flüsterte Beregond. „Vielleicht wollt Ihr mich nur beruhigen, und das ist irgend
ein anderer Stein...“ (Bitte...lasst es nicht so sein!)
„Denk nach – wer sollte mir einen anderen Palantír geben? Sie haben ihn mir nur zurückgegeben, weil sie ihn für unwiederbringlich beschädigt halten; sie sehen darin nichts als seine Hände, die das ganze Sichtfeld verdecken. Zum Glück ahnen sie nicht, dass Unschuldige ihn noch
verwenden können.“
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„Aber warum habt Ihr behauptet, es sei ein anderer?“
„Nun, sieh mal... du bist vertrauensselig und leicht beeinflussbar, Beregond, und die Elben und
Mithrandir haben das ausgenutzt. Ich hatte befürchtet, du würdest dir einreden, du sähest dieses Bild; Selbsteinflüsterung hat schon seltsameres vollbracht... Aber Eru sei Dank ist das jetzt
vorbei.“
„Es ist vorbei,“ wiederholte Beregond heiser. Er kniete nieder und sah den Prinzen mit solch
hündischer Ergebenheit an, dass letzterer schamrot wurde. „Also darf ich Euch wie vorher
dienen?“
„Ja, darfst du, und jetzt steh auf. Jetzt sag mir: bin ich für dich der Herrscher von Ithilien?“
„Was sonst, Euer Hoheit?!“
„Wenn dem so ist, habe ich das Recht, die persönliche Wache, die der König mir auferlegt hat,
auszuwechseln und trotzdem Vasall Gondors zu bleiben?“
„Mit Sicherheit, aber das ist leichter gesagt als getan. Die Weiße Schar untersteht nur scheinbar meinem Befehl, ich bin eher der Quartiermeister hier.“
„Ja, das habe ich mir schon gedacht. Übrigens, was sind sie – Dúnedain?“
„Die Soldaten schon, aber die Offiziere und Feldwebel – die gehören alle zur Königlichen Geheimwache. Keiner weiß, von wo sie nach Gondor gekommen sind; es gibt Gerüchte -“ Beregond schoss einen Blick zur Tür, „dass sie lebende Tote sind. Ich habe auch keine Ahnung, wer
ihr Anführer ist.“
„Gut, gut... in jedem Fall sollten wir die Kerle loswerden, je früher, desto besser. Also, Kapitän –
riskiert Ihr, Euch an meine Seite zu stellen?“
„Ihr habt meine Ehre gerettet; mein Leben gehört ohne Einschränkungen Euch. Aber drei gegen vierzig...“
„Ich denke, wir sind mehr als drei.“ Beregond starrte den Prinzen verblüfft an. „Vor einer Woche ungefähr brachte ein Wagen eine Ladung Rauchfleisch aus einem der Walddörfer in die
Burg, deren Begleiter mit der Torwache in Streit gerieten – die verlangte, dass sie ihre Bögen
draußen lassen sollten, wie es ihnen vorgeschrieben ist. Da war ein Schwarzhaariger, der
einen Riesenlärm gemacht hat: wieso Edelleute die Residenz des Prinzen in Waffen betreten
dürfen und die fröhlichen Gesellen des Schwarzvogel – Dorfes nicht? Erinnerst du dich?“
„Ja, da war so was in der Art; und?“
„Und das war Baron Grager, Leutnant des Regiments Ithilien und mein dauernder Spion in
Khand vor dem Krieg. Ich schätze, dass er in diesem Schwarzvogel – Dorf nicht alleine ist. Du
sollst mit ihm Kontakt aufnehmen, alles andere spielen wir nach Gehör. Du und ich werden ab
sofort nur noch über einen toten Briefkasten miteinander Kontakt haben – wenn du auf der
sechzehnten Stufe der Wendeltreppe im Nordflügel stehst, ist da eine kleine Spalte in der linken Mauer auf Ellbogenhöhe, gerade groß genug für eine Nachricht. Man kann von oben oder
unten nicht sehen, wenn jemand den Ort benutzt, ich habe das überprüft. Also, wenn du jetzt
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gehst, tu so, als würdest du ein paar Tage auf Sauftour gehen, weil ich dich gebeten habe, über
den Palantír mit Aragorn Kontakt aufzunehmen und du Denethors Hände gesehen hast. Aber
übertreib nicht: diese Offiziere der Weißen dürften sehr feine Spürnasen haben.“
Am gleichen Abend geschah das erste Verbrechen überhaupt in der Siedlung – Brandstiftung.
Ein Idiot hatte gezündelt – nein, nicht am Haus eines erfolgreicheren Rivalen in Liebesdingen,
auch nicht am Lager eines Gastwirts, der ihm nichts anschreiben wollte, auch nicht an der
Scheune eines hochnäsigen Nachbars. Stattdessen hatte jemand den Taubenschlag eines mürrischen, alleinstehenden Grobschmiedes niedergebrannt, der aus Anfalas hergezogen war und
sich ein paar städtische Angewohnheiten bewahrt hatte. Der Schmied liebte seine Tauben
über alles und versprach dem, der ihn auf die Spur des Brandstifters führen würde, eine ganze
Mark Silbers. Die örtliche Polizei in Gestalt zweier Feldwebel der Weißen Schar stellten die
ganze Umgebung auf den Kopf: da die Sitten in Anfalas bekannt war, konnte man darauf wetten, dass sie bald in einem vorsätzlichen Mord ermitteln mussten, wenn sie die Schuldigen
nicht schnell einsperrten.
Faramir vernahm die verrückte Geschichte mit einer hochgezogenen Augenbraue – er war
sehr verwundert. Genauer gesagt war er wirklich überrascht. Es gab nur zwei Möglichkeiten –
entweder hatte der Gegner seinen ersten größeren Schnitzer begangen oder im Gegenteil hatte er den gesamten Plan des Prinzen erraten. So oder so hatte das Spiel begonnen; früher als
erwartet und nicht wie erwartet, aber es gab kein Zurück.
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Kapitel 23
Schattengebirge, Hotontpass
12.Mai 3019
„Da ist euer Ithilien.“ Der Bergtroll stellte den Packen ab und zeigte vorwärts, wo sich ein
Buschland aus niedrigem Eichengestrüpp in der Schlucht vor ihnen auftürmte wie dichte Wolken aus hellgrünem Rauch. „Weiter kann ich euch nicht bringen, aber der Pfad ist gut ausgetreten und nicht zu verlieren. In etwa einer Stunde kommt ihr an einen Strom; etwas weiter
runter ist eine Furt. Sieht gefährlich aus, aber man kommt gut rüber. Hauptsache, man tritt direkt in die Wirbel; da ist das Wasser am ruhigsten. Packt einfach um und lauft.“
„Danke, Matun!“ Haladdin schüttelte fest die schaufelgroße Hand ihres Führers. Der Troll ähnelte einem Bären sowohl im Aussehen als auch im Benehmen: ein gutmütiger Honigfresser,
der sich in Sekundenbruchteilen in eine tödliche Mordmaschine verwandeln konnte, deren
Schnelligkeit und Gerissenheit sogar noch erschreckender als seine ungeheure Kraft war. Die
Birnennase, der ungekämmte rote Bart, das Gesicht eines Hinterwäldlers, der gerade von einem Jahrmarktszauberer eine Goldmünze aus dem Ohr gezogen bekam – alles verbarg einen
hervorragenden Kämpfer, ebenso geschickt wie erbarmungslos. Bei seinem Anblick erinnerte
sich Haladdin immer an das, was er einmal gehört hatte: friedliche Familienväter sind die
schrecklichsten Krieger – wenn solche Leute von der Arbeit nach Hause kommen und nichts
finden als verkohlte Knochen in den Ruinen ihres Heimes.
Er blinzelte nochmals zu den Schneemassen des Schattengebirges über ihnen – nicht einmal
Tzerlag hätte sie heil durch all die Eistümpel, senkrechten moosbedeckten Wände und riesigen, mit Rhododendron überzogenen Abhänge gebracht.
„Wenn du wieder im Lager bist, bitte sorge dafür, dass Ivar sich daran erinnert, uns hier im Juli
wieder zu treffen.“
„Kein Problem, Kumpel; der Chef vergisst nichts. Wir haben ne Abmachung, also stehen wir in
der letzten Juliwoche hier, komme was wolle.“
„Richtig. Und wenn wir bis zum ersten August nicht aufgetaucht sind, trink einen auf unser
Seelenheil.“
Beim Abschied klopfte Matun Tzerlag dermaßen auf die Schulter, dass der fast aus den Stiefeln
gekippt wäre: „Alles gute, Spitzel!“ In den letzten Tagen hatten er und der Orozene sich schnell
angefreundet. Klar hatte er Tangorn keines Blickes gewürdigt; wenn er nur ein paar Minuten
mit diesem Gondorer Stutzer allein gehabt hätte... Na ja, die Offiziere wussten es besser. Er
war von Anfang der Besatzung an in der Widerstandsarmee von Ivar dem Trommler gewesen
und wusste genau, dass man nicht länger als drei Tage am Treffpunkt auf einen Spähtrupp
warten sollte, und hier lief der Befehl über eine ganze Woche! Ist halt ein Sondereinsatz. Also
ist diese Nase aus Gondor nicht bloß zum Vorzeigen dabei.
Ja, dachte Haladdin beim Anblick des Gepäcks, das auf Tangorns Rücken regelmäßig hin und
her wippte, jetzt hängt alles an Tangorn: ob er uns in Ithilien genau so schützen kann wie wir
ihn bis jetzt geschützt haben. Er ist ein persönlicher Freund von Prinz Faramir – klasse, aber
erst mal müssen wir diesen wunderbaren Prinzen mal erreichen. Und dann könnte es immer
noch sein, dass er nichts ist als Aragorns Puppe, wohingegen der Baron ziemlich verwickelte
Beziehungen zu den Behörden in Minas Tirith hat – könnte sein, dass er schon geächtet ist... In
anderen Worten könnten wir schnell miteinander aufgeknüpft werden, entweder im Wald,
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wenn wir auf eine Patrouille Gondors stoßen, oder an der Mauer von Emyn Arnen; und das
lustigste daran ist, dass im Wald der Baron mit uns baumeln wird, in der Burg aber wir mit
dem Baron. Tja, die richtige Gesellschaft wirkt halt Wunder...
Ähnlich dunkle Gedanken musste der Baron vor etwa zehn Tagen gehabt haben, als feststand,
dass die Straße nach Ithilien über das Morgultal und Cirith Ungol von elbischen Außenposten
versperrt wurde und sie die Hilfe von Widerständlern im Schattengebirge in Anspruch nehmen mussten. Das Schlimmste wäre gewesen, wenn sie auf eine der Gruppen gestoßen wären,
die keine Befehle annahmen und nur auf Rache aus waren; da hätte kein Wort von einem Auftrag geholfen, denn die Guerillas töteten mittlerweile mit der gleichen Grausamkeit wie ihre
Gegner. Mit Glück und den Informationen Sharya-Ranas konnte Tzerlag aber eine gut organisierte Kompanie in der Shara-Teg-Schlucht ausfindig machen, die an das Oberkommando des
Widerstands berichtete. Befehlshaber war ein Regulärer, ein Leutnant Ivar, ein einarmiger Veteran des Nordheers. Er stammte aus der Gegend und hatte die Schlucht in eine uneinnehmbare Festung verwandelt; neben anderen Dingen hatte er ein hörbares Warnsystem für alle
Spähposten eingerichtet und so den Spitznamen „Der Trommler“ erhalten.
Der Leutnant hatte Haladdins Nazgúlring furchtlos in einer Hand gewogen, genickt und nur
eine Frage gestellt: Wie kann er dem Herrn Feldarzt bei seinem Auftrag behilflich sein? Den
Trupp nach Ithilien bringen? Kein Problem. Seiner Meinung nach sollten sie über den Hotontpass gehen; da er um diese Jahreszeit als unbenutzbar gilt, dürfe er von der anderen Seite unbewacht sein. Leider ist sein bester Führer Matun zur Zeit im Einsatz. Könnt ihr drei oder vier
Tage warten? Dann ist alles klar; dann ruht euch aus und futtert euch eine Speckschicht an –
das wird eine harte Reise... Erst als alle drei die Waffen zurück hatten, die die Späher ihnen abgenommen hatten, gab Tangorn das Gift zurück, das er sich vom Doktor geliehen hatte.
Haladdin war noch nie in diesem Landesteil gewesen und beobachtete das Alltagstreiben in
Shara-Teg mit Interesse. Die Bergtrolle lebten spärlich, aber legten eine geradezu prinzliche
Würde an den Tag; gegen Außenstehende war allein ihre Gastfreundschaft so jenseits aller
vernünftiger Maße, dass Haladdin schwer beschämt war. Jedenfalls verstand er jetzt, woher
die wunderbare Aura des Heims seines Klassenkameraden Kumai in Barad-Dur herkam.
Trolle haben schon immer in großen, eng verbundenen Familien gelebt, und weil die einzige
Richtung, in die man ein Haus groß genug für dreißig Personen auf einem Steilhang bauen
kann, nach oben ist, waren ihre Häuser massive, zwanzig bis dreißig Fuß hohe Steintürme.
Ihre Erfahrung als Steinmetze mit der Errichtung solcher Kleinfestungen hatte trollische Auswanderer zu den führenden Fachleuten im Städtebau Mordors gemacht. Das andere Standbein
war die Metallbearbeitung. Erst perfektionierten sie die Schmiedekunst, was Waffen billig und
weit verbreitet machte; dann perfektionierten sie die Arbeit mit Nickeleisenlegierungen (die
meisten Erze der Region waren selbst legiert), und seit dieser Zeit waren die Schwerter, die jeder männliche Einheimische über zwölf trug, die besten in ganz Mittelerde. Wenig überraschend hörten die Trolle auf keine Autorität außer ihren eigenen Ältesten: nur ein Vollidiot
griff einen Trollturm an und opferte die Hälfte seiner Streitmacht für ein Dutzend magerer
Schafe als Beute (oder Kirchenzehnten).
Die Mächte Mordors verstanden das gut und beschränkten sich deshalb darauf, Soldaten anzuwerben, was den Trollen sehr schmeichelte. Später aber, als Erzabbau und Metallverfeinerung
ihre Hauptbeschäftigung wurde, belegte man den Verkauf dieser Waren mit einer horrenden
Steuer, was den Trollen aber scheinbar egal war – ihre Gleichgültigkeit gegenüber Reichtum
und Luxus war schon so legendär wie ihre Dickköpfigkeit. Das erzeugte auch eine Volkssage,
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nach der die Trolle nur eine Hälfte dieses Volkes seien. Die andere (irrtümlicherweise 'Gnome'
oder 'Zwerge' im Westen genannt, eine Verwechslung mit einem anderen Sagenvolk – dem der
unterirdischen Schmiede) lebte vermutlich in Gier nach Reichtümern in geheimen Tunneln
unter der Erde; angenommener Weise waren sie missgestimmt, aggressiv und verräterisch –
anders gesagt, ein spiegelverkehrtes Bild der echten, oberirdischen Trolle. Sei es wie es sei, die
Tatsache bleibt: die trollische Gemeinschaft schenkte Mordor viele herausragende Persönlichkeiten, von Generälen und Schmieden bis zu Wissenschaftlern und Priestern, aber keinen einzigen nennenswerten Kaufmann.
Als die westlichen Verbündeten bei der 'Endlösung der Mordorfrage' mit dem 'Ausputzen' der
Hügel fertig waren und sich über die Trolle der Aschen- und Schattengebirge hermachen wollten, stellten sie fest, dass es viel schwieriger war, die Bergleute zu bekämpfen als in der Gorgoroth Ohren zu sammeln. Die Dörfer der Trolle waren dezimiert oder schlimmer – Tausende
waren im Marsch auf Esgaroth und auf dem Feld von Pelennor umgekommen – aber Kriegsführung in den engen Bergtälern löst so ziemlich jede zahlenmäßige Überlegenheit auf. Die
Bergbewohner konnten sich immer an den engsten Stellen aufbauen, wo zehn gute Kämpfer
eine ganze Armee stundenlang festhalten konnten, während Katapulte auf den Abhängen oben
die gelähmte Kolonne fachmännisch weichklopften. Nachdem drei große Einheiten der Feinde
unter ausgelösten Lawinen in den Schluchten verschüttet worden waren, dehnten die Trolle
ihre Aktionen bis in die Hügel aus, so dass weder Elben noch Ostlinge sich nachts aus ihren
paar schwer befestigten Außenposten heraus trauten. Inzwischen kamen immer mehr Menschen aus der Ebene in den Bergdörfern an, die so zu Widerstandsnestern wurden – wenn das
Ende schon da ist, stellt man sich lieber bewaffnet und in Gesellschaft.
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Kapitel 24
Unter den Ankömmlingen jener Tage in Shara-Teg befanden sich einige bemerkenswerte Persönlichkeiten. Der Doktor traf eine von ihnen, einen gewissen Meister Haddami, in Ivars
Hauptquartier, wo der kleine, pergamenthäutige Umbarer mit den unendlich traurigen Augen
als Schreiber arbeitete und Ivar von Zeit zu Zeit sehr interessante Vorschläge für Erkundungsaufträge machte. Der Meister war einer der größten Gauner des Landes gewesen; während des Endes von Barad-Dur saß er dort gerade eine fünfjährige Kerkerhaft ab – wegen einer grandiosen Betrugsaffäre mit gegengezeichneten Geldeinzügen. Da Haladdin von der Finanzwelt keine Ahnung hatte, konnte er die Feinheiten nicht beurteilen, aber angesichts der
Tatsache, dass die betrogenen Kaufleute (immerhin die Herren der drei ältesten Handelshäuser der Hauptstadt) alles mögliche getan hatten, um den Skandal außergerichtlich und damit
unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu bereinigen, musste es ein sehr guter Plan gewesen sein.
Ohne Möglichkeit, seinen Geschäften in der zerstörten Stadt weiter nachzugehen, hatte Haddami sein verstecktes Gold ausgegraben und sich in die Heimat seiner Vorfahren aufgemacht,
aber die Umstände des Krieges brachten ihn zum Widerstand anstatt nach Umbar.
Der Meister war ein sprudelnder Quell besonderer Talente; und da er gehobene Konversation
von allen Dingen am meisten vermisst hatte, war er mehr als bereit, diese Haladdin vorzuführen. Er war zum Beispiel fähig, jede Handschrift aufs vollkommenste nachzuahmen, was in seiner Profession sicher sehr nützlich war. Aber es ging nicht nur um simple Unterschriftenfälschung; weit gefehlt. Nachdem er ein paar Seiten Aufzeichnungen des Doktors studiert hatte,
schrieb Haddami einen tiefschürfenden Text, den Haladdin erst für sein eigenes Werk hielt –
er dachte, er habe ihn geschrieben, vergessen, Haddami habe ihn gefunden und treibe jetzt
Spielchen mit ihm...
Es stellte sich gleichzeitig als einfacher und komplizierter heraus. Haddami war ein genialer
Handschriftenkundiger, der in der Lage war, ein psychologisches Profil eines Schreibenden zu
erstellen und sich dann in diesen zu verwandeln, so dass die Texte, die er unter dem Namen
Anderer verfasste, quasi authentisch waren. Nachdem der Meister ihm alles mitgeteilt hatte,
was er aus ein paar handschriftlichen Zeilen über Haladdin erfahren hatte, spürte dieser sowohl Befremden als auch Furcht – das war echte Magie, und auch keine der billigen Sorte. Für
einen Augenblick dachte Haladdin sogar daran, dem Meister ein paar Zeilen von Tangorn zu
zeigen, obwohl ihm vollkommen klar war, dass das noch schlimmer gewesen wäre als einfaches Durchblättern eines privaten Tagebuchs. Niemand hat das Recht, mehr über jemanden zu
erfahren, als dieser preisgeben will, und für Freundschaft und Zuneigung ist der Verlust des
Rechts einer Person auf Privatsphäre tödlich.
Da kam ihm die seltsame Idee, Eloars Briefe (aus dem Besitz des toten Elben) von Haddami
untersuchen zu lassen. Er und Tangorn hatten den Inhalt während ihrer Reise über Morgai auf
alle erdenklichen Hinweise abgeklopft, wie man nach Lorien hineinkäme, aber sie hatten
nichts gefunden. Nun wollte Haladdin ein psychologisches Profil des Elben, auch wenn ihm
nicht ganz klar war, warum.
Das Ergebnis war ein überaus merkwürdiges. Aus dem feinen Geflecht der Runen wob Haddami das Bild einer außergewöhnlich edlen und liebenswürdigen Person, vielleicht etwas zu verträumt und so offen, dass es fast schon an Verletzlichkeit grenzte. Trotz Haladdins Einwänden
bestand der Schriftexperte darauf, dass seine Untersuchungen von Eloars Aufzeichnungen
zum Gelände und zur Versorgung seine Schlüsse nur bestätigten und es keinen Fehler geben
könne.
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Schlussendlich verlor Haladdin die Geduld. „In dem Fall ist ihre ganze Methodik wertlos!“
stellte er fest und erzählte dem erschrockenen Fachmann alles, was er in Teschgol gesehen
hatte, mit allen grausigen Einzelheiten.
„Hören sie, Doktor,“ erwiderte Haddami irgendwie verhärmt mach einer Pause, „Ich bestehe
immer noch darauf – das war nicht er in diesem Teschgol...“
„Was soll das heißen, er war es nicht?! Vielleicht hat er nicht selbst ein achtjähriges Mädchen
vergewaltigt und ihr dann den Hals durchgeschnitten, aber er hat die befehligt, die das gemacht haben!“
„Nein, nein, Haladdin, das meine ich doch gar nicht damit! Sehen sie, hier liegt eine tiefe, für
uns Menschen unvorstellbar tiefe Persönlichkeitsspaltung vor. Stellen sie sich für einen Moment vor, sie wären gezwungen, an etwas wie in Teschgol teilzunehmen – ohne Alternative. Sie
haben eine zutiefst geliebte Mutter; bei den Elben gibt es nichts anderes, denn Kinder sind selten und jedes Mitglied der Gesellschaft ist geradezu unersetzlich. Höchst wahrscheinlich würden sie ihr jedes Wissen um diesen Alptraum ersparen wollen, und so hellhörig wie die Elben
sind, ist es mit Lügen oder Schweigen nicht getan. Dazu wäre es erforderlich, wirklich zu einer
anderen Person zu werden. Zwei komplett verschiedene Wesen in einem Körper – zur inneren
und äußeren Anwendung, sozusagen. Verstehen sie?“
„Um ehrlich zu sein, nicht wirklich. Gespaltene Persönlichkeiten sind nicht mein Fachgebiet.“
Merkwürdigerweise schien dieses Gespräch Haladdin eine Lösung für sein Hauptproblem gewiesen zu haben, dass er schon die ganze Zeit wälzte, und diese Lösung erschreckte ihn durch
ihre Primitivität. Sie war die ganze Zeit greifbar dagelegen, obenauf, und nun schien es ihm,
als habe er die ganze Zeit verzweifelt weggesehen und so getan, als sei sie gar nicht da. An diesem Abend kam der Doktor erst spät nachts zu dem Turm zurück, den man ihm und seinen
Gefährten zugewiesen hatte; ihre Gastgeber lagen schon im Bett, aber das Feuer im Herd
brannte noch. Dort saß er bewegungslos und starrte wie festgenagelt in die Flammen. Er bemerkte noch nicht einmal, dass der Baron neben ihm auftauchte.
„Haladdin, du siehst ziemlich fertig aus. Willst du einen Schluck?“
„Ja... schätze schon.“
Der einheimische Wodka brannte in seinem Mund und lief wie ein Krampf durch seine Kehle
das Rückgrat entlang; er wischte sich die Tränen aus den Augen und suchte eine Gelegenheit
zum Ausspucken. Der Alkohol hatte nicht dafür gesorgt, dass er sich besser fühlte, aber er verlieh ihm ein Stück zusätzliche Objektivität. Tangorn verschwand im Dunkeln und kam mit einem eigenen Hocker zurück.
„Mehr?“
„Danke, nein.“
„Ist etwas passiert?“
„Allerdings. Ich weiß jetzt, wie wir den Elben unser kleines Geschenk zukommen lassen können.“
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„Und?“
„Und jetzt stelle ich mir die ewige Frage, ob der Zweck die Mittel heiligt.“
„Hm... kann sein oder auch nicht, je nach den Umständen.“
„Ganz genau. Ein Mathematiker würde sagen, dass das Problem keine allgemeingültige Lösung
hat. Darum hat uns der Eine in Seiner unendlichen Weisheit statt mit einer klaren Anweisung
mit einem Gewissen ausgestattet, was ein ziemlich komplexes und unzuverlässiges Ding ist.“
„Und was sagt ihr Gewissen jetzt, Herr Doktor?“ Tangorn blickte ihn leicht spöttisch, aber interessiert an.
„Mein Gewissen sagt eindeutig Nein. Genau so eindeutig sagt mein Pflichtgefühl, dass es sein
muss. Und so geht es hin und her... Es muss schön sein, nach dem Kodex der Ritterschaft zu leben: tu was du tun musst, und kümmere dich nicht um die Folgen. Oder, Baron? Vor allem,
wenn man jemanden hat, der einem sagt, was man zu tun hat...“
„Leider kann dir niemand diese Wahl abnehmen.“
„Und ich brauche auch keine Hilfe. Darüber hinaus,“ er drehte sich weg und streckte zitternd
seine Hände in Richtung der ersterbenden Glut, „möchte ich dich von jeder Verpflichtung lossprechen, an unserer Aufgabe teilzuhaben. Glaube mir, sogar wenn wir gewinnen, wird es kein
Sieg, auf den wir stolz sein können.“
„Wirklich?!“ Tangorns Züge verhärteten sich, und sein Blick schien plötzlich schwer wie eine
Lawine zu sein. „Also ist dein Plan so beschaffen, dass die Teilhabe eine noch größere Schande
wäre als einen Freund in Not zu verlassen – und als solchen habe ich dich bisher gesehen?
Doktor, deine Sorge um mein Gewissen in allen Ehren, aber darf ich das vielleicht noch selbst
entscheiden?“
„Ganz wie du willst,“ zuckte Haladdin gleichgültig mit den Schultern. „Du kannst gern erst zuhören und dann ablehnen. Es ist eine komplizierte Angelegenheit und ich muss ziemlich weit
ausholen... Wie, glaubst du, steht Aragorn zu den Elben?“
„Aragorn und die Elben? Meinst du jetzt, wo sie ihn auf den Thron von Gondor gesetzt haben?“
„Natürlich. Du hast doch erwähnt, du würdest dich mit östlichen Sagen ganz gut auskennen;
erinnerst du dich an das Märchen von der Zwergenkette?“
„Ich muss gestehen, dass ich sie vergessen habe.“
„Nun, es ist eine sehr erbauliche Geschichte. Vor langer, langer Zeit versuchten die Götter, den
hungrigen Höllendämon Hahti zu unterwerfen, der drohte, die ganze Welt zu verschlingen.
Zweimal versuchten sie ihn zu binden mit einer Kette aus der Himmelsschmiede – erst aus
Stahl, dann aus Mithril – und beide Male zerriss Hahti die Kette wie einen Faden. Als die Götter
also einen dritten und letzten Versuch unternehmen wollten, mussten sie sich erniedrigen, die
Zwerge um Hilfe zu bitten. Diese brachten ihnen eine Kette aus den Stimmen der Fische und
den Geräuschen einer Katzenpfote...“
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„Fischstimmen und Geräusche einer Katzenpfote?“
„Ja. Deshalb werden diese nicht gehört – sie wurden alle für diese Kette verbraucht. Tatsächlich glaube ich, dass auch noch andere Dinge dafür aufgebraucht wurden, zum Beispiel die
Dankbarkeit von Königen. Wo wir schon davon sprechen, wie denkst du haben die Götter die
Zwerge entlohnt?“
„Mit ihrer Ausrottung, schätze ich; wie denn sonst?“
„Ganz genau! Eigentlich hatten sie nur die Absicht, sie auszurotten, aber die Zwerge durfte
man auch nicht unterschätzen... aber das ist eine andere Geschichte. Zurück zu Aragorn und
den Elben...“
Seine Geschichte war lang und ausführlich, denn er wollte auch seine Logik prüfen. Danach
herrschte Schweigen, nur vom heulenden Wind außerhalb des Turmes gestört.
„Haladdin, du bist ein grauenerregender Mensch; wer hätte das gedacht?..“ meinte Tangorn
schließlich gedankenverloren und betrachtete den Doktor mit neuem Interesse und – ja doch,
Respekt. „Was wir da vorhaben, ist nichts für Zaghafte, aber wenn wir wirklich damit den Sieg
davontragen... Anders gesagt, ich zweifle, ob ich mich je mit dir bei einem Glas Wein daran erinnern möchte.“
„Wenn wir wirklich damit den Sieg davontragen,“ echote Haladdin, „zweifle ich, ob ich mich jemals wieder selbst in einem Spiegel betrachten kann.“ (In jedem Fall, fügte er bei sich hinzu,
werde ich Sonya nie wieder in die Augen sehen können.)
„Inzwischen,“ grinste der Baron, „will ich dich mal wieder auf den Boden zurückbringen. Diese
Diskussion kommt mir so vor, als wollten wir ein Bärenfell verteilen, das wir noch gar nicht erjagt haben. Erst mal musst du diesen Kampf gewinnen, dann kannst du deinen Seelenfrieden
suchen. Bis jetzt haben wir Licht am Ende des Tunnels, mehr aber nicht. Ich schätze, die Wetten stünden bestenfalls eins zu fünf gegen uns, also ist es irgendwie schon eine ehrliche Partie.“
„Gegen uns? Also bleibst du?“
„Was sonst? Wie wollt ihr es denn ohne mich schaffen? Wie wollt ihr beispielsweise sonst an
Faramir herankommen? Euer ganzer Plan geht ohne seine Mitarbeit den Bach hinunter, auch
wenn sie nur passiv ist. Nun gut... Ich denke folgendes: Dein Köder muss in Umbar ausgelegt
werden. Das werde ich alleine tun, du und Tzerlag wären dort nur unnötiger Ballast. Gehen
wir schlafen; ich muss mir morgen die Details überlegen.“
Aber am nächsten Tag wartete eine andere Aufgabe: der lang erwartete Führer war endlich
zurück, und sie machten sich an die Bezwingung von Hotont. Es war die zweite Maiwoche,
aber der Pass war immer noch nicht offen. Dreimal geriet die Gesellschaft in einen Schneesturm, und nur ihre Schlafsäcke aus Dickhornhaut retteten sie; einmal gelang es ihnen kaum,
sich nach anderthalb Tagen in einem Iglu, das Matun aus hastig geschnittenen Ziegeln aus
dickem Eis gebaut hatte, aus diesem heraus zu graben. In Haladdins Gedächtnis war die ganze
Reise ein einziger, zähflüssiger Alptraum. Der Sauerstoffmangel hatte einen Vorhang aus
winzigen Kristallglöckchen um ihn gelegt – nach jedem Schritt wollte er sich nur noch in den
Schnee legen und selig ihrem einschläfernden Klingeln lauschen. Es heißt nicht umsonst,
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Erfrieren sei die angenehmste Todesart. Nur einmal fand er aus diesem Halbtraum hinaus, als
auf der anderen Seite einer Schlucht eine halbe Meile von ihnen aus dem Nichts eine riesige,
pelzige Gestalt auftauchte – eine Kreuzung aus einem Menschenaffen und einem aufrecht
gehenden Bär. Das Wesen bewegte sich ungeschickt, aber unglaublich schnell und verschwand
zwischen den Felsbrocken auf dem Grund der Schlucht, ohne sie weiter zu beachten. „Matun,
was war das denn?“ Der Führer schwenkte nur die Hand wie zu einem Schutzzeichen gegen
den Feind: es ist weg, und das ist gut genug... Und jetzt wanderten sie einen gemütlichen
Waldweg in Ithilien entlang und genossen den Gesang der Vögel, während Matun auf dem
Rückweg war, ganz alleine über das Geröll und den Firn.
...Am selben Abend erreichten sie eine Lichtung, auf der ein Dutzend Männer eine Palisade um
ein paar halbfertige Häuser zogen. Bei ihrem Anblick griffen diese zu den Bögen und ihr Anführer befahl ihnen, die Waffen wegzulegen und langsam mit erhobenen Armen näherzukommen. Tangorn trat näher und erklärte, ihre Gesellschaft sei auf direktem Wege zu Prinz Faramir persönlich. Daraufhin warfen die Männer sich vielsagende Blicke zu und fragten, ob sie
vom Mond oder aus dem Irrenhaus kämen. Da warf der Baron einen genaueren Blick auf einen
der Bauarbeiter, der im Dachfirst eines Hauses auf einem Balken saß und fing an zu lachen:
„Also wirklich, Feldwebel! Begrüßt man so seinen kommandierenden Offizier?“
„Jungs!!“ schrie der Mann und fiel fast von seinem Balken. „Ich will auf der Stelle blind sein,
wenn das nicht Leutnant Tangorn ist! Tut uns leid, wir haben Sie gar nicht erkannt; sie sehen
aus wie, sie wissen schon... He, jetzt sind wir alle wieder zusammen, also machen wir es wie
die Weiße Schar...“ und vollführte beschwingt eine äußerst obszöne Geste in Richtung Emyn
Arnen.
101
Kapitel 25
Ithilien, Schwarzvogel – Siedlung
14. Mai 3019
„...also habt ihr einfach ganz Emyn Arnen verkündet: 'fröhliche Gesellen aus der Schwarzvogel
– Siedlung?“
„Was hätte ich sonst tun sollen – darauf warten, dass das Ewige Feuer einfriert? Weder der
Prinz noch das Mädchen können die Burg ohne Wächter von der Weißen Schar verlassen, und
mit denen in der Nähe kann man einfach keinen Klartext reden...“
Der brennende Docht einer Öllampe an der Kante eines rohen Holztischs warf ein passendes
Licht auf den Sprecher. Sein Gesicht war braungebrannt und raubtierhaft, wie ein Mashtang –
Bandit von den Karawanenstraßen südlich des Anduin; kein Wunder, dass sein Besitzer in den
Karawanenhöfen von Khand unter baktrischen Viehtreibern, Schmugglern und den gleichermaßen großmäuligen wie läuseverseuchten Bettelmönchen und den Hafenschänken Umbars
mit dem übelsten Ruf gleichermaßen zuhause war. Es war Baron Grager, der vor vielen Jahren
dem Neuling Tangorn auf seinem ersten Vorstoß über den Anduin sowohl die Grundlagen der
Spionage als auch – was vielleicht noch wichtiger war - die vielen Eigenarten der Südländer
eingetrichtert hatte, ohne deren Kenntnis man dort für immer ein greengo bleiben würde, ein
ständiges Ziel für kleinere und größere Verachtung jedes Südländers, vom Straßenjungen bis
zum Höfling.
Der Herr der Schwarzvogel – Siedlung griff fragend zum Weinkrug, bemerkte Tangorns kaum
wahrnehmbare Geste der Ablehnung und stellte ihn gehorsam zur Seite. Die freudige Begrüßung zweier alter Freunde war beendet; jetzt gab es Arbeit.
„Wie schnell war der Kontakt hergestellt?“
„Neun Tage. Die Weißen sollten diesen blöden Vorfall schon vergessen haben. Das Mädchen ist
eines Tags jagen gegangen – ist inzwischen Gewohnheit – sah einen Schäferjungen mit seiner
Herde in einigem Abstand auf der Weide und verlor ihre Eskorte, ziemlich gekonnt, für höchstens zehn Minuten.“
„Ein Schäferjunge, ja? Hat sie ihm eine Goldmünze in eine Notiz verpackt mitgegeben?“
„Nee – hat ihm einen Holzsplitter aus dem Fuß gezogen und ihm ne Geschichte erzählt, wie sie
und ihr Bruder als Kinder mal eine Herde gegen Steppenwölfe verteidigen mussten... Sag mal,
stimmt das, dass sie im Norden alles selber machen?“
„Ja. Da oben machen die Kronprinzen sogar die Stallburschen in ihrer Kindheit, und die Prinzessinnen schieben Küchendienst. Also, was ist mit dem Jungen?“
„Sie hat ihn einfach gebeten, ihr so zu helfen, dass es keiner rauskriegt. Und – das Wort eines
Fachmanns darauf – der Bursche hätte sich im Ernstfall eher zu Geschnetzeltem verarbeiten
lassen als auch nur ein Wort zu sagen... Nun ja, er hat die Siedlung gefunden und ein Sprüchlein aufgesagt: nächsten Freitag wartet Hauptmann Beregond in der Siedlung in der Taverne
Zum Rothirsch und wartet, dass ihm ein Betrunkener auf die Schulter klopft und fragt, ob er
nicht die Bogenschützen von Morthond auf dem Pelennorfeld befehligt hat.“
„Was?! Beregond?“
102
„Ja, stell dir vor. Wir waren genau so überrascht, glaub mir. Aber du wirst zustimmen müssen,
dass Aragorns Leute kein so bekanntes Gesicht als Köder in eine Falle setzen würden, also hat
der Prinz alles richtig gemacht.“
„Ihr müsst verrückt geworden sein!“ Tangorn breitete die Arme aus. „Wie könnt ihr jemandem
vertrauen, der erst seinen Herrscher umgebracht hat und jetzt seine neuen Herren nach nicht
mal einem Monat verrät?“
„Ganz im Gegenteil. Erst mal ist er unschuldig, was Denethors Tod angeht, das wissen wir sicher...“
„Wie sicher? Habt ihr in Hühnereingeweiden gelesen?“
„So ungefähr – aber eher in einen Palantír als in jemandes Eingeweide. Um es kurz zu machen
– Faramir vertraut ihm jetzt voll und ganz, und du weißt, der Prinz ist ein Menschenkenner
und neigt nicht zu Sentimentalität.“
Tangorn beugte sich vor und pfiff sogar vor Erstaunen. „Moment mal. Heißt das, Denethors
Palantír ist in Emyn Arnen?“
„Jau. Die Typen in Minas Tirith haben entschieden, dass er kaputt ist. Alles was sie darin sehen
konnten, war der Geist des ermordeten Königs, und als Faramir ihn sich als Erinnerungsstück
ausbat, waren sie nur zu froh, ihn loszuwerden.“
„Gut, sehr gut...“
Der Baron warf unbewusst einen verstohlenen Blick auf die Tür zum Nebenzimmer, wo
Tzerlag und Haladdin sich gerade zur Ruhe legten. Die Lage veränderte sich ziemlich schnell;
in letzter Zeit hatten sie eine unglaubliche Glückssträhne, dachte er flüchtig, das bedeutet
nichts gutes... Grager folgte seinem Blick und nickte in dieselbe Richtung:
„Die zwei. Wollen sie wirklich zu Faramir?“
„Ja. Sie sind vertrauenswürdig, denn wir haben die gleichen Interessen, zu mindestens jetzt.“
„Aha, aha... eine diplomatische Angelegenheit?“
„So was in der Art. Verzeih mir, aber ich habe mein Ehrenwort gegeben...“
Der Anführer der Ithilier sann eine Weile darüber nach und grummelte dann: „Na gut. Das ist
deine Sache, ich hab schon genug um die Ohren. Ich lasse sie zu Fuß in die abgelegenste Basis
bringen, an den Otternbach, zu mindestens fürs Erste, und dann sehen wir weiter.“
„Übrigens, warum hast du gerade dieses Lager verraten, in der Schwarzvogel – Siedlung?“
„Weil man sich hier nicht anschleichen kann, dann können wir immer rechtzeitig verschwinden. Außerdem sind hier nur wenige Männer; das hier ist eher ein Beobachtungsposten als ein
Lager.“
„Wie viele Männer haben wir?“
103
„Du bist Nummer Zweiundfünfzig.“
„Und sie?..“
„Vierzig.“
„Dann fällt die Erstürmung flach.“
„Die direkte Erstürmung kannst du vergessen,“ winkte Grager ab. „Egal wie wir vorgehen würden, sie hätten mehr als genug Zeit, den Prinzen umzubringen. Und zusätzlich verlangt Faramir, dass er ohne Blutvergießen freikommt, so dass man ihn nicht wegen Bruch seines
Lehnseides anklagen kann. Nein, unser Plan war ein anderer – ein Ausbruch aus Emyn Arnen,
und wenn der Prinz von Ithilien unter unserem Schutz steht, können wir die Tonart wechseln
und den Weißen anraten, sich zu verziehen.“
„Also – gibt es einen konkreten Plan?“
„Bruder, du beleidigst mich – wir haben ihn schon so gut wie durchgezogen! Sieh mal, Éowyn
war das größte Problem: sie werden nicht zusammen raus gelassen, und ohne sie geht der
Prinz natürlich nirgendwo hin. Also mussten wir rätseln: Wo bekommen wir sowohl Prinz als
auch Prinzessin erstens allein, zweitens ohne Wächter und drittens außerhalb der Burg?“
„Hm... wenn die dritte Bedingung nicht wäre, bliebe nur noch das Schlafzimmer.“
„Fast richtig. Die Lösung ist das Badehaus.“
„Hui!“ Tangorn lachte. „Ein Tunnel?“
„Sicher. Das Badehaus liegt innerhalb der Befestigungen, aber abseits vom Haupthaus. Wir
graben von einer Mühle in der Nähe aus, so etwa zweihundert Schritt Luftlinie, also ein ganzes
Stück Arbeit. Du weißt ja, das Problem bei Tunneln ist, wie man den Dreck wegschafft. Wegen
der Mühle schaffen wir ihn in Mehlsäcken raus, sieht absolut echt aus. Wir müssen nur aufpassen, dass die Wachposten nicht vor lauter Langeweile mal die Säcke anfangen zu zählen und
merken, dass mehr raus- als reinkommt. Also konnten wir nicht mit voller Kraft graben, aber
es sieht aus, als wären wir diese Woche fertig.“
„Und die Weiße Schar hegt keinen Verdacht?“
„Beregond schwört, sie hätten keinen. Natürlich würden sie ihm nichts darüber erzählen, aber
er würde merken, wenn sie alarmiert wären.“
„Haben sie Spione in der Siedlung und den Weilern?“
„In der Siedlung sicher, aber in den Weilern nicht, schätze ich. Die Weiße Schar hat außerhalb
der Burg Verständigungsschwierigkeiten. Die Einheimischen reden ungern mit ihnen (es sind
massig verrückte Gerüchte über sie im Umlauf, unter anderem sollen sie Untote sein) und das
hilft uns sehr: jeder Siedler, der mit ihnen Kontakt hat, sticht aus der Menge heraus. Sie haben
dazugelernt und sind auf tote Briefkästen umgestiegen, aber vorher haben sie ihre Agenten jeden Tag bloßgestellt.“
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„Arbeitet der Tavernenwirt für sie?“
„Sieht so aus. Macht uns das Leben ziemlich schwer.“
„Und die Kaufleute, die nach Gondor reisen?“
„Einer. Der andere gehört mir. Ich hab gewartet, ob sie versuchen, ihn anzuwerben, dann hätten wir ihre Meldelinie, aber bis jetzt hatte ich kein Glück.“
„Ihr beobachtet zur Zeit also nur?“
„Nicht nur. Jetzt wo wir die Tage herunter zählen, habe ich veranlasst, ihre Verbindung nach
Minas Tirith zu kappen – sollte sie etwas beschäftigen. Das sollte sie vom Müller und unseren
Lagern ablenken.“
„Wo wir von Verbindungen reden – hält jemand in der Siedlung Tauben?“
Grager grinste. „Einer hat, aber sein Taubenschlag ist abgebrannt. So heißt es jedenfalls...“
„War das nicht zu riskant? Muss sie ganz schön geärgert haben.“
„Na klar! Aber wie gesagt, es geht in die heiße Phase, Schnelligkeit entscheidet. Außerdem,
stell dir vor, haben zwei Feldwebel den Brand untersucht, also wissen wir jetzt, wer dort für
die Abwehr von Spionen zuständig ist... Das einzig störende ist,“ meinte der ehemalige Chefspion nachdenklich, „dass ich so leicht ihre Schritte vorhersehen kann. Musste mich nur an
ihre Stelle versetzen: wie würde ich ein Netz in so einem Dorf auswerfen? Und das heißt, dass,
sobald sie von unserem Vorhandensein erfahren, – was früher oder später passieren wird sie meine Züge ebenso leicht vorhersagen werden. Also müssen wir zuerst zuschlagen...Aha!“
Sein erhobener Finger blieb mitten in der Luft stehen. „Klingt nach Gesellschaft! Sieht aus, als
hätten die Bubis aus der Burg endlich gewagt, direkt mit Minas Tirith Verbindung
aufzunehmen – ich warte schon drei Tage darauf!“
...Der Wagen rollte die Handelsstraße in der schnell aufziehenden Dämmerung hinab, und sein
Fahrer (der Besitzer des örtlichen Gemüseladens) fror immer wieder unter dem Kragen und
den Ärmeln. Er war fast schon am Eulenholz vorbei – der unangenehmste Abschnitt der Strecke zwischen Osgiliath und der Siedlung – als vier lautlose Gestalten aus den Kastanienbüschen an den Straßenrändern auftauchten. Der Kaufmann kannte die Regeln und gab die Börse mit dem Dutzend Silberstücken, die er eigentlich für Seife und Gewürze ausgeben wollte,
klaglos an die Räuber weiter. Die allerdings interessierten sich nicht groß für das Geld und befahlen dem Kaufmann, sich auszuziehen. Das entsprach nicht den Regeln, aber mit einem Messer am Hals traute er sich nicht, das auszudiskutieren. Richtige Angst – komplett mit Schweißausbruch – bekam der Ladenbesitzer erst, als der Anführer die Sohlen der Stiefel mit einem
Dolch durchlöcherte, dann sorgfältig den Mantel abtastete, zufrieden grunzte und eine Naht
auftrennte. Dann zog er kräftig und brachte ein kleines Quadrat aus dünner Seide zum Vorschein, bedeckt mit Runen, die im Dunkel kaum sichtbar waren.
Der Kaufmann war ein Anfänger, und als die Räuber ein Seil über einen starken Ast warfen,
machte er einen kapitalen Fehler und erklärte, er sei ein Mann des Königs. Was hatte er damit
erreichen wollen? Die Mörder tauschten nur verwunderte Blicke aus – ihrer Erfahrung nach
waren die Männer des Königs genau so sterblich wie alle anderen, wenn man sie nur richtig
105
aufknüpfte. Derjenige, der die Schlinge band, bemerkte trocken, Spionieren sei kein Wurfspiel
im Rothirsch, wo es höchstens um ein paar Bier ginge. Genauer gesagt, führte er weiter aus,
während er vor den Augen des Opfers in aller Sorgfalt einen Henkersknoten band, hätte er
noch Glück. Ein Versager als Spion habe in der Regel keinen so schnellen und schmerzlosen
Tod; sein Glück, dass er nur ein Bote sei und nichts vom Rest der Organisation wisse... An diesem Punkt verlor der unglückliche Ladenbesitzer die Kontrolle sowohl über seine Eingeweide
als auch seinen Mund; wie Gragers Männer vermutet hatten, wusste er eine Menge.
Die 'Räuber' sahen sich zufrieden an; sie hatten ihren Auftrag tadellos ausgeführt. Der Anführer zog ein Pferd aus dem Gebüsch, gab ein paar kurze Befehle und galoppierte davon;
Schwarzvogel – Siedlung wartete schon lange auf dieses Stück Seide.Einer der anderen warf
dem Händler einen alles andere als bewundernden Blick zu und schubste ihm die abgeworfenen Kleider mit dem Stiefel zu: „Da hinter den Bäumen ist ein Bach. Wasch dich und zieh dich
an – du kommst mit. Kannst dir sicher vorstellen, was dir blüht, wenn deine Kumpel von der
Weißen Schar dich erwischen.“
… Die Verschlüsselung der Nachricht war erstaunlich einfach. Als sie in einem kurzen Brief
sieben Mal die seltene G – Rune sahen, war Tangorn und Grager sofort klar, dass es sich um
einen sogenannten direkten Austausch handelte, bei dem eine Rune immer durch eine einzige
andere im ganzen Text ersetzt wurde. Üblicherweise wird eine bestimmte Zahl zur Nummer
der achtundfünfzig Runen des Kertar Daeron hinzugezählt; somit wird, wenn der Schritt zehn
beträgt, X (Nummer 1) durch Y (Nummer 11) ersetzt, A (Nummer 7) ersetzt q (Nummer 55)
und so weiter. Die Verschlüsselung ist so primitiv, dass sie im Süden hauptsächlich für
geheime Liebesbriefe verwendet wurde. Als sie beim zweiten Versuch den Schritt heraus
hatten – vierzehn, das Datum der Botschaft – fing Grager ausführlich an zu fluchen, da ihm das
Ganze als versuchte Desinformation vorkam.
Allerdings war die Botschaft alles andere als das. In ihr erklärte ein gewisser Gepard, Hauptmann der Geheimwache Seiner Majestät, seinen 'Kollegen Grager', dass ihr Spielchen in einer
Sackgasse gelandet war. Natürlich könne Grager sein Netz außerhalb der Festung zerlegen und
den Kontakt mit Minas Tirith behindern; allerdings würde ihn das keinen Schritt näher an sein
Endziel bringen. Wäre es nicht sinnvoller, wenn sie beide sich treffen würden, entweder in
Emyn Arnen (mit freiem Geleit hin und zurück) oder in einem Weiler nach Wahl des Barons?
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Kapitel 26
Ithilien, Emyn Arnen
Nacht des 14. Mai 3019
„Hör mal, du hast doch gesagt, dass Prinzessin Allental nicht wirklich existiert hat, dass dieser
Alrufin sie sich erträumt hat...“ Éowyn saß im Lehnstuhl, die Füße oben und die schlanken Finger über den Knien verschränkt. Außerdem hatte sie auf seltsame Art die Stirn in Falten.
Der Prinz musste grinsen und versuchte, von der Armlehne aus die Falten mit seinen Lippen
zu glätten, was allerdings nicht gelang.
„Nicht jetzt, Fari, das ist wichtig. Sie ist lebendig, weißt du – wirklich lebendig! Wenn sie stirbt,
um ihren Freund zu retten, möchte ich weinen, als hätte ich wirklich einen Freund verloren...
Weißt du, die ganzen Legenden von den alten Helden sind auch großartig, aber anders, ganz
anders. All diese Gil-galads und Isildurs, die sind wie... wie Statuen, verstehst du? Man kann sie
verehren, aber mehr nicht, aber die Prinzessin – sie ist schwach, sie ist warmherzig, man kann
sie lieben... Macht das überhaupt Sinn?“
„Jede Menge, meine Süße. Ich glaube, Alrufin hätte sich über diese Worte sehr gefreut.“
„Allental muss zu Beginn des Dritten Zeitalters gelebt haben. Keiner bis auf ein paar Chronisten kennt überhaupt die Namen der konunge, die damals Rohan regierte; aber wer ist jetzt
eher echt – sie oder dieses Mädchen? Hat Alrufin damit nicht – schauriger Gedanke! – sogar
die Macht der Valar übertroffen?“
„Nun, auf seine Art ganz bestimmt.“
„Weißt du, mir ist gerade etwas eingefallen... was, wenn jemand genau so Mächtiges wie Alrufin über uns beide ein Buch schreiben würde – das könnte doch passieren, oder? Welche
Éowyn ist dann die echte – ich oder die geschriebene?“
Faramir lächelte. „Du hast mich doch einmal gebeten, zu erklären, was Philosophie ist – 'auf
dem Niveau einer dummen Frau'. Nun ja, deine Gedanken sind genau das – Philosophie, wenn
auch etwas naive. Weißt du, viele Leute haben schon darüber nachgedacht, und nicht alle Antworten, die dabei herauskamen, waren wertlose Dummheit. Zum Beispiel... Ja, herein!“ rief er
auf ein Klopfen an der Türe und warf Éowyn einen verwirrten Blick zu: Wer will denn so spät
nachts noch etwas?
Der Mann, der eintrat, trug die schwarze Ausgehuniform der Wächter der Zitadelle Gondors
(das hatte den Prinzen immer gestört: die Uniform der Weißen Schar war schwarz) und Faramir bekam Gänsehaut: irgendetwas war vollkommen schiefgelaufen. Er bat Éowyn nach nebenan, aber der Gast bestand höflich darauf, dass sie bleiben solle: in ihrer Unterhaltung ginge
es auch um Ihre Hoheit.
„Zunächst gestattet mir, mich vorzustellen, auch wenn das etwas verspätet geschieht. Ich trage
keinen Namen, aber Ihr könnt mich Gepard nennen. Ich bin Hauptmann der Geheimwache,
kein Feldwebel – hier ist mein Abzeichen – und ich leite hier die Spionageabwehr. Vor ein paar
Minuten habe ich den Kommandanten von Emyn Arnen unter Anklage der Verschwörung und
des Verrats verhaftet. Es kann jedoch sein, dass Beregond auf Euren Befehl hin gehandelt hat,
ohne darüber nachzudenken, was strafmildernd wirken würde. Das möchte ich jetzt überprüfen.“
107
„Könnten Sie sich bitte klarer ausdrücken, Hauptmann?“ Faramir verzog keine Miene, als er
Gepard furchtlos in die Augen sah – leer und furchteinflößend, wie bei allen Offizieren der
Weißen Schar; abgesehen von diesen Augen war das Gesicht des Hauptmanns recht annehmbar – männlich und leicht traurig.
„Prinz, mir scheint, Ihr habt meine Verantwortung nicht ganz richtig verstanden. Einerseits
soll ich Euer Leben um jeden Preis schützen – ich sage es noch einmal: um jeden Preis. Nicht
aus Zuneigung zu euch, sondern auf Befehl des Königs. Jedes Unglück, das euch befällt, würde
sofort Seiner Majestät zugeschrieben werden; warum sollte er fremde Rechnungen zahlen?
Andererseits muss ich jeden Versuch verhindern, Euch zu überreden, Euren Lehnseid zu brechen. Stellt Euch vor, eine Gruppe von Narren greift die Burg an und 'befreit' euch, um Euch
zum Idol der Wiederherstellung zu machen. Sollte auch nur ein einziger Mann des Königs dabei umkommen – und ziemlich sicher gäbe es dabei Tote – könnte Seine Majestät das nicht
ignorieren, auch wenn er es gerne würde. Die Königliche Armee würde in Ithilien einfallen,
und das würde höchst wahrscheinlich das ganze Wiedervereinigte Königreich in einen blutigen Bürgerkrieg stürzen. Also seht es bitte als meine Aufgabe, euch vor solchen Narreteien zu
schützen.“
Merkwürdig, irgendetwas in Gepards Art zu sprechen (Tonfall? Nein, eher die Wortwahl...)
weckte in Faramir das Gefühl, wieder mit Aragorn zu reden.
„Ich achte ihre Besorgnis, Hauptmann, aber ich kann beim besten Willen nicht erkennen, was
das mit Beregonds Verhaftung zu tun hat.“
„Seht Ihr, vor kurzem hat er im Rothirsch einen großen, dünnen Mann mit einer Narbe auf der
rechten Schläfe und zwei verschieden hohen Schultern getroffen. Vielleicht wisst Ihr, wen ich
meine? Das ist ein ziemlich auffallendes Aussehen.“
„Ehrlich gesagt, nein, ich weiß es nicht,“ lächelte der Prinz und versuchte, offen und direkt zu
wirken. „Vielleicht wäre es leichter, Beregond selbst zu fragen?“
„Oh, Beregond wird eine Menge Fragen zu beantworten haben. Aber, Prinz, Eure
Vergesslichkeit ist eine echte Überraschung. Ich verstehe ja, dass Faramir, Kapitän des
Regiments Ithilien, nicht alle seine Soldaten kennt, aber doch wenigstens seine hohen und
niederen Offiziere? Ich sage es noch einmal – dieser Mann ist ziemlich auffällig.“
„Was hat denn das Regiment Ithilien damit zu tun?“
„Was soll das heißen: 'was?' Wisst Ihr, nicht viele aus den Reihen dieser bemerkenswerten
Einheit sind nach dem Krieg nach Gondor zurückgekehrt. Erstaunlicherweise ist kein einziger
Offizier wieder aufgetaucht, etwa fünfzig Mann sind einfach weg. Ein paar Gefallene wird es
gegeben haben, aber doch nicht alle! Wo sollten sie wohl alle hin sein, Prinz – wenn nicht nach
Ithilien?“
„Vielleicht,“ entgegnete der Prinz achselzuckend. „aber ich habe keine Ahnung.“
„Ganz genau, Prinz, ganz genau – Ihr habt keine Ahnung! Bitte seht ein, dass es für diese Leute
vollkommen natürlich und logisch wäre, nach Ithilien zu kommen, wo sie ihren Dienst aufgenommen haben und wo ihr verehrter Hauptmann jetzt herrscht; es ist ein offenes Geheimnis,
dass das Regiment euch vollkommen ergeben war. Aber merkwürdigerweise ist nicht einer
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von ihnen in Emyn Arnen aufgetaucht, um sich vorzustellen und darum zu bitten, Euch dienen
zu dürfen. Ihr stimmt doch zu, dass das mehr als ungewöhnlich ist – das ist regelrecht
verdächtig! Der einzig logische Schluss ist, dass das Regiment immer noch als kampffähige
Einheit existiert und nun im Untergrund Eure 'Befreiung' plant. Und was das auslösen würde,
haben wir bereits festgestellt.“
„Ein interessanter Gedankengang, Hauptmann, und logisch schlüssig, aber wenn das alle Beweise sind, die gegen Beregond vorliegen...“
„Ach bitte, Prinz,“ entgegnete Gepard, „das ist doch keine Gerichtsverhandlung! Ich sorge mich
um das Ausmaß der Schuld dieses Möchtegernverschwörers, nicht um juristische Nettigkeiten. Eine Frage ist imminent: Wie kam der Hauptmann, der sein Leben lang in Minas Tirith gedient hat, in Kontakt mit Feldwebel Runcorn, dem Freischärler, der den ganzen Krieg in Ithiliens Wäldern verbracht hat? Irgendwer hat sie einander vorgestellt, wenn auch nicht unbedingt direkt, und da seid Ihr, Prinz, der Hauptverdächtige... Also: Hat Beregond allein gehandelt oder hat er, was wahrscheinlicher ist, Eure Befehle befolgt?“
Aus und vorbei, dachte Faramir. Was mussten sie auch unbedingt Runcorn als Kontakt schicken? Den kann man wirklich leicht anhand der Beschreibung identifizieren. Steckbriefe bis
zum Feldwebel hinunter – die Kerle graben wirklich tief... Der Rothirsch ist anscheinend auch
besser überwacht als ich dachte. Wir haben alles verloren, aber die Kosten sind so unterschiedlich: ich bleibe ein geehrter Gefangener, und der Hauptmann wird zu Tode gefoltert.
Und das schlimmste ist, dass ich nichts für ihn tun kann; ich muss Beregond seinem Schicksal
überlassen und mit diesem Verrat weiterleben. Verhandlungen mit dem siegreichen Feind sind
Wunschdenken. Da ist nichts zu erreichen, weder für einen selbst noch für andere; sie stehen
immer unter dem Motto: 'Was dein ist, ist mein und was mein ist, geht dich nichts an.' Deswegen gibt es ja die eiserne Regel der geheimen Kriegsführung: egal was passiert, schweige oder
leugne alles, auch deine eigene Existenz. Wenn ich auch nur im geringsten eine Mitschuld zugebe, wird das weder Beregond retten noch Grager und seine Männer vor der Auslöschung bewahren.
Das alles raste wie ein Wirbelwind durch den Kopf des Prinzen, dann erhob er die Augen und
entgegnete Gepard Blicken mit aller Festigkeit: „Ich weiß absolut nichts über die Kontakte des
Hauptmanns Beregond mit den Mitgliedern des Regiments Ithilien, sofern es diese überhaupt
gegeben hat. Sie wissen ganz genau, dass wir seit unserer Ankunft hier kaum mehr als ein Dutzend Worte gewechselt haben; schließlich hat er meinen Vater ermordet.“
„Anders gesagt,“ fasste der Agent trocken zusammen, „wollt ihr eurem Mann weder Folter
noch Tod ersparen.“
Ihm ist klar, was auf dem Spiel steht, dachte Faramir, und antwortete: „Sollte hier wirklich Verrat vorliegen – und davon bin ich nach wie vor nicht überzeugt! - dann hat Hauptmann Beregond eine strenge Bestrafung verdient.“ Dann schloss er die wohlüberlegten Worte an: „Was
mich angeht, bin ich bereit, beim Thron der Valar zu zu schwören, dass ich nie vorhatte, meinen Eid zu brechen und es auch weiterhin nicht vorhabe: die Verpflichtungen dem Lehnsherren gegenüber sind unauflöslich.“
„Na gut,“ entgegnete Gepard nachdenklich. „Was ist mit Euch, Éowyn? Wollt ihr wirklich für
Eure Ziele Verrat begehen und den Mann den Wölfen zum Fraß vorwerfen? Ach,“ fing er an zu
spotten, „was sage ich da eigentlich? Ein einfacher Offizier, ein Gemeiner, wandert aufs Scha109
fott, was kümmert das ein Königskind, das in jedem Fall sicher ist!“
Éowyn hatte viele Vorzüge, aber ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten gehörte nicht dazu –
sie wurde blass und blickte hilfesuchend zu Faramir herüber. Gepard hatte den Schwachpunkt
in ihrem Panzer ausgemacht: sie konnte einfach keine Gleichgültigkeit heucheln, wenn ein
Freund in Not war. Faramir wollte sie noch mit einem Blick warnen, aber es war schon zu spät.
„Nun hört zu, alle beide! Geständnisse interessieren mich nicht – ich bin Abwehragent und
kein Richter. Alles, was ich will, sind Informationen über die Aufenthaltsorte der Kämpfer des
Regiments Ithilien. Ich habe nicht die Absicht, sie zu töten; ich tue mein bestes, um ein Blutbad
zu verhindern. Euch bleibt nichts als mein Ehrenwort, denn ihr habt verloren und habt auch
keine anderen Möglichkeiten. Die Schwester des Königs von Rohan peinlich zu befragen ist undenkbar, aber ihr könnt sicher sein, dass sie sich die Folterung Beregonds, den ihr zwei verraten habt, ansehen wird, vom Anfang bis zum bitteren Ende, beim Schweigen von Mandos!“
In der Zwischenzeit spielte der Prinz mit seiner Schreibfeder über einem unfertigen Manuskript, als hätte er nicht bemerkt, dass sein linker Ellbogen einen halbvolles Weinglas gefährlich nah an die Tischkante befördert hatte. In Kürze zerschellt es auf dem Boden, Gepard wird
im Reflex hinsehen – dann über den Tisch und dem Kerl an die Gurgel, und zum Teufel mit den
Folgen... Plötzlich ging die Tür ohne Vorwarnung auf, und ein Leutnant der Weißen Schar eilte
in den Raum; in der Düsternis auf der anderen Seite der Schwelle erkannte man zwei weitere
Soldaten. Schon wieder zu spät, dachte Faramir in Untergangsstimmung; aber der Leutnant
beachtete ihn gar nicht, sondern flüsterte Gepard irgend etwas offenbar Unerwartetes ins Ohr.
„Wir reden in etwa zehn Minuten weiter, Prinz,“ meinte der Hauptmann, als er zur Tür eilte.
Das Schloss klickte, Marschtritte verklangen, und es wurde still – eine unruhige, verwirrte Stille, als ob ihr ihre Flüchtigkeit bekannt wäre.
„Was suchst du?“ Sie war überraschend ruhig, sogar ausgeglichen.
„Irgendwas, was als Waffe taugt.“
„Gut. Such mir auch was.“
„Weißt du, Schatz, ich habe dich da reingeritten und...“
„Unsinn, du hast alles richtig gemacht, Fari; die anderen hatten einfach mehr Glück.“
„Sollen wir uns verabschieden?“
„Ja, tun wir es. Was auch passiert, wir hatten diesen einen Monat... Die Valar müssen neidisch
sein, glaube ich; wir waren zu glücklich.“
„Bereit, Liebling?“ Nun, nach diesen paar Sekunden, war er ein gänzlich anderer.
„Bereit. Was soll ich tun?“
„Pass auf. Die Tür schwingt nach innen, der Rahmen ist auch innen,...“
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Kapitel 27
Inzwischen lehnte Gepard auf der Brüstung des Wehrgangs über dem Tor und starrte in das
harte Raubvogelgesicht von Baron Grager, das er vorher nur von Steckbriefen kannte. Der
Platz vor den Toren wurde von einem Dutzend Fackeln erleuchtet, jede in der Hand eines Reiters im Tarnmantel des Regiments Ithilien aus der Begleitung des Barons. Die Gespräche verliefen schwierig bis gar nicht, alles, worauf die 'geschätzten Verhandlungspartner' sich einigen
konnten, war, jedes Blutvergießen zu vermeiden. Und das mit gutem Grund, denn keiner traute dem anderen über den Weg („Ich könnte Sie jetzt einfach festnehmen, Baron, und so alle
Probleme lösen.“ „Dann müssen Sie aber das Tor öffnen, Hauptmann. Nur zu, machen Sie auf;
dann werden wir sehen, wer die besseren Schützen hat...“) und keiner wich auch nur einen
Fingerbreit von seinen Forderungen ab. Grager verlangte, die Ithilier in die Burg zu lassen, um
dort über Faramir zu wachen. Gepard verlangte die Lage ihrer Waldfestungen. („Halten Sie
mich für bescheuert, Hauptmann?“ „Nun, immerhin sind Sie es, der verlangt, ich solle freiwillig
bewaffnete Feinde in die Burg lassen.“) Nach einer guten Viertelstunde dieses Geplänkels kamen sie schließlich überein, dass die Weiße Schar einen Boten nach Minas Tirith mit der Bitte
um Anweisungen schicken solle und die Ithilier ihn durchlassen würden, und brachen die Verhandlungen ab.
Manch anderer hätte sich täuschen lassen, aber nicht Gepard. Im selben Moment, als er die
Mauer hinaufging und die Lage überdachte, gab er seinem begleitenden Leutnant einen leisen
Befehl: „Stummer Alarm. Alle verfügbaren Männer in den Hof. Stillhalten und nach einem Eindringling Ausschau halten; jeden Moment wird einer der Ithilier über die Mauer kommen,
wahrscheinlich hinten, während dem ganzen Geschwätz. Fangt ihn lebendig – jeden, der mir
eine Leiche bringt, schneide ich persönlich in Stückchen.“
Er lag völlig richtig – bis auf ein paar Kleinigkeiten. Der Einbrecher kam über die vordere Mauer statt hintenherum. Lautlos flog ein kleiner Haken an einem guten Stück federleichten Elbenseils über die baufällige Palisade (nicht mehr als ein Dutzend Schritte von der Gruppe am
Tor entfernt, wo die Dunkelheit im Kontrast zum Fackelschein am dichtesten schien), dann
kam ein Schatten wie eine Spinne an der Mauer heraufgeklettert und schlüpfte wie eine nächtliche Brise in den Burghof, fast direkt vor den Nasen der Wächter, die allesamt ihre Aufmerksamkeit und ihre Bögen auf Baron Gragers hell beleuchtete Gruppe gerichtet hatten und keine
solche Verwegenheit erwarteten. Eine andere Kleinigkeit, die Gepard falsch eingeschätzt hatte,
war, dass der Mann, der da versuchte, den Prinzen herauszuholen, (der improvisierte Plan war
gerade mal vor einer Stunde aus Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit entstanden)nicht zum
Regiment Ithilien gehörte. Er trug die Abzeichen der Bergjäger von Cirith Ungol.
Man sollte erwähnen, dass Feldwebel Tzerlag und seine Einheitszugehörigkeit eine ziemlich
heftige Diskussion in der Schwarzvogel – Siedlung ausgelöst hatten, sowohl in der Bedeutung
und im Aussehen. „Freund, bist du irre?“ war Gragers erste Reaktion gewesen, als Tangorn
plötzlich vorgeschlagen hatte, den 'Fachmann aus Mordor' statt eines Ithiliers für den Einbruch in Emyn Arnen einzusetzen. „Ork bleibt Ork! So einem das Leben des Prinzen anzuvertrauen... Sicher, er kennt die Burg – er war dort stationiert, ja? - und kann Schlösser knacken.
Aber verflucht, Tangorn – wir sollen einen bewaffneten Mordorer ins Schlafzimmer des Prinzen lassen, mit unseren eigenen Händen?“ „Ich bin bereit, den beiden mein Leben anzuvertrauen,“ erklärte Tangorn geduldig. „Ich darf dir nichts über ihren Auftrag verraten, aber bitte
glaub mir: Es ist inzwischen so, dass wir auf der gleichen Seite gegen den gleichen Feind stehen, zumindest im Moment. Und sie haben genau soviel Interesse wie wir daran, Faramir den
Weißen wegzuschnappen.“
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Sei es, wie es sei – die Arbeit als Spion hatte Grager gelehrt, dass zeitweilige Übereinstimmung
der Anliegen manchmal zu vollkommen unglaubwürdigen Bündnissen führen kann und dass
man einem früheren Feind des öfteren mehr vertrauen kann als sicheren Freunden.
Schlussendlich übernahm er die Verantwortung, verpflichtete Tzerlag formell 'für die Dauer
des Einsatzes auf Emyn Arnen' für das Regiment Ithilien und gab dem Orozenen die
entsprechenden Papiere für den Fall, dass die Weißen ihn erwischen sollten. Der Feldwebel
hatte nur ein verächtliches Schnauben übrig – mit gefangenen Orks macht man sowieso
kurzen Prozess, lieber hänge er als Aufständler aus Mordor als als Verschwörer aus Gondor –
aber Haladdin befahl ihm, sich um seinen eigenen Kram zu kümmern.
„Und immer daran denken, Feldwebel: keine Toten, wenn es um das Beseitigen von Wachen
und so geht! Verhalten sie sich, als sei es ein Kriegsspiel.“
„Sehr hübsch. Wissen die auch, dass das ein Spiel ist?“
„Hoffentlich.“
„Na gut. Vielleicht hängen sie mich dann mit einem imaginären Strick...“
Man erzählt sich von nin'yokve – Werwölfen, die in den Ländern des Fernen Ostens leben sollen – ein furchtbarer Clan aus übermächtigen Spionen und Attentätern. Sie sollen in der Lage
sein, sich innerlich in Tiere zu verwandeln, aber ihre menschliche Gestalt dabei beibehalten.
Ein nin'yokve könne sich in einen Gecko verwandeln und gegen alle Gesetze der Physik eine
glatte Wand hinaufklettern, sich in eine Schlange verwandeln und in jede Ritze hineinkommen, und falls die Wachen ihn erwischen sollten, sich in eine Fledermaus verwandeln und davonfliegen. Tzerlag hatte nie irgendwelche nin'yokve – Fähigkeiten besessen (auch wenn Tangorn das vielleicht glaubte), aber der Anführer einer Kundschafterabteilung der Bergjäger von
Cirith Ungol hatte ein paar Tricks im Ärmel, die ganz ohne Magie auskamen.
Jedenfalls war er, als die Soldaten der Weißen Schar aufgeweckt worden waren und ihre Stellungen im Burghof eingenommen hatten, schon in einen Außengang geschlüpft und hatte angefangen, ein Schloss zu bearbeiten, wobei er den Haken gegen anderes Werkzeug getauscht
hatte. Der Feldwebel war kein gelernter Einbrecher, aber er wusste ein paar Dinge über
Schlosserei, und soweit er sich an das letzte Jahr erinnerte, bekam man jedes Schloss in Emyn
Arnen mit einem Taschenmesser und ein paar Drahtstücken auf. Ein paar Minuten später
schlich er durch die dunklen und menschenleeren Flure (alle Weißen waren draußen –
wunderbar passend!); der Orozene besaß zwar ein bewundernswertes Bildergedächtnis und
einen ebensolchen räumlichen Orientierungssinn, aber er wusste, dass es nicht leicht werden
würde, in diesem dreidimensionalen Labyrinth das Schlafzimmer des Prinzen zu finden.
...Vor jeder Ecke haltmachend, durch offene Räume huschend wie ein geölter Blitz, Treppen
seitwärts ohne jedes Knarren einer Stufe hinaufsteigend hatte Tzerlag etwa ein Drittel seines
Weges hinter sich, als sein Gefahrensinn, der der einzige Grund für sein Überleben in den letzten Jahren gewesen war, mit eisigen Klauen nach seinem Rückgrat griff: Achtung! Er drückte
sich sofort an die Wand und schlich in Richtung der Biege etwa zwölf Schritt voraus. Hinter
sich sah er niemanden, aber das Gefühl der Bedrohung war immer noch da und ganz nahe; als
der Feldwebel um die hilfreiche Ecke herum war, war er schweißgebadet. Er hockte sich hin
und schob vorsichtig einen Taschenspiegel ums Eck, fast schon auf Bodenhöhe – der Gang war
immer noch leer. So wartete er ein paar Minuten, dann fühlte er es deutlich: Die Gefahr war
verflogen, er spürte sie nicht mehr. Das beruhigte ihn nicht im Geringsten; er schlich sogar
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noch vorsichtiger weiter und war auf das Schlimmste vorbereitet.
...Als Gepard aus den Augenwinkeln einen schnell bewegten Schatten wahrnahm, klebte er
sich auf genau dieselbe Art an die Wand und begann innerlich zu fluchen: sie haben den Eindringling doch verpasst, die Hundesöhne! Die Lage des Hauptmanns war nicht so gut: nur drei
Wachposten für das ganze riesige Gebäude – einer für Éowyn und Faramir, einer für Beregond,
der dritte am Kellereingang. Hilfe von draußen holen? Dann hat der Einbrecher Zeit, den Prinzen rauszulassen, und die beiden werden uns die ganze Tour vermasseln. Alarm schlagen?
Keine gute Idee: der Kerl wird im Irrgarten der Gänge verschwinden und sich kampfbereit machen, und dann bekommen wir ihn bestenfalls mit ein paar Löchern in ihm in die Finger, was
auch nicht sein darf. Scheint, als wäre die einzige Option, den Besucher zu verfolgen und ihn
selbst zu stellen, Mann gegen Mann, was Gepard sehr gut konnte.
Sobald die Entscheidung gefallen war, verspürte Gepard plötzlich den Rausch lang vergessener freudiger Erregung, denn was macht mehr Spaß als die Jagd auf einen Bewaffneten? Er erstarrte in seiner Erregung und horchte in sich hinein: ja, kein Zweifel – er verspürte ein Gefühl! Also verlief alles in geordneten Bahnen. Zuerst war sein Gedächtnis zurückgekehrt (obwohl er immer noch nicht wusste, was mit ihm geschehen war, bevor er sich in der zweiten
Schlachtreihe der grauen Phalanx auf dem Marsch über das Feld von Pelennor wiedergefunden hatte), dann konnte er wieder eigene Entscheidungen fällen, dann konnte er wieder
Schmerzen und Erschöpfung spüren, und jetzt waren die Gefühle zurück. Ob ich mich jetzt
auch fürchten kann? Wenn das so weiter geht, bin ich demnächst wieder ein Mensch, kicherte
er in sich hinein. Na schön, Arbeit wartet.
Natürlich nahm er nicht denselben Weg wie der Eindringling: der hatte ihn wohl ebenso bemerkt und wartete jetzt ums Eck. Besser, ich nutze den Heimvorteil, der mir viel schnellere Bewegungen erlaubt als dem Feind: ich muss mich nicht an jeder Ecke umsehen und lauschen.
Ich kann außen herum und bin trotzdem schneller da. Wo denn? Wenn der ungebetene
Besucher Faramirs Schlafräume sucht (was auch sonst?), dann treffe ich ihn am besten an der
Doppeltreppe – er kann sie nicht umgehen, und ich habe mindestens drei Minuten zur
Vorbereitung.
Wie erwartet war der Leiter der Spionageabwehr der erste am Treppenhaus: er legte den
Mantel ab und begann sorgfältigst, die Falle vorzubereiten. Ich muss mit der Umgebung verschmelzen; also – wenn er kein Linkshänder ist, geht er an der linken Wand entlang. Würde
ich mir die Wendeltreppe ansehen, die plötzlich zur Rechten auftaucht? Bestimmt. Dann stehe
ich mit dem Rücken zu dieser Nische? Genau. Was für eine schöne Nische – sogar ganz aus der
Nähe besehen glaubt keiner, dass da mehr als ein Besen hineinpasst. Löschen wir diese
Lampe, dann haben wir noch mehr Schatten... wunderbar, das passt, da stehe ich. Jetzt: ich bin
hier, er ist dort, zwei Schritt weg und mit den Augen woanders. Schwertheft auf den
Hinterkopf? Verflixt, mir ist nicht danach... weiß nicht wieso, aber die Eingebung sagt nein, in
diesem Geschäft sollte man seiner Eingebung vertrauen. Also mit den Händen – ein
Würgegriff? Rechte Hand greift in die Haare, zieht nach unten, damit er das Kinn hebt,
gleichzeitig ein Tritt in die Kniekehle und mit links an den freigelegten Hals. Wirkungsvoll,
aber eventuell tödlich, und Leichen sind nicht gerade gesprächig. Hadaka-jime also, aber dafür
muss er den Hals selbst entblößen – sagen wir, wenn er hinauf sieht. Wie bringt man ihn dazu?
Denk nach, Gepard, denk nach...
...Als Tzerlag die finstere, seltsam geformte Weitung des Gangs erreichte, an deren Ende er
eine Treppe nach links wahrnahm, kam die Ahnung der Gefahr mit solcher Gewalt zurück,
113
dass ihm fast schwindlig wurde: der unbekannte Feind war irgendwo ganz in der Nähe. Er
spähte und lauschte minutenlang – nichts; bewegte sich langsam vorwärts, in kleinen
Schritten und lautlos (verflucht, vielleicht sollte er alle Befehle vergessen und den
Krummsäbel raus holen?) und erstarrte: eine große Öffnung tauchte rechts auf, mit einer
Wendeltreppe darin, und da war eindeutig irgendwas hinter diesen Stufen. Er glitt an der
linken Wand entlang, die Augen auf die Öffnung – wer zur Hölle ist da? - und hätte fast laut
losgelacht, als er anhielt. Puh! Nur ein Schwert, das einer der Weißen an die Wand hinter der
Treppe gelehnt hat. Komischer Ort für eine persönliche Waffe. Vielleicht nicht angelehnt –
vom Winkel her wohl eher von oben hinunter gerutscht. Und was ist das da auf der obersten
Stufe?..
Tzerlags innerer Wächter kreischte: hinter dir! nur den Bruchteil einer Sekunde, bevor sich die
Hände des Feinds um seinen Hals legten. Der Feldwebel konnte nur noch die Halsmuskeln
spannen. Präzise, wie im Training, umfasste Gepard seinen Hals mit der rechten Armbeuge,
dann schloss sich die rechte Hand an den linken Oberarm des Gegenspions, während dessen
Linke gegen die Rückseite seines Halses drückte, die Kehle zusammenpresste und die Halsschlagader abdrückte. Hadaka-jime – unbrechbarer Würgegriff.
Aus.
114
Kapitel 28
So banal es klingen mag, alles hat seinen Preis. Der Preis eines Kriegers ist die Summe aus Zeit
und Geld (was eigentlich dasselbe ist), die es braucht, ihn auszubilden, auszurüsten und einen
Ersatz für ihn zu besorgen. In jeder Epoche ist es nutzlos, das Training über einen bestimmten
Punkt hinaus auszudehnen, an dem grundlegende Fähigkeiten antrainiert sind, da vollkommene Perfektion in allem sowieso unmöglich zu erreichen ist. Was nützt es, sich die Mühe zu machen, einen gewöhnlichen Fußsoldaten zu einem erstklassigen Fechter auszubilden, wenn ihn
das nicht vor einem Armbrustbolzen oder schlimmer, einer Diarrhö im falschen Moment
schützt?
Nehmen wir zum Beispiel den waffenlosen Kampf. Sehr nützlich, aber Perfektion erreicht man
nur durch langjähriges und ständiges Training, wohingegen ein Soldat, gelinde gesagt, noch
jede Menge andere Pflichten hat. Man hat hier mehrere Möglichkeiten: die Armee Mordors
verfolgte den Ansatz, nur etwa zwölf Techniken zu lehren, aber diese zwölf Kombinationen
von Bewegungen bis auf die Stufe eines Kniereflexes. Natürlich kann man nicht alle
Eventualitäten vorhersehen, aber die Methode, einen rückwärtigen Haltegriff zu brechen,
gehört definitiv zu diesem besagten Dutzend.
Schritt eins! - schneller Schritt zurück, Ferse mit aller Kraft auf den Fuß des Feindes, was die
dünnen Knochen, die von Myriaden von Nervenenden umgeben sind, zermalmt. Schritt zwei! Knie leicht beugen, Waden leicht drehen, hinaus aus dem Griff, solange er wegen der plötzlichen Schmerzen gelockert ist. Runter und nach rechts, bis man Platz hat, den linken Ellbogen
in seine Leiste zu rammen. Sobald der Feind sich an die gequetschten Genitalien greift, hat
man mehrere Möglichkeiten: Tzerlags Schritt Drei war beispielsweise, die Handflächen auf die
Ohren des Gegners zu schlagen: geplatzte Trommelfelle und ein todsicheres KO. Das ist kein
exquisites Ballett der fernöstlichen Kampfkünste, wo die Hieroglyphe jeder Stellung lediglich
eine Note der Musik der Höheren Sphären ist; das ist Mordorer Raufen, wo alles einfach und
auf den Punkt geht.
Erstmal kniete er nieder und zog das Augenlid des flachgelegten Feldwebels der Weißen Schar
nach oben (gut, Pupillenreflex ist da, Gragers Befehl ist nicht übertreten), dann erst erlaubte
er sich, sich in momentaner Erschöpfung an die Wand zu lehnen. Mit zugedrückten Augen
zwang er sich, trotz der Schmerzen zu schlucken: dem Einen sei Dank, der Hals ist noch ganz.
Wenn der Kerl nun eine Schlinge gehabt hätte? Das wäre bestimmt mein Ende gewesen. Wie
konnte ich es nur so vermasseln? Noch wichtiger, wie hat er mich entdeckt? Moment, dann erwartet mich auch bestimmt einer an Faramirs Tür...
...Die Dúnadanwache im Flur, der zum Schlafgemach des Prinzen führte, hörte schwere, schleppende Schritte auf den Stufen. Ein Rascheln, ein gedämpftes Stöhnen, dann Ruhe... wieder unsichere Schritte...Rasch zog er sich in den Gang zurück und zog das Schwert, bereit, jederzeit
Alarm zu schlagen. Der Soldat war auf alles vorbereitet, aber als er Gepard am Ende des Gangs
entdeckte, vornüber gekrümmt und an die Wand gelehnt, fiel ihm der Unterkiefer herab. Mit
gezücktem Schwert bewegte der Posten sich vorwärts und überprüfte die Treppe, die der
Hauptmann gerade hochgekommen war – nichts; Großer Manwe, was hat ihn so zugerichtet?
Gift? Inzwischen hatte der Hauptmann alle Kraft verloren, rutschte an der Wand herunter und
blieb liegen, den Kopf nach unten und immer noch den Bauch umklammert; es war offenkundig, dass er die letzten paar Stufen nur noch reflexartig geschafft hatte. Der Dúnadan betrachtete Gepard mit einer Mischung aus Erstaunen, Angst und – seien wir ehrlich – Schadenfreude.
Die berüchtigte Geheimwache! Selbsterzeugte nin'yokve, dass ich nicht lache... Er betrachtete
115
nochmals die Treppe, die der Verletzte hoch gekrochen war und ging dann in die Knie, um den
Verletzten zu untersuchen.
Seltsam, aber als die Kapuze, die Gepards Gesicht verdeckte, fiel, dachte der Soldat zuerst,
dass der allmächtige Chef der Spionageabwehr sich aus irgendwelchen Gründen, die nur er
kannte, dafür entschieden hatte, ein Ork zu sein. Das war sein erster, absurder Gedanke und
für einen zweiten blieb ihm keine Zeit mehr: der 'Tigerkralle' – Schlag, den Tzerlag für diese
Gelegenheit ausgesucht hatte, ist sehr wirkungsvoll, vor allem, wenn er von unten kommt;
mehr war nicht nötig. Ziemlich grausame Behandlung, ohne Zweifel, aber Verletzungen waren
nicht verboten worden, nur Töten; vielleicht ist das ein Kriegsspiel, aber immer noch kein
verdammtes Picknick! Nach einer Durchsuchung des Postens (keine Schlüssel, aber Tzerlag
hatte auch keine erwartet) fischte der Feldwebel seine Werkzeuge aus der Tasche und begann
mit dem Schloss.
Während er die überlangen Ärmel von Gepards Jacke hochzog, überlegte er während der Arbeit: Den ganzen Krieg sind wir ohne so was ausgekommen, aber jetzt musste es sein. Gesetze
und Gebräuche des Krieges, Abschnitt Zwei – Gebrauch feindlicher Uniformen und medizinischer Abzeichen. Rät zu augenblicklichem Aufknüpfen am nächsten Baum – mit Recht, mal nebenbei. Nun, im Moment ist es nützlich – besser der Prinz sieht einen vertrauten Gefangenenwärter als irgendeinen Ork. Aha! Ich werde es so machen: die Kapuze wieder ins Gesicht und
dann Gragers Papier ohne Worte überreichen. Das Schloss gab endlich nach, und Tzerlag
atmete auf: die Hälfte ist geschafft! Er hatte im Knien am Schloss gearbeitet und öffnete so
auch die Tür, ohne vorher aufzustehen. Das rettete ihn – ansonsten wären nicht einmal die
blitzschnellen Reflexe des Orozenen in der Lage gewesen, Faramirs Schlag aufzuhalten.
Es ist ziemlich einfach, sogar offensichtlich, wie man einen Mann, der in ein Zimmer kommt,
von hinter einem Türrahmen aus(solange er weit genug aus der Wand hervorspringt) niederschlägt, aber es gibt einen Haken. Ein Mensch sieht am ehesten das, was auf seiner Augenhöhe
passiert, wenn man also einen Besucher mit so etwas wie einem Stuhlbein auf den Kopf schlagen will, wird das nur einen blutigen Anfänger überraschen. Leute, die sich auskennen, (wie
Prinz Faramir) setzen deshalb nicht auf rohe Kraft. Stattdessen geht man in die Knie und
schlägt horizontal statt senkrecht zu. Der Schlag, wie erwähnt, fällt schwächer aus, aber er
trifft direkt dort, wo es wehtut und ist extrem schwer zu parieren.
Faramirs Drehbuch für die nächste Szene sah folgendermaßen aus: sobald Gepard (oder wer
auch immer zuerst hineinkommt) sich vor Schmerzen krümmt, würde der Prinz ihn in den
Raum ziehen, hinter den linken Türpfosten. Éowyn, die hinter dem rechten Türpfosten hinter
der offenen Tür stand, sollte sie schließen und mit ihrem ganzen Gewicht blockieren. Die Ausgesperrten würden augenblicklich versuchen, die Tür einzurennen, aber der erste Versuch
würde wohl unorganisiert sein und Éowyn die Möglichkeit geben, sie wenigstens ein paar Sekunden zuzuhalten. Diese Zeit sollte Faramir reichen, Gepard zu betäuben und sich seine Waffen zu schnappen. Éowyn würde dann zur Seite gehen; die anderen würden inzwischen geordnet genug sein, sie gemeinsam einzurennen – 'auf mein Zeichen!' - und in den Raum stolpern,
vielleicht sogar stürzen. Faramir wollte einen sofort umbringen – das war kein Spaß mehr. Das
würde nicht mehr als zwei Weiße auf den Beinen lassen, und da der Prinz zu den zwanzig besten Schwertern Gondors gehört, standen die Chancen des Königspaars irgendwo zwischen
ziemlich gut und hervorragend, falls Éowyn sich ein zweites Schwert schnappen konnte. Dann
würden sie Uniformen der Weißen Schar anlegen und versuchen, sich aus der Burg schleichen.
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Der Plan hatte Schwachpunkte (vor allem da, wo geordnete Bewegung nötig war), aber im
großen und ganzen ziemlich gut, vor allem da es in der Hauptsache um einen ehrenvollen Tod
ging, mit der Freiheit als Bonus. Aber wie erwähnt öffnete der Orozene die Tür kniend, und
Faramirs erster Schlag erwischte ihn an der Brust, so dass er ihn parieren konnte. Über den
Scharfsinn und die Reaktionsschnelle des Gefangenen erstaunt – man stelle sich das vor, ein
Ork kommt unter der Kapuze eines Feldwebels der Weißen Schar zum Vorschein! - schlug
Tzerlag einen Purzelbaum zurück in den Gang, aber als er wieder auf die Beine kam, war Faramir schon aus dem Zimmer und schnitt ihm den Fluchtweg ab, während seine improvisierte
Keule unparierbar umherwirbelte. Als ihm einen Augenblick später auch noch diese blonde
Wildkatze in den Rücken fiel, blieb dem Feldwebel nur noch, auf dem Boden herum zu rollen,
den Schlägen auszuweichen und in der würdelosesten Art zu brüllen: „Gut Freund, gut Freund,
Prinz! Ich komme von Grager und Tangorn! Verdammt, hört schon auf!“
Andererseits hatte Faramir schon bemerkt, dass etwas faul war, als ihm der liegende Wachtposten auffiel.
„Aufstehen!“ knurrte er. „Hände auf den Hinterkopf! Wer bist du?“
„Ich gebe auf!“ Der Feldwebel grinste und gab dem Prinzen seinen 'Anwerbungsbescheid'.
„Das ist eine Botschaft von Grager, die sollte alles erklären. Ihr lest, ich bringe den Kerl nach
drinnen, wir brauchen seine Uniform.“
„Niedlich,“ grunzte der Prinz und gab Tzerlag das Papier zurück. „Jetzt habe ich also einen Orozenen unter meinen Freunden?“
„Freunde sind wir nicht, Prinz,“ widersprach der andere ruhig, „nur Verbündete. Baron Tangorn...“
„Was?! Er lebt?“
„Ja. Wir haben ihn damals in Mordor das Fell gerettet. Übrigens war er es, der darauf bestanden hat, dass ich euch retten gehe. So oder so, der Baron hätte gerne, dass ihr den Palantír
mitnehmt, wenn ihr die Burg verlasst, was wir jetzt vorhaben.“
„Wozu zum Henker brauchen sie den denn?“ Der Prinz war erstaunt, aber mehr auch nicht. Er
hatte den Ithiliern die Initiative überlassen und war jetzt im 'nimm das da – geh dort hin' –
Modus. Er deutete nur fragend auf den Dúnadan, den Tzerlag schon um die Jacke erleichtert
hatte. „Jep, der lebt noch,“ bestätigte der Orozene, „ der schläft nur etwas. Der andere den Gang
runter auch. Wir halten uns strikt an euren 'kein Blutvergießen' – Befehl.“ Der Prinz schüttelte
nur den Kopf: sieht aus, als sei der Bursche verlässlich.
„Du hast gerade erwähnt, Tangorn gerettet zu haben. Wenn das stimmt, schulde ich dir etwas,
Feldwebel; der Mann ist mir sehr teuer.“
„Das regeln wir später,“ grunzte der andere. „Zieht die Uniformen an, dann gehen wir. Wir haben jetzt sogar eine Reservewaffe.“
„Wieso 'Reserve' ?“ Éowyn hatte endlich den Mund aufgebracht. „Nichts da!“
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Der Orozene sah fragend zu Faramir herüber, aber der nahm nur die Hände auseinander: die
ist nicht umzustimmen. „Gehen wir über die Palisade oder versuchen wir das Tor?“
„Weder noch, Prinz. Der Burghof wimmelt nur so von Weißen, alle in Stellung und auf der Suche nach Ärger; da kommen wir nicht durch. Wir nehmen den Tunnel.“
„Den im Weinkeller?“
„Ich wüsste von keinem anderen. Hat Beregond ihn erwähnt?“
„Sicher. Die Tür öffnet nach außen, ist aber von innen verschlossen, so dass man sie von außen
weder aufschließen noch aufbrechen kann – Standard für jeden Fluchttunnel aus einer Festung. An der Kellertür steht immer eine Wache: nichts ungewöhnliches, Wein braucht Wächter.
Beregond wusste nicht, wo der Schlüssel ist und traute sich nicht, direkt zu fragen. Hast du ihn
gefunden?“
„Nein,“ antwortete Tzerlag leichthin. „Das Schloss knacke ich einfach.“
„Wie?“
„Genau so wie ich eure Zimmertür und ein paar andere unterwegs geknackt habe, und genauso wie ich das an der Kellertür knacken muss. Das wird übrigens der riskanteste Teil: rumspielen an der Tür ohne Sichtschutz. Aber wenn wir die Wache schnell erwischen und die Tür auf
haben, sind drei Viertel der Arbeit erledigt. Prinz, ihr spielt mit eurer schönen neuen Uniform
den Wachposten, als sei nichts passiert, während Éowyn und ich die betäubte Wache nach
drinnen schleppen und ich in aller Ruhe anfange, am Schloss zu arbeiten.
„Aber das Schloss dürfte schwer zu knacken sein...“
„Wohl kaum. Es müsste schwer und stabil sein – muss es, wenn es Schläge von außen
aushalten soll – und darum nicht so komplex. Also, los geht’s! Prinz, habt ihr den Palantír? Wir
müssen es schaffen, solange die Weißen noch im Burghof auf mich warten und am Weinkeller
nur ein Posten steht.“
„Wartet!“ Éowyn sprach wieder. „Was ist mit Beregond? Wir können ihn doch nicht hier lassen!“
„Beregond ist verhaftet worden? Das wussten wir nicht.“
„Ja, gerade eben erst. Sie wissen alles über ihn.“
Tzerlag dachte kurz nach: „Geht nicht. Wir wissen nicht, wo er ist und bräuchten zu lang für
die Suche. Heute Nacht schnappt sich Grager alle Leute von Gepard im Dorf, wenn wir also
heute den Prinzen befreien, tauschen wir Beregond morgen aus. Aber wenn wir euch jetzt
nicht raus bringen, hat er keine Chance.“
„Er hat recht.“ Faramir zog den Verschluss des Sacks mit dem Palantír fester und schulterte
ihn. „Gehen wir, in Erus Namen!“
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...Der Dúnadan, der am Weinkeller Wache hielt, sah sich in der großen, schummrig beleuchteten Halle um. Der Haupteingang zur Burg lag links, rechts waren die drei Haupttreppen zu den
Nord- und Südflügeln und zum Rittersaal. Seltsame Entscheidung: den Eingang zum Keller
beim Vordereingang zu bauen statt irgendwo in einem Loch. Aber irgendwie ist alles in diesem
Ithilien komisch und abnormal. Angefangen beim Prinzen, der gar keiner ist, sondern wer
weiß was, und aufgehört mit den Vorschriften der Weißen Schar: wer hätte je davon gehört,
dass Offiziere sich als Feldwebel oder Gemeine ausgeben müssen? Es wäre ja in Ordnung
gewesen, wenn es vorm Feind geheimgehalten würde, wie zum Beispiel vor den örtlichen
Terroristen (auch wenn sie bisher noch keinen gesehen hatten), aber doch nicht voreinander!
Angeblich gehören wir zur selben Armee, aber wir sollen nicht wissen, dass Feldwebel Gront
eigentlich ein Hauptmann ist, während unser Leutnant Seine Gnaden Herr Elvard sich als
Gemeiner ausgibt! Komisch, dass die Typen von der Geheimwache wohl immer noch nichts
von Herrn Elvard wissen; wie sie es uns bei der Besprechung gesagt haben: die Geheimwache
hat ihre Geschäfte und die Königliche Dúnadangarde Seiner Majestät die ihren... weiß nicht,
vielleicht gefällt den Spitzeln ja dieses Theater, aber für einen ehrlichen Soldaten ist das wie
Glas auf Stein. Wenn es sich nun herausstellt, dass der Chef hier der Koch oder der Leibdiener
ist – das wäre doch lustig, oder?
Der Posten blickte hoch: er konnte hören, wie zwei Leute in der unruhigen Stille der Burg näherkamen. Nach ein paar Sekunden sah er sie: ein Gemeiner und ein Feldwebel kamen im
Laufschritt die Treppe zum Nordflügel herunter, sie rannten beinahe. Sie strebten zum Ausgang und sahen sehr besorgt aus: sollten sie Hilfe holen? Der Feldwebel trug vorsichtig einen
Sack mit etwas großem, runden darin in den ausgestreckten Armen. Fast genau vor dem Posten tauschten sie ein paar Worte aus und teilten sich dann auf: der Gemeine lief weiter zum
Ausgang, während der Feldwebel ihm offenbar sein Fundstück zeigen wollte. Was ist das?
Könnte fast ein abgeschnittener Kopf sein...
Der Rest geschah so schnell, dass dem Wächter erst ein Verdacht kam, als seine Hände schon
in einem Schraubstockgriff feststeckten, während der Gemeine, der hinter seiner Schulter auftauchte, (erst da erkannte er zu seiner Verblüffung Faramir) ihm ein Messer an die Kehle hielt.
„Ein Wort und du bist tot,“ versprach ihm der Prinz, ohne die Stimme zu heben. Der Dúnadan
schluckte krampfhaft; sein Gesicht war leichenblass und die Schweißtropfen rannen ihm von
der Schläfe. Die zwei Hochstapler tauschten Blicke, und der 'Feldwebel' (düsterer Mandos, ein
Ork!) grinste verächtlich: das sollen unter den Kämpfern die besten der besten im Westen
sein? Das Grinsen erwies sich aber als unangebracht: der junge Mann wollte zwar absolut
nicht sterben, aber für ein paar Sekunden überwand er seine Schwäche und brüllte so laut
„Alarm!“, dass in ganz Emyn Arnen die Echos und Waffengeschepper ertönten.
119
Kapitel 29
Mit einem kurzen Handkantenschlag brachte der Orozene den Dúnadan um Schweigen (der
Mann hatte noch nicht einmal einen Schmerzensschrei – er plumpste einfach wie ein Mehlsack
zu Boden), dann ließ er Seine Hoheit einige ausgesuchte Worte zukommen, von denen 'verdammter Idiot' noch das mildeste war. Seine Hoheit ließ das durchgehen; immerhin war er es,
der plötzlich von Sentimentalität überkommen worden war und versucht hatte, den Wächter
zu erschrecken statt ihn einfach zu betäuben, was Tzerlag verlangt hatte. Wie üblich machte
Menschlichkeit alles nur noch schlimmer: dem Soldaten waren die blauen Flecken und die
inneren Verletzungen nicht erspart geblieben, und die Mühe war umsonst gewesen. Jetzt
schien die Lage hoffnungslos.
Jedenfalls blieb keine Zeit für Fehlentscheidungen. Tzerlag riss dem Posten sofort den schwarzen Mantel herunter, warf ihn der gerade aufgetauchten Éowyn zu und schnarrte, den Finger
auf die Kellertür gerichtet: „Da rüber, alle beide! Schwerter raus!“ Währenddessen zerrte er
den Dúnadan in aller Eile in die Mitte der Halle. Die sechs Mann, die Sekunden später hereinstürmten, entdeckten die Überbleibsel eines gerade stattgefundenen Kampfes: die Posten an
der Kellertür hatten die Schwerter gezogen und waren bereit, jeden weiteren Angriff abzuwehren, während einer bewegungslos am Boden lag; der Feldwebel, der an seiner Seite kniete,
würdigte sie kaum eines Blicks, sondern wies befehlend zur Südtreppe und beugte sich dann
wieder über den Verletzten. Die Soldaten rannten wie geheißen mit polternden Stiefeln dorthin und erwischten den Orozenen beinahe mit den Schwertscheiden. Die Gruppe hatte ein
paar Sekunden Gnadenfrist gewonnen.
„Kämpfen wir uns zur Palisade durch!“ Der Prinz war eindeutig darauf aus, seinen Kopf
schnellstmöglich und spektakulär zu verlieren.
„Nein, weiter wie geplant.“ Tzerlag nahm sein Werkzeug und begann, das Schloss zu untersuchen.
„Aber sie werden sofort wissen, was wir vorhaben!“
„Jep...“ Der Dietrich ging ins Schlüsselloch und begann, die Zuhaltung zu prüfen.
„Und dann?“
„Dreimal raten, Philosoph!“
„Kämpfen?“
„Braver Bubi! Ich mach die Arbeit und ihr schützt mich – genau wie es für unsere Stände vorgesehen ist...“
Trotz allem musste der Prinz lachen: der Kerl war eindeutig nach seinem Geschmack. Allerdings war die Zeit zu lachen schon vorbei. Die kurze Atempause endete so, wie es kommen
musste: zwei verwirrte Dúnedain kamen die Südtreppe herunter – wen jagen wir eigentlich,
Feldwebel? - und drei richtige Feldwebel der Weißen Schar erschienen in der Tür. Die begriffen sofort die Lage und schrien: „Stehenbleiben! Waffen weg!“ und was man in so einer Lage
sonst noch zu schreien pflegt.
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Tzerlag bearbeitete das Schloss weiterhin mit größter Konzentration, ja sogar Abgeklärtheit
und ignorierte irgendwie alles, was hinter ihm geschah. Der Dialog, der nun einsetzte, war absolut vorhersehbar: „Übergebt Eure Waffe, Euer Hoheit!“ „Kommt, holt sie doch!“ „He, wer ist
das da drüben – hierher!“ Nur einen kurzen Moment sah er nach hinten, als die ersten Schwerter sich klingelnd über seinem Kopf kreuzten. Sofort fielen die drei Feldwebel zurück: Einer
hielt mit schmerzverzogenem Gesicht seine rechte Hand unterm Arm fest gedrückt, und seine
Waffe lag auf dem Boden – der 'Zauberkreis' aus Faramirs und Éowyns Schwertern wirkte bis
jetzt tadellos. Der Prinz allerdings hatte keine Möglichkeit, sich umzublicken – der Halbkreis
der Weißen, gespickt mit Stahl, kam näher, wie ein Wolfsrudel um ein Wild – aber kurze Zeit
später hörte er ein metallisches Klicken und dann Tzerlags merkwürdiges Kichern.
„Was ist passiert, Feldwebel?“
„Oh, alles bestens, aber das Bild, das ihr abgebt: der Kronprinz von Gondor und die Schwester
des Königs von Rohan verteidigen einen Orkrücken mit ihrem Leben...“
„Ulkig, wirklich. Wie geht es voran?“
„Alles klar.“ Hinter ihnen kreischten rostige Angeln und ein kalter, muffiger Hauch wehte vorüber. „Ich gehe rein; haltet die Tür, bis ich Bescheid sage.“
Inzwischen hatte die Weiße Schar sie umzingelt und war stehengeblieben. Der Prinz entdeckte
wachsende Konfusion in ihren Aktionen: Wo zur Hölle sind Gepard und die anderen Kommandanten? Allerdings war er sich sicher, dass die Gegner nicht angreifen würden, weil sie den
Tunnel vergessen hatten oder nicht von ihm wussten. Schließlich erschien ein Gemeiner mit
einem weißen Band um den Arm und verbeugte sich zeremoniell vor dem Prinzen:
„Vergebung, Euer Hoheit. Ich bin Herr Elvard, Leutnant der königlichen Dúnadangarde. Vielleicht ist es Euch möglich, mir Eurer Schwert zu übergeben?“
„Wieso solltet Ihr besser als die anderen sein?“
„Möglicherweise hat die Geheimwache Eure Ehre verletzt. Ist das der Fall, entbietet die Königliche Garde Seiner Majestät, die ich vertrete, Euch ihre aufrichtige Entschuldigung und verspricht, dass sich das nicht wiederholen wird sowie eine strenge Bestrafung der Missetäter.
Dann würden wir diese unerquickliche Angelegenheit als abgetan betrachten.“
„Fische schwimmen nicht rückwärts, Leutnant. Ihre Hoheit und ich sind entschlossen, die
Burg entweder als freie Leute zu verlassen oder beim Versuch zu sterben.“
„Ihr lasst mir keine andere Wahl, als Euch gewaltsam zu entwaffnen.“
„Nur zu, Leutnant. Aber passt auf – nicht dass Ihr Euch noch schneidet.“
Diesmal war der Angriff entschlossener. Aber solange eine bestimmte Grenze noch nicht überschritten war, hatten Prinz und Prinzessin von Ithilien einen Vorteil: Éowyn und Faramir fügten ihren Gegnern ohne Zögern Stiche in die Arme und Beine zu, während ihre Gegner das
noch nicht wagten. Binnen kurzem waren drei Angreifer leicht verletzt und der Angriff verebbte. Die Dúnedain fochten ohne rechte Begeisterung und starrten immer wieder ihren
Leutnant an: Gebt schon einen deutlichen Befehl! Beide niedermachen oder was? Die Geheim121
wache hatte sich in die hinteren Reihen zurückgezogen und Herrn Elvard den Befehl und damit die Verantwortung überlassen, da die Lage unhaltbar schien.
Da, als Faramir sich gerade dazu gratulierte, wie hervorragend sie doch dabei waren, Tzerlag
mehr Zeit zu verschaffen, tauchte dieser mit dem Krummschwert in der Hand an seiner Seite
auf und meinte in leblosem Tonfall:
„Das Schloss ist ein brandneues aus Umbar, Prinz, das kriege ich nicht auf. Ergebt euch, bevor
es zu spät ist.“
„Dafür ist es zu spät,“ schnappte Faramir. „Tzerlag, können wir Euch irgendwie retten?“
Der Orozene schüttelte den Kopf: „Unwahrscheinlich. Die haben wohl kaum Verwendung für
mich in Haft.“
„Éowyn?“
„Wir werden Mandos gemeinsam gegenübertreten, Liebling – was wäre wohl schöner?“
„Dann wollen wir uns wenigstens noch etwas amüsieren.“ Mit diesen Worten ging Faramir
ohne Rücksicht gegen die Reihen der Weißen Schar an, direkt auf Herrn Elvard zu. „Bleibt gefälligst stehen, Leutnant! Bei den Pfeilen von Oromë, wir werden die Gewänder eures Herrn
mit unserem Blut bespritzen – möge er es nie mehr wegbekommen!“
Die Halle füllte sich mit Schwerterklirren und wütendem Geschrei. Der Kampf nahm schnell
eine Richtung – bald würde es die ersten Toten geben.Da erklang eine Stimme von irgendwo
auf der Nordtreppe – scheinbar leise, aber irgendwie durchdrang sie die Köpfe aller Kämpfer:
„Hört auf, ihr alle! Faramir, bitte hört mir zu!“ Irgendetwas in dieser Stimme ließ den Kampf
kurz einfrieren, und Gepard schaffte es (in einem fremden Mantel, mit der Linken auf etwas
krückenartiges und mit der Rechten auf die Schulter eines anderen Weißen gestützt) in die
Mitte der Halle. Er hielt inmitten des erstarrten Panoramas an und seine Stimme klang wie ein
Befehl: „Geht, Faramir! Schnell!“ Ein kleines, glänzendes Objekt aus seiner Hand prallte von
Tzerlags Brust ab, und der verblüffte Feldwebel hob einen verzierten doppelbärtigen umbarischen Schlüssel auf.
Das brachte sofort wieder Bewegung ins Spiel. Auf den Befehl des Orozenen zogen Faramir
und Éowyn sich zur Tür zurück, er selbst verschwand wieder im Keller, und Herr Elvard, der
endlich begriffen hatte, was gerade passiert war, schrie auf: „Verrat! Sie wollen zum Tunnel!“
Der Leutnant gestattete sich ein paar Sekunden Bedenkzeit, dann zeigte er mit der Schwertspitze auf Faramir und brüllte: „Tötet ihn!“ Jetzt wurde die Lage recht schnell ernst. Sofort
wurde es offensichtlich, dass wenigstens Éowyn nicht länger als ein paar Minuten aushalten
würde: sie focht vielleicht sogar besser als der Prinz, aber die eroberte Dúnadanklinge war zu
schwer, um gut zu ihr zu passen. Beide hatten schon eine klaffende Wunde erlitten (er in der
rechten Seite, sie an der linken Schulter), als die erlösenden Worte kamen: „Offen, Prinz! Einzelner Rückzug zwischen die Fässer! Ich mach den Sack zu!“
Ein paar Sekunden später folgte der Prinz Éowyn in den Keller. Direkt an der Schwelle gelang
ihm ein guter Hieb gegen den angreifenden Dúnadan, dann brach er ab und wich schnell in die
Dunkelheit zurück, direkt in einen engen Gang zwischen leeren Fässern, die jeweils in Dreierreihen hochgestapelt waren. „Schneller, schneller!“ konnte er Tzerlag von irgendwo oberhalb
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hören. Die Weißen standen schon in der Tür, die Umrisse deutlich in der erleuchteten Türöffnung erkennbar, als ein hölzernes Gepolter wie eine Lawine erklang und es dunkel wurde –
kein Lichtstrahl drang von der Türe durch. Faramir hielt verwirrt an, aber da erschien der
Orozene aus dem Nichts an seiner Seite, griff seinen Arm und zog ihn weiter ins Dunkel. Der
Prinz stieß sich die Schultern an den Wänden, Geschrei und Flüche der Dúnedain waren von
hinten zu hören, und von vorne rief eine erschrockene Éowyn: „Tzerlag, was ist?“ „Nichts; ich
habe die Fässer umgeworfen, um den Durchgang zu blockieren. Wir haben mindestens eine
Minute Vorsprung gewonnen.“
Das Mädchen wartete an einer kleinen, ungewöhnlich dicken Türe, die in einen engen und
höchstens fünf Fuß hohen Tunnel führte. Es war so finster, dass nicht einmal der Orozene viel
erkennen konnte.
„Éowyn, rein da jetzt! Nehmt den Palantír! Faramir, helft mir... wo zur Hölle ist er?“
„Was sucht ihr?“
„Einen Balken. Einen kleinen Balken, etwa sechs Fuß lang; Gragers Leute wollten ihn auf der
anderen Seite lassen...ah, da ist er! Ist die Tür zu, Prinz? Wir sichern sie jetzt von außen mit
diesem Balken... kommt rüber, das andere Ende muss in dieses Loch. Dem Einen sei Dank, der
Boden ist Erde, das wird gut halten.“
Sekunden später erzitterte die Türe unter Schlägen von innen; sie hatten es gerade rechtzeitig
geschafft.
Die Treppe hoch in Emyn Arnen spuckte Herr Elvard Gift und Galle. Bleich vor Wut schrie er
den Meister der Gegenspionage an:
„Du bist verhaftet, Gepard, oder wie du sonst heißt! Hör zu, Bastard, im Norden hängen wir
Verräter an den Füßen, damit sie vor ihrem Tod noch mal nachdenken können!..“
„Schnauze, Idiot, die Sache steht schon schlimm genug,“ antwortete der Hauptmann ermüdet.
Er saß mit geschlossenen Augen geduldig wartend auf einer Stufe, während ein anderer ihm
eine behelfsmäßige Schiene für den Fuß anlegte. Gelegentlich verzog er das Gesicht vor
Schmerzen: ein gebrochener Fuß ist eine wirklich übel schmerzende Angelegenheit.
„So oder so stehst du unter Arrest,“ wiederholte der Dúnadan sich, bevor er zu den Männern
der Geheimwache hoch blickte, die sich im Halbkreis hinter ihrem Kommandanten formiert
hatten und es mit der Angst bekam – nicht dass das leicht passierte. Die sieben Gestalten erstarrten in eigenartiger Unbeweglichkeit, und ihre Augen – bisher dunkel und leer wie ein
Brunnenschacht – glühten plötzlich blutrot, wie bei Raubtieren.
„Nein, denkt nicht mal daran,“ pfiff Gepard seine Leute zurück, und der rote Schimmer verschwand spurlos. „Soll er mich doch als verhaftet ansehen, wenn er sich damit besser fühlt;
ein Kampf innerhalb der Weißen Schar ist das letzte, was wir jetzt noch brauchen...“
Da lärmte es im Burghof, dann ging die Tür auf, und herein kam jemand, den sie am wenigsten
erwartet hatten, flankiert von perplexen Wachposten.
123
„Grager!“ stieß ein vor Verblüffung atemloser Herr Elvard hervor. „Ihr wagt es, hierher zu kommen? Niemand hat Euch freies Geleit zugesichert...“
Der Baron hatte nur ein hämisches Grinsen übrig. „Das freie Geleit werdet eher ihr brauchen.
Ich bin hier auf Befehl meines Lehnsherrn, des Prinzen von Ithilien,“ letzteres betonte er extra.
„Seine Hoheit ist bereit, alle Untaten, die ihr an ihm begangen habt und die ihr vorhattet zu begehen, zu vergeben. Darüber hinaus hat der Prinz einen Plan, der Seiner Majestät das Gesicht
zu wahren erlauben wird – und euch, eure Köpfe auf euren Schultern zu behalten.“
124
Kapitel 30
Ithilien, die Hauptsiedlung
15. Mai 3019
Der Morgen war wunderschön. Das Wasserblau der Ephel Dúath (welch ein Idiot hatte entschieden, sie Schattenberge zu nennen?) war so durchscheinend, dass ihre verschneiten Gipfel
in der Luft über den endlosen smaragdgrünen Weiten Ithiliens zu schweben schien. Für diese
paar Minuten war die Burg Emyn Arnen das, was ihre Erbauer darin gesehen haben mussten:
eine magische Heimstatt im Walde statt einer Festung.Die Strahlen der aufgehenden Sonne
veränderten wie durch Zauberei die Wiese am Rand der Ansiedlung – der reichlich vorhandene Tau, der sie vorher wie ein Mantel aus gealtertem Silber bedeckt hatte, glitzerte
plötzlich wie eine Decke aus unzähligen Diamanten; vielleicht hatte der frühe Sonnenaufgang
im Mai die Gnome überrascht, die sich hier zur Nachtwache versammelt hatten, und sie waren
in ihre Mauselöcher geflüchtet und hatten ihre sorgsam angehäuften Schätze zurückgelassen.
Mag es so sein oder auch nicht, die drei- bis vierhundert Schaulustigen auf der Wiese (hauptsächlich Bauern und Soldaten) dachten nicht so poetisch über den Tau: er hatte sie allesamt
durchnässt, und viele Zähne wollten schon klappern. Aber niemand ging, im Gegenteil
tauchten immer mehr Menschen auf. Leute aus den abgelegenen Weilern trafen auf Bewohner
der Ansiedlung: Die Nachricht, dass die Weiße Schar abzog und die Wache auf das erneut
versammelte Regiment Ithilien überging, hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet, und keiner
wollte das Spektakel versäumen. Nun beobachteten sie die zwei bewegungslosen Reihen, die
sich gegenüberstanden – eine schwarz, die andere grün – und die zwei Offiziere, die einander
mit verschlungenen Schwertbewegungen grüßten: „Ich löse Euch ab.“ „Ich bin abgelöst.“ - und
betrachteten sich erstaunlicherweise zum ersten Mal als Ithilier und nicht als Siedler aus Gondor, Arnor oder Belfalas.
Der Prinz von Ithilien war etwas blass und schien sich im Sattel nicht allzu wohl zu fühlen
(nach Meinung der Experten); aber andererseits gab es in der Weißen Schar auch keinen Mangel an bleichen Gesichtern und getrübten Blicken. („Jungs, das muss ja ne tolle Fete letzte
Nacht in der Burg gewesen sein, eh?“ „Jau, guck mal, die drei Weißen in der hinteren Reihe
rechts. Die Fahne von denen dürfte allein schon für nen Rausch ausreichen, die armen Kerle
schauen aus, als ob sie gleich umkippen.“) Inzwischen dankte Faramir der Weißen Schar für
ihre treuen Dienste, entbot seiner Leibgarde ein zeremonielles Lebewohl und richtete das
Wort an seine Untertanen:
„Heute sind wir Zeugen des Abschieds von Freunden, die uns in der Stunde der dringendsten
Not beigestanden haben, als die gebeutelte Kolonie Ithilien wehrlos den Horden blutdürstiger
Goblins und Warge gegenüberstand; unser herzlichster Dank gilt euch, Wächter der Zitadelle!
(„He, Vetter: Goblinhorden... jemals eine hier gesehen?“ „Mja, kann nicht behaupten, welche
gesehen zu haben, aber es heißt, letztens am Otternbach...“) Die Erinnerung an diese Hilfe wird
auf ewig in unseren Herzen verbleiben, so wie das Prinzentum Ithilien auf ewig Vasall des
Wiedervereinigten Königreiches und sein Schild jenseits des Anduin sein wird. Jedoch werden
wir das Reich verteidigen, wie es uns richtig erscheint; wir leben jenseits des Großen Flusses,
nicht in Anorien und müssen deshalb in Frieden und Eintracht mit allen Einheimischen leben,
ob uns das gefällt oder nicht. („Was faselt der denn da, Vetter?“ „Klingt, als meinte er so was
wie diese Trolle im Schattengebirge – heißt, die hätten Eisen wie Dreck, aber nich grade viel
Holz.“ „Hm, kann gut sein...“) Auf jeden Fall – Heil dem König von Gondor und Arnor! („Jetzt
wird’s komisch, Vetter...“ „Schnauze, Depp, und schau mal die Fässer an, die sie da drüben
anrollen! Für Freibier bejuble ich sogar diese Majestät, wenn's sein muss... Er lebe hoch!“)
125
...Der Bote aus Minas Tirith, ein Leutnant der Königlichen Dúnadangarde, traf auf der Wiese
ein, als die Zeremonie auf der Wiese schon in vollem Gange war, mit schäumendem und
schwer schnaufendem Pferd. Herr Elvard, der von der Geheimwache ordentlich eingeschüchtert war („Tut mir den Gefallen und lächelt, Herr. Lächeln, verstanden?“) und jetzt hilflos diesem unerhörten Verrat beiwohnen musste – Aufgabe einer Schlüsselstellung, und das auch
noch ohne Kampf! - sah hoch und hegte eine leise Hoffnung: Seine Majestät musste irgendwie
von der Rebellion erfahren haben und hatte ihm den Befehl geschickt, mit diesen Verrätern
gründlich aufzuräumen – von Faramir bis zu Gepard... Oh weh, die Botschaft kam von Aragorn,
war aber an den Hauptmann der Geheimwache gerichtet. Gepard brach das Siegel des Weißen
Baumes auf der Stelle und vertiefte sich in den Brief; dann faltete er ihn gemütlich wieder zusammen und reichte ihn Herrn Elvard mit einem Kichern:
„Lest mal, Leutnant. Ich glaube, das interessiert Euch.“
Der Brief enthielt vollständige Instruktionen, wie die Weiße Schar unter diesen Umständen zu
verfahren habe. Aragorn schrieb, die Aufrechterhaltung des status quo mache es notwendig,
alle Stützpunkte des Regiments Ithilien zu entdecken und mit einem Schlag auszulöschen,
ohne Überlebende. Der Schlag habe blitzartig und in aller Stille zu erfolgen, und wem die
Schuld an dieser Ungeheuerlichkeit zu geben sei – den Bergtrollen, Goblins oder Morgoth persönlich – sei dem Hauptmann überlassen. Sollte jedoch der Erfolg dieses Vorgehens zu bezweifeln sein – wenn beispielsweise der richtige Zeitrahmen verpasst sei und es fast so viele
Ithilier wie Weiße gebe – sei der Einsatz abzubrechen. Dann sollten sie aus der Not eine
Tugend machen: die Wachpflichten über Faramir an die Offiziere des Regiments Ithilien
übertragen, gegen eine Bestätigung des Lehnseides Faramirs, nach Minas Tirith zurückkehren
und nur ihr Informantennetz zurücklassen. Seine Majestät erinnerte daran, dass Faramirs
Leben unter allen Umständen unantastbar war, und dass jeder, der einen offenen Konflikt
zwischen Ithiliern und Weißer Schar herbeiführe (was sofort einen Bürgerkrieg im Prinzentum auslösen und das Reich in Stücke reißen würde), wegen Verrat hinzurichten sei. Um es
einfach auszudrücken: wenn ihr es anfangt, bringt es auch zu Ende, aber fangt nicht an, wenn
ihr nicht sicher seid.
In einem Nachsatz schrieb Seine Majestät: „Viele Herrscher in dieser Welt lieben es, ihre Befehle mit Hinweisen zu bemänteln, um später mit der Behauptung, es sei ein Missverständnis
gewesen, die Schuld denen zuzuschieben, die ihren Willen ausgeführt haben. Hiermit sei bekannt gemacht, dass Elessar von Valandil nicht zu diesen gehört – er übernimmt stets die Verantwortung, nennt die Dinge, wie sie sind, und seine Befehle sagen nur das, was sie sagen.
Sollten in der Weißen Schar Offiziere auftreten, die aus Übereifer ein eindeutiges Verbot für
einen versteckten Wunsch des Königs halten, hat Hauptmann Gepard den Befehl, jeden solchen um jeden Preis zu beseitigen.“
„Ihr seht, Leutnant, als ich Euch trotz eurer Eskapaden letzte Nacht leben ließ, habe ich gewissermaßen gegen den Befehl Seiner Majestät gehandelt.“
„Also wusstet Ihr von dieser Order?“ Herr Elvard sah Gepard jetzt mit abergläubischer Furcht
an.
„Ihr überschätzt meine Fähigkeiten. Es ist einfach so, dass ich im Gegensatz zu Euch wenigstens zwei Züge im Voraus denken kann.“
126
„Sie ziehen ab! Seht nur, sie ziehen wirklich ab!“ Grager atmete endlich auf, als er sah, wie die
Kolonne der Weißen Schar auf die Osgiliath - Hochstraße zuhielt. Er hielt die Finger der linken Hand gekreuzt, nur für den Fall, dass. „Ehrlich gesagt habe ich nie so ganz daran geglaubt
und habe bis zuletzt auf irgendeinen Trick gewartet... Ihr seid ein Genie, Euer Majestät!“
„Es heißt 'Euer Hoheit', Baron, und bitte merkt euch – ich werde keine Witze in dieser Angelegenheit dulden.“
„Verzeihung, Euer Hoheit.“
„Allerdings,“ besah Faramir die um ihn versammelten Kämpfer des Regiments Ithilien mit einem leichten Lächeln, „ist hiermit jedem von euch das Recht verliehen, mich mit 'mein Kapitän' anzusprechen, um der alten Zeiten willen. Und offenkundig ist dieses Vorrecht nicht vererbbar. Also, Jungs: Ihre Hoheit wird euch zum Schloss begleiten – das Mahl ist serviert und
die Flaschen entkorkt – während ich, die Offiziere und unsere... äh... Gäste aus dem Osten in
zehn Minuten oder so nachkommen... Also, Baron Grager, was habt ihr da so hoffnungsvoll
gesprochen: glaubt Ihr, dass sie alle weg sind?“
„Nein, mein Kapitän. Ihr Netz von Spionen...“
„Ganz genau. Was gedenkt Ihr zu unternehmen?“
„Nichts, Euer Hoheit.“
„Erklärt.“
„Gerne. Es macht keinen Sinn, diejenigen von Gepards Leuten zu verfolgen, die wir kennen: da
Ithilien ein Vasall Gondors war und ist, haben sie sich keines Verbrechens schuldig gemacht,
als sie für den Monarchen des Wiedervereinigten Königreiches arbeiteten. Unter solchen Umständen entledigt man sich solcher Spione gelegentlich in aller Stille, aber das würde zu weit
gehen: damit würden wir Minas Tirith andeuten, dass wir ihnen offen feindlich gesinnt sind,
wenn es nicht sogar einer Kriegserklärung gleichkäme. Außerdem, Prinz, bin ich sicher, dass
wir nicht das ganze Netz enttarnt haben. Wenn wir die bekannten Agenten verhaften, würden
wir ihnen freie Bahn für den Rest schaffen. Solange wir niemanden anrühren, können sie unmöglich wissen, wer enttarnt ist und wer nicht, also müssen sie ihr ganzes Netz als kompromittiert betrachten. Selbst wenn sie es nicht aufgeben, werden sie es garantiert auf lange Zeit
schlafen legen. Zu mindestens ich würde so ein halb enttarntes Netz nicht anrühren.“
„Sehr gut; das ist jetzt Eure Sache, Baron Grager. Hiermit befördere ich Euch zum Hauptmann
und verleihe euch die Vollmacht zur Rekrutierung.“
„Wow!“ lachte Tangorn. „Ich sehe schon, Ithilien wird ein ungewöhnliches Land – das erste,
was es hat, ist eine Gegenspionage!..“
Faramir zuckte mit den Achseln: „Mit solchen Nachbarn... Jedenfalls zweifle ich, dass unsere
Gäste das interessiert. Tzerlag, wo seid Ihr?.. Ich muss ein gewisses Problem eingestehen: Eure
Taten in der letzten Nacht machen Euch definitiv würdig, den Ritterschlag zu erhalten, aber
das würde eine Unmenge an technischen Problemen nach sich ziehen. In jedem Fall, was würde der Ritterschlag Gondors einem Wüstenkrieger nützen?“
127
Tzerlag schüttelte den Kopf: „Gar nichts, Euer Hoheit.“
„Seht ihr? Nun, ich fürchte, ich muss auf alte Legenden zurückgreifen: Äußert einen Herzenswunsch, Feldwebel! Aber bitte denkt daran, dass ich noch keine heiratsfähigen Töchter habe,
und was die Schatzkammer des Prinzen angeht... wie viel ist darin, Beregond?“
„Einhundert sechsunddreißig Goldstücke, euer Hoheit.“
„Ja, nicht gerade der Hort von Vendotenien... vielleicht wollt Ihr darüber nachdenken, Feldwebel? Oh, da fällt mir ein, ich muss noch eine Schuld bezahlen – für die Rettung dieses edlen
Herrn.“
Der Orozene war platt. „Tut mir leid, Hoheit, aber wir... wie soll ich sagen... wir gehören irgendwie zusammen, also haben wir eine gemeinsame Bitte. Lasst es Euch von Baron Tangorn
sagen; denkt einfach, ich hätte ihm meine Rechte abgetreten.“
„Ach ja?“ Der Prinz betrachtete die drei Gefährten mit Belustigung. „Das wird immer interessanter. Ich schätze, die Bitte ist vertraulich?“
„Ja, Euer Hoheit.“
„...Ich glaube, Baron, ihr wollt den Palantír,“ begann Faramir, als sie zwanzig Schritt von den
anderen weg geritten waren. Er machte ein finsteres Gesicht, ohne irgendwelche Überbleibsel
der Belustigung.
„Ihr wisst es also schon, Prinz?“
„Ich bin nicht so dumm; warum sonst hättet ihr darauf bestanden, dass ich ihn auf die Flucht
mitnehme? Ich konnte mir nur nicht vorstellen, dass Ihr mit denen zusammenarbeitet. Jetzt
muss ich Mordorern einen magischen Kristall überlassen. Da habt Ihr mich ja in was hinein
geritten, ohne Frage.“
„So ist es nicht, Euer Hoheit. Haladdin steht nicht mehr in Mordors Diensten, er handelt eigenständig und zum Wohle der gesamten Menschheit, wenn ich so frei sein darf. Trauriger Weise
darf ich Euch nicht einweihen, wie sein Auftrag aussieht, darum bitte ich Euch, meinem Ehrenwort zu vertrauen.“
Faramir wischte das beiseite: „Davon rede ich nicht. Ihr wisst, ich habe Euch immer vertraut;
in manchen Dingen sogar mehr als mir selbst. Es ist nur – was ist, wenn ihr drei die Marionetten eines anderen seid und dieser euch zu seinem eigenen Vorteil ausnutzt? Versucht, die Lage
nochmals einzuschätzen, vom Standpunkt des Meisterspions, nicht als Freund von Haladdin
und Tzerlag.“
„Ich habe das schon viele Male getan und kann nur dieses sagen: Egal wer das Spiel begonnen
hat, Haladdin spielt seine eigene Partie, und er ist sehr, sehr zäh – das kann ich beschwören –
auch wenn er nicht so aussieht. Und noch eins – ich schätze ihn sehr, und ich werde alles tun,
um ihm beim Siegen zu helfen.“
Nach einigem Nachdenken grummelte der Prinz schließlich: „Na gut. Seht mich als überzeugt
an. Wie kann ich euch drei helfen?“
128
„Zunächst bitte ich um meine Entlassung,“ begann der Baron und erklärte dem verwirrten Faramir: „Ich werde einige Zeit in Umbar verbringen müssen, und ich habe die Absicht, als Privatperson zu handeln, damit Euer Hoheit nicht in ein falsches Licht gestellt wird...
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Kapitel 31
Gondor, Minas Tirith
17.Mai 3019
„Ihre Majestät die Königin von Gondor und Arnor!“ gab der Protokollchef bekannt und löste
sich sofort in Luft auf, als sei er nie dagewesen. Palastpersonal in aller Welt scheint zusätzlich
zu seiner Ausbildung einen sechsten Sinn zu besitzen. Aragorn besaß Nerven aus Stahl (in seinem früheren Beruf eine zwingende Voraussetzung) und verbarg die wahren Gefühle, die der
Ausdruck 'Ihre Majestät die Königin' in ihm hervorrief, auf das beste. Trotzdem schien es diesem Strolch jedes Mal klar zu sein, dass jedes Mal, wenn diese Worte ausgesprochen wurden,
Seine Majestät Elessar Elbenstein den Wunsch verspürte, den Sprecher entweder der Geheimwache auszuliefern (die Valar mögen es verhindern!) oder einfach Anduril zu ziehen und das
Großmaul in Stücke zu hauen.
Götter, wie schön sie war! Keine Sprache der Menschen besaß die Worte, ihre Schönheit zu beschreiben, und die Elben brauchten keine. Eigentlich war nicht ihre Schönheit als solche, sondern ihre absolute sternenartige Unerreichbarkeit die Leine, an der man ihn all die Jahre gehalten hatte, seit denen er den Verzauberten Wald zum ersten Mal betreten und – rein zufällig,
natürlich – Arwen Undomiel, dem Abendstern von Imladris, begegnet war, der Tochter von
Fürst Elrond selbst. Inzwischen ist es unmöglich, festzustellen, warum die Elben gerade ihn
aus der zahllosen Menge der Dúnadanprinzen ausgewählt hatten (denn genauer gesagt hält
sich jeder Dúnadan für einen Prinzen, der seine Abstammung wenn nicht auf Isildur, dann
doch wenigstens auf Eärendur zurückführt). Sei es wie es sei, der Erstgeborene hatte gut gewählt: Aragorn hatte seinen Auftrag bewundernswert ausgeführt.
Nun betrachtete er sie mit einem Gefühl, das er bisher noch nie verspürt hatte: Verzweiflung.
Jeder weitere Kampf ist nutzlos; wie lange kann er noch ein Trugbild jagen? Ja, es war an der
Zeit, aufzurechnen und für Lügen vor sich selbst gab es keinen Grund. Also: ein obskurer
Häuptling von Waldläufern aus dem Norden hatte den größten aller Kriege in der Geschichte
Mittelerdes gewonnen, den Thron des Wiedervereinigten Königreiches bestiegen und war der
Erste unter den Herrschern des Westens geworden – aber keiner dieser Schritte hatte ihn näher an den Besitz dieser Frau gebracht.
„Was willst du denn noch von mir, Arwen?“ Er wusste, dass er die falschen Dinge in den
falschen Worten aussprach, aber er konnte es nicht verhindern. „Ich habe Mordor zerschmettert und dir die Krone Gondors und Arnors zu Füßen gelegt; wenn das nicht reicht, werde ich
unsere Grenzen über das Runenmeer und die Berge von Vendotenien ausdehnen. Ich werde
Harad und all die anderen Länder des Fernen Ostens erobern und dich zur Königin der Welt
machen – wenn du es nur sagst!“
„Das alles willst du nicht für dich selbst?“
„Nicht mehr. Ich will nur noch dich... Weißt du, mir scheint, dass wir uns damals in Bruchtal
noch viel näher waren...“
„Begreife endlich,“ ihr Gesicht nahm wieder einmal den Ausdruck erschöpften Mitleids an, wie
bei einem Lehrer, der einem zurückgebliebenen Schüler zum zehnten Mal eine Grammatikregel erklären muss, „dass ich keinem Menschen gehören kann; quäle dich nicht sinnlos.
Erinnere dich an die Geschichte von Prinz Valakar und Prinzessin Vidumawi; eure eigene Geschichtsschreibung beschreibt es: 'Denn die hohen Herren von Gondor blickten schon auf die
Nordmänner unter ihnen herab, und bis dahin war es unerhört, dass der Erbe der Krone oder
130
überhaupt ein Sohn des Königs jemanden von geringerer und fremder Rasse heiraten solle.'
Wenig verwunderlich, dass damit ein Bürgerkrieg ausgelöst wurde. Und mit dem Adel meiner
Herkunft und meines Erbes gibt es nicht einmal den geringsten Unterschied zwischen Isildur
und irgendeinem schwarzen Häuptling aus Harad. Aber noch nicht einmal das ist viel im
Vergleich zur größten Hürde zwischen uns – dem Altersunterschied. Verglichen mit mir bist
du nicht einmal ein Kind, du bist ein Säugling. Würdest du eine Dreijährige zur Frau nehmen,
selbst wenn sie wie ein Erwachsener aussähe?“
„So verhält sich die Sache also...“
Natürlich, und du benimmst dich sogar wie ein verzogenes Kind. Dich langweilt die Macht des
Königs nach ein paar Tagen, und jetzt willst du ein neues Spielzeug – Arwen, den Abendstern
von Imladris! Denk dir – du willst sogar Liebe mit einer Handvoll Süßigkeiten kaufen: den Kronen der Reiche der Menschen. All die Jahre hattest du mit uns Elben zu tun und begreifst immer noch nicht, dass keiner von uns Macht als solches begehrt? Glaube mir, ich sehe keinen
Unterschied zwischen der Krone Gondors und diesem Pokal – beides nur edelsteinübersäte
Stücke Silbers.“
„Ja, sieht aus, als sei ich ein Säugling. Und hereingelegt hast du mich damals in Lorien wie
einen solchen.“
„Du hast dich selbst hereingelegt,“ widersprach sie ruhig. „Erinnere dich bitte, wie es geschah.“
Im nächsten Augenblick bedeckte ein silbriger Nebel die Wände der Palasthalle, verschwommene Bilder der Mellyrn von Lorien schimmerten hindurch, und aufs Neue hörte er Elronds
sanfte Stimme neben sich: „Vielleicht wird meine Tochter die Herrschaft der Menschen über
Mittelerde erneuern, aber wie sehr ich dich auch schätze, muss ich dir doch eines sagen: Arwen Undomiel wird den Lauf ihres Schicksals nicht wegen eines kleinen Menschen ändern.
Nur der König von Gondor und Arnor könnte ein würdiger Ehemann werden...“ Die Stimme
des Fürsten verklang, und Aragorn sah wieder Arwen vor sich – ein beiläufiger Wink ihrerseits hatte ausgereicht, um die Halle wieder wie vorher aussehen zu lassen.
„Das waren die genauen Worte, Aragorn, Sohn des Arathorn. Es ist die ehrliche Wahrheit: nur
der König von Gondor und Arnor könnte ein würdiger Ehemann für eine elbische Prinzessin
werden, aber hat irgendjemand versprochen, dass er es auch werden würde?“
Aragorn lächelte schief. „Du hast wie immer recht. Ein Kleinkind wie ich hätte niemals an so
etwas gedacht – dass der Herrscher von Bruchtal sich aus seinem Wort herauswindet! Nun, er
hat das Talent, immer ein Schlupfloch zu finden, besser als jeder kleine umbarische Winkeladvokat.“
„Du bist ehrlich bezahlt worden für deine Mühen – dem wieder geschmiedeten Schwert und
dem Thron des Wiedervereinigten Königreiches.“
„Ja, dem Thron, den ich nicht beherrsche!“
Sie runzelte die Stirn ein wenig. „Setze dich nicht selbst herab. Du wusstest von Anfang an,
dass du einen elbischen Berater bekommen würdest, sobald du auf dem Thron sitzen
würdest.“
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„Du meinst einen Regenten.“
„Du übertreibst erneut. Außerdem sind wir dir deutlich entgegengekommen: Lorien hat dir
nicht irgend wen als Ratgeber geschickt, sondern mich selbst. Damit sieht es für deine Untertanen wie eine normale Königshochzeit aus. Du allerdings hast dir wer weiß was vorgestellt
und sehnst dich jetzt danach, die Tochter des Fürsten der Elben zu deiner Sammlung billiger
Schlampen hinzuzufügen!“
„Du weißt genau, dass das nicht so ist.“ Nun klang er nur noch niedergeschlagen und erschöpft. „Damals in Lorien, als du Barahirs Ring von mir angenommen hast...“
„Ach, das? Willst du mich an das Märchen von Beren und Luthien erinnern. Begreife endlich:
das ist eine Legende, und noch dazu eine menschliche – ein Elb lacht nur darüber.“
„Ich danke für die Erklärung. Um es in aller Klarheit zu sagen, betrachtest du Liebe zwischen
einem Elben und einem Menschen als widernatürliche Sodomie, richtig?“
„Beenden wir diese unerquickliche Konversation. Du hast zu Recht das Bedürfnis erwähnt,
sich an bestehende Abmachungen zu halten. Meinst du nicht, ein zweiter 'Unfall' eines meiner
Gefolgsmänner in genau so vielen Wochen ist etwas viel?“
„Also darüber wolltest du reden.“
„Ganz genau, mein Lieber. Wenn du gedacht hast, Lorien könne die, die für es arbeiten, nicht
schützen, werden wir deiner Geheimwache eine Lektion für die Ewigkeit erteilen – falls überhaupt einer zum Erinnern übrigbleibt.“
Die aufsteigende Wut brachte ihn wieder zu Sinnen wie der Gestank von Riechsalz einen Menschen aus der Ohnmacht; der Zauber zersprang, und der Dúnadan wurde wieder er selbst –
ein weißer Polarwolf gegen ein Rudel Schakale. „Lass mich dir ins Gedächtnis zurückrufen,
meine Liebe, dass ihr hier gar nichts beherrscht – noch nicht. Nennen wir die Dinge beim Namen: Wären deine 'Gefolgsleute' richtige Abgesandte, wären sie längst allesamt des Landes
verwiesen worden, wegen 'mit dem Diplomatenstande unvereinbaren Tätigkeiten'.“
„Weißt du,“ entgegnete Arwen nachdenklich, „manchmal erledigt dich ein Übermaß an Logik –
du wirst vorhersehbar. Niemals hättest du ohne Not auf solche Schritte zurückgegriffen; also
haben die Toten etwas streng geheimes und überaus wichtiges herausgefunden. Also muss ich
nur herausfinden, was sie in ihren letzten Tagen getan haben.“
„Und, Fortschritte gemacht?“
„Oh ja, sogar sehr viel! Wenn man das Fortschritt nennen kann. Zugegebenermaßen hatten wir
die Neigung, über deine Spielereien mit den Toten hinwegzusehen; ehrlicherweise hatte niemand geglaubt, ein Sterblicher könne den Schattenzauber so gut beherrschen, dass er sie ins
Leben zurückholen könne. Aber jetzt willst du auch das schwarze Wissen Mordors erben;
überall, wo du kannst, sammelst du diese giftigen Splitter und hoffst, damit davonzukommen.
Ohne Zweifel bist du ein erstklassiger Säbelrassler (darum haben wir auch dich aus den vielen
ausgewählt): hochintelligent, verzweifelt wagemutig und vollkommen gnadenlos gegen
andere wie auch sich selbst. Ich weiß, du bist kein Anfänger darin, mit lebenden Kobras zu
jonglieren, aber glaube mir: Niemals – bei den Hallen von Valinor! - niemals zuvor hast du ein
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solch gefährliches Spiel gewagt!“
„Oh, ich bin auch praktisch veranlagt. Es ist doch so, dass diese Spielereien für euch Elben genau so gefährlich sind wie für mich, und ich bin froh, dass du die Gefahr endlich begriffen hast.
Ich bin bereit, alles ungeschehen zu machen, wenn ich den richtigen Lohn dafür bekomme.“
„Ach wirklich? Und worin bestünde dieser Lohn?“
„Du kennst ihn bereits, und ich verlange keinen anderen.“
Arwen ging schweigend hinfort, wie ein Lichtstrahl durch einen staubigen Raum; als sie auf
sein sanftes: „Warte!“ hin zurückblickte, war es ein Sieg, größer als Pelennor oder Cormallen.
„Warte,“ wiederholte er, dann warf er achtlos den silbernen Pokal, den sie zur Verdeutlichung
benutzt hatte, in die Luft, fing ihn auf und zerquetschte ihn in einer einzigen Bewegung, als sei
er aus Papier; die eingesetzten Rubine quollen wie Blutstropfen durch seine Finger und sprangen über den Marmorboden. „Bei den Hallen von Valinor,“ wiederholte er ihre Worte langsam,
„auch ich sehe keinen Unterschied mehr zwischen der Krone Gondors und diesem Pokal; leider war die Krone nicht zur Hand.“
Er warf ihr den Silberbrocken so zu, dass sie ihn fangen musste und ging ohne Blick zurück.
Zum ersten Mal schien die Schlacht zu seinen Gunsten ausgegangen zu sein. Wie recht sie hat
– er spielt die gefährlichste Partie aller Zeiten und wird nicht aufhören. Er will diese Frau, und
er wird sie auch bekommen, koste es, was es wolle. Es wird nie dazu kommen, solange die Elben Elben sind? Schön, dann muss er eben die Grundlage all ihrer Macht zerschmettern. Diese
Aufgabe ist unglaublich verworren, aber auch viel spaßiger als, sagen wir, die Eroberung von
Harad...
Der Ruf der diensthabenden Wache brachte ihn abrupt in die Wirklichkeit zurück: „Euer Majestät! Euer Majestät! Die Weiße Schar ist aus Ithilien zurück. Soll ich sie herein befehlen?“
...Aragorn saß schweigend, den Kopf gesenkt und die Arme vor der Brust verschränkt, Gepard
saß vor ihm in einem Armsessel, den verbundenen Fuß unbeholfen beiseite gedreht. Er hatte
seinen unschönen Bericht gerade beendet und erwartete jetzt sein Urteil.
Endlich blickte Seine Majestät auf. „Unter diesen Umständen muss Eure Vorgehensweise als
angemessen beurteilt werden, Hauptmann. Ich hätte an Eurer Stelle genau so gehandelt. Nun,
das ist auch keine Überraschung.“
„Jawohl, Euer Majestät. Unser Schatten ist Euer Schatten.“
„Ihr scheint eine Frage zu haben?“
„Ja. In Ithilien waren uns Hände und Füße gebunden aufgrund des Befehls, Faramirs Leben zu
schonen. Haltet ihr es nicht für notwendig, das zu revidieren und...“
„Nein, tue ich nicht.“ Der Dúnadan erhob sich und durchwanderte voller Nachdenklichkeit den
Raum. „Seht, ich habe ein buntes Leben hinter mir und bin einer Vielzahl von Sünden schuldig,
auch einiger Todsünden... aber ich war nie ein Eidbrecher und werde es auch nie sein.“
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„Was hat das mit realer Politik zu tun?“
„Sehr viel. Faramir ist ein Ehrenmann, und solange ich meinen Teil des Handels einhalte, wird
er seinen auch einhalten. Mit diesem Zustand bin ich eigentlich ganz zufrieden.“
„Aber alle, die mit Eurer Majestät unzufrieden sind, werden sich in Ithilien sammeln!“
„Sicher, und das ist wunderbar! So werde ich meine Gegner in Gondor los – ohne Blutvergießen, wisst Ihr. Ab jetzt ist es Faramirs Problem, diese Kerle im Zaum zu halten, damit sie nicht
versuchen, die alten Verhältnisse wieder herzustellen – auch er hat sein Wort gegeben.“
„Also besorgt es Euch nicht, dass der Prinz von Ithilien schon irgendwelche zwielichtigen Geschäfte mit dem Osten angefangen hat?“
„Davon stand nichts in Eurem Bericht! Woher habt Ihr das?“
„Wisst Ihr, der Mann, der mir den Fuß gebrochen hat, war ein Orozene und der, der ihn in
derselben Nacht wieder gerichtet hat, war ein Medikus aus Umbar – er hieß Haladdin, daran
erinnere ich mich noch gut. Diese zwei kamen über die Schattenberge, zusammen mit dem
wohlbekannten Baron Tangorn...“
„Moment! Beschreibt mir diesen Arzt!“ Gepard sah Aragorn voll Überraschung an; der König
hatte sich vorgebeugt und seine Stimme hatte sich fast überschlagen.
„...Kein Zweifel, das ist er,“ murmelte der Dúnadan und schloss ein paar Sekunden die Augen.
„Tangorn hat ihn also in Mordor aufgespürt und ihn zu Faramir nach Ithilien herüber geschleppt... Verdammt, die schlimmsten Nachrichten habt Ihr Euch für den Schluss aufgehoben!
Sieht aus, als hätte ich diesen Philosophen vollkommen unterschätzt.“
„Verzeiht, Euer Majestät, dass ich es noch nicht weiß – wer ist dieser Haladdin denn?“
„Ach ja. Ihr müsst wissen, dass Ihr zu einer kleinen, streng geheimen Einheit versetzt werdet –
Einsatzgruppe Féanor. Sie gehört eigentlich nicht einmal zur Geheimwache und berichtet unmittelbar mir. Ihre strategische Aufgabe in absehbarer Zukunft ist es, das von Mordor und
Isengard hinterlassene Wissen zu sammeln und es für unsere Zwecke nutzbar zu machen.
Dazu reichen die Bücher aber nicht aus, wir brauchen auch die Köpfe dahinter. Auf unserer
Liste ist Nummer Achtzehn ein gewisser Doktor Haladdin. Es könnte natürlich auch ein Zufall
sein, dass er auf Tangorn, Faramirs Agenten in Umbar, gestoßen ist, aber an solche Zufälle
glaube ich nicht.“
„Also glaubt Ihr...Faramir hat dasselbe vor?“
„Üblicherweise denken große Geister in denselben Bahnen; die Elben sind, nebenbei bemerkt,
auf derselben Suche, wenn auch natürlich mit anderen Absichten. Der Haken ist, dass Faramir
wegen seiner alten Verbindungen im Osten eine einfachere Suche vor sich hat. Unsere Liste
entstand aus Vorkriegsberichten seiner Agenten – gepriesen sei Manwe, dass uns und nicht
den Elben das Königliche Archiv in die Hände gefallen ist... In jedem Falle, Hauptmann – spürt
sofort diesen Tangorn auf und holt alle Informationen, die er hat, aus ihm heraus; dann plant,
wie wir alles, was die Ithilier wissen, in unsere Hände bekommen. Das ist die wichtigste Aufgabe, die derzeit anliegt.“
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„Eine Entführung direkt aus Emyn Arnen?“ Gepard schüttelte ablehnend den Kopf. „Dieser
verfluchte Grager hat unser Netz dort praktisch vernichtet; eine solche Aufgabe geht weit über
seine verbliebenen Fähigkeiten hinaus.“
„Tangorn wird nicht in Emyn Arnen bleiben. Ohne Zweifel wird Faramir ihn nach Umbar schicken, wo er schon vor dem Krieg so überaus erfolgreich war. Dort wimmelt es jetzt von Flüchtlingen aus Mordor, und es ist der beste Ort für Geheimaktionen. Sicher haben sie Haladdin
schon irgendwo versteckt... aber das ist leicht herauszufinden. Ich werde sofort einen Kurier
nach Emyn Arnen schicken – ich schulde dem Prinzen von Ithilien sowieso noch Glückwünsche zur Heirat. Wenn der Bote weder Tangorn noch Haladdin zu Gesicht bekommt – was ich
stark vermute – schickt Eure Leute nach Umbar. Bewegt Euch, Hauptmann, und werdet rasch
wieder gesund: es gibt jede Menge Arbeit.
***
„Also wo befindet sich Vielfraß im Moment?“
„Er ist in Isengard, als Hauptmann einer Bande plündernder Dungar. Seine Mission ist es,
'Sprengfeuer' zu finden.“
„Was ist mit Mungo?“
„Er ist in Mindolluin, als Häftling im Steinbruch,“ antwortete der Angehörige der Einsatzgruppe Féanor, der beauftragt war, Gepard zu informieren und präzisierte: „Er ist Teil von Operation Nachtigall, Hauptmann. Seine Extraktion ist für nächsten Dienstag geplant.“
„Können wir den Abschluss dieser Operation beschleunigen?“
„Nein, Herr Hauptmann. Mungo arbeitet ohne Deckung, und dieser Steinbruch wird von den
Männern der Königin überwacht. Wenn wir ihn auffliegen lassen, ist er binnen fünf Minuten
oder weniger tot: 'Fluchtversuch' und exekutiert.“
„Na schön,“ schätzte er die Reisezeit eines Kuriers nach Emyn Arnen ab, „das reicht bis Dienstag. Sobald er auftaucht, schickt ihn zu mir.“
135
Kapitel 32
Gondor, Mindolluinberg
19.Mai 3019
Für einen Vogel hätte der Steinbruch am Mindolluin, der Minas Tirith und seine Baustellen mit
Kalkstein versorgte, ausgesehen wie eine gesprungene Porzellanschale voller Ameisen auf der
Suche nach Zuckerkrümeln. An sonnigen Tagen wie diesem sammelte die weiße Höhlung das
Sonnenlicht ein und heizte das windgeschützte Innere auf nachgerade höllische Temperaturen
auf. Und dabei war es gerade einmal Mitte Mai; Kumai versuchte, nicht einmal daran zu
denken, wie es wohl im Sommer aussehen würde. Ja, es hätte schlimmer sein können, wie zum
Beispiel für die Sträflinge, die in Anfalas auf den Galeeren gelandet waren – aber das war auch
nicht gerade beruhigend. Heute hatte er noch Glück gehabt, als man ihm einen Platz an der
oberen Kante zugewiesen hatte. Dort wehte eine belebende Brise und es fehlten die Wolken
aus den Atem raubendem Kalkstaub. Leider bekamen die Zwangsarbeiter am äußeren Rand
des Steinbruchs eiserne Beinfesseln, aber er empfand das als das kleinere Übel.
Seit zwei Wochen arbeitete er zusammen mit Mbanga, einem Mûmak - Treiber aus dem Harad
– Bataillon, der die Gemeinsprache nicht beherrschte. In den letzten sechs Wochen hatten die
Aufseher ihm die Worte eingeprügelt, die sie als nötig und ausreichend befunden hatten
(hoch, vorwärts, trag das, roll das, Hände hinter den Kopf); allerdings hatten beide Seiten es
satt, den Ausdruck „schwarzer Faulpelz“ zu übersetzen, also behalfen die Wachen sich mit
„Nigger“. Mbanga war die ganze Zeit über nur halb anwesend und hatte keine Lust, seinen
Wortschatz zu erweitern, etwa indem er sich mit seinen Mithäftlingen unterhielt. Wahrscheinlich betrauerte er immer noch seinen verstorbenen Tongo – zwischen Mûmakil und ihren
Treibern entwickelte sich eine Freundschaft, die weit über die zwischen Reiter und Reittier
hinausging. Oder vielleicht weilte sein Geist im unvorstellbar weit entfernten Süden, wo die
Sterne über der Savanne so nah scheinen, dass man sie mit der Spitze seines Assegai aus dem
Himmel pflücken könnte, wo jeder Mann mit einfacher Magie zum Löwen werden kann und
die Frauen wunderschön und unermüdlich in der Liebe sind.
...Einst war dieses Gebiet Heim eines mächtigen Volkes gewesen, das aber nichts hinterlassen
hatte als Stufenpyramiden, die reichlich mit tropischem Grün überwuchert waren, und Straßen aus Basaltplatten, die nirgendwo hin führten. Die neuere Geschichte Harads begann vor
etwa einhundert Jahren, als ein junger und energischer Häuptling eines Stammes von Viehzüchtern aus dem Landesinneren namens Fasimba schwor, dem Sklavenhandel ein Ende zu
bereiten und damit Erfolg hatte. Hierzu sei die Randbemerkung erlaubt, dass die Länder des
Ostens und des Südens seit ewigen Zeiten Sklavenhandel betrieben, aber nicht gerade ernsthaft; man beschränkte sich auf den Einkauf von Haremsdamen und anderer exotischer Dinge,
die aber nicht wirklich nötig waren. Allerdings änderte sich die Lage drastisch, als das Kalifat
von Khand das Geschäft 'industrialisierte' und einen florierenden Handel mit schwarzen
Sklaven in ganz Mittelerde aufzog.
Eine stark befestigte Kolonie von Khand, die einfallsreich Sklavenport genannt wurde, entstand am Ufer einer tiefen Bucht an der Mündung des Kuvango, der Lebensader des östlichen
Harad. Seine Einwohner versuchten sich zunächst selbst am Sklavenfang, aber sie bemerkten
schnell, dass das eine abstoßende und gefährliche Aufgabe war. Ein Unbekannter brachte es
mit einem Vergleich auf den Punkt: „Das ist, als wolle man ein Schwein rasieren: viel zu viel
Gequieke und viel zu wenig Haare.“ Anstatt das Geschäft aufzugeben, schlossen sie profitable
Bündnisse mit Häuptlingen der Stämme an der Küste; ihr Hauptpartner hieß Mdikva. Von da
an kam ständig lebender Nachschub an Lebendware auf die Märkte von Khand im Tausch
gegen Glasperlen, Spiegel und schlecht destilliertem Rum.
136
Viele Menschen hatten sowohl die Einwohner von Sklavenport und ihre Verkäufer in Khand
darauf hingewiesen, dass ihre Art, sich den Lebensunterhalt zu verdienen, das Allerletzte sei.
Worauf diese philosophisch antworteten, dass Geschäft Geschäft sei und solange die Nachfrage bestünde, immer irgendwer diese befriedigen würde (Diese Argumentation ist inzwischen
Allgemeinwissen, daher ist es unnötig, sie im Ganzen zu zitieren). So oder so war Sklavenport
äußerst erfolgreich und seine Kaufleute häuften großen Reichtum an, dazu hatten sie den Vorteil, all ihre noch so ausgefallenen sexuellen Vorlieben an der unbegrenzten Menge junger
schwarzer Mädchen (und Jungen) in ihrem zeitweiligen Besitz ausleben zu können.
So sah die Lage aus, als Fasimba erfolgreich die Häuptlinge von sechs benachbarten Stämmen
auf einer gemeinsamen Feier vergiftete (eigentlich war er es gewesen, der vergiftet werden
sollte, aber er hatte geschickt zuerst zugeschlagen, wie es seine Art war), sich ihre Besitztümer einverleibte und sich zum Kaiser ausrief. Nachdem er alle Krieger der sieben Stämme in
eine einzige Armee zusammengefasst hatte und sowohl einen gemeinsamen Befehlsstab als
auch die Todesstrafe für jede Form von Tribalismus eingeführt hatte, lud der junge Häuptling
Millitärberater aus Mordor ein, die sich die Gelegenheit nicht entgehen ließen, ein Gegengewicht zu Khand aufzubauen. Mordor gelang es ziemlich schnell, den schwarzen Kriegern, die
bisher weder Furcht noch Disziplin kannten, den Kampf in geschlossenen Formationen beizubringen, und das Ergebnis übertraf alle Erwartungen. Außerdem war Fasimba der erste, der
die volle Schlagkraft der Mûmakil in der Schlacht richtig einschätzte; sie waren schon seit
Ewigkeiten im Krieg eingesetzt worden, aber er war derjenige, der die einheitliche Zähmung
von Jungtieren im großen Stil einführte und so letztendlich einen ganz neuen Zweig seiner
Streitkräfte etablierte. Die Auswirkungen waren vergleichbar mit den Panzern unserer Tage
und Zeit: eine Kriegsmaschine im Verbund mit einer Infanterieeinheit ist nützlich, aber auch
nicht mehr, aber fünfzig Panzer zusammengefasst in einer einzigen gepanzerten Faust ist eine
Kraft, die die Art des Krieges aufs nachdrücklichste verändert.
Drei Jahre nach Fasimbas Militärreform erklärte er den Küstenhäuptlingen, die am Sklavenhandel beteiligt waren, den totalen Krieg und zerschmetterte sie alle innerhalb eines halben
Jahres. Dann kam Mdikva an die Reihe. Die Moral in Sklavenport war auf einem Tiefpunkt, als
ein Bote des Königleins mit guten Nachrichten eintraf: Mdikvas Krieger haben Fasimbas gefürchtete Krieger in einer Entscheidungsschlacht gestellt und einen vollständigen Sieg errungen; bald würde die Stadt eine Ladung erstklassigen Sklavenmaterials erhalten. Die Khandis
atmeten vor Erleichterung tief durch und klagten dem Boten ihr Leid, dass die Marktpreise für
Sklaven am Boden lägen (was eine Lüge war, wie sie im Buch stand). Das verärgerte den Mann
aber nicht im geringsten: es gebe so viele Gefangene, dass der Rum dafür ein halbes Jahr reichen würde.
Die Sklavenkarawane, die von Mdikva persönlich angeführt wurde, kam zum abgemachten
Zeitpunkt – einhundert achtzig Männer und zwanzig Frauen. Entgegen der Behauptungen des
Boten waren die gefesselten Männer in schlechtem Zustand: erschöpft, verletzt und nur notdürftig mit Bananenblättern verbunden. Aber die Frauen, die vollkommen nackt an der Spitze
der Kolonne vorgeführt wurden, waren von einer Qualität, die die ganze Garnison sabbernd
und alles andere ignorierend um sie versammelte. Damit war ihr Schicksal besiegelt. Die Ketten waren unecht, das Blut war Farbe und die Sklaven selbst die Leibgarde des Kaisers. Die
Verbände aus Bananenblättern verbargen Wurfsterne, die auf fünfzehn Schritt tödlich wirkten, aber die Männer wären auch ohne Waffen ausgekommen; jeder von ihnen konnte auf kurze Strecken ein Pferd überholen, einem Pfeil im Flug ausweichen und einen Stapel aus acht
Ziegeln mit bloßer Hand zertrümmern. Innerhalb weniger Sekunden waren die Stadttore erobert, und Sklavenport fiel. Fasimba persönlich befehligte die Eroberung: er selbst hatte die
137
'Sklavenkarawane' in Mdikvas Umhang aus Leopardenhaut, der an der ganzen Küste bekannt
war, angeführt. Der Kaiser wusste genau, dass die Angehörigen der Herrenrasse sich nie damit
abgegeben hatten, 'die ganzen Neger auseinanderzuhalten'. Mdikva selbst benötigte den Umhang nicht mehr: zu jener Zeit hatten die wütenden Feuerameisen, in deren Haufen er gepfählt
worden war (was damit als offizielle Strafe für Sklavenfang eingeführt wurde), ihn schon bis
auf die Knochen abgenagt.
Zwei Wochen später legte ein Sklavenschiff aus Khand in Sklavenport an. Der Kapitän war irgendwie überrascht, dass der Hafen vollkommen verlassen schien und ging an Land. Er kam in
Begleitung von drei bewaffneten Haradrim zurück und befahl mit angstgeschüttelter Stimme
der Mannschaft, herunter zu kommen und die Fracht einzuladen. Ehrlicherweise muss man
sagen, dass diese Fracht jeden zum Zittern gebracht hätte.
Es waren 1427 gebräunte Menschenhäute: die gesamte Bevölkerung von Sklavenport bis auf
sieben Kinder, die Fasimba aus unbekannten Gründen verschont hatte. Jede Haut trug eine Inschrift vom Stadtschreiber (der dafür ehrlich bezahlt worden war: er starb als Letzter einen
vergleichsweise leichten Tod) – den Namen des Besitzers und eine ausführliche Beschreibung
der Folter, die ihm vor seiner Häutung bei lebendigem Leibe widerfahren war. Die Inschrift auf
den Frauenhäuten gab die genaue Anzahl der schwarzen Krieger an, die ihre Qualitäten gründlich gewürdigt hatten; es gab wenige Stadtfrauen und viele Krieger, also waren es zwar unterschiedliche, aber dennoch stets beeindruckende Zahlen. Nur wenige Einwohner hatten das
Glück gehabt, die kurze Notiz 'im Kampf gefallen' zu verdienen. Den Schlusspunkt der Rechnung setzte das ausgestopfte Abbild des Gouverneurs, eines Verwandten des Kalifen persönlich. Professionelle Ausstopfer hätten das Füllmaterial – die Glasperlen, mit denen die Khandi
für Sklaven bezahlt hatten – zweifellos nicht gebilligt, aber der Kaiser hatte wohl seine eigenen Gründe gehabt.
Man kann sagen, dass solche unfassbare Grausamkeit nicht gerechtfertigt werden kann; der
Häuptling der Haradrim habe einfach seine eigenen sadistischen Fantasien als Rache an den
Unterdrückern ausgegeben. Andere dürften dagegenhalten, dass es 'historische Vergeltung'
gewesen sei und die Schuld bei dem suchen, was die Haradrim, die keine Engel gewesen seien,
in den vorigen Jahren erlitten hätten. Aber diese Diskussion scheint vollkommen verdienst los
und ist hier in jedem Fall bedeutungslos. Was Fasimba mit den Bewohnern der unglücklichen
Stadt gemacht hatte, war weder ein Ausbruch von Grausamkeit des Häuptlings noch Rache für
das Leiden der Ahnen; viel eher war es ein wichtiger Teil einer geschickten strategischen Planung, erdacht und ausgeführt mit absolut kühlem Kopf.
138
Kapitel 33
Der Kalif von Khand reagierte auf das Geschenk aus den Häuten seiner Untertanen und einem
ausgestopften Verwandten genau so, wie der Kaiser es sich gewünscht hatte. Er ließ Kapitän
und Mannschaft enthaupten (nächstes Mal sucht euch eure Ladung sorgfältiger aus!), schwor
öffentlich, Fasimba gleichermaßen ausstopfen zu lassen und befahl seine Armee nach Harad.
Seine Ratgeber, die durch das Schicksal der Seeleute vorgewarnt waren, wagten es nicht,
Einwände gegen diese dumme Idee vorzubringen; sie wagten es nicht einmal, auf der
Entsendung von Spähern zu bestehen. Statt die Vorbereitungen für die Expedition zu überwachen, erfreute sich der Kalif daran, sich die Foltern auszumalen, die er Fasimba antun lassen
würde, sobald er seiner habhaft geworden sei.
Einen Monat später landeten zwanzigtausend Khandi an der Mündung des Kuvango bei den
Ruinen von Sklavenport und marschierten ins Landesinnere. Man sollte vorausschicken, dass
die Krieger von Khand, gemessen an der Menge Eisen, die sie mitzuschleppen hatten (und vor
allem der vergoldeten Verzierungen an besagtem Eisen), in ganz Mittelerde nicht ihresgleichen fanden. Leider war ihr Problem, dass sich ihre Kampferfahrung auf die Niederschlagung
von Bauernaufständen und Polizeieinsätze beschränkte. Das schien für den Umgang mit den
schwarzen Barbaren ausreichend – die Haradrim flohen panisch, sobald sie die eisernen
Schlachtreihen bedrohlich blinken sahen. Die Khandi jagten den in Unordnung flüchtenden
Feind durch die Urwälder an der Küste und betraten die Savanne, wo sie Fasimbas Hauptstreitmacht, die sie schon erwartet hatte, am nächsten Morgen trafen.
Der Neffe des Kalifen, der die Armee befehligte, bemerkte zu spät, dass die Streitkräfte Harads
ihm um das Doppelte überlegen waren und etwa zehnmal wirkungsvoller. Eigentlich gab es
gar keine Schlacht als solche – nur einen vernichtenden Angriff der Mûmakil, gefolgt von einer
ungeordneten, wilden Jagd auf die fliehenden Feinde. Die Zählung der Gefallenen spricht für
sich: eintausend fünfhundert tote und achtzehn tausend gefangene Khandi gegen etwa
hundert tote Haradrim.
Etwas später übersandte Fasimba dem Kalifen eine ausführliche Beschreibung des Kampfes
und ein Angebot: alle Gefangenen im Austausch gegen alle Haradrimsklaven in Khand. Ansonsten sei der Kalif gut beraten, ein Schiff nach Sklavenport zu schicken, das achtzehn
tausend Menschenhäute laden könne; nun war Khand klar, dass mit diesem Kaiser nicht zu
spaßen war. Fasimba hatte eine weitere weitsichtige Entscheidung gefällt, als er etwa
zweihundert Gefangene freiließ, die nach Khand heimkehrten und das gesamte Volk von
Khand über das Angebot der Haradrim informierten. Wie zu erwarten wurde das Volk unruhig
und aufrührerisch. Nach einer Woche musste der Kalif, dem nur noch seine Palastwache
geblieben war, annehmen. Der von Fasimba angebotene Austausch fand in Sklavenport statt,
und der Kaiser wurde von seinem Volk zur lebenden Gottheit erklärt – denn für die Haradrim
war eine Rückkehr aus der Sklaverei in Khand nicht weit entfernt von einer
Wiederauferstehung von den Toten.
Seither hatte das gefürchtete Reich von Harad (das weder Städte noch Schriftsprache kannte,
dafür aber rituellen Kannibalismus, finstere schwarze Magie und Hexenjagd) seine Grenzen
beträchtlich ausgeweitet. Erst hatten die schwarzen Krieger sich nur nach Süden und Osten
hin ausgebreitet, aber in den letzten zwanzig Jahren hatten sie ihr Auge auf den Norden geworfen und ein ordentliches Stück von Khand erobert, was sie wesentlich näher an die Grenzen von Umbar, dem südlichen Gondor und Ithilien brachte. Der Botschafter Mordors am
Kaiserhof schickte Nachricht um Nachricht nach Barad-Dur: wenn nicht schnell etwas
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unternommen wird, stehen die zivilisierten Länder im Zentrum und dem Westen von
Mittelerde bald einem fürchterlichen Gegner gegenüber – unzähligen Horden herausragender
Krieger, die weder Gnade noch Furcht kennen.
Daraufhin erinnerte sich Mordor an das Khandi – Sprichwort „Um Krokodile los zu werden,
muss man den Sumpf trockenlegen“ und begann, Missionare nach Süden zu schicken. Diese
hielten sich nicht damit auf, die Schwarzen zu sehr mit Predigten über den Einen zu belästigen
und verbrachten ihre Zeit damit, kranke Kinder zu behandeln und ihnen Rechnen und Lesen
beizubringen, wofür sie eine geschriebene Form der Sprache der Haradrim entwickelt hatten,
die auf dem Alphabet der Gemeinsprache basierte. Als einer seiner Schöpfer, ein Prediger Aljuno, den ersten Text las, den ein kleiner Haradi verfasst hatte (die Beschreibung einer Löwenjagd, von bemerkenswerter dichterischer Kraft), wusste er, dass er nicht umsonst gelebt hatte.
Es wäre zweifellos übertrieben zu behaupten, dass diese Taten die örtlichen Sitten merklich
gemildert hätten. Trotzdem genossen die Missionare eine Verehrung, die fast schon religiös zu
nennen war, und das Wort „Mordor“ löste bei jedem Haradi das strahlendste Lächeln, das ihre
weißen Zähne hervorbrachten, aus. Außerdem hatte Harad im Gegensatz zu anderen 'zivilisierten' Ländern niemals willkürlich das Gedächtnis verloren; jeder erinnerte sich sehr gut
daran, wer ihnen gegen die Sklavenhändler aus Khand beigestanden hatte. Darum hatte Kaiser
Fasimba der Dritte die Bitte des Botschafters von Mordor um Hilfe gegen die Westliche Koalition sofort mit einer handverlesenen Truppe Reiter und Mûmakil beantwortet – eben jene Abteilung von Haradrim, die so tapfer auf dem Feld von Pelennor unter dem Banner der roten
Schlange gekämpft hatte.
Nur wenige schwarze Männer hatten die Schlacht überlebt, unter ihnen der Befehlshaber der
Reiterei, der berühmte Hauptmann Umglangan. Seit jenem Tag plagten ihn Visionen, klar wie
der Tag: zwei Schlachtreihen stehen sich gegenüber, fünfzehn Schritt auseinander – die Wurfweite eines Assegai; in beiden Reihen stehen die besten Krieger aller Zeiten, aber in der rechten Reihe fehlt einer. Es ist Zeit zu beginnen, aber aus irgendwelchen Gründen zeigt Udugvu
der Fürchterliche Mitleid mit Umglangan und zögert den Beginn dieser schönsten Beschäftigung von Männern hinaus – wo bleibst du, Hauptmann? Nimm deinen Platz ein!.. Was soll ein
Krieger tun, wenn sein Herz ihn zu Füßen von Udugvus schwarzem Basaltthron ruft, aber die
Pflicht des Kommandeurs ihm befiehlt, seinem Kaiser Bericht zu erstatten? Die Wahl fiel ihm
schwer, aber er entschied sich für die Pflicht und nun, nachdem er tausend Gefahren überlebt
hatte, stand er an der Grenze Harads.
Er bringt Fasimba traurige Nachrichten: Die Männer des Nordens, die den Haradrim wie Brüder waren, sind in der Schlacht gefallen, und jetzt gibt es nur noch Feinde in den Nordlanden.
Aber gewissermaßen ist das wunderbar – jetzt warten so viele Schlachten und ruhmreiche
Siege! Er hat die Krieger des Westens gesehen, und keiner von ihnen wird standhalten, wenn
er einer Armee statt einer kleinen Freiwilligeneinheit unter dem roten Banner gegenübersteht. Er berichtet, dass die Übermacht der Reiterei, die ihnen solche Sorgen bereitet hat, nicht
mehr vorhanden ist: noch vor kurzem wussten die Haradrim nicht, wie man zu Pferd kämpft,
und jetzt haben sie sich gegen die besten Reiter des Nordens teuer verkauft. Und von haradischen Infanteristen wissen sie noch gar nichts: von allen, die er gesehen hat, wären bestenfalls
die trollischen Fußkämpfer ernsthafte Gegner gewesen, und jetzt gibt es keine mehr. Und die
Mûmakil sind die Mûmakil – das nächste an einer perfekten Waffe. Wenn wir nicht zwanzig in
diesem verfluchten Überfall im Wald verloren hätten, wer weiß, wie die Schlacht von Pelennor
ausgegangen wäre... Sie haben Angst vor Brandpfeilen? Kein Problem, das können wir in der
Ausbildung der Jungtiere beseitigen. Der Westen hat sein Schicksal besiegelt, als er Mordor
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zerschmetterte, das zwischen uns stand.
...Mbanga der Treiber wälzte ein Problem von viel kleineren Ausmaßen. Obwohl er nichts von
Mathematik verstand, arbeitete er schon den ganzen Morgen an einem ziemlich komplizierten
Flächenproblem, das der Ingenieur Zweiter Klasse Kumai (wenn er die Pläne seines Partners
gekannt hätte) als 'Minimierung der Summe von zwei variablen Distanzen' beschrieben hätte
– von Mbanga zum Aufseher und vom Aufseher zum Rand des Steinbruchs. Natürlich ist er
kein Umglangan, der auf einen Platz unter den besten Kriegern aller Zeiten hoffen darf, aber
wenn er so stirbt wie geplant, dann wird ihn Udugvu in seiner grenzenlosen Gnade auf ewig in
seinen himmlischen Jagdgründen Löwen jagen lassen. Aber die Durchführung wird nicht
leicht sein. Mbanga, der von sechs Wochen am Rande des Verhungerns und harter Arbeit geschwächt war, wollte einen großen Mann, bewaffnet bis an die Zähne und alles andere als geistig abwesend, mit seinen bloßen Händen in weniger als zwanzig Sekunden töten; wenn er länger dafür brauchen würde, würden die anderen Aufseher ihn einkesseln und zu Tode peitschen: das jämmerliche Ende eines Sklaven...
Es geschah so schnell, dass nicht einmal Kumai Mbangas ersten Zug mitbekam. Er sah nur, wie
ein schwarzer Blitz den Aufseher an den Beinen erwischte – der Haradi hatte sich hin gekauert, als wolle er die Fußfesseln richten und war plötzlich kopfüber vorgesprungen: so schlägt
eine tödliche Baumschlange ihre Beute und durchstößt dabei ein Dickicht von Zweigen mit
verblüffender Genauigkeit. Die rechte Schulter des Schwarzen erwischte mit aller Kraft das
Bein des Aufsehers direkt unter der Kniescheibe; Kumai bildete sich tatsächlich ein, zu hören,
wie die Gelenkkapsel riss und die empfindlichen Knorpel aus ihren Gelenkpfannen schnappten. Der Gondorer brach unter dem Schock und den Schmerzen zusammen, ohne auch nur
einen Laut auszustoßen; blitzschnell hatte der Haradi ihn über der Schulter und lief so schnell
wie die Ketten es zuließen auf den Abgrund zu. Mbanga schlug die Wachen, die aus allen Richtungen auf ihn zu rannten, um gute dreißig Schritt; als er den ersehnten Rand erreicht hatte,
warf er seine Last in den leuchtend weißen Abgrund und erwartete seelenruhig seine Gegner,
das erbeutete Schwert in der Hand.
Natürlich wagte es keiner dieser westländischen Aasgeier, mit ihm die Klingen zu kreuzen –
sie überschütteten ihn einfach mit Pfeilen. Aber das war schon nicht mehr wichtig: er hatte es
geschafft, im Kampf mit dem Schwert in der Hand zu sterben und sich das Recht darauf verdient, in der himmlischen Löwenjagd den ersten Assegai zu werfen. Was sind schon drei Pfeile
in den Eingeweiden gegen solch eine Segnung?
Die Haradrim sterben immer lächelnd, und dieses Lächeln bedeutete nichts Gutes für die Länder des Westens, wie ein paar weitsichtige Männer schon begannen zu ahnen.
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Kapitel 34
„Der Bastard ist verreckt!“ schloss der riesige blonde Aufseher enttäuscht, nach dem er sorgfältig Mbangas Finger mit seinen Absätzen zermalmt hatte (ohne Reaktion); dann fielen seine
blutunterlaufenen Augen auf Kumai, der regungslos am Rand der Szene stand. „Aber der Teufel soll mich holen,“ warf er seine Peitsche von einer Hand in die andere, „wenn sein Kumpel
hier und jetzt nicht mit seiner Haut für Ernie bezahlt...“
Kumai wehrte den ersten Schlag reflexartig mit dem Ellbogen ab und verlor sofort ein Stück
Haut dabei. Unter Schmerzensgebrüll warf er sich auf den Blondschopf, und vier andere
schlossen sich dem Spaß an. Sie prügelten ihn lange, aufmerksam und mit jeder Menge Erfindungsreichtum, bis es klar war, dass jede weitere Tat an den gefühllosen Troll verschwendet
war. Na ja, was willste – irgendwer muss für den toten Aufseher zahlen, oder?
Ungefähr dann tauchte der Chef der Wache auf, brüllte: „Genug Spaß für heute!“ und scheuchte alle auf ihre Posten zurück – ihm war eindeutig nicht nach noch einer Leiche in seinem Bericht. Denn die Sache war die: wenn dieses Vieh den Löffel hier abgibt, wird er es mit dem Leiter des Werks zu tun bekommen (noch so ein Arsch!), aber wenn es später in den Baracken
passiert – dann ist es 'natürlicher Verlust', ohne weitere Fragen. Er winkte die nächst stehende
Gruppe Sträflinge herüber, die sich angsterfüllt die Schlägerei angesehen hatten, und kurze
Zeit später lag Kumai auf dem fauligen Strohbündel in seiner Baracke. Jeder, der Erfahrung mit
so etwas hatte, wusste, dass diese halbtote Figur in blutigen Fetzen statt Haut nicht mehr lange auf dieser Welt hatte. Vor ein paar Monaten hatte der Troll den Tod noch überlisten können,
nachdem er schwer verletzt aus der Schlacht von Pelennor gekommen war, aber jetzt schien
das Glück ihn verlassen zu haben.
...Als Éomers Reiter die Verteidigungslinie der Südarmee durchbrachen und Panik aufkam, war
Ingenieur Zweiter Klasse Kumai abgeschnitten im Norden, bei den Belagerungsmaschinen.
Sieben andere Pioniere waren mit ihm eingeschlossen; als Rangältester fiel ihm das Kommando zu. Da er nichts von Strategie oder Taktik verstand, sah er nur eines klar: in wenigen Minuten würden alle Geräte in Feindeshand fallen, also blieb nur noch ihre Vernichtung. Der Troll
stellte die Ordnung in seiner Truppe mit eiserner Hand wieder her (einer der sieben, der so
etwas wie „Rennt um euer Leben“ geschrien hatte, lag jetzt bewusstlos neben ein paar Sturmleitern) und versicherte sich, dass sie wenigstens genug Naphtha hatten, dem Einen sei Dank.
Binnen einer Minute flitzten seine Untergebenen herum wie die Ameisen und vergossen dieses über die Katapulte und die Bodenteile der Belagerungstürme, während er auf das 'Tor' zu
rannte – die Lücke in der Wagenburg um die Maschinen – und direkt in die Arme eines Voraustrupps der Rohirrim.
Die Reiter behandelten den plötzlich aufgetauchten einsamen Soldaten Mordors ohne großen
Respekt, was sie teuer zu stehen kam. Kumai war sogar für einen Troll sehr stark (einmal war
er auf einer Studentenfeier auf einem Fenstersims gelaufen, in den ausgestreckten Armen
einen Sessel mit dem bis zur Besinnungslosigkeit betrunkenen Haladdin darin), also hatte er
sich als Waffe eine Wagendeichsel genommen, die gerade zur Hand war. Nur einer der Reiter
konnte rechtzeitig zurückweichen, der Rest blieb da liegen, wo diese gewaltige Keule sie erwischt hatte.
Aber auch das entmutigte die Rohirrim nicht. Sechs weitere Reiter tauchten aus der Finsternis
auf und bauten sich in einem speerstarrenden Halbkreis auf. Kumai wollte erst den Zugang
mit einem der Wagen versperren, indem er ihn auf der Hinterachse drehte, aber sah, dass er
142
dafür keine Zeit hatte. Er wich etwas zurück, um die Gegner im Auge zu behalten und rief über
die Schulter: „Anzünden, verdammt noch mal!“
Von hinten kam eine Antwort: „Wir sind noch nicht fertig, Herr, die großen Katapulte sind
noch trocken!“
„Anzünden, was geht! Die Westländer sind schon hier!“ röhrte er zurück, dann wandte er sich
in der Gemeinsprache an die kampfbereiten Rohirrim: „Na, wer von euch ist ein ganzer Mann?
Wer stellt sich einem Bergtroll im ehrlichen Kampf?“
Es wirkte! Die Reihe ging auseinander, und dann stand ein abgesessener Offizier mit den weißen Federn eines Kornett vor ihm: „Seid Ihr bereit, edler Herr?“ Kumai griff den Pfahl in der
Mitte, sprang vorwärts – und fand den Rohaner weniger als zwei Schritt vor sich; alles, was
ihn gerettet hatte, war, dass die leichte Rohaner Klinge nicht durch den Pfahl drang, der den
Großteil des Hiebes abbekommen hatte. Der Ingenieur zog sich eilig in den Park zurück im
Versuch, wertvolle Zeit zu schinden, aber er konnte sich nicht lösen: der Kornett war flink wie
ein Frettchen und in der Enge waren seine Chancen mit seiner improvisierten Waffe gleich
Null. „Anzünden und laufen, was das Zeug hält!“ schrie er noch, in der Erkenntnis, dass er
erledigt war. Da explodierte die Welt auch schon in einem weißen, schmerzhaften Blitz und fiel
sofort in beruhigende Finsternis. Der Schlag des Kornett hatte seinen Helm sauber halbiert,
und so bekam er nie mit, wie in der nächsten Sekunde alles in Flammen aufging – seine Leute
hatten es geschafft... Einen Moment später sahen die Rohirrim, die von dem Feuer
zurückweichen mussten, wie ihr furchtloser Offizier aus den tosenden Flammen trottete,
ächzend unter dem Gewicht des bewusstlosen Trolls. „Kornett, was zur Hölle...“ „Ich muss
wissen, wer dieser edle Herr ist! Schließlich ist er durch meinen Speer gefangen...“
Kumai erwachte erst drei Tage später in einem Krankenzelt der Rohirrim, Seite an Seite mit
den drei Reitern, die er erledigt hatte: die Steppenkrieger machten keine Unterschiede bei den
Verletzten und behandelten alle gleich. Leider hieß das in diesem Fall 'gleich schlecht': der
Kopf des Ingenieurs war in schlechtem Zustand, aber die einzige Medizin, die er in dieser Zeit
bekam, war ein Becher Wein von Kornett Jorgen, der ihn gefangengenommen hatte. Der Kornett ließ durchblicken, dass er darauf hoffte, dass der Ingenieur Zweiter Klasse, sobald er geheilt war, ihm die Ehre eines zweiten Duells erweisen würde, bevorzugt mit einer traditionelleren Waffe als einem Pfahl. Sicher könne man ihn innerhalb des Lagers freien Ausgang gewähren, auf sein Ehrenwort als Offizier... Aber eine Woche später gingen die Rohirrim auf den
Feldzug gegen Mordor, um für Aragorn die Krone des Wiedervereinigten Königreichs zu gewinnen, und am selben Tag wurden Kumai und alle anderen Verwundeten in den Steinbruch
von Mindolluin geschickt. Schließlich war Gondor ein zivilisiertes Land, nicht wie das rückständige Rohan...
Wie er die ersten paar Tage in der Hölle überlebt hatte, mit zerschlagenem Kopf und Gehirnerschütterung, die ihn immer wieder in Gruben der Bewusstlosigkeit stürzte, war ein absolutes
Rätsel; wahrscheinlich war es einfach die Dickköpfigkeit der Trolle, den Wächtern zum Trotz.
Allerdings hatte Kumai keinerlei Illusionen sein Schicksal betreffend. Seinerzeit hatte er den
gesamten Berufsweg eines Arbeiters in den Minen seines Vaters in Tzagan-Tzab mitgemacht,
so wie es die Tradition der wohlhabenden Trollfamilien verlangte, vom Bergmann zum
Vermessungsassistenten. Er kannte sich gut genug im Bergbau aus, um zu begreifen, dass es
hier nicht um Wirtschaftlichkeit ging; sie sollten in Mindolluin verrecken statt den Betreibern
Profit zu bringen. Das tägliche Verhältnis zwischen Produktionsmenge und Nahrung für
Sträflinge aus Mordor konnte ehrlicherweise nur „Vernichtung durch Arbeit“ genannt werden.
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In der dritten Woche, als schon einige Häftlinge tot waten und die anderen sich mehr oder weniger an diese mörderischen Verhältnisse angepasst hatten (was blieb ihnen denn auch
sonst?), tauchte ein Prüftrupp der Elben auf. Schande, was für eine Barbarei! war ihre Reaktion. Ist es nicht offensichtlich, dass diese Leute wesentlich mehr können als Schubkarren ziehen? Hier sind Meister auf allen Fachgebieten versammelt – nehmt sie und setzt sie richtig ein,
verdammt! Die Gondorer Kerkermeister kratzten sich verlegen den Kopf: „Tut uns leid, hohe
Herren!“ und führten sofort eine Erhebung über die Fähigkeiten der Gefangenen durch. Am
Ende durften ein paar Dutzend Glückliche die Hölle von Mindolluin gegen Arbeit in ihren ausgesuchten Feldern eintauschen und den Steinbruch auf ewig verlassen.
Egal, möge der Eine sie richten... Was ihn anging, war Kumai nicht willens, sich sein Leben damit zu erkaufen, dem Feind Flugmaschinen schwerer als Luft zu bauen (was sein Gewerbe
war): Manche Dinge tut man nicht, weil man sie nicht tun darf, Punkt. Flucht von Mindolluin
war ein Wunschtraum, und andere Auswege sah er nicht. Inzwischen leistete die Unterernährung ganze Arbeit – er wurde immer apathischer. Schwer zu sagen, wie lange er so noch
durchgehalten hätte – vielleicht eine Woche, vielleicht sechs Monate (aber ziemlich sicher kein
ganzes Jahr) – wenn Mbanga, der Eine gebe seiner Seele Frieden, auf seinem Weg hinaus die
Tür so spektakulär zugeknallt hätte, dass er damit auch Kumais sämtliche Probleme ein für allemal gelöst hatte.
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Kapitel 35
Gegen Abend kam ein Fremder in die Baracke der Mordorer, wo der Ingenieur Zweiter Klasse
vom Wundfieber verzehrt wurde. Er war drahtig und schnell in seinen Bewegungen, sein
schwärzliches Gesicht mit den Zügen der Südländer entschlossen – wahrscheinlich ein Offizier
von einem Umbarer Freibeuter, der in einer Laune des Schicksals in Mindolluin gelandet war,
statt an der Rahe einer königlichen Galeere zu baumeln. Er stand eine ganze Minute über der
blutigen Sauerei, die schon von den Schmeißfliegen beschlagnahmt worden war, und grummelte zu niemand bestimmten: „Jaah, der macht's nicht mehr bis morgen...“ Dann verschwand
er, nur um eine halbe Stunde später wieder aufzutauchen und zur Überraschung von Kumais
Zellengenossen mit seiner Behandlung zu beginnen. Er befahl, den Patienten festzuhalten und
begann, eine gelbliche Salbe mit starkem Kampfergeruch direkt in die blutigen Wunden zu
schmieren; der Schmerz reichte aus, Kumai aus seiner tiefen Bewusstlosigkeit zu holen. Wenn
er nicht so geschwächt gewesen wäre, hätten seine Genossen ihn bestimmt nicht unten halten
können. Der Pirat (wie die Gefangenen ihn nannten) arbeitete ruhig weiter, und schon nach
ein paar Minuten entspannte der Verletzte, der vor Schweiß fast zerfloss, und fiel in richtigen
Schlaf wie ein Stein in einen Teich.
Der Balsam wirkte wahre Wunder: am Morgen waren die Wunden geschlossen und begannen,
fürchterlich zu jucken – ein eindeutiges Zeichen der Heilung. Nur wenige hatten sich entzündet, und der Pirat, der vor dem Weckruf wiedergekommen war, begann die Behandlung dieser.
Kumai, der da schon größtenteils wieder am Leben war, begrüßte seinen Retter ziemlich finster:
„Ich will ja nicht undankbar klingen, aber du hättest sicher einen besseren Nutzen für deine
Wundermedizin finden können. Wieso jemanden retten, der sowieso so gut wie tot ist?“
„Nun, gelegentlich muss ein Mensch Dummheiten machen, um ein Mensch zu bleiben. Bisschen drehen...ja...durchhalten, Ingenieur, das wird bald besser... Oh, wo wir schon von Dummheiten sprechen. Vergib meine Neugierde, aber warum bist du zum Sterben in diesem Steinbruch geblieben? Du könntest jetzt gemütlich in den Laboren des Königs in Minas Tirith sitzen.“
Kumai grunzte: „Die einfache Lebensweisheit der Huren, der ich mein ganzes Leben lang gefolgt bin: Mach keinen Krach, wenn du unter einem Kunden liegst...“ und brach sofort ab, als
ihm etwas klar wurde: Woher kennt dieser Kerl meinen Beruf, wenn ich keinem davon erzählt
habe und es noch nicht mal bei der Erhebung herausgekommen ist?
„Eine empfehlenswerte Einstellung,“ nickte der Pirat ohne auch nur zu lächeln. „Interessanterweise ist das in unserem Fall auch die rein praktisch bestmögliche Einstellung; eigentlich sogar die einzig richtige. Weißt du, alle, die damals 'Krach gemacht' haben, sind schon tot, aber
du könntest mit etwas Glück schon bald frei sein.“
„Tot? Woher willst du das wissen?“
„Ich habe sie selbst verscharrt, daher. Weißt du, ich bin hier der Totengräber.“
Kumai musste das eine Weile in Schweigen verdauen. Das Schlimmste war sein erster Gedanke: Na dann Gute Nacht! Und dann: Mein Gott, wen habe ich hier verpfiffen? Daher verstand er
die nächsten Worte des Piraten zuerst auch nicht:
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„In anderen Worten hast du genau das richtige getan, Mechanikus Kumai. Wie du siehst, hat
das Vaterland dich nicht vergessen und eine Geheimoperation eingeleitet, um dich zu retten.
Ich bin einer derjenigen, die Teil daran haben.“
„Wie?“ Jetzt verstand er gar nichts mehr. „Was für ein Vaterland?“
„Welches wohl? Hast du mehrere?“
„Das ist verrückt! Irgendwer soll bereit sein, mehrere Menschen zu opfern, nur um mich hier
rauszuholen?“
„Wir haben unsere Befehle,“ antwortete der Pirat trocken, „und es ist nicht unsere Sache zu
entscheiden, was wichtiger für Mordor ist: ein über Jahre geschaffenes Agentennetz oder ein
gewisser Ingenieur Zweiter Klasse.“
„Tut mir leid... Nebenbei, ich habe noch gar nicht nach deinem Namen gefragt.“
„Ist auch richtig so – du musst ihn nicht wissen. In ein paar Minuten beginnt deine Flucht, und
was auch immer geschieht, wir werden uns nie wiedersehen.“
„In ein paar Minuten?! Hör mal, mir geht es viel besser, aber nicht gut genug, um... wie soll ich
an der Wache draußen vorbeikommen?“
„Natürlich als Leiche. Ich bin für die Begräbnisse zuständig, schon vergessen? Keine Bange, du
bist weder der Erste noch der Letzte.“
„Also sind alle, die...“
„Leider war diese Arbeit echt. Das war Elbenwerk, wir konnten nichts mehr tun... Also, du
trinkst jetzt aus dieser Flasche und 'stirbst', allem Anschein nach, für zwölf Stunden. Nach allem, was dir gestern passiert ist, wird sich keiner wundern. Der Rest sind technische Feinheiten, die dich nicht betreffen.“
„Was soll das heißen, sie betreffen mich nicht?“
„Ganz einfach. Ich gebe dir einen Rat, zu deinem 'kein Aufstand unter einem Kunden'- Prinzip
noch ein anderes hinzuzunehmen: 'je weniger man weiß, desto besser schläft man.' Was auch
immer du wissen musst, du wirst es rechtzeitig erfahren. Trink, Kumai, die Zeit ist knapp.“
Die Flüssigkeit in der Flasche wirkte binnen Sekunden; das letzte, was er sah, war das dunkle
Gesicht des Piraten mit seiner Unmenge kleiner Narben um die Lippen.
...Kumai fand nie heraus, was später mit seiner 'Leiche' passiert war (sechs Pulsschläge die Minute, keine sichtbaren Reaktionen). Er sah auch keinen Grund, zu erfahren, wie er auf einem
Leichenkarren inmitten der anderen Toten gelegen hatte, oder wie er in einem anderen
verlassenen Steinbruch unter einer Lage Kies auf seine Abholung gewartet hatte. Er erwachte
in totaler Finsternis; also ist alles in Ordnung – wenn der Pirat mit seinen zwölf Stunden recht
gehabt hat, sollte es jetzt Nacht sein. Wo bin ich denn? Dem Geruch nach in einem Stall... Als er
sich bewegte, sprach eine unbekannte Stimme mit schwer einzuordnendem Dialekt:
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„Glückwunsch zur sicheren Ankunft, Ingenieur Zweiter Klasse! Entspannt Euch – der Weg ist
noch lang, aber die größte Gefahr ist vorbei.“
„Danke, äh...“
„Kommissar. Nur Kommissar.“
„Danke, Kommissar. Der Mann im Steinbruch...“
„Ist sicher. Mehr brauchen Sie nicht zu wissen.“
„Kann ich ihm meinen Dank übermitteln?“
„Ich bezweifle es. Aber ich werde die Anfrage weiterleiten.“
„Erlaubnis, eine Frage zu stellen?“
„Gewährt.“
„Erwartet man von mir, neue Waffen zu bauen?“
„Bestimmt.“
„Aber mein Fachgebiet ist ein ganz anderes!“
„Wollen Sie Ihre Vorgesetzten eines Besseren belehren, Ingenieur Zweiter Klasse?“
„Nein, mein Herr.“ Er zögerte. „Ich bin mir nur nicht sicher...“
„Aber die Zentrale ist sich sicher.“ Die Stimme des Kommissars taute etwas auf. „Sie werden ja
nicht alleine arbeiten. Wir haben eine Arbeitsgruppe. Chef ist Jageddin.“
„Der Jageddin?!“
„Niemand anderes.“
„Nicht schlecht...“
Man kann sagen, was man will – es hat einen gewissen Reiz, nicht zu viel denken zu müssen
und nur zu tun, was einem gesagt wird...
„Also, legt Euch hin und heilt aus. Wenn dieser blöde Zwischenfall mit den Wächtern nicht gewesen wäre, könnten Sie sofort anfangen, aber so wie die Dinge liegen müssen wir warten.“
„Wissen Sie, mir geht es gut genug für die Heimreise nach Mordor, so wie es aussieht.“
Der Unsichtbare kicherte: „Wieso denken Sie, dass sie nach Mordor gehen?“
„Was heißt das?“
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„Das ist doch ganz einfach. Sie werden gesucht, oder zu mindestens erwarten wir so etwas; Sie
haben erlebt, wie gründlich die Elben sind. Wohingegen Sie arbeiten müssen statt sich verstecken – was zwei grundverschiedene Dinge sind.“
„Na gut; also, wohin?“
„Nachdenken. Wo versteckt man am besten Diebesgut? Im Wohnzimmer eines Polizisten. Wo
ist es am dunkelsten? Direkt unter der Lampe. Verstanden?“
„Das heißt also...“ Kumai sprach langsam; innerlich wurde ihm eiskalt. Alle Teile seiner wundersamen Rettung ergaben plötzlich ein vollkommen anderes Bild: eine sehr schlau eingefädelte Betrugsmasche. „Ich soll hier bleiben, in Gondor?“
„Nein. Ehrlicherweise war es durchaus verlockend, alle in Gondor zu verstecken, und zu anderen Zeiten wäre es auch nicht allzu schwierig. Wir hatten diese Möglichkeit schon im Auge,
mussten sie aber fallenlassen. Das Problem ist, dass momentan König und Königin in Minas Tirith ihre Kräfte in Stellung bringen; beide haben ihre eigenen Geheimdienste, die sich gegenseitig überwachen, und da könnten wir leicht nur durch Zufall entdeckt werden. Also gibt es
für uns leider keine Lösung vor Ort. Aber die Welt besteht ja nicht nur aus Gondor und Mordor... Nebenbei, wenn wir zum Wiedervereinigten Königreich gehören würden und Sie ausnützen wollten, wären sie höchst wahrscheinlich nach Mordor geschickt worden: dort hätte die
Armee und die Spionageabwehr der Sieger für Euresgleichen ohne Probleme einen 'Elfenbeinturm' einrichten können. Stimmen wir darin überein?“
Einige Sekunden herrschte Schweigen.
„Verdammt! Sieht man mir das so deutlich an?“
„Ohne Zweifel – auch wenn ich in dieser Dunkelheit Ihr Gesicht nicht sehen kann. Anders ausgedrückt, überlasst diese Sorgen den Fachleuten und macht die Arbeit, die ihr beherrscht. Verstanden?“
„Ich bitte um Entschuldigung, Kommissar.“
„Keine Sorgen. Solange wir noch beim Thema sind: die Leute, mit denen Sie an unserer 'Universität' arbeiten werden, sind auf verschiedenen Wegen dort gelandet; viele sind gute Freunde von Ihnen. Sie können über alles mit ihnen reden – Studentenfeiern, Nachrichten vom Widerstand, Philosophie – aber niemals darüber, wie sie dorthin gekommen sind. Loses Geplauder darüber kann viele Leute ihr Leben kosten – sowohl meine Kollegen, wie unser gemeinsamer Freund in Mindolluin als auch Ihre Kollegen, die noch in Feindeshand sind. Ich sage das in
aller Ernsthaftigkeit und Verantwortlichkeit. Verstehen Sie, Ingenieur Zweiter Klasse?“
„Jawohl, Kommissar.“
„Sehr gut. Heilen sie aus und machen sie weiter.“
***
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„Glückwunsch, Mungo.“ Gepard richtete sich in seinem Sessel auf und sah zum Leutnant der
Geheimwache hinüber, der in Habachtstellung dastand. „Ich habe den Bericht über Operation
Nachtigall gelesen. Sechs Mann gerettet – gute Arbeit. Der Dienst dankt Ihnen.“
„Ich diene Seiner Majestät, Herr!“
„Ganz ruhig, Leutnant. Setzen Sie sich, wir sind hier nicht auf dem Paradeplatz. Also der Rückzug von Mindolluin geschah über den Notkanal?“
„Ja. Der letzte Mann, den ich beobachtet habe – Ingenieur Kumai, Nummer Sechsunddreißig
auf der Liste – ist einen Tag vor der geplanten Flucht in einen Schlamassel geraten. Die Wachen vor Ort haben Hackfleisch aus ihm gemacht, und ich musste ihn ziemlich schnell wieder
auf die Beine bringen; ehrlich gesagt hatte ich kaum Hoffnung, dass es klappt. Ich konnte ihn
retten und herausbringen, aber dabei habe ich meine ganze Deckung verloren: die Spitzel haben die Heilung gemeldet und... kurz gesagt, die Verstärkung kam gerade noch rechtzeitig.“
„Allerdings,“ grummelte Gepard und begutachtete die schäbigen Wände des Verstecks mit
deutlichem Abscheu. „gerade noch... Zwei Tote, drei Verletzte, der Geheimdienst Ihrer Majestät
sucht eifrig nach einem Spion Mordors: einem dunkelhäutigen Mann mit kleinen Narben um
den Mund. Und die Polizei sucht einen geflohenen Sträfling mit derselben Beschreibung...
Leutnant, ich denke, es ist Zeit für einen Klimawechsel: Packen Sie für eine Reise nach Süden,
es gibt Arbeit in Umbar.“
„Jawohl, Herr Hauptmann!“
„Hier ist eine Akte, lesen sie. Baron Tangorn, Faramirs Agent in Umbar vor dem Krieg. Wir haben Grund zur Annahme, dass er dasselbe tut wie wir – er sucht Mordors Fachkräfte und Dokumente für seinen Prinzen; es gibt Anzeichen, dass er bald in Umbar auftauchen wird. Ihre
Aufgabe ist es, Tangorn einzufangen und alles Wissen, das er über dieses ithilische Unternehmen besitzt, aus ihm herauszuholen. Seine Majestät betrachtet dies als außerordentlich wichtige Mission.“
„Darf ich robust vorgehen, um die Informationen zu erhalten?“
„Anders wird es nicht gehen; laut dieser Akte ist der Baron nicht die Art Mensch, der sich sein
Leben mit den Geheimnissen, in die er eingeweiht wurde, erkaufen würde. Jedenfalls muss er
nach dieser Befragung verschwinden; offiziell sind wir mit Ithilien verbündet, und deshalb
darf die ganze Affäre nicht bekannt werden.“
„Wie wird er nach Umbar kommen – in offiziellem Auftrag oder?..“
„Wahrscheinlich 'oder'. Sie haben einen wichtigen Vorteil: Scheinbar weiß Tangorn nicht, dass
er gejagt wird. Er könnte sich sogar in einem Hotel vor Ort offen einrichten, zumindest für die
erste Zeit, und dann ist seine Festnahme kein Problem. Aber der Baron ist ein alter Hase: sobald ihm etwas verkehrt vorkommt, wird er in dieser Stadt verschwinden wie ein Frosch in
seinem Teich.“
„Verstanden. Arbeite ich unabhängig, alleine?“
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„Unabhängig ja, alleine nein. Sie bekommen drei Feldwebel – suchen Sie sie selbst aus unseren
Leuten aus. Wenn Sie ihn schnell erwischen, sollte das mehr als genug sein. Aber wenn Sie ihn
verschrecken...“
„Das wird nicht passieren, Herr Hauptmann!“
„Alles kann passieren, jedem von uns,“ antwortete Gepard verärgert und sah unfreiwillig auf
seinen Fuß herab. „Also, wenn Sie die Stadt durchsuchen müssen, suchen sie keinesfalls Hilfe
bei unserer Außenstelle vor Ort, auch wenn das noch so bedauerlich ist: sie haben jede Menge
Leute zur Verfügung, und was noch wichtiger ist, hervorragende Kontakte zur Polizei vor
Ort...“
„Darf ich fragen, warum?“
„Wir haben Informationen, dass die Elben in Umbar sehr aktiv sind und es dort eine starke pro
- elbische Untergrundbewegung gibt. Lorien darf auf keinen Fall etwas von unserer Operation
erfahren – der Befehl ist sehr eindeutig – und ich mache mir über undichte Stellen Sorgen: Unsere Leute sind knapp, und alle Agenten in Umbar sind gewöhnliche Leute...“ Gepard zögerte
etwas und beendete den Satz tonlos: „Sie erhalten ein G – Mandat, nur für den Notfall.“
Mungo blickte zum Hauptmann auf, als wolle er bestätigt haben, was er gerade gehört hatte.
Das bedeutet also 'Seine Majestät betrachtet diesen Einsatz als außerordentlich wichtig.' Ein G
– Mandat erlaubt einem Mitglied des Geheimdienstes, im Namen des Königs zu handeln. In
Auslandseinsätzen gibt es nur zwei Gründe, die so eine Ermächtigung nötig machen: um dem
Botschafter Befehle erteilen zu können oder um den örtlichen Leiter der Außenstelle abzusetzen (oder direkt zu eliminieren)...
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Drittes Buch
Umbarisches Glücksspiel
Er war selbsternannter Gegenterrorist, „teils Soldat, teils Bulle, teils Bösewicht,“ wie er es selbst gerne
ausdrückte, und gehörte zur Generation der Legenden in seinem Geschäft. Er hatte Kommunisten in Malaya
gejagt und Mau-Mau in Kenia, Juden in Palästina, Araber in Aden und die Iren überall.
John LeCarre
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Kapitel 36
Fischmarkt von Umbar
2.Juni 3019
Die Garnelen waren hervorragend. Sie lagen auf dem Zinnteller wie kampfbereite Triremen
auf der dunklen Oberfläche der Barangarbucht am Morgen: die Fühler die Enterbrücken im
Gewirr der Takelage, die Beine wie Ruder angezogen, so wie es in Vorbereitung auf den Enterkampf gemacht wird. Eine Portion bestand aus einem halben Dutzend – mit mehr dieser mustergültigen „Königs“-garnelen, die kaum in die Hand passten, würde er kaum fertig werden.
Außerdem brannte der scharfe Saft, der dem süßlichen rosa Fleisch den letzten Schliff verlieh,
auf seinen aus der Übung gekommenen Lippen und Fingerspitzen. Tangorn sah hinüber zum
nächsten wartenden Tablett mit großen, auf Kohle gegrillten Austern: die Hitze hatte die
großen, bemoosten Steine am Rand leicht aufspringen lassen, so dass sie scheu ihren dunklen
Inhalt sehen ließen; die Wirkung war bezaubernd und obszön zugleich. Man kann sagen, was
man will; nirgendwo bekommt man Meeresfrüchte wie in den kleinen Tavernen um den Fischmarkt, nicht einmal in den Feinschmeckertempeln am Drei-Sterne – Deich! Schade, dass
Nacktschnecken gerade keine Saison hatten... Er seufzte und griff sich die nächste Garnele in
pikantem Saft, während er dem Geschwätz seines Tischnachbarn mit halbem Ohr und den Gedanken ganz woanders lauschte.
„...da werdet Ihr doch sicher zustimmen, Baron, dass Eure Länder nur eine kleine Halbinsel im
äußersten Nordwesten Ardas sind, die ihre Wichtigkeit bei weitem überschätzt. Zu allem
Überfluss ist sie auch noch von Paranoikern bewohnt, die sich selbst überzeugt haben, dass
der Rest der Welt an nichts anderes denkt als daran, sie zu erobern und zu versklaven. Oh bitte! Wer zum Henker braucht denn eure kränkelnden pilzübersäten Gehölze, euren Schnee, der
das halbe Jahr nicht schmilzt oder dieses schäumende braune Sauerbrühe, die ihr statt Wein
trinkt?“
Die Ausführungen dieses Trottels waren nicht dazu geeignet, Tangorns Patriotismus zu beleidigen (vor allem, weil das meiste davon der Wahrheit entsprach), aber es war merkwürdig, sie
aus dem Munde eines hochrangigen Beamten des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten der Republik Umbar zu hören – um so mehr, als dieser selbst zu dem Treffen geladen hatte.
Der Baron war nicht gerade überrascht gewesen, als ihm heute morgen der angemessen unterwürfige Besitzer des Hotels „Glücklicher Anker“ einen Umschlag überreicht hatte, von vorne bis hinten mit ausgewählten Amtssiegeln übersät. Nun, vor drei Tagen war er in Umbar angekommen, wo er sich einen – wie sagt man? - zwielichtigen, aber unbestreitbar farbenprächtigen Ruf erworben hatte; natürlich würde der Zweite Staatssekretär Gagano (auf Drängen von
Alkabir, dem Abteilungsleiter für die Sektion Nördliche Reiche)ein vertrauliches Treffen mit
dem Gast aus Ithilien verlangen. Und so hatte Tangorn seit einer guten Viertelstunde die
Schmähreden dieses Idioten ertragen müssen... Halt! rief er sich zur Ordnung; ist er so dumm,
wie er tut, oder ist das nur Fassade? Fühlen wir ihm auf den Zahn... versuchen wir etwas Unverfängliches.
„'Eine kleine Halbinsel, die ihre Wichtigkeit bei weitem überschätzt' – wohl gesprochen,“ entgegnete der Baron höflich, „aber Euer letzter Punkt bezüglich der 'braunen Sauerbrühe' verlangt meinen Einspruch. Glaubt mir, gerade dachte ich noch daran, wie gut ein paar Halbe unseres guten Bockbiers zu diesen Garnelen passen würden! Eines, das schwarz und herb wie
Pech ist, mit einer Schaumkrone so dick, dass sie eine kleine Münze trägt...“ Er lächelte verträumt und vollzog eine Geste müder Herablassung dem Anderen gegenüber. „ Herr Zweiter
Staatssekretär, ihr wisst gar nicht, was ein echtes Bockbier aus Gondor sein kann. Der erste,
längste Schluck hinterlässt dieses schwindende Aroma von Rauch auf der Zunge, wie wenn im
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Frühling in einem Park die letzten Zweige des alten Jahres verbrannt werden; nicht umsonst
nennt man es auch Rauchbier...“
Der Herr Sekretär antwortete darauf, er kenne seine Biere genau so gut wie die Eingeborenen,
schließlich habe er jahrelang in der Abteilung Nördliche Königreiche gearbeitet; ebenso wie er
all die Arten Robbenspeck kennen würde, die die lossoth, die die Bucht von Forochel bewohnen, so hoch schätzen würden. Ja, ja, jahrelang in der Abteilung Nördliche Königreiche gearbeitet, genau. Fremdenhass aus tiefster Seele ist kein Verbrechen, aber warum sollte man diese Gefühle so öffentlich zeigen? Und angesichts der Tatsache, dass die althergebrachten obergärigen Bock- und Starkbiere in den letzten hundert Jahren nicht mehr außerhalb von Eriador
gebraut wurden und das berühmte Rauchbier kein Starkbier war, sondern ein Helles mit karamellisiertem Hopfen – das muss ein Fachmann über das Land, mit dem er zusammenarbeiten
soll, doch wissen! Alles in allem hat der sonst so vorsichtige und gerissene Alkabir merkwürdige Untergebene heutzutage.
Warum wollten sie ihn wohl treffen? Erster Gedanke: um ihn aus seinem Hotelzimmer zu locken, um sein Gepäck nach Botschaften, Empfehlungsbriefen und dergleichen zu durchsuchen.
Aber diese billigen Tricks hätten eher zu den dämlichen Pfadfindern der Gondorer Niederlassung gepasst. Der Geheimdienst Umbars bevorzugte seiner Erinnerung nach viel subtilere Methoden. Zweiter Gedanke: Alkabir lässt ihn im Namen des Außenministeriums wissen, dass die
Republik ihre alte Bündnispolitik des Ausgleichs zwischen gegnerischen Kräften aufgegeben
hat und sich dem Stärksten – also Gondor – unterwerfen will und es daher unverblümt jeden
ernsthaften Kontakt mit dem Abgesandten Ithiliens (für den sie ihn wohl halten) verweigert.
Dritter und wahrscheinlichster Gedanke: Alkabir will ihn wissen lassen, dass die Republik tatsächlich besagte jahrhundertealte Politik aufgegeben hat, aber starke Kräfte in Opposition
dazu stehen und der 'ithilische Abgesandte' sich lieber mit diesen in Verbindung setzen solle
als mit dem Außenministerium und anderen offiziellen Kanälen, die dieser aufgeblasene Esel
Gagano darstellen soll. Aber egal, was davon stimmen sollte, er hatte keine Zeit, in den Blauen
Palast zu gehen und seine Beglaubigung zu schwenken (wenn er überhaupt eine gehabt hätte).
Hier musste Tangorn lachen: also ich glaube nicht, dass Alkabir diesen Gagano ohne Hintergedanken geschickt hat und Alkabir glaubt nicht, dass ich nicht mehr aktiv bin, sondern dass ich
Faramirs bevollmächtigter Repräsentant bin, wenn auch nicht offiziell. Und beide Bilder basieren zwar auf reichlich weit hergeholten Annahmen, sind aber in sich so stimmig, dass nicht
klar ist, was einen von uns von etwas Anderem überzeugen könnte...
„Was ist denn so lustig, Baron?“ fragte der Zweite Staatssekretär hochmütig.
„Oh nichts, nur ein lustiger Gedanke... Aber wir reden hier sowieso schon zu lange, man erwartet Euch doch sicher im Büro. Ein einfacher Reisender wie ich sollte solch eine wichtige Person
nicht zu lange von der Arbeit abhalten. Ich danke Euch für das erbauliche Gespräch. Und wenn
es Euch nicht zu viel Mühe bereitet, richtet dem guten Alkabir bitte folgendes aus – wörtlich,
ohne Zusätze – dass ich seine Entscheidung, eindeutig den Zweiten Staatssekretär Gagano als
Ansprechpartner auszuwählen, voll und ganz verstanden habe und gutheiße, aber dass ich leider nicht glaube, dass man bei den Kleingeistern in der Küstenstraße 12 solche Feinheiten
schätzen wird...“
Bei der Erwähnung der Botschaft Gondors brach Tangorn ab, denn sein Gesprächspartner begann bei der Erwähnung, sich verstohlen umzusehen (als erwarte er, am Nebentisch ein paar
Geheimwächter Seiner Majestät in der vollen schwarzen Paradeuniform zu sehen, die Folterinstrumente auf dem Tischtuch bereitgelegt) und rannte Entschuldigungen murmelnd die Tür
153
hinaus. Ein einzelner, wie ein Kaufmann gekleideter Mann, der an einem Nebentisch in den
Verzehr eines Tellers Seeigeleier vertieft war, sah den Baron mit einer passenden Mischung
aus Verwirrung, Unsicherheit und Furcht an. Dieser lächelte zurück, zeigte in Richtung des
flüchtenden Staatsbeamten, zuckte aufrichtig mit den Schultern und drehte traurig einen
Zeigefinger an der Schläfe. Dann zog er die abkühlende Austernplatte näher (warum das gute
Essen verschwenden?), zog geübt aus einer der scheinbar unbezwingbaren Festungen das
weiche Innenleben und verlor sich in Gedanken.
Das große Haus in der Küstenstraße, das jetzt die Botschaft des Wiedervereinigten Königreiches beherbergte (auch wenn man es besser als Abteilung Umbar der Geheimwache bezeichnen sollte), hatte zu Recht einen höchst zweifelhaften Ruf unter der Bürgerschaft. Minas Tirith
betrachtete die bevorstehende Besetzung von Umbar als beschlossene Sache und bezeichnete
es lediglich als 'Piratennest auf den angestammten Ländern des südlichen Gondor.' Der Botschafter bereitete sich insgeheim darauf vor, den Gouverneursposten zu übernehmen, und das
Personal des Spähpostens führte sich schon auf, als gehöre ihnen die Stadt. Sie nannten sich
'Spione' und waren doch nicht mehr als eine Schlägerbande; im Vergleich zu ihnen fühlte sich
Tangorn wie ein edler Bandit der alten Schule unter einer Horde minderjähriger Kleinkrimineller. Verschwundene Personen und gefolterte Leichen in den Kanälen waren Alltag geworden; bis vor kurzem hatten die Umbarer sich noch damit beruhigen können, dass es sich fast
ausschließlich um Einwanderer aus Mordor gehandelt hätte, aber der kürzlich erfolgte Mordanschlag auf den berühmten Admiral Carnero hatte diese Blase zum Platzen gebracht.
Anders ausgedrückt war Aragorns Botschaft eine bekannte Einrichtung, kein Zweifel, aber
dass allein die Erwähnung einen hochrangigen Beamten in offiziellem Auftrag so in Panik versetzen kann... nein, hier ist was faul. Außer... außer der Kerl hat für die Gondorer gearbeitet!
Aha! Er dachte also, ich hätte ihn durchschaut und wolle ihn ans Messer liefern. Meine Güte,
was für ein wohlwollender Scherz, ein absoluter Glückstreffer! Aber Aragorns Leute haben zur
Zeit ein ziemlich dünnes Nervenkleid, warum wohl? Wo sollte ich wohl in dieser Stadt einen
Verräter melden, wo die Polizei entweder vollständig gekauft oder eingeschüchtert ist und die
Botschaft von Gondor der Verwaltung der Stadt direkte Befehle erteilen könnte, wenn sie wollte? Ja, es gibt noch den örtlichen Geheimdienst und das Militär, aber auch die führen sich komischerweise auf, als hätte nichts von dem, was passiert, mit ihnen zu tun... ach was soll's, zur
Hölle mit diesem Gagano, ich habe im Moment genug eigene Probleme! Schlimm genug, dass
meine bescheidene Person jetzt von Interesse für die Spione Gondors ist.
Teufel auch! dachte er, und plötzlich verlor der Wein jeden Geschmack. Wieso denken alle, ich
sei hier her gekommen mit der Ernennungsurkunde zum Botschafter des Fürstentums Ithilien
in die Hose eingenäht und dem Angebot eines Beistandspakts? Nun gut, nehmen wir an, meine
Landsleute wollen mir eine wohlwollende Warnung zukommen lassen, dass ich keinen offiziellen Kontakt mit den Behörden der Republik aufnehmen soll. Nun, ich werde diese Warnung
wie ein heiliges Gebot befolgen, schließlich hat es nichts mit meinen Plänen zu tun. Ach, es
wäre aber auch zu schön, allen die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die absolute
Wahrheit verkünden zu dürfen: Jungs, dieses ganze Umbar - Gondor - Durcheinander interessiert mich nicht die Bohne! Ich habe etwas ganz anderes zu tun: ich soll binnen drei Wochen
Kontakt mit dem geheimen Netzwerk der Elben hier aufnehmen und habe dafür nur einen Namen aus dem Brief eines gewissen Eloar - Elandar...
Tangorn trank seinen Wein aus, warf seine letzte umbarische Silbermünze mit dem hochnäsigen Profil Castamirs darauf auf den Tisch (Sharya-Rana hatte ihnen mehrere geheime Geldverstecke offenbart, aber er wollte lieber nicht mit den goldenen Dungans aus Mordor zahlen)
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und strebte zum Ausgang, leicht hinkend. Der Seeschneckenliebhaber am Nebentisch beendete ebenso sein Mahl und putzte sich ohne Eile erst die Finger und dann die Lippen (dünne
Lippen, durch eine Unzahl kleiner Narben rundum verunstaltet) mit einem Taschentuch Achtung! Drei Matrosen saßen bei einem Muscheleintopf am Tisch rechts von der Türe, einer
von ihnen öffnete beiläufig eine Flasche roten Barangar an der Tischkante - Fertig! Tangorn
wäre binnen sechs oder sieben Sekunden an der Türe, und mehr Zeit brauchte Mungo, Leutnant der Geheimwache, nicht, um zu entscheiden, ob er improvisieren und den Baron gleich
jetzt einfangen sollte oder sich an den sorgfältig ausgetüftelten Plan halten sollte. Wer hätte
auch gedacht, dass sein Agent Gagano alles so spektakulär vermasseln würde?
Er hätte Tangorn nur im Namen des Außenministeriums klarmachen sollen, dass seine offizielle Anerkennung zur Unzeit käme (der Leutnant hatte absolut kein Bestreben, den Diplomaten einer fremden und dem Namen nach verbündeten Macht zu entführen); und das hatte der
Zweite Staatssekretär auch ganz gut hinbekommen. Leider war er ein Angsthase (sogar seine
Rekrutierung war durch Erpressung wegen absolut unwichtiger Vergehen zustande gekommen), und Mungos Befehl, diesen Einsatz vor seinem Führungsoffizier in der Station geheim
zu halten, hatte den Umbarer in Panik versetzt. Ihm war glasklar, dass in der Küstenstraße 12
solche 'Vergesslichkeit' als doppeltes Spiel ausgelegt werden würde, mit allen entsprechenden
Folgen. Gagano bibberte vor Angst beim bloßen Gedanken an seine beiden Meister aus Gondor
und zerbrach deshalb nach Tangorns Schuss ins Dunkle.
Nein, nichts überstürzen, dachte Mungo bei sich. Noch ist nichts schlimmes passiert. Gut, der
Baron hat bemerkt, dass sein Kontakt mit Gondors Spionen Verbindung hat, aber das wird er
als Wunsch Minas Tiriths auslegen, Emyn Arnens diplomatische Aktivitäten im Auge zu behalten... Schön, lassen wir ihn gehen und halten uns an den ursprünglichen Plan. Der Leutnant
steckte das Taschentuch in die Tasche zurück - statt es auf den Tisch zu werfen - und Tangorn
kam ohne Hindernisse an den Matrosen an der Türe vorbei. Er mischte sich unter das Volk auf
der Straße und machte sich gemächlich auf Richtung Wasserseite; er suchte zweimal nach
Überwachung, aber fand niemanden.
Es gab auch keine: Mungo hatte vernünftigerweise angenommen, das wichtigste sei, das Wild
nicht aufzuscheuchen. Noch ein paar Stunden, und sie könnten ihr Vorhaben in Ruhe durchführen, wenn sie zwei echte umbarische Polizeiuniformen bekommen würden. Heute Abend
würde eine Polizeistreife den Glücklichen Anker betreten, einen ordnungsgemäßen Haftbefehl
vorlegen und ihn bitten, aufs Revier mitzukommen, um seine Aussage aufzunehmen... und der
Baron würde nicht sterben, bevor er ihnen sein ganzes Wissen über die Erfolge des Geheimdienstes von Ithilien bei der Jagd nach Mordors Technologie offengelegt hatte.
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Kapitel 37
Niemand wird wohl je herausfinden, wann diese lange, gebirgige Halbinsel und die flachen
Sumpfinseln in der eingeschlossenen Bucht zuerst besiedelt wurden. Aber in jedem Fall ist es
so: Wo die Einwohner des Wiedervereinigten Königreiches das Wort 'Numenor' niemals ohne
einen ehrfürchtigen Blick gen Himmel, ein ehrfürchtiges Seufzen und einen erhobenen Zeigefinger in den Mund nehmen, kratzt sich das Volk Umbars aufrichtiger weise den Kopf: "Numenorer? Ach, wer kann sich schon all diese Barbaren merken! Wisst ihr, wie viele von der Art
wir schon hier hatten?" Umbar verdankt sein Los als große Seemacht zwei Umständen: einen
hervorragend eingeschlossenen Hafen und die Tatsache, dass der höchste Punkt auf der Halbinsel bei 5.356 Fuß über dem Meeresspiegel liegt: die einzigen richtigen Berge an der ganzen
Küste südlich des Anduin. In diesen trockenen Breiten bedeuten Berge Wälder, und Wälder
Schiffe, und Schiffe Seehandel, der hervorragend mit Kaperfahrern und - seien wir ruhig ehrlich - offener Piraterie zusammenpasst. Zu dieser Mischung nehme man noch eine unglaublich
vorteilhafte Lage in der Mitte von allem: So bekommt man einen richtigen Kreuzweg der Welt,
einen idealen Handelsplatz und Endpunkt aller Karawanenstraßen aus den Ländern des Ostens.
Eine solide Verteidigungslinie auf dem Isthmus von Chevelgar, wo die Halbinsel in das Festland übergeht und eine überlegene Flotte auf der Wacht gegen feindliche Landungsversuche
machten Umbar unangreifbar, was die Tatsache, dass es ständig von allem und jedem erobert
wurde, um so verwirrender macht. Um genau zu sein, wendete Umbar jeden drohenden Angriff dadurch ab, dass es den Angreifer als Lehnsherr anerkannte und Tribut zahlte, da sie vernünftigerweise annahmen, ein Krieg, egal ob gewonnen oder nicht, käme ihre Handelsrepublik wesentlich teurer zu stehen. Man könnte dieses Verhalten mit dem eines Kaufmanns vergleichen, der Schutzgeld bezahlt, und das weder mit Freude noch mit unpassender Aufregung.
Er schlägt die Kosten einfach auf seine Preise auf und ignoriert, zu welcher Bande seine 'Partner' gehören; Hauptsache sie veranstalten keinen Bandenkrieg in der Nähe seines Ladens.
Auf dem Festland folgten großartigen Schlachten lange Belagerungen; legendäre Herrscher
(immer darauf aus, neue Länder zu erobern, statt klüger darüber zu herrschen, was sie hatten) waren immer wieder versucht, ihre Schatzmeister enthaupten zu lassen für ihre Frechheit, die grandiosen Höhenflüge königlichen Glanzes zu unterbrechen mit ihrem kleinlichen
"Die Schatzkammern sind leer, Hoheit, und die Armee ist seit dem letzten September ohne
Sold!" - oder kürzer gesagt: Das Leben ging weiter. Währenddessen arbeiteten die Umbarer
hinter den Befestigungen von Chevelgar an der Verschönerung ihrer Sumpfinseln, verbanden
sie mit Dämmen und Brücken und teilten sie mit Kanälen. Die Riesenstadt, die sich aus der
blauen Lagune erhob, galt zu Recht als die schönste von Mittelerde: ihre Kaufleute und Bankiers schwammen im Geld, und deshalb arbeiteten hier seit über vier Jahrhunderten die besten Baumeister und Bildhauer Tag und Nacht.
Irgendwann in den letzten dreihundert Jahren war Umbar so mächtig geworden, dass es niemandem mehr Tribut schuldig war. Als absolute Seemacht verlegten sie sich stattdessen auf
ein Wechselspiel aus verschiedenen vorübergehenden Verteidigungsbündnissen: Mal mit
Mordor gegen Gondor, dann mit Gondor gegen Mordor, dann wieder mit Khand gegen beide.
Allerdings änderte sich die Lage dramatisch im letzten Jahr: Mordor ging unter (wobei Umbar
tatkräftig mithalf, indem es Aragorn eine Landungsflotte im entscheidenden Moment verschafft hatte, um einen lästigen Konkurrenten im Karawanenhandel für immer loszuwerden),
Khand wurde von einem Glaubenskrieg entzwei gerissen und hatte keinerlei Einfluss in den
Küstenregionen, und im Süden erhob sich eine neue Bedrohung, mit der man nicht verhandeln
156
konnte: die Haradrim. Und so fand sich die Republik in der Zwickmühle zwischen Wilden im
Süden und Barbaren im Norden. Der Senat entschied sich für letztere, in der Hoffnung, sich
hinter Aragorns Schwertern vor dem Einmarsch der Haradrim zu verstecken. Allerdings war
es klar wie Kristall, dass dieses Mal das Schutzgeld die direkte Besetzung des kleinen Landes
durch den 'großen Nachbarn aus dem Norden' bedeuten würde. Und nicht wenige Bürger
vertraten die Ansicht, dass die Unabhängigkeit und die bürgerlichen Freiheiten Umbars es
wohl wert waren, dass man sie mit ihrem Leben verteidigte.
Allerdings verweilten die meisten Einwohner der Stadt nicht bei diesen traurigen Tatsachen,
oder sie versuchten wenigstens, es nicht zu tun. Das fröhliche, weltoffene Umbar mit seinen
unbeholfenen und zutiefst korrupten Behörden lebte sein alltägliches Leben auf der Kreuzung
der Welt. Hier gab es Tempel aller drei großen und hunderter kleinerer Religionen, hier konnte ein Kaufmann einen erfolgreichen Abschluss in einem Restaurant bei seiner heimischen Küche feiern. Hier sammelten, handelten und stahlen Diplomaten und Spione aus Ländern, von
denen im Wiedervereinigten Königreich nie jemand gehört hatte, Informationen; im Gegenzug
interessierten sich diese auch nicht für das verschneite Niemandsland über dem Anduin. Hier
bekam man jede Ware, die Ardas Erde, Wasser, Minen oder Hirne und Hände je hervorgebracht hatten: merkwürdige Früchte und seltene Arzneien und Rauschmittel, Kronen aus Platin besetzt mit bekannten vendotenischen Edelsteinen ebenso wie Krummschwerter aus Mordor, die Steine spalten und die man sich doch wie einen Gürtel um die Hüften winden kann,
übergroße versteinerte Zähne (angeblich von Drachen und mit magischen Eigenschaften) und
Handschriften in toten Sprachen. Man denke nur an den alten Witz: Gibt es den Einen Ring
wirklich? Nein, sonst hätte man ihn auf dem Markt von Umbar gefunden. Und wie sich das
Blut hier vermischte, welche unglaublichen Schönheiten immer wieder aus diesem Schmelztiegel aller Menschen auftauchten! Jedes Mal, wenn Tangorn vom Fischmarkt zum Drei-Sterne
– Deich lief, zählte er mindestens ein halbes Dutzend solcher unwiderstehlicher Schönheiten.
Er blieb bei einem bekannten Weinausschank stehen, für ein Glas seines bevorzugten Goldmuskats. Seine Süße und Herbheit wiegen einander so vollkommen auf, dass der Geschmack
als ganzes zu verschwinden scheint und der Wein zu körperlich gewordenem Aroma zu werden scheint, vorgeblich einfach und irgendwie auch roh, aber tatsächlich aus einer Vielzahl
Schattierungen geflochten - mit unzähligen Hinweisen und Bedeutungen. Lass ihn etwas auf
der Zunge verweilen und du siehst die topasfarbenen Beeren, warm von der Nachmittagssonne, leicht gesprenkelt vom Kalksteinstaub, den blendend weißen Pfad durch den Weinberg;
und schon formen sich die betörenden umbarischen Sechszeilenverse - Takatos - wie von
selbst aus dem Abenddunst...
Merkwürdig, wirklich merkwürdig, dachte er, während er auf die Straße zurückging (noch
eine Überprüfung - immer noch keine Verfolger), aber er hatte immer geglaubt, dass die volle
Wertschätzung des Geschmack dieses Zaubertranks ihm das volle Verständnis für die Seele
der Stadt, die ihn hervorgebracht hatte, bringen würde. Umbar - das wundervolle, verfluchte,
sanfte, launische, spöttische, verdorbene, immer echte Intimitäten vermeidende Umbar... Eine
Schlampe von unendlicher Schönheit und unglaublichem Zauber, die einem einen Liebestrank
einflößte, um anschließend offen mit allen und jedem vor deinen Augen zu kuscheln, die einen
nur wählen ließ, ob man sie umbringen wolle oder sie so nahm, wie sie war. Er hatte letzteres
getan, und nun, nach vier Jahren Abwesenheit, war er sich sicher: Baron Tangorns Lebenszeit
in Gondor war nichts als ein ausgedehntes Missverständnis, denn seine wahre Heimat war
hier...
157
Er hielt an der Brüstung an, lehnte sich an den warmen, rosafarbenen Sandstein, ließ seinen
Blick schweifen über den majestätischen Anblick beider Buchten Umbars - Kharmia und
Barangar - und dann wurde ihm plötzlich klar: hier war er Baron Grager an seinem ersten Tag
in Umbar begegnet! Der Ansässige hatte sich Tangorns Vorstellung angehört und hatte dann
kühl gesagt: "Faramirs Empfehlungen sind mir völlig egal. Junge, ich gebe dir mindestens
sechs Monate lang keine richtige Arbeit. Bis dahin musst du die Stadt besser kennen als die
Polizei, beide hiesigen Sprachen akzentfrei beherrschen und Kontakte in alle Gesellschaftsschichten haben - vom Senator zum Straßengauner. Soviel nur zum Anfang. Wenn du versagst,
kannst du heimgehen und wieder Übersetzungen machen, das kannst du ganz gut." Ja, alles
kommt irgendwann zurück...
War er zum Einheimischen geworden? Das scheint unmöglich... Aber wie auch immer, er lernte, Takatos zu verfassen, die sogar von Kennern geschätzt wurden, Schiffstakelagen zu unterscheiden, und sich mühelos mit kharmischen Schmugglern in ihrem bunten Patois zu unterhalten. Er könnte immer noch mit verbundenen Augen eine Gondel durch das Wirrwarr der
Kanäle in der Altstadt lenken; er erinnert sich immer noch an mindestens ein Dutzend offener
Hinterhöfe und ähnlicher Plätze, wo man auch die größte Verfolgergruppe abschütteln kann...
Er hatte ein solides Agentennetz hier aufgebaut, und dann hatte er noch Alwiss - diese Stadt
hatte vor ihr keine Geheimnisse... Oder hatte vielleicht eher sie ihn?
Alwiss war die glänzendste aller Kurtisanen Umbars. Von ihrer Mutter aus Belfalas, dem ein
bescheidenes Hafenbordell namens Sirenenkuss gehört hatte, hatte sie saphirgrüne Augen und
Haare wie helles Kupfer geerbt, was jeden Südländer sofort verrückt machte; von ihrem Vater
- einem Piratenkapitän, der an einer Rah baumelte, als sie gerade mal ein Jahr alt war - einen
männlichen Verstand, einen unabhängigen Sinn und eine Neigung zu wohlüberlegten Risiken.
Diese Mischung von Eigenschaften ermöglichte ihr den Aufstieg aus den Hafenbaracken ihrer
Geburt bis zu einem eigenen Anwesen in der Jasperstraße, wo sich die höchsten Kreise der Republik versammelten. Alwiss' Aussehen verursachte regelmäßig den Ehefrauen und offiziellen
Mätressen der hohen Beamten Magenschmerzen, ihr Körper hatte für drei große Gemälde Modell gestanden und hatte mindestens ein Dutzend Duelle ausgelöst. Eine Nacht mit ihr kostete
entweder ein Vermögen oder nichts als eine Kleinigkeit wie ein gut gemachtes Gedicht.
Genau so war es Tangorn ergangen, der einmal in ihrem Salon gestanden hatte (er hatte sich
mit einem Sekretär der Botschaft von Khand bekannt machen wollen, der ein Stammgast war).
Als die Gäste begannen zu gehen, stellte die Schönheit sich dem komischen nordischen Barbaren entgegen und redete ihn mit Empörung (die aber vom Anflug von Gelächter in ihren Augen Lügen gestraft wurde) an:
"Man sagt, Baron, Ihr hättet behauptet, mein Haar sei gefärbt!" Tangorn öffnete schon den
Mund, um diese ungeheuerliche Anschuldigung zurückzuweisen, aber er bemerkte gleichzeitig, dass das nicht das war, was von ihm erwartet wurde. "Ich versichere Euch, ich bin von Natur aus blond. Wollt Ihr Euch selbst überzeugen?"
"Was, jetzt sofort?"
"Nun, wann sonst?" Sie nahm ihn beim Arm und marschierte mit ihm vom Wohnraum in die
inneren Gemächer, geradezu schnurrend: "Sehen wir doch mal, ob du im Bett ebenso gut wie
auf dem Tanzparkett bist..."
158
Offenbar war er sogar noch besser. Bis zum Morgen hatte Alwiss sich bedingungslos ergeben
und hielt sich in den folgenden Jahren recht strikt daran. Was Tangorn anging, war es für ihn
anscheinend erst einmal ein aufregendes Abenteuer zu sein; der Baron bemerkte erst, dass
diese Frau insgeheim mehr von seinem Herzen erobert hatte als er sich leisten konnte, als sie
ihre bekannt großzügige Aufmerksamkeit auf den jungen Sohn des Senators Loano richtete einen hohlköpfigen Schönling mit einer Vorliebe für das Verfassen klebrig süßlicher Verse. Das
daraus folgende Duell brachte die ganze Stadt zum Lachen (der Baron hatte nur mit der flachen Seite seines Schwerts zugeschlagen und es wie eine Keule verwendet, so dass der Jüngling nur ein paar riesige blaue Flecken und eine Gehirnerschütterung davongetragen hatte),
ließ Grager vor Wut schäumen und stürzte den Geheimdienst von Umbar in tiefste Verwirrung: So darf sich ein Spion doch nicht aufführen! Tangorn nahm die Standpauke seines Vorgesetzten gleichmütig auf und bat nur um seine Versetzung weg von Umbar - nach Khand, vielleicht.
Irgendwie hatte er keine zusammenhängenden Erinnerungen an das Jahr, das er in Khand verbracht hatte: nur die sonnengebleichten Lehmziegelwände, fensterlos wie die stets verschleierten Gesichter der Frauen dort, der Geruch von überhitztem Baumwollöl, der Geschmack glühend heißen Fladenbrots (das nach Abkühlen sowohl im Geschmack wie auch in der Konsistenz an Mörtel erinnert) und das allgegenwärtige Wimmern der Zurna über allem, wie das lästige Summen einer Riesenmücke. Der Baron suchte Vergessen von Alwiss in der Arbeit - und
bemerkte, dass die klebrigen Liebesbezeigungen der örtlichen Schönheiten das nicht schafften. Merkwürdigerweise sah er keinen Zusammenhang zwischen seinen Berichten und Gragers plötzlichem Befehl, nach Umbar zurückzukommen. Aber es stellte sich heraus, dass eine
seiner beiläufigen Ideen (die aus seiner Untersuchung des echten Handelsaufkommens zwischen Mordor und den Ländern über dem Anduin stammte) Grager so fruchtbar erschienen
war, dass dieser sie persönlich weiterverfolgen wollte, direkt dort, in Khand. Zu Tangorns vollständiger Verblüffung ernannte ihn Grager zum Zellenleiter in Umbar: "Leider gibt es keinen
besseren; außerdem weißt du, wie man im Süden sagt: Schwimmen lernt man nur, wenn man
schwimmt."
Am nächsten Tag schon fand ihn eine Frau in einer schillernden Khandi - Burka, hob gnädig
den Schleier und sagte mit einem scheuen Lächeln, das ihn völlig aus der Fassung brachte:
"Hallo, Tan... lach ruhig, aber ich habe schon so lange auf dich gewartet. Und wenn ich muss,
auch noch länger."
"Ehrlich? Du bist wohl Priesterin von Valya-Vekte geworden," grummelte er, wobei er verzweifelt versuchte, aus diesen verfluchten saphirfarbenen Tiefen freizukommen.
"Valya-Vekte?"
"Wenn ich mich nicht irre, ist sie die Göttin der Jungfräulichkeit im Götterhimmel der Aritani.
Der Tempel ist nur drei Querstraßen von deinem Haus weg, also wird der Gottesdienst nicht
zu mühevoll sein..."
"Davon rede ich nicht," schüttelte sie die Bemerkung ab. "Ja, ich habe mit einigen Leuten geschlafen im vergangenen Jahr, aber das war rein geschäftlich." Dann sah sie ihn direkt an und
feuerte eine Breitseite: "Aber Tan, du weißt, du solltest dir nichts vormachen; die sogenannten
anständigen Leute würden deine Arbeit genau so unanständig finden wie meine - ich rede von
deiner richtigen Arbeit hier."
159
Das musste er eine Weile schweigend verdauen, bevor er die Kraft zu lachen fand: "Da hast du
mich erwischt, Alli!" Mit diesen Worten legte er die Hände auf ihre Taille, als wolle er sie im
Tanz herumdrehen: "Und mögen sie alle zur Hölle fahren!"
Sie lächelte traurig: "Damit habe ich nichts zu tun, und du auch nicht... wir sind aneinander gekettet, und dagegen kann man nichts machen."
Es war bei den Göttern die absolute Wahrheit. Sie trennten sich mehrfach, manchmal auf lange
Zeit, aber begannen immer wieder am selben Ort. Seine Begrüßung bei der Rückkehr fiel unterschiedlich aus: Mal reichte ein Blick aus, um den Raum zum Gefrieren zu bringen, mal war
es, als wäre Arda bis zum Kern aufgesprungen und eine Flammensäule des Ewigen Feuers
spränge hervor, mal strich sie ihm seufzend über die Wange: "Komm rein. Du siehst so mager
aus, willst du was essen?" - die perfekte Hausfrau, deren Ehemann nach einer Geschäftsreise
heimkommt. Beide wussten mit absoluter Gewissheit, dass sie beide tödlich vergiftet worden
waren und nur der andere ein Gegengift hatte, wenn auch nur ein einstweiliges.
160
Kapitel 38
Natürlich war Tangorns Leben in Umbar nicht auf Liebeshändel beschränkt. Es muss angemerkt werden, dass die Verantwortung, die die Profession des Barons mit sich brachte, seine
Beziehung mit Alwiss auf bestimmte Art prägte. Seit sie ihm offenbart hatte, dass sie um das
Geheimnis seiner eigentlichen Geschäfte wusste, hatte er eigentlich geglaubt, sie habe Verbindungen zum Geheimdienst von Umbar. Allerdings musste er etwas völlig anderes feststellen,
als er ihr zwei Mal Informationen für seine 'Kollegen' gab, die diese aber nie erreichten; beim
zweiten Mal hätte diese Verwechslung beinahe eine wohl geplante Operation ruiniert.
"Alli, warum, glaubst du, interessiert sich euer Geheimdienst so wenig für mich, dass sie nicht
mal dich zur Überwachung anstellen?"
"Das haben sie, gleich nach deiner Rückkehr. Ich habe sie abblitzen lassen."
"Das muss doch Ärger gegeben haben..."
"Nicht wirklich, Tan, bitte denk nicht mehr daran."
"Vielleicht hättest du ja sagen sollen, wenn auch nur zum Schein."
"Nein. Ich will das nicht, nicht einmal scheinbar. Weißt du, um seinen Geliebten auszuspionieren, muss man ein Mensch von herausragender Moralität sein, mit tief verwurzeltem Bürgersinn. Und ich bin nur eine Hure, der das alles abgeht... Reden wir lieber nicht mehr darüber."
Diese Entdeckung verschaffte dem Baron den Geistesblitz, Alwiss' zahllose Verbindungen für
seine eigene Wissenssammlung einzusetzen - keine Staatsgeheimnisse (da sei Gott vor!), sondern öffentliche Informationen. Er und Grager waren nicht interessiert an den neuen Kriegsschiffen, die die Republik baute oder am Rezept für 'Umbarer Feuer' (eine geheimnisvolle
Flüssigkeit, die mit großem Erfolg bei Belagerungen und Seeschlachten eingesetzt wurde).
Eher an Alltäglichem, wie das Ausmaß des Karawanenhandels und die Preisschwankungen auf
den Lebensmittelmärkten zwischen Umbar und Barad-Dur. Von großem Interesse für den Baron waren auch die technischen Neuerungen, die mehr und mehr die Zivilisation in Mordor
ausmachten und die er immer schon aufrichtig bewundert hatte. Erstaunlicherweise war es
Faramirs Trupp von halben Amateuren (die, was man hier zufügen sollte, nicht im Staatsdienst waren und all die Jahre nicht ein Kupferstück aus der Schatzkammer Gondors bekommen hatten), der intuitiv eine Arbeitsweise übernommen hatte, die moderne Geheimdienste
erst seit kurzer Zeit anwenden. Man weiß, dass heutzutage nicht der säbelrasselnde Geheimagent mit Mikrokamera und schallgedämpfter Pistole die wichtigsten Informationen bringt,
sondern Analytiker, die sorgfältig Sammlungen aus Zeitungen, Börsenberichten und anderen
öffentlich zugänglichen Quellen zusammenstellen.
Während Tangorn auf einen Vorschlag von Alwiss hin die Arbeit umbarischer Geldmänner untersuchte (wogegen die Magie des Weißen Rates ein Kinderspiel war), wurde Grager zu Algoran, Kaufmann der zweiten Gilde, und gründete eine Gesellschaft in Khand, die Olivenöl nach
Mordor ausführte und im Gegenzug Hochtechnologie erhielt. Das Handelshaus Algoran und
Partner florierte; mit dem Finger immer am Puls der örtlichen Landwirtschaftsmärkte weitete
die Firma ihren Marktanteil stetig aus und konnte sogar eine Zeit lang die Einfuhr von Datteln
dominieren. Der Geschäftsführer mied jeden Besuch der Zweigstelle in Barad-Dur (es gab keinen Grund, zu glauben, die Gegenspionage Mordors sei inkompetent), aber das war in seiner
161
Position auch nicht nötig: ein Befehlshaber gehört nicht an die Frontlinie, sondern auf den
nächsten Hügel.
Das Ergebnis all dieser Bemühungen war ein zwölfseitiges Dokument, das von Historikern
heute als 'Grager - Memorandum' bezeichnet wird. Aus den wachsenden Profitspannen im Karawanenhandel (denen die Aktien- und Warenbörsen von Umbar und Barad-Dur folgten), der
Vorlage mehrerer Schutzgesetze im Parlament Mordors durch die Agrarlobby (als Folge der
stark steigenden Produktionskosten im heimischen Anbau) und einem guten Dutzend anderer
Faktoren folgerten Grager und Tangorn schlüssig, dass Mordor mit seiner Abhängigkeit vom
Import keinen längeren Krieg führen könne. Durch seine vollständige Abhängigkeit vom Karawanenhandel mit seinen Nachbarn (was in einem Krieg absolut nicht aufrecht zu erhalten
war) war es an erster Stelle an Frieden und Stabilität in der Region interessiert und deshalb
auch keine Bedrohung für Gondor. Andererseits war die Sicherheit der Handelslinien für Mordor überlebenswichtig. weswegen jede Bedrohung dieser Routen in Mordor eine harsche und
wohl wenig überlegte Reaktion provozieren würde. Die beiden Spione schlossen: "Sollte jemand Mordor einen Krieg aufzwingen wollen, müsste er nur die Handelskarawanen auf der ithilischen Hochstraße terrorisieren."
Diese Erkenntnisse brachte Faramir in eine Sondersitzung des Kronrats ein, in einem weiteren
Versuch, mit Tatsachen zu beweisen, dass die vielbeschworene 'Gefahr aus Mordor' ein Märchen war. Wie immer lauschte der Rat respektvoll, verstand überhaupt nichts, und entschied
in der Sache mit einer Ansprache an den Prinzen mit den inzwischen üblichen An- und Abweisungen. Das ließ sich auf zwei Punkte reduzieren: "Ehrenmänner lesen nicht die Post des anderen" und "Eure Spione sind faul geworden und leisten keine richtige Arbeit". Danach wurde
das Grager - Memorandum ins Archiv verbannt, wo es mit den anderen Berichten von Faramirs Aufklärungsdienst Staub ansetzte - bis es Gandalf bei einem Besuch in Minas Tirith auffiel...
Als der Krieg genau nach ihrem Drehbuch begann, musste Tangorn voll Abscheu feststellen,
dass das alles sein Werk gewesen war.
"...'Die Welt steht geschrieben', oder, Mann - genau so wie es dir gefällt. Wo liegt das Problem?"
grinste Grager hölzern und schenkte sich noch einen Tequila oder ähnlichen Fusel mit zittrigen Händen ein.
"Aber wir haben einen anderen Text geschrieben, wir beide, einen vollkommen anderen!"
"Was meinsn du - anders? Mein lieber Schöngeist, ein Text existiert nur im Zusammenspiel mit
seinem Leser. Jeder hat seine eigene Geschichte von Prinzessin Allental, und was Alrufin selbst
damit sagen wollte, ist vollkommen egal. Wir haben wohl ein echtes Kunstwerk geschaffen,
denn die Leser," hier wedelte er mit einem Finger neben dem Ohr, so dass man nicht sagen
konnte, ob er den Kronrat oder wirklich Höhere Mächte meinte, "haben es auf diese ziemlich
unerwartete Art gelesen."
"Wir haben sie verraten... man hat uns reingelegt wie Schulbuben, aber das ist keine Ausrede wir haben sie verraten..." wiederholte Tangorn und starrte auf den Boden seines Glases.
"Jep - das ist keine Ausrede... noch einen?"
162
Er wusste nicht mehr, welcher Tag ihrer Sauftour es war - sie betrachteten sich außer Dienst
und zählten nicht mit. Sie hatten angefangen, als die Kriegsbotschaft den Vorstand von Algoran und Partner erreicht hatte und im Galopp nach Umbar gestürmt kam, was mehrere Pferde
verschliss, um von ihm Details zu erfahren. Merkwürdigerweise hatten sie getrennt voneinander beide die Fassung bewahrt, aber jetzt, wo sie sich in die Augen sahen, wussten sie es beide
- das war das Ende von allem, was ihnen etwas bedeutete, und sie hatten es selbst ruiniert.
Zwei wohlmeinende Trottel... Dann kam der alptraumhafte, verkaterte Morgen, an dem er erwachte, weil Grager einen Eimer eiskaltes Wasser über ihm ausleerte. Grager sah aus wie üblich, schnell und trittsicher, so dass seine blutunterlaufenen Augen und der seit Tagen nicht gestutzte Bart als Teil einer missglückten Verkleidung durchgehen konnten.
"Hoch!" befahl er kurz. "Wir sind wieder im Geschäft. wir sollen sofort nach Minas Tirith, der
Kronrat braucht Informationen für einen Separatfrieden mit Mordor. Sofort und streng geheim, klar... Verdammt und zugenäht, vielleicht kriegen wir das wieder hin! Seine Majestät Denethor ist ein praktischer Regent, scheint, als brauche er auch diesen Krieg wie ein Fisch einen
Regenmantel."
Sie hatten drei Tage durchgehend an ihrem Papier gearbeitet, fast ohne zu essen oder zu
schlafen und nur mit Kaffee, mit aller Fachkunde und all ihrer Seele - sie durften sich keinen
zweiten Fehler erlauben. Es war ein echtes Meisterwerk: Eine Verschmelzung unanfechtbarer
Logik und todsicherer Eingebung, begründet in tiefstem Verständnis und Wissen über den Osten, geschrieben in brillantem literarischem Stil, der keinen Leser kalt lassen konnte; es war
der Weg zum Frieden mit detailgetreuer Aufzählung aller Gefahren und Fallen auf der Straße
dorthin. Auf dem Weg zum Hafen fand Tangorn noch eine Minute für Alwiss: "Ich muss nach
Gondor - nur kurz, fühl dich bitte nicht alleine!"
Sie wurde blass und entgegnete fast unhörbar: "Du gehst in den Krieg, Tan. Du gehst für lange
Zeit, vielleicht für immer... könntest du dich nicht wenigstens richtig verabschieden?"
"Was redest du da, Alli?" Jetzt war er ehrlich verwirrt. Er zögerte kurz, dann entschied er sich
für einen Sicherheitsverstoß: "Ehrlich gesagt gehe ich, um diesem hirnverbrannten Krieg ein
Ende zu machen. In jedem Fall hasse ich ihn, und ich weigere mich, das Spiel mitzumachen, bei
den Hallen von Valinor!"
"Du gehst in den Krieg," wiederholte sie trotzig, "ich weiß es. Ich werde für dich beten... bitte
geh, ich will nicht, dass du mich so siehst."
Als ihr Schiff an den finsteren, stürmischen Klippen des südlichen Gondors vorbei segelte und
den Anduin hinauf, presste Grager zwischen den Zähnen heraus: "Jetzt stell dir mal vor, wir
laufen in Minas Tirith ein und man starrt uns nur an: 'Wer seid ihr denn? Welcher Kronrat seid ihr irre? Muss ein Witz gewesen sein, euch hat keiner gerufen.'"
Es war kein Witz. Man erwartete sie tatsächlich ungeduldig direkt am Pier von Pelargir: "Baron Grager? Baron Tangorn? Sie sind verhaftet."
Nur ihre eigenen Leute hatten die beiden besten Spione des Westens so übertölpeln können.
163
Kapitel 39
"Also, Baron: Wie genau haben sie ihr Vaterland verkauft, da unten in Umbar?"
"Bei nüchterner Betrachtung hätte ich das vielleicht machen können, aber wer zum Henker
hätte so ein Vaterland denn überhaupt gekauft?"
"Nehmt ins Protokoll auf: Verdächtigter Tangorn gibt zu, geplant zu haben, zum Feind überzulaufen und hat das nur nicht getan, weil sich die Umstände seiner Kontrolle entzogen."
"Ja, genau so: Vielleicht hatte er etwas vor, aber hat es nicht geschafft, auch nur irgend etwas
zu tun. So könnt ihr es hinschreiben."
"Allein die Dokumente in eurem Gepäck reichen für Hängen und Vierteilen aus - all diese
'Wege zum Frieden'!"
"Sie wurden verfasst auf direkten Befehl des Kronrats."
"Das Märchen kennen wir schon. Zeigt uns doch einmal diesen Befehl."
"Verdammt, ich hab mir schon den Mund fusselig geredet deshalb: er kam unter G-Mandat,
und solche Dokumente sind nach dem Lesen sofort zu vernichten!"
"Meine Herren, ich glaube, es ist unter unserer Würde, uns mit den Gebräuchen von Spionen
und Dieben zu befassen..."
Die 'Untersuchung' zog sich nun schon zwei Wochen hin. Es war nicht so, dass die Schuld der
Spione oder das bevorstehende Urteil auf einer Seite in Zweifel gestanden hätten, es war nur
so, dass Gondor ein Rechtsstaat war. Das bedeutete, dass ein nicht mehr begünstigter Adliger
nicht einfach so auf einen königlichen Wink hin aufs Schafott geschickt werden konnte; es gab
Regeln zu befolgen. Das wichtigste war, dass Tangorn sich nie ungerecht behandelt fühlte. Dieses verräterische Gefühl hatte schon so manchen braven und geradlinigen Mann fertiggemacht, so dass er auf nutzloses, erniedrigendes Gebettel bei den Behörden verfiel. Beide Spione würden hingerichtet, nicht aufgrund eines Irrtums oder eines falschen Berichts, sondern
genau wegen dem, was sie getan hatten - den Versuch, einen unnötigen Krieg, den ihr Land
nicht brauchte, zu beenden; alles war ehrenhaft, offen und keiner war schuld daran. Deshalb
wusste Tangorn nicht, was er davon halten solle, als man ihn eines Nachts mit "Raus, Sachen
mitnehmen!" aus der Zelle holte.
Im Büro des Gefängnisses standen er und Grager dem Oberwärter des Gefängnisses von Pelargir gegenüber - und Prinz Faramir in der Uniform einer ihnen unbekannten Einheit. Der Oberwärter war schlecht gelaunt und verblüfft; offenbar zwang man ihn gerade zu einer sehr unbequemen Entscheidung.
"Kannst du lesen?" fragte der Prinz frostig.
"Aber Euer Befehl..."
"Nicht mein Befehl - der königliche Befehl!"
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"Jawohl, mein Herr, der königliche Befehl! Nun, hier heißt es, ihr stellt eine Sondereinheit aus
Freiwilligen zusammen, für gefährliche Sondereinsätze hinter den feindlichen Linien, und dass
ihr ermächtigt seid, Verbrecher zu rekrutieren, wie hier steht: 'auch vom Galgen weg'. Aber
das heißt nicht, dass das auch für solche gilt, die des Verrats und der Zusammenarbeit mit
dem Feind angeklagt sind!"
"Das Gegenteil aber auch nicht. Was nicht verboten ist, ist erlaubt."
"Ja, mein Herr, das ist streng genommen auch wahr." Tangorn schloss aus der Tatsache, dass
ein einfacher Wärter den Thronerben Gondors mit 'mein Herr' statt mit 'euer Hoheit' ansprach, dass es um Faramirs Position nicht gut stand. "Aber das ist ein offensichtliches Versehen! Ich habe schließlich eine Verantwortung... wir sind im Krieg... die Sicherheit des Vaterlandes..." Der Beamte fand etwas Rückgrat wieder, als ihm endlich ein Ausweg einfiel. "Kurz gesagt, ohne schriftliche Genehmigung kann ich das nicht gestatten."
"Natürlich dürfen wir in diesen gefährlichen Zeiten unseren Befehlen nicht Wort für Wort
blind gehorchen - wir müssen sie mit unserem Patriotismus in Einklang bringen... Ihr seid ein
stolzer Bürger, oder?"
"Ja, mein Herr... ich meine Euer Hoheit! Ich freue mich, dass ihr meine Beweggründe
versteht..."
"Dann hör genau zu, Knastratte," fuhr der Prinz im gleichen Tonfall fort. "Sieh dir mein Mandat
an, Abschnitt Vier: Ich kann nicht nur Leibeigene, Kriminelle und dergleichen als Freiwillige
anwerben; ich kann im Namen des Königs jeden Angehörigen einer zum Militär gehörigen Einrichtung zwangsverpflichten, und da gehörst du dazu. Also: Ich gehe entweder mit diesen beiden oder mit dir, und bei den Pfeilen von Oromë, da, jenseits von Osgiliath, wirst du jede Menge Gelegenheit haben, deinen Patriotismus zu beweisen! Was ist dir lieber?"
Sie umarmten sich erst, als die Gefängnismauern schon weit hinter ihnen lagen. Tangorn würde sich ewig an diesen Moment erinnern: er stand mitten auf der finsteren Straße, in plötzlicher Schwäche an die Schulter seines Prinzen gelehnt; seine Augen waren geschlossen und
das Gesicht gen Himmel gedreht; der kalte Nachtwind, vermischt mir dem Rauch der Stadt,
strich darüber... Leben und Freiheit - was braucht ein Mensch da noch mehr? Faramir brachte
sie ohne Verzögerungen über die verdreckten Straßen Pelargirs zum Hafen.
"Verflucht, Männer, warum habt ihr meinen Befehl missachtet, in Umbar unterzutauchen? Und
was war das mit eurem Rückruf hierher?"
"Diesen Befehl von Euch haben wir nie bekommen. Was den Rückruf angeht, dachten wir, Ihr
als Mitglied des Kronrats würdet uns das erklären."
"Zum Kronrat gehöre ich nicht mehr. Sie brauchen keine Friedensapostel."
"Also so sieht es aus... und Euer Regiment - habt Ihr das nur erfunden, um uns rauszuholen?
"Nun... sagen wir mal - nicht nur dafür."
"Da riskiert Ihr aber mächtig Euren Hals."
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"Egal. Ich bin gerade in einer wunderbaren Lage - sie können mich nicht weiter wegschicken
als an die Front, mir aber auch nicht weniger geben als ein Bataillon - also werde ich jeden
Vorteil herauspressen, der da drinsteckt."
Am Hafen suchten sie ein kleines Schiff auf. Zwei unvorschriftsmäßig aussehende Soldaten in
Tarnmänteln dösten direkt am Pier dabei. Sie grüßten Faramir auf entschieden unvorschriftsmäßige Art, sahen die beiden Spione zustimmend an und machten das Schiff segelfertig - in
Tangorns Augen sehr fachmännisch. "Wir gehen vor Sonnenaufgang, Prinz?" "Nun, dass in
dem Befehl keine Regel im Bezug auf Verräter steht, war tatsächlich ein Fehler; würdet ihr gerne bleiben und nachsehen, wann ihnen das auffällt?"
Faramir war geradezu prophetisch - schon am nächsten Morgen brachte ein Bote "Zusatzartikel Nummer Eins zum Königlichen Dekret 3014-227: Die Amnestie für Verbrecher, die das Vaterland zu verteidigen wünschen, erstreckt sich nicht auf diejenigen, die sich Verbrechen gegen den Staat schuldig gemacht haben" nach Pelargir. Um diese Zeit war das Schiff des Prinzen
schon auf halbem Weg zum Hafen von Harlond, wo sich das Regiment Ithilien sammelte. Dort
wären sie aber auch nicht sicher gewesen, doch als die Polizei mit dem Haftbefehl im Lager
der Ithilier auftauchte, erwies es sich, dass die Gesuchten gerade mit einer Kundschaftertruppe über den Anduin gegangen waren - so ein Pech, ihr habt sie um nicht einmal eine Stunde
verpasst! Ja, der Einsatz wird länger dauern - einen Monat, vielleicht länger; nein, die Truppe
arbeitet unabhängig, ohne Kontaktmittel; wenn ihr wünscht, könnt ihr ja selbst über Osgiliath
hinausgehen und sie zwischen all den Orks suchen. Wie bitte? Nun, dann kann ich euch nicht
weiterhelfen, tut mir leid. Feldwebel! Bringt unsere Gäste hinaus, sie haben dringende Geschäfte in Minas Tirith!
Es ist wahr, Krieg entschuldigt alles - binnen kurzen waren die beiden 'Verräterspione' einfach
vergessen angesichts größerer Dinge. Tangorn verbrachte den ganzen Krieg in Ithilien und
kämpfte ohne viel Begeisterung, aber tapfer und geschickt, wobei er seine Soldaten mit allem
schützte, was er hatte - so wie er seine Agenten immer geschützt hatte. Das war auch die
Norm in ihrem Regiment, wo die Beziehungen zwischen Offizieren und Gemeinen entschieden
untraditionell war. Leibeigene kämpften für ihre Freiheit, Banditen für ihre Begnadigung,
Waldhüter, die ihr Leben lang das königliche Wild bewacht hatten, zusammen mit Wilderern,
die eben dieses Wild gejagt hatten, abenteuerlustige Adlige aus Boromirs Kreisen und intellektuelle Adlige aus ihren Vorkriegszirkeln - alle gingen in einer erstaunlichen Mixtur auf, die unauslöschlich von ihrem Demiurgen, Hauptmann Faramir, geprägt war. Wenig überraschend befahl Aragorn die Auflösung des Regiments direkt nach dem Sieg von Pelennor.
Tangorn kam auf eigene Faust nach Mordor, als Privatmensch - ein Mörder, den es an den
Schauplatz seines Verbrechens zurückzieht. Mit der Schlacht von Cormallen bereits beendet
bekam er nur mit, wie die Sieger Barad-Dur plünderten. Sieh nur hin, befahl er sich. Sieh die
Früchte deiner Arbeit, und wage es ja nicht wegzusehen! Dann geriet er zufällig nach Teschgol,
gerade als die 'Aufräumaktion' im Gange war, und er war durchgedreht...
Seit damals lebte er im festen Glauben, dass die Höheren Mächte ihm ein zweites Leben gewährt hatten, aber nur um die bösen Taten, die er unbeabsichtigt in seinem Leben vor Teschgol begangen hatte, zu sühnen und nicht zur freien Verfügung. Die Eingebung hatte ihm damals geraten, bei Haladdin zu bleiben, aber woher sollte er wissen, ob das die rechte Wahl gewesen sei?..
166
Plötzlich wusste er es mit vollkommener, jenseitiger Klarheit: dieses zweite Leben war eine
Leihgabe und kein Geschenk, und die Rücknahme würde erfolgen, wenn er Erfolg bei seinem
Einsatz haben würde. Genau so: wenn er daneben läge (oder so täte), werde er ein hohes Alter
erreichen; wenn er alles richtig machen würde, würde er seine Erlösung bekommen im
Tausch gegen sein Leben. Er hat nur das Recht auf diese unselige Wahl, aber dieses Recht ist
alles, was ihn von Aragorns Leichen unterscheidet.
Dieser letzte Gedanke - an Aragorns Leichen - brachte Tangorn aus seinen Erinnerungen zurück auf die dämmrige Uferstraße. Na gut, betrachten wir die Toten näher. Es wird wohl niemand erfahren, wo sie herkamen (Elben können hervorragend Geheimnisse bewahren), aber
die Schiffe aus Umbar, die diese alptraumhafte Fracht an die Mauern von Minas Tirith gebracht
hatten, waren etwas ganz anderes: sie hatten Eigentümer, Besatzung, Registrierungen und
Versicherungen. Ohne Zweifel hatten die Agenten der Elben auch versucht, dieses Wissen zu
vergraben (es gingen schon Gerüchte um, es sei eine Piratenflotte gewesen, die Pelargir habe
plündern wollen), aber die Geschehnisse sind noch zu jung und vielleicht noch nicht alle Spuren verwischt. Diese Fährten könnten ihn zu denjenigen bringen, die die Schiffe gemietet hatten, und die wiederum zu dem unbekannten Elandar. Sinnlos, die Partie, die er und Haladdin
mit Lorien spielen wollten, weiter unten anzufangen.
Das lustigste daran war, dass ausgerechnet die Agenten Mordors ihm bei der Suche helfen sollten - dieselben, mit denen er und Grager vor vier Jahren angeblich zusammengearbeitet hatten. Wer hätte gedacht, dass er jemals wirklich mit diesen Leuten arbeiten müsse? Vielleicht
hätte er das auch selbst klären können, aber sein Netz war stillgelegt worden und es hätte ihn
mindestens zwei Wochen gekostet, es wieder zu aktivieren. Zeit, die er nicht hat, und die Mordorer sollten jede Menge Material über diese Vorfälle haben, wenn ihr Leiter nicht total unfähig war. Die Frage war nur, ob sie ihm die Informationen geben würden oder ob sie sich überhaupt bei ihm melden würden - er ist für sie nur ein Gondorer, ein Feind... Jedenfalls wird sich
morgen alles aufklären. Sharya-Rana hatte ihnen folgende Kontaktmethode genannt:
geh an einem ungeraden Dienstag (so wie morgen) in die Taverne 'Seepferdchen' am Hafen,
bestelle eine Flasche Tequila und ein Schälchen Zitronenscheiben, bezahle alles mit einer
Goldmünze, sprich mit einem der Matrosen an der Theke über irgendetwas und setze dich
zehn Minuten lang an den Tisch hinten links in der Ecke - dann gehe zum Platz Castamirs des
Großen, wo das Treffen und der Austausch von Passwörtern hinter der am weitesten rechts
liegenden Säule stattfinden wird... Also, sollte er noch ein wenig herumbummeln und dann
langsam zurück zum Hotel?
Jemand sprach ihn an: "Ihr wartet wohl auf eine Dame, edler Herr - kauft ihr doch eine
Blume!" Tangorn sah sich locker um, und ihm stockte kurz der Atem. Das lag nicht daran, dass
das Blumenmädchen die Schönheit in Person gewesen wäre; eher daran, dass ihr Korb voll mit
purpurn - gelben Meotisorchideen war, die um diese Jahreszeit extrem selten waren. Meotis
waren die Lieblingsblumen seiner Alwiss.
167
Kapitel 40
All die Tage hatte er Ausreden gesucht, sie nicht wieder zu sehen - "man hält sich fern von Orten, an denen man einmal glücklich war." Seit ihrer so fehlerlosen Vorhersage, er werde in den
Krieg ziehen, war viel Zeit vergangen und viel Blut geflossen. Keiner von ihnen war geblieben,
was er war, also warum in den Ruinen umher schlendern und sich an Nekromantie versuchen?
So weit er wusste, war Alwiss inzwischen eine ehrbare Dame geworden; ihre brillante Intuition hatte ihr geholfen, auf dem Börsenparkett ein beträchtliches Vermögen anzuhäufen. Verheiratet schien sie nicht zu sein, aber entweder verlobt oder liiert mit einer der Stützen der
örtlichen Geschäftswelt - was zur Hölle hätte sie mit einem ruhelosen und gefährlichem Geist
aus der Vergangenheit anstellen sollen? Doch jetzt lag die ganze undurchdringliche Festungsanlage in Trümmern.
"Was kosten die Blumen, Kleine? Ich meine, der ganze Korb?"
Das Mädchen - wohl kaum älter als dreizehn Jahre - starrte Tangorn verblüfft an. "Ihr seid
wohl nicht von hier, edler Herr? Das sind echte Meotis, die sind teuer."
"Weiß ich." Er grub in seinen Taschen und stellte fest, dass er kein Silber mehr hatte. "Reicht
ein Dungan?"
Plötzlich hatten ihre strahlenden Augen allen Glanz verloren; Verwirrung und Angst blitzten
kurz aus ihnen, dann war da nur noch müder Abscheu. "Eine Goldmünze für einen Korb Blumen ist doch viel zu viel, edler Herr," entgegnete sie leise. "Ich verstehe schon... Ihr wollt, dass
ich mitkomme in Eure Kammer?"
Der Baron war noch nie besonders sentimental gewesen, aber jetzt setzte sein Herz vor Wut
und Bedauern aus. "Sofort aufhören! Bei meiner Ehre, ich möchte nur diese Blumen. Du hast
doch auf diese Art hoffentlich noch nie Geld verdient, oder?"
Sie konnte nur nicken und wie ein Kind schniefen. "Ein Dungan ist so viel Geld für uns, edler
Herr. Mama und Schwesterchen und ich könnten ein halbes Jahr davon leben."
"Dann nimm und lebe davon," grummelte er, während er die Goldscheibe mit dem Bild Saurons in ihre Hand drückte. "Und bete um mein Glück, ich werde es bald nötig haben..."
"Also seid Ihr ein Glücksritter und kein Edelmann?" Jetzt war sie eine wunderbare Mischung
aus Neugier, kindischer Aufgeregtheit und ziemlich erwachsener Koketterie. "Das hätte ich
nicht gedacht!"
"So was in der Art," grinste er zurück, nahm den Korb und machte sich auf in die Jasperstraße,
verfolgt von ihrer silbernen Stimme: "Ihr werdet glücklich sein, Herr Ritter, glaubt mir! Ich
werde mit aller Kraft beten, und es wird erhört werden, glaubt mir!"
Alwiss' alte Hausangestellte Tina öffnete die Türe und schreckte zurück, als stünde ein Gespenst vor ihr. Ah, dachte er, mein Auftauchen kommt vollkommen unerwartet und wird nicht
jedem gefallen. Mit diesem Gedanken strebte er zum Wohnraum und zur Musik, die von dort
herüber zog, hinter sich die Klage der Alten - Tina hatte wohl erkannt, dass dieser Besuch aus
der Vergangenheit kein gutes Ende nehmen würde... Die Gesellschaft im Wohnraum war klein
und erlesen; die Musik, hervorragend gespielt, war die Dritte Sonate von Akvino. Zunächst be168
achtete niemand den Baron, der lautlos im Türrahmen aufgetaucht war, und er hatte einen
Augenblick, Alwiss in ihrem körperbetonten dunkelblauem Kleid von hinten zu betrachten.
Dann drehte sie sich um, ihre Augen fanden sich, und Tangorn schossen gleichzeitig zwei Gedanken durch den Kopf, einer dümmer als der andere: "Manche Frauen profitieren von allem,
sogar vom Alter" und "Ob sie den Becher fallen lässt?"
Langsam, unendlich langsam, kam sie auf ihn zu, als wenn etwas an ihr zöge; ihm schien, dass
die Musik der Bösewicht war - sie hatte aus dem Raum einen Bergbach voller Felsen gemacht,
und Alwiss musste nun gegen die Strömung flussaufwärts. Dann änderte sich der Rhythmus,
Alwiss versuchte, nach ihm zu greifen, aber die Musik wehrte sich dagegen; aus dem reißenden Bergbach wurde eine dichte Brombeerhecke. Alwiss musste durch dieses stachlige
Dickicht brechen, es war schwierig und schmerzhaft, sehr schmerzhaft, obwohl sie versuchte,
sich nichts anmerken zu lassen... dann war es vorbei, die Musik gab auf und fiel ihr in einem
erschöpften Haufen zu Füßen; und sie strich mit den Fingern über sein Gesicht, voller Unglauben:
"Mein Gott, Tan... mein Liebling... du bist zurück..."
Die Umarmung hielt sie eine Ewigkeit gefangen, bis sie ihn bei der Hand nahm und flüsterte:
"Komm..."
Alles war wie es immer gewesen war - und doch wieder nicht. Sie war eine ganz andere Frau,
und er entdeckte sie aufs Neue, wie beim ersten Mal. Keine Vulkanausbrüche der Leidenschaft,
keine Zärtlichkeiten, die einen an einem Bindfaden über den Abgrund des süßen Vergessen
hielten. Es war unglaubliche, alles umspülende Zärtlichkeit, und beide verloren sich stumm in
ihr, ohne einen anderen Taktgeber als das Zittern von Arda, die blind durch den Sternenhimmel pflügt... "Wir sind zueinander verdammt," hatte sie einmal gesagt; in diesem Falle war das
Urteil heute Nacht vollstreckt worden.
"...Wirst du lange bleiben?"
"Das weiß ich nicht, Alli. Ich kann es ehrlich nicht sagen. Ich wünschte, es wäre ewig, es könnten aber auch nur ein paar Tage werden. Offenbar sind es diesmal die Höheren Mächte, die
entscheiden, nicht ich."
"Ich verstehe. Du bist also wieder im Geschäft. Brauchst du Hilfe?"
"Wohl kaum. Vielleicht ein paar Kleinigkeiten."
"Liebling, du weißt, ich würde alles für dich machen - sogar die Missionarsstellung!"
"Oh, ich glaube, so ein Opfer wird nicht nötig sein," kicherte Tangorn in derselben Stimmung.
"Wohl nur eine Kleinigkeit - ein paar mal dein Leben riskieren, vielleicht."
"Das wäre mir auch lieber. Was also brauchst du?"
"Das war nur ein Witz, Alli. Weißt du, dieses Spiel ist brandgefährlich, nicht wie die in den guten alten Zeiten. Offen gesagt war es schon Wahnsinn, überhaupt hier aufzutauchen, obwohl
ich mich gut umgesehen habe... ich hole mir einen Kaffee und schleiche mich in meine Herberge zurück."
169
Ein Moment des Schweigens, dann sprach sie mit merkwürdig gebrochener Stimme: "Tan, ich
habe Angst... ich bin ein Weib, ich sehe Dinge... Geh nicht, bitte!"
Sie war nicht bei Sinnen, so hatte er sie nie erlebt... doch, einmal! Es fiel ihm wieder ein, vor
vier Jahren: "Du ziehst in den Krieg, Tan." Das wird ja immer schlimmer, dachte er sich verärgert. Währenddessen klammerte sie sich fest an ihn und sagte immer nur dasselbe: "Bitte,
bleib bei mir! Ich habe dich nie um irgend etwas gebeten in all diesen Jahren... nur diese eine
Mal, für mich!"
Um Ruhe zu bekommen, gab er auf (es war schließlich egal, von woher er morgen ins 'Seepferdchen' kommen würde) und Mungo und seine Truppe warteten in dieser Nacht vergebens
im Glücklichen Anker.
Nun ja - kommt er heute nicht, kommt er morgen. Anstatt ihn durch die ganze Stadt zu jagen,
lauerte man ihm besser bei seinem Nest auf, kein Grund zur Eile. Außerdem wäre es unvorsichtig, den Trupp aufzuteilen; der Baron ist immer noch das Dritte Schwert Gondors und jemand, mit dem man rechnen muss... Mungo konnte besser abwarten als alle anderen.
***
Der Geheimdienst von Umbar, gut versteckt in den staubigen, nach Tinte riechenden Katakomben des Außenministeriums unter der absichtlich zweideutigen Bezeichnung ASA - Abteilung
für Spezielle Aufzeichnungen - ist eine verschwiegene Truppe. Sogar der Ort seines Hauptquartiers ist Staatsgeheimnis: das Grüne Haus in der Sumpfallee, von dem 'gut informierte' Senatoren und hohe Beamte manchmal in angemessenen Flüsterton sprachen, ist im Grunde nur
ein Archiv voller Dokumente, die entsprechend den Gesetzen nach hundertzwanzig Jahren
freigegeben worden waren. Nur drei Personen kennen den Namen des Direktors der Abteilung: der Kanzler, der Verteidigungsminister und der Generalstaatsanwalt (die Angestellten
des Dienstes dürfen nur mit Erlaubnis des letzteren töten, obwohl diese Genehmigung auch
schon nachträglich erteilt wurde), und nur der Direktor kennt die Namen seiner vier Stellvertreter.
Im Gegensatz zu den Geheimdiensten, die wie eine Polizeibehörde aufgebaut sind (und die nie
ihren Hang zu pompösen Hauptquartieren an Hauptstraßen und zum Verschrecken der Bürger mit Geschichten über ihre Allmacht und Allgegenwart verlieren), war die ASA eher wie ein
Sicherheitsdienst einer großen Handelsfirma entstanden und ist in der Hauptsache daran interessiert, außer Sicht zu bleiben. Die Organisationsstruktur folgt der der Zamorra (der Verbrecherorganisationen Umbars): ein isoliertes Zellensystem, nur verbunden durch ihre Leiter,
die ihrerseits die Zellen der zweiten und dritten Ebene bilden. Die Angestellten des Dienstes
leben unter besonders ausgearbeiteten Deckidentitäten sowohl im In- als auch im Ausland; sie
tragen keine Waffen (es sei denn, dass ihre Deckidentität es erfordert) und werden ihre
Dienstzugehörigkeit unter keinen Umständen zugeben. Der Eid des Schweigens und Umberto
(Grager hatte Tangorn einst dieses Prinzip so erklärt: "Ein Dungan, um hineinzukommen, einhundert, um wieder herauszukommen") band seine Mitglieder zusammen wie einen Ritterorden. Auch wenn man es angesichts der Sitten in Umbar kaum glauben mag, konnte man die
Verräter in der Abteilung (die ihren Namen so regelmäßig wechselt wie eine Schlange sich
häutet) in den dreihundert Jahren ihrer Existenz an einer Hand abzählen.
Der Auftrag der Abteilung ist, 'die obersten Amtsträger der Republik mit präzisen, rechtzeitigen und objektiven Informationen über den Stand der Dinge im Lande und darüber hinaus zu
170
versorgen'. Offenkundig kann nur eine unabhängige und unbeteiligte Quelle objektiv sein, und
darum sammelt die ASA nach dem Gesetz nur Informationen, ohne sich an irgendeiner
politischen oder militärischen Entscheidungsfindung zu beteiligen und für irgend eine
Entscheidung verantwortlich zu sein; sie ist quasi ein Maßstab, der kategorisch von der Realität, die er abbildet, ferngehalten wird. Eine wahrhaftig weise Teilung der Dienste. In anderen
Fällen würde der Geheimdienst entweder die Mächtigen ruhig halten und nur sagen, was diesen gefällt; oder er würde außer Kontrolle geraten, was zu solchen Nettigkeiten wie dem Ausspionieren der eigenen Bürger, Provokationen oder verantwortungsloser Sabotage im Ausland
führt. All dieses würde mit sorgfältig ausgesuchten Informationen begründet.
Vom Gesetz her war darum das, was an diesem Sommerabend in einem unauffälligen Anwesen stattfand, wo sich Direktor Almandin vom ASA, sein Stellvertreter für Inlandsoperationen
und Agentennetze Jacuzzi und Admiral Carneros Stabschef, Flaggkapitän Makarioni trafen
(was alle drei Überwindung kostete, die ewige Abneigung zwischen 'Schleichern' und 'Frontschweinen' aller Welten beiseite zu lassen) eindeutig definiert: Verschwörung zum Hochverrat. Nicht dass irgend einer von ihnen nach Macht gegiert hätte, bei weitem nicht - die Spione
hatten lediglich eindeutig vorhergesehen, was ihrem kleinen, blühenden Gemeinwesen passieren würde, wenn das gierige, despotische Gondor zugreifen würde, und konnten nicht ihren
feigen 'obersten Amtsträgern' folgen.
"Nun, Flaggkapitän, wie steht es um die Gesundheit Ihres Chefs?"
"Recht gut. Das Stilett hat die Lunge nur gestreift, und was die Gerüchte angeht, der Admiral
stünde kurz vor seinem Ableben - das war unsere Arbeit. Seine Exzellenz ist fest überzeugt, in
zwei Wochen wieder auf den Beinen zu sein, und nichts wird ihn daran hindern, Operation
Schirokko selbst zu leiten.
"Was uns angeht, haben wir schlechte Nachrichten, Flaggkapitän. Unsere Leute in Pelargir berichten, dass Aragorn seine Vorbereitungen für die Invasionsflotte beschleunigt hat. Sie schätzen volle Einsatzbereitschaft in etwa fünf Wochen..."
"Donner und Teufel! Das ist genau unsere Zeit!"
"Präzise. Ich brauche Euch nicht zu erklären, dass in den letzten Tagen vor dem Einsatz eine
Armee oder eine Flotte so hilflos ist wie ein Hummer, der gerade seine Schale abgeworfen hat.
Sie bereiten sich in Pelargir vor, wir in Barangar - quasi Kopf an Kopf; der Vorsprung wird bestenfalls ein bis zwei Tage betragen, und derjenige, der diese wenigen Tage bekommt, wird den
anderen kalt in seinem Heimathafen erwischen. Das Dumme ist, dass sie ihre Vorbereitungen
offen treffen können und wir uns vor unserer eigenen Regierung verstecken müssen. Wir müssen derzeit zwei Drittel unserer Kräfte für Geheimhaltung und Fehlinformationen
aufwenden... Flaggkapitän, ist es möglich, die Vorbereitungen in Barangar irgendwie zu beschleunigen?"
"Nur wenn wir einen Teil der Geheimhaltung aufgeben... aber es muss sein, da führt kein Weg
vorbei. Also ist es jetzt nötig, Küstenstraße 12 von diesem Weg fernzuhalten, aber das ist meines Wissens nach Ihre Aufgabe."
Nach dem Abschied des Seemannes warf der ASA - Chef seinem Kameraden einen fragenden
Blick zu. Die Spione gaben ein komisches Paar ab - der stämmige, scheinbar halb eingeschlafene Almandin und der dürre Jacuzzi, flink wie ein Barrakuda. In den Jahren ihrer Zusammenar171
beit hatten sie gelernt, sich mit nicht mehr als ein paar Blicken zu verständigen.
"Also?"
"Ich habe das Material über den Oberspion Gondors hier..."
"Hauptmann der Geheimwache Marandil; Deckidentität - Zweiter Sekretär der Botschaft."
"Eben der. Ein unglaublicher Dreckskerl, sogar verglichen mit dem Rest der Bande... Ich frage
mich, ob sie nur die schlimmsten Schweinehunde hierher nach Umbar geschickt haben."
"Eher nicht. Sie arbeiten in Minas Tirith zur Zeit genauso, nur dass sie dort die Leichen in die
Latrinen statt in die Kanäle werfen... Egal. Bleibt beim Geschäft."
"Gut. Marandil. Ein Ausbund an Tugenden, kann ich Euch sagen..."
"Habt ihr vor, ihn mit einer dieser Tugenden zu rekrutieren?"
"Nicht wirklich. Mit Vergangenem ist er nicht zu fassen, weil Aragorn ihn für alles begnadigt
hat. Mit Aktuellem sieht es anders aus... erstens ist er widerwärtig unprofessionell, zweitens
hat er kein Rückgrat und hält keinen Druck aus. Sollte er irgend etwas in größerem Maßstab
vermasseln, mit dem wir ihn unter Druck setzen können, gehört er uns. Wir müssen lediglich
nachhelfen, damit er versagt."
"Gut, den Ansatz weiterverfolgen. Inzwischen werft ihm einen Knochen hin, der ihn von der
Barangarbucht ablenkt. Gebt ihm, hm... ja, unser Material über die Agenten Mordors hier."
"Was zum Henker sollten sie denn damit wollen?"
"Eigentlich nichts, aber wie Ihr so richtig dargestellt habt, arbeiten sie widerwärtig unprofessionell. Haireflex: erst schlucken, dann nachdenken, ob es eine gute Idee war. Sie werden das
Netz Mordors aus weiden, das sowieso keiner mehr braucht, und darüber alles vergessen. Außerdem werden sie es als Geste des guten Willens unsererseits zählen, und wir gewinnen Freiraum, während ihr Marandil eine Falle stellt."
Am gleichen Abend ging ein dickes Aktenpaket des ASA über das Agentennetz Mordors in der
Küstenstraße 12 ein und verursachte geradezu Feierstimmung. Einer der Hinweise las sich
wie folgt: 'Taverne Seepferdchen, elf Uhr vormittags an ungeraden Dienstagen; bestellt eine
Flasche Tequila mit Zitronenscheiben und sitzt an einem Tisch in der linken hinteren Ecke.'
172
Kapitel 41
Umbar, Taverne Seepferdchen
3. Juni 3019
Kurz vor elf Uhr stieß Tangorn die roh aus Schiffsplanken gezimmerte Tür auf und ging die
rutschige Treppe herab in einen Schankraum, der ewig nach Rauch, altem Schweiß und Erbrochenem stinken würde. Es waren um diese Zeit nur wenige Gäste da, aber von diesen waren
einige schon gut betrunken. Ein paar Kellner verprügelten begeisterungslos einen jammernden Säufer in einer Ecke: hatte wohl die Zeche prellen wollen oder irgendwelchen Kleinkram
geklaut. Die Züchtigung wurde nicht groß beachtet - offensichtlich war sie Teil der Bedienung
hier. Diese Kneipe war schon ein Loch.
Niemand schenkte dem Baron Aufmerksamkeit - die Wahl seiner Verkleidung (ein protziges
Aufreißerkostüm) war perfekt. Vier würfelnde Kleingauner mit riesigen Goldringen an den tätowierten Händen versuchten offensichtlich, Tangorns Stellung in der Unterwelt einzuschätzen, kamen aber zu keinem Ergebnis und kehrten zu ihrem Spiel zurück. Tangorn lehnte sich
lässig an die Theke und suchte den Raum ab, während er lässig einen übergroßen Zahnstocher
aus Sandelholz im Mund wandern ließ. Er glaubte nicht, herauszufinden, wer hier auf Posten
stand (soviel Respekt hatte er vor seinen Kollegen aus Mordor), aber den Versuch war es wert.
Außer ihm tranken zwei Matrosen an der Theke Rum, ein Älterer und ein Halbwüchsiger. Dem
Klang nach Anfalasianer. "Woher kommt ihr Jungs denn?" fragte der Baron leutselig. Der Ältere, wie man erwarten konnte, sah an der Landratte vorbei und würdigte ihn keiner Antwort,
aber der Junge konnte sich die klassische Antwort nicht verkneifen: "Pferde kommen. Wir segeln." Die zwei waren wohl echt.
Da die Anforderung, 'mit einem Matrosen zu plaudern', erfüllt war, warf Tangorn wichtigtuerisch einen goldenen Vendotenier Nyanma auf die Theke "Tequila, Meister - aber nur vom Besten!"
Der Angesprochene, dessen hängender Schnurrbart ihn wie eine Robbe aussehen ließ, kicherte: "Gibt hier nur eine Sorte, Mann - ist der beste genauso wie der schlechteste. Immer noch
welchen?"
"Teufel, was bleibt da noch?.. Dann brauch ich nur noch ein paar Zitronenscheiben für danach."
Direkt als er sich hinten links mit seinem Tequila in die Ecke setzte, erwischte er aus dem Augenwinkel eine Bewegung und erkannte noch bevor er seine Feinde ausgemacht hatte, dass er
aufgeflogen war. Sie waren eindeutig vor ihm da gewesen, also hatten sie ihn nicht verfolgt:
der Kontakt selbst war kompromittiert - sie hatten einen Kurier Mordors erwartet und nun
auch erwischt. Blöde Art, einen Auftrag zu vermasseln! Die vier 'Gauner' teilten sich auf; zwei
gingen an die Vordertür und die anderen zwei kamen auf ihn zu, elegant den Tischen ausweichend und die rechten Hände in den Jacken. Wenn der Baron den Einschläferer dabeigehabt
hätte, hätte er sie schnell und sogar ohne größere Beschädigungen an ihnen loswerden können, aber das Schwert hatte nicht zu seiner Verkleidung gepasst. So war er unbewaffnet und
ihre rechtmäßige Beute. Soviel zum Thema "echte Profis tragen keine Waffen!"
Einen Moment spielte er mit einer Wahnsinnsidee: hau die Flasche an den Tisch, und dann...
Was zum Teufel soll denn das? hielt er sich zurück; ein abgebrochener Flaschenhals gegen
vier? Das ist doch kein Ersatz für ein Schwert. Im Moment hast du nur deinen Verstand... deinen Verstand und dein Glück. Aber erst einmal bring ihre Routine durcheinander und verschaff dir ein bisschen Zeit. Weswegen er auch nicht aufstand, um ihnen zu begegnen; er war173
tete einfach, bis ihm ein drohendes "Hände auf den Tisch und sitzengeblieben" ins Ohr gezischt wurde. Da erst drehte er sich ein wenig zum Sprecher hinüber und knirschte mit den
Zähnen: "Idioten! So eine Operation zu vermasseln..." Dann seufzte er und teilte dem auf der
rechten Seite in müdem Tonfall mit: "Luke zu, Trottel, bevor ein Nazgúl rein fliegt!"
"Du kommst mit uns, und keine Tricks," klärte dieser ihn auf, aber er klang eindeutig zweifelnd: sie hatten nicht erwartet, dass der gefangene 'Ork' mit dem gemeißelten Akzent von Minas Tirith sprechen würde.
"Mit euch, na klar, wohin sonst? Und dann verpasse ich diesen Schwachsinnigen einen Säureeinlauf, die ihre Nase überall hineinstecken, ohne das Hauptquartier zu benachrichtigen...
Aber, mit eurer gütigen Erlaubnis," fuhr der Baron mit spöttischer Höflichkeit fort, "werde ich
mir noch einen Schluck gönnen - auf meine Hauptmannsmarke, die gerade wieder außer
Reichweite gerückt ist... Jetzt steht doch nicht da wie die Weißen Türme! Wo soll ich denn hin?
Könnt mich gerne abklopfen, ich bin unbewaffnet."
Der 'Gauner' rechts sah aus, als wolle er salutieren. Aber der Linke war entweder nicht beeindruckt oder war es, kannte aber das Lehrbuch besser. Er setzte sich gegenüber dem Baron hin
und deutete seinem Kameraden, sich hinter ihre Beute zu stellen.
"Halt die Finger auf dem Tisch, sonst... du weißt schon." Mit diesen Worten schenkte er Tangorn einen Schluck Tequila ein und erklärte: "Ich werde dich selber bedienen, nur zur Sicherheit."
"Wunderbar!" grinste der Baron. (Auch wenn an der Lage eigentlich gar nichts wunderbar
war: ein Feind direkt vor ihm, der sein Gesicht und die Augen im Blick behielt, der andere hinter ihm, bereit, ihm den Schädel einzuschlagen - schlimmer kann es gar nicht kommen) "Wirst
du mir auch den Finger lecken?"
Als der Mann ihn wütend anstarrte, lachte Tangorn beschwichtigend, als habe er gerade seinen Fehler erkannt: "Tut mir leid, Mann, war nicht so gemeint. Habe gemerkt, dass ihr wohl
noch nicht so lange in der Stadt seid und nicht wisst, wie man Tequila trinkt. Ihr glaubt wohl,
es wäre billiger Fusel, oder? Nee, ist nicht ganz so. Wisst ihr, einfach so aus dem Glas ist er echt
übel, das stimmt. Aber wenn man weiß, wie man ihn trinkt, ist er richtig gut. Der Trick ist,"
Tangorn lehnte sich entspannt zurück und schloss verträumt die Augen zur Hälfte, "seinen Geschmack mit Salz und Saurem abzuwechseln. Pass auf: Man nimmt eine Prise Salz auf den
Daumennagel - man muss ihn ablecken, damit das Salz darauf bleibt," mit diesen Worten griff
er nach den kleinen Salz - und Pfefferschalen in der Mitte des Tischs; der 'Gauner' reagierte
mit Anspannung und einem Griff in die Jacke, aber nicht mit "Finger weg!" - offenbar war er
wirklich am Zuhören und Lernen. "Nun taucht man nur die Zungenspitze in das Salz, und
Hoppla!" Oh Mann, oh Mann - das ist mal ein Rachenputzer, den sie hier ausschenken! "Und
jetzt die Zitrone hinterher... Pri-i-ima! Aber da gibt es noch eine Art - schenk mir noch einen
ein, wo du mich schon bedienst! Das geht mit Pfeffer statt mit Salz." Er griff noch einmal nach
den Schälchen, aber mittendrin unterbrach er sich und drehte sich beleidigt zu dem anderen
um: "Hör mal, Kumpel, halt mal etwas Abstand. Ich kann es nicht ausstehen, wenn mir jemand
seine Knoblauchfahne ins Ohr pustet!"
Ebenso beleidigt antwortete dieser: "Ich halte mich nur ans Lehrbuch." So ein Narr, dachte sich
der Baron. Das Lehrbuch sagt dir zu aller erst und als Wichtigstes, dass du nicht mit mir reden
sollst. Weiche 'g' in der Sprache, der muss aus Lebennin sein... gut , das ist unwichtig; was
174
wichtig ist, er steht nicht direkt hinter mir, sondern eher einen Schritt links, und dass er sechs
Fuß groß ist, vielleicht ein paar Zoll weniger... War es das? Ja; der Kopf hatte seine Schuldigkeit
getan, nun war das Glück an der Reihe.
Eine Sekunde später griff Tangorn, der sich immer noch auf seinem Stuhl lümmelte, sich die
Schale mit zerstoßenem rotem Pfeffer mit der Linken und warf sie beiläufig hinter sich direkt
in das Gesicht des Lebenniers, während er gleichzeitig seine Stiefelspitze in das Schienbein
seines Gegenüber rammte.
Es ist bekannt, dass ein überraschter Mensch immer einatmet, also war der Eingepfefferte bis
auf weiteres außer Gefecht. Der vor ihm gurgelte "Oh Scheiße!" und brach vor Schmerzen unter dem Tisch zusammen, wenn auch nur kurz: der Baron hatte es nicht geschafft, ihm das
Bein zu brechen. Die anderen beiden stürmten schon von der Vordertür her auf ihn zu, der
eine mit einem Umbarer Dolch, der andere mit einer Geißel. Sie traten die Stühle beiseite,
während Tangorn immer noch in der Jacke des Lebenniers, der sich auf dem Boden krümmte,
nach einer Waffe fischte. Er dachte bei sich: wenn er nur Spielzeug wie Schlagringe oder
Springmesser mithat, dann gute Nacht... Aber nein - gepriesen sei Tulkas! - es war ein langer
Umbarer Dolch wie die, die die Bergbewohner der Halbinsel ihn für gewöhnlich am Gürtel haben: eine halbschrittlange, spitze Klinge zum Stechen und Schlagen. Nicht viel, aber immer
noch eher für einen Krieger als für einen Dieb.
Er stellte sich dem Paar und bemerkte schnell, dass er nicht so leicht davonkommen würde:
die zwei waren keine Feiglinge und kannten ihre Kurzwaffen genau so gut wie er. Als sein linker Arm von einem Geißelhieb taub wurde und der dritte Gegner von hinten kam, hinkend
aber immer noch kampfbereit, wurde dem Baron klar, dass es ernst wurde und begann, ernsthaft zu kämpfen.
...Der finstere Gondelführer, der bereits einen silbernen Castamir bekommen hatte, machte an
einem verlassenen Frachtkai fest und kam kurz danach mit neuen Kleidern für seinen Passagier wieder - Lumpen im Vergleich zu seinem vorigen Kostüm, aber ohne Blut darauf. Tangorn
wechselte im Laufen die Kleider, um Zeit zu sparen und steckte den erbeuteten Dolch und die
Silbermarke vom Hals eines der Gauner ein - Karanir, Feldwebel der Geheimwache Seiner Majestät Elessar Elbenstein, hatte keinen Bedarf mehr dafür. Das Dritte Schwert Gondors war
entkommen und hatte einen Toten und zwei Verletzte hinterlassen; allerdings waren die Verletzten wohl schon erledigt, denn die Gäste des Seepferdchens schätzten Geheimpolizisten
wohl auch nicht mehr als alle anderen Gäste finsterer Hafenspelunken in anderen Welten.
Er selbst war mit zwei kleineren Verletzungen davongekommen - eigentlich nur Kratzer; der
taube Arm war ein größeres Problem, aber immer noch seine geringste Sorge. Schließlich hatte er ein paar Medikamente aus Haladdins Kasten mit. Also wie ist die Lage? Vier Gauner spurlos verschwunden: vermissen wird man sie erst in zwei oder drei Stunden, aber mehr Vorsprung hat er nicht. In Kürze wird der ganze Spionageapparat Gondors hinter ihm her sein, genau so wie - und das war noch viel schlimmer - die örtliche Polizei. So korrupt wie die sind,
verstehen sie ihr Geschäft wie kein zweiter: in weniger als zwei Stunden werden ihre Spitzel
ihnen gesteckt haben, dass die Vorstellung im 'Seepferdchen' von niemand anderem als ihrem
alten Bekannten, Baron Tangorn, gegeben wurde; daraufhin werden sie den Hafen dichtmachen und die Stadt bis zum Abend auf den Kopf gestellt haben. In Spionagekreisen nennt man
diese Lage 'Aussätziger mit Glocke': er kann weder seine alten Agenten um Hilfe bitten (die
vermutlich schon der Gegenseite bekannt sind) noch sich an den Geheimdienst Umbars wenden (die ihn nur decken werden, wenn er zugibt, in Faramirs Auftrag zu handeln - was schlicht
175
unmöglich ist). Das traurigste daran ist, dass er keine Möglichkeit mehr hat, das Netz Mordors
zu kontaktieren - die einzigen, die ihm hätten helfen können, Elandar zu erreichen. Um es kurz
zu machen, er hat versagt und ist zum Tode verurteilt; dass nichts davon seine Schuld war, ist
vollkommen egal - Haladdins Mission ist nicht mehr zu erfüllen.
Also er hat keine Agenten, keine Kontakte und keinen Unterschlupf; was hat er? Geld - jede
Menge, über vierhundert Dungans in sechs Verstecken - und das gut versteckte Mithrilhemd,
das Haladdin ihm zum Verkaufen mitgegeben hat, falls Sharya-Ranas Gold nicht zu finden
wäre. Er hat noch ein paar Ausweichverstecke aus alten Zeiten, die in ein paar Tagen alle ausgeräuchert sein werden; er hat ein paar alte Verbindungen zum Untergrund, die abgekühlt
sein könnten. Mehr nicht... Er hat nicht einmal den Einschläferer, der bei Alwiss geblieben war
- eine Rückkehr in die Jasperstraße oder in den Glücklichen Anker ist absolut unmöglich.
Als der Gondelführer ihn bei den Lagerhäusern am Hafen absetzte, war ihm klar, dass die einzige vernünftige Taktik in solch überwältigend ungünstigen Umständen ein Bluff ohne Rückversicherung war - zum Angriff überzugehen, statt sich zu verkriechen.
176
Kapitel 42
Umbar, Küstenstraße 12
4. Juni 3019
Mungo kam ohne Eile den Korridor der Botschaft entlang. Je schlimmer und gefährlicher eine
Lage ist, desto zwangloser, ruhiger und höflicher muss ein Befehlshaber sein (zu mindestens
nach außen); wenn man nach dem ruhigen Lächeln ging, das Mungo fast schon ins Gesicht betoniert trug, musste die Lage so katastrophal als nur denkbar sein.
Er fand den Stationskommandanten, Hauptmann Marandil, in seinem Büro vor.
"Heil, Hauptmann! Ich bin Leutnant Mungo, hier meine Marke. Ich habe einen streng geheimen Auftrag hier in Umbar. Leider gibt es dabei Probleme..."
Marandil fand seine Fingernägel offenbar interessanter; ein unsichtbarer Hautfetzen an seinem linken kleinen Finger kümmerte ihn eindeutig mehr als die Probleme irgendeines Besuchers. Da flog auch schon die Türe auf, und ein stämmiger Kerl, fast sieben Fuß lang, schubste
den Leutnant lässig beiseite:
"Legen wir los, Boss! Die Kleine ist erste Sahne!"
"Ihr Jungs habt wohl schon ne Runde hinter euch," brummte der Hauptmann freundlich.
"Wie kämen wir denn dazu? Der Chef kommt als erster, dann das Fußvolk... aber die Dame ist
bereits entkleidet und voller Ungeduld."
"Dann mal los, bevor sie sich erkältet!"
Der Hüne kicherte; der Hauptmann machte sich auf den Weg hinter seinem Tisch hervor, aber
da hielt ihn ein Blick Mungos auf. Irgend etwas darin zwang ihn, sich zu rechtfertigen: "Die ist
aus dem Fang letzter Nacht, eine Agentin Mordors! Die Schlampe landet doch sowieso in einem Kanal..."
Mungo war bereits damit beschäftigt, die kitschigen Ornamente an der Zimmerdecke zu studieren (was für ein geschmackloses Zeug, wirklich); ihn plagte die ernsthafte Sorge, dass die
unbändige Wut, die in ihm aufstieg, ihm zu den Augen herauskäme. Natürlich ist Spionage
nichts für Zartbesaitete, natürlich ist ein Verhör dritten Grades, nun ja, ein Verhör dritten Grades eben, natürlich hätte die 'Kleine' sich der Gefahren bewusst sein müssen, bevor sie in dieses Spiel eingestiegen war, das alles ist ja gerecht und nach Vorschrift... aber was eindeutig unvorschriftsmäßig war, war das Benehmen seiner beiden sogenannten Kollegen - als stünden
sie nicht im Dienste Seiner Majestät, sondern... Ach, zur Hölle mit der ganzen Bande - im Moment war es nicht die Aufgabe von Einsatzgruppe Féanor, die Spione vor Ort zur Räson zu
bringen. Der Leutnant wandte sich erneut an Marandil, und das in einem dermaßen freundlich
einschmeichelnden Tonfall, dass jeder, der auch nur ein Mindestmaß an Kompetenz besessen
hätte, sofort den Ernst seines Anliegens erfasst hätte:
"Verzeiht mir, Hauptmann, aber mein Geschäft duldet keinen Aufschub, glaubt mir. Ich bin mir
sicher, dass Eure Untergebenen diese Tätigkeit auch ohne Euch angemessen durchführen können."
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Der große Kerl fiel vor Lachen fast vorne über, dann sabberte er, ermutigt durch das spöttische
Grinsen seines Vorgesetzten: "Vergesst das mal, Leutnant! Ihr kennt den Spruch: drei von vier
Problemen lösen sich von selbst, und das vierte ist unlösbar. Kommen Sie lieber mit in den
Keller - die Süße steht einem Gast natürlich zuerst zur Verfügung. Sie leckt Sie oder umgekehrt..."
Marandil genoss es eindeutig, seinen Besucher aus der Hauptstadt zurechtzustutzen. Natürlich würde er gezwungen sein, zu helfen, aber erst muss dem Mann klar sein, dass er hier in
Umbar ein Niemand ist und dass sein Name unwichtig ist...
"Wie stehen Sie denn vor einem höheren Dienstgrad?" Mungo stellte die Frage in ruhigem
Tonfall Marandils Knecht, während er ihn von oben bis unten mit den Augen vermaß und auf
den Stiefelspitzen wippte.
"Was ist daran verkehrt? Ich kippe doch nicht um, richtig?"
"Das wäre ein Vorschlag," entgegnete der Leutnant nachdenklich und machte eine tänzelnde
Bewegung nach vorne. Er war einen guten Fuß kleiner und halb so breit wie sein Gegner, weswegen der Große nur vorsichtig zuschlug - er wollte sein Gegenüber schließlich nicht aus Versehen umbringen mit seinen Fäusten, die etwa Melonengröße hatten. Er schlug zu - und erstarrte vor Staunen: Mungo hatte den Schlag nicht pariert oder war zurückgewichen - er hatte
sich schlicht in Luft aufgelöst. Der Mann blieb wie vom Donner gerührt stehen, bis ihm jemand
auf die Schulter klopfte - und dieser Depp drehte sich auch noch um...
Mungo stieg über den ausgestreckten Körper - in aller Eile, als wäre es ein Misthaufen - blieb
direkt vor Marandil stehen, der sich unwillkürlich und voller Panik im Blick hinter den Tisch
zurückzog, und merkte staubtrocken an:
"Eure Untergebenen können sich kaum auf den Beinen halten. Lasst Ihr sie hungern, oder was
ist da los?"
"He, ganz ruhig, Leutnant!" brachte der andere gerade noch heraus. "Wollte sie nicht kränken,
wollte sie nur in Aktion erleben..."
"Dachte ich mir. Genug gesehen?"
"Sind sie vielleicht einer von diesen, wie heißen sie noch, nin'yokve?"
"Das ist eine andere Technik, allerdings mit derselben Grundlage. Zurück zum Geschäft. Der
Spaß im Keller wird warten müssen, vielleicht lassen Sie ihn sogar besser aus. Sagen Sie ihren
Leuten, sie sollen ohne sie anfangen. Ach, und schaffen Sie mir diesen unverschämten Welpen
aus den Augen."
Mungo lehnte sowohl Wein als auch Kaffee ab und kam gleich zur Sache.
"Gestern haben Ihre Leute versucht, Baron Tangorn in der Kneipe 'Seepferdchen' festzunehmen. Was soll das? Haben Sie vergessen, dass Ithilien Vasall der Krone Gondors ist?"
"Wir hatten keine Ahnung, dass es Tangorn war! Er hat die Zeichen Mordors benutzt, deshalb
dachten meine Leute, er sei ihr Laufbursche."
178
"Aha!" Mungo schloss eine Sekunde die Augen. "Das ist etwas anderes. Dann hat er also wirklich Verbindungen mit Mordor. Nun, denen nützt er jetzt auch nichts mehr."
"Keine Sorge, wir kriegen ihn noch vor der Dunkelheit. Wir haben die Polizei Umbars mit ins
Boot geholt. Sie haben schon eins seiner Verstecke ausgehoben und ihn dabei gerade mal um
eine halbe Stunde verpasst..."
"Deshalb bin ich hier. Die Suche muss sofort eingestellt werden. Sagen sie der Polizei, es war
ein Unfall, ein Verständigungsproblem zwischen zwei befreundeten Geheimdiensten... was der
Wahrheit ziemlich nahe kommt."
"Aber ich verstehe nicht, wieso Sie..."
"Sie müssen überhaupt nichts verstehen, Hauptmann. Sind sie mit dem Buchstaben G vertraut?" Marandil warf einen Blick auf das seidene Quadrat in der Hand des Leutnant und wurde sichtbar blass.
"Der Baron ist meine Sache, und Sie geht das nicht das geringste an. Pfeifen Sie Ihre Leute zurück, und vor allem - ich sage es noch einmal - halten Sie die Polizei auf! Sollte Tangorn ihnen
und nicht mir in die Hände fallen, würde dieses Desaster uns beide den Kopf kosten."
"Aber Herr Leutnant... er hat vier meiner Leute umgebracht!"
Mungo zuckte nur mit den Achseln. "Da hat er das Richtige getan. Wer so dumm ist, sich mit
seinem Ziel auf ein Gespräch einzulassen, verdient den sofortigen Tod. Also: Sie hören auf,
Tangorn zu suchen, und warten ab. Wahrscheinlich taucht er bald wieder auf die eine oder andere Art auf..."
"Auftauchen? Spinnt er?"
"Oh nein, nicht im Geringsten. Aber scheinbar ist er in der Klemme, und wenn ich ihn richtig
einschätze, neigt er dazu, in solchen Situationen alles auf eine Karte zu setzen. Sollten Sie von
ihm hören, lassen Sie es mich sofort wissen: hängen sie das Banner von Dol Amroth unter die
Fahne Gondors auf dem Dach der Botschaft, und in Kürze wird Sie jemand besuchen. Danach
werden Sie vergessen, jemals den Namen Tangorn gehört zu haben. Verstanden?"
"Jawohl! Hören sie, Leutnant, wir haben erfahren, dass er hier ein Weibsbild hatte..."
"Jasperstraße sieben?"
"Äh, ja..." Marandil wand sich vor Enttäuschung. "Sie wissen schon Bescheid?"
"Selbstverständlich. Offenbar war er vorletzte Nacht dort. Und?"
"Und sollten wir da nicht sehen, was wir aus ihr herauskriegen?"
Mungo verzog ermüdet das Gesicht. "Und was sollte das sein? Welche Stellung sie bevorzugen
und wie viele Orgasmen sie hatte? Was sollte sie sonst wissen? Tangorn ist nicht so blöd, seine
Geliebte in seine Geschäfte einzuweihen."
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"Aber trotzdem..."
"Zum letzten Mal, Hauptmann: Vergessen Sie alles, was mit Tangorn zu tun hat - das ist allein
meine Sache. Wenn Sie ihn auf der Straße treffen, wechseln Sie die Straßenseite und hängen
Sie das Banner von Dol Amroth auf, verstanden? Was Ihre Probleme angeht: Ich höre, Sie lassen gerade das alte Agentennetz von Mordor abernten. Vergeben Sie die Frage, aber - wozu?"
"Was soll das heißen - wozu?"
"Ist es auf irgend eine Art ein Hindernis? Weshalb mussten Sie unbedingt anfangen, die Agenten zu schnappen, statt sie zu beobachten und ihre Verbindungen aufzudecken?"
"Wir mussten uns beeilen, falls die ASA ein doppeltes Spiel spielt..."
"ASA?! Haben die Ihnen das Mordorer Netz ausgehändigt?"
"Nun, ja. Ein Zeichen guten Willens..."
"Hauptmann! Auf dieses Märchen fällt nur ein Idiot herein. Versuchen Sie noch einmal, darüber nachzudenken - warum schicken die Ihnen so ein fürstliches Geschenk? Was wollen sie
im Gegenzug? Ach, was soll's, das sind, wie ich schon gesagt habe, Ihre Probleme. Tun Sie, was
Sie für richtig halten. Leben sie wohl!"
Auf halbem Weg zur Tür drehte sich Mungo noch einmal um:
"Da wäre nur noch eines, Hauptmann. Falls Sie der Diensteifer packt..." er zögerte und schien
nicht gleich die richtige Formulierung zu finden, dann schob er alle Skrupel beiseite: "Jedenfalls, wenn auch nur einer ihrer Leute der Jasperstraße näher kommt als drei Pfeilschüsse,
komme ich wieder und füttere ihnen einen Salat aus ihren eigenen Eiern. Ist das klar?"
Sie sahen sich nur kurz in die Augen, aber das reichte schon, damit Marandil klar wurde: Der
meint das ernst.
...Mungos Vorhersage wurde schon am nächsten Tag wahr. Ein gewisser Inspektor Vaddari, ein
Angehöriger der Polizei Umbars, bat um ein dringendes Treffen mit Marandil in der Stadt. Der
Inspektor stand nicht direkt auf der Gehaltsliste der Botschaft, aber er kannte das Spiel: er
war ein alter, erfahrener Ermittler, der die Schattenseiten des Lebens kannte wie kein zweiter.
Er hätte eigentlich aufgrund von Dienstzeit und Verdiensten schon längst Kommissar sein sollen, war aber keiner - und ließ sich deshalb ohne viele Umstände schmieren. Hier sollte erwähnt werden, dass Korruption zu den geheiligten Traditionen der Polizei Umbars gehörte
(sowohl Kollegen als auch ehrliche Bürger begegneten einem Polizisten oder Zöllner, der sich
nicht bestechen ließ, mit äußerstem Misstrauen: "Dem dreht man besser nicht den Rücken
zu"), aber im Gegensatz zu einigen seiner Mitarbeiter lieferte Vaddari immer wie bestellt und
redete sich nicht auf Umstände jenseits seiner Kontrolle heraus.
"Herr Sekretär, Ihre Leute waren sehr interessiert an einem gewissen Tangorn, als gestern
ganz überraschend die Suche abgeblasen wurde. Sind Sie immer noch interessiert?"
Marandil beugte sich argwöhnisch vor: "Nun... könnte sein."
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"Ich bin bereit, Ihnen genau zu sagen, wo er heute Abend sein wird, wenn wir uns über den
Preis einig werden."
"Darf ich fragen, woher diese Information kommt?"
"Sie dürfen. Er hat mir einen Brief mit einem Vorschlag für ein Treffen geschickt."
"Und warum sind sie entschlossen, einen möglichen Kunden zu verkaufen?"
"Das würde mir im Traum nie einfallen. Er hat lediglich keine Geheimhaltung für das Treffen
verlangt, und so halte ich mich strikt an die Vereinbarung. Wenn dieser Tangorn diese Eventualität nicht in Betracht zieht, will ich mit so einem Narren nichts zu tun haben."
"Hmmm... von wie viel reden wir hier?"
"Drei Dungans."
"Was?! Sind sie irre? Wie in komplett ohne Bodenhaftung?"
"Ich biete an,..."
"Sie sollten wissen, dass mich die ganze Sache einen Dreck interessiert!"
"Wen willst du hier für blöd verkaufen, Kumpel? Erst stellt ihr anderthalb Tage lang die Stadt
auf den Kopf wegen dem Kerl, und plötzlich - tut uns leid, war ein Versehen! Jeder Idiot kann
sich denken, dass jetzt jemand anderes nach ihm sucht, und die Polizei steht dabei im Weg.
Dann muss ich wohl selbst nach diesen Leuten suchen, und derweil vergeht die Zeit!"
"Na gut - zwei!"
"Ich sage drei und meine drei; ich verkaufe hier doch keinen Kleinkram. Schluss mit dem Feilschen, du zahlst ja nicht mit deinem eigenen Geld!"
"Also gut, wie auch immer. Zwei jetzt und die dritte bei der Festnahme."
"'wie auch immer' stimmt - ich sage euch, wann und wo, der Rest ist euer Problem. Alle drei,
jetzt sofort."
"Und wenn du mich betrügst?"
"Hör mal, wir sind erwachsene Geschäftsleute, oder? Ich bin kein Säufer, der dir eine Schatzkarte für eine Flasche andrehen will, oder?"
Nachdem er die Münzen eingesteckt hatte, legte Vaddari die Ware auf den Tisch:
"Den Castamirplatz kennt ihr?"
"Der mit dem See in der Mitte und den drei Kanälen, die da hinein münden?"
"Eben der. Der See ist rund und hat etwa hundertfünfzig Schritt Durchmesser; die Kanäle
münden ein in Winkeln zu hundertzwanzig Grad - wenn man von den Säulen ausgeht, auf
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zwölf, vier und acht Uhr. Die Uferpromenade ist nicht durchgehend - es gibt Treppen ans Wasser hinunter, zwei zwischen jedem Kanalpaar, also insgesamt sechs. Abends um sieben soll ich
an der Treppe rechts vom Acht - Uhr - Kanal sein, in einem scharlachroten Mantel und einem
Hut mit schwarzem Futter. Eine Gondel wird aus einem der Kanäle kommen; der Führer wird
mich an Bord nehmen, sobald er die Zeichen gesehen hat und sich nach meinen Anweisungen
richten. Ich soll von Treppe zu Treppe kreuzen, nicht eine nach der anderen, sondern immer
über den See: Sieben Uhr, elf Uhr, drei und so weiter. Begriffen?"
"Schätze schon."
"Um die Uhrzeit ist auf dem See wenig Verkehr; wenn andere Gondeln auftauchen, soll ich anhalten und warten, bis sie weg sind. Tangorn wird an einer Treppe aufs Boot kommen, sobald
er sich sicher fühlt. Er kommt verkleidet und macht sich erkennbar, indem er ein purpurnes
Taschentuch herauszieht und zweimal damit winkt. Das ist alles. Viel Glück, Sekretär, und guten Abend."
Vaddari erhob sich und verließ die Kaffeestube, in der das Treffen stattgefunden hatte. Im Gehen dachte er noch, dass er sein Leben darauf verwetten würde, dass Tangorn diese Kerle zum
Narren halten würde.
Der Hauptmann hingegen kehrte zur Botschaft zurück und füllte als erstes einen Unkostenbericht für Feldagenten aus: 4 (vier) Dungans. Er war versucht, fünf hinzuschreiben, aber hielt
sich zurück: Gier tötet, der kluge Vogel pickt hier und da und ist zufrieden. Also, sollte er nun
das Banner hissen und diesem Halsabschneider aus der Hauptstadt Tangorn auf dem Silbertablett überreichen? Den Teufel würde er tun, entschied er plötzlich. Solch eine Gelegenheit
kommt nur einmal im Leben: ich fange ihn selbst, und der Sieger hat immer recht. Er erinnerte
sich an Mungos Augen und fröstelte: sollte er nicht lieber auf Nummer sicher gehen? Dann beruhigte er sich: nein, die Sache ist narrensicher. Ich habe Zeit und Ort des Treffens, ich habe
zweiunddreißig Agenten und fünf Stunden Zeit zur Vorbereitung - der sonnengleiche Demiurg
Aritan soll ganz Arda in fünf Stunden geschaffen haben, vollständig mit Fischen im Wasser, Vögeln in der Luft, Tieren auf dem Boden, Drachen im Feuer und den Menschen mit all seinen
schlechten Angewohnheiten...
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Kapitel 43
Umbar, Platz Castamirs des Großen
5. Juni 3019
"Wie viele zählen sie, Jacuzzi?"
"Zweiunddreißig."
"Ich sehe nur zwölf..."
"Ich würde lieber nicht auf sie zeigen."
"Himmel, nein! Sie sind der Ermittler, ich bin nur Analytiker, also gelten Ihre Regeln."
Almandin entspannte sich in einem Korbsessel bei einem Glas Wein. Sie saßen unter einem gestreiften Schirm im einem der kleinen offenen Cafés am Castamirplatz, fast genau unter einer
der Säulen, die voller Trophäen gekaperter Schiffe Gondors hingen, und beobachteten müßig
das Treiben des Volks am Abend.
"Wenn es wirklich zweiunddreißig sind, hat Marandil seine gesamte Mannschaft hergebracht,
abzüglich des Wachpersonals der Botschaft. Gibt es schon Hinweise auf unseren Hauptdarsteller?"
Jacuzzi nahm die volle Uferpromenade des Sees noch einmal in Augenschein. Wohlhabende
und Seeoffiziere, Straßenhändler und kunterbunte Straßenweiber, Wandermusikanten und
Wahrsager, Taschenspieler und Glücksritter... Er erkannte alle Spione Gondors sofort in der
Menge (obwohl die meisten eine gute Verkleidung hatten, wie man anerkennen musste), aber
zu seiner großen Enttäuschung konnte er den Baron nicht erkennen. Es sei denn... nein, das
war verrückt.
"Scheint, als habe er die Kerle auch erkannt, aufgegeben und sich davongeschlichen."
"Das würde ein Profi tun," nickte Almandin, "aber der Baron wird etwas ganz anderes tun...
wollen wir wetten?"
"Moment mal!" Der Vizedirektor für Operationen starrte seinen Chef überrascht an. "Sie halten Tangorn also für einen Dilettanten?"
"Nicht für einen Dilettanten, mein lieber Jacuzzi, sondern für einen Amateur. Verstehen Sie den
Unterschied?"
"Ehrlich gesagt - nein, überhaupt nicht."
"Ein Profi ist nicht einer, der alle Techniken seines Gewerbes beherrscht - diesbezüglich hat
der Baron keine Probleme - sondern einer, der immer seine Befehle erfüllt, unter allen Umständen. Tatsache ist, dass der Baron niemals seine Fähigkeiten vermietet hat; ihn bindet kein
Eid und kein Umberto, und er ist den unglaublichen Luxus gewöhnt, nur Dinge zu tun, die er
selbst gutheißt. Wenn ein Befehl seinem Ehrgefühl zuwiderläuft oder seinem Gewissen, wird
er ihn einfach ignorieren, und die Folgen werden ihm egal sein - sowohl die für ihn als auch
die für seine Ziele. Wissen Sie, so einer gehört in ein vendotenisches Kloster statt in einen Geheimdienst."
183
"Ich glaube, ich verstehe Sie," nickte Jacuzzi nachdenklich. "Der Baron lebt in einer Welt voller
moralischer Skrupel und Prägungen, die für uns beide undenkbar sind... Übrigens habe ich
letztens zur Auffrischung noch einmal seine Akte durchgesehen und bin auf ein interessantes
Stück Konversation nach ein paar Gläsern gestoßen. Jemand hat ihn gefragt, ob er eine Frau
schlagen könne, wenn er müsse. Er hat einige Zeit ernsthaft darüber nachgedacht, dann hat er
zugegeben, er könne vielleicht eine Frau umbringen, aber niemals eine schlagen, unter keinen
Umständen. Seine Akte liest sich auch sonst ziemlich eigenartig - sie ist mehr eine Literaturkritik als eine Akte; etwa die Hälfte davon sind Gedichte und Übersetzungen. Ich glaube sogar,
außer uns hat niemand eine so vollständige Sammlung von Tangorns Takatos..."
"Schade nur, dass man sie erst in hundertzwanzig Jahren veröffentlichen können wird, wenn
die Geheimhaltungsfrist ausläuft... Ah! Eine Gondel! Also, wollen wir wetten, dass er irgendeine verrückte Nummer abzieht und all die Leute hereinlegt?"
"Ich glaube, es wäre für uns angebrachter, für seinen Erfolg zu beten, oder noch besser für Marandils Misserfolg..."
Eine kleine, dreisitzige Gondel legte an einer der Treppen ans Wasser an, um einen Mann in einer roten Robe und einem Hut mit schwarzem Futter an Bord zu nehmen, und begann, müßig
über den See zu kreuzen. Plötzlich sah Jacuzzi schläfrig aus; gemütlich nahm er einen vergoldeten Sandelholzbleistift aus der Tasche, schrieb ein paar Worte auf eine Serviette, drehte sie
um und gab den Bleistift Almandin mit den Worten: "Die Wette gilt." Der andere schrieb ebenfalls etwas auf eine Serviette, und beide wurden wieder zu stummen Zuschauern.
Die Gondel hatte ein nicht ganz vollständiges Dreieck beschrieben und kam zu der Treppe neben der zurück, von der aus sie angefangen hatte. Dieser Platz war ständig besetzt von einer
Gruppe Aussätziger, gekleidet in von Kopf bis Fuß gestreiften Gewändern, die dort um Almosen bettelten. Die sogenannte trockene Lepra ist sowohl tödlich als auch unheilbar, aber im
Gegensatz zur 'feuchten Lepra' nicht besonders ansteckend (man bekommt sie nur, wenn man
eine der vielen kleinen Eiterbeulen auf Gesicht und Händen des Leprösen aufdrückt oder etwas tut wie Geschirr teilen) und deshalb wurden die Erkrankten niemals aus Menschensiedlungen verbannt. Die Hakimiani von Khand betrachteten sie sogar als Auserwählte Gottes. Jeden Tag bettelten diese bedauernswerten Gestalten in ihren gestreiften Gewändern schweigend um die Gnade der Bürger, als wollten sie sie auffordern, ihre alltäglichen Sorgen mit der
Last ihrer Lepra zu vergleichen. Sie waren so unbeweglich, dass man sie für einen Bestandteil
der Architektur wie die Pfähle zum Festmachen der Gondeln hätte halten können. Als also eine
dieser in Stoff gehüllten Statuen plötzlich aufstand und mit leichtem Hinken zur Stiege ging,
war eindeutig, dass etwas passieren würde.
Der Aussätzige betrat die oberste Stufe und nahm ein purpurnes Taschentuch aus dem Ärmel.
Eine Gruppe Müßiggänger, die um einen Straßenkünstler herumgestanden hatte, der etwa
zwanzig Schritt entfernt mit drei Dolchen jongliert hatte, teilte sich sofort auf - je zwei nach
links und rechts, um dem Verhüllten die Fluchtwege abzuschneiden, die anderen beiden und
der Jongleur, der seine Dolche aus der Luft gepflückt hatte, gingen direkt auf ihre Beute los.
Der Mann hatte sich eindeutig verrechnet - er hatte seinen Abstieg begonnen, als die Gondel
noch zu weit weg war, etwa fünfzehn Schritt vom Ufer. Er hätte es trotzdem noch ins sichere
Boot geschafft, wenn der Mann im roten Mantel es nicht mit der Angst zu tun bekommen hätte: als er drei bewaffnete Verfolger sah, geriet er in Panik, und der Gondelführer gehorchte den
hektischen Gesten, entfernte sich wieder und ließ seinen Partner im Stich. Der Mann in der
Robe rannte hinunter zur letzten Stufe und blieb stehen - es gab weder Fluchtwege noch Hilfe.
184
Ein paar Sekunden später waren die 'Müßiggänger' bei ihm; zwei drehten ihm die Arme auf
den Rücken, der 'Jongleur' schlug ihn erst in die Leber und dann, als das Opfer sich krümmte,
in den Nacken. Es war vorbei, die Beute eingesackt.
Allerdings: als sie den 'Aussätzigen' auf die Straße zogen, versammelte sich sofort eine wütende Menschenmenge: die Eingeborenen waren eine solche Behandlung Kranker nicht gewohnt.
Zwei Hakimiani in gelben Pilgerhüten, die zufällig in der Nähe gewesen waren, ergriffen sofort
Partei für den 'Mann Gottes', und der Skandal drohte zur Massenschlägerei zu werden. Marandils Leute versuchten entschieden, durch das zunehmende Gedränge zu ihren Kollegen zu
kommen, und irgendwo in der Nähe war auch schon eine Polizeipfeife zu vernehmen. Inzwischen war der Mann im roten Mantel drei Treppen weiter ausgestiegen, ließ die Gondel ablegen und verschwand gemütlich; das Schicksal des falschen Aussätzigen schien ihn eindeutig
nicht weiter zu bekümmern.
"Was halten Sie von dieser Vorstellung, mein lieber Jacuzzi?"
"Wunderbar. An Tangorn ist wahrhaftig ein großer Theaterregisseur verloren gegangen."
Das Gesicht des Vizedirektors hatte sich scheinbar nicht verändert, aber Almandin kannte seinen Untergebenen schon seit Jahren und erkannte, dass die fürchterliche Anspannung, die ihn
die letzten zehn Minuten im Griff gehabt hatte, von ihm abgefallen war und ein triumphierendes Lächeln sich aus den Mundwinkeln breitzumachen begann. Nun ja, es war ja auch sein
Sieg...
Jacuzzi rief einen vorbeikommenden Kellner herbei: "Eine Flasche Núrnen, mein Lieber!"
"Fürchten Sie nicht, unser Glück herauszufordern?"
"Ganz und gar nicht. Es ist vorbei, und Marandil ist so gut wie unser."
Während sie auf den Wein warteten, begutachteten sie die weiteren Ereignisse mit Interesse.
Der Kampf endete ganz plötzlich, obwohl der Lärm zunahm, und in der Mitte entstand ein
Freiraum: der Mann in der Robe lag dort und versuchte vergeblich, aufzustehen. Die 'Müßiggänger' und der 'Jongleur' hatten inzwischen plötzlich jedes Interesse an ihrem Opfer verloren: sie hatten nicht nur losgelassen, sondern versuchten, in der Masse unterzutauchen. Einer
von ihnen sah seine Handflächen in tiefstem Schrecken an.
"Sehen Sie, Chef, sie haben endlich begriffen, dass der Aussätzige echt ist. 'Besser spät als nie'
trifft hier wohl eher nicht zu... Bei der Festnahme müssen sie wohl ein gutes Dutzend Beulen
auf seinen Händen aufgerissen haben und den Eiter daraus abgekriegt haben, also sind sie alle
drei schon so gut wie tot. Kann ihnen die sentimentale Reaktion nicht verdenken: festzustellen, dass man bestenfalls noch drei Monate zu leben hat (wenn man das Leben nennen kann),
muss äußerst, äußerst beunruhigend sein."
"Ich schätze, dass der Aussätzige ein gutes Geschäft dabei gemacht hat."
"Aber sicher! Pro Schlag mindestens einen silbernen Castamir, würde ich sagen; Tangorn ist
keiner dieser Idioten, die am falschen Ende sparen. Wie sagen sie im Norden: die Kacke flutschen lassen, richtig?"
185
Als der goldene Núrnen wie ein Bergbach in ihren Kelchen blubberte, fragte Jacuzzi unverschämt (wozu er heute das Recht hatte): "Wer zahlt?" Almandin nickte, drehte die Servietten
um, verglich die Notizen und erkannte ehrlich: "Ich." Auf seiner Serviette stand ein Wort: Gondelführer, während die Aufschrift des Vizedirektors lautete: T. ist Gondelführer; am Ufer Ablenkung.
186
Kapitel 44
Als die letzten Spuren des Skandals verschwanden und der Aussätzige an seinen gewohnten
Platz zurückgekehrt war, fragte Almandin voller Neugierde:
"Hören Sie. Nehmen wir an, Sie hätten das hier geplant statt diesem Hohlkopf Marandil. Ich
will Sie nicht beleidigen und fragen, ob Sie ihn erwischt hätten. Was mich interessiert, ist, wie
viele Leute Sie gebraucht hätten im Vergleich zu seinen zweiunddreißig."
Jacuzzi dachte eine halbe Minute nach, während er die Anlagen überblickte, und gab dann seine Antwort:
"Drei. Keine Weltklassefechter oder Nahkampfexperten, alles was sie bräuchten, wäre Erfahrung mit Wurfnetzen. Sie sehen, dass alle drei Kanalmündungen von Brücken überspannt werden, keine höher als zehn Fuß über dem Wasser. Ich würde einen Mann auf jede Brücke stellen; der Gondelführer wäre das offensichtliche Ziel, aber auf jeden Fall würden wir vorher Zeichen absprechen. Sobald er unter der Brücke durchfahren würde, würde der Agent das Netz
werfen, dann direkt in die Gondel herunterspringen und ihn mit einer Mantzenillanadel stechen... Sie hatten ganz recht, Chef - die ganze Sache war eine Idiotenfalle. Die Ablenkung mit
dem Leprösen war sehr gut gemacht, aber trotzdem ändert das nichts daran, dass kein Profi
derart seinen Hals riskiert hätte. Er ist tatsächlich ein Amateur - ein brillanter und extrem
glücklicher, aber das Glück wird er nur ein- oder zweimal haben. Beim dritten Mal spätestens
wird er sich das Genick brechen..."
"Sehen Sie mal," unterbrach ihn Almandin mit einem Blick über den Platz, "unser unvergleichlicher Vaddari hat den armen Marandil schon bei den edelsten Teilen in den Klauen! Der lässt
doch keine Gelegenheit aus... Übrigens, werden sie den Hauptmann persönlich anwerben oder
schicken Sie jemand anderen?"
...Das Cafe sah genau so aus wie das, in dem die hohen Tiere der ASA saßen - die gleichen
Korbstühle, der gleiche gestreifte Schirm - aber die Stimmung am Tisch war viel weniger gehoben. Der Gondorer Zweigstellenleiter starrte wie gelähmt und schweigend auf ein Abzeichen auf dem Tisch vor ihm (Karanir, Feldwebel der Geheimwache Seiner Majestät Elessar Elbenstein) und konnte nur stumpf nicken, während Vaddari austeilte:
"Heute wollte der Baron nur wissen, ob ihr ihn im 'Seepferdchen' mit jemandem verwechselt
habt oder ob ihr ihn tatsächlich jagt. Jetzt ist es eindeutig, also schickt er euch diese Marke
und folgende Botschaft, wörtlich: 'Ich bin euch nie in die Quere gekommen, aber wenn ihr
Krieg wollt, könnt ihr ihn haben. Da euch sieben Leichen nicht genug sind, werde ich in ganz
Umbar nach euch jagen, und ihr werdet sehen, was ein einzelner Meister mit einer Bande fetter Penner anstellen kann.' Aber das ist eure Sache, mich geht das nichts an. Wir haben was
anderes zu besprechen."
"Was denn?" Es schien, als sei Marandil alles egal. Auch seine Schläger, die in einer anderen
Ecke zusahen, bemerkten, dass es dem Boss gar nicht gut ging.
"Ganz einfach. Tangorn hat es nicht geschafft, mich zu treffen, das ist das eine. Etwas ganz anderes wäre es, wenn er es geschafft hätte, und ihr es vermasselt hättet und nicht erraten hättet, wer die Gondel geführt hat. Keine Ahnung, wie es mit dem Kopf steht, aber die Offiziersstreifen wären Sie mit Sicherheit los. Ich muss jetzt einen Bericht über das hier schreiben, weil
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Tangorns Brief mit der normalen Post auf der Dienststelle eingegangen ist und das
ordnungsgemäß aufgezeichnet wurde... Schluss damit! Ihre Gorillas sollen sich setzen - ich bin
auch nicht alleine hergekommen! Glaubt ihr ehrlich, ihr könnt euch retten, indem ihr mich
umlegt? Gut... genau so... ganz ruhig sitzen bleiben. Warum glaubt ihr Nordländer nur, ihr
müsstet alles mit Gewalt an euch reißen, was ihr kaufen könntet? Für meinen Bericht spielt es
keine Rolle, wer der Gondelführer war... Also? Mund auf!"
"Ich verstehe gar nichts."
"Junge, dieser Patzer muss ihnen ganz schön aufs Hirn geschlagen sein. Einfaches Angebot fünf Dungans, und es gab keinen Gondelführer. Ich meine, natürlich gab es einen, aber es war
nicht Tangorn. Also wie sieht's aus - ist ihr Hauptmannsabzeichen fünf Dungans wert?"
...Als Vaddari zurück in seiner ungemütlichen Junggesellenbude war, hatte er genug Zeit gehabt, sich Tangorns Angebot zu überlegen. Der Baron hatte natürlich nicht alles riskiert, um
drei Agenten Gondors zu erledigen und Marandil offiziell den Krieg zu erklären. Sein eigentliches Vorhaben war, so seltsam es auch schien, Vaddari zu treffen, um ihm ein äußerst delikates
Geschäft vorzuschlagen. Es sollte eigentlich ganz einfach sein (auch wenn der Zeitrahmen mit
einer Woche äußerst knapp bemessen war), aber auch sehr gefährlich - ein einziger Fehltritt,
und der Inspektor würde direkt im Keller der Küstenstraße 12 landen, der auf ewig nach Blut,
verbranntem Fleisch und Erbrochenem stinken würde. Der Baron hatte ihm ganze einhundertfünfzig Dungans im Erfolgsfall geboten, das Gehalt eines Inspektors für zwölf tadellose
Dienstjahre. Vaddari wog das Risiko ab und entschied, dass es das wert war; er war kein Feigling und ließ keine Arbeit unvollendet.
***
"Lieber Jacuzzi, Euer Gesichtsausdruck lässt darauf schließen, dass Glückwünsche angebracht
sind."
"Es war sogar noch einfacher als gedacht - er ist sofort umgekippt. 'Wenn wir Minas Tirith
über den Gondelführer informieren, wird das zeigen, dass Sie Tangorn zwei Mal in den
Fingern hatten und ihn zwei Mal entkommen ließen. Bei der Gegenspionage wird niemand an
so einen Zufall glauben. Für sie wird es so aussehen, als ob Sie mit dem Baron zusammen arbeiten und sogar kaltblütig den Tod von sieben Agenten in Kauf genommen haben, um ihn
nicht auffliegen zu lassen. Man wird sie in den Keller bringen, ein Geständnis aus ihnen herausquetschen, dass sie für Emyn Arnen arbeiten und sie dann verschwinden lassen.' Die Logik
erschien ihm makellos, und er hat die Rekrutierungsvereinbarung gleich unterschrieben. Sie
können Makarioni benachrichtigen, dass er die Arbeiten in Barangar beschleunigen kann - der
Spionageapparat Gondors ist effektiv taub und blind... Wissen Sie, was er als Entlohnung verlangt hat? Offenbar ist ein zweiter Trupp zur Zeit in Umbar aktiv, mit Befehlen direkt aus Minas Tirith."
"Sieh an."
"Zum Glück haben diese Leute kein Interesse an Barangar. Aus irgendwelchen Gründen jagen
sie Tangorn und haben die örtlichen Behörden davon abgehalten, das gleiche zu tun. Ihr Kommandant ist ein Leutnant Mungo, ausgestattet mit G - Mandat und laut Marandil ein Profi von
größtem Kaliber."
188
"Sehr interessant."
"Marandil hat den direkten Befehl, Tangorn zu vergessen, verweigert und dürfte sofort verhaftet werden, sobald der Leutnant davon erfährt. Der Hauptmann will, dass wir diesen Mungo
und seine Leute aus dem Weg schaffen, nur um sicher zu gehen. Ich halte das für angemessen:
wir müssen diesen Strolch hüten wie unseren Augapfel, zu mindestens bis Schirokko gelaufen
ist. Um es anders auszudrücken, Chef, werden Sie den Generalstaatsanwalt verständigen müssen. Unser lieber Almaran ist engstirnig, was Recht und Gesetz angeht und macht immer ein
Riesentheater wegen Beseitigungen, aber hier muss er sich nach uns richten."
"Fürchten Sie nicht, dass er eine Frage stellen wird: wie lange wird der Mann leben, der die Ermordung eines Geheimdienstlers Gondors genehmigt hat, und wie wird sein Tod wohl aussehen?"
"Almaran ist ein elendiger Pedant, aber kein Feigling. Denken Sie an die Arreno - Affäre, als er
sowohl die Drohungen als auch die Bitten zweier Senatoren ignoriert hat und drei Zamorrobosse an den Galgen gebracht hat. Was Mungo angeht, ist die Lage eindeutig: er ist mit
falschen Papieren illegal im Land und plant eine Entführung und Ermordung. Es sollte keine
Probleme geben."
"Auf dieser Seite nicht, das stimmt. Das Problem ist, diese Leute zu finden."
"Oh, das schaffen wir!" antwortete der Vize mit einiger Leichtigkeit. "Die Stadt gehört immer
noch uns. Tangorn haben wir in ein oder zwei Tagen, und damit einen Köder für die Jäger."
"Wir werden sehen."
Dieser Kommentar erwies sich als prophetisch. ASA - Agenten durchsuchten Umbar von hinten bis vorne, aber fanden weder Tangorn noch Mungo; beide Leutnants schienen sich in Luft
aufgelöst zu haben. Am vierten Tag der Suche wurde es offensichtlich, dass keiner von beiden
sich noch in der Stadt befand; vermutlich lag der Baron auf dem Grund eines der Kanäle und
Mungo stieg vermutlich in Pelargir vom Boot, um seinen Auftrag als ausgeführt zu melden.
Also auf Nimmerwiedersehen - Marandil ist außer Gefahr, also warum sollte man sich in diesen Ithilien - Gondor - Schlamassel einmischen?
Interessanterweise war die Einschätzung des Geheimdienstes von Umbar, dass Tangorn nicht
mehr in der Stadt war, vollkommen richtig. Um diese Zeit befand sich der Baron bereits an
Bord einer Felukke namens Fliegender Fisch, der er befohlen hatte, etwa zehn Meilen vom Kap
Jurinjoy südlich von Umbar zu kreuzen, weit weg von den Hauptseerouten. Die drei Schmuggler, die die Besatzung der Felukke bildeten (ein Onkel Sarrakesch und zwei seiner 'Neffen')
fanden dieses Benehmen zwar komisch, aber sie behielten ihre Meinung für sich. Ihrer Ansicht
nach hatte jemand, der für eine dreiwöchige Anmietung ein halbes Hundert Dungans bezahlt
hatte, ein Recht darauf, nicht mit Fragen oder guten Ratschlägen behelligt zu werden. Sogar
wenn sie sich damit in eine ähnlich große Affäre wie den letztjährigen Überfall auf den
Goldtransport des Schatzamtes der Republik verwickelt hätten, wäre die Bezahlung die Gefahr
wert gewesen; außerdem sah ihr Fahrgast nicht nach einem Kriminellen aus, auch wenn er
eine Empfehlung vom Lahmen Vittano persönlich hatte (dem Mann, den man hinter seinem
Rücken zum Spaß den 'Prinz von Kharmia' nannte). In der vorigen Nacht auf den Zwölften hatte die Besatzung endlich Gelegenheit, ihre Fähigkeiten zu beweisen - die Fliegender Fisch
schlüpfte direkt unter der Nase der flinken Galeeren der Küstenwache in das Labyrinth der
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kleinen Inseln auf der Westseite der Bucht von Kharmia. Nach dem gewohnheitsmäßigen
Austausch von Signalen in einer unverdächtigen Bucht nahmen sie Post für den Baron auf und
zogen sich dann nach Jurinjoy zurück.
Ein Brief war von Vaddari. Der Inspektor hatte eine Erfolgsmeldung: er hatte zwei Schutzhäuser Gondors ausfindig gemacht und alles über ihre Besitzer und Warnzeichen herausgefunden.
Die andere Untersuchung war im Sande verlaufen (wie Tangorn es erwartet hatte): jede Person, die mit Aragorns Flotte zu tun gehabt hatte, war entweder an plötzlichen Krankheiten
oder Unfällen verstorben oder hatte keinerlei Erinnerung mehr daran; und die entsprechenden Dokumente der Hafenbehörden, die Jahre zurückreichten, stellten sich als gefälscht heraus (obwohl es keine sichtbaren Zeichen für Veränderungen gab); es schien, als habe es eine
ganze Menge Umbarer Schiffe niemals gegeben. Und noch mehr: die zwei Senatoren, bei denen
Vaddari diesbezüglich seine Fühler ausgestreckt hatte, bestanden darauf, dass sie sich nicht
mehr an die Details der Senatssitzung erinnern könnten, in der über die Unterstützung Gondors im Krieg des Rings abgestimmt worden war, aber das alles sicher im Sitzungsprotokoll
des 29. Februars festgehalten worden sei; die ehrsamen Volksvertreter reagierten äußerst
empfindlich auf alle Hinweise, dass dieses Jahr kein Schaltjahr gewesen sei. Die ganze Angelegenheit stank förmlich nach Hexerei, also begrüßte Tangorn von ganzem Herzen Vaddaris Entscheidung, nicht weiter in dieser Sache nachzuhaken und nicht auch einem 'Unfall' zu erliegen.
Dadurch wurde der zweite Brief noch wertvoller. Er enthielt Informationen, die Alwiss gesammelt hatte und die von Vaddari und Vittanos Leuten weitergeleitet worden waren. Sie hatte
mit ihren zahlreichen Freunden in der Kunst- und der Geschäftswelt gesprochen, und zwar
über ein Thema, das so unverdächtig war, dass kein Überwacher, der ihr heutzutage im
Nacken saß, Alarm geschlagen hätte, egal ob in der ASA oder der Küstenstraße 12. Wie meistens waren die wichtigen Informationen frei zugänglich und allseits bekannt, und das Bild, das
sich daraus ergab, erwies sich als höchst interessant.
Vor etwa drei Jahren, als der Krieg sich im Norden aufzuheizen begann, war in der Jugend Umbars das Elbentum in große Mode gekommen. Die einfacheren Geister wurden mit elbischer
Musik und Symbolik abgespeist, aber die Gebildeteren hatten eine komplette Ideologie geboten bekommen. Alwiss zufolge war es eine wilde Mischung aus den Predigten der Derwische
von Khand ("besitze nichts, fürchte nichts, begehre nichts") und Mordorer Anarchisten (Neuaufbau der Gesellschaft auf den Grundlagen vollständiger persönlicher Freiheit und sozialer
Gleichheit) gewürzt mit pastoralem Gewäsch über "allumfassender Einheit mit der Natur".
Man konnte sich nur wundern, wie die jungen Intellektuellen Umbars auf solchen primitiven
Unsinn hereinfallen konnten, aber sie taten es und das nicht zu knapp. Zu allem Überfluss
zeigte sich bald, dass andere Ansichten ungehörig und sogar gefährlich waren: jeder, der das
Pech hatte, etwas anderes zu zeigen als Anbetung und Unterstützung, wurde geschnitten und
gejagt - "Kinder können grausam sein".
Nach einem Jahr war das alles so plötzlich vorbei, wie es angefangen hatte. Alles, was von der
Bewegung geblieben war (und zweifellos war es eine organisierte Bewegung gewesen) war
die Malerschule der Elbinar - eine recht interessante Version des Primitivismus - und ein Dutzend verrückter Gurus, die ekstatisch von der bevorstehenden Umwandlung Mittelerdes in
Zauberwälder predigten; allerdings beschränkten sie ihre Aktivitäten auf gegenseitiges Verleumden und den Missbrauch ihrer berauschten, minderjährigen Kultanhänger. Die Ernsthaften hatten all das weggeworfen und waren in den Schoß der Familien zurückgekehrt, von denen sie sich im Laufe des letzten Jahres vollkommen abgewandt hatten. Ihre Erklärungen klangen ähnlich - von 'der Teufel hat mich verführt' bis 'wer in der Jugend nicht rebelliert, hat kein
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Herz, wer als Erwachsener rebelliert, hat keinen Verstand' - aber welche Familie achtet noch
auf stimmige Erklärungen, wenn das geliebte Kind endlich wieder mit am Esstisch sitzt? Das
alles hätte man noch als Unsinn abtun können, der keiner weiteren Beachtung bedürfe
(Jugendkulte gibt es wie Sand am Meer), wenn es da nicht einen merkwürdigen Umstand
gegeben hätte - alle 'Rückkehrer', auch die Nachkommen der berühmtesten Familien der
Republik, entwickelten plötzlich eine ungewöhnliche Zuneigung zum Staatsdienst, was vorher
in der Jugend der Oberschicht nie der Fall gewesen war. Die Wandlung eines Träumers und
halben Künstlers oder eines Partygängers in einen Vorzeigebeamten macht so schon einen
merkwürdigen Eindruck; wenn das dutzend- oder gar hundertfach passiert, wird das Muster
beunruhigend. Kommt dazu noch, dass all diese jungen Leute in den letzten zwei Jahren
atemberaubende Karrieren hingelegt hatten (und dabei einen unglaublichen Grad an Einigkeit
und gegenseitiger Unterstützung gezeigt hatten - besser als jeder Zamorro) und die
Dienstleiter in atemberaubendem Tempo emporkletterten, wurde das Bild beängstigend.
Ohne Zweifel würden in sieben, acht Jahren genau diese Leute alle Schlüsselstellen der Macht
in der Republik besetzt halten - vom Außenministerium über die Admiralität und dem
Schatzamt bis zum Geheimdienst - und damit die Macht in Umbar in Händen halten, ohne auch
nur einen Schuss abgegeben zu haben. Das Ungeheuerlichste daran war, dass es niemanden in
Umbar zu kümmern schien, bis auf ein paar alte, niedere Bürokraten, die gefühlsduselig
murmelten: "Wir sollten die jungen Leute wirklich nicht belästigen! Seht doch, wie sie zum
Wohl des Vaterlands arbeiten!"
...Tangorn legte Alwiss' Liste mit guten drei Dutzend 'Rückkehrern' beiseite und betrachtete
einstweilen in Gedanken versunken eine Möwe, die der Fliegender Fisch hinterher glitt. Im
wolkenlosen Blau schien sie bewegungslos da zu hängen wie ein Haken - den Haken, den er
neben seinen nächsten Kontakt setzen würde. Sein Problem war nicht die Schwierigkeit, ein
Ziel auszuwählen; das Traurige war, dass ihm diese Kinder sympathisch waren, allein aufgrund des wenigen, was er von ihnen wusste. Geld verachtende Idealisten, deren Aufrichtigkeit allein ihrer Naivität gleich kam... Leider würde er keine Gelegenheit haben ihnen zu erklären, dass das wahre Lorien (im Gegensatz zu dem, was sich ihre jugendliche Einbildungskraft
vorstellte) nicht eine Spur von Freiheit oder klassenloser Gleichheit aufwies, so weit er das sagen konnte, oder dass die 'verfaulte selbstsüchtige Pseudodemokratie', in der sie aufgewachsen waren, gewisse Vorzüge gegenüber einer theokratischen Diktatur besaß.
Also: er sucht nach den liebenswürdigsten und vielleicht sogar geistig verwandtesten Leuten
in Umbar.
Er sucht sie, um sie umzubringen.
Wie pflegte Haladdin zu sagen? "Heiligt der Zweck die Mittel? Allgemein betrachtet kann dieses Problem nicht gelöst werden."
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Kapitel 45
Umbar, Lampenstraße
Nacht des 14. Juni 3019
Jeder Umbarer sagt, dass jemand, der den Großen Karneval nicht erlebt hat, in seinem Leben
noch nichts erlebt hat. So anmaßend das auch klingt, es gibt gute Gründe dafür. Es sind nicht
die Kostümprozessionen und die Feuerwerke, obwohl sie beeindruckend sind. Die Hauptsache
ist, dass am zweiten Sonntag im Juni alle gesellschaftlichen Schranken fallen: Straßenleute
werden zu Hochgeborenen und die Hochgeborenen werden zu Straßenleuten, während ein
Komödiantenpaar, das sich in einem Stück über die bekanntermaßen geistig langsamen Bewohner der Halbinsel lustig macht, sich vielleicht aus einem Senator und einem Mitglied der
Bettlergilde zusammensetzt. An solch einem Tag läuft die Zeit rückwärts und jeder wird wieder so sorglos sein wie in der Jugend, wie die warmen, weichen Lippen des Mädchens mit der
schwarzen Maske, die man ihrem Partner entführt hat; an diesem Tag ist Profit eine Sünde
und Diebstahl unwürdig. An diesem Tag steht jedem alles frei, außer hinter die Maske eines
anderen zu blicken...
In diesem Sinne waren die Taten zweier edler Herren, die hinter einer Knallfrösche werfenden
Prozession die Lampenstraße herab an der Kreuzung mit der Münzenallee zurückgeblieben
waren, eindeutig als unpassend zu bewerten, auch wenn die Taten offenbar in bester Absicht
verübt wurden. Diese beiden - einer im bunten Trikot eines Zirkusartisten, der andere im Narrenkostüm - beugten sich über einen dritten, der den blauen und goldenen Mantel eines Sternendeuters trug und auf dem Boden ausgestreckt lag. Bei ihren nicht besonders geschickten
Wiederbelebungsmaßnahmen ("He, du, wach auf!") haben sie seine silberne Maske entfernt;
die Möchtegernretter sind eindeutig selbst kurz vorm Umkippen.
Eine schnatternde Dreiergruppe Mädchen in Dominokostümen erschien aus der Allee auf der
Szene. "Partner, Partner!" klatschten sie im Chor, "und auch noch die richtige Zahl! Der Artist
gehört mir! Komm her, Süßer!"
"Mal langsam, Schwestern!" antwortete dieser. "Ihr seht ja, Nummer drei ist irgendwie nicht
ganz da..."
"Oh, der ärmste! Zuviel getrunken?"
"Weiß nicht. Hat sich gerade noch die Füße wund getanzt in der Prozession, und hoppla! weg
war er. Dabei hat er noch nicht mal so viel geschluckt..."
"Vielleicht weckt ein Kuss ihn wieder auf?" kicherte der blaue Domino kokett.
Der Narr grinste: "Nur zu, Kleine - vielleicht kommt's ihm wieder hoch, das würde schon helfen!"
"Bäh! Mistkerl..." Das Mädchen war beleidigt.
"Aber schöne Damen, wer wird sich denn aufregen?" meinte der Artist liebenswürdig und legte einen bemerkenswert ruhigen Arm ein gutes Stück unterhalb der Hüfte um den purpurnen
Domino (und wurde umgehend mit einem anzüglichen 'He, Frechdachs!' belohnt). "Ihr seid
alle Volltreffer, wir sind ganz hin und weg und so weiter. Habt ihr was zu trinken?.. Schade. Wir
machen es so: ihr nehmt die Allee zur Küste, kauft uns allen dort genug Núrnen," mit diesen
Worten gab er ihnen einen kleinen Beutel voller Silbermünzen, "und, vor allem, besorgt ein
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paar Sitzplätze bei den Musikern. Wir kommen in ein paar Minuten nach, wenn wir den Herrn
hier auf den Rasen dort geschafft haben, soll er sich dort ausschlafen... Und so was passiert
ausgerechnet im Karneval!.."
Als die Mädchen verschwunden waren, mit klappernden Absätzen, atmete der Narr tief durch
und schüttelte den Kopf, als könne er sein Glück nicht glauben: "Puh! Ich dachte schon, das
wäre es gewesen und wir müssten die drei erledigen..."
"Ja, du stehst auf drastische und schnelle Lösungen, ich weiß," grummelte der Artist, "und darum muss ich dich ja auch ständig im Auge behalten. Hast du mal einen Gedanken darauf verschwendet, wie wir hier auf die Schnelle drei Leichen loswerden sollen?"
"Eigentlich nicht," gab der andere zu. "Also, Chef - sind wir sicher?"
"Eher nicht, also - kein Mord, aber Beschattung wird nötig sein. Weiß der Teufel, wer die drei
waren, auch wenn mir das nicht nach Tarnung aussah. Verfolge sie bis an die Küste und mach,
dass du wieder herkommst, falls was faul ist."
"Und du, ganz alleine?"
"Mantzenilla ist ein praktisches Zeug, der Kerl wacht frühestens in einer Stunde auf. Hilf mir,
ihn hochzunehmen," mit diesen Worten kniete der Artist neben dem Sterndeuter, "die hundert
Schritte bis zur Tür schaffe ich schon irgendwie."
...Das Aufwachen des Sterndeuters aus seiner Betäubung war langsam und mühevoll, aber gerade als er wach wurde, hielt man ihm die Nase zu und goss ein Aufputschmittel auf Colabasis
in seinen Hals - die Zeit war knapp und das Verhör konnte nicht warten. Er hustete und würgte (ein Teil der ätzenden Flüssigkeit war in der falschen Röhre gelandet) und machte die Augen auf. Der erste Blick verriet ihm genug über seine Situation: ein fensterloser Raum (aber
immer noch eher Erdgeschoss als Keller) und zwei Männer in den Kostümen eines Artisten
und eines Narren; Moment mal... ja, die zwei waren doch in der gleichen Prozession wie er
mitgetanzt, dann - ja! - hatte der Artist ihm einen Schluck Wein aus einer mit Drachen verzierten Glasflasche gegeben. Es war ein guter Tropfen gewesen, aber zwei Schlucke hatten ihn
komplett umgehauen, und nun saß er hier in einen Armsessel gefesselt, vor ihm eine Blechschale voll mit Übelkeit erregenden Gerätschaften. Allein schon bei diesem Anblick wurde ihm
kalt. Wie konnte das sein - der Artist hatte doch vor seinen Augen aus der gleichen Flasche getrunken? Ein Gegengift? Egal, wichtiger ist, wer die Typen sind - die Abteilung oder Küstenstraße 12? Er sah weg, auf das vom Feuer beleuchtete maskierte Gesicht des Narren, der eifrig
in einer Schüssel mit glühenden Kohlen rührte, und erzitterte so stark, dass er fast einen
Krampf im Rücken bekommen hätte.
Der Artist brach das Schweigen: "Herr Algali, Untersekretär im Außenministerium, wenn ich
mich nicht irre?" Er saß ein Stück entfernt und betrachtete den Gefangenen aufmerksam.
"Sie irren nicht. Mit wem habe ich die Ehre?" Der Untersekretär hatte seinen Witz wiedergefunden und zeigte nur Überraschung, ohne Anzeichen von Furcht.
"Mein Name tut nichts zur Sache. Ich vertrete die Geheimwache des Wiedervereinigten Königreiches und hoffe mit ihnen zu arbeiten. Die Einrichtung ist vielleicht nicht so vielfältig wie in
der Küstenstraße 12, aber der Keller tut es genau so gut."
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"Ihre Anwerber arbeiten ziemlich seltsam." Algali zuckte mit den Achseln, und so etwas wie
Erleichterung machte sich in seinem Gesicht breit. "Sie sollten doch gemerkt haben, dass es
hier im Süden einfacher ist, zu kaufen als zu rauben. Sie wollen mich für ihr Netz? Sicher! Also
warum das Theater?"
"Das Theater ist nicht unbegründet. Wir haben kein Interesse an den Informationen über
Khand, an die Sie bei der Arbeit herankommen, sondern an etwas ganz anderem."
Der Untersekretär hob fragend eine Augenbraue: "Das verstehe ich nicht."
"Schluss mit dem Geplauder - du hast schon kapiert, es sei denn, du bist blöde. Wir wollen das
elbische Netz, zu dem du gehörst - Namen, Schutzhäuser, Passwörter. Klar?"
"Elbisches Netz? Habt ihr die falschen Drogen genommen?" Algali grunzte verächtlich - zu verächtlich für seine Lage.
"Jetzt pass mal auf, und pass gut auf. Ich würde das hier viel lieber weglassen," damit deutete
der Artist auf das Kohlebecken und das Werkzeug, "aber hier gibt es nur zwei Möglichkeiten.
Nummer eins: du sagst uns alles, was du weißt, dann gehst du heim und arbeitest weiter für
uns. Nummer zwei: Wir helfen dir, alles zu sagen, was du weißt," noch ein Blick auf die Kohlen,
"aber dann kommst du hier nicht mehr raus. Du kannst dir ja vorstellen, wie du hinterher aussehen wirst, und wir wollen deine Elbenkumpel ja nicht ängstigen. Also mir gefällt Nummer
eins besser, und dir?"
"Nun, mir auch, aber so oder so kann ich nichts erzählen. Sie machen einen Fehler, ich bin
nicht die Person, die Sie suchen."
"Ist das dein letztes Wort? Ich meine - das letzte, bevor wir anfangen?"
"Ja. Das ist ein Irrtum, ich habe noch nie von einem Netzwerk der Elben gehört."
"Jetzt hast du dich verraten, Kumpel!" Der Artist war sichtbar zufrieden. "Wenn du ein normaler Umbarer Beamter wärst, wärst du jetzt entweder hysterisch oder würdest dir dieses Netz
einfach ausdenken. Wir würden deine Fehler aufdecken, du würdest neue Lügen erfinden...
aber du versuchst nicht einmal, Zeit zu schinden. Wenn ich auch nur den geringsten Zweifel
wegen dir gehabt hätte, wäre der jetzt ausgeräumt. Irgendwelche Einwände?"
Algali schwieg - es gab nichts zu sagen und es war auch nicht nötig. Noch wichtiger: eine seltsame Ruhe überkam ihn. Die Macht, der er verbunden war, kam zu seiner Rettung; er fühlte
ihre Gegenwart fast wie das Streicheln einer Mutter: "Bitte halte aus, Sohn! Es wird nicht zu
schlimm sein und bald vorbei. Fürchte dich nicht, ich bin bei dir!" Erstaunlicherweise bemerkte auch der Artist diese unsichtbare Gegenwart der Macht; ein Blick auf Algalis ruhiges Lächeln reichte ihm, um zu erkennen, dass ihm das verdammte Kind entglitten war. Jetzt, außerhalb seiner Reichweite, konnte er ihm alles antun - er würde sterben, ohne ein Wort zu sagen.
Das passiert nicht oft, aber es passiert. Also schlug er den Mann im Sessel mit all seiner Wut
mitten ins Gesicht: "Hundesohn, Elbenhure!" und bestätigte so seine Niederlage.
"Elbenhure? Sehr interessant."
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Niemand hatte den vierten Mann, als Mashtang - Bandit verkleidet, zur Tür hereinschlüpfen
sehen. Sein Schwert war allerdings kein Teil des Kostüms: ein Schlag mit dem Heft auf den
Kopf setzte den Artisten außer Gefecht. Der Narr hatte noch Zeit zum Ausweichen und zum
Ziehen seiner Klinge, aber das half ihm nicht - als Fechter war er hoffnungslos unterlegen, und
nach zehn Sekunden hatte ihm ein Hieb die Brust aufgeschlitzt, so dass das Blut in alle Richtungen spritzte. Auch auf den Sterndeuter. Nachdem er das Schwert sorgfältig mit einem Lumpen vom Boden abgeputzt hatte, sah der Mashtang den Gefangenen mit finsterer Überraschung an:
"Wenn ich richtig gehört habe, guter Mann, wollten diese Kerle Euch als Mitglied des elbischen
Untergrunds bezichtigen. Ist dem so?"
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Kapitel 46
"Ich verstehe nicht." Algalis Aussprache ließ sehr zu wünschen übrig; er fuhr mit der Zunge
über seine Zähne, um zu sehen, ob der Schlag Spuren hinterlassen hatte.
"Verdammt, junger Mann, ich bin kein so großer Idiot, dass ich Euch fragen würde, ob Ihr zu
einem Untergrund gehört! Ich frage - was wollten die Männer von Aragorns Geheimwache von
euch?"
Algali versuchte schweigend, die Lage zu verstehen. Die ganze Sache stank förmlich nach einem schlechten Theaterstück, komplett mit weißem Ritter in glänzender Rüstung, der aus
dem Schornstein fällt - genau dann, wenn die Prinzessin sich schon in den Krallen des haarigen Räuberhauptmanns befindet, aber ihre Unschuld noch besitzt. Zu mindestens könnte es so
sein, wenn da nicht ein paar Sachen stören würden: das Schwert des Mashtang, mit dem er gerade losgeschnitten worden war, war zweifellos echt, und der Streich gegen die Brust des Narren war es (dem Geräusch nach) auch gewesen; und nicht zuletzt war das Blut, das er sich gerade von der rechten Backe wischte, eindeutig kein Preiselbeersaft.. Offenbar war er in eine
anderweitige Sache geraten; aber jedenfalls konnte es nicht mehr schlimmer werden als es
schon war.
"Oh, nebenbei, mein Name ist Baron Tangorn. Wer seid Ihr, junger Mann?"
"Algali, Untersekretär im Außenministerium, zu Ihren Diensten."
"Angenehm. Sehen wir uns die Sache an. Mein plötzliches Auftauchen muss geradezu arrangiert aussehen – so was passiert sonst doch nur in Büchern - also muss ich Ihnen geradezu
verdächtig vorkommen..."
"Oh, Baron, ich bin Ihnen zunächst einmal dankbar," verbeugte sich Algali mit übertriebener
Förmlichkeit. "Ohne Ihre Einmischung hätte ich ein tragisches Ende gefunden, wahrhaftig. Es
ist doch kaum zu fassen, dass diese Leute geglaubt haben, ich würde irgendeiner Elbenorganisation angehören..."
"Nun, sehen wir die Sache mal von meiner Warte aus. Vergebt mir, aber ich denke, meine 'Kameraden' aus Gondor lagen durchaus richtig... Lasst mich ausreden!" Plötzlich klang in der
Stimme des Mashtang ein stählerner Befehlston. "Also: Ich bin von Ithilien nach Umbar gekommen, mit einem Sonderauftrag, Kontakt mit den Elben aufzunehmen und ihnen eine lebenswichtige Information zukommen zu lassen - für einen bestimmten Preis, selbstredend.
Unglücklicherweise hat Aragorn davon erfahren und versucht, diesen Handel zu unterbinden,
denn auch für ihn geht es hier um Leben oder Tod. Seine Geheimwache jagt mich. Vor drei Tagen versuchten sie, mich im Seepferdchen festzunehmen, und seither spielen wir in der ganzen
Stadt Katz und Maus miteinander. Die Maus hat sich als Skorpion entpuppt, und bisher hat sie
das sieben Männer gekostet - acht, wenn man den da mitzählt." Er deutete nachlässig auf den
Narren. "Jedenfalls habe ich heute endlich eines ihrer Verstecke gefunden - Lampenstraße 4 und beschloss selbstredend, ihnen einen Besuch abzustatten. Und was finde ich? Geheimwachen, die einen jungen Mann befragen - und das so aufmerksam, dass sie noch nicht einmal
eine Wache aufgestellt haben - einen jungen Mann, von dem sie glauben, dass er zu eben jenen
Elben Kontakt hat, die ich die letzten zwei Wochen ohne Erfolg gesucht habe. Und nun frage
ich: Welcher dieser beiden Zufälle scheint Euch verdächtiger?"
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"Nun, theoretisch gesprochen..."
"Selbstredend, rein theoretisch - wir waren uns einig, Eure Zugehörigkeit zum Netz der Elben
nur zum Zwecke dieser Diskussion als gegeben vorauszusetzen. Jedenfalls bin ich geneigt, Eurer Geschichte zu glauben; ehrlich gesagt bleibt mir auch nichts anderes übrig. Zunächst müsst
Ihr Euch verstecken..."
"Auf keinen Fall! Eure ganzen Spionagegeschichten..."
"Seid Ihr so dämlich? Sobald ihr in der Küstenstraße 12 auf der Liste steht, war es das - Ihr
seid verdammt. Ihr könnt eure Nichtzugehörigkeit zum Netz der Elben nur beweisen, indem
Ihr unter der Folter sterbt, woraufhin sie mit den Achseln zucken und sich für ihren Fehler
entschuldigen werden - vielleicht. Also selbst wenn Ihr von all dem keine Ahnung habt, müsst
Ihr Euch ein Schlupfloch suchen; und es geht mir hier nicht darum, Eure Probleme zu verstehen und Euch eins von meinen aufzuhalsen, wenn es recht ist. Solltet Ihr hingegen tatsächlich
zum elbischen Untergrund gehören, würde diese wundersame Rettung für euch eine lange
und ausführliche Nachbesprechung mit eurem eigenen Sicherheitsdienst - oder wie das auch
immer dort heißt - bedeuten. In diesem Fall würdet Ihr einfach nur all das berichten, wovon
Ihr bis jetzt Zeuge gewesen seid und ihnen folgendes ausrichten: Baron Tangorn von Ithilien
sucht Kontakt zu Elandar."
"Diesen Namen habe ich noch nie gehört."
"Auf eurer Stufe in der Organisation wohl kaum. Jedenfalls: Sollten Eure Befehlshaber der Meinung sein, dies rechtfertige ihre Aufmerksamkeit, warte ich auf euch jeden Freitag Abend um
sieben im Restaurant 'Grüne Makrele'. Macht ihnen klar, dass ich nur mit Elandar selbst rede;
ich bin nicht interessiert an Flunkereien."
Als er den Sterndeuter nach draußen gebracht hatte, in eine vom Feuerwerk erhellte Nacht,
hielt der Mashtang seinen Schützling zurück: "Moment. Zunächst merkt Euch dieses Haus, die
Adresse und all das - glaubt mir, Ihr werdet das brauchen. Dann noch eines: Wenn ich aus diesem Artisten herausgeholt habe, wer in der Küstenstraße 12 Algali, Untersekretär im Außenministerium, auf die Liste gesetzt hat und warum, werde ich seine unterschriebene Aussage in
einem Brief in Mama Madinos Haus im Kharmiadorf für Euch hinterlegen. Also, Junge, lebe
wohl. Ich muss mit unserem gemeinsamen Freund reden, solange die Kohlen noch heiß sind."
Es sah nicht so aus, als hätte der Untersekretär sich die Warnung des Mashtang zu Herzen genommen. Er zog noch eine Weile durch die Straßen (und sah sich dabei wohl ungeschickt nach
Verfolgern um) und begab sich dann in die Kometen - Bar, das bevorzugte Lokal der Künstlerszene. Der Ausschank war immer voll und heute, zum Karneval, bis zum letzten Platz besetzt.
Hier im Licht konnte man sehen, dass Algali doch nicht ganz unbeschädigt geblieben war: seine Hände zitterten doch deutlich. Während er darauf wartete, dass ihm der Barmann einen
Vergissmeinnicht machte - ein kompliziertes Getränk mit elf Zutaten - stapelte er mechanisch
ein paar Münzen aufeinander, aber seine Finger gehorchten ihm nicht recht, und der Stapel
fiel immer wieder um. Nachdem er das ein paar Mal mit angesehen hatte, seufzte der Barmann und stellte das Getränk beiseite: "Nimm lieber mal nen Rum, Bursche, der bekommt dir
erst mal besser..." Er verbrachte ein paar düstere Stunden in einer Ecke, ohne mit jemandem
zu reden, dann plötzlich bestellte er noch ein Getränk, nach dem er das Lokal verließ. Durch
ein paar Nebenstraßen marschierte er zur Brücke der Erfüllten Wünsche, die um diese Stunde
vollkommen verlassen dalag, und verschwand.
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Hätte jemand Algali beobachtet, hätte er sicher von übernatürlichen Kräften gesprochen: der
Mann verschwand einfach. Theoretisch wäre ein Sprung in eine Gondel, die unter der Brücke
entlang fährt, möglich; aber die Brücke der Erfüllten Wünsche spannt sich in einer Höhe von
dreißig Fuß über dem Wasser. Solche Kunststücke dürfte ein Bürohengst kaum fertigbringen,
zumal das alles genau abgestimmt werden müsste. Jedenfalls wären andere Erklärungen noch
unglaublicher. Natürlich könnte man auch nur "Elbische Magie!" sagen, aber erklärt hätte das
auch nichts. Kurz gesagt, wie Algali in eine einfache Fischerhütte an der Barangarbucht gekommen war, blieb ein Geheimnis.
Zwei Stunden später stand er nackt inmitten der Hütte, die Augen geschlossen und die Arme
ausgebreitet. Ein dürres, schwarzhaariges Mädchen, das irgendwie an einen traurigen Vivino
erinnerte, bewegte langsam die Handflächen über seinen Rücken, mit nicht mehr als einer
Haaresbreite Abstand. Nachdem sie seinen ganzen Körper so untersucht hatte, schüttelte sie
den Kopf: "Er ist sauber. Keine Spur von Zauberstaub."
"Danke, Kleine!" Der Mann, der in der Ecke auf einem alten Fass saß, hatte das feste, ruhige
Gesicht eines Kapitäns auf der Brücke im Sturm. "Bist du müde?"
"Nicht wirklich." Sie versuchte zu lächeln, aber es kam schief heraus.
"Ruh dich eine Stunde aus."
"Ehrlich, ich bin nicht müde!"
"Geh dich ausruhen. Das ist ein Befehl. Dann sieh dir noch einmal die Kleider an, jeden Faden ich will absolut sicher sein, dass er nicht markiert ist." Er drehte sich zu einem Jugendlichen
im Fledermauskostüm um: "Und deine Geschichte?"
"Gegenüberwachung hat keine Verfolger gesichtet, zumindest nicht vom Komet bis zur
Brücke. Ich bin ihm gefolgt, weil ich ja sowieso die Strickleiter, die er benutzt hat, um in die
Gondel zu kommen, wegnehmen musste, und alles war sauber."
"Probleme?"
"Keine. Wir haben einen Decktrupp alarmiert, als wir das Gefahrensignal bekommen haben den Vergissmeinnicht und die fallenden Münzen. Mit dem zweiten Getränk hat der Barmann
ihm gesagt, wo die Leiter hing, und alles lief glatt von da."
"Gut, im Moment könnt ihr gehen. Algali, zieh dir etwas an und erzähle deine Geschichte. Du
hast meine ganze Aufmerksamkeit."
***
Mit einem letzten Blick auf den Rücken des Untersekretärs im Rückzug kehrte der Mann, der
sich Baron Tangorn genannt hatte (und der er auch wirklich war), in den ersten Stock des
Hauses zurück. Dort war die Arbeit schon in vollem Gange: der Artist und der Narr, beide
wohlauf, waren beide dabei, den Raum sauber zu machen. Der Narr war bereits aus den blutigen Sachen geschlüpft (das Schwert des Barons hatte eine Blase voll Schweineblut auf der
Brust erwischt) und legte gerade mit schmerzverzerrtem Gesicht das Mithrilhemd ab. Als er
Tangorn sah, drehte er sich, um ihm einen großen blauen Fleck auf der Seite zu zeigen:
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"Jetzt sieh mal, was du angerichtet hast, Boss! Die Rippe ist bestimmt gebrochen!"
"Die Dungans, die du bekommen hast, waren auch Schmerzensgeld. Wenn du auf mehr Geld
aus bist, vergiss es."
"Ehrlich, Mann - hätte ein Stich, bisschen vorsichtig, nicht gereicht? Wieso so echt? Wenn dieses Kettenhemd nun zu Bruch gegangen wäre?"
"Ist es aber nicht," antwortete der Baron sachlich. "Und nun her damit."
Er hatte es mit schwarzer Emaille überzogen, damit es aussah wie alte Mordorer Rüstung - er
wollte seinen Partnern kein Mithril vorzeigen.
Er wandte sich an den Artisten, der sorgfältig die Blutspritzer vom Armsessel schrubbte. "Inspektor! Vergessen Sie nicht, das Kohlebecken an seinen Platz zurückzubringen."
"Hören Sie, Baron," antwortete dieser gereizt, "sie brauchen mir nicht zu erklären, wie man
einen Tatort säubert!" Daraufhin zitierte er ein paar bekannte Sprüche über den unverschämten Sohn, der seinen Vater aufklären will und darüber, dass man es nicht auf der Straße miteinander treibt, weil einen sonst die Passanten mit ihren Ratschlägen in den Wahnsinn treiben
würden. Tangorn musste zugeben, dass der Mann recht hatte.
"Woher kommt der Kram eigentlich?" Tangorn fingerte aufs Geratewohl eines der verdächtigen Geräte aus der Metallschale.
"Hab auf dem Markt einem Zahnreißer seine Geräte abgekauft, für drei Castamirs. Dazu noch
ein paar Werkzeuge aus meinem Kasten. Ein bisschen getrocknetes Blut dazu, und das ganze
macht richtig Eindruck, wenn man nicht so genau hinsieht."
"Sehr schön, Jungs, danke für eure Dienste." Mit diesen Worten händigte er sowohl Vaddari als
auch dem Anderen einen Beutel Gold aus. "Reichen euch zehn Minuten zum fertig werden?"
Der Inspektor überlegte und nickte dann. "Sehr gut. Dein Schiff," sprach er den Narren an, "segelt heute morgen. In diesen Landen reichen fünfzig Dungans gut aus, um eine Taverne oder
einen Gasthof aufzumachen und Umbar und seine Polizei auf ewig zu vergessen. Mein Rat
wäre aber, keine Memoiren über diese Nacht zu veröffentlichen."
"Was heißt denn 'keine Meh-mo-ären veröffentlichen', Meister?"
"Zum Beispiel im Suff Geschichten erzählen. Oder versuchen, schlau zu sein und der Polizei zu
schreiben."
"Wie bitte, Boss? Ich hab noch nie nen Partner verpfiffen!“
"Dann bleib dabei. Denk daran, der Lahme Vittano schuldet mir ein paar Dinge und sieht sich
als meinen Bruder an, und wenn irgend etwas schief läuft, findet er dich auch im Fernen Westen, von Vendotenien gar nicht zu reden."
"Willst du mir drohen?"
"Keine Drohung, eine Warnung. Manche Leute versuchen eben, für eine Arbeit zweimal zu kas199
sieren. Nun denn, lebt wohl und auf Nimmerwiedersehen."
Mit diesen Worten ging der Baron, mit einem kurzen Zögern an der Türe: Was er jetzt im zweiten Stock zu tun hatte, brauchte mehr als Mumm.
200
Kapitel 47
Der Punkt war, dass Lampenstraße 4 wirklich ein Unterschlupf Gondors war, aber seine eigentlichen Bewohner - zwei Feldwebel der Geheimwache - hatten nicht an den obigen Ereignissen teilgenommen. Sie lagen gefesselt und geknebelt im Wohnzimmer oben. Sie waren in
einer Blitzaktion, die Tangorn und Vaddari geplant und mit Hilfe eines als 'Knöchel' bekannten
Räubers (welcher in Kürze das Klima wechseln müssen würde) durchgeführt hatten, überrumpelt worden. Der Baron hatte einen dritten Mann gebraucht, nicht nur wegen dessen Fähigkeiten, sondern auch, damit die Anzahl der Bewohner und der Entführer Algalis übereinstimmten. Und weil bei Tangorns Täuschungsmanöver einer der Entführer 'gestorben' war,
musste jetzt einer der Feldwebel erschlagen werden. 'Die Welt steht geschrieben', und dem
entkommt man nicht, dachte sich der Baron, als er die Wohnzimmertür öffnete.
"Na, kennt ihr mich, Jungs?" Tangorn nahm die Maske ab, damit beide Zeit hatten, sein Gesicht
mit der Beschreibung zu vergleichen, mit der sie ihn suchten, während er ihnen die Knebel
herausnahm. Einer schrak zurück, der andere versteinerte; sie hatten ihn eindeutig erkannt
und jetzt schwante ihnen nichts Gutes. "Also, wollen wir erst reden oder soll ich euch gleich
kleinhacken?"
Der Furchtsame brach in eine unzusammenhängende Flut von Schimpfwörtern aus und versuchte offenbar verzweifelt, so seine Angst in den Griff zu bekommen. Der Andere allerdings
schien aus härterem Holz geschnitzt: er sah Tangorn nur ins Gesicht und spuckte aus: "Mach
was du willst, Strolch! Aber denk daran, eines Tages erwischen wir dich, und dann knüpfen
wir dich an den Füßen auf, wie es sich gehört für einen Verräter!"
"Ja, so wird es höchst wahrscheinlich irgendwann kommen," meinte der Baron gleichmütig
und zog das Schwert (nun war wenigstens das Opfer klar), "aber unter Garantie wirst du dir
das nicht mehr ansehen können."
Mit diesen Worten versenkte er die Klinge in seinem Gefangenen und zog sie gleich wieder
hinaus; die Sauerei war beträchtlich. Das Dritte Schwert Gondors hatte in den letzten Jahren
viele Feinde im Kampf gefällt, aber nie hatte er sich eines unbewaffneten und hilflosen Mannes
kaltblütig entledigen müssen, auch wenn es sich um einen Todfeind handelte. Ihm war bewusst, dass er wieder einen Schritt näher an den Abgrund kam, aber er hatte keine Wahl. Das
einzige Abweichen, dass er sich erlaubte, war, den Stich oben in die rechte Brust zu setzen; das
war nicht immer tödlich und konnte überlebt werden, wenn man zu den Erwählten der
Glücksgötter gehörte. Der Baron brauchte an und für sich keine Leiche, aber wenigstens die
Wunde musste echt aussehen, damit die Elben keinen Verdacht schöpften.
Als er sich dem anderen zuwandte, das blutige Schwert in der Hand, versuchte dieser, trotz
seiner gefesselten Füße davon zu kriechen und, wie Knöchel sagen würde, zu plappern wie ein
Wasserfall. Manchmal reicht es, die Vorzeichen zu ändern... Tangorn musste ihn bremsen,
schließlich wollte er nicht alles wissen, was in der Küstenstraße 12 vor sich ging.
"Also. Wann habt ihr angefangen, den elbischen Untergrund unter die Lupe zu nehmen?"
"Davon habe ich nichts gehört. Vielleicht jemand anders..."
"Was denn, nichts gehört? Und da entführt ihr einfach so einen Elben?"
201
"Was für einen Elben?" Der Mann war verwirrt.
"Na gut, keinen Elben - den Kerl vom elbischen Untergrund, den ich bei euch im Keller gefunden habe."
"Ich... ich verstehe gar nichts! Wir haben nie irgendwas von Elben gehört!"
"Aha, dann habe ich also Wahnvorstellungen!" Tangorn lächelte unheilverkündend. "Oder vielleicht hat ihn euch einer in den Keller gesetzt, was?"
"Ich hab doch alles gesagt, was ich weiß; wenn Marandil mich in die Finger kriegt, ist es aus
mit mir. Was soll ich noch lügen?"
"Schluss mit dem Mist! Ich habe dieses Haus gefunden, als ich diesem Jungen vom elbischen
Untergrund hinterher bin - Algali, Untersekretär im Außenministerium. Und ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, wie ihm zwei Kostümierte etwas eingeflößt und später in euer
Haus getragen haben. Also bin ich hinterher... Oder gibt es hier in der Nähe noch zwei von
euch?"
"Nein, bei allem, was mir heilig ist, ich schwöre es! Wir haben niemand entführt!" Der Feldwebel war am Rande des Nervenzusammenbruchs, und das mit gutem Grund.
"Na, das sieht aus, als wäre da doch was Wertvolles unter all dem Trödel, den du mir andrehen
wolltest. Das ist wohl euer Hauptauftrag und ihr würdet alles opfern, um nichts auffliegen zu
lassen... aber jetzt bin ich neugierig, und deshalb wirst du nicht so schnell und einfach sterben
wie dein Kumpel da. Was meinst du, was kommt als erstes?"
Der Feldwebel gehörte zu denen, die in Panik viel besser denken können. Um dem angedrohten Albtraum zu entgehen, den ihm der Baron angedroht hatte, erfand er auf der Stelle seine
eigene Version der Ereignisse: Marandils mündlicher, nicht verzeichneter Befehl, Algali, Untersekretär im Außenministerium, festzunehmen. Tangorn wies auf einige Unstimmigkeiten hin,
die der Mann sofort zurechtbog, und so ging es hin und her, bis die Geschichte logisch stimmig
und wahr klang. Eigentlich waren es die Fangfragen des Barons, die den Feldwebel genau die
Geschichte erfinden ließ, die er selbst in den letzten Tagen zusammengestrickt hatte.
Nachdem der Feldwebel die Geschichte zweimal zu Papier gebracht hatte, zog Tangorn die
Fesseln wieder an, nahm die Abzeichen der beiden (der gesprächige hieß demnach Aravan,
der Harte Morimir; bei letzterem hatte der Baron die Halsschlagader ertastet, als er die Kette
um den Hals entfernte und einen Puls gefunden); dann verließ er das Haus, während sein unfreiwilliger Geständiger wie ein Wahnsinniger brüllte, er solle ihn losbinden. Nach Tangorns
Plan war es um so besser, je später der Mann seinen Freunden in der Küstenstraße 12 in die
Hände geriet; also suchte der Baron zunächst einen Polizisten (was im Karneval gar nicht so
leicht war) und ließ ihn wissen, dass in der Lampenstraße 4 die Tür leicht offenstünde und
drinnen jemand um Hilfe riefe: "Klang nicht wie ein Witz - vielleicht ist jemand im Rausch außer Kontrolle geraten?" Dann steckte er Aravans 'Geständnis' und Abzeichen in den Brief für
das Kharmiadorf. Das andere Exemplar adressierte er an den Botschafter des Wiedervereinigten Königreiches: sollten er und Marandil eine Erklärung finden. Verblüffung lähmt Tatkraft,
wie man sagt.
202
Tangorn schaffte es bis Tagesanbruch zur Fliegender Fisch zurück und schlief ein wie ein
Stein. Die Falle war gestellt und ihm blieb nur zu warten: Der ausgeworfene Köder - der richtige Name eines der Anführer des Untergrunds - war zu verlockend. Die Elben konnten das Treffen unmöglich ignorieren; zumindest würden sie auftauchen, um ihn umzubringen. Sie würden ein paar Tage zum Überprüfen brauchen, also sollte er erst am nächsten Freitag, dem
zwanzigsten, in der Grünen Makrele auftauchen. Jetzt hatte er Zeit, das Gespräch mit Elandar
und Rückendeckung und Fluchtstrecken zu planen.
***
"...Er werde nur mit Elandar selbst reden, er habe kein Interesse an Flunkereien."
"Du bist verrückt!" Der Blick des Großmeisters war fürchterlich. "Er kann diesen Namen unmöglich kennen, und auch sonst keiner außerhalb Loriens!"
"Dennoch waren das seine Worte, mein Fürst. Sollen wir Kontakt aufnehmen?"
"Ganz bestimmt, aber ich werde das selbst übernehmen - das ist einfach zu wichtig. Entweder
hat er wirklich eine wichtige Information, dann müssen wir sie unbedingt haben. Oder er will
uns herauslocken, dann müssen wir ihn ausschalten, bevor es zu spät ist. Wie lange braucht
dein Sicherheitsdienst, um diese komische wundersame Rettungsgeschichte zu bestätigen?"
"Ich denke, dass vier Tage hinreichend sind, mein Fürst. Ihr werdet die Grüne Makrele diesen
Freitag beehren können.
"Eines noch. Dieser Algali... er hat einen Namen gehört, den er nicht hätte hören sollen. Stellt
sicher, dass er ihn niemandem mehr verraten kann."
"Jawohl, mein Fürst." Der Sicherheitschef sah kurz zu Boden. "Wenn Ihr es für alternativlos
haltet..."
"Ja, das tue ich. Das Kind ist aufgeflogen, Geheimwache und ASA werden hinter ihm her sein.
Wir haben nicht das Recht, den ganzen Untergrund aufs Spiel zu setzen. Ich weiß, was du jetzt
denkst: wenn es ein Elb wäre, würde ich anders handeln, oder?"
"Nein, mein Fürst," entgegnete der andere steif. "Die Sicherheit der Organisation steht über allem, das ist fest. Ich möchte Euch nur daran erinnern, dass es Algali ist, der Tangorn treffen
soll und der auch den Brief aus dem Kharmiadorf holen soll, also werden wir bis am Freitag
damit warten müssen..."
Ja, dachte der Großmeister sich mit leichtem Stolz, wir haben sie gut erzogen, und in nur zwei
Jahren. Der Zauberspruch 'alternativlos' vollbringt wahre Wunder. Wer hätte geglaubt, dass all
diese freisinnigen Gutmenschen so freudig strammstehen und salutieren würden und darin
auch noch einen geheiligten Sinn finden würden, der über ihren kleinbürgerlichen Verstand
geht... Was ist dieser Algali doch für ein Glückspilz. Sie sind sowieso alle so gut wie tot, aber er
wird glücklich sterben, voller Trugbilder und dem Glauben an eine wunderbare Zukunft; die
anderen werden sehen, was sie getan haben und wem sie den Weg bereitet haben, bevor sie
sterben...
***
203
"Pest und Dolch! Von den Trotteln aus Gondor hätte ich nichts anderes erwartet, aber wo zum
Henker waren sie, Jacuzzi?"
Nicht allzu oft bekam der Vizedirektor für Operationen seinen Vorgesetzten in so einem Zustand zu sehen. Der Bericht über Tangorns nächtlichen Überfall auf Lampenstraße 4 hatte ihn
zum Kochen gebracht, und die Nachrichten aus Minas Tirith, die ihm Dimitriadis (Vizedirektor
für Politische Aufklärung) überbracht hatten, hoben seine Stimmung ebenso wenig.
"Ist ihnen wenigstens klar, dass dieser Spinner und seine Vendetta Marandil in ein oder zwei
Tagen begraben werden, zusammen mit Operation Schirokko?"
"Leider muss ich darauf bestehen, das Tangorn kein Spinner ist und das ganze auch keine Vendetta. Er hat einen Plan, aber wir sind einfach nicht in der Lage, ihn zu begreifen. Es ist unfassbar, aber dieser Amateur gewinnt eine Runde nach der anderen! Man könnte fast glauben, er
würde von den Höheren Mächten geschützt..."
"Genug mystisches Gerede. Was macht unser Hauptmann?"
"Wenn der Baron ihn brechen wollte, ist ihm das gelungen. Aravans schriftliches Geständnis
hat ihn vollends aus der Bahn geworfen: er schwört, dass er diesen Befehl nie gegeben hat und
ihm das alles neu ist. Er tobt wie ein Verrückter... vielleicht kann dieser Elbinar ein paar Dinge
erklären, wenn wir ihn gefunden haben."
"Finger weg von Algali!" schnappte Almandin. "Er hat mit der Sicherheit ihres Agenten Marandil nichts zu tun! Klar?"
"Jawohl!" antwortete der Agent und starrte finster zu Boden.
Schon wieder vor die Wand gelaufen. Vor zwei Jahren hatte er seinen ersten Bericht über proelbische Organisationen in Umbar auf den Schreibtisch des Direktors gelegt und postwendend
den Befehl erhalten, alle Ermittlungen in dieser Richtung einzustellen und alle Agenten, die er
schon im Einsatz hatte, abzuschalten. Seitdem war er immer wieder über Spuren dieser Geheimgesellschaften gestolpert, wie über Mäusedreck in einem alten Schrank, und jedes Mal
war ihm gesagt worden, er solle seinen Schnabel aus der hohen Politik heraushalten: "Das ist
Dimitriadis Sache." Wahrscheinlich bekam dieser gleichzeitig zu hören: "Das ist Jacuzzis Sache." Aber das war ziemlich unmöglich zu bestätigen: Privatgespräche zwischen Vizedirektoren (ebenso wie Kontakte zu Angestellten außerhalb ihrer Befehlskette) waren durch die Regeln der Abteilung streng verboten und wurden als Bruch des Umberto bestraft. Na gut, entschied er sich an einem Punkt mit einer Erleichterung, die ihn selbst überraschte, dann hat Almandin wohl Gründe, die ich nicht erkennen kann - vielleicht ein geheimes Bündnis mit den
Elben gegen Gondor oder so etwas. Ich habe meine Arbeit als Ermittler gemacht, jetzt sollen
die Chefs und Analytiker etwas daraus machen. Wie hatte der unvergessliche Zinnmann immer gesagt? "Der Hahn soll krähen und nicht den Sonnenaufgang herbei beschwören."
"Jacuzzi, halten Sie den Hauptmann noch für arbeitsfähig?"
"Im Moment ist er vollkommen demoralisiert; er winselt und bettelt darum, sich endlich absetzen zu dürfen, wie vereinbart."
204
"Genau!" In Wut schlug der Direktor auf den Morgenbericht aus Carneros Hauptquartier. "Es
wird immer schwieriger für Marandil, die Vorgänge in der Barangarbucht zu vertuschen. Seine
Untergebenen sind nicht blind..." Untergebene sind nicht blind - ist das ein Hinweis auf mich
und die Elben? Jacuzzi schob den Gedanken hastig beiseite. "Dazu kommt noch eine Reihe
spektakulärer Fehlschläge und ein Stapel Leichen, dank diesem Freibeuter aus Ithilien. Demnächst wird unser Hauptmann das Patent verlieren und vor dem Kriegsgericht landen. Machen wir es kurz: Findet Tangorn sofort und isoliert ihn um jeden Preis! Jeden, verstanden?
Wenn das ohne Blutbad klappt - gerne, aber wenn nicht, liquidiert ihn und damit gut!.. Und
nun wegen Gondor. Können wir, wenn nötig, ihre Verbindung zum Festland kappen und das
bis Mitte Juli durchhalten, wenn Schirokko anlaufen soll?"
"Möglich. Wir kappen die Landverbindung über Chevelgar, und Makarioni versetzt die Küstenwache in Alarmbereitschaft."
"Gut. Also: Tangorn ist in der Stadt, Mungo also wohl auch. Nachrichten von dieser Front?"
"Etwas Ähnliches... Eine sehr schwache Spur. In den letzten Tagen haben meine Leute Tangorns Geliebte Alwiss überwacht und ein seltsames Detail bemerkt, eine scheinbare Nebensache..."
... Manchmal liefern die einfachsten Maßnahmen, wie das Alarmieren der Wachen, unerwartete Ergebnisse. Als er am Morgen des Zwanzigsten die Berichte vom Vortag durchging, stieß Jacuzzi auf einen Bericht der Küstenwache: in der Nacht des Neunzehnten war die Fliegender
Fisch, die Felukke des als Schmuggler bekannten Onkel Sarrakesch, beim Versuch, die
Kharmiabucht anzulaufen, aufgebracht worden. Außer dem Kapitän waren noch zwei Besatzungsmitglieder an Bord. Der Frachtraum war leer, daher hatten die Behörden keine Handhabe, das Boot zu beschlagnahmen; Onkel Sarrakesch würde abends wieder auf freien Fuß gesetzt werden müssen. Allerdings erwähnte der Bericht, dass das Boot versucht hatte, in den
Untiefen an der Küste der Halbinsel zu entkommen. Es wäre möglich, folgerte der Bericht,
dass sich ein Fahrgast an Bord der Felukke befunden habe, der in der Dunkelheit schwimmend
an Land entkommen wäre.
Schwer zu sagen, was genau den Vizedirektor der ASA auf diese Alltagsgeschichte aus dem Hafen aufmerksam machte. Vielleicht eine schwache Vorahnung. Soweit er wusste, hatte Onkel
Sarrakesch Verbindungen zum Zamorro des Lahmen Vittano und Fachmann darin, verbotene
Stahlwaffen nach Harad zu schmuggeln und im Gegenzug Colanüsse zurückzubringen, auf deren Einfuhr die Republik das alleinige Recht hatte. Teuer wie Colanüsse waren, waren die Lieferungen üblicherweise klein (nie mehr als zehn Kornsäcke) und im Notfall in zwei oder drei
Minuten über Bord geworfen. Es war also nicht verwunderlich für den Vizedirektor, dass der
Frachtraum leer war. Seltsam war, dass der Suchhund der Wache nicht angeschlagen hatte und
das die Vermutung nahelegte, dass die einzige Fracht ein unbekannter Fahrgast gewesen war.
Zu jeder anderen Zeit wäre das unwichtig gewesen - aber nicht jetzt, wo die Abteilung alle
möglichen Nachrichtenkanäle der Küstenstraße 12 sorgfältig dichtmachte und nach illegalen
Gondorern aus Mungos Trupp Ausschau hielt. Also entschied Jacuzzi, dass Milde jetzt und hier
nicht angebracht sei und befahl ein verschärftes Verhör der gefangenen Schmuggler. Ein paar
Stunden später brach einer der 'Neffen' zusammen und lieferte eine ausführliche Beschreibung des entflohenen Fahrgastes. Jacuzzi hatte keine Schwierigkeiten, Baron Tangorn aus dieser Beschreibung zu erkennen.
205
Dieser Umstand entlockte ihm einige Flüche, kurz aber farbig wie die der Seeleute, denn ihm
wurde klar, dass Tangorn im Moment außer Reichweite war. Sarrakesch war von der Halbinsel; und zweifellos hatte er Tangorn bei Verwandten in einem der Bergdörfer untergebracht.
Selbst wenn Jacuzzi herausgefunden hätte, in welchem genau (was schon schwer genug war),
würde ihm das nichts nützen - die Bergleute lieferten keine Flüchtlinge aus. Ihnen ist das
Gesetz der Gastfreundschaft heilig und unverletzlich, und darüber gab es keine
Verhandlungen; Tangorn mit Gewalt festzunehmen würde einen kleinen Armeeeinsatz
benötigen statt ein paar Polizisten, und das würde keiner genehmigen. Ein paar
Meuchelmörder in die Berge schicken? Das wäre als extreme Maßnahme möglich, aber... Nein,
warten wir lieber, bis der Baron wieder auf die Inseln zurück zu kommen versucht - er hat
letzte Nacht versucht, direkt in die Kharmiabucht zu kommen, trotz der offensichtlichen
Gefahr. Im Moment hat er keinen Kontakt zu Vittanos Schmugglern und damit keinen Seeweg,
und den Langen Damm abzuriegeln ist ein Kinderspiel.
"Bring mir alles, was wir über Onkel Sarrakeschs Verwandte und Freunde haben," befahl der
Vizedirektor seinem Assistenten. "Vermutlich hat er keine eigene Akte, also such am besten in
allem, was wir über den Zamorro des Lahmen Vittano haben. Und: wer ist der Agentenführer
für die Bergleute der Halbinsel - Ras-shua, oder?"
206
Kapitel 48
Halbinsel von Umbar, beim Dorf Iguatalpa
24. Juni 3019
Die Kastanie, in deren Schatten sie lagen, war mindestens zweihundert Jahre alt. Ganz alleine
ihre Wurzeln hielten ein gutes Stück des Abhangs fest, der über dem Pfad zwischen Iguatalpa
und dem Pass verlief, und das gut: der Frühlingsregen , so ungewöhnlich heftig er auch dieses
Jahr gewesen war, hatte keine Löcher hinterlassen und keine Erdrutsche auslösen können. Von
Zeit zu Zeit rauschte ein Windstoß durch die üppige Baumkrone, und dabei entstanden Sonnenflecken auf der dicken Lage buttergelben Laubs, das sich am Fuß des Stamms zwischen
den mächtigen Wurzeln gesammelt hatte. Tangorn räkelte sich genüsslich auf diesem wunderbaren Bett (schließlich waren die Wege in der Gegend nicht gut für sein verletztes Bein gewesen), stützte sich auf den linken Ellbogen und spürte sofort irgendeinen Fremdkörper darunter. Einen Höcker? Einen Stein? Ein paar Sekunden betrachtete der Baron müßig diese Zwicklage: sollte er diesen dicken, weichen Teppich aufwühlen und das Problem aufstöbern oder
einfach nur etwas nach rechts rücken? Er sah sich um, seufzte und rückte - er hatte nicht vor,
irgend etwas hier zu ändern, auch nicht so eine Kleinigkeit.
Die Ansicht, die sich ihm darbot, war unglaublich friedlich. Von hier aus sahen sogar die Uruapafälle (Dreihundert Fuß verkörperte Wut der Flussgötter über die Einkerkerung durch ihre
Gebrüder der Berge) einfach wie ein Silberfaden aus, der den wie ein dunkelgrünes Tuch sich
ausbreitenden Waldhang herablief. Etwas rechts, als Blickfang des Stilllebens, erhoben sich
die Türme der Abtei Uatapao über den nebligen Abgrund - ein antiker Kerzenleuchter aus
dunklem Kupfer, vollständig bedeckt mit einer edlen Patina aus Efeu. Interessante Bauart,
dachte Tangorn, alles was ich in Khand gesehen habe, sah ganz anders aus. Ist aber auch keine
Überraschung: die örtliche Art des Hakimianglaubens ist etwas ganz anderes als die Orthodoxie von Khand. Ganz ehrlich, eigentlich sind die Bergleute immer noch Heiden; ihre Bekehrung
zum Hakimiani - dieser strengsten und fanatischsten Religion dieser Welt - geschah vor zweihundert Jahren nur, um sich weiter von diesen toleranten, verweichlichen Inselbewohnern zu
unterscheiden, all diesen Niemanden, die aus ihrem Leben eine beständige Litanei von Kaufen
und Verkaufen gemacht haben, denen Profit über die Ehre und Blutgeld über Vendetta geht...
An diesem Punkt wurden die Gedankengänge des Barons abrupt unterbrochen: sein Gefährte,
der seinen Vorratssack ausgeleert hatte und nun darauf wie auf ein Tischtuch noch warmen
Hachipuri legte, zusammen mit dem Weinschlauch, legte den Dolch weg (mit dem er gerade
noch eine zur Härte von rotem Glas getrocknete Basturna in Scheiben geschnitten hatte), hob
den Kopf, warf einen Blick auf die Wegbiegung und zog die Armbrust näher, alles in einer beiläufigen Bewegung.
Diesmal war es falscher Alarm, und zwei Minuten später saß der Neuankömmling mit gekreuzten Beinen neben ihrem Packen und brachte einen Trinkspruch aus, lang und gewunden
wie der Bergpfad. Er war Tangorn als "Verwandter aus Irapuato, von der anderen Seite des
Tals" vorgestellt worden (was den Baron nicht wunderte; irgendwie waren alle in diesen Bergen miteinander verwandt). Dann begannen die Bergleute eine angeregte Diskussion über die
bevorstehende Maisernte und die Methoden der Stahlhärtung der Schmiede von Iguatalpo
und Iraputao; der Baron, der dazu lediglich ein höfliches Lächeln beisteuern konnte, begann,
dem örtlichen Wein zuzusprechen. Er ist unglaublich herb und dick, seine rotbraunen Tiefen
beherbergen glitzernde rosafarbene Funken, die genau die Farbe der ersten Sonnenstrahlen
haben, die auf eine vom Tau noch feuchte Mauer aus gelblichem Sandstein fallen.
Tangorn hatte den Zauber dieses Getränks noch nie verstanden, was aber nicht verwundern
sollte, denn es verträgt den Transport überhaupt nicht, egal ob auf Flaschen abgefüllt oder im
207
Fass. Infolgedessen ist alles, was außerhalb verkauft wird, nur eine Nachahmung. Man kann
den örtlichen Wein nur in den ersten paar Stunden, nach dem er aus dem Pifos abgezapft wurde, in denen er vergoren wurde, trinken, aus kleinen Bechern mit Bambusgriffen - danach
taugt er nur noch als Durstlöscher. Während ihrer erzwungenen Untätigkeit an Bord der Fliegender Fisch hatte Sarrakesch den Baron in die Feinheiten der Weinherstellung in den Bergen
eingeweiht: wie die Trauben in einer Holzschraube zusammen mit der Rebe zerquetscht werden (daher die ungewöhnliche Säure) und der Saft durch Tröge in die Pifoses kommt, die in
den Gärten vergraben liegen, wie der Korken zum ersten Mal entfernt wird - man muss ihn
vorsichtig von der Seite mit einem langen Haken herausfischen und dabei wegsehen, sonst
werde einen der entfliehende dicke und ungebärdige Weingeist (der Genie) verrückt machen..
Allerdings waren die meisten Erinnerungen des alten Schmugglers an sein Leben auf dem
Lande nicht besonders herzlich. Es war eine eigene Welt, in der die Männer immer wachsam
und nie unbewaffnet waren; in der Frauen, von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet, stets an der
am weitesten entfernten Wand entlang glitten; wo die kleinen Fenster in den dicken Mauern
nichts waren als Schießscharten für Armbrüste und das Hauptprodukt der örtlichen Wirtschaft Leichenberge wegen der ewigen sinnlosen Vendettas waren; eine Welt, in der die Zeit
stillstand und jeder Schritt seit Dekaden vorherbestimmt. Wenig überraschend hatte der lebensfrohe Abenteurer Sarrakesch (der damals noch ganz anders geheißen hatte) sich dort immer fremd gefühlt. Die See hingegen, die jeden gleich behandelte und allen offenstand, war
hingegen gleich in der Nähe... und so konnte jeder der ihm zusah, wie er seine Felukke mit fester Hand durch Wind und Wellen segelte und die Besatzung anblaffte: "Bewegung, ihr Krabben!" einen Mann erkennen, der ganz in seinem Element war.
Und genau deshalb hatte der Seebär sich erlaubt, sich Tangorns Vorhaben, bis zum zwanzigsten wieder in der Stadt zu sein, ganz entschieden zu widersetzen: "Auf keinen Fall, vergiss es!
Das geht todsicher schief!"
"Ich muss morgen in der Stadt sein."
"Hör mal, Mann, hat du mich angeheuert, weil du eine gemütliche Rundfahrt auf dem Ringkanal mit einer Gondel machen wolltest? Nein, du wolltest einen Kenner, oder? Nun, der Kenner
sagt, dass heute kein Durchkommen ist, und so ist es auch."
"Ich muss in die Stadt," wiederholte sich der Baron, "um jeden Preis!"
"Sicher kommst du in die Stadt - und zwar direkt in eine Gefängniszelle. Vor zwei Tagen wurde
die Küstenwache in höchste Alarmbereitschaft versetzt, verstanden? Der Weg in die Lagune ist
dichtgemacht, da kommt noch nicht mal ein Delfin unbemerkt vorbei. Das können sie aber
nicht auf Dauer aufrecht erhalten; wir müssen warten bis mindestens nächste Woche, wenn
der Mond wieder abnimmt."
Tangorn überlegte eine Zeit lang.
"Na gut. Wenn sie uns erwischen, was kriegst du dann? Sechs Monate Kerker?"
"Was kümmert mich der Kerker? Die werden mein Boot einkassieren."
"Was ist die Fliegender Fisch wert?"
208
"Also mindestens dreißig Dungans, soviel ist sicher."
"Hervorragend. Ich kaufe sie dir für fünfzig ab. Abgemacht?"
Der Schmuggler gab auf: "Du bist total durchgedreht."
"Mag sein, aber meine Münzen wurden nicht im Irrenhaus geprägt."
Das Unternehmen ging genau so aus, wie Sarrakesch vorhergesagt hatte.Als der Warnschuss
aus dem Katapult der Galeere, die hinter ihnen her war, weniger als fünfzig Schritt von der
Bordwand einschlug und eine Wasserfontäne im Mondlicht aufleuchtete, zog der Kapitän die
Augen zusammen, um die Entfernung zu den Schaumkronen um die Riffe an Steuerbord abzuschätzen (die Fliegender Fisch hatte versucht, ihren niedrigen Tiefgang auszunutzen und hart
an der Küste der Halbinsel durch Untiefen zu fahren, die Kriegsschiffen verwehrt waren),
drehte sich zu Tangorn und befahl: "Über Bord mit dir! Bis zur Küste ist es weniger als ein Kabel, du wirst schon nicht zerlaufen. Such meinen Vetter Botaschaneanu in Iguatalpa auf, er
wird dich verstecken. Gib ihm meine fünfzig Dungans. Los!" Tja, das habe ich nun davon, kopfüber drauflos zu stürmen, dachte sich Tangorn. Man sagt aus gutem Grund, dass kürzer nicht
gleich schneller ist; so oder so ist eine Woche verloren. Na ja, im Nachhinein ist man immer
klüger... Plötzlich tauchte ein neues Wort - Algvasils - im Tischgespräch der Bergleute auf, und
so begann er, genauer zu zu hören.
Anscheinend ging es um Stadtgendarmen, nicht um Algvasils, unter dem Befehl eines eigenen
Offiziers statt eines Corregidors. Neun Mann und ein Offizier waren vorgestern in Iraputao aufgetaucht. Wahrscheinlich auf der Suche nach dem berüchtigten Banditen Uanako, aber dabei
stellten sie sich ziemlich dumm an: keine Streifen schicken, sondern von Haus zu Haus gehen
und nach Fremden in der Gegend fragen. Als würde irgendeiner diesen Inselschakalen auch
nur ein Wort sagen, selbst wenn er etwas gesehen hätte... Andererseits kann man diese Leute
verstehen: ihre Bosse wollen, dass sie Banditen fangen, also machen sie ein entsprechendes
Theater; schließlich sind sie nicht so blöd, sich wirklich in die Berge zu wagen und für ihren
mageren Lohn einen Armbrustbolzen zu riskieren, während ihre Kollegen in Sicherheit am
Langen Damm Karawanen ausnehmen...
Als der Gast sich entfernt hatte, bemerkte Tangorns Führer (der Chekorello hieß und irgendwie mit Sarrakesch verwandt war) nachdenklich: "Weißt du, die suchen eigentlich dich."
"Jau," nickte Tangorn. "Du überlegst nicht zufällig gerade, wie du mich in Irapuato ausliefern
kannst?"
"Verrückt geworden? Wir haben Brot geteilt!!" Der Bergmann unterbrach sich, als ihm Tangorns Absicht klar wurde, aber lachte nicht." Weißt du, da unten denken alle, wir wären blöd
und kapieren solche Witze nicht. Kann auch sein; die Leute hier sind heißblütig und könnten
dich für so einen Spruch einfach umlegen... Außerdem," und hier grinste er plötzlich wie ein
Opa, der seinen Enkeln einen Zaubertrick verspricht, "zahlt keiner für deinen Kopf die fünfzig
Dungans, die du meiner Familie schuldest. Ich sollte dich also besser wie vereinbart in die
Stadt bringen, wie vereinbart, und das Geld auf ehrliche Art verdienen, oder nicht?"
"Wie wahr. Was ist mit den Schleichpfaden?"
"Nun, durch Iraputao können wir nicht, wir müssen außen rum..."
209
"Außenrum? Das könnte schwieriger werden, als es aussieht. In Uahapan sind diese komischen Händler - vier Mann bis an die Zähne bewaffnet, und der Steuereintreiber und seine
Algvasils sind in Koalkoman - drei Wochen zu früh. Gefällt mir gar nicht."
"Ja, knifflig... Uahapan, Koalkoman, Iraputao - wir sind umzingelt. Außer..."
Der Baron wischte den verborgenen Vorschlag beiseite: "Wenn du die Straße nach Tuanohato
meinst, vergiss das - jede Wette, dass dort auch jemand ist. Wahrscheinlich ein Wanderzirkus,
wo man Kunststücke aufführt wie Lichter ausblasen mit einem Armbrustbolzen oder Aprikosenkerne in der Luft mit Krummschwertern spalten. Aber das ist in Ordnung. Was mich stört,
ist, dass wir eingekesselt sind, aber trotzdem noch niemand hier aufgetaucht ist. Warum?"
"Sind einfach noch nicht so weit gekommen?"
"Kaum - der einzige Weg nach Uahapan führt durch Iguatalpa, oder? Sag mir lieber: Wenn so
ein Trupp in unserem Dorf auftauchen würde, könnten sie mich mitnehmen?"
"Keinesfalls! Du hast uns gesagt, wir sollten nach Fremden Ausschau halten, und das haben
wir. Sogar wenn sie mit hundert Gendarmen anrücken würden, hätte ich noch Zeit, dich über
die Hinterwege aus dem Dorf zu bringen, und dann sollten sie mal versuchen, uns in den Bergen aufzustöbern. Und gegen Hunde habe ich gepfefferten Tabak."
"Richtig, und die wissen das genau so gut. Was soll das Ganze also?"
"Du meinst," und hier drückte der Mann seinen Dolchgriff so fest, dass die Knöchel weiß wurden," sie wissen schon, dass du in Iguatalpa bist?"
"Bestimmt. Woher, ist im Moment nicht entscheidend. Das ist der erste Punkt. Der zweite, der
mir nicht gefällt, ist, dass sie so schlampig arbeiten. Es sieht nur so aus, als wollten diese
Händler, Banditenfänger und Steuereintreiber ein Netz um uns spannen. Aber eigentlich sind
das Treiber, die die Beute auf die Jäger zu treiben sollen."
"Begreife ich nicht."
"Eigentlich ganz einfach. Was war dein erster Gedanke, als du von den Gendarmen in Iraputao
gehört hast? Genau - der Schleichweg durch die Berge. Und wie intelligent muss man sein, um
dort ein paar Armbrustschützen in Tarnkleidung hinzustellen?"
Chekorello dachte lang nach und brachte es dann fertig, das Offensichtlichste zu sagen: "Und
was jetzt?" und so Tangorn als Anführer anzuerkennen.
Der Baron schüttelte sich: "Nachdenken, und vor allem nichts überstürzen, wozu man uns offenbar bringen will. Also: Uahapan, Koalkoman, Irapuato - alles Treiber. Sehen wir mal, wo die
richtigen Jäger sind und wie wir an ihnen vorbeikommen."
Standardproblem, dachte er sich. Ich will wieder einmal einen gewissen Baron Tangorn erwischen, zweiunddreißig Jahre alt, braune Haare, sechs Fuß groß, nordische Hautfarbe, die hier
wirklich auffällt und ein kürzlich erworbenes auffälliges Hinken. Seltsam, aber so einfach ist
das in Wirklichkeit gar nicht - wo soll ich meine Jäger aufstellen? Und wer sollten sie sein?
Letzteres ist eigentlich ziemlich klar - Agenten, die mich erkennen würden und keine Muskel210
pakete, die man schon aus einer Meile Entfernung erkennt. Der Baron trägt bestimmt eine
Verkleidung und Schminke, also wird es sogar für die schwierig, die ihn kennen. Wie viele
davon gibt es wohl? Kaum ein Dutzend, eher sieben bis acht - es ist schließlich schon vier Jahre her. Sagen wir zwölf; teilen wir sie in vier Schichten, denn ein Beobachter funktioniert nicht
länger als sechs Stunden am Stück. Nicht zu viele, oder? Sinnlos, den Trupp aufzuteilen, es
muss eine Faust sein, ein Jagdtrupp; auf keinen Fall ist einer bei den Treibern, denn wenn wir
sie aufteilen, dann... Verdammt, bin ich blöd! Keine Jäger bei den Treibern, die Tangorn gar
nicht zu Gesicht bekommen sollten - so dumm ist er nicht. Diese Leute müssen noch nicht einmal wissen, worum es geht; sie sollen nur auf den Busch klopfen. Also gibt es nur wenige
Schlüsselpersonen, verteilen kann ich sie nicht, also muss ich sie irgendwo zusammenziehen aber ja doch!
"Sie erwarten uns am Langen Damm, den wir nicht umgehen können," verkündete er Chekorello, dem nach einer halben Stunde ungewohnter Geistesanstrengung die Augen heraustraten. "Und so kommen wir an ihnen vorbei..."
"Du bist verrückt!" war alles, was der Bergmann herausbrachte, nachdem Tangorn seinen Plan
dargelegt hatte.
"Das habe ich schon oft gehört," antwortete der Baron, "also bin ich wohl ein ziemlich glücklicher Irrer. Kommst du mit? Ich bestehe nicht darauf - alleine wäre es für mich einfacher."
***
"Alles passt, mein Fürst. Männer aus der Küstenstraße 12 haben ihn sowohl im Seepferdchen
als auch auf dem Castamirplatz festnehmen wollen. Beide Male ist er entkommen. Vier Tote im
Seepferdchen, drei mit Lepra Infizierte auf dem Platz; zu kostspielig für eine einmalige Ablenkung, meine ich. Lampenstraße 4 ist tatsächlich ein Unterschlupf der Gondorer Geheimwache,
und er hat ihn überfallen: einer der Feldwebel hat eine ernsthafte Brustwunde erlitten, sein
Arzt bestätigt Algalis Bericht. Das Abzeichen der Geheimwache ist echt; die Handschrift dieses
Aravan passt zu der, mit der er sogar jetzt noch im Polizeihauptquartier Erklärungen schreibt.
Außerdem dreht die gesamte Gondorer Truppe jeden Stein auf der Suche nach Algali um. Mit
anderen Worten: das ist kein Täuschungsmanöver."
"Warum ist er dann am zwanzigsten nicht in der Grünen Makrele gewesen?"
"Vielleicht hat er unsere Rückendeckung neben dem Restaurant gesehen und vernünftigerweise entschieden, dass das gegen seine Regeln verstößt. Das ist der beste Fall, im schlimmsten
haben Aragorns Leute ihn erwischt. Hoffen wir das beste, mein Fürst, und warten den nächsten Freitag ab, den siebenundzwanzigsten. Wir müssen die Rückendeckung auswechseln,
sonst fliegt das Geschäft nochmal auf."
"Wohl wahr. Aber er darf die Grüne Makrele nicht aus eigener Kraft verlassen..."
211
Kapitel 49
Umbar, Küstenstraße 12
25. Juni 3019
Mungo durchschritt ohne Eile die Gänge der Botschaft.
Er kroch nicht die Wand entlang wie ein flüchtiger, schwereloser Schatten, er ging, und jeder
Schritt hallte durch das schlafende Gebäude. Gelegentlich fiel das Licht einer Lampe auf seine
schwarze Paradeuniform mit den silbernen Offiziersschnüren auf der linken Schulter. Allerdings fiel Marandil fast sofort auf, dass das eine Täuschung wegen der schwachen Beleuchtung
war: der Leutnant trug bürgerliche Kleidung, das Silber auf der Schulter und der Brust war irgend ein weißer Staub... nein, kein Staub - es war Frost, wirklicher Frost! Frost auf den Kleidern - wie konnte das sein? Just da wehte ein schwacher, aber wahrnehmbarer Hauch dem
Hauptmann ins Gesicht - eisig, wie aus einer Gruft - und alle Lampen flackerten, wie zur Bestätigung, alle Hoffnung fahren zu lassen: Nein, das ist kein Traum! Die Mauern der Botschaft, die
so lange eine uneinnehmbare Festung gewesen waren, zwei Reihen sklavisch ergebener Wachen, die berüchtigten Jägerqualitäten der ASA - alles hatte versagt...
Er konnte die Grabeskälte, die die näher rückende Gestalt ausstrahlte, fast körperlich spüren;
sie ließ Marandils Stiefel am Boden festfrieren und machte zähen Sirup aus seinen panisch
umher rasenden Gedanken. Das war es dann. Dir war doch von Anfang an klar, dass es so enden würde... Inzwischen verwandelte sich der Leutnant in einen echten Mungo, der sich langsam an eine Kobra heranpirschte - flacher, dreieckiger Schädel mit angelegten Ohren, selbst einem Schlangenkopf nicht unähnlich, rubinrot glitzernden Augen und blendend weißen Reißzähnen unter erhobenen Schnurrhaaren. Und Marandil war die Kobra - eine alte, müde Kobra
mit gebrochenen Giftzähnen. Jeden Moment würden diese Zähne in seine Kehle sinken, Blut
würde aus zerrissenen Adern spritzen, die zerbrechlichen Halswirbel brechen... Er lief rückwärts, versuchte sich vergeblich mit den Händen vor diesem Nachtmahr zu schützen - und
stürzte, fiel flach auf den Rücken: er war an einer Teppichkante hängen geblieben.
Die Schmerzen, die aus dem Ellbogen schossen, retteten den Hauptmann und brachten ihn
wieder auf den Boden der Tatsachen. Irgendwie veränderte sich der Schrecken, war nicht
mehr lähmend, sondern hysterisch: Marandil sprang auf und raste den Flur so schnell herab,
dass die Lichter in eine verschwommene flammende Linie verschmolzen. Treppe... runter...
übers Geländer auf den nächsten Absatz... nochmal... wo steckt der Posten, der hier stehen
sollte?... Gang hinter dem Büro vom Oberen... wo zum Henker sind bloß die ganzen Wachen?!
Schritte von hinten - regelmäßig, als wollte jemand das Schweigen im Gang ausmessen. Oh
nein, Sackgasse! Und jetzt? Büro - keine andere Möglichkeit... Schlüssel... passt nicht, verdammt! Idiot, das ist der Tresorschlüssel... ruhig... Großer Aulë, hilf mir - das Schloss klemmt
ständig... Schritte in der Nähe, wie Eiswassertropfen auf den Kopf eines Gefangenen (warum
beeilt er sich nicht? Klappe, Trottel, beschwöre nichts herauf!)... ruhig, gleich... Schlüssel umdrehen... JA!
Sich durch den Türspalt quetschen wie eine Eidechse, die Tür mit seinem ganzen Gewicht zuwerfen und gerade in dem Moment zuriegeln, als die Schritte des Werwolfs die Türschwelle
erreichten, war eins. Das Licht konnte der Hauptmann nicht anzünden, er war vollkommen
entkräftet: zitternd und schweißnass saß er auf dem Holzboden mitten im Büro, in einem
großen Rechteck aus Mondlicht, durchzogen vom Schatten des Fensterkreuzes. Irgendwoher
wusste Marandil, dass der Jäger aus dem Alptraum immer noch draußen stand - aber irgendwie fühlte er sich hier, auf diesem silbrigen Untergrund, geborgen wie ein Kind, das es in seine
'Festung' geschafft hat. Abgelenkt betrachtete er das Schattenmuster auf dem Boden, das das
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Mondlicht zeichnete, bevor ihm einfiel, das Fenster zu überprüfen.
Der Anblick ließ ihn beinahe aufheulen vor Angst und Verzweiflung.
Da auf dem Fensterbrett, das Gesicht gegen die Scheibe gepresst, saß ein Mensch. Oder fast ein
Mensch - die Gesichtszüge ähnelten erschreckend einer Hyäne. Offenbar wäre es ein Kinderspiel für diesen zweiten Formwandler, das Fenster einzuschlagen und ins Zimmer zu springen,
aber er bewegte sich nicht. Er starrte Marandil einfach mit runden, leuchtenden Augen an.
Hinter ihm kreischte Metall - Mungo versuchte das Schloss zu knacken. Marandil dachte noch
daran, dass zum Glück der Schlüssel noch drinnen steckte, als ein schwerer Schlag die Tür erschütterte. Ein gezacktes Loch erschien neben der Tür; das Licht aus dem Korridor verschwand, als etwas sich hindurch schlängelte. Erst da begriff Marandil, dass der Leutnant einfach die Faust durch die Tür geschlagen und den Schlüssel umgedreht hatte. Der Hauptmann
stürzte zum Fenster (lieber die Mensch - Hyäne auf dem Fensterbrett als Mungo), als zwei weitere Gestalten elegant aus den Schatten in den Zimmerecken glitten; irgendwie erkannte er die
Wölfe sofort.
Sie zerrten ihn an den Füßen unter seinem Schreibtisch hervor, wo er sich hatte verschanzen
wollen. Sie stehen über ihn, die Fangzähne entblößt. Über ihm schlägt der Geruch von nassem
Hund und rohem Fleisch zusammen, und dem Hauptmann wird klar, wie er für seinen Verrat
zahlen soll. Winselnd windet er sich auf dem Boden, versucht gleichzeitig seine Kehle und den
Schritt zu schützen... da zerstiebt das Trugbild vor Mungos gefühlloser Stimme: "Hauptmann
Marandil, ihr seid im Namen des Königs verhaftet. Feldwebel, bringen sie seine Waffen, Abzeichen und Schlüssel in den Tresor. In den Keller mit ihm!"
Nein. NEIN! NEEIN! Das ist nicht wahr, das kann nicht passieren - nicht ihm, dem Hauptmann
der Geheimwache Marandil, dem Abteilungsleiter der Gondorer Agenten in Umbar! Aber sie
schleppen ihn schon die steile, holprige Treppe herab (es waren zwanzig Stufen, fiel ihm plötzlich wieder ein, und die vierte von unten hatte dieses große Loch in der Mitte), schütteln ihn
aus den Kleidern und hängen ihn an den Daumen an einem Deckenbalken auf. Dann wieder
Mungos Gesicht, Auge in Auge:
"Deine Spielchen mit dem Umbarer Geheimdienst interessieren mich im Moment wenig. Was
ich wissen will, ist, wer dir befohlen hat, uns die Elben auf den Hals zu hetzen und ihren Untergrund auf uns aufmerksam zu machen. Für wen in Minas Tirith arbeitest du? Arwens
Leute? Was wissen die über Tangorns Auftrag?"
"Um alles in der Welt, ich weiß nichts!" Er krächzt, die ausgerenkten Gelenke schmerzen. Aber
er weiß, dass das nur das Vorspiel ist. "Ich habe niemandem befohlen, diesen Algali zu entführen - Aravan ist entweder verrückt oder arbeitet auf eigene Faust..."
"Fangen sie an, Feldwebel. Also, wer hat dir befohlen, mich an die Elben zu verraten?"
Sie beherrschen ihr Handwerk. Die Schmerzen sind nie so groß, dass er bewusstlos werden
kann... Dann ist es vorbei: Wahrlich grenzenlos ist die Gnade der Valar, und Vairas weiche Hände nehmen ihn auf und bringen ihn in die sicherste Zuflucht - die finsteren Hallen des Mandos.
Die Sonne schien direkt in Marandils Augen - es musste schon fast Mittag sein. Stöhnend hob
er den Kopf (schwer, als habe er überhaupt nicht geschlafen) von dem zusammengerollten
Mantel, den er als Kissen verwendete und versuchte, den Schrei, der in seiner staubtrockenen
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Kehle feststeckte, entweder auszuspucken oder herunterzuschlucken. Aus Gewohnheit fühlte
er nach einer noch nicht geleerten Rumflasche neben der Liege, zog mit den Zähnen den Korken und nahm ein paar tüchtige Schlucke. Der Alkohol half überhaupt nicht mehr: er brauchte
Kokkaine zum Wachwerden. Die letzten Tage hatte die Furcht den Hauptmann langsam von innen aufgefressen, und jetzt war nur noch eine bedauernswerte Hülle übrig. Er hatte die Botschaft nicht mehr verlassen und schlief tagsüber, in seinen Kleidern: irgendwie war er sicher,
Mungo würde ihn sich mitten in der Nacht holen, wie in seinen Alpträumen.
Diese waren sehr vielfältig. Mal schlüpften Mungos Leute wie Schatten in sein Büro, wie
nin'yokve, mal tauchten sie wie Gespenster aus dem großen Khander Wandspiegel auf (nach
diesem Traum war der das erste, was er zerschlagen hatte), mal schlugen sie einfach die Tür
ein wie einfache Polizisten, uniformiert und mit offiziellen Papieren. Die lebhaftesten Erinnerungen hatte er an einem Traum, in dem ihn vier katzengroße Fledermäuse jagten. Flink und
unerbittlich hatten sie ihn durch das Gebäude gejagt, vor Wut kreischend. Sie schlugen ihm
ihre ledrigen Flügel um den Kopf und suchten seine Augen; die Hände, mit denen er sein Gesicht und den Hinterkopf geschützt hatten, waren schon nur noch eine blutige Fleischmasse.
Erst dann war das übliche Ende gekommen: "Hauptmann Marandil, ihr seid im Namen des Königs verhaftet. Feldwebel, bringen sie seine Waffen, Abzeichen und Schlüssel in den Tresor. In
den Keller mit ihm!"
"Herr Sekretär! Herr Sekretär, wachen Sie auf!" Jetzt merkte er, dass er nicht von selbst aufgewacht war - im Türrahmen zappelte ein Bote. "Seine Gnaden der Botschafter verlangt Sie auf
der Stelle!"
Auf der Stelle - das war neu. Als er vor zehn Tagen den Brief mit Aravans Zeugenaussage in der
Morgenpost gefunden hatte, hatte Herr Eldred, der Bevollmächtigte Botschafter des Wiedervereinigten Königreichs, vom Abteilungsleiter eine Erklärung verlangt. Als dieser nichts zu
bieten hatte als ein jammervolles "nicht von mir veranlasst, nicht unsere Sache", begann er,
dem Hauptmann wie der Pest aus dem Weg zu gehen und brach demonstrativ alle Verbindungen zu ihm ab. Das Schrecklichste war, dass das Märchen, das Tangorn Aravan diktiert hatte,
so überzeugend klang, dass Marandil an seinem Verstand zweifelte: Hatte er diesen Befehl
etwa doch gegeben, als er nicht bei Sinnen war? Er war schließlich so überzeugt, dass er den
verletzten Morimir aus dem Weg geräumt hatte (was, wenn der wieder aufgewacht wäre und
den Befehl ebenfalls bestätigt hätte?); aber das hastig und ungeschickt, mit jeder Menge Beweise und ohne Weg zurück. Marandil fühlte sich wie in eine luftleere Blase eingesperrt: alle
seine Untergebenen wichen seinem Blick aus, und in jedem Raum, den er betrat, erstarben alle
Gespräche. Ihm war klar, dass er fliehen musste, aber er hatte noch mehr Angst, in der Stadt
alleine zu sein. Die einzige Hoffnung war, dass die ASA Mungo erwischen würde, bevor dieser
ihn erwischen würde; er glaubte nicht mehr, dass seine eigenen Wachen (trotz ihrer entsprechenden Anweisungen) ihn aufhalten konnten.
"Was soll denn die Eile?" grummelte er finster, während er versuchte, seine zerknitterte Kleidung in Ordnung zu bringen.
"Man hat eine Leiche gefunden, die in Ihre Abteilung gehören soll - viele kleine Narben um den
Mund."
Marandil rannte beinahe in das Büro des Botschafters und wurde sofort beim Eintreten von
zwei kräftigen Männern in verdreckter Kleidung ergriffen, die neben der Tür gewartet hatten.
Herr Eldred stand etwas abseits, eine merkwürdige Mischung aus gekränkter Adelswürde und
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bürokratischer Unterwürfigkeit - ganz offenkundig hatte Seine Eminenz gerade den sprichwörtlichen Säureeinlauf bekommen, und zwar eine tüchtige Dosis. Sein Sessel war besetzt von niemand geringerem als Mungo - im Schneidersitz und genau so verdreckt wie seine Leute.
"Hauptmann Marandil, ihr seid im Namen des Königs verhaftet. Feldwebel, bringen sie seine
Waffen, Abzeichen und Schlüssel in den Tresor. In den Keller mit ihm!" Im Aufstehen sagte er
über die Schulter hinweg: "Herr Botschafter, ich empfehle nachdrücklich, den Sicherheitschef
dieser Einrichtung zu finden und ihm Feuer unterm Hintern zu machen. Mindestens vier
Wege, um hier ungehindert hinein zu kommen, und nicht einmal Gitter in den Kanalöffnungen
- eine unglaubliche Schlamperei! Wundert Euch nicht, wenn hier eines Morgens plötzlich Zigeuner im Hof kampieren und die Bettler im Vorraum schlafen..."
Nein. NEIN! NEEIN! Das ist nicht wahr, das kann nicht passieren - nicht ihm, dem Hauptmann
der Geheimwache Marandil, dem Abteilungsleiter der Gondorer Agenten in Umbar! Aber sie
schleppen ihn schon die steile, holprige Treppe herab (es waren zwanzig Stufen, fiel ihm plötzlich
wieder ein, und die vierte von unten hatte dieses große Loch in der Mitte), schütteln ihn aus den
Kleidern und hängen ihn an den Daumen an einem Deckenbalken auf. Dann wieder Mungos Gesicht, Auge in Auge:
"Deine Spielchen mit dem Umbarer Geheimdienst interessieren mich im Moment wenig. Was ich
wissen will, ist, wer dir befohlen hat, uns die Elben auf den Hals zu hetzen und ihren Untergrund
auf uns aufmerksam zu machen. Für wen in Minas Tirith arbeitest du? Arwens Leute? Was wissen die über Tangorns Auftrag?"
"Um alles in der Welt, ich weiß nichts!" Er krächzt, die ausgerenkten Gelenke schmerzen. Aber er
weiß, dass das nur das Vorspiel ist. "Ich habe niemandem befohlen, diesen Algali zu entführen Aravan ist entweder verrückt oder arbeitet auf eigene Faust..."
"Fangen sie an, Feldwebel. Also, wer hat dir befohlen, mich an die Elben zu verraten?"
Sie beherrschen ihr Handwerk. Die Schmerzen sind nie so groß, dass er bewusstlos werden kann...
Dann ist es vorbei: Wahrlich grenzenlos ist die Gnade der Valar, und Vairas weiche Hände nehmen ihn auf und bringen ihn in die sicherste Zuflucht - die finsteren Hallen des Mandos.
Von wegen!
"Bastard! Du stirbst erst dann, wenn du uns alles gesagt hast! Für wen von Arwens Leuten arbeitest du? Wie kommuniziert ihr?"
Nichts war vorbei. Es fing gerade erst an...
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Kapitel 50
Umbar, Langer Damm
27. Juni 3019
Ash-Sharam zählt den Langen Damm von Umbar in seiner Universalgeschichte nicht zu den
Zwölf Weltwundern, aber das zeugt nur von den Vorurteilen des großen Vendoteniers: ihm
waren hübsche Spielsachen wie der Turm von Barad-Dur oder der Hängende Tempel von
Mendor lieber als zweckmäßige Bauten, egal wie großartig. Der siebenhundert Fathom lange
Damm, der die Halbinsel mit den Inseln verband, beeindruckte einfach jeden Neuankömmling
in Umbar - er war breiter als jede Straße der Stadt und bot zwei Spuren für den Karawanenverkehr. Dafür war er auch gebaut worden - so konnten sich Kaufleute über die Hochstraße
von Chevalgar Waren vom und an den Kontinent liefern, ohne sich mit Fähren plagen zu müssen. Natürlich nicht umsonst; Spötter behaupten, dass man alleine mit den Silbermünzen, die
als Wegzoll über vier Jahrhunderte eingenommen worden waren, einen zweiten Damm derselben Größe aufschütten könne.
Vor der riesigen Zollstation auf der Halbinselseite hatte sich eine regelrechte Kleinstadt aus
bunten Zelten, Pavillons und Bambushütten ausgebreitet. Hier fand ein ermüdeter Handelsreisender nach fünf Tagen Hochstraße jede erdenkliche Gelegenheit, sein Geld loszuwerden, mal
abgesehen von so unangenehmen Dingen wie Zöllnern. Der graue Qualm aus den shishkebap Buden roch fast noch schmackhafter als das eigentliche Gericht, Frauen aller Hautfarben und
Größen zeigten ungehindert ihre Reize, Wahrsager und Zauberer versprachen genaue Vorhersagen über die kommenden Geschäfte für nur eine Kupfermünze und die vollständige Auslöschung der Konkurrenz für nur einen Castamir... Aufdringliche Bettler, jammerten um Mitleid,
Taschendiebe fischten die Menge ab, Trickbetrüger stritten sich um Ziele - und nebendran
zählten die Polizisten in aller Ruhe Bestechungsgelder (Reiche Fischgründe war noch untertrieben als Beschreibung. Es gibt eine Anekdote über einen Antrag eines Polizeianwärters an
seinen Revierleiter: "Wegen ernsthafter finanzieller Schwierigkeiten seit der Geburt meines
dritten Kindes bitte ich hiermit um wenigstens zeitweilige Versetzung auf den Langen
Damm."). Kurz gesagt, eine Miniatur Umbars in all seiner Pracht.
Heute kroch die Schlange wie selten zuvor. Nicht nur, weil die Zöllner aussahen, als würden sie
jeden Moment schlafend umkippen (aber trotzdem hatten sie ihre Nase in jedem einzelnen
Sack), es gab auch eine Engstelle auf dem Damm, wo gerade jetzt der Straßenbelag erneuert
werden musste. Ein riesiger schwarzbärtiger karavanbashi aus Khand hatte schon begriffen,
dass die Zöllner - möge der Allmächtige sie mit Pocken und Pest strafen! - so viel seiner Zeit
verschwendet hatten, dass er und seine Lasttiere nicht vor dem Mittagessen auf den Inseln
sein würden, und damit war der heutige Markttag für die Katz. Aber warum die Aufregung der Allmächtige hat es so gewollt. Sollte sein Assistent auf die Tiere und Waren achtgeben, er
würde sich jetzt erst einmal ansehen, was die Zelte so zu bieten hatten.
Nach einer Runde in einem Kochzelt (lagman, drei Portionen hervorragender Fleischtopf mit
Safran und ein Teller Küchlein aus Trockenfrüchten) machte er sich auf den Rückweg, aber mit
einem Umweg an einer kleinen Bühne vorbei. Dort wackelte eine olivenhäutige Tänzerin mit
nichts als ein paar fliegenden Stoffbändern am Körper auf das Einladendste mit den Hüften.
Zwei Bergbewohner von der Halbinsel verschlangen sie geradezu mit ihren Blicken (vor allem
der glatte Bauch und die wohlgeformten Schenkel, die sich in einem ganz unverkennbaren
Rhythmus hin und her bewegten), aber nicht ohne gelegentliches verächtliches Ausspucken
("Was finden die Städter bloß an diesen dürren Schlampen?") oder gelegentlichen Wortwechseln über die Sittenlosigkeit der Stadtfrauen. Der karavanbashi rechnete schon aus, was eine
kleine Privatvorstellung in dem Zelt hinter der Bühne ihn wohl kosten würde, als das Schicksal
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in Form eines Predigers der Hakimiani eingriff. Die kahle Mumie mit den vergammelten
Lumpen und den brennenden Augen rief sofort einen Strom von Verwünschungen herab auf
die Häupter all der "Sünder, die da so lüstern auf das abscheuliche Treiben unserer gefallenen
Schwester starren". Die störte das zwar nicht im geringsten, aber der Handelsreisende
entschied sich, zu verschwinden, bevor der heilige Mann ihm irgendeinen hässlichen Fluch
auferlegte.
Trotzdem, irgendwo musste er eine Frau herkriegen - fünf Tage Entzug, meine Güte! Also sah
er sich in der näheren Umgebung um, und siehe da - nur ein paar Schritte vor ihm war genau
das, was er gesucht hatte. Sie sah auf den ersten Blick nicht nach viel aus - ein dünnes Gör,
vielleicht siebzehn, mit einem beträchtlichen Veilchen im Gesicht - aber der Khandi warf einen
prüfenden Blick auf die geduckte Figur und leckte sich beinahe sofort und offen die Lippen na, das war doch was! Einfach ein Tuch übers Gesicht und ab dafür.
"Gelangweilt, Kleine?"
"Verschwinde," lautete die ungerührte, aber äußerst anziehend klingende Antwort. "In dem
Geschäft bin ich nicht, Kumpel."
"Nicht im Geschäft, oder einfach noch nicht das richtige Angebot bekommen? Ich zahle nicht
schlecht!" Das Lachen klang scherzhaft, aber der Griff um ihre Hand war eisern.
Die Antwort darauf war eine kurze Tirade, die selbst den abgebrühtesten Seeräuber schamrot
hätte werden lassen. Mit einer gekonnten Bewegung zog das Mädchen ihre Hand aus der Pranke des Händlers und verschwand in einer Lücke zwischen einem geflickten Zelt und einer
wackligen Seegrashütte. Eigentlich ist das nicht mal so schwierig - man muss nur genau in die
Richtung der Daumenspitze des Angreifers ziehen - aber beim ersten Mal ist das beeindruckend und sollte eigentlich zu einem bestimmten Schluss führen. Dieses Mal allerdings trampelte der in jeder Hinsicht erregte karavanbashi (die kleine Nutte will mir die Unberührbare
vorspielen?) seiner flüchtigen Beute hinterher.
Gerade mal eine halbe Minute später war der Khandi aber wieder auf dem Platz. Jetzt allerdings trat er wesentlich sachter auf, fast schon auf Zehenspitzen. Die rechte Hand hielt er mit
der Linken gegen den Bauch gepresst und jammerte lautlos. Tut uns leid, Mann, aber das hast
du vermasselt. Selbst für einen Neuling bei der ASA war es ein Kinderspiel, einer drohend ausgestreckten Hand den Daumen auszurenken, und dieses Mädchen war alles andere als ein
Neuling. Kurz danach war Fay (so hieß sie jedenfalls in der Abteilung) schon wieder auf dem
Posten, aber der unglückliche Händler hätte sie auf keinen Fall wieder erkannt - die junge
Hure war verschwunden, an ihre Stelle trat ein Wasserverkäufer - ein dreckiger, zerlumpter
Junge ohne blaues Auge, und gerade solche Details fallen einem Beobachter immer auf. Sie
war gerade rechtzeitig zurück: der blinde Bettler an der Dammauffahrt winselte "Helft, wenn
ihr könnt, liebe Leute!" anstatt seinem üblichen "Liebe Leute, helft, wenn ihr könnt!" - das
'Herkommen!'-Signal.
Fay erinnerte sich natürlich Wort für Wort an die Beschreibung ihrer Zielperson (Nordländer,
braune Haare, zweiunddreißig, sieht aber jünger aus, leichtes Hinken rechts), aber heute war
sie nur als Unterstützung für den Blinden, der die Erkennung machen sollte, eingeteilt. Natürlich wusste sie nicht, dass der blinde Bettler der Vizedirektor für Operationen persönlich war,
ebenso wenig wie sie von der Warnung, die Jacuzzi am Vortag bekommen hatte, wusste - wenn
sein Versuch, Tangorn zu fangen, nicht innerhalb eines Tages Erfolg hätte, würde er nicht bloß
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mit einer Entlassung ohne Pension davonkommen. Mit dem gellenden Ruf: "Wasser, Wasser,
kaltes Wasser mit Eis!" schlüpfte das Mädchen gekonnt in die Menge und versuchte
herauszubekommen, was den Chef misstrauisch gemacht haben könnte.
Ein Wagen, der offenbar mit Kornsäcken beladen war, fuhr gerade auf den Damm. Ein langer,
schlanker Bergbewohner, etwa achtundzwanzig bis dreißig Jahre alt, führte ein paar Maultiere, die den Karren zogen; zwischen dem himbeerfarbenen Fez und dem Pflaster lagen genau
die verlangten sechs Fuß. Alles andere... Wenn man mal vom fehlenden Hinken absieht (das
auch eine ähnliche künstliche Ablenkung sein könnte wie ihr blaues Auge), hatte der Mann
eindeutig keine grauen Augen. Vielleicht die Säcke? Das wäre eine ernsthafte Möglichkeit, deswegen war sie für den Baron keine. In einem Fass oder Sack über den Damm zu kommen, war
zu offensichtlich; es war so abgeschmackt, banal und lächerlich, dass Tangorn mit seiner Vorliebe für paradoxe Lösungen es wohl mit Sicherheit versucht hätte. Darum arbeiteten die Zöllner heute auch so sorgfältig (dank eines Gerüchts über verdeckte Prüfer des Schatzamts), und
darum umkreiste jeden Wagen ein für solche Aufgaben abgerichteter Spürhund (die wegen
der Straßenarbeiten nur langsam fahren konnten).
Also fielen sowohl die Säcke als auch ihr Besitzer flach. Fay warf einen scharfen Blick auf einen
Trupp berittener Gendarmen mit ihrem Fang - sechs Bergbewohner zu Paaren zusammengekettet - die sich in die Schlange gedrängt hatten ("Weg da! Aus dem Weg - oder ich nehme die
Peitsche!"), sah nichts ungewöhnliches und blickte an ihnen vorbei. Ah, das musste es sein!
Eine Gruppe Hakimiani - Pilger auf dem Rückweg von Shavar-Shavan, eine traditionelle dreiwöchige Pilgerfahrt zu einem ihrer Bergschreine. Etwa dreißig Personen, mit Hüten auf den
Köpfen als Zeichen der Hingabe, etwa die Hälfte Epileptiker oder anderweitig behindert, einschließlich Lähmungen. Eine geradezu ideale Verkleidung - sogar wenn sie den Baron erkannten (was so gut wie unmöglich war), wie sollten sie ihn da herausholen? Mit Gewalt, unter Einsatz der 'Straßenarbeiter'? Das würde ein Gefecht geben, an dessen Folgen man besser nicht
dachte, ganz zu schweigen von den Straßenschlachten und eventuellen Toten zwischen Hakimiani und Aritani morgen in der Stadt. Ihn irgendwie zur Seite bitten? Aber wie? Vor lauter
Nachdenken hätte Fay fast den Augenblick verpasst, in dem 'ihr' Blinder aufstand und den Pilgern folgte. Das Klappern seines Stocks auf dem Pflaster verriet ihr, dass er Tangorn eindeutig
erkannt hatte.
Ein paar Momente später war aus dem Wasserträger ein Führer geworden. Die zwei Bergbewohner, die mit dem Khandi die Tänzerin begafft hatten, folgten ihnen etwas weiter hinten (einer von ihnen war Ras-Shua, der gegenwärtige Spion auf der Halbinsel), dann kam eine seltsame Gruppe aus zwei verdächtig aussehenden jungen Männern und einem erschöpftem Zöllner.
Für die Straßenarbeiter war es Zeit für die Mittagspause; ach sie machten sich auf in die Stadt.
Die Falle auf dem Damm war erfolgreich zugeschnappt, dank dem alten Hasen Jacuzzi.
"Mädchen, das hat er großartig hingekriegt. Ich muss ihm applaudieren, die Idee ist exzellent.
Ehrlich gesagt war es reines Glück, dass ich ihn erkannt habe, allen anderen ist er überhaupt
nicht aufgefallen. Jammerschade, dass er nicht für unsere Mannschaft spielt..."
Der Vizedirektor klang geradezu zärtlich: der Sieg verleitete ihn zu Großzügigkeit und Selbstkritik. Er erinnerte sich an die kleine Schenke am Platz Castamirs des Großen, den Kelch Núrnen, den er auf den Erfolg des Gondoliers geleert hatte, und an sein Urteil: "Er ist wirklich ein
Amateur - ein brillanter und glücklicher, aber es wird nur für ein oder zwei Mal reichen. Beim
dritten Mal bricht er sich das Genick..." Das war das dritte Mal - niemand hat ewig Glück.
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"Wie haben Sie ihn mit dem Hut erkannt?"
"Dem Hut? Ach, Sie dachten, er sei einer der Pilger?"
"Wie bitte?"
"Natürlich nicht. Er ist einer der Gefangenen, der Rechte im ersten Paar. Er hat einen blutigen
Lumpen im Gesicht, und alle hinken - die Fußeisen sind kein Witz."
"Aber die Gendarmen..."
"Sind echt, und er ist ein echter Gefangener, das ist es ja gerade! Eine exzellente und unglaublich elegante Lösung. Nicht anhalten oder hinschauen - das merken die Leute. Lern von den
Könnern, solange sie da sind, Mädchen... ich meine ihn, nicht mich."
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Kapitel 51
"Ich verstehe immer noch nicht...also, nicht ganz," gab Fay zu. Offenbar war ihr Vorgesetzter
blendender Laune und bereit, alles zu erklären.
"Er hat ganz richtig gerechnet: Die Gendarmen würden sicher unser Interesse erregen - gestohlene Uniform, eine Standardverkleidung - aber ihr Fang, vorausgesetzt, die Gendarmen
sind echt, würde sicher nicht auffallen. Also hat er sich einfangen lassen. Ich weiß noch nicht
wie, aber das ist jetzt auch egal. So viele Möglichkeiten... er hätte beispielsweise in Irapuato einem von ihnen einen halben Becher Wein an leeren können. Sie hätten ihn natürlich verprügelt (und ihm damit einen Grund für das verbundene Gesicht geliefert), aber danach wäre er
ohne Probleme in die Stadt gebracht worden, ins beste Versteck, das er in den nächsten Monaten gehabt hätte. Weder wir noch Aragorns Leute wären auf die Idee gekommen, ihn dort zu
suchen. Vorausgesetzt, er hätte sich still verhalten wollen; ansonsten hätte er einem von seinen Leuten - Alwiss, vielleicht - über die Kriminellen benachrichtigt, und in ein, zwei Tagen
wäre er freigekauft gewesen. Nun, mein Plan sieht nicht vor, dass er seine Füße in einer kühlen
Zelle ausstrecken kann."
Etwa fünfzig Schritt hinter den Gendarmen her (bei denen es sich tatsächlich um die 'Banditenjäger' aus Irapuato handelte) kamen Jacuzzi und seine Begleiterin an der Hafenpolizei an.
Hier wurden die Gefangenen geteilt: Vier wurden weiter getrieben, der Gruppenführer brachte Tangorn und seinen Mitgefangenen (laut Ras-shua ein gewisser Chekorello, Sarrakeschs
Neffe zweiten Grades) in das Gebäude. Eine Viertelstunde später, anstandshalber, folgte ihm
Jacuzzi. Der Wache, die zwei zerlumpte Bettler aufhalten wollte, zeigte er die Marke eines Polizeikommissars (er hatte jede Menge dabei, vom Zollinspektor zum Flaggoffizier der Admiralität - solange er sie nur nicht verwechselte) und verlangte nach dem diensthabenden Chef.
"Kommissar Rachmajanian" stellte er sich in dessen Büro vor. Dessen Insasse, ein gelangweilt
wirkender Fetter mit hängenden Koteletten, der wie eine lebendig gewordene Karikatur eines
Polizeichefs aussah, machte einen nicht ganz gelungenen Versuch, sein beträchtliches Hinterteil aus seinem Sessel zu hieven und seinen Besucher zu grüßen: "Oberinspektor Jezin. Nehmen Sie Platz, Kommissar. Wie kann ich behilflich sein. Das Mädchen gehört wohl zu Ihnen,
wenn ich fragen darf?"
"Sicher." Fays Verkleidung hatte Jezin keine Sekunde lang getäuscht. Jacuzzi hatte schon einige
Hinweise gesehen, dass der Chef einerseits die Augen offen hatte (Keine Überraschung angesichts der Tatsache, dass der Posten eine Goldmine war und die Konkurrenz um das Amt
dementsprechend hart), andererseits ein einfacher und direkter Typ war: Zum Beispiel stand
auf seinem Tisch eine geschlossene Flasche Elfenwein. Im Elbenstein - Laden auf dem Drei-Sterne – Deich hätte ihn das mindestens drei Monatsgehälter gekostet. Viel zu hoch für den,
dachte Jacuzzi traurig. Zum Glück war es nicht Aufgabe der ASA, die Polizei sauber zu halten.
"Vor etwa einer halben Stunde sollten hier zwei verhaftete Bergbewohner eingeliefert werden..." fing er an, da unterbrach ihn der Oberinspektor auch schon aufs Lebhafteste: "Das ist
ein Irrtum, Kommissar, in den letzten paar Stunden gab es hier keine Einlieferungen von Häftlingen!"
Das kam so unerwartet, dass Jacuzzi versuchte, dem Mann zu erklären, dass die Einlieferung
direkt vor seinen Augen passiert und Leugnen zwecklos sei.
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Unverschämter Weise antwortete dieser: "Das müssen Sie sich zusammen gesponnen haben,"
und gab der Türwache ein Zeichen. "Der Korporal hier kann bestätigen: Wir haben hier keine
Bergbewohner eingesperrt und hatten auch nie welche!"
Jacuzzi schüttelte besorgt den Kopf: "Mädchen, hier gibt es ein Missverständnis." Das war ein
Kennwort. In der nächsten Sekunde stach Fay den Korporal mit ihrem plötzlich stahlharten
Zeigefinger in den Halsansatz, direkt zwischen die Schulterblätter; eine Sekunde später war
die dicke Bürotür von innen verriegelt und der Oberinspektor von seinen Untergebenen abgeschnitten. Inzwischen hatte Jacuzzi Jezins Hand geschnappt, mit der dieser nach der nächsten
Waffe greifen wollte. Eine Umdrehung des Handgelenks ließ den Mann in den Sessel plumpsen
und erstickte einen Schrei. Der Vizedirektor sah sich um, brach der Weinflasche mit einem
Handkantenschlag den Hals ab und kippte den teuren Inhalt über dem Mann aus; als dieser
wieder zu sich kam, packte Jacuzzi ihn beim Kragen und fragte mit aller Freundlichkeit: "Wo
sind diese Gefangenen?"
Der Dicke zitterte und schwitzte - aber er schwieg. Da keine Zeit mehr blieb - jeden Moment
konnte jemand anfangen, die Türe einzuschlagen - war sein Vorschlag kurz und eindeutig:
"Zehn Sekunden zum Nachdenken. Dann zähle ich bis fünf. Bei jeder Zahl breche ich einen
Finger. Bei sechs schlitze ich dir damit den Hals auf. Sieh mir in die Augen: sehe ich aus wie ein
Witzbold?"
"Ihr seid vom Geheimdienst, oder?" murmelte der Inspektor kläglich und grau vor Angst. Eindeutig hatte er sich seine Streifen nicht bei der Verbrecherjagd in den Elendsvierteln des
Kharmiadorfs verdient.
"Sechs Sekunden weg. Also?"
"Ich rede ja schon...sie haben mir befohlen, sie gehen zu lassen..."
"Befohlen?"Plötzlich fühlte sich Jacuzzi, als bräche der Boden unter ihm weg; seinem Magen
nach befand er sich im freien Fall.
"Die waren Männer des Königs von Gondor, von seiner Geheimwache. Sie waren in geheimem
Auftrag auf der Halbinsel, aber die Bergbewohner haben sie entdeckt und wollten sie hinrichten. Sie konnten durch die Wälder flüchten, nach Iraputao. Da haben sie die Stadtgendarmen
auf der Suche nach Uanako angesprochen und ihnen befohlen, sie als Gefangene verkleidet in
die Stadt zu bringen... und hier sollte ich ihnen Kleider geben und sie zur Hintertüre rauslassen. Und sie sagten auch, wenn ich irgendwem ein Wort darüber verraten würde, würden sie
mich überall finden, selbst im Fernen Westen... Ich weiß ja, dass die Geheimwache Gondors
hier rechtlich gesehen nichts zu sagen hat, aber... sie verstehen doch?"
"Warum sollten das Aragorns Männer gewesen sein?"
"Einer war ganz offensichtlich ein Nordländer, und er hatte eine Marke der Geheimwache..."
"Sergeant Morimir oder Aravan..." murmelte Jacuzzi, ohne seine Stimme wiederzuerkennen.
Was war bloß über ihn gekommen, dass er die Marken aus dem Überfall in der Lampenstraße
4 vergessen hatte?!
"Ja, Herr, Sergeant Morimir! Sie kennen sie also?"
221
"Oh ja, besser als mir lieb ist. Als dieser Morimir die Kleider gewechselt hat, hatte er da noch
mehr in den Taschen?"
"Nur Geld, nichts weiter."
"Wie viel?"
"Etwa zehn Castamir und etwas Kleingeld."
"Was für Kleider haben sie bekommen?"
Der Vizedirektor nickte mechanisch, während Jezin auf das Genaueste die Lumpen beschrieb,
die er den hohen Gästen so gehorsam gegeben hatte. Hinhören brauchte er nicht wirklich - die
Informationen waren so gut wie nutzlos. Zehn Castamir... Er sprach Fay an.
"Du gehst auf dem selben Weg wie sie. Erukos Laden ist Richtung Ringkanal auf der linken Seite. Vermutlich wollen sie sich dort neue Kleider beschaffen: nicht ganz billig, aber zehn Castamir sollten reichen. Wenn nicht, weiter die Passage entlang..."
"Richtung Flohmarkt?"
"Korrekt. Sie brauchen jetzt sofort dringend andere Kleider - das ist unsere einzige Chance.
Bewegung!"
Er ließ sich auf die Steinmauer am Eingang zur Polizeistation fallen und streckte einfach nur
die Hand aus. Ras-Shua setzte sich neben ihn und drückte ihm sofort eine Flasche Rum in die
Hand; Jacuzzi nahm ein paar Schluck und starrte die untergehende Sonne an. Sein Kopf fühlte
sich schmerzhaft leer an. Sie würden Tangorn schon auf die Spur kommen, aber das würde ihn
nicht retten; Almandins Frist lief in einer Stunde ab. Dem Baron gegenüber verspürte er keinen Zorn - der Mann hatte nach den Regeln gespielt.
"Hab sie, Chef!" Plötzlich stand Fay vor ihm, atemlos, aber strahlend - sie musste die Strecke in
Rekordzeit hinter sich gebracht haben. "Genau wie Sie sagten - sie haben bei Eruko die Kleider
gewechselt und sind dann direkt in die Seefahrer - Kreditbank nebenan gegangen!"
Es hätte nicht sein sollen, aber es war so. Es sah fast so aus, als hätte das Schicksal persönlich
ihnen heute zeigen wollen, wie wenig Planung und Geschick gegen ihren Willen vermögen.
Vielleicht, so dachte Jacuzzi, als er Fay (die geschickterweise drei Straßenjungen als Beobachter aufgestellt hatte) zur Bank hinterher rannte, komme ich doch mit dem Schrecken davon,
und der Baron hat eine Pechsträhne: er hat alles erstklassig erledigt, geradezu lehrbuchmäßig,
und trotzdem...
Als Tangorn und Chekorello aus der Bank kamen, beide untertrieben luxuriös gekleidet, war
der Beobachterring der ASA schon geschlossen. Sie umarmten sich dreimal nach Art der Bergbewohner und gingen dann getrennte Wege. Warum sie in der Bank gewesen waren, war
schnell geklärt. Einer der Agenten, ein versierter Taschendieb, hatte durch Berührung festgestellt, dass Chekorello jetzt "mit Gold beladen war wie eine Herbstforelle mit Eiern."
Jacuzzi gab den Befehl aus, den Mann laufen zu lassen und sich ganz auf die Verfolgung Tangorns zu konzentrieren. Da kam auch schon ein Beobachtungstrupp zur Verstärkung, und jetzt
222
hatte Tangorn keine Möglichkeit mehr zu entkommen: kein einzelnes Wesen, egal wie gut,
kommt gegen eine ganze Organisation an, wenn die auch nur halbwegs ihre Sache versteht.
Tangorn bummelte die nächsten zwei Stunden fachmännisch durch die Stadt - mischte sich
unter Marktbesucher, versteckte sich in leeren, hallenden Sackgassen, sprang plötzlich in
Mietgondeln - aber seine Beobachter konnte er weder abschütteln noch entdecken. Im Gegensatz zu den Spionen Gondors waren die Leute der ASA Profis. Nur einmal ließen die Höheren
Mächte Jacuzzi (der sich beruhigt hatte und jetzt die Operation aus dem Hintergrund leitete)
eine Warnung zukommen, sich nicht zu früh zu entspannen. Die Späher berichteten, der Baron
habe nach gründlicher Prüfung der Umgebung das Restaurant "Zur grünen Makrele" betreten;
solle man ihm folgen und riskieren, entdeckt zu werden, oder einfach draußen warten?
Aus formellen Gründen fragte Jacuzzi: "Habt ihr die Rückseite abgedeckt?" Der Agent erbleichte und musste schwer schlucken.
"Verdammt noch mal!" explodierte der Vizedirektor, der plötzlich wieder den Absturz fühlte.
"Der verdammte Abort der Makrele hat ein Fenster, durch das man ein ganzes Wildschwein
kriegt, schon vergessen? Ich schmeiß euch Idioten alle raus!"
Bei diesen Worten fiel Jacuzzi wieder ein, dass er das wohl kaum selbst tun würde, wenn Tangorn sie tatsächlich bemerkt hätte und sich schon auf den Abort verdrückt hätte... Aber die
Angst war unbegründet: es stellte sich heraus, dass Tangorn in einem Privatraum gemütlich
mit zwei Herren zu Abend speiste, und einer davon war niemand anderer als der vermisste
Untersekretär Algali.
223
Kapitel 52
Umbar, Restaurant "Zur grünen Makrele"
27. Juni 3019
"Übrigens, wie ist das mit der aufgelösten Verlobung Eurer Base ausgegangen?" fragte Tangorn angelegentlich, sobald das Essen abgetragen war und Algali sich auf einen diskreten
Wink seines Begleiters hin in den Speisesaal begeben hatte.
"Nichts besonderes, ich glaube, Linoel hat schon jemand anderen. Aber falls sie mich mit ihrem Wissen über die Gerüchte in der höheren Gesellschaft Loriens beeindrucken wollten, haben sie eher das Gegenteil erreicht: das ist eine alte Geschichte."
Punkt für mich, dachte Tangorn. Sonst hättest du mir kaum so schnell eine Erklärung angeboten. Vielleicht sind diese Elben doch nicht so hellhörig, wie man sagt. Laut sagte er: "Ich wollte
nur sichergehen, dass mir hier wirklich Elandar gegenüber sitzt: Sie haben den Namen Linoel
erwähnt, und das wollte ich hören. Ziemlich primitiv, ich weiß, aber..." Er lächelte verstohlen.
"Würden sie jetzt bitte die Maske ablegen?"
"Wie sie wünschen."
Ja, er sprach eindeutig mit einem Elb: geschlitzte statt runde Pupillen, katzen- oder schlangenhaft; er hätte sich auch die Ohrenspitzen, die unter der Frisur verborgen waren, ansehen können, aber das war wohl nicht nötig. Du bist am Ziel, Ritter. Durch bemooste Wälder und schäumende Flüsse, durch trügerische Sümpfe und verschneite Gebirge kämpfte sich der edle Ritter, bis
ihn die Zauberkugel zur Uggunschlucht führte, wo der Boden zu Schlacke verbrannt war, Galle
statt Wasser floss und das Gras nicht existierte. Dort hauste der Drache in seinem Nest unter den
Granitfelsen...Nun, wenn das hier eine alte Ballade wäre, wärst du ehrlich gesagt wohl kaum
der edle Ritter. Eher wärst du sein listiger Rüstungsträger, dessen einzige Aufgabe darin besteht, sich zum Nest zu schleichen und den giftigen Köder hineinzuwerfen. Es wird an Haladdin sein, den Lindwurm zu bekämpfen, wenn er sich erhebt, aber eine Chance hat der Doktor
nur, wenn das Monstrum den Giftköder schluckt: das versiegelte Päckchen, das du vor zwei
Stunden aus dem Banktresor geholt hast, wo es mit dem Mithrilhemd und ein paar anderen
Dingen gelegen hat. Kein besonders ritterliches Benehmen, aber wir sollen den Drachen loswerden und nicht in die Kinderbücher kommen.
"Zufrieden?" Der Elb brach das Schweigen. In seinen Augen leuchtete Verachtung wie das
blaue Feuer brennenden Sumpfgases.
"Ich denke schon. Ich kenne Elandar nicht persönlich, aber die Beschreibung scheint zu stimmen." Das war ein Bluff, aber er schien zu funktionieren; andere Kontrollmöglichkeiten gab es
jedenfalls nicht. "Wenn sie nicht der sind, der sie behaupten zu sein, sollten sie jetzt besser
aussteigen. Was ich zu sagen habe, könnte einige Höhere Loriens den Kopf kosten, also werden sie den Hüter dieser Nachricht genau so jagen, wie Aragorns Männer mich jagen. Clofoel
Eornis Sohn wird entsprechend damit umgehen können und, was noch wichtiger ist, am Leben bleiben, im Gegensatz zu einem niederen Elben. Es ist eine bekannte Regel, dass gefährliches Wissen mitsamt dem Träger vernichtet wird; ich denke, sie wissen, was passiert, wenn
man Dinge erfährt, die einen nichts angehen, selbst wenn es ein Versehen ist..." Mit diesen
Worten blickte Tangorn vielsagend zu der Tür, durch die Algali den Raum verlassen hatte.
"Das ist wahr," nickte der Andere ruhig, als er Tangorns Blick folgte. "Ja, ich bin Elandar. Und
da sie Dame Eornis Titel kennen, Baron, wissen sie wirklich, wie Lorien arbeitet. Aber sie
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überschätzen meine Stellung, fürchte ich."
"Wohl nicht. Sie sollen dasselbe sein wie ich - ein Zwischenträger. Die Botschaft, soviel haben
sie wohl schon erraten, geht an ihre Mutter. Aber ich habe Gründe zu vermuten, dass Clofoel
Eornis auch nicht die endgültige Empfängerin sein wird."
"Ach?..." Elandar schien nachdenklich. "Hat Faramir also Beweise gefunden, dass gewisse
Gruppen in Lorien sich mit Aragorn verbündet haben und das Wiedervereinigte Königreich als
Trumpfkarte in ihrem Spiel gegen Herrin Galadriel verwenden wollen... Hofft der Prinz von Ithilien etwa, dass er zum Lohn den Thron von Minas Tirith zurückbekommt?"
"Ich wiederhole - ich bin nur Zwischenträger. Ich kann keine Namen nennen. Erscheint ihnen
irgend etwas daran unglaubwürdig?"
"Theoretisch ist es ziemlich plausibel... vielleicht zu plausibel. Es ist nur so, Baron - das ist jetzt
nichts Persönliches, aber ich traue ihnen nicht im Geringsten. Es gibt einfach zu viel Lärm um
sie. Aragorns Leute scheinen sie zu jagen, aber sie haben verdächtig viel Glück, erst im Seepferdchen, dann auf dieser Castamirpfütze. Oder diese Rettung Algalis - wer soll denn all diese
Zufälle glauben?"
Tangorn zuckte mit den Achseln. "Das kann ich kaum abstreiten. Ich kann das Ganze selbst
kaum glauben. Meinen sie immer noch, ich hätte die Ereignisse in der Lampenstraße 4 selbst
inszeniert?"
"Bis gestern schon," musste Elandar düster zugeben. "Aber gestern wurde Hauptmann Marandil verhaftet und dazu verhört. Er hat tatsächlich den Befehl gegeben..."
Tangorn musste kämpfen, um seinen Kiefer oben zu behalten. Der Satz "Zuviel des Guten ist
auch nicht gut" stimmt vollkommen.
"Wir drehen uns im Kreis, mein Herr," sagte er plötzlich. Vielleicht war es Zeit, die Sache härter anzugehen. "Jedenfalls werden sie in dieser Sache gar nichts entscheiden - das ist nicht
ihre Kragenweite, wenn sie mir den Ausdruck gestatten. Ich brauche nur eines - können sie
meine Botschaft an Frau Eornis überbringen, ohne dass irgendwer in Lorien davon erfährt?
Wenn nicht, muss ich andere Kanäle suchen, und unser Gespräch hier ist zwecklos."
Der Elb streichelte das Päckchen auf dem Tisch gedankenverloren. Offenbar suchte er nach
Spuren von Magie. Tangorn hielt den Atem an: Der Drache schnüffelte argwöhnisch am Köder.
Tatsächlich hatte er nichts zu befürchten - physisch war das Paket sauber und ohne Tricks.
Er kicherte: "Hoffentlich können sie auch ohne Öffnen feststellen, dass da weder Gift noch gezielte Magie drin ist?"
"Das kann ich schon irgendwie..." Elandar fixierte den Packen. "Wiegt fast ein halbes Pfund,
und ich spüre eindeutig Metall da drinnen... ziemlich viel Metall. Was ist da noch drin außer
der Botschaft?"
"Die Botschaft ist in mehrere Lagen Silberpapier eingewickelt, damit man sie nicht magisch
von außen lesen kann." Der Elb nickte fast unmerklich. "Die Außenverpackung ist Sackleinen,
die Knoten der Verschnürung sind versiegelt, unter den Siegeln sind Metallringe eingearbeitet.
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So ein Paket kann man nicht heimlich öffnen: das Wachs kann man nicht wegschmelzen, es
hängt zu fest mit dem Tuch zusammen. Abkratzen geht auch nicht, die Metallringe sind im
Weg. So versiegelt man Regierungspost in Khand, und ich kenne keine sicherere Methode. Außerdem dürften die Knoten, die die Ringe halten, den Elben unbekannt sein. Sehen sie selbst."
Mit diesen Worten band Tangorn schnell ein Stück Schnur um den Griff eines Obstmessers
und reichte es Elandar. Dieser studierte das Muster, aber musste mit sichtbarem Missfallen
aufgeben: "Einer der hiesigen Seemannsknoten?"
"Oh nein. Elben sind konservativ und kennen nur einen Knoten, mit dem man die Sehne an
einen Bogen knotet. Es gibt aber mindestens drei, und das ist einer davon."
Elandar stopfte das Päckchen sichtbar beleidigt in seine Jacke und untersuchte den Knoten
noch einmal. Peinlich für einen Angehörigen einer höheren Rasse, bei so einer Kleinigkeit zu
versagen. Tangorn erstarrte, fast glaubte er seinen Augen nicht. Der Drache schluckte den Köder...ja, er tat es... schluckte, aß, fraß, schlang ihn herab! Plötzlich, als hätte er die Freude in
Tangorn gespürt, blickte der Elb auf und starrte dem Baron in die Augen. Voll Panik fühlte sich
Tangorn in den Abgrund von Elandars Blick gezogen, fühlte, wie kalte Finger voll angeekelter
Gewohnheit seinen Geist auseinandernahmen... Jedes Kind weiß, dass man dem Drachen nicht
ins Auge sehen darf! Er riss sich mit aller Kraft los, mit aller Verzweiflung; wie ein Fuchs im
Fangeisen, der Hautfetzen, Fleischstücke, Knochensplitter, zerrissene Sehnen zurücklässt. Ich
weiß nichts - ich bin nur ein Bote, nicht mehr! Der Schmerz war furchtbar, fast echt, dann war
er plötzlich weg - er hatte sich losgerissen... oder hatte der Elb losgelassen? Dann hörte er
Elandars Stimme, gedämpft wie aus einem Traum...
"...du hasst uns, aber das ist unwichtig. Politik bringt seltsamere Bettgenossen zusammen.
Aber du verbirgst etwas Gefährliches und Wichtiges über dieses Paket, und das ist wirklich
schlecht. Wenn es nun nur ein hiesiges Staatsgeheimnis ist, wie das Rezept für Umbarer Feuer
oder eine der Karten der Admiralität? Und draußen wartet die ASA, um mich für dreißig Jahre
auf eine Galeere oder direkt nach Ar-Horan an den Galgen zu bringen, wo wir doch im Krieg
sind? Wäre doch nett, mich wegen Spionage verhaften zu lassen, oder?"
"So ist es nicht..." Tangorns Widerspruch kam schwach, er bekam die Augen nicht auf; seine
Zunge war bleiern, und er wollte entweder erbrechen oder sterben. Fühlt sich so eine vergewaltigte Frau hinterher?
"Nein?" grunzte der Elb. "Aber an deinem kleinen Geschenk ist immer noch was faul!"
Der Drache dachte nicht einmal daran, den Köder zu schlucken; er schnüffelte nur träge daran
und schleppte ihn dann in sein Nest. Nur für den Notfall. Dort würde er ewig liegen, zwischen den
Splittern zerbrochener Rüstungen von all jenen, die sich dem Monster gestellt hatten. Zwischen
Königskronen, Pokalen aus niedergebrannten Städten. Zwischen den Knochen einstmals schöner
Jungfrauen... Aus und vorbei. Tangorn erkannte, dass er den wichtigsten Kampf seines Lebens
verloren hatte. Eru war sein Zeuge, er hatte alles Menschenmögliche getan, doch zuletzt hatte
ihn das Glück verlassen... ihn und Haladdin. Hatte er Unrecht gehabt und die Höheren Mächte
waren nie auf ihrer Seite gewesen?
Inzwischen war Algali zurückgekommen - es war Zeit zu gehen. Elandar, nun wieder ganz der
galante Herr, amüsierte seine Gefährten mit einem neuen Witz, beklagte die dringenden Geschäfte, die ihn von solch angenehmer Gesellschaft fortrissen ("Oh nein, Baron, sie brauchen
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wirklich nicht mitzukommen. Bleiben sie doch noch zehn Minuten mit Algali hier."), füllte die
Gläser aus einer eigenen Flasche ("Auf unseren Erfolg, Baron! Das hier ist echter Elbenwein,
nicht das Gesöff, das im Elbenstein verkauft wird.") trank die rubinrote Flüssigkeit in einem
Zug aus, setzte die Larve wieder auf und ging.
Tangorn und Algali saßen sich schweigend gegenüber. Die unberührten Weingläser ragten wie
Grenzsteine zwischen ihnen auf. Der liebe Elandar sorgt sich, dass ich ihm folgen könnte,
dachte der Baron träge. Ob der Herr Untersekretär wohl weiß, dass ich jederzeit durch das Abortfenster dieses Restaurants verschwinden könnte? Möglich, aber unwahrscheinlich... Aber
das ist auch nicht mehr nötig.
Was habe ich dir bloß für einen schlechten Streich gespielt, Junge, dachte er plötzlich, als er
den kindisch - offenen Blick des 'Trägers unpassender Geheimnisse' bemerkte. Haben sich die
Höheren Mächte deshalb von mir abgewandt? Jetzt zeigt sich, dass ich - genau wie du und der
Kerl in der Lampenstraße - ganz umsonst in diese Dreckbrühe gestiegen bin. Ich habe dich
hereingelegt und sie mich, und wie üblich lachen die Götter zuletzt.
"Hör mal, ich kann noch etwas bleiben, aber du solltest so schnell du kannst verschwinden,
wenn dir dein Leben etwas bedeutet. Deine Elbenfreunde wollen dich tot sehen. Ich schlage
vor, du nimmst das Abortfenster - mit deinem Format passt du da bequem durch."
"Auch wenn ich dir glauben würde, von dir würde ich mich nicht retten lassen," lautete die verächtliche Antwort des Jungen.
"Wirklich? Warum das?"
"Du bist ein Feind. Du kämpfst für die Finsternis, also ist jedes deiner Worte Lüge und jede Tat
böse, so wie es geschrieben steht."
"Du irrst dich, Kleiner." Tangorn blieb nur ein müdes Seufzen. "Ich stehe weder auf der Seite
der Finsternis noch der des Lichts. Wenn du mich schon in eine Schublade steckst, dann stehe
ich auf der Seite der Vielfarbigkeit."
"Die gibt es nicht, Baron," keifte Algali mit blitzenden Augen. "Die Schlacht der Schlachten
zieht heran, Dagor-Dagorlad, und jeder - ja, jeder! - wird sich zwischen Licht und Finsternis
entscheiden müssen. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns!"
"Eine Lüge - diese Seite gibt es sehr wohl." Tangorn lächelte nicht mehr. "Wenn ich schon für
etwas kämpfe, dann dafür, dass euer geliebtes Dagor-Dagorlad niemals stattfindet. Ich kämpfe,
damit die Farben bleiben können, ohne in euren totalen Krieg mit hineingezogen zu werden.
Wo wir schon von Licht und Finsternis reden - dein Herr und Meister soll wohl das Licht
sein?"
"Er ist mein Lehrer, nicht mein Herr!"
"Na schön. Dann schau doch mal her." Mit diesen Worten zog er einen weißen, quarzähnlichen
Stein an einer Silberkette aus der Tasche. "Damit suchen die Elben nach Giften - hast du sicher
schon einmal gesehen."
Beim Eintauchen in die Gläser begann der Stein, unheilvoll purpurn zu leuchten.
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"Von der Farbe her wirkt dieses Gift in etwa einer halben Stunde. Ich weiß, ich bin ein Feind,
aber seit wann ist es Tradition der Kräfte des Lichts, ihre Anhänger zu vergiften?"
Was nun kam, hätte Tangorn nie erwartet: Algali griff das nächste Glas, hob es an die Lippen
und leerte es, bevor der Baron ihn daran hindern konnte.
"Lügner!" Der Junge wurde bleich, aber fanatisch, erfüllt von jenseitiger Erregung. "Und wenn
nicht, egal: dann ist es notwendig für unsere Sache."
Nach einer Minute Starre fand der Baron eine Antwort: "Danke, mein Junge. Du weißt gar
nicht, wie sehr du mir gerade geholfen hast...."
Auch er ging ohne Abschied, aber mit einem letzten Blick auf den verdammten Fanatiker. Was
wird bloß aus Mittelerde werden, wenn diese Jungen Erfolg haben. Ich habe vielleicht schlecht
gespielt, aber wenigstens auf der richtigen Seite.
...Jacuzzi brachte genug Selbstkontrolle auf, um nicht selbst vor der Grünen Makrele zu stehen
und sich auf die Überwachungsprofis zu verlassen. Weder Tangorns Treffen mit dem elbischen
Untergrund noch die Identität seiner Gesprächspartner waren sein momentanes Problem. Alles was er wusste, war, dass sowohl sein Schicksal als auch das der Republik an einer Frage
festhingen: Wohin würde Tangorn gehen? Rechts oder links? Hafen oder Neustadt? Er konnte
nichts tun außer Beten, und das zu jedem Gott, den er kannte: dem Einen, dem Sonnengesichtigen, dem Ungenannten, sogar zu Eru-Ilúvatar der nördlichen Barbaren und Udugvu der
Großen Schlange. Was blieb ihm sonst? Und als er endlich hörte: "Das Ziel verlässt das Restaurant und geht Richtung Neustadt," da war sein erster Gedanke: Wer von ihnen hat mich erhört? Oder ist es doch wahr, dass es nur einen Gott gibt, der für jedes Land eigene Decknamen
und Legenden hat?
Der Überwachungsleiter klang besorgt beim Bericht: "Die Straßen sind leer und das Ziel sehr
vorsichtig. Es wird zusehends schwerer, ihm zu folgen..."
"...und absolut unnötig," vollendete Jacuzzi für ihn lachend. Nun war er sich sicher, dass das
Glück auf seiner Seite war, und der Vorgeschmack des Sieges - süßer noch als der Sieg selbst erfüllte ihn bis zum Platzen. "Brecht die Überwachung ab und gebt dem Einfangtrupp Bescheid, dass sie auf Plan B umstellen sollen."
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Kapitel 53
Umbar, Jasperstraße 7
27. Juni 3019, nachts
Nachts war die Jasperstraße verlassen, aber die Gewohnheit, sich nach Verfolgern umzusehen,
war nicht abzulegen. Tangorn grinste: Wer ihn auch verfolgen wollte, hätte eine Aufgabe, um
die er nicht zu beneiden war. Das hier war nicht der Hafen, wo ständig etwas los war, sondern
eine respektable, aristokratische Nachbarschaft, wo der einzige, der nachts Grund hatte, auf
der Straße herumzulungern, der Mond war. Aber ehrlich gesagt, wer brauchte ihn jetzt noch,
wo dieser Idiot Marandil verhaftet war? Wichtiger, brauchte er sich noch? Oder Alwiss? Was er
brauchte, war ein stilles Eckchen zum Sitzen und Nachdenken. Hatte er in der Grünen Makrele
versagt, oder hatte er gar nicht gewinnen wollen? War er im letzten Moment vorm Sieg zurückgeschreckt, weil ihm sein unausgesprochener Pakt mit den Höheren Mächten eingefallen
war: dass sein Erfolg das Ende seines Erdenlebens sein würde? Dort hatte er keine Angst gehabt - auf dem Höhepunkt seines Duells mit Elandar hatte er einfach nicht die Zähne zusammenbeißen und es sogar gegen seinen Willen durchziehen können. Es hatte ihm weder an
Kraft noch an Geschicklichkeit gefehlt, nicht einmal an Glück - nur an Entschlossenheit und
Verbissenheit...
Mit diesen Gedanken kam er am Juwelierladen des ehrbaren Chakti-Vari vorbei (die Bronzeschlange an der Tür erläuterte eventuellen Dieben, dass hier nach vendotenischer Sitte Königskobras Wache hielten; Zweifler durften sich gerne selbst überzeugen), überquerte die
Straße, sah sich nochmals nach Verfolgern um und öffnete die kleine Tür in der acht Fuß hohen Steinmauer mit seinem Schlüssel.
Alwiss' zweistöckiges Haus lag tief im Garten, am Ende eines Sandweges. Die silbrigen Glanzlichter, die der Mond auf den Oleander zauberte, ließen die Schatten unter den Büschen noch
dunkler erscheinen, und der Gesang der Zikaden war ohrenbetäubend... und diejenigen, die
hier im Garten auf der Lauer lagen, hätten sich am helllichten Tag auf der frisch gemähten
Wiese verstecken können und hätten einen knarrenden Holzboden voller trockener Blätter
geräuschlos überqueren können. Da war es kein Wunder, dass der Schlag auf den Hinterkopf
(eine Socke voll Sand - einfach, aber wirkungsvoll) wie aus dem Nichts kam.
In seiner Bewusstlosigkeit sah Tangorn weder die schwarz verhüllten Gestalten, die sich über
ihm versammelten, noch die anderen, die plötzlich ebenfalls im Garten standen. Was dann
kam, sah er ebenso wenig - nicht dass es Sinn gemacht hätte: ein Kampf zwischen nin'yokve ist
nichts, was ein Amateur verfolgen kann. Am ehesten erinnert er an einen Blätterhaufen, den
der Wind durcheinanderwirbelt; der Kampf tobt in unnatürlicher Stille, nur unterbrochen von
dem Geräusch landender Treffer.
Sieben, acht Minuten danach holte der ekelerregende Gestank von Riechsalz den Baron aus
der Betäubung. Als er die Augen aufmachte, nahm ein Vermummter das Fläschchen weg und
trat wortlos beiseite. Er lehnte an etwas Hartem und Unbequemen; nach ein paar Sekunden
erkannte er, dass man ihn zur Haustür geschleppt und gegen die Treppe gelehnt hatte. Die Vermummten liefen schnell und geräuschlos umher; im Mondlicht zogen ein paar einen mannsgroßen Sack , aus dem ein Paar weicher Stiefel ragten. Hinter ihm unterhielten sich zwei, einer
mit dem Akzent der Halbinsel; Tangorn hielt den Kopf still und versuchte zu lauschen.
"...nur Leichen. Einen haben wir eingefangen, aber er hat sich vergiftet."
"Ja... eine Enttäuschung, vorsichtig ausgedrückt. Wie ist das passiert?"
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"So harte Jungs habe ich noch nicht erlebt. Wir haben zwei Tote und zwei schwer Verletzte,
der schwerste Verlust, den ich bisher erlebt habe."
"Wen?"
"Jango und Ritva."
"Verdammt!.. Schreibt einen Bericht. Keine Spuren hier in fünf Minuten."
"Zu Befehl."
Fußschritte auf dem Rasen kamen näher. Vor Tangorn erschien ein dünner, langer Mann. Im
Gegensatz zu anderen trug er Zivilkleidung, aber auch er war vermummt.
"Wie geht es Ihnen, Baron?"
"War schon schlimmer, danke. Wem verdanke ich das Vergnügen?"
"Ein Sondertrupp von Aragorns Leuten versuchte Sie zu fangen, vermutlich für eine Nachbesprechung und Liquidierung. Wir sind dazwischengegangen, aber wir rechnen nicht unbedingt auf Ihre Dankbarkeit, wie Sie hoffentlich verstehen."
"Oh, dann war ich also ein Köder!" Beim Wort "Köder" lachte der Baron sarkastisch, aber wegen der Schmerzen im Hinterkopf kurz. "Ihr seid von der ASA?"
"Diese Abkürzung kenne ich nicht, und es ist auch nicht wichtig. Ich habe schlechte Nachrichten für Sie, Baron. Morgen wird man Sie des Mordes anklagen."
"An Spionen Gondors?"
"Das wäre schön! Nein, an einem Bürger Umbars namens Algali, den Sie heute Abend in der
Grünen Makrele vergiftet haben."
"Aha. Warum erst morgen?"
"Weil mein Dienst aus verschiedenen Gründen kein Interesse an Ihrer Aussage vor den Strafverfolgern oder vor Gericht hat. Sie haben bis Mittag Zeit, Umbar für immer zu verlassen. Sollten Sie trödeln und hinter Gittern landen, müssen wir leider anderweitig für Ihr Schweigen
sorgen. Die Handelskarawane des ehrbaren Kantaridis geht morgen früh über Chevalgar ab,
und er hat noch Plätze frei. Die Grenzwachen werden Ihre Beschreibung mit angemessener
Verzögerung erhalten. Ist das klar, Baron?"
"Alles bis auf eines. Das einfachste wäre, mich sofort zu liquidieren. Warum nicht?"
"Solidarität unter Profis," lächelte der Maskierte. "Außerdem schreiben Sie wunderbare Takatos."
Nun war der Garten fast leer, die vermummten Gestalten waren in die Dunkelheit zurückgekehrt, aus der sie gekommen waren. Der vermummte Fremde folgte ihnen, aber kurz vor seinem Verschwinden sprach er ein letztes Mal: "Übrigens, Baron, ein letzter kostenloser Rat 230
halten Sie die Augen auf, bis Sie Umbar verlassen haben. Ich bin Ihnen heute vom Langen
Damm den ganzen Weg gefolgt, und ich habe das Gefühl, Sie hätten all ihr Glück aufgebraucht.
Das spürt man sofort; glauben Sie mir, das ist kein Scherz."
So sah es freilich aus. Nun ,das hing vom Standpunkt ab: heute hatte er gegen alle verloren: Elben, Aragorns Leute, ASA - aber er hatte überlebt. Nein, eigentlich hatte man ihn leben lassen,
das war etwas anderes. Oder war das alles ein Traum gewesen? Der Garten ist leer, die Zikaden können nicht antworten... Beim Aufstehen wusste er sofort, dass zumindest der Schlag auf
den Kopf kein Traum gewesen war: Schmerzen und Übelkeit schwappten ihm auf Ohrenhöhe
durch den Kopf. Er suchte den Schlüssel in der Jacke und spürte die Wärme des Mithrilhemds,
das er noch in der Bank für etwas zusätzlichen Schutz angelegt hatte. Nun, das hatte ja viel gebracht...
In dem Moment, als er den Schlüssel ins Schloss steckte, ging die Tür auf, und vor ihm stand
der verschlafene Hausdiener, ein riesiger, phlegmatischer Haradi namens Unkva; hinter seiner
Schulter starrte die verängstigte Tina hervor. Er ging an den Dienern vorbei; Alwiss war mit
wehendem Mantel die Treppe heruntergerannt und stand vor ihm.
"Lieber Himmel, was ist passiert? Bist du verletzt?"
"Nein, nur angetrunken." Der Schwindel war so übel, dass er sich an der Wand abstützen
musste. "Bin nur gerade hier vorbeigekommen und dachte, ich schau mal rein, um der alten
Zeiten willen..."
"Lügner..." Sie schniefte, und ihre Arme schlangen sich um seinen Hals. "Mein Gott, habe ich
dich satt..."
...Sie lagen Seite an Seite, fast ohne Berührung, und seine Hand glitt langsam von ihre Hals bis
zur Kurve ihrer Wade - vorsichtig, als wolle er das Mondlicht nicht wegwischen.
Endlich brachte er den Mut auf, sie anzusprechen: "Alli!" Und irgendwie verstand sie sofort,
was er sagen wollte, setzte sich langsam auf, umarmte ihre Knie und legte ihren Kopf darauf.
Die Worte blieben ihm im Hals stecken; er berührte ihren Arm und fühlte, wie sie ein kleines
Stück wegrückte. Diesen Abstand zu überwinden würde er ein Leben lang brauchen, falls das
reichen würde. So war sie: außerstande, ihm eine Szene zu machen, sie konnte auf eine Art
schweigen, dass er sich wochenlang wie ein Bastard fühlte.... und genau das bist du auch, Baron. Hatte sie nicht eine Aussicht auf eine gute Ehe, bevor er aufgetaucht war? Sie war kein
kleines Mädchen, sie war fast dreißig... du bist Abschaum, Baron, gefühlloser, selbstsüchtiger
Abschaum.
"Euer Geheimdienst war so nett, mir bis Mittag Zeit zu geben, Umbar für immer zu verlassen,
sonst würden sie mich einfach umbringen. Sie haben mich im Visier, da komme ich nicht mehr
raus. So steht es, Alli..." Er dachte: So dürfte ein Mann seiner Mätresse beibringen, dass sie sich
nicht mehr sehen können, weil die Ehefrau Verdacht geschöpft hat; ihm war vor Selbstverachtung ganz schlecht.
"Du willst dich rechtfertigen, Tan. Warum? Ich verstehe schon - es ist nur Schicksal. Und um
mich brauchst du dich nicht zu sorgen," sie hob den Kopf und lachte leise, " diesmal war ich
vorausschauender."
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"Wovon redest du?"
"Ach nichts, Frauensachen,..." Sie stand auf und zog ihren Morgenmantel an. Es lag etwas so
endgültiges darin, dass es ihm einfach herausrutschte: "Wo willst du hin?"
"Deine Sachen packen, was sonst?" Sie schien ehrlich überrascht. "Weißt du, ich bin einfach
nicht gesellschaftsfähig. Es tut mir leid, aber ich kann einfach nicht so wohlerzogen sein. Ich
sollte dir jetzt eine hysterische Szene machen, nur der Form halber, richtig?"
Das war zu viel Verlust an einem Tag: Sein Ziel nach all den Monaten, sein Glaube an sich
selbst, das Land, das sein zweites Zuhause war (auch gegen seinen Willen) und jetzt auch noch
Alwiss... Er wusste, dass es vorbei war, aber er sprang vor wie jemand, der noch vergeblich
versucht, das abfahrende Schiff zu erwischen.
"Alli, bitte... ich kann wirklich nicht in Umbar bleiben, aber du... was würdest du sagen, wenn
ich dich bitte, mit mir nach Ithilien zu gehen und dort Baroness Tangorn zu werden?"
"Ich würde sagen," nichts als unendliche Traurigkeit klang in ihrer Stimme mit, "dass du immer schon zu unterwürfig warst. Frauen bevorzugen aber aufgrund ihres Wesens einen Befehlston. Entschuldige."
"Und wenn ich anders frage?" Er versuchte so angestrengt wie möglich, ein Lächeln zuwege zu
bringen. "Als Befehl würde das so klingen: Heirate mich! Ist das besser?"
"Das?" Sie stand still, mit geschlossenen Augen und gefalteten Händen, als ob sie jemandem
ernsthaft zuhören würde. "Weißt du, das klingt wirklich viel besser! Sag es nochmal."
Er sagte es noch einmal ,vor ihr auf einem Knie. Dann als er sie langsam durch das Zimmer
wirbelte. Dann hatte sie so etwas wie einen hysterischen Anfall, sie lachte und weinte zur gleichen Zeit... Als sie dann ins Bett zurückfanden, legte sie einen Finger auf die Lippen, nahm seine Hand in ihre, legte sie vorsichtig auf ihren Bauch und flüsterte: "Shh! Mach ihm keine
Angst!"
"Du bist... ich meine, wir..." Mehr brachte er nicht heraus.
"Ja! Ich habe doch gesagt, diesmal sei ich weitsichtiger gewesen als vor vier Jahren. Und jetzt
habe ich ihn, egal was passiert. Weißt du," sie rieb sich lächelnd an Tangorns Schulter, "irgendwie weiß ich, dass es ein Junge wird. Wie du."
Schweigend lag er einige Zeit da und versuchte, Ordnung in seine Gedanken zu bringen – zu
viel auf einmal. Das alte Abenteurerleben Tangorns ist vorbei, soviel ist klar. Vielleicht wollten
die Höheren Mächte genau das - ein ruhiges Familienidyll mit Alwiss? Oder ist es Bestechung,
damit ich Haladdin sitzen lasse? Aber ich kann nichts mehr für ihn tun, mein Auftrag in Umbar
ist gescheitert... oder nicht? Wenn ich das jetzt alles nochmals durchspielen könnte und mein
Leben dafür geben könnte, Elandar zu überwinden? Ich weiß nicht... vor einer halben Stunde
hätte ich das getan, aber jetzt - ich weiß nicht. Ehrlich gesagt hätte ich bestimmt etwas gefunden, um mich mit Anstand aus der Affäre herauszuwinden. So eine Zwickmühle... Ach, zur Hölle mit all dem! dachte er schicksalsergeben. Ich habe keine Lust mehr auf all diese Rätseleien,
was die Höheren Mächte wollen. Sollen sie machen, was sie wollen.
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Schlussendlich gab er auch auf, seine Gedanken ordnen zu wollen. Ihm fielen sowieso nur
noch Nebensächlichkeiten ein. "Wird es dir in Emyn Arnen auch nicht langweilig werden? Ehrlich gesagt liegt es so ziemlich hinterm Mond."
"Ach weißt du, ich hatte hier in unserer Welthauptstadt in achtundzwanzig Jahren genug Spaß
für drei Leben. Darum brauchst du dich nicht zu sorgen. Aber, Baron," sie streckte sich einladend aus und nahm die Hände hinter den Kopf, "wäre es nicht Zeit, dass sie ihrer ehelichen
Pflicht nachkommen?"
"Aber sicher, liebe Baroness!"
233
Kapitel 54
Bei Tagesanbruch begann ein Vivino im Garten zu singen. Der Vogel saß auf einem Kastanienzweig direkt vor ihrem Schlafzimmerfenster; zunächst glaubte Tangorn an einen Nachhall aus
seinen Träumen. Vorsichtig schlüpfte er aus dem Bett (Alwiss sollte nicht aufwachen) und
schlich sich ans Fenster. Der kleine Sänger streckte den Kopf so weit aus, dass die gelben Halsfedern wie ein Kragen ab standen und beendete sein Konzert mit einer wundervoll wiederkehrenden Note; dann drehte er den Kopf in falscher Bescheidenheit und sah den Baron erwartungsvoll an: hat es dir gefallen? Dank dir, kleiner Freund! Ich weiß, Vivinos sind Waldbewohner und hassen die Stadt. Bist du zum Abschied hierher geflogen?
Richtig! Der Vogel zwinkerte spöttisch und flatterte in den Garten; dieser Vivino war ein echter
Umbarer, nordische Sentimentalität war ihm fremd.
Hinter ihm tappten bloße Füße fast geräuschlos, und eine warme Alwiss hing sich von hinten
an ihn, die Lippen an seinen Schultern.
"Was hast du denn draußen gesehen?"
"Einen singenden Vivino - ein echter Vivino, hier mitten in der Stadt, stell dir das mal vor!"
"Ach, das ist meiner. Er ist seit fast einem Monat hier."
"Ach so..." Tangorn verzog das Gesicht. Er fühlte fast so etwas wie Eifersucht. "Und ich dachte
schon, er sei meinetwegen hier..."
"Vielleicht ist er das ja? Er ist ungefähr zur selben Zeit aufgetaucht wie du... ja, etwa um den
Ersten!"
"Jedenfalls der schönste Abschiedsgruß, den ich mir von Umbar wünschen konnte... Oh, Alli,
sieh mal - noch ein Abschiedsgruß!" lachte er und zeigte auf einen verschlafenen, finster aussehenden Polizisten auf der anderen Straßenseite vor Chakti-Varis Juwelierladen. "Die Geheimpolizei erinnert mich daran, aufzupassen, bis ich Umbar verlassen habe... Na gut. Hast du
es dir noch anders überlegt? Willst du wirklich heute schon mit oder doch erst deine Angelegenheiten hier in Ordnung bringen?"
"Oh nein!" war ihre Antwort. "Ich bin dabei. Diese Karawane hat zwei freie Plätze - ist das
nicht eindeutig ein Zeichen? Meine Angelegenheiten regelt sowieso mein Rechtsberater, das
wird Wochen dauern. Ich denke, man sollte alles zu Gold machen, einen Wertpapiermarkt
wird es da oben im Norden wohl nicht geben."
"Die wissen wohl nicht einmal, was das sein soll," nickte er und sah mit einem Lächeln zu, wie
Alwiss sich anzog. "Sind wir nicht ein schönes Paar, Mädchen? Ein bankrotter Aristokrat mit
nicht mehr als einem Schwert und einem mottenzerfressenen Titel heiratet das Geld einer erfolgreichen Kaufmannswitwe..."
"...die damit angefangen hat, ihren Körper an jeden verfügbaren Kunden zu verkaufen," fuhr
Alwiss im selben Tonfall fort. "Eine Skandalheirat, egal von wo man hinsieht, eine Goldmine
für die Schwätzer aus beiden Klassen."
234
"Wie wahr..." Plötzlich hatte er einen Gedanken und fing an, etwas zu überlegen. "Hör mal, ich
dachte gerade... bis Mittag ist noch viel Zeit. Warum heiraten wir nicht jetzt gleich? Such dir
einen Ritus aus."
"Sicher, Schatz... mir ist es auch egal, nach welchem Ritus. Gehen wir doch zu den Aritanern der Tempel ist gleich ums Eck."
"Alli, was ist? Du klingst unglücklich."
"Natürlich nicht! Aber als du angefangen hast, vom Heiraten zu reden, habe ich wieder so eine
schlimme Vorahnung bekommen."
"Unsinn," antwortete er fest. "Ziehen wir uns an und gehen wir. Aritanisch klingt gut. Dein
Stein ist doch der Saphir, oder?"
"Stimmt, warum?"
"Weil ich, während du dich aufhübschst, genug Zeit für einen Besuch beim ehrbaren ChaktiVari gegenüber habe wegen eines schönen Hochzeitsgeschenks. Es ist zwar noch früh, aber für
dieses Gold," er nahm den Beutel mit dem Rest von Sharya-Ranas Goldstücken, "wird der alte
Mann aus dem Bett flattern wie ein erschrockenes Huhn und..."
Alwiss' Gesichtsausdruck schnitt ihm die Worte ab: sie wurde kreidebleich und ihre Augen
hatte sie so weit aufgerissen, dass sie eher schwarz als blau waren.
"Nein!! Tan, bitte, bitte, nicht, geh nicht hin!"
"Was ist denn? Noch eine Vorahnung?" Sie nickte heftig, denn sprechen konnte sie nicht.
"Es gibt keine Gefahr mehr - ich bin aus dem Spiel, niemand sucht mich mehr."
Sie hatte sich schon wieder im Griff. "Na gut, aber wir gehen trotzdem zusammen, gut? Fünf
Minuten, dann bin ich fertig. Versprich mir, dass du nicht alleine aus dem Haus gehst!"
"Ja, Mami!"
"Guter Junge."
Sie kniff ihm in die Wange und schlüpfte hinaus; Tangorn hörte, wie sie der grummelnden
Tina Aufträge gab. Herzlichen Glückwunsch, Baron, dachte er verärgert. Deine Geliebte wird
dich an der Hand nehmen und sicher über die Straße bringen, weil du nicht mal mehr das alleine kannst. Das Spiel habe ich verloren, und das hebt mein Selbstvertrauen nicht gerade.
Aber wenn ich mich jetzt gehorsam hier hinsetze und auf Alwiss warte, kann ich mich nicht
mal mehr einen Mann nennen. Und wenn ihre Vorahnungen stimmen, um so schlimmer für
sie. Als Spion bin ich keinen Kupferling wert, aber ich bin immer noch das Dritte Schwert Gondors. Ich habe den Einschläferer und das Mithrilhemd, wenn die Kerle etwas planen. Sollen
ihre Köpfe mein Trostpreis sein, ich hätte gerade Lust darauf... Verflixt! Fast musste er lachen.
Jetzt nahm er weibliche Vorahnungen auch schon ernst...
235
Er prüfte den leeren Garten, den man vom zweiten Stock aus überblicken konnte, dann die leere Jasperstraße mit dem ASA - Mann in der Polizeiuniform. Kobras als Wache in Chakti-Varis
Laden - na und? Mit den Füssen über dem Fensterbrett dachte er noch daran, außerhalb des
Blumenbeets zu landen, sonst würde Alwiss ihm den Kopf abreißen.
Alwiss war fast fertig, als sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung im Garten sah. Ihr Herz
setzte aus; sie sprang gerade ans Fenster, als sie Tangorn auf dem Gartenweg erkannte. Er warf
ihr eine Kusshand zu und strebte zur Tür. Was sie dabei flüsterte, passte eher zu ihrer Jugendzeit im Hafen als zu ihrem derzeitigen Stand, aber sie bemerkte erleichtert, dass der Baron bewaffnet war und seine Haltung Vorsicht zeigte, nicht etwa unangebrachte Aufmerksamkeit gegenüber dem Sommermorgen. Wachsam ging er durch die Tür, überquerte die Straße, wechselte ein paar Worte mit dem Polizisten, griff nach dem bronzenen Türklopfer des Juweliergeschäfts...
"TAAAAAAN!!!" Ihr verzweifelter Schrei zerbrach die Stille.
Zu spät.
Der Polizist hob eine Hand zum Mund, und im nächsten Augenblick brach der Baron zusammen, die Hände um den Hals verkrampft.
Als sie auf die Straße rannte, war der 'Polizist' schon lange weg, und Tangorn erlebte die letzten Sekunden seines Lebens. Der Giftstachel aus einem ulshitan - ein kleines Blasrohr der Pygmäen aus dem Hinteren Harad - hatte ihn in den Hals getroffen, etwa einen Fingerbreit über
dem Mithrilhemd; das Dritte Schwert Gondors hatte nicht einmal Zeit gehabt, den Einschläferer zu ziehen. Alwiss wollte ihn anheben; der Baron umklammerte ihre Arme im Todeskampf
und röchelte heiser: "Sag...Faram...wir...erledigt..."; er wollte noch etwas sagen, aber hatte keine
Luft mehr; die Wirkstoffe des anchar-Baums, mit dem die Pygmäen ihr Gift zubereiten, lähmen
die Atemmuskeln. Der Baron hatte sowohl bei seinem Auftrag versagt als auch damit, seinen
Freunden davon zu berichten; mit diesem Gedanken starb er.
Jemand namens 'Fährmann', einer der 'Saubermacher' aus Elandars Organisation, beobachtete
alles von einem Dachspeicher in der Nähe durch ein Loch im Dach. Er legte die Armbrust nieder und versuchte zu begreifen, wer ihm hier so sauber zuvorgekommen war. ASA? Zu sauber
für Küstenstraße 12... Vielleicht noch so ein Trick des Barons? Vielleicht doch einen Bolzen in
ihn jagen, nur um sicherzugehen?
Zu diesem Zeitpunkt hatte Mungo schon seine Polizeiuniform weggeworfen und war wieder
ein rechtmäßig beglaubigter Botschafter Seiner Majestät des Sultans Sagul des Fünften, genannt der Fromme, des mächtigen Herrschers der nicht existierenden Blühenden Inseln. er
marschierte zügig, aber ohne unziemliche Hast zum Hafen, wo eine gemietete Felukke namens
Trepang ihn erwartete. Der Kampf der Hauptmänner war erwartungsgemäß ausgegangen,
denn ein Amateur mag vielleicht spielen, bis er einen spektakulären Treffer landet oder einen
Nervenzusammenbruch hat - aber der Profi spielt bis zur sechzigsten Sekunde der letzten Minute des Spiels. Diese fand übrigens im Hafen statt, wo Mungo eine letzte Gelegenheit bekam,
seine Professionalität unter Beweis zu stellen. Er hätte noch nicht einmal sagen können, was
genau an der Besatzung der Trepang ihn argwöhnisch gemacht hatte, aber als der Kapitän
nach ihm auf die Rampe trat, drehte sich Mungo zu ihm um, als wolle er eine Frage stellen.
Stattdessen erwischte er ihn mit einem Handkantenschlag gegen die Gurgel und sprang in das
rostige, ölige Wasser zwischen dem Anleger und dem Schiff. Die so gewonnenen zwei Sekun236
den reichten ihm, um eine kleine grüne Pille hinter dem Kragen hervorzuholen und zu
schlucken. So erwischten Jacuzzis Agenten nur noch eine unbekannte Leiche (schon die vierte
heute). Die Partie zwischen Einsatzgruppe Féanor und dem umbarischen Geheimdienst endete null zu null, unentschieden.
...Vor Trauer versteinert hielt Alwiss den sterbenden Tangorn in den Armen. Er würde nie das
Wichtigste herausfinden: Sein Tod durch die Geheimwache beseitigte die letzten Zweifel, die
Elandar gehabt hatte, und so begann noch am selben Tag die Reise seines Pakets nach Norden,
nach Lorien, auf Wegen, die noch kein Mensch erblickt hatte. Auch nicht, dass Alwiss seine
letzten Worte falsch verstanden hatte. Sie hatte gehört: "Sag Faramir: erledigt." Und genau das
tat sie. Und ein bestimmter Jemand, der ruhelos am großen Wandteppich, den wir Geschichte
nennen, knüpfte, aus unsichtbaren Zufällen und sichtbaren menschlichen Fehlern, verdrängte
die ganze Geschichte sofort aus Seinen Gedanken: Ein Spiel ist ein Spiel, und manchmal muss
man einen Stein opfern, um zu gewinnen, so ist es nun mal...
237
Viertes Buch
Lösegeld für einen Schatten
Wieder und wieder die Mär, die endet wie sie begann:
"Schließt nicht Frieden mit Adam-zad - dem Bär, der geht wie ein Mann!"
Rudyard Kipling
238
Kapitel 55
Finsterwald, bei Dol Guldur
5. Juni 3019
"Das ist ein frischer Abdruck, ganz frisch..." murmelte Runcorn vor sich hin. Er ging auf ein
Knie herab und deutete Haladdin, der etwa fünfzehn Schritt hinter ihm war, sich in die Büsche
zu schlagen. Tzerlag, der die Nachhut übernommen hatte, überholte den gehorchenden Doktor, und die beiden Feldwebel begannen ihr Kundschafterritual neben einer kleinen lehmigen
Stelle mit einigen halblauten Sätzen in Gemeinsprache. Haladdins Ansichten interessierten die
Späher natürlich überhaupt nicht, noch nicht einmal der Orozene hatte in dieser Diskussion
viel zu sagen: die Kundschafter hatten die Hackordnung schon etabliert. Die ehemaligen Feinde - der Ithilier und der Truppführer der Jäger von Cirith Ungol - behandelten sich gegenseitig
mit übertriebenem Respekt (ungefähr wie es wohl ein Goldschmiedemeister und ein Waffenschmiedemeister tun würden), aber Wüste ist Wüste und Wald ist Wald. Beide Fachmänner
kannten die Grenzen ihrer Fähigkeiten, und der Waldläufer der Ithilier hatte sein ganzes Leben hier verbracht.
...Damals ging er noch aufrecht und breitschultrig (die rechte war noch nicht höher als die linke), und in seinem Gesicht störte keine schlecht verheilte purpurrote Narbe; er war attraktiv,
tapfer und glücklich, und die flaschengrüne Uniform der Königlichen Waldhüter passte wie angegossen - kurz gesagt, ein Frauenmagnet. Die ansässigen Bauern mochten ihn nicht, aber das
fand er normal: Dörfler bevorzugten Waldhüter, die auch mal wegsahen, wohingegen er seinen
Dienst mit aller Ernsthaftigkeit seiner Jugend verrichtete. Als Mann des Königs brauchte er
sich nicht um die örtlichen Freiherren zu kümmern; ziemlich schnell hatte er ihre Gesellschaften, die unter seinem Vorgänger die königlichen Wälder ebenso wenig wie ihren eigenen Besitz geschont hatten, auf ihre Plätze zurückgescheucht. Jeder kannte die Geschichte von Eggi,
dem Hühnerhabicht und seiner Bande, die sich einmal in dieses Land gewagt hatte - Runcorn
hatte sie alle ganz alleine erledigt, ohne darauf zu warten, dass die Männer des Sheriff ihre
Hinterteile von ihrer Bank in den 'Drei Krügen' hochbekamen. Insgesamt behandelten die
Nachbarn den jungen Waldhüter mit vorsichtigem Respekt, aber ohne Zuneigung - was diesem
aber auch ganz egal war. Er war schon seit seiner Kindheit das Alleinsein gewohnt, und der
Wald war ihm lieber als seine Mitmenschen. Dieser Wald war ihm alles: Spielgefährte, Gesprächspartner, Lehrmeister und schlussendlich sein Zuhause. Manche behaupteten, er habe
das Blut der Waldwos in sich - der Walddämonen aus der berüchtigten Druadansenke. Nun ja,
in den abgelegenen Walddörfern schwätzen die Menschen alles mögliche, wenn die Herbstabende kalt sind und nur ein glimmender Holzspan das alte Übel aus den Wäldern fernhält...
Zu allem Überfluss tauchte Runcorn irgendwann nicht mehr auf den Dorffesten auf (sehr zur
Erbitterung aller heiratsfähigen Jungfrauen der Gegend) und zeigte sich lieber bei einer baufälligen Hütte am Rand von Druadan, wo eine alte Medizinfrau aus dem fernen Norden (vielleicht Angmar) sich vor einiger Zeit mit ihrer Enkelin Lianica niedergelassen hatte. Manwe allein wusste, was dieser begehrte Junggeselle an diesem mageren, sommersprossigen Ding
fand; viele vermuteten Hexenwerk - die Alte kannte eindeutig einige Zaubersprüche und konnte nur mit Kräutern und Handauflegen heilen, womit sie auch ihren Lebensunterhalt verdiente. Lianica konnte angeblich mit Vögeln und wilden Tieren sprechen und brachte es fertig, dass
ein Frettchen und eine Maus friedlich zusammen auf ihrer Hand saßen. Vermutlich war das
Gerücht der Tatsache geschuldet, dass sie Menschen (im Gegensatz zu Tieren) so sehr mied,
dass man sie zunächst für zurückgeblieben hielt. Die lokalen Schönheiten hatten jedenfalls bei
jeder Erwähnung, was der Waldhüter doch für eine seltsame Wahl getroffen habe, nur ein verächtliches Schnauben übrig: "Soll er doch. Passen vielleicht doch ganz gut zusammen."
239
So hätte es sein können, aber es sollte nicht sein. Eines Tages lief das Mädchen einem jungen
Freiherrn und seinem Anhang auf einem Ausflug zur Jagd auf Wild und Gelegenheiten, die
Blutlinien der Leibeigenen etwas 'aufzufrischen'. Das hatte sogar bei einigen seiner Nachbarn
schon zu Verstimmungen gesorgt: "Junger Herr, es ist wirklich nicht angebracht, alles zu beschlafen, was sich bewegt..." Eine normale Angelegenheit und kein Grund zur Aufregung. Wer
hätte gedacht, dass das dumme Ding ins Wasser gehen würde, als sei ihr etwas Wertvolles genommen worden? Nein, was diese Nordländer doch für Dummköpfe sind...
Runcorn begrub Lianica alleine - die alte Frau ertrug den Verlust ihrer Enkelin nicht und starb
zwei Tage später, ohne noch einmal das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Die Nachbarn
besuchten das Grab hauptsächlich aus Neugierde, ob der Waldhüter den Schwarzen Pfeil auf
das Grab gelegt hatte - den alten Racheschwur. Aber das hatte er nicht gewagt. Das war auch
nicht überraschend: er war ein Mann des Königs, aber der war weit weg und das Gefolge des
Freiherrn (achtzehn Galgenvögel schlimmster Sorte) waren nah. Aber trotzdem, keiner hätte
gedacht, dass er so ein Schwächling ist... So murrten die Dorfleute, die auf Runcorns Rache gewettet hatten (zwei oder sogar drei zu eins) und nun ihre verlorenen Münzen zählten.
Allerdings war der Freiherr anderer Meinung - abgesehen von seiner Lust auf 'rosa Fleisch'
war er ein vorsichtiger Mann. Der Waldhüter war ihm nicht wie einer vorgekommen, der so
etwas vorbeigehen ließ oder vor Gericht gegangen wäre (was auf dasselbe hinausgelaufen
wäre). Nur wegen diesem verklemmten Bauernmädchen, dem er trotz ihrer Ablehnung im
Wald seine Gunst erwiesen hatte (hatte ihn doch glatt in die Hand gebissen!)... Ehrlich gesagt,
hätte er gewusst, dass einer wie Runcorn ihr den Hof machte, hätte er sie ziehen lassen, vor allem weil sie nicht gerade viel zu bieten gehabt hatte. Aber geschehen ist geschehen. Im Gespräch mit dem Anführer seiner Gefolgsleute über dessen Eindruck stellte der Freiherr fest,
dass das Fehlen des Pfeils vor allem bedeutete, dass Runcorn keine Zeit auf Theatralik verschwendete und ihn die Meinung der Gaffer herzlich wenig interessierte. Ein ernsthafter
Mann, um den man sich ernsthaft kümmern musste... In derselben Nacht wurde das Haus des
Waldhüters von allen vier Seiten angezündet. Die Brandstifter hatten die Tür mit einem Balken versperrt, und als die Gestalt eines Mannes im Dachfenster vor der Flammenwand erschien, flogen Pfeile aus der Dunkelheit unterhalb. Danach versuchte keiner mehr, aus der Hütte
zu fliehen.
Ein königlicher Waldhüter, bei lebendigem Leib verbrannt, war etwas anderes als ein stinkender Leibeigener, der irgendwie unter die Hufe eines freiherrlichen Pferds geraten war; das
konnte man nicht vertuschen. Aber...
"Alle sagen, es waren Wilderer, mein Herr. Der verstorbene Waldhüter, die Götter mögen seine
Seele hüten, hat ihnen das Leben sehr schwer gemacht, und nun haben sie sich gerächt.
Schlimm, schlimm... Noch etwas Wein?" Diese Worte richtete der junge Freiherr an den Hofmagister aus Harlond, der seine Gastfreundschaft beanspruchte.
"Ich bitte darum. Mit solch einen Jahrgang hatte ich schon lange nicht mehr das Vergnügen,"
nickte der Magister, ein dicklicher, schläfriger alter Mann mit einem silbernen Haarkranz um
eine kahle Stelle, höflich. Lange Zeit bewunderte er das Spiel der Flammen im Herd durch das
gefüllte Umbarer Weinglas, dann richtete er seine wasserblauen Augen - durchdringend wie
Eiszapfen und alles andere als schläfrig - auf seinen Gastgeber.
"Übrigens, das ertrunkene Mädchen - eine Eurer Leibeigenen?"
240
"Welches ertrunkene Mädchen?"
"Wieso, ersäuft sich hier täglich eine?"
"Ach, die... nein, die kam wohl von irgendwo aus dem Norden. Spielt das eine Rolle?"
"Vielleicht, vielleicht nicht." Der Magister hob das Glas auf Augenhöhe und klang nachdenklich: "Ein wohl geordnetes Anwesen, junger Herr - ein Musterbeispiel für alle anderen Freiherrn der Gegend. Ich schätze mindestens zwei und ein halbes Hundert Mark an jährlichem
Einkommen, stimmt das?"
"Einhundert und fünfzig," log der Freiherr glatt und holte wieder Luft: Preist Eru, wir kommen
zum Geschäftlichen. "Die Hälfte geht an die Steuer, dann kommen noch die monatlichen Rückzahlungen..."
Wilderer? Na gut, dann eben Wilderer. Es ging flott, einen aufzutreiben; nach einer Weile auf
dem Streckbett über glühenden Kohlen legte der Mann ein Geständnis ab und wurde rechtmäßig gepfählt, als Lehre für die Leibeigenen. Der Hofmagister kehrte in die Stadt zurück, in angenehmer Gesellschaft eines Beutels mit einhundert achtzig Mark Silber... Damit war die Sache
abgemacht?... Von wegen!
Von Anfang an hatte es den Freiherrn gestört, dass in den Resten von Runcorns Haus keine
Knochen zu finden gewesen waren. Der Anführer seiner Leute, der bei dem ganzen den Befehl
geführt hatte, versuchte, ihn zu beruhigen: ein großes Haus, Holzboden statt Erde, das Feuer
hatte über eine Stunde getobt: die Leiche musste vollständig verbrannt sein, das ist nichts ungewöhnliches. Trotzdem befahl der junge Adlige, der (wie schon erwähnt) in fast allem vorsichtiger war , als es seinem Alter zukam, die Stelle nochmals zu durchsuchen. Seine
schlimmsten Befürchtungen wurden wahr: der Waldhüter, der auch seinen Teil an Überraschungen erlebt hatte, war ebenso vorsichtig gewesen und hatte einen dreißig Schritt langen
Fluchttunnel aus dem Keller heraus angelegt. Auf dessen Boden waren frische Blutflecken ein Pfeil hatte in dieser Nacht getroffen.
"Findet ihn!" befahl der Freiherr - leise, aber der Tonfall reichte aus, um seinen schnell zusammengerufenen Leuten Gänsehaut zu verursachen. "Er oder wir, mehr gibt es nicht. Bis jetzt
leckt er Oromë sei Dank irgendwo im Wald seine Wunden. Wenn er entkommt, bin ich tot,
aber ihr seid vor mir dran, das verspreche ich."
Der Adlige führte die Jagd persönlich, mit dem Schwur, nicht zu ruhen, bis er Runcorns Leiche
selbst gesehen hatte. Die Spur des Flüchtigen führte in den Wald und war tagsüber deutlich
sichtbar; der Mann hatte sie nicht verwischt und schien zu glauben, man halte ihn für tot. Gegen Abend fand der Anführer eine gespannte Armbrust im Unterholz; um genau zu sein, fand
man die Armbrust erst später, nachdem der Bolzen den Mann in die Gedärme getroffen hatte.
Während die Gefolgsleute noch über dem Verletzten stritten, pfiff ein Pfeil heran und erwischte einen zweiten in den Hals. Dann zeigte sich Runcorn - seine Gestalt erschien etwa dreißig
Schritt entfernt zwischen den Bäumen des Tals, und alle jagten ihm hinterher, eine Lücke im
Gebüsch entlang. Das war Absicht: alle rannten, ohne hinunterzusehen. Am Ende lagen drei
Männer in der Fallgrube, mehr als erwartet. Die Bande von Eggi dem Hühnerhabicht hatte sie
höchst fachkundig angelegt: acht Fuß tief, mit spitzen Pfählen gespickt, die Pfähle mit verfaultem Fleisch eingerieben, so dass mindestens eine Blutvergiftung garantiert war.
241
Die Dämmerung kam, und mit ihr der Missmut. Die Männer des Freiherrn waren vorsichtig geworden und waren nur in Paaren unterwegs; als sie Runcorn endlich in den Büschen entdeckten, überschütteten sie ihn aus zwanzig Schritt Entfernung mit Pfeilen. Aber leider, als sie näherkamen (in die Bahn eines fünfhundert Pfund schweren Baumstamms, der urplötzlich aus
einem Baum fiel), mussten sie feststellen, dass es nur eine Rindenrolle in Lumpen gehüllt war.
Erst da wurde dem Freiherrn klar, dass selbst die Flucht aus Eggis Waldfestung, wohin sie dieser verdammte wos so geschickt gelockt hatte, höchst schwierig sein würde: der nächtliche
Wald um sie herum war mit tödlichen Fallen gespickt, und ihre vier Verletzten (und nicht zu
vergessen zwei Tote) hatte ihnen die Beweglichkeit geraubt. Was ihm jetzt auch klar wurde,
war, dass ihre zahlenmäßige Überlegenheit hier keinerlei Vorteil hatte und sie zumindest bis
zum Morgen Beute waren.
242
Kapitel 56
Sie bauten ihre Verteidigung am vielleicht schlechtesten Platz auf, den sie finden konnten – ein
überwuchertes Tal ohne Überblick – aber weiterziehen wäre noch gefährlicher gewesen. Niemand schlug ein Lagerfeuer vor, keiner traute sich zu reden, keiner wollte sich freiwillig ins
Licht setzen. Selbst die Verletzten mussten in absoluter Finsternis versorgt werden. Die Hände
an Schwertern und Bögen starrten und lauschten die Männer des Adligen in die mondlose
Nacht hinaus. Sie schossen auf jedes Rascheln der verrottenden Zweige und jede scheinbare
Bewegung im aufziehenden Nebel. Das Ende kam gegen zwei Uhr morgens, als einer endgültig
die Nerven verlor: der Idiot brüllte „Woses!“ und schickte einen Pfeil in seinen Nachbarn, der
eigentlich nur aufgestanden war, um seine eingeschlafenen Beine auszustrecken. Dann rannte
er in den Verteidigungsring; er stürmte einfach durchs Gebüsch. Nun kam es zum Schlimmsten, was in einem Nachtkampf passieren kann: der Ring zerfiel, alle rannten durch die Nacht
und schossen auf alles und jeden, jeder für sich.
Allerdings war das kein Unfall gewesen. Der Jemand, der dieses Alle-gegen-alle mit seinem
Schuss auf einen Gefährten verursacht hatte, war niemand anderes als Runcorn. Der Waldläufer hatte einem (unbewachten) Toten den Mantel abgenommen, sich unter die Männer des
Freiherrn gemischt, als diese die Verteidigung aufstellten, und abgewartet. Er hatte wohl hundertmal Gelegenheit gehabt, dem Freiherrn einen Pfeil zu verpassen und im folgenden Durcheinander im Dunkeln zu verschwinden – aber seiner Meinung nach hatte der Kerl so einen
leichten Tod gar nicht verdient, daher hatte er andere Pläne.
Erst im Morgengrauen erkannten die glücklosen Jäger, wie der Kampf ausgegangen war – zwei
weitere Tote und der Freiherr selbst spurlos verschwunden. Sie vermuteten, er habe sich im
nächtlichen Getümmel verirrt und sich in der Finsternis versteckt (was auch das richtige gewesen wäre: nur ein Schwachsinniger wäre Hals über Kopf durch den Wald gerannt. Ein verständiger Mensch hätte sich leise in einem Busch versteckt, bis jemand über ihn gestolpert
wäre.). Also durchkämmten sie den Wald. Sie fanden ihn auch ein paar Meilen entfernt, verraten durch ein paar vorlaute Krähen. Der junge Freiherr war an einen Baum gebunden, seine
Genitalien steckten in seinem Mund - „an seinen Eiern erstickt“, meinten die Leibeigenen später mit Erleichterung.
Die ganze Bevölkerung beteiligte sich an der Jagd nach dem Übeltäter mit Eifer, aber sie hätten
genau so gut versuchen können, ein Echo einzufangen. Der ehemalige Königliche Waldhüter
hatte nur noch eine Richtung frei – ein Leben vom Raub und Tod durch das Gesetz. Nach einer
Verletzung im Kampf mit den Männern des Sheriff von Harlond, in der Folter gebrochen, sollte
Runcorn schließlich den Galgen mit seiner Anwesenheit beehren, als Baron Grager in die Stadt
geritten kam, um Verstärkung für das Regiment Ithilien anzuwerben. „Ich nehme den da,“
meinte der Baron im Ton einer Hausfrau, die beim Metzger Schinken kauft („...aber schön
dünn geschnitten!“); und der Sheriff konnte nur mit den Zähnen knirschen.
Der Krieg hinter Osgiliath verlief mittelmäßig; das Regiment Ithilien kämpfte wesentlich besser als alle anderen Einheiten und wurde, der Sitte entsprechend, als letztes aufgefüllt. Allgemein waren Verstärkungen schwer aufzutreiben. Die Menschen von Minas Tirith, die am lautesten geschrien hatten, 'man müsse Mittelerde endgültig von der dunklen Macht im Osten befreien', hatten plötzlich alle wichtige Dinge auf ihrer Seite des Anduin zu erledigen, und das
einfache Landvolk hatte keine Lust auf den Krieg des Rings. Also musste die Sondererlaubnis,
die Faramir sich ertrotzt hatte – 'auch direkt vom Galgen weg' – sehr häufig genutzt werden.
Grager selbst drohte der Strick, aber der Arm der Gerichte Gondors war zu kurz, um sich in
243
Kriegszeiten einen Offizier an der Front zu greifen.
Der Regimentsarzt hatte eine Menge zu tun, um den Sack Knochen, den Grager aus dem Gefängnis von Harlond geholt hatte, wieder in menschliche Gestalt zu bringen, aber der berühmte Räuber war es wert. Runcorn war nicht mehr als Bogenschütze tauglich wie früher (sein
zerstörtes Schultergelenk hatte seine Beweglichkeit für immer verloren), aber er war noch immer ein hervorragender Kundschafter, und seine Erfahrung mit Fallen und Tricks im Waldkampf erwies sich als wahrlich unschätzbar. Er kam aus dem Krieg als Feldwebel, dann hatte
er unter seinem Leutnant an der Befreiung und Thronergreifung Faramirs teilgenommen und
war gerade dabei, sich ein Heim zu bauen – irgendwo weit weg von anderen Menschen, vielleicht am Otternbach – als er eine Einladung Seiner Hoheit des Prinzen von Ithilien erhielt.
Wäre er wohl so freundlich, zwei seiner Gäste nach Norden zu begleiten, zum Finsterwald?
„Ich bin nicht mehr im Dienst, mein Kapitän, und Wohltätigkeit ist nicht mein Ding.“
„Genau was ich brauche – einen, der nicht in meinen Diensten steht. Und es ist auch keine
Wohltätigkeit, sie zahlen gut. Nennt Euren Preis, Feldwebel.“
„Vierzig Mark Silber,“ sagte Runcorn ins Blaue hinein, einfach um sie loszuwerden. Aber der
drahtige, hakennasige Ork, der der Anführer zu sein schien, meinte nur: „Abgemacht,“ und öffnete einen Geldsack mit elbischen Stickereien. Als eine Handvoll verschiedener Goldmünzen
auf dem Tisch lag (Haladdin hatte sich immer gefragt, wo Eloar die Nyanmas von Vendotenien
oder die quadratischen Chengas von den Mittagsinseln her haben könnte), konnte der Jäger
nicht mehr ablehnen.
Runcorn hatte alle Vorbereitungen für die Reise nach Dol Guldur übernommen, also hatten
Haladdin und Tzerlag nichts zu tun. Der Kundschafter probierte die ledernen Ichigas für sie
beide mit offensichtlicher Nervosität (der Orozene traute keinem Schuhwerk ohne feste
Sohle), aber die Ponyagas der Einheimischen gefielen ihm sehr. Zwei Vogelbeerenbögen werden in einem rechten Winkel verbunden (man biegt sie direkt nach dem Schneiden, nach dem
Trocknen sind sie dann so hart wie Knochen) und erlauben das Tragen einer sperrigen Last
von hundert Pfund, ohne dass man sich überlegen muss, wie man sie auf dem Rücken festmacht.
Zur leichten Überraschung des Doktors war der Orozene aus dem angewiesenen Quartier im
Gästebereich von Emyn Arnen, wo der Prinz sie untergebracht hatte, ausgezogen und in die
Baracke der Leibgarde gegangen. „Ich bin ein einfacher Mann, mein Herr. In all diesem Luxus
fühle ich mich wie die Fliege im Honig. Schlecht für die Fliegen und schlecht für den Honig.“
Am nächsten Tag kam er mit einem beträchtlichen Veilchen zum Frühstück, aber sichtbar zufrieden mit sich. Wie sich herausstellte, hatten die Ithilier Gardisten, die alles mögliche über
die Taten des Feldwebels in der Nacht der Flucht des Prinzen gehört hatten, ihn dazu gebracht, die zwei besten Faustkämpfer der Truppe herauszufordern. Tzerlag hatte einen Kampf
gewonnen und den anderen sehr zur Zufriedenheit aller Beteiligten verloren (oder vielleicht
war er nur so klug gewesen, zu verlieren). Jetzt war auch die Abneigung des Orozenen gegen
Bier, die an langen Abenden heraus gekommen war, kein Ablehnungsgrund der Waldläufer
mehr: ein fähiger Mann, mit allen seinen Rechten. Was trinkt ihr dort drüben – Kumiss? Schade, Mann, haben wir keine Lieferung gekriegt dieses Jahr... Eines Tages kam Haladdin in die
Baracke, um mit seinem Freund zu reden, und bemerkte, wie ein lebhaftes Gespräch in der Gemeinsprache im Augenblick seines Eintretens erstarb und peinliche Stille herrschte – der gelehrte Doktor war den Bauernsöhnen, die jetzt nicht mehr aufeinander schießen mussten, ein
244
Hindernis, ein Vorgesetzter.
Da sie nicht wussten, wer die Braunen Lande am linken Ufer des Anduin beherrschte, entschieden sie sich für den Wasserweg. Sie segelten bis zu den Raurosfällen (etwa zwei Drittel
der Reise), mit Hilfe der starken Südwinde, die um diese Jahreszeit im ganzen Flusstal wehen.
Ab da mussten sie leichte Einbäume verwenden. Haladdin und Tzerlag verbrachten diesen Teil
des Wegs als Fracht: „Ihr kennt den Fluss nicht, also ist das Beste, was ihr für unsere Gruppe
tun könnt, wie festgenagelt dazuhocken und keine plötzlichen Bewegungen zu machen.“ Am
zweiten Juni erreichte die Expedition die Nördliche Untiefe, einen Knick im Flusslauf direkt
vor der Einmündung des Limlichtflusses aus dem Fangornwald. Hier begannen die Zauberwälder – Lorien am rechten Ufer, Finsterwald am linken. Damit war Dol Guldur weniger als sechzig Meilen Flugstrecke für eine Krähe entfernt. Faramirs Männer blieben als Bootswache zurück (am Rohanufer, nur um sicherzugehen), und die drei erreichten die gezackten Fichtenwälle des Finsterwaldes am nächsten Tag.
Dieser Wald glich in nichts den sonnen- und lebenerfüllten Gehölzen Ithiliens: das
vollständige Fehlen von Unterholz und Gesträuch machte aus ihm eher die Säulengänge eines
riesigen Tempels. Schweigen herrschte unter seiner Decke, denn ein dicker Teppich aus
sattgrünem Moos, hier und da mit kleinen weißlichen Blüten wie Kartoffelkeime gepunktet,
verschluckte jedes Geräusch. Die Stille und das grünliche Zwielicht sorgten für das Gefühl,
unter Wasser zu sein, was durch das „Seegras“ noch verstärkt wurde – unappetitliche,
struppige Bärte aus Flechten, die von den Ästen der Fichten hingen. Kein Strahl Sonnenlichts,
kein Hauch Wind – Haladdin spürte geradezu die Last der Wasserschicht. Die Bäume waren
riesig, und ihre wahre Größe erkannte man nur an den umgestürzten Stämmen: übersteigen
konnte man sie nicht, man konnte sie nur umgehen, was jedes Mal Umwege von hundert bis
hundertfünfzig Fuß in beide Richtungen erforderte. Größere Lichtungen mit vom Sturm
gefällten Bäumen waren komplett undurchdringlich und mussten umgangen werden. Die
Baumstämme waren komplett ausgehöhlt durch handtellergroße Ameisen, die jeden
Eindringling erbittert angriffen. Zweimal kamen sie an ziemlich frischen menschlichen
Skeletten vorbei; völlig geräuschlos schwärmten kohlschwarze Schmetterlinge über die
Knochen. Dieser Anblick brachte sogar den hartgesottenen Orozenen dazu, das Zeichen des
Auges zu schlagen.
Werwolfsrudel und radgroße Spinnen erwiesen sich als Märchen. Der Wald machte sich nicht
die Mühe, den Menschen selbst zu bekämpfen, dem er absolut fremd war, wie die Weiten des
Ozeans oder die brennende Kälte der Gletscher von Ephel Dúath. Seine Macht zeigte sich in
der Entfremdung und Abweisung eher als in der Gegenwehr, weshalb der Waldläufer Runcorn
es am stärksten spürte. Diese Macht hatte Dol Guldur über Zeitalter in seinen verzauberten
Steinen angehäuft, Tropfen um Tropfen, Jahrhundert um Jahrhundert. Die drei magischen Befestigungen – Dol Guldur im Finsterwald, Minas Morgul am Pass von Cirith Ungol und Ag-Jakend mitten auf der leblosen Hochebene namens Shurab im nördlichen Khand – umschlossen
Mordor in einem schützenden Trigramm, genährt von der alten Macht des Waldes, dem Licht
des Bergschnees und des Schweigens der Wüste. Die Nazgúl, die diese magischen 'Resonatoren' aufgestellt hatten, gaben ihnen das Aussehen von Festungen, um ihren wahren Zweck zu
verbergen; vermutlich hatten sie immer wieder Grund zu lachen, wenn wieder einmal ein General aus dem Westen die zerbröckelnden Innenhöfe von Dol Guldur abschritt und versuchte,
herauszubekommen, wohin die Garnison verschwunden war, die gerade über seine Männer
hergefallen war. (Was vor zwei Monaten zuletzt passiert war, als die 'Schattengarnison' die Elben und die Milizen von Esgaroth fast zwei Wochen abgelenkt hatte und die echte Nordarmee
sich deshalb fast ohne Verluste nach Morannon zurückziehen konnte.) Nur die Burgverliese
245
waren allen verboten, was mit deutlichen Warnungen in Gemeinsprache in die Wände
gemeißelt stand.
...Die Diskussion auf dem Pfad wurde immer ausführlicher. Haladdin setzte seine Last ab (wie
immer kam zuerst das Gefühl zu schweben, dann die gesammelte Ermüdung vom Marschieren) und näherte sich den Fährtenlesern. Beide Feldwebel schienen besorgt: sie waren durch
den Wald gewandert und hatten die Straße von Morannon nach Dol Guldur gemieden, aber
trotzdem hatten sie die Anwesenheit von Menschen sogar in diesem verzauberten Dickicht gespürt. Und jetzt das: frische Fußspuren eines Mordorer Infanteristen. Dabei hatte Sharya-Rana
keine Mordorer Streitkräfte in der Nähe der Festung erwähnt.
„Vielleicht Deserteure von der Nordarmee, von damals?“
„Eher nicht.“ Tzerlag kratzte sich den Kopf. „Jeder Fahnenflüchtige wäre sofort von hier verschwunden, überall ist es besser als hier. Der hier hat irgendwo hier in der Nähe sein Lager:
von der Tiefe der Spur her trägt er keine Last.“
„Seltsame Spuren.“ Runcorn stimmte zu. „Die Soldaten eurer Nordarmee müssten ziemlich
ausgetretene Stiefel tragen, aber die hier sehen aus wie frisch aus dem Zeughaus. Sieh mal,
wie scharf die Kante ist.“
„Wieso sollten es Mordorer sein?“
Die Kundschafter wechselten beleidigte Blicke. „Also, Höhe der Absätze und Form der Spitze...“
„Das meine ich nicht. Tzerlag und ich hier tragen Ichigas – also?“
Kurzes Schweigen. „Verdammt. Das stimmt, aber wieso das ganze?“
Es ergab tatsächlich keinen Sinn, und Haladdins plötzliche Entscheidung war vollkommen irrational – ein Schuss ins Dunkel. Genau genommen war es nicht einmal seine Entscheidung, es
war eher so, als habe ihn eine unsichtbare Macht weiter befohlen. Wenn das passiert, gehorcht
man entweder oder steigt aus dem Spiel aus.
„Wir tun folgendes. Soweit ich weiß, sind es noch weniger als ein Dutzend Meilen nach Dol
Guldur. Wir gehen jetzt zur Straße, dort lagert ihr und ich gehe alleine zur Festung. Wenn ich
in drei Tagen nicht wieder da bin, bin ich tot und ihr kehrt um. Nähert euch der Festung auf
keinen Fall. Auf gar keinen Fall, verstanden?“
„Verrückt geworden?“ muckte der Orozene auf.
„Feldwebel Tzerlag,“ zu so einem Ton hätte er sich niemals auch nur im Entferntesten in der
Lage geglaubt, „haben Sie Ihre Befehle verstanden?“
„Ja...,“ der Mann zögerte eine Sekunde, aber nicht länger. „Jawohl, Herr Feldarzt Zweiter
Klasse!“
„Wunderbar. Ich brauche etwas Schlaf und ein paar Ideen, was ich diesen Figuren in brandneuen Stiefeln sagen werde, wenn sie die Festung besetzt haben. Wer ich bin, wo ich die ganze
Zeit war, wie ich hier gelandet bin und so weiter... warum ich diese Dinger an den Füßen habe
246
– kein Detail ist zu klein.“
247
Kapitel 57
Kumai drehte das Ruder, und der Gleiter hing bewegungslos am Himmel, die weit gestreckten
Flügel ruhten mit Leichtigkeit und Selbstvertrauen auf der leeren Luft. Ganz Dol Guldur war
von hier aus zu sehen, die dekorativen Bastionen und Befestigungen, die zentrale Anlage (die
jetzt alle Werkstätten beherbergte) und die Straße, die sich zwischen Hügeln und Heidekraut
entlangschlängelte. Er suchte die Umgebung ab und grinste zufrieden: ihr 'Waffenkloster' hier
im Grünen zu verstecken, direkt vor der Nase der Elben von Lorien, war ebenso unverschämt
wie brillant. Viele Kollegen, die in der magischen Festung untergebracht waren, waren beunruhigt (manche hatten ständige Alpträume, andere hatten seltsame Krankheiten bekommen),
aber Trolle haben ein dickes Fell, die Ruhe weg und glauben nicht an Träume oder Vorzeichen.
Deshalb fühlte sich der Ingenieur hervorragend und arbeitete in jeder freien Minute.
Formell unterstanden sie Jageddin – dem berüchtigten Meister der Chemie, Optik und Elektromechanik der Universität Barad-Dur – aber der wahre Herr hier war Kommandant Grizzly, der
dem Grauen Bären aus den Wäldern und Hügeln des Nordostens ungemein ähnelte; keiner
von ihnen kannte seinen richtigen Namen oder seinen Rang im Geheimdienst. Kumai konnte
noch nicht mal seine Rasse identifizieren – vielleicht war er einer der nördlichen Trolle, die im
Nebelgebirge gelebt hatten, bevor sie sich mit Dungariern und Angmarern vermischt hatten?
Kumai hatte den Kommandanten sofort nach seiner Ankunft in der Festung kennengelernt.
Man hatte ihn in Abschnitten auf der Hauptstraße nach Dol Guldur dorthin gebracht – wie sich
zeigte, war das eine übliche Strecke, auf der fast jeden Tag jemand unterwegs war. Grizzly hatte ihn stundenlang verhört und dabei Kumais ganzes Leben abgedeckt. So ziemlich das einzige, wonach sie nicht gefragt hatten, waren die sexuellen Vorlieben seiner ersten Freundin gewesen. Kindheit, Schule, Militärdienst; Namen, Daten, Spezifikationen von Flugmaschinen, Gewohnheiten seiner Kommilitonen, Beschreibungen der Aufseher in den Minen seines Vaters,
die Abfolge der traditionellen Trinksprüche bei trollischen Festmählern... „Also am Tag Ihres
ersten Flugs, am dritten Mai 3014, war der Himmel bewölkt, sagen Sie. Sind Sie sicher?.. Wie
hieß der Barmann der Achigidel - Bar, gegenüber der Universität? Ach ja, stimmt, diese Bar ist
eine Querstraße weiter die Hauptstraße hinunter... Ingenieur Erster Klasse Schagrat von Ihrem Regiment – ist er groß, vornüber gebeugt und hinkt? Ach, aufrecht und ohne Hinken...“ Jeder Narr hätte gemerkt, dass es hier um eine Verifikation ging, aber warum so tiefgehend? Als
Kumai ein Detail seiner Flucht aus Mindolluin erwähnte, zog Grizzly ein Gesicht: „Hat ihnen
keiner gesagt, dass dieses Thema verboten ist?“
„Aber...“ der Ingenieur war erstaunt, „ich dachte nicht, dass dieses Verbot auch Ihnen gilt...“
„Hat man Ihnen irgendwelche Ausnahmen genannt?“
„Nein... Verzeihung.“
„Gewöhnen Sie sich daran. Sehr gut, den Test haben Sie bestanden. Nehmen Sie sich einen
Tee.“ Mit diesen Worten schob der Kommandant Kumai eine große, runde Teekanne mit gesprungener Tülle und eine Khander Teeschale aus feinstem beigen Porzellan zu und beschäftigte sich mit der Materialliste, die der Ingenieur zusammengestellt und eingereicht hatte –
Bambus, Balsaholz, Umbarer Segeltuch... jede Menge Dinge, und wahrscheinlich würde noch
mehr dazukommen. „Übrigens, was Ihre ehemaligen Kollegen angeht, wie Meister Mhamsuren... wäre es sehr hilfreich für Ihre Arbeit, sie hier zu haben?“
248
„Natürlich! Aber... ist das denn überhaupt möglich?“
„Für unseren Dienst ist nichts unmöglich, aber Sie müssen uns alles geben, was Sie über diese
Leute wissen – Aussehen, besondere Kennzeichen, Freunde, Verwandte, Gewohnheiten. Jedes
kleine Detail könnte helfen, also strengen Sie Ihr Gedächtnis an.“
Nach einer weiteren halben Stunde klopfte der Kommandant auf einen frischen Stapel handgeschriebener Blätter und urteilte: „Wenn sie noch leben, finden wir sie,“ und Kumai war sich
sicher – das würden sie wirklich.
„Ziehen Sie sich um, Ingenieur Zweiter Klasse,“ meinte Grizzly mit Blick auf eine brandneue
Mordorer Uniform ohne Rangabzeichen. Jeder hier trug so eine – Jageddins Wissenschaftler,
die Hilfsarbeiter und die schweigenden Geheimdienstler. „Ich zeige ihnen unsere Physikanlage.“
Die 'Anlage' erwies sich als groß und vielfältig. Kumai bekam unter anderem einen Gleiter zu
sehen, den er nicht erkannte: Zehn Ellen lange Flügel, gerade und schmal wie ein Elbenschwert, breiteten sich über fast nichts aus – ein unmögliches Material, leichter als Balsaholz
und stärker als Steinkastanie. Das 'weiche' Katapult, mit dem man ihn in die Luft beförderte,
passte genau dazu – sagt was ihr wollt, Leute, aber so etwas gibt es in der Natur nicht! Erst da
wurde dem Mechanikus klar, dass er vor dem berüchtigten Drachen der Nazgúl stand, dessen
Reichweite nur davon abhing, wie lange es der Pilot ohne Pause in der Luft aushielt. Kumai
lernte den Umgang mit dem Drachen schnell – je besser das Gerät, desto einfacher die Bedienung.
Vier Isengarder 'Sprengfeuer' – Fachleute kamen etwa zur selben Zeit in Dol Guldur an. Es ging
dabei um eine pulvrige, brennbare Mischung, die der ähnelte, die in Mordor schon lange für
feierliche Feuerwerke verwendet worden war. Begleitet wurden sie von einem kleinen, drahtigen Mann mit leicht krummen Beinen, der wie ein Dungar aus den Bergen aussah. Er wurde
Vielfraß genannt und wurde Grizzlys Stellvertreter, als dieser in geheimen Angelegenheiten
die Festung verließ. Die Ingenieure aus Mordor waren zunächst misstrauisch: die tropfenförmigen, mit Stummelflügeln versehenen Keramiktöpfe voll 'Sprengfeuer' (das bald nur noch
Pulver hieß) hatten eine Reichweite von fast zwei Meilen, aber die Genauigkeit war katastrophal – Abweichungen um bis zu zweihundert Schritt waren die Regel. Und einmal explodierte
ein 'fliegender Tropfen' direkt in der Abschussvorrichtung und zerriss einen Arbeiter, der unglücklicherweise daneben stand. Als die Isengarder zugaben, dass so etwas schon vorkommen
könne - „nicht immer, aber ja, es kommt schon ab und zu vor“ - wechselten die Mordorer vielsagende Blicke: zur Hölle mit diesem 'Sprengfeuer', Leute, das ist für Freunde ja gefährlicher
als für Feinde.
Aber kaum drei Tage nach dem Unfall baten die Katapultbauer Grizzly um seine Anwesenheit
bei der Erprobung eines neuen Geschosses. Der erste Schuss auf die üblichen dreihundert
Schritt riss acht Ziele in Fetzen; es handelte sich um eine einfache Tonkugel gefüllt mit Pulver
und zerkleinerten Nägeln, gezündet mit einer Zündschnur für Naphthabomben. Der nächste
Schritt war offensichtlich: man packte die Pulverkugel in eine größere voll Feuergelee, das
man bekommt, wenn man die leichteren Bestandteile von Naphtha abtrennt und Seife darin
auflöst. So spritzt bei der Explosion klebriger, brennender Schaum in alle Richtungen. Grizzly
betrachtete den dreißig Schritt durchmessenden Kreis, in dem die Erde bis auf die Mineralschicht weggebrannt war, und wandte sich voll Erregung an Jageddin: „Das alles mit einem
einzigen Behälter? Meine Glückwünsche, Leute: Endlich ein brauchbares Ergebnis!“
249
Da hatte Kumai die Idee, dass man solche Geschosse nicht nur aus Katapulten schleudern
konnte – sowohl die brennbaren wie auch die Schrapnellladungen – sondern auch von Gleitern aus abwerfen. „Das macht doch keinen Sinn,“ lauteten die Einwände, „ wie viele Überflüge
schafft man im Gefecht? Zwei? Drei? Das ist es nicht wert.“ „Ja, wenn man damit zufrieden ist,
sie einfach in die feindliche Armee zu werfen. Aber wenn man die Hohen Herren Aragorn und
Mithrandir damit erwischt, ist es das wert.“ „Sie glauben, das ist möglich?“ „Ja, warum nicht?
Man muss ja nicht direkt den Mann treffen, nur die Gegend fünfzehn Schritt um ihn herum.“
„Ist das nicht... wie soll ich sagen... unritterlich?“ „Wie bitte?“ „Oh, nichts... die alten ritterlichen
Kriege – 'Seid Ihr bereit, edler Herr?' - sind sowieso Vergangenheit. Der Eine sei mein Zeuge,
wir haben nicht damit angefangen.“
Mit 'edlem Krieg' schien endgültig Schluss zu sein. Die Mordorer Techniker hatten zum Beispiel die Armbrust bedeutend weiterentwickelt – eine Waffe, die in Mittelerde stets unter einem unausgesprochenen Verbot stand. („Was haben die hehren Rittersleute eigentlich gegen
die Armbrust? Sieht fast wie eine persönliche Angelegenheit aus, oder?“ „Klar, wir haben es
doch alle schon gehört: Distanzwaffen sind was für Feiglinge.“ „Nein, Mann, das ist komplizierter. Bögen werden nicht so sehr abgelehnt. Der Grund ist, dass selbst der beste Bogen nicht
mehr als einhundert Pfund Zug an der Sehne entwickelt, die Armbrust schafft eintausend.“ „Na
und?“ „Damit erledigt ein Bogenschütze einen Gepanzerten nur, wenn er das Visier oder eine
Nahtstelle trifft. Und das ist eine hohe Kunst – man muss mit drei anfangen zu üben und ist
dann vielleicht mit zwanzig dazu in der Lage. Ein Armbrustschütze braucht nur zu zielen, und
der Bolzen geht durch, egal wo er hin trifft. Und das heißt: Nach einem Monat Übung kann ein
fünfzehnjähriger Bauernlümmel, der noch nie eine Waffe in der Hand hatte, sich mit dem Ärmel den Rotz von der Nase wischen, aus hundert Schritt zielen – und dann lebt wohl, berühmter Baron N, Sieger in zweiundvierzig Turnieren und so weiter... In Umbar heißt es: Der Eine
schuf Starke und Schwache, und der Erfinder der Armbrust hat das ausgeglichen. Deshalb sind
die Starken sauer, dass die hohe Kunst des Kämpfens untergeht!“ „Stimmt. Und was noch
schlimmer ist, die Steuerzahler fangen an, sich Gedanken zu machen: Für was brauchen wir eigentlich noch diese schicken Jungs mit ihren Wappen, Federn und so? Wenn es um die Verteidigung der Heimat geht, wären Armbrustschützen doch billiger?“ „Bruder, du bist ja so was
von bodenständig!“ „Muss wohl. Außerdem bin ich zu blöd, um zu wissen, warum es ehrbar
ist, jemandem mit einem Schwert den Schädel zu zertrümmern, aber unehrenhaft, es mit einem Armbrustbolzen zu tun.“)
Aber die Stahlarmbrüste mit 'Zielfernrohr', die 'Flugtropfen', selbst die Brandbomben aus der
Luft verblassten neben der neuesten Forderung des Oberkommandos, die Grizzly brachte: In
den Nebelbergen gibt es ein paar bekannte Schluchten, in denen Felsspalten einen Dunst abgeben, der sich schnell in der Luft verteilt. Die wenigen, die aus diesen Schluchten lebend entkommen sind, erzählen, dass man beim Einatmen einen widerlich süßen Geschmack im Mund
spürt, dann überkommt einen Müdigkeit wie eine Lawine. Wie es ausgeht, sieht man an der
Unmenge an Tierskeletten in der Nähe. Findet einen Weg, solchen Nebel auf den Feind zu leiten.
Kumai war ein Mann von Disziplin, aber von dieser Vorstellung wurde ihm übel: die reine Luft
vergiften – was für eine fürchterliche Vergeltungswaffe! Dem Einen sei Dank war er Mechanikus und kein Chemiker, und deshalb nicht an diesem Projekt beteiligt.
...Er warf zwei große Steine aus hundert Fuß Höhe ab (gleiches Gewicht wie die Explosivgeschosse; sie schlugen direkt bei den Zielen ein) und landete den Gleiter direkt auf der Straße
etwa anderthalb Meilen vor Dol Guldur. Ungefähr dort ergoss sich die Straße in die finstere
250
Schlucht, die sie aus dem Finsterwald geschnitten hatte, nachdem sie sich durch die Räude der
Heidekrautgewächse gefressen hatte. Bald sollte jemand mit den Pferden da sein, und dann
wollten sie versuchen, ob man den Drachen direkt vom Boden aus starten könne, mit einem
Pferdegespann, wie bei den alten Gleitern. Aber wo blieben die nur?...
Weil Kumai hauptsächlich nach Dol Guldur blickte, sah er den Mann, der auf ihn aus Richtung
Wald zu kam, erst, als er schon auf dreißig Schritt heran war. Als er den Neuen sah, schüttelte
der Troll den Kopf: Unmöglich! Dann rannte er Hals über Kopf auf ihn zu und hatte ihn im
nächsten Moment im Bärengriff.
„Ruhig, Großer, du zerquetschst mich ja!“
„Ich muss doch wissen, ob du ein Gespenst bist!... Wann haben sie dich gefunden?“
„Vor einer Weile. Hör mal, das Wichtigste zuerst: Sonja lebt, und es geht ihr gut. Sie ist beim
Widerstand in den Aschebergen...“
Haladdin hörte sich Kumais Geschichte an, während er den Bienenschwärmen über den Heidekrautblüten zusah. Verlassene Ruinen mit richtigen Verstecken, weitab von den Menschen,
wo kein normaler Mensch sich hin traut, ja klar... nur ein Nazgúl versteckt einen Palantír in so
einem Hornissennest. Habe ich ein Glück, dass ich abgefangen wurde, bevor ich ein paar Geheimdienstprofis meine löchrige Geschichte hätte auftischen müssen. Grizzly und Vielfraß
kann ich die Wahrheit auch nicht erzählen. Man stelle sich vor: Irgendein Feldmediziner, zweiter Klasse, taucht einfach so in ihrem absolut streng geheimen Waffenkloster auf – hallo Jungs,
ich will nur mal eben einen Palantír abholen, dann bin ich auch schon wieder weg, bei Prinz
Faramir von Ithilien. Ich arbeite für den Orden der Nazgúl, aber der, der mich angeheuert hat,
ist noch vor Ort verstorben, also kann er es nicht bestätigen. Ich kann euch einen ihrer Ringe
zum Beweis zeigen, aber der ist unmagisch... Ein dolles Ding. Wahrscheinlich werden sie mich
als Irren abstempeln, nicht einmal als Spion. Ins Schloss werden sie mich lassen, aber raus
nicht mehr, Giftexperten sind selten. Ich würde es jedenfalls so machen... Augenblick mal!
„Halik, aufwachen! Alles in Ordnung?“
„Ja ja, alles klar, entschuldige. Ich hatte nur gerade eine Idee. Weißt du, ich bin hier wegen
eines Sonderauftrags, der mit eurem Waffenkloster nichts zu tun hat... Schon mal von diesen
Ringen hier gehört?“
Kumai wog den Ring in der Hand und pfiff anerkennend. „Inoceramium?“
„Ganz genau.“
„Du meinst doch nicht etwa...“
„Doch. Ingenieur Zweiter Klasse Kumai!“
„Herr!“
„Im Namen des Ordens der Nazgúl, werden Sie meine Befehle befolgen?“
„Jawohl, Herr!“
251
„Ihre Vorgesetzten in Dol Guldur dürfen hiervon nichts erfahren.“
„Weißt du, was das heißt?!“
„Kumai, mein Freund... ich darf dir nicht sagen, worum es geht, aber ich schwöre bei allem,
was mir heilig ist, ich schwöre bei Sonyas Leben: es ist das einzige, was Mittelerde noch retten
kann. Es ist deine Wahl. Wenn ich zu Grizzly gehe, wird er meine Beglaubigungen überprüfen
wollen. Es wird Wochen und Monate dauern, bis er meine Vorgesetzten erreicht hat, und bis
dahin ist es zu spät. Hältst du die Nazgúl für allmächtig? Von wegen! Sie haben mir kein Wort
von dieser Geheimdienstkiste in Dol Guldur erzählt, wahrscheinlich weil sie selbst nichts davon wussten.“
„Klar, kein Wunder,“ grummelte Kumai. „Wenn man zu unserem üblichen Durcheinander auch
noch Geheimhaltung dazu packt, ist es nichts mit Überprüfung.“
„Du wirst es also tun?“
„Ich werde.“
„Dann hör zu und merke dir: In der Haupthalle ist ein Kamin mit einem sechsseitigen Stein in
der Rückwand...“
252
Kapitel 58
Ithilien, Emyn Arnen
12. Juli 3019
Es gibt nichts schwereres zu tun als Warten – diese Weisheit könnte auch in Bronze gegossen
sein, so wenig wie sie sich abnutzt. Es ist noch schwieriger, wenn Warten alles ist, was übrig
ist, wenn man alles andere erledigt hat und man nur noch darauf wartet, dass der Vorhang
aufgeht – und wartet und wartet, tagein, tagaus, auf ein Zeichen, das vielleicht nie kommen
wird, denn das liegt bereits in den Händen anderer Mächte außerhalb der eigenen Kontrolle.
In seiner erzwungenen Untätigkeit in Emyn Arnen nach der Reise nach Dol Guldur bemerkte
Haladdin, dass er Tangorn um sein tödliches Spiel in Umbar aufrichtig beneidete: selbst täglich
sein Leben aufs Spiel zu setzen ist besser als diese Warterei. Noch vor einer Woche hatte er
sich für diesen Gedanken verflucht, als ein verhärmter Faramir ihm das Mithrilhemd überreicht hatte: „...seine letzten Worte waren: 'Erledigt.'“
Ihre Rückkehr von Dol Guldur ging ihm ebenfalls nicht mehr aus dem Kopf. Diesmal hatten sie
sich nicht durchschleichen können: Die Wachen, die der Mordorer Geheimdienst auf den Pfaden durch den Finsterwald gegen die Elben aufgestellt hatten, hatten sie gewittert und unerbittlich verfolgt, wie Wölfe ein waidwundes Reh. Nun, jetzt weiß er ,wie viel sein Leben wert
ist: die vierzig Mark Silber, die er Runcorn bezahlt hatte. Wenn der Waldläufer nicht gewesen
wäre, wären sie im Finsterwald geblieben, als Futter für die schwarzen Schmetterlinge. Am
Ufer des Anduin waren sie in eine Falle geraten; als die Pfeile flogen, hatte keiner mehr Zeit zu
rufen: „Wir sind Freunde, von einem anderen Dienst!“ Damals hatte er elbische Giftpfeile auf
sein eigenes Volk abgeschossen, und davon konnte man sich nicht befreien...
Weißt du, was das schlimmste ist, verehrter Herr Doktor Haladdin? Nun bist du mit Blut gebunden und hast keine freie Wahl mehr, die das größte Geschenk des Einen war. Nun verfolgen
dich auf ewig die jungen Männer in der Uniform Mordors ohne Abzeichen, die im Schilf am
Anduin gestorben sind und Tangorn, den du in den sicheren Tod geschickt hast. Wenn du jetzt
aufgibst, bist du nichts als ein Verräter und Mörder. Um diese Opfer zu rechtfertigen, musst du
gewinnen, aber um zu gewinnen, musst du über Leichen gehen und durch unsäglichen Dreck
waten, wieder und wieder – ein Teufelskreis. Und die schlimmste Untat steht noch bevor, und
dass du sie von einem anderen – Baron Grager – machen lässt, macht keinen Unterschied. Was
hatte Tangorn gesagt? „Ehrliche Arbeitsteilung: saubere Hände für den Planer, sauberes Gewissen für den Henker.“ Von wegen...
Tangorn hatte vor seiner Abreise nach Umbar eine Generalprobe für die Schlüsselszene veranstaltet und eiskalt zusammengefasst: „So nicht. Du verrätst dich mit jedem Blick und jedem
Wort. Man sieht dir die Lüge auf eine Meile an, selbst wenn man kein Elb ist, und die haben
noch viel schärfere Sinne als wir. Vergib mir – ich hätte wissen müssen, dass du dazu nicht in
der Lage bist. Selbst wenn sie meinen Köder in Umbar schlucken, wirst du den Fang hier nicht
einholen können.“
„Ich werde – ich muss.“
„Nein. Bitte keine Diskussion, ich könnte es auch nicht tun. Wenn man den ganzen Hintergrund kennt, braucht man nicht nur stählerne Nerven, um diesen Teil überzeugend zu spielen.
Ein Bastard zu sein, wird nicht einmal reichen, man müsste ein absoluter und hoffnungsloser
Unmensch sein.“
253
„Vielen Dank auch.“
„Da nicht für. Vielleicht könntest du mit der Zeit so unmenschlich werden, aber wir haben keine Zeit. Wir haben nur eine Wahl, wir brauchen einen Ausschnitt.“
„Einen was?“
„Fachsprache. Wir müssen einen Agenten im Dunklen dazu ziehen... Entschuldigung. In anderen Worten, der Agent – ein Zwischenträger – muss glauben, dass er die Wahrheit sagt. In Anbetracht dessen, womit wir es zu tun haben, brauchen wir einen Vollprofi.“
„Das heißt Baron Grager?“
„Hm... Wie dein Feldwebel sagen würde: sie haben's begriffen, Doc.“
„Und wie bringen wir ihn ins Spiel?“
„Wir behaupten, wir befürchteten, dass während der Verhandlungen die Elben mit ihrer Magie
oder was noch in ihr Gehirn einbrechen könnten und den Austausch in einen Raubzug verwandeln würden. Was nebenbei erwähnt vollkommen wahr ist. Und es wird für dich einfacher,
wenn du diesen Dreck mit dem Baron teilst. Wie der berühmte Su Vey Go so schön sagte: 'Ehrliche Arbeitsteilung: saubere Hände für den Planer, sauberes Gewissen für den Henker.'“
„Wer war dieser Su Vey Go?“
„Ein Spion, was sonst?“
...Der Fisch biss am Abend des dreiundachtzigsten Tags der zugestandenen einhundert an. Die
letzten Sonnenstrahlen der untergehenden Sonne durchdrangen den hallenden Raum des um
diese Zeit leeren Rittersaals und malten orangene Flecken auf die gegenüberliegende Wand.
Die Flecken sahen warm und lebendig aus, es schien, als wollten sie von der Wand auf Gesicht
und Hände einer schlanken Frau in staubigen Männerkleidern überspringen, die sich in Faramirs Sessel gesetzt hatte. Sie sieht aus wie ein Mädchen, dachte Grager, aber nach menschlichen Begriffen sieht sie aus wie dreißig, und über ihr wahres Alter denkt man lieber nicht
nach. Sie schön zu nennen ist so nichtssagend, genau so gut könnte man das Portrait einer
schönen Unbekannten des großen Alvendi mit den Begriffen eines polizeilichen Steckbriefs beschreiben – sollte man das? Interessanterweise hat Doktor Haladdin den Rang und die Identität des Empfängers so genau wie eine Mondfinsternis vorhergesagt – eine hervorragende Arbeit – aber es schien ihm gar nicht recht zu sein; warum wohl?...
„Hohe Frau Eornis, im Namen des Prinzen von Ithilien heiße ich Euch in Emyn Arnen willkommen. Ich bin Baron Grager; vielleicht habt Ihr von mir gehört?“
„Oh ja.“
„Hat Elandar Euch Baron Tangorns Botschaft überbracht?“ Eornis nickte, holte aus einer Geheimtasche einen einfachen Silberring mit eingegrabenen Elbenrunen und legte ihn vor Grager auf den Tisch.
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„Diesen Ring fand ich in einem Siegel Eures Pakets. Er gehörte meinem Sohn Eloar, der vermisst wird. Sie wissen, was ihm zugestoßen ist... habe ich das richtig verstanden, Baron?“
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Kapitel 59
„Ja, Hohe Frau, das habt Ihr. Aber lasst mich zunächst die I – Pünktchen setzen: Wie mein verstorbener Freund bin ich nur ein Zwischenträger. Es könnte Wege geben, mein Gehirn mit Elbenmagie zu durchsuchen, aber Ihr werdet dort nichts außer dem finden, was ich Euch sagen
soll.“
„Ihr übertreibt alle mit Euren Einschätzungen der Macht der Elben...“
„Um so besser. Also, Euer Sohn lebt und ist in Gefangenschaft. Sobald wir uns über den Preis
einig sind, werdet Ihr ihn zurückbekommen.“
„Oh, alles, alles sollt ihr haben – Edelsteine, Gondolinwaffen, magische Schriftrollen...“
„Leider, Hohe Frau, haben wir es nicht mit auf Lösegeld erpichten Mashtangs aus dem Süden
zu tun – es scheint sich um den Geheimdienst Mordors zu handeln.“
Ihre Miene verzog sich nicht, aber ihre dünnen Finger wurden weiß in ihrem Griff um die
Armlehnen: „Ich werde mein Volk nicht um das Leben meines Sohns willen verraten!“
„Wollt Ihr nicht einmal wissen, wie wenig von Euch verlangt wird?“
Nach einer Ewigkeit, die nur ein paar Sekunden gedauert hatte, antwortete sie „Ich will.“ Und
Grager, Veteran hunderter Anwerbungen, wusste, dass er das Spiel im Sack hatte – es ging nur
noch um das Endspiel, mit einer zusätzlichen Figur.
„Zunächst muss ich einige Dinge erläutern. Eloar wurde von seiner Einheit getrennt und hat
sich in der Wüste verirrt. Er war am Verdursten, als man ihn fand, also haben die Mordorer
Widerständler im zunächst das Leben gerettet...“
„Sein Leben gerettet? Diese Monstren?“
„Oh bitte, Hohe Frau – mit diesen Geschichten von geräuchertem Menschenfleisch beeindruckt
man vielleicht Bauerntrottel aus dem Auenland, aber nicht mich. Ich habe die Orks jahrelang
bekämpft und weiß, was Sache ist: sie haben tapfere Feinde immer bewundert und haben Gefangene immer anständig behandelt – das ist Tatsache. Das Problem ist, dass sie herausgefunden hatten, dass Eloar an so genannten Kehraktionen beteiligt war – oder weniger umschreibend am Massenmord an Zivilisten.“
„Das ist eine Lüge!“
„Leider nicht,“ seufzte der Baron müde. „Mein verstorbener Freund Baron Tangorn war Zeuge
dessen, was Eloars Ostlinge angerichtet haben. Ich möchte Eure mütterlichen Gefühle nicht
mit den grausigen Details belasten.“
„Das muss ein schrecklicher Fehler sein, ich schwöre es! Mein Junge... Moment, sagtet ihr 'Ostlinge'? Vielleicht hat er es einfach nicht geschafft, diese Wilden im Zaum zu halten...“
„Hohe Frau Eornis, ein Befehlshaber ist für die Taten seiner Untergebenen genau so verantwortlich wie für seine eigenen. So ist es bei den Menschen, bei den Elben kenne ich mich nicht
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so weit aus. Eigentlich erfahrt Ihr das nur, damit Euch klar ist, dass, wenn wir uns nicht über
den Preis einig werden, Euer Sohn nicht darauf hoffen kann, nach den Übereinkünften für
Kriegsgefangene behandelt zu werden. Man wird ihn einfach den Angehörigen der
'Zusammengekehrten' übergeben.“
„Und was...“ sie musste schwer schlucken, „was verlangt man von mir?“
„Zunächst müsstet Ihr Eure Stellung in der Hierarchie Loriens verdeutlichen.“
„Wissen die das nicht selbst?“
„Doch, aber nur von Eloar. Und der hat vielleicht nur versucht, seinen Wert als Geisel hochzutreiben. Sie wollen wissen, wie mächtig Ihr wirklich seid: Clofoel ist mehr ein Rang als eine
Stellung, richtig? Wenn Ihr Unwichtiges tut wie Prinzen erziehen oder Zeremonien zu planen,
sehen sie keinen Grund, sich mit Euch zu befassen.“
„Ich bin Clofoel der Welt.“
„Aha. Das heißt, im Stab der Herrin seid Ihr zuständig für Diplomatie, Aufklärung und allgemeiner gesagt Ausbreitung der Elben in Mittelerde?“
„So könnte man es sagen. Seid Ihr damit zufrieden?“
„So ziemlich. Also, zum Geschäft. In einem der Gondorer Arbeitslager unter Kontrolle der Elben sitzt ein bestimmter Kriegsgefangener. Ihr sollt seine Flucht in die Wege leiten und bekommt im Gegenzug Euren Sohn wieder, mehr nicht. Ich denke, das reicht, um Eurer Gewissen
hinsichtlich des 'Verrats an Eurem Volk' zu beruhigen.“
„Weil Lorien solch einem Austausch nie zustimmen würde, da der Gefangene zur Krondynastie
Mordors gehört?“
„Zu dieser Vermutung kann ich nichts sagen, Hohe Frau Eornis, denn darüber weiß ich nichts.
Aber eines stimmt sicher: wenn irgendwer in Lorien von diesem Treffen erfährt, rollt sowohl
Euer als auch der Kopf Eures Sohnes.“
„Also gut, ich bin einverstanden. Aber zunächst will ich einen Beweis, dass Eloar wirklich lebt;
der Ring könnte auch von einer Leiche sein.“
„Das ist nur recht und billig, nehmt diesen Zettel.“ (Das war ein Schlüsselmoment, auch wenn
Grager das nicht wusste. Aber wenn Haladdin die Möglichkeit gehabt hätte, zu sehen, wie die
Elbenfrau mit versteinertem Gesicht die eckigen, wie von einem Betrunkenen geritzten Runen
las : liebe mutter ich lebe sie behandeln mich gut – er hätte sofort gewusst, dass das langwierige
'Einfühlen in den Charakter' des Maestro Haddami sie nicht im Stich gelassen hatte.)
„Was haben diese Bestien mit ihm gemacht?!“
Grager öffnete die Hände. „Sie sagen, er wäre in einem unterirdischen Gefängnis, das nicht gerade den Wäldern Loriens ähnelt. Er ist also nicht in bester Form.“
„Was haben sie mit ihm gemacht?“ wiederholte sie leise. „Ich rühre keinen Finger ohne Garantien, verstanden? Ich werde alle Arbeitslager auf den Kopf stellen und...“
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„Ihr bekommt Eure Garantien, keine Sorge. Sie haben sich nicht die Mühe gemacht, ein geheimes Treffen zu organisieren, um dann den Austausch platzen zu lassen, oder? Sie haben sogar
angeboten...“ Grager legte eine Kunstpause ein. „Wollt Ihr ihn sehen?“
„Ist er hier?!“
„Oh nein, das wäre zu viel verlangt. Ihr könnt über Sehersteine mit ihm sprechen. Zum vereinbarten Zeitpunkt und Datum – sagen wir am ersten August mittags, in Ordnung? - wird Eloar
in den Palantír Mordors sehen und Ihr in den Euren.“
Eornis schüttelte den Kopf. „Wir haben in Lorien keine Sehersteine.“
Grager nickte. „Das wissen sie. Um die Sache zu beschleunigen, werden sie Euch einen der Ihrigen leihen. Ihr werdet ihn mit dem Gefangenen zurückgeben – was solltet Ihr sonst tun?
Aber auch sie verlangen Garantien: man kann mit einem Palantír einen anderen orten – damit
solltet ihr Elben euch besser auskennen als ich – und sie wollen ihren Aufenthaltsort nicht
dem Feind preisgeben. Also wird es zwei Bedingungen geben, die nicht verhandelbar sind.
Erstens, Ihr erhaltet den Palantír in einem undurchdringlichen Sack im 'Empfänger' – Modus...
vergebt mir, Hohe Frau, ich weiß selbst nicht, was das heißt, ich wiederhole hier nur, was sie
mir aufgetragen haben. Ihr werdet den Palantír aus dem Sack holen und auf 'Senden-Empfangen' stellen nicht vor dem ersten August zwölf Uhr mittags. Wenn ihr es früher wagt – zum
Beispiel weil ihr neugierig seid, wie Mordorer Verstecke aussehen – wird eines, was Ihr seht,
Eloars Hinrichtung sein. Versteht Ihr?“
„Ja.“
„Zweitens verlangen sie, dass Ihr währenddessen weit von Mordor entfernt seid, in Lorien.
Wenn also Euer Palantír am ersten August zu senden beginnt, wollen sie etwas sehen, was nur
in Lorien sein kann... Wisst Ihr, an diesem Punkt wurden sie regelrecht paranoid. Wir brauchten eine halbe Stunde, um ein Wahrzeichen Loriens zu finden, das man nicht fälschen oder
verwechseln kann. Dann fiel jemandem ein, dass Eure Herrin einen riesigen magischen Kristall hat, der die Zukunft zeigt; das wäre genau das richtige, meinten sie.“
„Galadriels Spiegel?“
„Sie haben ihn anders genannt, aber ich bin sicher, Ihr wisst, was sie meinen.“
„Das ist Wahnsinn! Es ist fast unmöglich, an den Spiegel der Herrin heranzukommen.“
„Warum Wahnsinn? Sie haben genau das gesagt: So kann sie beweisen, wo sie in der Hierarchie steht... Also: am ersten August, zwölf Uhr mittags, nehmt Ihr den Palantír aus dem Sack
und stellt ihn von 'Empfang' auf 'Zwei-Weg', in Mordor wird man Galadriels Spiegel sehen; und
dann werdet Ihr Euren Sohn sehen, lebendig und wohlauf... mehr oder weniger. Dann wird
man Euch sagen, welcher Gefangener aus welchem Lager geholt werden soll. Alles weitere
wird über die Palantíri abgewickelt. Irgendwelche Einsprüche?“
„Das wird für uns nicht funktionieren,“ sagte sie plötzlich mit hohler Stimme. Das 'uns' fiel ihm
sofort auf – alles lief glatt.
„Wo liegt das Problem?“
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„Ohne das Wissen des Sternenrates dürfen keine magischen Gegenstände nach Lorien gebracht werden. Die Palantíri sind voll mächtiger Magie, und damit komme ich nicht an den
Grenzwachen vorbei.“
„Davon haben sie auch gehört, aber gilt das etwa auch für einen Clofoel der Welt?“
Ein schiefes Lächeln. „Ihr kennt nicht alle Sitten der Elben. Das Verbot gilt für alle, auch beide
Herrscher. Die Grenzwachen gehorchen dem Clofoel der Ruhe und sonst niemandem.“
„Nun, wenn die Grenzwachen das einzige Hindernis sind, dieses kleine Problem, das Euch so
groß dünkt, kann ich lösen,“ entgegnete Grager mit berechneter Gelassenheit. „Man wird den
Palantír direkt zu Euch in eure Hauptstadt schmuggeln, nach Caras Galadhon.“
„Nach Caras Galadhon?“ Sie war starr vor Staunen, und Grager spürte plötzlich in den Eingeweiden, dass irgendetwas nicht stimmte.
Du hast Angst, erkannte er. Zum ersten Mal während dieses Gesprächs hast du Angst. Warum
jetzt, so plötzlich? Sicher, zu hören, dass direkt in eurer Hauptstadt feindliche Spione Sachen
tun können, die du, eine allmächtige königliche Beraterin nicht kannst, muss ein Schreck sein.
Aber die Hauptsache ist, dass diese Wendung so unerwartet für dich kam, und das heißt, du
hast vorher genau gewusst, wie das Gespräch verlaufen würde, nachdem du Eloars Ring bekommen hast... gewusst und einen Gegenplan gemacht, und das heißt, dass du mir bis jetzt
nur das gefüttert hast, was ich glauben sollte statt deiner wahren Gefühle. Ich hätte gleich bemerken müssen, dass du viel zu leicht und schnell gebrochen bist und dich hast anwerben lassen. Du hast gewusst, dass es auf einen Anwerbungsversuch hinauslaufen würde, und dass du
für den Rest deiner Tage am Haken hängen würdest – wir sind schließlich so etwas wie Kollegen... Ihr Sohn ist in Feindeshand und sieht einem grausigen Tod entgegen, aber sie ist immer
noch ein Höfling und hat ihren Teil an Verrat und Intrigen begangen, um auf den Sitz des Clofoel oder worauf auch immer dieser Sternenrat sitzt zu kommen. Es ist Haladdins Sache, aber
ich an seiner Stelle würde ihr nicht mal ein Buttermesser anvertrauen, viel weniger einen Palantír. Sie wird den gelehrten Doktor beim Austausch aufs Kreuz legen wie einen Schuljungen,
wette ich. Oder vielleicht nicht... vielleicht wird sie es nicht können. Der hat seine eigenen Asse
im Ärmel. Ich habe keine Ahnung, wie er diesen Kristall zu ihr in den Zauberwald kriegen will,
und das im Geheimen, aber ich glaube nicht, dass er blufft.
„Ihr habt richtig gehört, Hohe Frau, nach Caras Galadhon. Ihr richtet dieses Jahr das Fest der
Tanzenden Feuerfliegen aus, richtig?“
259
Kapitel 60
Lorien, Caras Galadhon
22. Juli 3019, nachts
Die Elben betrachten das Fest der Tanzenden Feuerfliegen in der Nacht des Julivollmonds als
einen ihrer höchsten Feiertage; also kann ein informierter Einwohner Loriens wichtige
Schlüsse über die Lage in der herrschenden Kaste Loriens 'die noch nie so einig war' ziehen,
wenn er weiß, wer das Fest ausrichtet und wie es gemacht wird. Kleinste Einzelheiten haben
tiefen Sinn, als Spiegelbild der Feinheiten des gnadenlosen Machtkampfes, in dem der einzige
Lebenssinn der unsterblichen Elbenhierarchen liegt. Zur gleichen Zeit kann ein vollständig unschuldiges Detail (wie zum Beispiel, ob der Fürst von Bruchtal sich durch einen Vetter oder
einen Neffen vertreten lässt) viel, viel wichtiger sein als beispielsweise das schockierende
Wiederauftauchen des hohen Herrn Estebar, dem ehemaligen Clofoel der Macht, der vor etwa
zehn Jahren mit den anderen Teilnehmern an der Verschwörung der Feiernden spurlos verschwunden war, beim gleichen Fest vor zwei Jahren. Der ehemalige Clofoel stand ein paar
Stunden auf einem Talan direkt neben den Herrschern Loriens und verschwand dann wieder
spurlos; man munkelte (stets im Flüsterton und mit vorsichtigen Blicken auf die Umgebung),
dass er zurückgebracht wurde in die Verliese unter dem Hügel der Düsteren Klage – aber von
den Tänzern des Clofoel der Sterne statt den Wachen des Clofoel der Ruhe. Warum? Für was?
Ein großes Geheimnis.
Das ist die richtige Politik; wahre Macht muss, um eine solche zu bleiben, sowohl unergründet
als auch unvorhersehbar sein – sonst ist sie nichts als eine Autorität. Man könnte sich hier an
eine Geschichte aus einer benachbarten Welt erinnern und ihre Fachleute, die Jahr für Jahr
versuchten, die Politik eines bestimmten mächtigen und rätselhaften Landes vorherzusagen:
sie schrieben die Reihenfolge auf, in der die örtlichen Machthaber am Grab des Gründers ihren
Platz an staatlichen Feiertagen einnahmen, wo von der alphabetischen Reihenfolge der Namensnennung abgewichen wurde und so weiter. Die Experten waren weise und fähig, ihre
Schlüsse unfehlbar logisch und tiefsinnig; wen wundert es, dass sie nicht einmal eine richtige
Vorhersage ablieferten? Hätte jemand diese Fachleute gebeten, die Lage um das Fest der Tanzenden Feuerfliegen im Jahr 3019 des Dritten Zeitalters einzuschätzen, hätte es wohl wie folgt
geklungen: „Da dieses Jahr zum ersten Mal überhaupt die Verantwortung für das Fest beim
Clofoel der Welt liegt, ist davon auszugehen, dass die Expansionisten in der elbischen Regierung einen entscheidenden Sieg über die Isolationisten errungen haben; eine rasche Ausbreitung der elbischen Präsenz in den Schlüsselregionen Mittelerdes steht zu erwarten. Nach der
Ansicht einiger Analysten ist die Hauptursache ein Wechsel der Verantwortlichkeiten am Hof
der Herrin, die über die unerwartete Stärkung des Clofoel der Ruhe besorgt ist.“ Das lustige
daran ist, dass diese logischen Übungen ziemlich korrekt in und über sich gewesen wären, wie
immer bei solchen Untersuchungen...
Was das Fest selbst angeht, ist es von außergewöhnlicher Schönheit. Natürlich kann das nur
ein Elb vollständig sehen, aber andererseits ist der Mensch so eine primitive und jämmerliche
Kreatur, dass selbst die sichtbaren, blassen Fetzen des wahren Glanzes des Festes ihm schon
ausreichen. In dieser Nacht versammeln sich die Bewohner Loriens auf den Telain am Nimrodel; die Mellyrn bieten einen großartigen Blick auf das Flusstal, wo Ansammlungen heller
Leuchtgläser über die taufeuchten Felder verstreut sind, rings um melancholische Sumpfwässer (geschwärztes Silber, wie Brustschmuck aus Gondolin). Der Nachthimmel selbst erscheint
als nicht mehr als eine leichte Spiegelung dieses imposanten Bildes in einem alten Bronzespiegel. Um genau zu sein, stimmt das sogar: In dieser Nacht spiegeln die Gestirne Mittelerdes genau das wieder, was am Ufer des Nimrodel geschieht. Wie bereits erwähnt kann ein Sterblicher nur einen winzigen Bruchteil der Ereignisse wahrnehmen, er kann die Sterne bewun260
dern, erschaffen von den Lichtern und unverändert seit Urzeiten. Aber Menschenaugen haben
nichts zu schaffen mit den magischen Mustern, die die Tänzer mit ihren Leuchten weben –
dieser Tanz ist die Grundlage aller Magie der Erstgeborenen. Sehr selten erreicht der Nachhall
dieses magischen Rhythmus die Welt der Menschen durch Offenbarungen der größten
Skalden und Musiker, die auf ewig ihren Geist vergiften mit einem Streben nach unerreichbarer Vollkommenheit.
Wie es dem Clofoel des Festes zukam, war Eornis in jener Mitternacht inmitten des 'Himmels',
genau dort, wo sieben Gläser (sechs helle und ein besonders helles) die Sichel des Valar auf
den Feldern des Nimrodel abbildeten, das Sternbild, dessen Griff auf den Pol der Welt zeigt.
Der Clofoel der Sterne und ihre Tänzer – die einzigen, die den 'Himmel' betreten durften – hatten sich längst in den Schatten der Mellyrn zurückgezogen, sie war ganz allein und versuchte
immer noch vergeblich, herauszufinden, wie Baron Grager seine Worte einhalten wollte: „Im
Morgengrauen werdet Ihr den Sack mit dem Stein im Gras finden, in der Nähe des Glases, das
in der Sichel des Valar den Polarstern darstellt.“ Zugang zum Himmel ist allen anderen Elben,
selbst den Clofoel, bei Todesstrafe verboten, also wird niemand den Palantír vor ihr finden,
aber wie wollen die Mordorer Spione sich hier einschleichen? Also... es wird doch nicht eine
der Tänzerinnen sein? Aber das ist vollkommen unmöglich – eine Tänzerin im Bündnis mit
dem Feind! Ach wirklich? Wie ist es mit dem Clofoel der Welt und Verbindung mit dem Feind –
ist das möglich?
Sie verwarf ihre eigenen Gedanken: Ich bin nicht mit dem Feind verbündet, ich halte meine eigenen Fäden in der Hand. Ja, ich werde alles tun, um mein Kind zu retten, aber ich denke nicht
daran, mich an die Abmachungen zu halten. Am Morgen habe ich den Palantír, am Mittag des
ersten August den Namen des Kronprinzen von Mordor – wer sollte es sonst sein? - und wenn
es Zeit wird, die Geiseln auszutauschen, werde ich dafür sorgen, dass alle in meine Hände fallen, kein Problem. Offenbar haben diese Menschen keinen Schimmer von der Macht der Elben;
nun, sie werden sie kennenlernen.
Die Menschen brauche ich nicht zu fürchten – was sollen diese Maden schon ausrichten? aber meine eigene Art. Wenn ich gewinne, lege ich den Herrschern einen Palantír und den
Kopf eines Prinzen Mordors zu Füßen, und niemand wird es wagen, den Mund zu öffnen – der
Sieger hat immer recht. Und wenn ich versage oder einfach nicht zu Ende spielen kann, wird
man mir Paktieren mit dem Feind vorwerfen, Hochverrat. Der Clofoel der Ruhe würde seine
rechte Hand opfern, um mir so etwas vorwerfen zu können und mich in seine Verliese unter
dem Hügel der Düsteren Klage schicken zu können... Wenn er auch nur den geringsten Verdacht schöpft, was mein Gespräch mit den Ithiliern angeht, werden seine Wachen anfangen zu
graben, wie nur sie es können, und dann ist es aus mit mir. Ich habe meinen Besuch in Emyn
Arnen der Herrin Galadriel so erklärt, dass ich Gerüchten nachgehen wollte, die in Umbar aufgetaucht sind: „Jemand in Lorien, vermutlich der Clofoel der Ruhe, treibt offenbar seine eigenen Spielchen mit Aragorn.“ Sobald er davon hört – und das wird er – wird er keine Wahl haben, als mich vor den Herrschern gründlich mit Dreck zu bewerfen, und er wird schwer damit
zu tun haben.
Ein Schreck durchfuhr sie, als ihre Überlegungen weitergingen: Und wenn das alles, auch die
Ereignisse in Umbar, nichts weiter sind als eine verwickelte Intrige des Clofoel der Ruhe, und
sobald ich den Sack aufhebe, in dem ein Palantír sein soll, legt mir eine Wache die Hand auf
die Schulter? Wenn Elandar und diese Ithilier Barone mit dem Clofoel der Ruhe gegen mich
konspirieren? Unsinn... ich fürchte meinen eigenen Schatten. Warum verbünden sich die Mordorer mit den Ithilier Spionen, offenbar mit Faramirs Billigung? Es ist eindeutig: sie erhoffen
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sich als ihren Teil des Handels einen wegen Kooperation mit dem Feind kompromittierten
elbischen Clofoel, der deswegen auf immer macht, was sie wollen. Und wenn ich mitspielen
würde, wäre das auch das Ergebnis.
Es gibt jedenfalls kein Zurück. Mich rettet nur noch ein Sieg bei diesem 'Gefangenenaustausch'.
Und das wird mich nicht nur retten, es wird mich auch eine Stufe weiter nach oben bringen!
Danach werde ich die finden, die den Sack mit dem Seherstein heute Nacht beim Polarstern
ablegen werden, und ich werde es selbst tun, mit meinem Dienst, noch vor den Wachen. Und
dann werde ich diese Verräter dem Rat vorzeigen: „Unser unvergleichlicher Bewahrer der
Ruhe war doch so beschäftigt, Verschwörungen aufzudecken – und wir wissen alle, was das
gebracht hat - , dass er es fertiggebracht hat, ein reales Netz von Spionen des Feindes in Caras
Galadhon zu übersehen! Oder hat er das vielleicht gar nicht, und die Verbindungen des Netzes
reichen höher, als ich zu sagen wage?“ Diesen Schlag wird er nicht überleben, egal wie sehr
Fürst Cereborn sich für ihn einsetzt; es wird ein klarer Sieg für die Herrin und mich.
Inzwischen glitt Kumais Drachen unsichtbar durch Loriens Nachthimmel entlang der schwach
glänzenden Windungen des Nimrodel. Sobald er eine ganze Menge heller bläulicher Lichter
sah, die eine ziemlich gute Sternenkarte inmitten eines Tals bildete, entspannte sich der Ingenieur und lenkte den Gleiter abwärts. Bis jetzt lief alles nach Plan. Er ortete den Taucher, der
aus unerfindlichen Gründen in dieser Gegend Sichel des Valar genannt wurde, inmitten der
anderen Konstellationen – sehr gut, alle da, wo sie hingehören, mit dem Polarstern am richtigen Ort. Woraus diese Lampen wohl sind? Das Licht ist erkennbar kalt – vielleicht das, was
verrottende Pilze zum Leuchten bringt? Der Taucher wurde schnell größer; Kumai suchte auf
dem Boden der Pilotenkanzel nach dem Sack, den er letzte Nacht aus dem Versteck im Kamin
in Dol Guldur geholt hatte, und begann plötzlich mit zusammengebissenen Zähnen zu fluchen:
„Verdammt, er hat mir nie gesagt, wie groß das Ding eigentlich ist – wie soll ich denn in der
Dunkelheit meine Höhe bestimmen?“
Haladdin hatte ihn eigentlich gebeten, den Sack nur aus dem Versteck zu holen und beim
nächsten Flug weit weg von der Festung abzuwerfen, damit er ihn holen und verschwinden
könne. Dann hatte er mitten im Satz aufgehört und ihn aufgeregt gefragt: „Kommst du mit dem
Ding von hier nach Lorien?“
„Sicher, kein Stress. Nun, nicht gar kein Stress, aber es geht.“
„Auch nachts?“
„Also, so weit bin ich nachts noch nie geflogen – es ins schwer zu navigieren.“
„Aber wenn Vollmond ist und das Ziel Leitlichter hat?“
„Das macht die Sache einfacher. Brauchst du Luftaufklärung?“
„Nein. Weißt du, ich hatte vergessen, wie gut du dabei geworden bist, Ziele aus der Luft zu
treffen. Genau das sollst du in Lorien machen.“
Kumai hatte den Nachtflug vor seinen Vorgesetzten in Dol Guldur als Übung für nächtliche
Bombardierungen ausgegeben. „Wozu zur Hölle soll das gut sein?“ „ Um Brandbomben auf das
feindliche Lager zu werfen. Wenn man nachts vor der Schlacht brennende Zelte löschen muss,
anstatt auszuschlafen, ist man am nächsten Morgen nicht gerade in Bestform zum Kämpfen.“
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„Hmmm... könnte sogar stimmen. Na schön, versuchen Sie es, Ingenieur.“ Bei Sonnenuntergang
hob er ab („Ich werde noch etwas herumfliegen, bis es dunkel wird“) und flog eine weite Kurve, um nicht von der Festung aus gesehen zu werden. Dann erst ging es nach Westnordwest. Er
fand die Stelle, an der der Nimrodel sich in den Anduin ergießt, als es noch hell war, und der
Rest war ziemliche Routine.
Kumai ließ los, und der Sack verschwand in der 'sternenverzierten' Dunkelheit. Zwei Sekunden später verdeckte die Nase des Gleiters den Polarstern: alles klar. Wenn er seine Höhe richtig berechnet hatte, würde er das Ziel getroffen haben. „Ist es irgendein Gift?“ „Nein, Magie.“
„Magie?! Was besseres hast du nicht?“ „Glaub mir, die Typen in Lorien werden den Sack gar
nicht mögen.“ „Also schön. Wenn alles den Bach runtergeht, vertrauen die Leute irgendwie immer den Magiern statt den Wissenschaftlern...“ Egal – seine Arbeit war getan, der Kommandant würde schon wissen, wozu das gut war. Je weniger man weiß, desto besser schläft man.
Zeit zu wenden und heim zu fliegen; der Weg war weit und der Wind wurde stärker.
Als Kumai gewohnheitsmäßig eine riskante Kurve über den schläfrigen Gewässern des Nimrodel flog, vergaß er eine Kleinigkeit: die Höhe der Mellyrn. Oder vielmehr wusste er nicht, dass
es so hohe Bäume überhaupt gab.
Ein Krachen ertönte, als ein Zweig scheinbar leicht eine Flügelspitze streifte, die den Gleiter
ins Trudeln brachte, wie die Samenkörner, die die Mellyrn im Herbst zu hunderten auf die verblühten Elanor fallen lassen.
Ein zweites Krachen ertönte, als der hilflose Drachen nach rechts abdrehte und direkt in den
Nebenbaum krachte, die Haut zerriss und Rückgrat und Knochen brachen.
Und zuletzt ein drittes Krachen, als alle Trümmer am Stamm entlang auf einen Talan voll gelähmter Elben stürzte, fast direkt vor die Füße des Clofoel der Ruhe.
Eigentlich hatte Kumai seinen Auftrag da schon ausgeführt und hätte als annehmbarer Verlust
abgeschrieben werden können, mit angemessener Erwähnung des Omeletts, das man nicht
machen kann, ohne ein paar Eier zu zerbrechen. Leider gab es einen erschwerenden Umstand:
der Troll war nach dem Sturz zwar übel zugerichtet, aber am Leben – was verständlicherweise
eine Katastrophe war.
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Kapitel 61
Sternenrat Loriens
23. Juli 3019 des Dritten Zeitalters
Clofoel der Ruhe: Eile ist ratsam, wenn man Flöhe jagt oder mit einer plötzlichen Diarrhö zu
tun hat, geschätzter Clofoel der Macht. Also drängt mich nicht so: Trolle sind zäh und ich werde wesentlich länger brauchen, um verwertbare Informationen von ihm zu bekommen.
Herrin Galadriel: Wie viel Zeit braucht Ihr, Clofoel der Ruhe?
Clofoel der Ruhe: Ich denke, drei Tage sollten reichen, o leuchtende Herrin.
Clofoel der Macht: Er will doch nur seinen Schlägern unter dem Hügel der Düsteren Klage etwas zu tun geben, o strahlende Herrscher! Es ist so einfach – er soll seinen Wahrheitstrank benutzen und in weniger als einer Viertelstunde spuckt diese Ausgeburt Morgoths alles aus!
Fürst Cereborn: Wahrhaftig, Clofoel der Ruhe, warum benutzt Ihr den Wahrheitstrank nicht?
Clofoel der Ruhe: Ist das ein Befehl, o strahlender Fürst?
Fürst Cereborn: Nein ,nein, bitte nicht...
Clofoel der Ruhe: Ich danke Euch, o strahlender Fürst! Es ist seltsam: Wollte ich den Clofoel
der Macht belehren, wie man Bogenschützen oder Reiterei zur Schlacht ordnet, so wäre er beleidigt, und das völlig zu Recht. Aber wenn es darum geht, Verbrecher zu finden, weiß irgendwie jeder hier besser als ich, was ich zu tun habe!
Fürst Cereborn: Nein, nein, bitte fasst es nicht so auf...
Clofoel der Ruhe: Was den Wahrheitstrank angeht, geschätzter Clofoel der Macht, kann er den
Verstand eines Menschen tatsächlich brechen – Ihr habt völlig korrekt bemerkt, dass das weniger als eine Viertelstunde dauern würde. Das Problem ist, all den Müll, der aus dem gebrochenen Verstand sprudeln wird, zu trennen: glaubt mir, es wird mehrere Wochen dauern, die
Kerne von den Schalen zu befreien. Der Trank wirkt Wunder, wenn es darum geht, ein Geständnis zu bekommen, aber was wir hier brauchen, sind Informationen! Und wenn beim ersten Durchgang etwas unklar ist und wir Erklärungen brauchen? Wir werden kein zweites Mal
fragen können, weil er bis dahin zu einem sabbernden Trottel geworden ist. Also gestattet mir
bitte den Gebrauch traditionellerer Methoden.
Herrin Galadriel: Diese Erklärung war hervorragend, Clofoel der Ruhe, habt Dank. Ich sehe,
dass die Untersuchung in guten Händen liegt, tut weiterhin, was Ihr für richtig haltet. Aber mir
ist gerade etwas eingefallen. Da dieser mechanische Drache von außen eingeflogen ist, könnten bei dieser Untersuchung sehr interessante Dinge bekannt werden, die mehr mit Mittelerde
als mit den Zauberwäldern zu tun haben. Lieber Fürst Cereborn, meint Ihr nicht auch, dass es
vorteilhaft wäre, den Clofoel der Welt in diese Untersuchung mit einzubeziehen, wo sie sich
doch mit diesen Dingen viel besser auskennt?
Fürst Cereborn: Ja, ja, das klingt sehr vernünftig! So ist es doch, Clofoel der Ruhe?
Clofoel der Ruhe: Ich wage es nicht, den Vorgaben der leuchtenden Herrin zu widersprechen,
o strahlender Fürst. Aber vielleicht wäre es besser, mich ganz von dieser Aufgabe abzuziehen,
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da man mir nicht vertraut?
Fürst Cereborn: Nein, bloß das nicht! Ohne Euch bin ich doch verloren!
Fürstin Galadriel: Das Wohl Loriens müssen wir vor unseren persönlichen Ambitionen im
Auge behalten, Clofoel der Ruhe. Das ist ein außergewöhnlicher Fall; und zwei Experten sehen
mehr als einer. Seid Ihr anderer Meinung?
Clofoel der Ruhe: Wie könnte ich, o leuchtende Fürstin!
Clofoel der Welt: Ich habe immer davon geträumt, mit Euch zu arbeiten, geschätzter Clofoel
der Ruhe. Meine Schätze an Wissen und meine Fähigkeiten stehen Euch voll und ganz zur Verfügung, und ich hoffe, sie werden nützlich sein.
Clofoel der Ruhe: Daran zweifle ich nicht, geschätzter Clofoel der Welt.
Herrin Galadriel: Also ist dies abgemacht; haltet uns auf dem Laufenden, Clofoel der Ruhe.
Was wünscht der Clofoel der Sterne dem Rat mitzuteilen?
Clofoel der Sterne: Ich wünsche nicht, Euch grundlos zu stören, o strahlende Herrscher und
geschätzte Clofoel des Rates, aber es sieht aus, als habe sich das Muster der Sterne am Himmel
heute morgen leicht verschoben. Das deutet auf eine Verschiebung des gesamten magischen
Gefüges in den Zauberwäldern hin: eine neue, sehr starke magische Kraft ist hier aufgetaucht.
Ich kann mich nur an einen ähnlichen Vorfall erinnern, als der Spiegel der Herrin hierher nach
Caras Galadhon gebracht wurde.
Herrin Galadriel: Könnten Eure Tänzer sich geirrt haben, Clofoel der Sterne?
Clofoel der Sterne: Das würde ich nur zu gerne glauben, o leuchtende Fürstin. Wir werden
heute Nacht erneut tanzen...
***
Kumai wurde schneller wieder wach, als die Elben erwartet hatten. Als er den Kopf unter
Schmerzen hob, sah er strahlend weiße Wände ohne Fenster; das kränkliche blaue Licht der
Phiole über der Gittertür schien von ihnen auf den Boden abzuperlen. Er hatte keine Kleider
an und seine rechte Hand war an das schmale Bett gekettet, das wiederum am Boden befestigt
war. Als er sich an den Kopf fasste, riss er die Hand überrascht wieder fort: er war kahl rasiert
und hatte eine lange, frische Narbe , auf die irgend etwas öliges, stinkendes geschmiert war. Er
lehnte sich langsam zurück, schloss die Augen und schluckte krampfhaft: er hatte alles verstanden und war so verängstigt wie nie zuvor in seinem Leben. Er hätte alles gegeben, wenn
er auf der Stelle hätte sterben können, bevor sie anfangen würden, aber – o weh – er hatte
nichts mehr zu geben.
„Hoch mit dir, Troll! Keine Ruhe den Ausgeburten Morgoths! Dein Weg zur Hölle ist weit, also
machen wir uns auf den Weg.“
Drei Elben – ein Mann und eine Frau in gleichen silbernen und schwarzen Mänteln und ein
herablassender Muskelprotz in einer Lederjacke. Ihr Erscheinen in der Zelle war lautlos und
von unnatürlicher Leichtigkeit, wie riesige Motten, aber irgendwie sah man, dass sie dem Troll
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an Kraft gleich waren. Die Elbenfrau sah sich den Häftling ohne große Zeremonien an und flüsterte ihrem Kumpanen etwas – offenbar obszönes – zu; der Mann verzog verächtlich das Gesicht.
„Willst du uns vielleicht irgendetwas von selbst erzählen, Troll?“
„Vielleicht will ich.“ Kumai setzte sich auf, senkte vorsichtig die Beine vom Bett und wartete,
bis die Übelkeit abgeklungen war. „Was bekomme ich denn dafür?“
„Dafür?!“ Die Unverschämtheit machte den Elb einen Moment sprachlos. „Einen leichten Tod.
Reicht dir das nicht?“
„Nein, den kann ich jederzeit haben. Ich habe ein schwaches Herz von klein auf, also bringt es
nichts, mich zu foltern; es ist vorbei, sobald es anfängt.“
Die Elbin lachte hell auf. „Du lügst wunderschön und überzeugend.“
Kumai zuckte mit den Achseln. „Probiert es ruhig. Die hohen Tiere werden euch die Hölle heiß
machen, wenn euch der Spion bei der Befragung abkratzt, oder?“
„Die hohen Tiere sind wir, Troll.“ Der Elb setzte sich auf einen Stuhl, den der Lederjackenträger gerade in die Zelle gebracht hatte. „Aber lüge ruhig weiter, wir hören mit Interesse zu.“
Worüber lügen? Er ist kein Kind und weiß, was ihm blüht. Aber er ist kein blöder Fanatiker
und verspürt nicht den geringsten Drang, für das Vaterland, seinen Eid oder ähnliche Phantome zu sterben. Wofür auch? Die Oberen schicken einen nach dem anderen in den sicheren Tod
und sitzen es in den hinteren Reihen aus, feige wie sie sind... Er wird ihnen erzählen, was er
weiß, und er weiß ziemlich viel, er hat eine Menge Sondereinsätze hinter sich – aber nicht umsonst. Versprecht ihr, ihn leben zu lassen? Das ist für euch eine Kleinigkeit. Unterirdisch für
immer gefangen, in einer Bleimine, geblendet und kastriert, aber am Leben?
„Na dann sprich, Troll. Wenn du die Wahrheit sagst und sie uns interessiert, könnten wir einen
Platz in unseren Minen für dich finden. Was denkt Ihr, Hohe Frau Eornis?“
„Sicher! Warum soll er sein Leben nicht behalten?“
Also, er heißt Wolke (damit sollte er nicht durcheinander kommen, diesen Spitznamen hatte
er wirklich als Kind – diese Hexe Sonya hatte ihm den verpasst und er war ihn erst an der Universität losgeworden), Ingenieur Zweiter Klasse, seine letzte Einheit war eine Guerillatruppe
unter... Indun (ein alter Professor, der ihnen im Vordiplom Optik beigebracht hatte). Die Basis
liegt in der Tzagan-Tzab- Schlucht in den Aschebergen (dort liegt Papas Mine, wie geschaffen
für Guerillaeinsätze, dort muss es Widerstand geben... und etwas besseres fällt mir sowieso
gerade nicht ein). Gestern... Moment, welcher Tag ist heute? Oh, natürlich, verzeiht, ihr stellt
hier die Fragen... Also, am Morgen des Zweiundzwanzigsten hatte man ihm befohlen, nach Lorien zu fliegen, so dass er nachts ankommen würde, um die Position der Lichter im Nimrodeltal auszuspähen. Er hält das ja für Unsinn, den sich das Oberkommando in seiner Verzweiflung
ausgedacht hat, das sich mit irgendeiner Art Magie herumspielen will. Nein, der Befehl kam
diesmal nicht von Indun, von irgend jemand anderem, nie zuvor gesehen den Kerl, angeblich
vom Militärgeheimdienst, nannte sich Schakal... wie er aussieht? Orozene, klein, schlitzäugig,
kleine Narbe über der linken Braue... ja, ganz sicher, die linke...
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„Ziemlich naiv, Troll. Wolke werde ich dich nicht nennen, denn der Name ist so falsch wie alles
andere, was du gesagt hast. Zwei goldene Regeln gibt es für Antworten in einem Verhör: vermeide direkte Lügen und zu viele Einzelheiten. Du hast beide gebrochen. Sag mir, Pilot des mechanischen Drachen, wie war die Windstärke und die Windrichtung an diesem Tag?
Das war es also – wer hätte gedacht, dass der Elb sich mit dem Fliegen auskennt? Allerdings
hatte Kumai in der Zeit, als er seinen Unsinn zusammen spann, seine eigene Überraschung für
seine Verhörmeister vorbereitet. Die unterwürfige Pose, die er eingenommen hatte, hatte ihm
erlaubt, die Beine unter sich anzuziehen, und nun, da er aufgeflogen war, schoss er vorwärts
wie eine gespannte Feder und versuchte, den Elb im silbern-schwarzen Mantel mit der freien
Linken zu erwischen. Er hätte es auch geschafft, wenn er nicht einen Fehler gemacht hätte: er
sah mittendrin dem Elb in die Augen.
Der Clofoel der Ruhe hielt den Lederjackenträger mit einem beleidigten Winken davon ab, sich
den plötzlich erstarrten Troll zu greifen – wozu noch? - und wandte sich mit einem spöttischen Lächeln an seine Begleiterin: „Also wie war das von wegen etwas Zeit alleine mit diesem
Exemplar verbringen, Hohe Frau Eornis? Andere Ansicht?“
„Im Gegenteil – er ist wunderbar, ein richtiges Tier!“
„Ihr nehmt es sportlich! Also schön, da Euch seine Männlichkeit so sehr gefällt, könnt Ihr ihn
behalten. Aber zunächst müssen wir ihn etwas bearbeiten, bevor er in Eurer Umarmung stirbt
– wäre ja möglich, wisst Ihr – und sein Wissen mit ihm... Das würde Euch gar nicht gefallen,
oder?“
267
Kapitel 62
„Aufwachen!“ Die Lederjacke hinter Kumais Stuhl trat ihn beiläufig in die Achillessehne, und
der Schmerz riss den Troll sofort aus einer kurzen, segensreichen Ohnmacht.
„Von wo bist du geflogen? Mit welchem Auftrag?“ Das war der Mann am Tisch. Sie arbeiteten
zusammen: einer fragte (Stunde um Stunde, immer das gleiche), der andere trat ihm von hinten in die Hacken, sobald er versuchte, aufzustehen oder vor Müdigkeit den Kopf abzulegen.
Die Tritte waren noch nicht einmal fest, aber immer auf die gleiche Stelle. Nach einem Dutzend waren die Schmerzen unerträglich, und er konnte nur noch an den nächsten unvermeidlichen Tritt denken. Kumai machte sich nichts vor: Das war noch nicht einmal das Warmlaufen. Sie hatten ihn bisher noch nicht ernsthaft bearbeitet, nur Schlaf und Wasser hatten sie
ihm entzogen.
Der Ingenieur zwang sich, nicht an das zu denken, was kommen würde, wenn ihnen klar werden würde, dass er nicht kooperieren würde. Er wollte einfach so lange wie möglich aushalten,
um Grizzly und Vielfraß Zeit zu kaufen – vielleicht würden diese Schlauköpfe die Gefahr bemerken und das Waffenkloster retten. Er hatte geistesabwesend eine Karte mit der Flugstrecke zum Nimrodel auf seinem Arbeitstisch liegen gelassen, und jetzt hoffte er, jemand würde
sie finden und mit seinem Verschwinden in Verbindung bringen. Aber woher sollen sie wissen,
dass ich lebe und bei den Elben gefangen bin statt tot? Was können sie tun, selbst wenn sie es
erraten – Dol Guldur räumen? Weiß nicht, Offenbarungen und Wunder sind Sache des Einen,
ich kann nur aushalten und hoffen...
„Aufwachen!“ Diesmal hatte der Typ hinter ihm zu hart zugeschlagen und Kumai betäubt. Als
der Ingenieur wieder zu sich kam, saß statt der Lederjacke der Elb im silbern-schwarzen Mantel am Tisch.
„Weißt du, was für ein unglaubliches Glück du hast, Troll?“
Das Zeitgefühl war ihm schon seit unglaublich langer Zeit verloren gegangen; das grelle Licht
prallte von den Wänden ab und nagte an seinen tränenden Augen, und unter den Lidern hatte
sich eine Hand voll heißer Sand gesammelt. Er drückte die Augen zu und rutschte erneut in
den Abgrund des Schlafes ab... Diesmal wurde er fast schon höflich wieder zurückgeholt, mit
einem Rütteln an der Schulter statt dem gewohnten Tritt – irgend etwas war so anders...
„Also weiter im Text: Ich weiß nicht, wer dir geraten hat, in Uniform zu fliegen, aber unsere
Anwälte – mögen sie im Ewigen Feuer brennen! - haben plötzlich entschieden, dass du damit
ein Kriegsgefangener bist und kein Spion. Und nach den Gesetzen eurer Mittelerde stehen
Kriegsgefangene unter dem Schutz des Abkommens: man kann ihn nicht zwingen, seinen Eid
zu brechen und all das...“ Der Elb grub in den Papieren auf seinem Tisch, fand die gesuchte
Stelle und deutete mit sichtlichem Missfallen auf eine Stelle. „So wie ich das verstehe, wollen
sie dich gegen jemand austauschen, also unterschreib hier und geh schlafen.“
Kumai öffnete die vertrockneten Lippen: „ Ich kann nicht schreiben.“
„Kann nicht schreiben, aber einen mechanischen Drachen fliegen? Nicht schlecht... also dann
einen Fingerabdruck.“
„Fahr zur Hölle.“
268
„Von mir aus, Bursche: Ich schreibe bloß auf, dass du die Unterschrift verweigert hast und das
war es dann. Die Papiere hätten sowieso nur deine Befehlshaber gebraucht, falls es wirklich
zum Austausch kommt. Also, du kannst gehen... Ich meine: Bringt den Häftling weg! Oh, entschuldigt, mein Herr – Sie sind jetzt ja Kriegsgefangener, kein Häftling...“
Als die Lederjacken den Ingenieur auf den Flur brachten, biss der Clofoel der Ruhe noch einmal zu: „du hast wirklich Glück, Troll. In ein paar Stunden hätte ich mich persönlich um dich
gekümmert... Warum bist du nach Lorien geflogen, hä?“
Er glaubte erst an seinen Sieg, als er das Lembas auf dem Tisch in seiner Zelle sah, und – viel
wichtiger – einen Krug eiskaltes Wasser, die Tonränder bedeckt mit einem silbrigen Netz, das
unter seinen Fingern zu großen Tropfen wurde. Das Wasser hatte einen leicht süßlichen Geruch, aber das fiel ihm nicht auf – ein Mensch, der tagelang kein Wasser hatte, kann so etwas
gar nicht bemerken.
Der Schlaf kam süß und leicht, wie nach jedem Sieg. Er roch sein Zuhause – altes Holz, Ledersessel, Papas Pfeife und irgendetwas Undefinierbares; Mama werkelte leise in der Küche,
kochte seine liebsten schwarzen Bohnen und wischte immer wieder die Tränen weg; Sonya
und Halik – ihre sorglosen Vorkriegsversionen – befragten ihn vorsichtig über seine Erlebnisse, also Leute, das war ja was, ihr werdet es nicht glauben...
Mit glücklichem Lächeln sprach er im Schlaf.
Und nicht nur das – er antwortete auf Fragen, die ihm jemand mit beruhigender, gleichmäßiger Stimme stellte.
Seine Vorgesetzten in Dol Guldur entschieden, ihn für tot zu erklären: „Er hat bei seinem letzten Flug, der mitten in der Nacht stattfand, wohl die Höhe falsch berechnet und in einen Baum
gekracht. Die Leiche und die Reste des Gleiters waren in der Nähe der Burg bisher nicht auffindbar.“ Schon am nächsten Tag versiegelte Grizzly ganz nach seinen Vorschriften die Papiere
des Ingenieurs einschließlich der Flugpläne und schickte alles ungelesen nach Minas Tirith ins
Hauptquartier von Féanor.
Sternenrat Loriens
25. Juli 3019 des Dritten Zeitalters
Clofoel der Ruhe: Ihr seht also, es geht auch ohne Folter und den gehirnzerstörenden Wahrheitstrank.
Herrin Galadriel: Ihr seid ein wahrer Meister Eurer Zunft, Clofoel der Ruhe. Was habt Ihr erfahren?
Clofoel der Ruhe: Der Pilot des Drachen heißt Kumai, er ist Ingenieur Zweiter Klasse. Wie wir
vermutet hatten, flog er von Dol Guldur hierher. Aus seinen Geschichten geht hervor, dass es in
eine wahre Schlangengrube verwandelt wurde, wo geflohene Wissenschaftler Mordors an unerhörten Waffen arbeiten, unter Aufsicht ihres Geheimdienstes. Sein eigentlicher Auftrag kam
vom Orden der Nazgúl – einen Sack mit einem ihm unbekannten magischen Gegenstand abzuwerfen, auf den 'Himmel' am Nimrodel. Ich denke, die Gegenwart dieses Gegenstandes ist es,
was der geschätzte Clofoel der Sterne und ihre Tänzerinnen gespürt haben. Meine Wachen haben das gesamte Flusstal gründlich abgesucht und nichts gefunden, also hat jemand den Sack
269
schon entfernt. Deshalb, o strahlende Herrscher – bitte versteht mich richtig – deshalb
bestehe ich darauf, dass der geschätzte Clofoel der Welt von der Ermittlung ausgeschlossen
wird.
Herrin Galadriel: Nennen wir die Dinge beim Namen, Clofoel der Ruhe. Glaubt Ihr, der Clofoel
der Welt hat sich irgendwie mit dem Feind verbündet und der Gegenstand, der abgeworfen
wurde, war für sie bestimmt?
Clofoel der Ruhe: Das habe ich nicht gesagt, o leuchtende Herrin. Aber nur die Tänzer und der
Clofoel des Fests hatten Zutritt zum 'Himmel'. Wäre das Geschenk des Trolls während des Tanzes der Feuerfliegen da gewesen, hätten sie es sicherlich gespürt, wohingegen der Clofoel der
Welt die einzige dort war, nachdem sie gegangen waren...
Herrin Galadriel: Hätten die Elben, die bei Sonnenaufgang die Phiolen einsammeln sollten,
diesen Sack aus Mordor finden können und ihn aus Unwissenheit mitnehmen können?
Clofoel der Ruhe: Sicherlich, o leuchtende Herrin, und meine Wachen ermitteln noch in diese
Richtung. Deswegen verlange ich auch nur einen zeitweisen Ausschluss des Clofoel der Welt
aus der Untersuchung des Falls des 'Sacks aus Mordor', bis dies geklärt ist, mehr nicht.
Fürst Cereborn: Ja, das scheint mir eine vernünftige Vorsichtsmaßnahme, oder nicht?
Herrin Galadriel: Ihr habt Recht wie immer, Fürst Cereborn. Aber so lange wir einen Verrat
durch einen Clofoel nicht ausschließen, warum nehmen wir nicht an, dass die Tänzer sich verschworen haben, den Sack tatsächlich gefunden haben und ihn für sich selbst weggenommen
haben? Damit wäre erklärt, warum sie die Quelle einer so außerordentlichen magischen Störung immer noch nicht gefunden haben...
Clofoel der Sterne: Wie soll ich das verstehen, o leuchtende Herrin? Klagt Ihr mich der Verschwörung an?
Fürst Cereborn: Ja, Herrin, das verstehe ich auch nicht. Eine Verschwörung der Tänzer – kann
denn so etwas Schreckliches überhaupt passieren? Mit allem, wozu sie in der Lage sind...
Herrin Galadriel: Beruhigt Euch, Fürst Cereborn, solch eine Verschwörung gibt es nicht! Ich
wollte nur ein Beispiel geben. So lange wir alle verdächtigen, sollten es auch alle sein, ohne
Ausnahme; aber jetzt sollten wir den Clofoel der Welt anhören.
Clofoel der Welt: Ich danke Euch, o leuchtende Herrin. Zunächst möchte ich den Clofoel der
Sterne entlasten, so merkwürdig das auch scheint. Sie wird beschuldigt, unfähig zu sein, eine
mächtige magische Quelle zu finden. Ich vermute allerdings, dass diese Aufgabe ähnlich sein
könnte wie die, nach dem Schnee des letzten Jahres zu suchen.
Herrin Galadriel: Könntet Ihr euch deutlicher ausdrücken, Clofoel der Welt?
Clofoel der Welt: Ich gehorche, o leuchtende Herrin! Aus irgendwelchen Gründen spricht der
geschätzte Clofoel der Ruhe immer wieder von einem magischen Objekt, das auf den 'Himmel'
abgeworfen wurde und heimlich von dort weggenommen wurde, als sei das eine unumstößliche Tatsache...
270
Clofoel der Ruhe: Es ist eine unumstößliche Tatsache, geschätzter Clofoel der Welt. Nicht nur
Ihr und ich waren bei der Befragung anwesend – mindestens drei unabhängige Zeugen haben
seine Aussage gehört.
Clofoel der Welt: Geschätzter Clofoel der Ruhe, Eure Erinnerung trügt Euch, wie Eure Neigung, überall Verschwörungen zu sehen. Der Troll hat bezeugt, einen Sack abgeworfen zu haben, dessen Inhalt er nicht kannte. Warum sucht Ihr einen festen Gegenstand? Es hätte auch
Sumpffeuer oder ähnlicher unberührbarer magischer Schmutz sein können, der einfach in der
Sonne geschmolzen ist und das Land vergiftet hat. Eigentlich wage ich es nicht, magische Verfahren vor dem geschätzten Clofoel der Sterne in Frage zu stellen.
Clofoel der Sterne: Ich halte das für durchaus wahrscheinlich, geschätzter Clofoel der Welt.
Wahrscheinlicher als eine Verschwörung der Tänzer jedenfalls.
Herrin Galadriel: Wolltet Ihr uns noch mehr im Zusammenhang mit der Untersuchung mitteilen, Clofoel der Welt?
Clofoel der Welt: Aber gewiss, o strahlende Herrscher! Der geschätzte Clofoel der Ruhe ist
überzeugt, dass Dol Guldur, von wo der Drache kam, ein Unternehmen Mordors ist, aber ich
bin zu einem anderen Schluss gekommen. Dass der Troll im Auftrag des Ordens der Nazgúl gehandelt hat, ist mit Sicherheit Unsinn – wir wissen besser als alle anderen, dass der Schwarze
Orden vernichtet ist. Aber die Geschichte dieses Kumai ist dennoch hochinteressant. Er wurde
auf den Feldern von Pelennor gefangen genommen und verrottete im Steinbruch von Mindolluin, wie gewöhnlich, als er gerettet wurde, eben weil er mechanische Drachen bauen kann.
Der Troll glaubt immer noch, der Geheimdienst seines Landes habe ihn gerettet, aber ich bin
überzeugt, dass der arme Mann beschwindelt worden ist. Königin Arwens Anhang hat allen
Grund zu glauben, dass all diese Ausbrüche aus Mindolluin von niemand Geringerem als Seiner Majestät Elessar Elbenstein eingefädelt worden sind, der Mordorer Militärtechnik sammelt. Nach Arwens Akten hat er einen besonderen, strengstens geheimen Dienst dafür eingerichtet, deren Kern die Toten sind, die er mit dem Schattenzauber wiederbelebt hat. Zu dem
Wenigen, was man über sie weiß, gehört, dass sie alle nach Raubtieren benannt sind. Geschätzter Clofoel der Ruhe, was glaubt Ihr, warum der Troll in seinem unbeholfenen Märchen
dem Mordorer Geheimagenten den Spitznamen Schakal gegeben hat? Weil einfach alle solchen
Agenten, mit denen er in Dol Guldur zu tun hatte, solche Namen hatten! Ich zweifle nicht daran, dass Aragorns Leute in Dol Guldur das Sagen haben und den Drachen hier her geschickt
haben. Und da hätte ich eine Frage an den geschätzten Clofoel der Ruhe: Worüber hat er sich
mit Aragorn zwei Stunden lang privat unterhalten, als dieser letzten Januar zu Gast in Caras
Galadhon war?
Clofoel der Ruhe: Verzeiht, aber das geschah auf Befehl der Strahlenden Herrscher!
Herrin Galadriel: Fürst Cereborn, seht Ihr jetzt, was für ein interessantes Bild man mitunter
bekommt, wenn Eure Informationen nicht von einer sondern zwei unabhängigen und nicht
allzu befreundeten Quellen kommen?
Fürst Cereborn: Ja, ja, das stimmt, aber ich bin immer noch verwirrt... Die Vorstellung, der
Clofoel der Ruhe habe mit diesen... diesen lebenden Toten zu tun – das war doch ein Scherz,
oder?
271
Herrin Galadriel: Ich hoffe sehr, dass es so ist. Unsere Hauptaufgabe ist jetzt, Dol Guldur sofort zu zerstören, bevor sie bereit sind...
Clofoel der Macht: O leuchtende Herrin, ich werde das Schlangennest niederbrennen!
Herrin Galadriel: Wenn ich mich recht erinnere, habt Ihr und Fürst Cereborn das schon einmal vor kaum drei Monaten getan... Nein, für Euch habe ich andere, dringlichere Pläne. Um Dol
Guldur werde ich mich dieses Mal selbst kümmern: Diesmal müssen wir die Mauern ein für
alle Mal einreißen – dann könnte es wirken. Außerdem würde ich nur zu gerne eines von Aragorns Viechern lebendig erwischen. Wie viele Männer halten diese falsche Festung, Clofoel der
Ruhe?
Clofoel der Ruhe: Ein paar Dutzend, o leuchtende Herrin, ich kann das nachprüfen...
Herrin Galadriel: Das ist unnötig. Gebt mir eintausend Krieger, Clofoel der Macht, ich breche
sofort auf. Was euch andere angeht... der Clofoel der Ruhe und der Clofoel der Welt sollen ihre
gemeinsame Untersuchung fortsetzen, ich halte die Ergebnisse ihrer Zusammenarbeit für ausgezeichnet, weiter so. Die Tänzer und der Clofoel der Sterne sollen weiterhin nach dem magischen Gegenstand suchen, der über Caras Galadhon abgeworfen wurde, aber nur zusammen
mit den Wachen, nicht dass der Finder entscheidet, dass er seine magischen Eigenschaften alleine erkunden will. Was Euch angeht, Clofoel der Macht, werdet Ihr hier den Befehl übernehmen und über sie alle wachen: Diese Kinder brennen noch das Haus nieder, wenn Mama nicht
da ist. Der Clofoel der Ruhe sollte zum Beispiel nicht mit seiner geliebten Grenzwache Soldat
spielen, der Clofoel der Sterne sollte nicht vor meinem Spiegel herumlungern, der Clofoel der
Welt... Ihr versteht mich doch, Clofoel der Macht?
Clofoel der Macht: Was gibt es da nicht zu verstehen, o leuchtende Herrin? Ich kenne diese
ränkeschmiedenden Sorgenkinder wie meinen Handrücken!
Fürst Cereborn: Und ich, Herrin?
Herrin Galadriel: Ihr, Fürst Cereborn, sollt Loriens oberste Macht darstellen, wie immer:
Zeigt Euch dem Volk, unterzeichnet königliche Erlasse, und so weiter...
272
Kapitel 63
Finsterwald, südlich von Dol Guldur
31. Juli 3019
Der Regen schien endlos. Wie im Herbst hing die Feuchtigkeit seit drei Tagen in der Luft; wenn
es donnerte, schien es, die Götter träten zum Spaß Wasser aus einer riesigen Matratze, die fast
bis auf die Erde hinab hing. In diesen drei Tagen war aus dem kleinen Bach, auf den Grizzly
und seine Truppe gestoßen waren, ein reißender Fluss geworden, der sogar Steine mit sich
führte. Sechs Mann waren dabei, eine Hängebrücke aus Seilen zu fabrizieren, um die Schwerverletzten herüber zu bringen, der Rest der Soldaten stand bewegungslos am Ufer. Kalte Sturzbäche liefen ihnen über die müden Gesichter, machte Eispackungen aus den verschwitzten
Kleidern und nagte beständig an den Resten ihres Kampfgeistes. Auf der Flucht, still stehend
und Eiseskälte – eine wirklich gewinnbringende Mischung.
Grizzly betrachtete das tropfende Seil, an dem der erste hilflose Verletzte in einem Trageharnisch hing, dann auf die Furt, wo die Reiter mit der Strömung des kaffeebraunen Wassers zu
kämpfen hatten, und biss wieder einmal hilflos die Zähne zusammen. Verdammtes Glück – er
hatte nicht erwartet, dass das Überqueren dieses Bachs fast eine Stunde dauern würde, nicht
mit den Elben im Nacken. Der Hauptteil seiner Leute kämpfte wohl noch in Dol Guldur, mit
dem einzigen Ziel, die Hauptstreitmacht der Elbenarmee zu beschäftigen, die vorgestern über
den Finsterwald hergefallen war. Grizzly hatte es wie durch ein Wunder fertiggebracht, aus
der sich zuziehenden Schlinge der Belagerer mit einem Tross Wissenschaftler aus Mordor und
Isengard herauszuschlüpfen und zog jetzt mit aller Eile die Südstraße entlang, um die Jagdtrupps der Elben von Vielfraß fernzuhalten, der alleine mit Papieren auf der Flucht war – dem
Teil der Archive, die sie noch nicht hinunter geschickt hatten.
Grizzlys ganzer Plan hing davon ab, dass die Elben nur einen kleinen Trupp hinter ihnen her
geschickt hatten, den sie sich mit Hilfe der Truppen Aragorns, die in den Braunen Landen an
der Straße gegen die echten Mordorer standen, vom Hals schaffen konnten. Das hatte auch geklappt, bis sie an diesen verdammten Fluss gekommen waren... Zeit, die Zeit ging ihnen aus!
Grizzly stand in Deckung hinter dem bemoosten Stumpf einer Finsterwaldfichte und erwartete jede Sekunde, Schatten in graugrünen Tarnmänteln zwischen den Bäumen umher huschen
zu sehen.Obwohl er vermutlich nichts sehen würde – seine letzte Wahrnehmung wäre vermutlich das kurze Pfeifen eines Elbenpfeils.
„Herr Leutnant!“ Einer seiner Adjutanten tauchte neben ihm auf. „Die eskortierten Personen
und das Personal sind alle drüben. Ihr seid dran.“
Das war schnell gegangen, beglückwünschte sich Grizzly; dann erstarrte er und sah sich den
tobenden Fluss und die trügerischen glitschigen Felsen am Ufer mit einem neuen, prüfenden
Blick an. Na wartet nur, Erstgeborene – wir kriegen unsere verlorene Zeit zurück, mit Zinsen.
„Feldwebel!“
„Jawohl, Herr Leutnant?“
„Wie viele Stahlarmbrüste haben wir?..“
Fürst Ereborn und sein Trupp erreichten den Fluss etwa eine halbe Stunde, nachdem Grizzlys
Einheit im Regen auf der anderen Seite verschwunden war. Etwa zehn Minuten verteilten sich
die Späher um die Bäume und untersuchten das andere Ufer, sahen aber nichts. Dann ging ein
273
Freiwilliger namens Edoret, das Schwert noch auf dem Rücken festgebunden, vorsichtig ins
Wasser und suchte sich einen Weg zwischen Stromschnellen und Felsbrocken, jederzeit auf
einen Schuss gefasst. Als das Wasser ihm bis zu den Oberschenkeln ging, riss es ihn von den
Beinen, aber der Elf konnte schwimmen wie ein Otter; er kam glücklich zwischen den Felsen
durch und erreichte bald einen ruhigen Flecken am anderen Ufer, wo große Haufen gelblichen
Schaums zwischen den Zweigen fast untergegangener Weiden hingen, vermischt mit Gras und
Trümmern. Edoret stieg aus dem Wasser, winkte seinen Kameraden und hielt still, während er
versuchte, den besten Weg durch die Felsen zu bestimmen, ohne sich den Hals zu brechen. Die
Späher atmeten durch und senkten die Bögen – es schien sicher. Das Gefechtshandbuch jeder
Armee jeder Welt sieht vor, dass ein Späher Zeit bekommt, die Lage sicher einzuschätzen, aber
Ereborn hatte es eilig, seine Beute noch vor der Dunkelheit zu erlegen und entschied sich, auf
die Vorschriften zu pfeifen. Fünf Elben folgten Edoret auf sein Zeichen.
Als sie etwa knietief im Wasser standen, ertönte der laute Pfiff einer Blaumeise, und auf dieses
Zeichen schlug eine Armbrustsalve von der anderen Seite ein. Drei Elben waren sofort tot oder
schwerst verletzt, ersäuft und vom Strom weggerissen, der vierte schaffte es trotz einer zerschlagenen Schulter aus dem Wasser und zurück unter die Bäume. Den fünften erwischte es
am schlimmsten – der Bolzen traf ihn in den Eingeweiden und blieb im Rückgrat stecken, so
dass er an der Wasserkante liegenblieb. Für Edoret, der jetzt auf der Feindesseite festsaß, schien die Zeit still zu stehen: der Späher hatte einen Augenblick, um die Schützen, die sich auf
dem Abhang eingegraben hatten, zu entdecken, schaffte es sogar, sie zu zählen (sechs) und
nüchtern die Zeit zu berechnen, die er brauchen würde, sein Schwert loszumachen und zum
Nahkampf überzugehen. Dann traf er die einzig richtige Entscheidung: er sprang ins Wasser
und ließ sich vom Strom forttragen. Der Bolzen, der hinter ihm entlang zischte, streifte nur
einen vom Wasser glatt polierten Felsen und hinterließ eine weißliche, nach verbranntem
Huhn riechende Narbe, die aber im Regen schnell verschwand.
Fürst Ereborn war das, was man einen jungen Mann aus gutem Hause nennt; er war weder ein
begabter Kommandant noch ein im Blut abgehärteter Krieger. Was er hatte, war jede Menge
ruhmsüchtige Waghalsigkeit – eine gefährliche Mischung. Als er sah, dass es nur eine kleine
Schützentruppe war, die den Rückzug der Hauptstreitmacht deckte und nicht die Nachhut der
Hauptgruppe selbst, entschloss er sich, alles auf die Hauptschwäche der Armbrüste zu setzen
– die im Vergleich zu einem Bogen lange Ladezeit, zwei Schuss pro Minute gegen vierundzwanzig – und befahl den Sturmangriff. Das Familienschwert, die Drachenklaue, hoch erhoben
stieß Ereborn zwei mal ins Horn und watete unter beträchtlichem Spritzen in den Strom. Er
trug eine Rüstung aus dem berüchtigten Gondoliner Schwammstahl, fast so stark wie Mithril,
also fürchtete er die Pfeile vom anderen Ufer nicht.
Kurze Zeit später bemerkte er den Unterschied zwischen den Angmarer Jagdarbalesten, die er
kannte, und den neu entwickelten Stahlarmbrüsten, die an der Sehne zwölfhundert Pfund
Druck liefern. Der drei Unzen schwere panzerbrechende Bolzen traf Ereborn rechts unter den
Brustkasten mit achtzig Schritt in der Sekunde; die Nähte der Gondolinrüstung hielten bewundernswerter Weise stand, aber ein Halbtonnenschlag in die Leber haut jeden um.Das blutleere
Gesicht unter dem silbernen Helm war noch kurz zwischen den Stromschnellen zu sehen,
dann wurde auch der flatternde Mantel nach unten gezogen und verschwand für immer – die
alte Rüstung war zu Ballast geworden. Der junge Gepanzerte, der zur Rettung herbeieilte, bekam einen Bolzen direkt zwischen die Augen, und der Angriff war abgeblasen.
Menschen, egal, ob die wilden Haradrim, die Reiter Rohans oder die Seesoldaten Umbars, hätten einfach ihre überlegene Anzahl ausgenutzt, um die verdammte Furt über ihre Leichen hin274
weg zu stürmen und die wenigen Verteidiger in ein, zwei Minuten auszuschalten. Nicht so die
Elben – das Leben eines Erstgeborenen ist zu kostbar, um es einfach so am Ufer irgendeines
Flusses im Finsterwald zu opfern. Sie sind nur zum Jagen gekommen (auch wenn die Beute
sehr gefährlich ist) und nicht, um Krieg zu führen; mit dieser Einstellung ist es schwer, eine
Burgmauer zu stürmen oder unter Feuer eine Furt zu überqueren. Also sammelten die Elben
ihre Toten und Verletzten ein, zogen sich in die Deckung der Bäume zurück und überschütteten den Feind mit Pfeilen. Recht bald zeigte sich, dass auch der Schützenkampf wenig Erfolg
hatte, zumindest für die Erstgeborenen. Der Regen war schuld: die Bogensehnen der Elben
waren hoffnungslos durchnässt und die Pfeile fielen harmlos, außerdem war es fast unmöglich, anständig zu zielen. Inzwischen traf ein Bolzen nach dem anderen ins Ziel - wahrhaftig
Geräte Morgoths!
Die Elben mussten sich weiter in den Wald zurückziehen und hinterließen nur ein paar gut getarnte Späher am Flussufer. Herr Taranquil, Ereborns Stellvertreter, zählte die Leichen, die
man in einer Reihe hingelegt hatte und über denen schon die schwarzen Schmetterlinge wie
aus dem Nichts auftauchten (nicht mal der Regen konnte das verhindern!), dachte an die vier,
die der Fluss weggespült hatte, knirschte mit den Zähnen und schwor sich beim Thron der
Valar, dass diese Armbrustschützen, Orks oder was immer, dafür teuer bezahlen würden, und
zum Henker mit dem Befehl der Herrin, Gefangene zu machen. Die Späher, die er los geschickt
hatte, kamen bald mit schlechten Nachrichten wieder – nicht besser als alles, was in der vergangenen Stunde passiert war. Auf beiden Seiten war der Weg durch gestürzte Bäume versperrt – das Reich der Riesenameisen – und das, so weit das Auge reichte. Die Dickichte reichten sowohl flussaufwärts wie auch flussabwärts bis ans Wasser, und damit war Taranquils
Idee, Kräfte flussaufwärts und flussabwärts zu schicken, um die Verteidiger zu zwingen, sich
zu verteilen, zum Scheitern verurteilt. „Wenn ich zurückgehen und das Dickicht umgehen
wollte – wie weit wäre das?“ „Das weiß ich nicht, Herr! Soll ich es prüfen?“ „Nein!“ Dafür war
keine Zeit mehr – es war schon zu viel verstrichen und die Nacht kam. Es gab keinen anderen
Weg vorwärts als den Sturmangriff.
Das muss aber nicht auf ein kopfloses Voranstürmen hinauslaufen. Herr Taranquil hatte viel
mehr Felderfahrung als sein Vorgänger und hatte nicht den Wunsch, den Fluss als Zielscheibe
zu überqueren. Seine Leute krochen bis an die Bäume an der Furt, und dann begann der
Schützenkampf erneut. Aber dieses Mal hatten die Elben Zeit gehabt, die Bogensehnen zu
wechseln, und der Regen hatte nachgelassen. Nun flogen ihre Pfeile richtig, und die Elben, die
zweifellos besten Bogenschützen Mittelerdes, konnten zeigen, wozu sie in der Lage waren. Die
Armbrustschützen Mordors schossen im Liegen hinter Felsen hervor, also konnte man ihre
Leichen nicht von dieser Seite aus sehen, Aber Taranquil war sich sicher, dass sie nur noch
zwei von sechs waren. Erst nachdem er seinen Vorteil in der Feuerdichte auf das größtmögliche ausgenutzt hatte, befahl er den erneuten Angriff. Die andere Seite reagierte mit einer ausgezogenen und ungenauen Salve – aber wieder von allen sechs Armbrüsten! Waren das Listen
Morgoths? Hatten sie Verstärkung bekommen?
275
Kapitel 64
Plötzlich hörten die Armbrüste auf zu schießen und ein Stück Stoff an einem Ast wurde über
den Felsen geschwenkt. Die Schützen der Elben hatten schon fünf Löcher hinein geschossen,
bis Taranquil reagieren konnte und einen Befehl brüllte: „Feuer einstellen!“ gefolgt von einem
leiseren „Zumindest im Moment. Ergeben sie sich? Schön, schön...“ Der Fetzen wurde noch
kurz weiter geschwenkt, dann erblickten die verblüfften Elben ihren Späher Edoret, wohl und
munter, mit dem Schwert in der Hand. „Ihr könnt jetzt herüber!“
„...Wo ist der Rest?“ fragte Taranquil, nachdem er sich die natürlich gewachsene Festung angesehen hatte. Sechs Armbrüste lagen in den Spalten zwischen den Felsen, aber nur zwei Leichen in Mordorer Uniform. Keine Abzeichen, und keiner von beiden ein Ork, einer mit einem
Pfeil im Auge, der andere hatte nur noch einen halben Kopf wegen Edorets Schwert.
„Weiß ich nicht, Herr,“ antwortete der Späher, legte die Flasche weg, die ihm einer seiner Kameraden zugesteckt hatte und erzählte sichtbar verärgert seine Legende zu Ende, wie er, ohne
Zweifel beschützt von Ulmo und Oromë selbst, dreihundert Schritt den Fluss abwärts ans
feindliche Ufer gegangen war, sich durch den Wald geschlichen und den Feind von hinten angegriffen hatte. „Erst waren sie sechs. Aber als ich dieses Nest erreicht hatte, saß nur noch ein
Vogel darin,“ Edoret nickte der Leiche mit dem halben Kopf zu, „der der reihe nach alle Armbrüste abschoss. Die anderen sind wohl abgezogen, Herr – sie hatten fast keine Pfeile mehr.
Sollen wir die Verfolgung aufnehmen?“
Als der Reiter von der Furt Grizzlys Trupp einholte (das war die neue Art von Belohnung für
den ersten Verletzten – die Nachricht sofort weiter zu tragen), hielten sie gerade eine kurze
Rast in einem Heidekrautfeld, wie sie so oft am Rande des Finsterwalds in den Braunen Landen vorkommen. Der Leutnant hörte sich den Bericht schweigend an, und sein Gesicht zeigte
zum ersten Mal seit drei Tagen wieder eine Regung – bis jetzt verlief alles nach Plan. Also hatten die Elben nicht mehr als hundert Jäger hinter ihnen her geschickt, der Rest steckte in Dol
Guldur fest, abzüglich derer, die die Armbrustschützen an der verdammten Furt erwischt hatten. Gewinn und Verlust waren hier schwer abzuschätzen. Die Hauptsache ist, dass meine
Jungs nur noch ein paar Stunden durchhalten müssen (und das werden sie bestimmt), dann
vereinigen wir uns heute Nacht mit den Truppen Seiner Majestät: die Botschaften müssen
längst eingetroffen sein, und wahrscheinlich sind sie schon auf einem Gewaltmarsch zu unserer Rettung. Hütet euch, Erstgeborene! Haben wir es tatsächlich geschafft?
Wo sollen wir das neue Waffenkloster wohl einrichten – vielleicht wirklich in Mordor? Ach,
was rede ich da – sobald die Armee Gondors sich einmischt, wird auch der Letzte dieser
Schlaumeier begreifen. Ist vielleicht auch besser so – wo sollten sie denn auch hin? Leute, ihr
habt die ganze Zeit für den Feind gearbeitet – sollen wir euch an den Widerstand übergeben
und ein paar angemessene Erklärungen dazu? Nein? Sie werden sicher an den Vergeltungswaffen weiterarbeiten. Aber das ist Zukunftsmusik, im Moment muss ich nur alle Mann heil
und gesund abliefern, der Rest ist Sache des Oberkommandos. Wer hätte gedacht, dass all diese Jageddins und so mal der größte Schatz der Krone werden würden? Und wir werden auch
nicht arbeitslos werden – auf die Jungs muss man gut aufpassen.
Man stelle sich vor, sie haben aus diesen blöden 'Flugtropfen' eine richtige Waffe gemacht.
Dass man die Zielgenauigkeit verbessern würde, wenn man sie dazu bringen würde, sich im
Flug zu drehen wie ein Pfeil, war ja klar. Aber wie bringt man die verdammten Dinger dazu?
Sie hatten es mit Spiralflügeln wie beim Pfeilmachen versucht – kompletter Fehlschlag. Dann
276
war jemandem ein 'Feuerrad' eingefallen – eine Sorte Feuerwerk aus Barad-Dur – ein leichter
Ring auf einer Achse, gedreht von Pulverladungen, die tangential angebracht sind. Dieses
Spielzeug haben sie eingebaut, indem sie ein paar Kanäle durch die Seiten des Behälters gebohrt haben, dort wo das Feuer austritt, und das Ding drehte sich wie von Zauberhand.
Die Beschreibung dieser speziellen Erfindung trägt Vielfraß jetzt im Rucksack auf der Flucht
durch den Finsterwald. Das ist ein alter Hut für ihn, er ist im Wald zu Hause, das schafft er
schon. Sobald er das Boot und den Nahrungsvorrat im Schilf findet, hat er es hinter sich. Der
Weg nach Minas Tirith ist weit und er wird nur nachts segeln können, aber Eile bringt in diesem Fall gar nichts. Selbst wenn wir es nicht schaffen, bekommt Seine Majestät doch eine fabelhafte neue Waffe überreicht!
Ein Wachposten unterbrach seine Gedankengänge „Herr Leutnant! Reiter voraus, in vollem
Galopp!“
Als der Leutnant erkannte, wer da bei der Vorhut vom Pferd gestiegen war, traute er zunächst
seinen Augen nicht, dann kam ihm ein absolut nicht vorschriftsgemäßes Grinsen ins Gesicht:
Der Alte war selbst mit der Hilfe gekommen, statt einen anderem zu vertrauen – richtig väterlich der Truppe gegenüber!
„Heil, Hauptmann!“
„Steht bequem, Leutnant,“ salutierte Gepard höflich. Sowohl sein grauer Mantel (vielleicht einer von denen, die sie auf dem Feld von Pelennor getragen hatten?) als auch sein erschöpftes
Pferd waren voll Straßendreck. „Richtet einen Verteidigungsring ein – die Elben sind in einer
Viertelstunde da.“
„Wie viele?“
„Gut zweihundert. Sie sind vorgestern in die Braunen Lande vorgestoßen, haben die Straße genommen und kommen euch nun entgegen.“
„Verstehe,“ murmelte Grizzly und erinnerte sich plötzlich deutlich an seinen Augenblick der
Entspannung vor zehn Minuten: haben wir es wirklich geschafft? Hätte auf Holz klopfen sollen
– zum Beispiel meinem Dummkopf.
„Hauptmann, Sie sehen, wie viele Männer ich habe... wir halten nicht durch, bis der Entsatz
eintrifft.“
„Welcher Entsatz, Leutnant? Es gibt keinen Entsatz.“
„Aber Sie...,“ mehr brachte Grizzly nicht heraus.
„Ich bin hier, wie sie sehen.“ Der Hauptmann zuckte die Achseln und sah dabei einen Moment
aus wie ein Zivilist.
„Man hat uns also einfach fallen gelassen?“
„Aber, aber, Leutnant – fallen gelassen?“ Gepard verzog spöttisch das Gesicht. „Nicht 'fallen gelassen', sondern 'zum Höchsten Wohl des Staats geopfert'. Ungefähr so wie Sie es mit den Ver277
teidigern von Dol Guldur gemacht haben – die Wenigen für das Wohl der Vielen geopfert,
richtig? Um es kurz zu machen – Minas Tirith hat entschieden, es sei nicht der richtige Zeitpunkt, den Elben 'Spitze gegen Spitze' gegenüber zu treten, also wurden alle unsere Streitkräfte und ihre Versorgungsstrukturen von der Hochstraße abgezogen. Dol Guldur? Welches
Dol Guldur? Nie davon gehört.“
„Das klingt nicht so, als seien sie von dieser Entscheidung begeistert gewesen, Herr Hauptmann.“
„Ich bin hier, wie sie sehen,“ wiederholte der Oberste der Einsatzgruppe Féanor freimütig.
„Unser Dienst gestattet nicht den Luxus eines Rücktritts...“
„Elben!“ kam ein Schrei von vorne, nicht einmal verängstigt, sondern voll Hoffnungslosigkeit.
„Keine Panik!“ brüllte Gepard, sprang in den Sattel, stand in den Steigbügeln, hob ein schmales
Elbenschwert zum vollkommen zugezogenen Himmel (ja, genau das vom Feld von Pelennor!)
und befahl: „Quadratformation, Leutnant! Reiter nach rechts!“
Vielleicht hatte er noch etwas hinzu gefügt, etwas angemessen historisches, wie „Esel und
Wissenschaftler in die Mitte!“, wie es über den Dünen einer benachbarten Welt unter ähnlichen Umständen gerufen worden war. Aber sei es wie es sei, diese Worte schafften es nicht
mehr in die Geschichtslehrbücher von Mittelerde: die heranziehenden Elben waren zu weit
weg, um es zu hören, und von denen, die sich daraufhin neben Gepard zur Verteidigung aufstellten, sollte keiner mehr den Morgen des ersten August erleben. So sagt man.
278
Kapitel 65
Lorien, Caras Galadhon
1. August 3019
Sie haben sich im Morgengrauen im Blauen Saal des Palasts von Galadhon versammelt, auf das
Drängen des Clofoel der Sterne. Der Morgen fühlte sich an wie der Herbst: hart und kalt wie
das Wasser einer Waldquelle. Das Frösteln, das Eornis verspürte (und vor allen verbarg) könnte daher kommen; zumindest wollte sie das glauben. Was hatte die Meisterin der Sterne vor?
Großer Eru, wenn ihre Tänzer nun den Palantír gefunden haben? Nein, unmöglich, aber wenn
sie nun herausgefunden haben, wo er ist? Und für das größte ungelöste Problem – heute Mittag an den Spiegel zu kommen, der von den Männern des Clofoel der Macht streng bewacht
wird – hat sie immer noch keine Lösung.
In der letzten Woche war allen klar geworden, dass sie nach einem festen Gegenstand suchen
mussten. Die Möglichkeit von Sumpffeuer oder einer anderen magischen Emanation, die der
Clofoel der Welt vorgeschlagen hatte, war gründlich überprüft und ausgeschlossen worden,
also begann eine methodische Suche. Wenn man sagt, dass die Tänzer des Clofoel der Sterne
Magie 'aus wittern', ist die Metapher ziemlich zutreffend: sie arbeiten wie Spürhunde. In den
letzten Tagen waren die Mädchen durch Caras Galadhon gestreift, in tiefer Trance, und hatten
mit ausgestreckten Händen durch die Luft gefühlt, als wollten sie einen Vogel aufspüren, der
sich im Laub versteckt hielt oder als spielten sie Topf schlagen. Bis jetzt war es 'kalt' geblieben
– das magische Objekt war nah, aber außer Reichweite. So hatte Eornis es erwartet: die Wachen des Clofoel der Ruhe mit ihren banalen Polizeimethoden hatten ihr viel mehr Sorgen bereitet als die Magie der Tänzer.
Die Gefahr für den Clofoel der Welt kam von gänzlich unerwarteter Seite. Der Clofoel der
Macht, dem die Befehlsgewalt während des Zugs der Herrin in den Finsterwald übergeben
worden war, (das alte Schlachtross, das noch nie seine eigenen Spielchen gespielt hatte, war
das einzige vertrauenswürdige Ratsmitglied) hatte seine Pflicht mit Übereifer getan. Unter anderem hatten seine Untergebenen die Palastwache von Galadhon ersetzt, und eines schönen
Morgens bemerkten die erstaunten Clofoel, dass sie den Blauen Saal nicht betreten konnten,
um eine Sitzung abzuhalten. Jeder Versuch, die neuen Wachen zu überzeugen, scheiterte an ihrem unbeeindruckten „gegen unseren Befehl!“ Natürlich war dieses Missverständnis sofort
beseitigt worden, aber jetzt hatten alle begriffen, dass der Clofoel der Macht die Regeln jetzt
auf seine Art auslegen würde, bis die Herrin zurück war. Da die Herrin dem Clofoel der Sterne
direkt den Zugang zum Spiegel verboten hatte, so lange sie weg war (was eine sehr sinnvolle
Vorsichtsmaßnahme war), hatte er einfach allen Clofoel den Zutritt zum Turm des Mondes, wo
der magische Kristall aufbewahrt wurde, versperrt - „eine gute Sache kann man nicht übertreiben.“ Sollte sie dieses Hindernis nicht in den paar verbleibenden Stunden überwinden,
wird ihre sorgfältige Planung umsonst gewesen sein, und Eloar rettungslos verloren...
„Nun, wie geht Eure Suche voran, geschätzter Clofoel der Sterne?“ fragte Eornis mit höflicher
Leidenschaftslosigkeit, als sie ihre Plätze am Ratstisch eingenommen hatten.
„Nicht gut. Ich habe euch alle hier zusammen gerufen, weil etwas viel schlimmeres geschehen
ist...“
Eornis sah die Meisterin der magischen Kräfte von Lorien voll Erstaunen an – die Frau sah
wirklich krank aus und ihre Stimme klang seltsam leblos. Das sieht ja wirklich ernst aus, oder?
„Ich will mich nicht mit einer genauen Beschreibung unserer magischen Rituale aufhalten, geschätzte Clofoel des Rates und Euch, o strahlender Fürst – wir haben zu wenig Zeit...vielleicht
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überhaupt keine Zeit mehr. Seit einer Woche schon spüren ich und die Tänzer ein seltsames
Beben im magischen Feld des Spiegels. Es begann als leichtes Zittern, dann wurden es richtige
Krämpfe, und seit gestern haben die Krämpfe einen endgültigen und äußerst unangenehmen
Rhythmus angenommen... Spürt denn keiner von euch irgend etwas?“
Der Clofoel der Erinnerung durchbrach plötzlich die aufkommende Stille: „Ich spüre es!“
Schwer zu sagen, was den Rat mehr schockierte – der Bericht des Clofoel der Sterne oder dieser unerhörte Bruch des Protokolls. Formell waren alle Clofoel gleichgestellt, aber noch nie
hatte es einer der geringeren – all die Palastbibliothekare, Krankenpfleger und Zeremonienmeister – es gewagt, die Diskussionen der Herrschenden und der Großen Vier zu unterbrechen. „Es ist genau, wie Ihr beschreibt, o geehrter Clofoel der Sterne! Aber ich dachte nicht,
dass der Spiegel das verursacht...“
Woher auch, du verängstigtes Mäuschen, dachte Eornis abschätzig. Was kennst du denn schon
außer deinen verstaubten Schriftrollen von Beleriand und dummen Sagen? Aber ich – wieso
habe ich diese Schwingungen nicht mit dem Spiegel in Verbindung gebracht? Deshalb das
Frösteln... Die Frage ist – erkenne ich das an und unterstütze die Sternenschlampe damit? Ja,
und ich sollte sogar noch weiter gehen.
„Ich denke, der geehrte Clofoel der Erinnerung hat gewaltigen Mut bewiesen, indem er offen
ausgesprochen hat, was wir alle spüren, aber fürchten, offen zuzugeben. Wir alle spüren eine
große, unbegründete Angst, nicht wahr?“
„Vielleicht spüren ein paar Mädchen starke, grundlose Angst, aber ich fürchte mich vor keinem
verdammten Ding, Clofoel der Welt! Also rennt nicht herum und behauptet...“
„Danke, geehrter Clofoel der Macht, wir haben Eure Meinung mit einbezogen. So wie ich es
sehe, sind die anderen Ratsmitglieder der Ansicht, die der geschätzte Clofoel der Welt ausgesprochen hat.“ Der Clofoel der Sterne verbeugte sich leicht vor Eornis. „Aber diese Angst ist
nicht unbegründet. Der Punkt ist, dass der Spiegel... wie soll ich das erklären... irgendwie lebt.
Der pulsierende Rhythmus, den er jetzt erzeugt, ist in der Magie wohlbekannt: es ist der
Rhythmus von Geburtswehen, aber umgekehrt. Es ist fürchterlich. Der Spiegel ahnt seine Vernichtung voraus und die unserer Welt mit ihm... Er ahnt es und versucht, uns das zu sagen,
versteht ihr? Und die Sterne über Lorien scheinen verrückt zu spielen...“
Der Clofoel der Ruhe lehnte sich vor: „Könnte das mit dem magischen Gegenstand zu tun haben, den Eure Tänzer nicht finden können?“
„Ja, das ist möglich,“ nickte der Clofoel der Sterne düster. Offenbar ging es ihr zu schlecht, um
diese Idee weiter zu verfolgen und verzichtete sogar auf eine angemessene Bemerkung, dass
die Wachen ebenso versagt hatten.
„Augenblick, was heißt das – Vernichtung unserer Welt?“ Das war Fürst Cereborn. Man glaubt
es nicht – der Mann wacht tatsächlich auf!
„Buchstäblich das, o strahlender Fürst – in einem Moment ist sie da, im nächsten nicht mehr,
und wir ebenso.“
„Dann tut etwas! Clofoel der Sterne! Ihr auch, Clofoel der Ruhe! Ich... Ich befehle es als Euer
Fürst!“
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Was täten wir nur ohne Eure Befehle, werter Lehnsherr – dieser Gedanke stand den Großen
Vier deutlich ins Gesicht geschrieben. Der Clofoel der Sterne tauschte Blicke mit den Clofoel
der Ruhe und der Welt, verweilte etwas beim Clofoel der Macht und stotterte schließlich:
„Erst, o strahlender Fürst, muss ich sofort einen Blick auf den Spiegel werfen, unverzüglich.“
„Ja, sicher! Geht sofort!“
Das ist mein Ende, dachte der Clofoel der Welt abgehoben und betrachtete das Spiel der grünen Schattierungen in ihrem Smaragdring. Dagegen kann ich keine Einwände erheben – sie
hat ihr Blatt richtig ausgespielt und der ganze Rat, auch dieser tattrige Narr, steht auf ihrer
Seite...
Da allerdings erhob sich eine Gestalt in glänzender Rüstung, die in Größe und Detailtreue den
Steinfiguren, die den unteren Anduin bewachen, ähnelte, über den Tisch. Während Eornis sich
abwesend fragte, ob der Clofoel der Macht Helm und Mithrilhemd eigentlich auch mal ablegte
(zum Liebesspiel beispielsweise), informierte er sie bezüglich seiner Ansichten über Feiglinge
und Bürgerliche – was für ihn auf dasselbe hinausläuft! - in direkter Soldatenart. Er jedenfalls
spüre keine komischen Schwingungen, und woher sollten denn der Clofoel der Sterne und ihre
Tanzmädchen diese Wehenschmerzen erkennen? Sollten sie nicht eigentlich alles Jungfrauen
sein? Jedenfalls habe er direkten Befehl der Herrin, den Clofoel der Sterne vom Spiegel fernzuhalten, und jede Zuwiderhandlung fasse er als Rebellion auf, mit allen Folgen... Ja, und was
habt Ihr denn gedacht, o strahlender Fürst?!
„Ja, ja,“ mümmelte der Fürst von Lorien (der den unentrinnbaren Zorn der Herrin offensichtlich noch mehr fürchtete als jeden drohenden Weltuntergang), „warten wir damit lieber , bis
sie von Dol Guldur zurück ist...“
„Kommt endlich zur Vernunft, Fürst!“ Eornis konnte den Clofoel der Erinnerung nur noch erstaunt anstarren – die arme Frau musste vollkommen den Bezug zur Wirklichkeit verloren haben, dass sie dermaßen undenkbare Worte ausstieß. „Unsere Welt stürzt in den Abgrund, die
einzige, die das verhindern kann, ist der Clofoel der Sterne, und dieser helmtragende Idiot besteht auf einem Befehl, der vor Ewigkeiten gegeben wurde! Na ja, was kann man schon erwarten von einem Mann, der einen Bronzeklumpen als Gehirn hat, aber ihr anderen – Allmächtiger Eru, seid ihr nicht einmal jetzt in der Lage, eure Spielchen zu lassen, wo unsere Vernichtung droht?!“
Plötzlich war Eornis klar, dass die verängstigte Büchermaus nur das aussprach, was das ganze
Dutzend geringerer Clofoel dachte. Und nicht nur sie, wie sich im nächsten Moment erwies, als
der wütende Clofoel der Macht seinen Stuhl wegstieß – denn der Clofoel der Ruhe kam um den
Tisch auf ihn zu, leise wie ein Tiger, die Hand am Schwertgriff und ein Lächeln auf dem Lippen,
vor dem das Ewige Feuer eingefroren wäre.
„Ihr habt von Rebellion gesprochen, werter Clofoel der Macht... das ist aber ein interessanter
Gedanke, nicht wahr, o strahlender Fürst?“
„He, ihr...ihr beide...“ mümmelte der Fürst und versuchte, sich in seinem Sessel zu verkriechen.
Die geringeren Clofoel hatten sich schon an die Wände gedrückt, und...
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„Halt!!“ Plötzlich kam dem Clofoel der Welt wie ein Blitz die Lösung all ihrer Probleme. All die
Teile, die sie nicht sinnvoll hatte zusammen setzen können, passten nun auf eine einzige Art
zusammen. „Ich rede mit Euch, Clofoel der Macht!“
Vermutlich hätte er auf niemand anderen gehört, aber in den letzten paar Jahren voll Intrigen
war sie immer auf Seiten der Fürstin gewesen, und das brachte ihr etwas Einfluss bei ihm.
„Die leuchtende Fürstin sagte doch – im Vorbeigehen und halb im Scherz – dass der Clofoel der
Sterne nicht vor ihrem Spiegel herumlungern solle. Aber den Zugang der anderen Clofoel zum
Kristall hat sie nicht eingeschränkt. Da stimmt Ihr zu, geehrter Clofoel der Macht?“
„Nun, das ist wahr...“
„Seht ihr? Dann ist es doch ganz einfach: Auf Beschluss des Rates werde ich auf den Turm des
Mondes steigen. Natürlich können sich meine magischen Fähigkeiten nicht im geringsten mit
der Gabe des geehrten Clofoel der Sterne messen, aber wenigstens kann ich ihr einen vollständigen Bericht über den Zustand des Spiegels geben.“
Der Clofoel der Sterne schüttelte den Kopf. „Geehrter Clofoel der Welt, habt Ihr überhaupt eine
Vorstellung davon, wie gefährlich es ist, in den Spiegel zu sehen, wenn man nicht von meiner
magischen Gabe geschützt wird, wie Ihr es genannt habt?“
„Ich habe nicht die Absicht, in den Spiegel zu sehen – so weit geht meine Selbstlosigkeit nicht,“
lachte Eornis. „So weit ich weiß, verwendet die leuchtende Fürstin Loriens menschliche Besucher zu diesem Zweck; früher oder später sterben sie sowieso. Wir haben doch einen zur Verfügung – diesen fliegenden Troll. Ihr habt ihn doch noch nicht liquidiert, oder, geehrter Clofoel
der Ruhe?“
„Nein, noch nicht. Allerdings müssen wir ihn erst wieder auf die Beine bringen; als der arme
Tropf seine Aussage gelesen hatte, ist er vollkommen zusammengebrochen – erst hat er versucht, sich umzubringen, dann ist er katatonisch geworden.“
„Das hindert uns nicht. Also – übergebt ihr mir den Troll noch vor Mittag?“
„Einverstanden. Aber, geehrter Clofoel der Welt, ich mache mir etwas Sorgen um Eure Sicherheit. Ein Troll ist ein Troll – wild und unberechenbar. Wir drei steigen gemeinsam auf den
Turm des Mondes – Ihr, ich und er. Das wird sicherer sein.“
„Eure Besorgnis rührt mich, geehrter Clofoel der Ruhe.“
„Kein Grund zur Ursache, geehrter Clofoel der Welt.“
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Kapitel 66
Die Sonne stand schon fast im Zenit, als sie sie Wachen des Clofoel der Macht am Eingang des
Turms des Mondes passierten. Die schmale Wendeltreppe zwang sie, hintereinander zu gehen.
Zuerst der Clofoel der Ruhe, der immer zwei Stufen auf einmal nahm; den Troll hinter ihm
fürchtete er sicherlich nicht, denn er hatte ihn nicht einmal gefesselt. Stattdessen hatte er ihn
einfach mit dem Netzzauber belegt. Eornis bildete den Abschluss und überdachte ihren Plan
noch ein letztes Mal. Ja, es kann funktionieren, aber es wird knapp, und das Schlimmste ist,
dass alles von einer Unmenge Zufällen abhängt statt von ihren eigenen Fähigkeiten. Jedenfalls
ist ihr langes Spiel gegen den Clofoel der Ruhe bald zu Ende – aus diesem Turm kommt nur einer von ihnen lebendig heraus, die Frage ist nur, wer von ihnen das Glück hat...
Die oberste Kammer des Turms des Mondes war ein runder Raum mit etwa zehn Schritt
Durchmesser, mit dem Spiegel als einzigem Einrichtungsgegenstand. Der Kristall war in Mithril gefasst und stand auf geschwungenen etwa anderthalb Fuß langen Beinen, so dass das
Ganze einem kleinen Tisch ähnelte. Sechs langgezogene Fenster boten einen wunderbaren
Ausblick auf Caras Galadhon. Lustig, dachte Eornis im Vorbeigehen, dieser Troll wird wohl der
einzige Mensch sein, der die Hauptstadt der Elben je zu Gesicht bekommen wird, aber er wird
nie jemand davon erzählen können. Gäste, die wir wieder freilassen wollen, dürfen niemals
weiter kommen als zu den Talien am Nimrodel, und diese Dummköpfe gehen in dem Glauben,
dass wir tatsächlich in diesen Verschlägen leben würden.
„Bringt ihn vor den Spiegel, Clofoel der Ruhe, aber hebt das Netz noch nicht auf...“
Erst da bemerkte der Clofoel der Welt, dass es wirklich schlecht um den Spiegel stand. Der
Kristall war nachtschwarz, nur von einem regelmäßigen blutroten Aufleuchten unterbrochen.
Es fühlte sich tatsächlich so an, als stoße er einen endlosen Schrei des Schreckens und der
Schmerzen aus. Vielleicht ist es nicht gut, dass der Palantír in der Nähe ist? Die Frage kam allerdings etwas spät. Jetzt konnte sie auch nichts mehr ändern. Bitte halte nur noch einen Moment aus, dachte sie an den Spiegel gerichtet, in ein paar Minuten ist alles vorbei. Als wolle er
antworten, explodierte der Spiegel fast aus sich heraus in einem besonders starken roten
Leuchten, das sie irgendwie an das Ewige Feuer denken ließ... Der Gedanke kam und ging, da
sie sich um andere Dinge kümmern musste: Der Clofoel der Ruhe hatte offenbar bemerkt oder
vielmehr gespürt, dass der Raum nicht so leer war wie er sein sollte. Und genau das hatte ihr
Plan auch so vorgesehen, ohne dass sie irgend etwas tun musste. Welche Ironie, sich auf die
Intuition und Fachkunde eines Todfeinds verlassen zu müssen!
Der Clofoel der Ruhe hatte den Raum gründlich abgesucht und nichts verdächtiges gesehen,
wie es zu erwarten war. Hier nach etwas Magischen suchen zu wollen war zwecklos. Das magische Feld, das der Spiegel erzeugt, ist so stark, dass alles andere darin untergeht. Ein völlig
leerer Raum und ein niedriger 'Tisch' auf dünnen Beinen...hätte ich hier etwas verstecken können, etwas kleines? Ja, möglicherweise...nein, ganz bestimmt sogar! Moment – einen kleinen
Gegenstand? Was hat der Troll gesagt? 'Etwa so groß wie ein Kinderkopf!' Deshalb wollte sie
zum Spiegel hinauf!
„Clofoel der Welt! Ihr seid wegen Hochverrats verhaftet. An die Wand!“
Sie standen sich gegenüber, zwischen ihnen der Spiegel; der Clofoel der Ruhe hatte das
Schwert gezogen – diese Schlange sollte keine Gelegenheit bekommen, sie war auch so schon
tödlich genug.
283
„Den Dolch aus dem Gürtel raus... jetzt das Wurfmesser im linken Ärmel... Schiebt beides mit
dem Fuß herüber! Und jetzt raus mit der Sprache. Der magische Gegenstand, den die Tänzer
dieser Sternennärrin nicht finden können, hängt hier unter dem 'Tisch', richtig? Man muss auf
alle viere vor dem Spiegel herunter, um es zu sehen – daran würde wohl kaum einer denken.
Es auf magischem Weg aufzuspüren ist unmöglich – die Tänzer sind wie Hunde, die ein parfümiertes Taschentuch in einem Beutel mit zerstoßenen Pfeffer suchen sollen. Eine exzellente
Idee, mein Kompliment! Was ist es eigentlich?“
„Ein Palantír.“
„Oha!“ Das hatte er offenbar nicht erwartet. „Von wem kommt das Geschenk – vom Feind?“
„Nein, von Aragorn.“
„Wovon zur Hölle redet Ihr da?“
„Das ist die Wahrheit. Seine Majestät Elessar Elbenstein ist ein weitsichtiger Mensch, er setzt
nie alles auf eine Karte. Meint Ihr etwa, Ihr wärt der einzige gewesen, mit dem er letzten Januar gesprochen hat? Schafft mich beiseite, und er wird euch nicht mehr gegen die Herrin unterstützen.“
„Irrtum, meine Liebe: Je weniger Verbündete man hat, desto wertvoller sind sie. Er wird nirgendwo hin gehen. Ihr allerdings könnt Euch darauf freuen, unter dem Hügel ein paar Dinge
zu lernen: Die Jungs dort sind sehr einfallsreich, und ich werde dafür sorgen, dass Ihr nicht zu
schnell sterbt.“
„Dafür müsstet Ihr den Beweis meines Verrats offenlegen, das bedeutet, den Palantír an den
Rat auszuhändigen. Wäre es nicht besser, ihn zu behalten und aus mir Euren Agenten im Gefolge der Herrin zu machen? Ich kann Euch eine Menge bieten, wisst Ihr.“
„Genug geredet. Gesicht zur Wand, sofort! Runter auf den Boden! Auf den Boden, sage ich! Wie
ist er befestigt – magisch?“
„Nein, nur Ankasarsaft,“ war ihre Antwort, und dann wie bittend und mit dem Gesicht zur
Wand: „Bitte hört doch...“
„Ruhe!“
Das letzte Wort klang etwas gedämpft: Offenbar hatte der Clofoel sich hinter ihrem Rücken gebückt und suchte nun mit den Händen unter dem Kristall – jetzt wurde es Zeit. Während sie
die bedauernswerte Verliererin spielte, hatte Eornis durch die Brecher, die das magische Feld
des Spiegels aussandte, nach den klebrigen grauen Seilen des Netzzaubers gegriffen, die den
Troll hielten. Jeder Spruch birgt einen Teil seines Wirkers, so dass nur er ihn aufheben kann –
alle anderen riskieren dabei ihr Leben, und das meistens auch noch erfolglos. Zum Glück ist
das Netz einer der einfachsten Zauber, eine reine Technik fast ohne persönlichen Einfluss, also
das Risiko wert. Jetzt geht es nur noch darum, was der befreite Troll tut. Ja, er ist zerbrochen,
weil er weiß, dass er irgendwie alles, was er wusste, an den Feind verraten hat, aber – wie
sehr ist er gebrochen? Wenn er nur noch Gelee ist, bin ich erledigt, aber wenn er noch ein
Mann ist und er es wenigstens dem heimzahlen will, der ihn hereingelegt und zum Verräter
gemacht hat, kann ich ihm helfen. Ich helfe ihm, er hilft mir...
284
Plötzlich riss Eornis am Netz, wie an einem Pflaster, das an der Wunde klebt – in einem schnellen Ruck, anders ging es nicht. Ein schrecklicher Schmerz machte sie kurz bewusstlos; also so
fühlt es sich an, einen fremden Zauber aufzuheben, selbst wenn es eine Kleinigkeit wie das
Netz ist und von einem elbischen Clofoel gemacht wird... Als sie einige Sekunden später aus ihrer Bewusstlosigkeit erwachte, war es schon vorbei – der Clofoel der Ruhe lag flach auf dem
Boden vor dem Spiegel, den Kopf in abnormem Winkel gedreht, als versuche er, etwas hinter
seinem Rücken zu sehen. Der Troll musste den vorm Spiegel knienden Elb von hinten angefallen haben und ihm einfach mit bloßen Händen den Hals umgedreht haben; jetzt stand er auf
einem Fensterbrett und wollte eindeutig flüchten, was Eornis bestimmt nicht verhindern wollte. Sie grinste: der geehrte Clofoel der Ruhe hat den Troll befreit und dann nachlässiger Weise
weggesehen, ich konnte nichts mehr verhindern. Es ging alles so schnell, geehrte Ratsmitglieder! Mein ewiger Dank gilt dem verstorbenen Clofoel, wäre er nicht freiwillig mitgegangen,
wäre ich jetzt zweifellos tot...
Kumai hatte nur den Bruchteil einer Sekunde, die Aussicht auf die Hauptstadt der Elben zu genießen, während er seinen letzten Schritt tat; all die Türme und Hängebrücken rasten wie
Theaterkulissen an ihm vorbei, während er auf das sechseckige Kopfsteinpflaster zustürzte.
Sein letzter Gedanke war: und wenn die Schweine mich wieder zusammenflicken?
Vielleicht hätten sie das auch. Wer weiß schon, wozu die Elben in der Lage waren? Aber dafür
oder für irgendetwas anderes hatten sie keine Zeit mehr. Die Sonne stand schon im Zenit, also
holte Eornis den Palantír aus seinem schützenden, silberdurchwirkten Sack und hielt ihn über
den durchgedrehten Spiegel, der jetzt aussah, als würde er am liebsten auf seinen kurzen
Beinchen davon galoppieren. Nachdem sie die abgemachte Zeit gewartet hatte, brachte der
Clofoel der Welt die beiden orangenen Funken im magischen Kristall zusammen und stellte
ihn so auf ''Senden und Empfangen'...
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Kapitel 67
Arnor, Turm von Amon Sul – Mordor, Westrand des Orodruin
1. August 3019 des Dritten Zeitalters, eine Viertelstunde vor Mittag
„Haltet aus!“ befahl Gandalf mit vor Anstrengung heiserer Stimme, als trüge er eine gewaltige
Last – was auch so war, ungeachtet der Tatsache, dass es kein physikalisches Gewicht war. Alle
vier Magier des Weißen Rates standen kurz vor dem Zusammenbruch, dicke Schweißperlen
rollten über wachsbleiche Gesichter. Dafür wäre eigentlich ein Pentagramm nötig gewesen,
aber sie waren nur genug für ein Quadrat... ach, Saruman, Saruman!
Der Boden wurde von einer riesigen Karte Mittelerdes bedeckt, ziemlich einfach, aber sorgfältig nach Maßstab und Lage direkt auf den Steinboden gezeichnet. In der Mitte lag ein Palantír,
der Arnor entsprach und in alle Richtungen willkürlich bunte Lichtstrahlen verstreute. Die Bemühung der Weißen Magier waren aber nicht vergebens – langsam sammelten sich die Strahlen zu beständigen Erscheinungen und schließlich zu dünnen, farbigen Strahlen. Gandalf
sprach einen kurzen Fixierzauber, der auch das 'Absetzen!' Kommando bildete; einstimmig
wiederholten die Magier ihn und ließen sich kurz fallen, als hätten sie gerade einen Schrank
voller Kristallware hergetragen und abgesetzt. Der erste Teil der Aufgabe war getan.
Die farbigen Strahlen, die jetzt über den Boden und durch die Mauern vom Palantír ausgingen,
verbanden den Kristall mit den anderen sechs in Mittelerde. Man konnte nicht sagen, wo genau sie waren, aber schon die Richtung war nützlich. Zunächst studierte Gandalf den goldgelben Strahl, der gerade nach Westen in den Ozean verlief. Gelb hieß, dass der andere Palantír
ordnungsgemäß funktionierte, und das bedeutete, dass es der Stein von Kirden dem Schiffsbauer, dem König der westlichen Elben war. Der Magier vergewisserte sich, dass der Strahl
durch den Teil der Küste von Lindon verlief, wo der Turm von Emyn Beraid stand, und nickte
zufrieden: Die Karte war genau gezeichnet und sie konnten weitermachen.
Die zwei grünen Strahlen, die eine fast gerade Linie von der Forochelbucht im Nordnordwesten zum Delta des Großen Flusses im Südsüdosten bildeten, interessierten ihn nicht: das waren die versunkenen Palantíri, die zwei auf dem verlorenen Schiff von Prinz Arvedui und der,
den der Anduin aus Osgiliath weggespült hatte. Die, die der Grund für das Ritual gewesen waren, waren azurblau (sie funktionierten, aber steckten in silberdurchwirkten Schutzsäcken)
und führten nach Südosten, mit nur wenig Abstand. Nach Mordor. Verdammt noch mal!
„Wo haben sie den zweiten Kristall her, Gandalf?“
„Schaut auf die Karte – seht ihr eine Linie nach Emyn Arnen? Offenbar hat Seine Hoheit der
Prinz von Ithilien seine Vorkriegsspielchen mit dem Osten fortgeführt und Denethors Palantír
an diese Ausgeburten Mordors ausgehändigt, dieser...Sauhund! Aragorn hätte ihn damals in
diesem Krankenhaus einfach erwürgen sollen...“
„Aber, aber, Gandalf! Vielleicht haben sich Faramir und Aragorn insgeheim gegen die Elben
verbündet und dafür die verbliebenen Orks benutzt? Dann hätte es Elessar Elbenstein selbst
sein können, der den Orks den Palantír von Minas Tirith gegeben hat. Schließlich scheint inzwischen jeder gegen die Elben zu arbeiten, auch wir, nur eben getrennt.“
Das machte das Bild auch nicht klarer, dachte Gandalf in seiner Ratlosigkeit. Vakalabaths Prophezeiung hat viele mögliche Bedeutungen, aber man kann sie lesen als „Magie wird Mittelerde mit den Palantíri verlassen“ - heute um die Mittagsstunde – oder gar nicht. Aber wie? Er
starrte erneut auf die dunkelblauen Linien: Eine durch Barad-Dur und den Ostteil von Núrnen,
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die andere weiter westlich, durch die Gorgoroth und Orodruin... Orodruin?! Das haben sie also
vor!
Oder aber...nein, das wären zu viele Zufälle!Offenbar wollen diese Idioten in Mordor ihren
Kristall in das Ewige Feuer werfen und ihn so vernichten. Aber was wollen sie damit erreichen? Das wird die magischen Felder der anderen Palantíri beeinflussen, sogar das des Spiegels, aber das wird niemals ausreichen, um die Magie aus Mittelerde zu verbannen! Auch
wenn ein anderer Palantír, der zufällig gerade auf Empfang steht, zur selben Zeit zerstört werden wird...
„Gandalf, sieh! Irgendetwas passiert mit dem östlichen Strahl!“
Dem Kopf des Weißen Rates war schon aufgefallen, dass mit dem Strahl, der durch das östliche Mordor verlief, irgend etwas nicht stimmte: er begann, die Farbe zu wechseln und die Helligkeit, in regelmäßigen Abständen, wie Sturmwolken, die über den Abendhimmel ziehen.
„Das kann nicht sein!“ sprach der Magier im blauen Mantel erneut. „Nur eines auf ganz Mittelerde kann das Feld eines Palantír beeinflussen – der Spiegel. Aber der Spiegel steht in Lorien
bei den Elben und der Palantír ist in Mordor...“
Da schoss ein schrecklicher Verdacht durch Gandalfs Gehirn. „Der Palantír ist nicht in Mordor,“
röchelte er und zeigte auf die Karte. „Ja, der Strahl verläuft durch den Osten Mordors, aber zuerst geht er durch Caras Galadhon – seht auf die Karte! - und dort ist er, direkt neben dem
Spiegel!“
„Warte – kann das nicht ein Zufall sein? Die Elben Loriens hatten nie einen Palantír, und der
von Kirden ist an seinem Platz.“
„Bisher nicht, aber jetzt habe sie einen! Ich weiß nicht, wer Herrin Galadriel dieses Geschenk
gemacht hat – Aragorn, Faramir oder die Orks – aber aus irgendwelchen Gründen hat sie die
Kristalle zusammengebracht. Am Mittag werden die Orks – oder vielleicht sind es auch keine
Orks, was weiß ich? - ihren Palantír in den Orodruin werfen, das Ewige Feuer wird von diesem
Palantír auf den in Lorien überspringen und von dort auf den Spiegel, und dann ist alles aus!
Sobald der Spiegel vernichtet wird, werden alle Sehersteine zu Klumpen des Ewigen Feuers,
auch unserer.“ Bei diesen Worten schraken die Weißen Magier zurück, als schlügen ihnen die
tödlichen Flammen bereits in die Gesichter. „Da haben wir Vakalabaths Prophezeiung! Schnell,
bildet ein Dreieck! Helft mir – vielleicht reicht die Zeit noch aus...“
Gandalf kniete vor dem Palantír. Zwischen seinen Händen begann eine dichte Kette blauvioletter Funken zu schimmern, und er begann, sie um den Kristall zu winden, als wolle er einen
Wollfaden zu einem Ball aufwickeln; ein beißender Geruch kam auf, als sei in der Nähe der
Blitz eingeschlagen. Die anderen drei Magier haben bereits all ihre Kraft an den Kopf des Weißen Rates übertragen und umstanden ihn nun regungslos und schweigend wie Statuen; keiner
wagte es, an den alles verzehrenden Feuerdrachen zu denken, der jede Sekunde aus seinem
kristallenen Ei schlüpfen konnte. Gandalfs Hände gingen schneller und schneller; Beeilung,
Weißer Magier, es steht vieles auf dem Spiel! Vieles? Vielleicht sogar alles?
Endlich sank er zu Boden und saß einfach einen Moment da, die Augen geschlossen. Er musste
die Flasche Elbenwein mit den Zähnen öffnen – seine Hände waren nun für immer taub, wie
gefroren. Er hielt die Flasche zwischen den gefühllosen Handtellern und trank ein paar Schlucke, dann reichte er Radagast die Flasche, ohne ihn anzusehen. Sie hatten es geschafft, trotz al287
lem... Der Lichtstrahl von ihrem Palantír zu dem am Orodruin war nun rotviolett statt blau;
sobald diese Kerle ihren Kristall aus seinem Sack nähmen, würde Gandalfs Zauber auf ihn
überspringen wie eine blaue Schlange. Er würde auf keinen Fall derjenige sein wollen,der diesen Ball anfasst... Jetzt hatten sie Zeit, Luft zu holen und nachzudenken, wie sie diesen Palantír
einkassieren sollten, der bestimmt zwischen den Felsen des Orodruin liegen bleiben wird.
***
Haladdin riss sich vom Anblick der rot goldenen Lava los, die fast genau vor seinen Füßen im
Krater brodelte. Mit zusammengekniffenen und von der Handfläche abgeschirmten Augen versuchte er, die Stellung der Sonne zu schätzen. Es musste kurz nach Mittag sein. Lorien liegt
weit westlich von Mordor, also war es am Orodruin etwa eine Viertelstunde früher Mittag als
in Lorien. Es war Zeit, den Palantír aus dem Sack zu holen und darauf zu warten, dass der
Spiegel darin erschien – vorausgesetzt, Kumai hatte seine Aufgabe erledigt... Er rief sich zur
Ordnung: Wage es nicht, so etwas zu denken! Du weißt ganz genau, dass er alles so gemacht
hat wie aufgetragen. In ein paar Minuten kannst du diese Frau – na gut, diese Elbin, was macht
den Unterschied – umbringen. Vielleicht sollte ich Tzerlag (da liegt er und döst zwischen den
Felsen – der hat Nerven!) bitten, 'das Urteil zu vollstrecken', aber das wäre...
Die Reise zum Orodruin war nicht allzu schwer gewesen. Runcorn hatte sie zum Hotontpass
begleitet – er hatte sowieso am oberen Otternbach nach einem guten Platz für ein Haus suchen wollen. Dort waren sie auf Matun getroffen. Der sah das Treffen mit 'Haladdins Spähtrupp' als kurzen Fronturlaub. In Mordor herrschte immer noch Krieg, aber hier, jenseits der
Schattenberge, war alles ruhig und friedlich. Um diese Zeit hatte Faramir alles unternommen,
um mit den Trollen der Schattenberge Frieden zu schließen und hatte in der vergangenen Woche endlich einen Erfolg feiern können, als eine Abordnung mit drei Ältesten der Trolle Emyn
Arnen besuchte. Irgend jemandem – wir wollen keine Namen nennen – gefiel diese Neuigkeit
gar nicht, und am Rand der Siedlung wurden die Ältesten von einem Attentätertrupp erwartet.
Allerdings war Baron Gragers Geheimdienst nicht untätig: Das Attentat wurde verhindert, und
man fand sogar Beweise, dass der Befehl von jenseits des Anduin gekommen war. Die Attentäter, die den Kampf überlebt hatten, wurden nach Hause geschickt, mit dem Auftrag, Seine Majestät aufzufordern, andere Methoden in Betracht zu ziehen. Jedenfalls waren Gragers Beweise
ausreichend für die Ältesten: sie brachen das traditionelle Fladenbrot mit dem Prinzen und
zogen heimwärts. Ihre jüngeren Söhne erhielten Stellungen in der Leibgarde des Prinzen, um
den Pakt zu besiegeln. Bis dahin hatten die Ithilier bereits einen lebhaften Handel mit den
Trollen aufgezogen, ohne auf die königliche Erlaubnis zu warten. Die Elben, die den Pass von
Cirith Ungol besetzt hatten, sahen all dem voller Wut zu, konnten aber nichts dagegen tun – zu
wenig Personal.
„Wie geht es Ivar, Matun? Was macht Maestro Haddami – reißt er immer noch seine Witze?“
„Haddami ist getötet worden,“ antwortete der Troll feierlich. „Die Götter seien seiner Seele
gnädig, er war ein guter Mann, auch wenn er Umbarer war...“ Dann sah er Haladdin ins Gesicht
und murmelte peinlich berührt: „Verzeihung, Herr! Ich habe nicht nachgedacht. Was ist aus
eurem Gondorer geworden?“
„Der ist auch getötet worden.“
„Verstehe.“
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Sie waren nur ein paar Stunden in Ivars Lager geblieben. Der Leutnant hatte mehrmals versucht, ihnen ein paar Männer mit zu geben, die sie zum Orodruin bringen sollten („Auf den
Ebenen ist im Moment zu viel los, überall Patrouillen der Ostlinge“), aber der Feldwebel hatte
nur gelacht: „Hörst du das, Matun? Die wollen mich durch die Wüste führen!“ Da hatte er
recht: einem Orozenen durch die Wüste helfen ist, als wolle man einem Fisch das Schwimmen
beibringen, und eine kleinere Gruppe war in ihrem Fall viel besser geeignet. Also brachten die
zwei die Reise zusammen zu Ende, so wie sie auch angefangen hatte.
Ja, es war Zeit. Haladdin band den Sack auf, schob die steifen, mit Silber bestickten Wände auseinander und nahm die schwere Kristallkugel in die Hände, um nach den orangenen Funken in
seinen bleichen, schimmernden Tiefen zu suchen.
***
In Amon Sul spiegelte sich der entfernte Palantír am Orodruin als etwa sechs Fuß durchmessende Seifenblase. Sie konnten den Unbekannten genau sehen, der den Kristall in den Händen
drehte – riesige Bilder von Händen bewegten sich über die Oberfläche der Kugel, groß und
klar genug, um die Handlinien lesen zu können.
„Gandalf, was ist los? Erkläre das!“ Der Magier im blauen Mantel konnte nicht mehr schweigen.
„Nichts. Das ist das Problem: Gar nichts ist los.“ Gandalfs Worte klangen eintönig und leblos.
„Mein Zauber hat nicht gewirkt. Ich verstehe das nicht.“
„Dann ist es aus?“
„Ja. Ist es.“
Schweigen. Alle schienen darauf zu hören, wie die letzten Sandkörner durch ihre Lebensuhren
liefen.
„Na, habt ihr schön gespielt?“ Die Stimme, die das Schweigen brach, klang spöttisch, aber so
betörend wie eh und je. „'Die Geschichte wird mich freisprechen', ja?“
„Saruman?!“
Der ehemalige Kopf des Weißen Rates kam mit festem, weiten Schritt in die Halle marschiert,
ohne auf eine Erlaubnis oder Einladung zu warten, und sofort wusste jeder, dass der Begriff
'ehemalig' vollkommen fehl am Platze war.
Er sah absichtlich nur auf die Lichtstrahlen aus dem Palantír. „Vakalabaths Prophezeiung also,
Radagast?“ Er sprach nur mit dem Waldzauberer, ohne die anderen Ratsmitglieder zu beachten. „Ah ja... dieser Strahl führt zum Orodruin?“
„Sie wollen den Spiegel vernichten,“ warf ein etwas lebendigerer Gandalf ein.
„Schnauze,“ antwortete Saruman, ohne ihn anzusehen, dann deutete sein plötzlich wie versteinertes Kinn auf den Strahl von Lorien, der gerade wieder dunkler wurde: „Da ist dein Spiegel –
genieße den Anblick, du Möchtegern – Demiurg...“
289
„Können wir dir helfen, Saruman?“ sprach Radagast besänftigend, im Versuch, die Brücken
wieder aufzubauen. „All unsere Magie...“
„Ja, könnt ihr, indem ihr sofort verschwindet. Steckt euch eure Magie sonst wohin; habt ihr immer noch nicht bemerkt, dass der Mann da auf dem Orodruin absolut immun gegen Magie ist?
Ich werde mit Vernunft und Logik mit ihm reden, vielleicht funktioniert es... Bewegung!“
schrie er die Ratsmitglieder an, die sich unschlüssig an der Tür herumtrieben. „Verzieht euch,
hab ich gesagt! Wenn das hier hochgeht, könnt ihr die nächsten Wochen nach euren Eiern suchen!“
Ohne weiter auf die in aller Eile flüchtenden Weißen Magier zu achten, stellte er den Palantír
auf 'Senden und empfangen' und rief sanft: „Haladdin! Doktor Haladdin, hören Sie mich? Bitte
antworten!“
290
Kapitel 68
Ein paar peinigende Sekunden vergingen, dann erklang aus den Tiefen des Palantír eine überraschte Stimme: „Ich höre Sie! Wer spricht da?“
„Ich hätte mich als Nazgúl vorstellen können, und Sie hätten die Lüge nie bemerkt, aber das
werde ich nicht. Ich bin Saruman, Kopf des Weißen Rates.“
„Der ehemalige Kopf...“
„Nein, der gegenwärtige.“ Saruman sah über die Schulter auf den weißen Mantel, den Gandalf
in seiner Eile weggeworfen hatte, um nicht etwa auf der Treppe darüber zu stolpern. „Seit
etwa drei Minuten.“
Einen Moment lang schwieg der Palantír.
„Woher kennen Sie meinen Namen, Saruman?“
„Es gibt nicht allzu viele Menschen in Mittelerde, die für Magie absolut unzugänglich sind. Es
ist naheliegend, dass die Nazgúl so einen aussuchen würden, um Vakalabaths Prophezeiung
wahr werden zu lassen...“
„Verzeihung?“
„Es gibt eine obskure alte Prophezeiung, die besagt, dass eines weniger schönen Tages 'Magie
Mittelerde mit den Palantíri verlassen wird.' Der Zeitpunkt dieses Ereignisses ist auf komplizierte Weise verschlüsselt; wir haben die Zahlen in dieser Voraussage kombiniert und es an
mehreren Tagen erwartet, aber bis jetzt ist nichts geschehen. Heute ist einer dieser Tage, und
so wie es für mich aussieht, wollen die Nazgúl Vakalabath benutzen, um die Palantíri und den
Spiegel zu vernichten – 'die Welt steht geschrieben...' Nun wollen Sie Ihren Palantír in den Orodruin werfen, der Palantír in Lorien wird den Spiegel im Ewigen Feuer verbrennen, und die
magische Welt Arda wird für immer vernichtet.“
„Warum sollte sie vernichtet werden?“ fragte der Palantír nach einer Sekunde.
„Ah, ich verstehe. Sie haben offenbar mit Sharya-Rana gesprochen, richtig?“
„Wie kommen Sie darauf?“ In Haladdins Stimme klang eine Spur Überraschung mit.
„Das ist doch sein Modell vom Aufbau Ardas: zwei Welten, eine 'physische' und eine
'magische', verbunden durch den Spiegel. Die Elben, die aus ihrer Welt in diese gekommen
sind, werden mit ihrer Magie unausweichlich die Existenz dieser Welt untergraben, deshalb
sollte der Spiegel vernichtet und beide Welten zu ihrem eigenen Besten voneinander getrennt
werden. Nah genug?“
„Sie meinen also, das sei eine Lüge?“ war Haladdins kühle Antwort.
„Ganz und gar nicht! Es ist ein mögliches Strukturmodell der Welt, aber mehr nicht. Ich habe
großen Respekt vor Sharya-Rana, der diese Ansicht vertrat, aber um danach zu handeln...“
„Und wie sieht das Gegenmodell aus? Erklären Sie, werter Saruman; noch ist Zeit dafür. Ich
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werde Ihnen Bescheid sagen, wenn es soweit ist, dass ich den Palantír in den Orodruin werfen
muss.“
„Sehr liebenswürdig von Ihnen, Haladdin, vielen Dank. Also – die Lehrmeinung ist, dass die
'physische' und die 'magische' Welt tatsächlich getrennt sind und der Spiegel und die Palantíri
tatsächlich in der magischen Welt entstanden sind. Aber sie sind nicht zufällig hier in der
physischen Welt. Diese Kristalle sind die Basis der Existenz dieser anderen Welt, wie die Nadel
im Märchen – Sie wissen schon, die, die in einem Ei versteckt ist, das in einer Ente versteckt
ist, die in einem Hasen versteckt ist, der in einer Kiste versteckt ist? Durch die Zerstörung des
Spiegels werden Sie die gesamte magische Welt einfach zerstören. Ironischerweise sind sie auf
diese nicht magische Welt gebracht worden, um sie genau davor zu schützen, genau wie die
Kiste im Märchen. Natürlich könnten Sie jetzt sagen, dass das anderweltliche Probleme sind,
die Sie nichts angehen. Leider muss ich Sie enttäuschen – die Welten sind symmetrisch.“
„Sie meinen also,“ sprach Haladdin langsam, „dass in jener anderen, magischen Welt etwas
existiert, das die Basis der Existenz unserer Welt bedingt und zur Sicherheit dort hin gebracht
wurde? Unsere eigene Nadel in einem Ei und so weiter?“
„Exakt. Indem Sie die eine Welt zerstören, verdammen Sie unsere auch. Manchmal werden
Zwillinge zusammengewachsen geboren; wenn einer den anderen umbringt, stirbt er ebenfalls, später, an einer Blutvergiftung. Wenn Sie den Palantír in den Schlund des Orodruin werfen, wird die andere Welt sofort aufhören zu existieren, aber diese hier wird einen langen,
qualvollen Tod haben. Niemand weiß, wie lange das Sterben dauern wird – eine Minute, ein
Jahr, ein Jahrhundert. Möchten Sie es herausfinden?“
„Falls Sie recht haben und Sharya-Rana falsch liegt.“
„Sicher. Sind Sie entschlossen, mit einem Versuch eine der Theorien zu belegen? Ein Lebendversuch, wie es in Ihren Kreisen genannt wird?“
Der Palantír schwieg – Haladdin fehlten die Worte.
„Sagen Sie, Haladdin,“ fuhr Saruman mit scheinbarer Neugierde fort, „haben Sie das alles wirklich nur getan, um die Elben auf ihren Platz zu verweisen? Überschätzen Sie nicht ihren Einfluss?“
„So etwas wie das hier macht man besser über gründlich.“
„Dann glauben Sie wirklich, die Elben würden ganz Mittelerde beherrschen? Mein lieber Doktor, das ist bizarr! Wozu die Elben auch immer in der Klage sind, und ich versichere Ihnen, die
Gerüchte übertreiben maßlos, es gibt lediglich fünfzehntausend, allerhöchstens zwanzigtausend in ganz Mittelerde. Denken Sie nach – ein paar Tausend, und kein Zuwachs; dagegen Millionen Menschen, und es werden immer mehr. Sie können mir glauben, die Menschen sind
schon stark genug, um die Elben nicht fürchten zu müssen; wieso diese Minderwertigkeitskomplexe ihrerseits!“
Nach einer Pause fuhr Saruman fort: „Sharya-Rana hatte recht, unsere Arda ist einzigartig. Es
ist die einzige Welt, die direkten Kontakt zwischen physischer und magischer Welt gestattet,
wo ihre Bewohner – Elben und Menschen – miteinander sprechen können. Denken Sie nur an
die Möglichkeiten! In kürzester Zeit werdet ihr und die Elben in Harmonie miteinander leben
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und einander mit euren kulturellen Errungenschaften bereichern.“
„Und so leben, wie es der Ferne Westen haben will?“ Haladdin verzog das Gesicht.
„Das hängt von euch ab. Haben Sie so wenig Selbstachtung, dass Sie sich die Menschen nur als
Lehm in den Händen anderweltlicher Mächte vorstellen können? Es beschämt mich wirklich,
so etwas hören zu müssen.“
„Es wird also eine Zeit geben, in der die Elben die Menschen nicht mehr als den Dreck unter
ihren Füßen ansehen werden? Ich wünschte, ich könnte das glauben!“
„Es gab Zeiten, in denen die Menschen jeden gefressen haben, der nicht aus ihrer Höhle kam,
aber ihr habt gelernt, euch ein bisschen anders zu benehmen, oder? Genau so wird es mit euch
und den Elben sein, wenn ihr euch die Zeit nehmt. Ihr seid so vollkommen unterschiedlich,
und genau deshalb braucht ihr einander, glauben Sie mir.“
Der Palantír verstummte; Haladdin sackte zusammen, als habe man ihm das Rückgrat herausgezogen.
„Wer ist das denn, Herr?“ Tzerlag betrachtete den Kristall aus etwa zehn Schritt Abstand den
Hang hinab mit abergläubischem Respekt.
„Saruman, Fürst von Isengard, Kopf des Weißen Rates und so weiter und so fort... Er will mich
überreden, den Palantír nicht in das Ewige Feuer zu werfen, weil sonst die ganze Welt untergehen würde.“
„Lügt er?“
„Ich glaube ja,“ antwortete Haladdin nach einigem Nachdenken.
In Wahrheit war er sich alles andere als sicher; tatsächlich glaubte er sogar das Gegenteil. Saruman hätte auch so etwas sagen können wie „Die Nazgúl haben den Kampf verloren und wollen durch dich die Welt mit in den Tod nehmen“ und diese Theorie überzeugend untermauern
können. Schließlich wusste Haladdin nur von Sharya-Rana, dass die Nazgúl die guten waren.
Er hätte, aber er hatte nicht, und irgendwie überzeugte das Haladdin, dass der Weiße Magier
vertrauenswürdig war. „Sind Sie entschlossen, mit einem Versuch eine der Theorien zu belegen?“ Ja, darauf lief es hinaus.
Er hat gewonnen, erkannte Haladdin voll Schrecken. Ich zweifle und habe deshalb kein Recht
mehr zu handeln: 'im Zweifel für den Angeklagten 'ist zu tief in mir verankert. Um zu tun, was
ich vorhatte, in vollem Wissen um die Folgen (die ich dank Saruman jetzt kenne), muss man
entweder ein Gott oder ein Irrer sein, und ich bin beides nicht. Und ich kann es nicht tun und
mich später auf Befehle berufen – das ist nicht meine Art... Außerdem kann ich diese elbische
Schönheit nicht mit eigener Hand lebendig rösten, oder? Stimmt, tue ich nicht, um es vorsichtig auszudrücken – ist das ein Plus oder Minus?
Vergebt mir, Leute... vergebt mir, Sharya-Rana, und Ihr, Baron! (Innerlich lag er auf den Knien.)
All eure Mühen waren umsonst. Ich weiß, ich verrate euch und euer Vermächtnis, aber die
Wahl, die ich treffen soll, steht mir nicht zu... keinem Menschen – das kann nur der Eine. Ich
kann nur meinen Palantír von der Übertragung abschneiden und ihn in den Orodruin werfen;
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soll passieren, was was da will, ohne meine Einmischung. Ich bin nicht dazu fähig, das Schicksal der Welt zu entscheiden – ich bin aus anderem Ton geformt... und solltet ihr jetzt sagen Exkrement, nicht Ton – das akzeptiere ich.
Als wolle er diese Entscheidung bestätigen, erglühte der Palantír plötzlich von innen und zeigte ihm das Innere eines Turmes mit schmalen Fenstern, etwas, das aussah wie ein niedriger
Tisch auf geschwungenen Beinen, und das totenbleiche – und dadurch irgendwie noch schönere – Gesicht von Eornis.
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Kapitel 69
Es ist verblüffend, welche Kleinigkeiten mitunter den Lauf der Geschichte beeinflussen. In diesem Fall entschied sich alles durch den unterbrochenen Blutfluss zu Haladdins linkem Oberschenkelmuskel aufgrund der unbequemen Haltung, die er in den vergangenen Minuten eingenommen hatte. Der Doktor bekam einen Krampf im Bein; als er ungeschickt aufstand und
sich ausstreckte, um die Schmerzen zu lindern, fiel ihm die glatte Kugel aus der Hand und rollte langsam den fast ebenen äußeren Abhang des Kraters hinab. Tzerlag, der etwas unterhalb
stand, verstand den gemurmelten Schwur seines Befehlshabers als Kommando und sprang
nach der Kristallkugel...
„NICHT!!“ Der verzweifelte Schrei zerschmetterte die Stille.
Zu spät.
Der Orozene griff den Palantír und erstarrte in einer peinlichen Haltung; sein Körper schimmerte purpurn mit bläulichen Funken, wie eine Glasur. Verzweifelt stürmte Haladdin zu seinem Gefährten und schlug ihm das verteufelte Ding aus den Händen, ohne nachzudenken, mit
einer Bewegung; er brauchte einen Moment, um erstaunt zu bemerken, dass ihm nichts passiert war.
Die Funken erloschen und hinterließen einen merkwürdigen, frostigen Geruch, und der Orozene kippte langsam zur Seite auf das Geröll. Haladdin hörte ein merkwürdiges Klatschen. Er
versuchte, den Feldwebel hoch zu heben und erschrak über das plötzliche Gewicht.
„Doktor, was ist das?“ Das Gesicht des Orozenen, normalerweise ausdruckslos oder lächelnd,
zeigte Furcht und Verwirrung. „Ich fühle meine Hände und Füße nicht... gar nichts... was passiert mit mir?“
Haladdin nahm sein Handgelenk, aber riss die Hand voll Schreck wieder fort: die Hand des
Orozenen war kalt und hart wie Stein... Gütiger Gott, es ist Stein! Ein paar Finger an Tzerlags
anderer Handwaren beim Sturz abgebrochen, und der Doktor starrte auf die frische Bruchstelle, in der kleine Kristalle schimmerten – schneeweißer, poröser Kalzit für die Knochen, dunkelrosa gefärbter Marmor für die Muskeln durchzogen mit hellrotem Blutstein statt Adern –
und diese unglaubliche Genauigkeit der steinernen Nachbildung. Hals und Schultern des Orozenen waren noch warm und lebendig; als er den Arm abtastete, stellte Haladdin fest, dass der
Übergang vom Stein zum Fleisch etwas über dem Ellbogen lag und langsam am Bizeps nach
oben wanderte. Er wollte noch irgend eine beruhigende Lüge murmeln, etwas wie 'kurzzeitiger Gefühlsverlust nach einem Stromschlag' und das Problem mit medizinischen Fachbegriffen bemänteln, aber der Feldwebel hatte seine Hand schon bemerkt und alles begriffen.
„Lass mich nicht so, bitte... der Gnadenstoß... jetzt muss es sein....“
„Was ist passiert, Haladdin?“ Sarumans alarmierte Stimme kam aus dem Palantír.
„Was passiert?! Mein Freund versteinert, das ist! Euer Werk, ihr Schweine?“
„Er hat den Palantír angefasst?! Warum haben Sie das zugelas...“
„Zum Teufel mit dir! Mach den Zauber rückgängig, sofort!“
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„Das kann ich nicht. Es ist nicht meiner – wieso hätte ich das tun sollen? - und den Zauber eines anderen kann niemand aufheben, nicht einmal ich. Das ist vermutlich der Versuch meiner
dämlichen Vorgänger, dich aufzuhalten.“
„Ist mir egal, wer das war! Tu was du kannst oder hol den, der das war, an den Palantír!“
„Sie sind alle weg... Es tut mir furchtbar leid, aber selbst wenn es mich das Leben kosten sollte,
könnte ich doch nichts für deinen Freund tun.“
„Hör zu, Saruman.“ Haladdin gelang es, sich zusammen zu nehmen, da ihm klar war, dass mit
Geschrei nichts zu machen war. „So wie es aussieht, in fünf bis sechs Minuten versteinert.
Schaffst du es bis dahin, den Zauber aufzuheben, tue ich, was du verlangst: ich schalte den Palantír aus und werfe ihn in den Orodruin. Wie du das machst, ist deine Sache, aber wenn du es
nicht tust, tue ich, was ich ursprünglich vorhatte, auch wenn ich ehrlich sagen muss, dass du
mich beinahe herumgekriegt hast. Also?“
„Sei vernünftig, Haladdin! Eine Welt – nein, zwei Welten! - zerstören, um einen Menschen zu
retten? Es wird ihn auch nicht retten, wenn er dann zusammen mit der Welt stirbt...“
„Deine Welten sind mir scheißegal, kapiert?! Zum letzten Mal – versuchst du es oder nicht?“
„Ich kann nur wiederholen, was ich diesen Idioten vom Weißen Rat damals gesagt habe: 'Was
du da vorhast, ist schlimmer als ein Verbrechen. Es ist ein Irrtum.'“
„Ach wirklich? Dann landet das Ding im Krater! Lauf was du kannst! Überleg selbst, wie viel
Zeit dir bleibt – Kopfrechnen war noch nie meine Stärke...“
***
Vielfraß, Leutnant der Geheimwache, hatte zur gleichen Zeit ebenfalls eine schwere Entscheidung zu treffen.
Er hatte den Anduin schon erreicht und war kurz davor, das rettende Boot zu finden, als die Elben, die ihm auf den Fersen waren, es schafften, ihn auf einen Kurum zu treiben – einen felsübersäten Abhang, wo die echten Vielfraße sich gerne ihre Baue anlegen. Um den Weg abzukürzen, rannte der Leutnant direkt über das Gelände, von Fels zu Fels springend. Das Wichtigste, wenn man sich so bewegt, ist es, seinen Schwung zu behalten und nicht zu bremsen –
Springen, abprallen, springen, abprallen. Bei trockenem Wetter ist das nicht allzu schwer, aber
jetzt, nach mehreren Regentagen, waren die schwarzen und orangenen Flechten auf den Felsen von Wasser durchtränkt, und jede Stelle war lebensgefährlich.
Vielfraß hatte kaum die Hälfte des Abhangs hinter sich, als er bemerkte, dass die Verfolger näher waren als gedacht: Pfeile fielen um ihn herum. Sie kamen auf hohen Flugbahnen am äußersten Rand ihrer Reichweite, aber der Leutnant wusste genug über die Schießkünste der Elben – die besten von Mittelerde – um nicht zurück zu sehen. Nach einem weiteren Sprung
schubste er einen großen Stein mit dem linken Fuß weg und drehte sich gleichzeitig nach links
– da gaben die klatschnassen Flechten, schlüpfrig wie die sprichwörtliche Bananenschale, unter seinen Mordorer Stiefeln nach (ich wusste doch, diese harten Sohlen taugen nichts!) und
Vielfraß stürzte nach rechts in eine enger werdende Felsspalte. Die brechenden Fingernägel
hinterließen Kratzspuren in den Flechten, aber er fand keinen Halt. Ein dummer Gedanke kam
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dem Leutnant noch - „wäre ich doch wirklich ein Vielfraß“ - bevor sein rechter Knöchel, der
im Spalt wie in einer Bärenfalle steckte, brach und der Schmerz, der ihm durch das Rückgrat
schoss, ihn betäubte.
Seltsamerweise hielt die Betäubung nur kurz an. Vielfraß gelang es, sich im Spalt so weit hoch
zu ziehen, dass er sich auf das unverletzte Bein stützen konnte. Nun konnte er den Rucksack
vom Rücken nach vorne nehmen. Am Packen Papiere aus Dol Guldur hing ein Behälter mit
Feuergelee (gepriesen sei Grizzly, der an alles gedacht hatte!), und er musste nur noch einen
Funken an die Zündladung schlagen – eine kleine, luftdicht verschlossene Porzellankapsel gefüllt mit dem leichten Teil von Naphtha. Erst als er den Rucksack schon geöffnet und den Feuerstein aus der Tasche geholt hatte, kam ihm die Idee, sich umzusehen. Er lehnte sich zurück
(Umdrehen war unmöglich) und konnte gerade noch rechtzeitig gegen den bleichen Mittagshimmel die säulenähnlichen Figuren in grüngrauen Mänteln sehen, die langsam auf ihn zu kamen. Nur ein paar Meter von den Elben entfernt, war dem Leutnant klar, dass ihm in seinem
Leben nur noch zwei Aufgaben blieben: die Ladung zu zünden und die grüne Pille der Erlösung zu kauen – aber er hatte nur noch Zeit für eine, und ein Offizier der Einsatzgruppe Féanor sollte doch wissen, was wichtiger war... Also war das Letzte, was Vielfraß sah, bevor ihn
ein Schlag auf den Kopf traf, die blaue Naphthaflamme, die an der leicht zerfaserten, salpetergetränkten Zündschnur fraß.
Er wurde auf einer großen Lichtung mit guter Aussicht auf das Tal des Anduin wieder wach.
Die Hände waren ihm auf den Rücken gefesselt, seine Mordorer Uniform bestand nur noch aus
versengten Fetzen, und seine ganze linke Seite war eine einzige Brandwunde – das Gerät hatte
funktioniert, gepriesen sei Aulë! Verspätet bemerkte er den Elben, der links neben ihm hockte,
auf der Seite, wo das Auge von getrockneter Lymphe verklebt war. Der Elb wischte voll Abscheu seine Feldflasche mit einem Lumpen ab – offenbar hatte er gerade Elbenwein in den
Schlund des Gefangenen gegossen.
„Na, aufgewacht?“ fragte der Elb mit melodischer Stimme.
„Mordor und das Auge!“ antwortete Vielfraß reflexartig (Man stelle sich das vor, er würde als
Ork sterben! Nun, so ist das Leben...)
„Schluss mit der Vorstellung, lieber Verbündeter!“ Der Erstgeborene lächelte, aber seine Augen brannten so voll Hass, dass von seinen Katzenpupillen nur dünne Schlitze geblieben waren. „Du wirst uns alles erzählen, was Seine Majestät Elessar Elbenstein ausgeheckt hat, nicht
wahr, Tierchen? Zwischen Verbündeten sollte es keine Geheimnisse geben.“
„Mordor... und... das Auge...“ Die Stimme des Leutnant war ruhig geblieben, auch wenn Manwe
allein wusste, wie viel Mühe es bereitet hatte: der Elb hatte beiläufig die Hand auf den gebrochenen Knöchel des Gefangenen fallen lassen und...
„Herr Engold, seht! Was ist das?!“
Auf den Schrei seiner Kameraden hin drehte sich der Elb um und starrte wie eingefroren auf
etwas, das wie ein riesiger Fliegenpilz in den Himmel jenseits des Anduin wuchs, genau dort,
wo Caras Galadhon sein musste – ein dünner, blendend weißer Stiel gekrönt von einem hellroten, gewölbten 'Hut'. Allmächtiger Eru, wenn das tatsächlich in Galadhon ist, wie groß muss es
sein? Welches Galadhon? Da wird nicht einmal Asche übrig sein... ein weiterer erstickter
Schrei brachte ihn dazu, sich wieder umzudrehen: „Herr Engold...der Gefangene...was passiert
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mit ihm?“
Obwohl er sich sofort umdrehte, war schon alles vorbei, noch bevor er es gesehen hatte. Der
Gefangene war tot, und kein Arzt war nötig, um das zu bestätigen. In wenigen Augenblicken,
vor den Augen der gelähmten Elben, wurde der Mann zu einem Skelett, an dem hier und da
ein paar Reste mumifizierter Haut hingen. Der gelbbraune Schädel, die Augenhöhlen voll Sand,
grinste Engold mit verschrumpelten, geschwärzten Lippen zu, als wolle er ihn spaßeshalber
auffordern, seine Fragen zu stellen – legt mich doch in Wahrheitstrank ein, vielleicht bringt es
ja etwas?
Und im Palast von Minas Tirith war der erstaunte Aragorn Zeuge, wie sich die Züge Arwens,
die ihm gegenüber saß, allmählich veränderten. Es schien sich nichts wirklich zu ändern, aber
er spürte mit absoluter Gewissheit, dass etwas wichtiges, vielleicht das wichtigste überhaupt,
verschwand, verblasste wie ein schöner Traum... eine magische Unvollkommenheit ihrer Züge,
die vollkommen menschlich wurden. Als diese Verwandlung nach wenigen Augenblicken zu
Ende war, hatte er sein Urteil über diesen Abschnitt seines Lebens gefällt: Eine schöne Frau,
keine Frage. Sehr schön sogar. Aber mehr auch nicht.
Keiner seiner Untertanen sah es, und keiner hätte dem irgend eine Bedeutung beigemessen,
der es gesehen hätte. Was sie pflichtbewusst in ihre Aufzeichnungen dieses Tages aufnahmen,
war ein anderes Ereignis dieses Mittags: Als der Spiegel in Lorien zerstört wurde, detonierten
auch die sechs in Mittelerde verbliebenen Palantíri, und in der Bucht von Belfalas, in die der
Anduin mündete, schoss eine riesige Wassersäule, fast eine halbe Meile hoch empor. Der Geysir verursachte eine vierzig Fuß hohe Flutwelle, die mehrere Fischerdörfer mitsamt ihren Bewohnern auslöschte; es ist zweifelhaft, ob irgend jemandem klar war, dass auch diese Unglücklichen Opfer des Kriegs des Ringes waren.
Am überraschendsten ist, dass trotz seiner Einsicht und Beobachtungsgabe selbst seine Majestät Elessar Elbenstein keinen Zusammenhang sah zwischen diesen zwei Ereignissen des
Mittags des ersten Augusts des Jahres 3019 des Dritten Zeitalters, die gewissermaßen auch
die letzten Augenblicke dieses Zeitalters waren. Gewiss hat das auch nach ihm niemand getan,
mangels Gelegenheit.
***
„Beug den Arm, schnell!“ befahl Haladdin, während er eine Aderpresse über Tzerlags linkem
Ellbogen zuzog. „Drück den Lappen fest drauf, sonst verblutest du noch.“
Die Hand des Feldwebels war im selben Moment 'aufgetaut', als der Vulkan den Palantír verschluckt hatte, und nun spritzte das Blut wie immer, wenn jemand ein paar Finger verliert. Sie
hatten nichts außer der Aderpresse, um die Blutung zu stoppen: es zeigte sich, dass alle blutstillenden Mittel aus dem elbischen Medizinkasten wirkungslos geworden waren, sogar die
legendäre Alraune, die angeblich sogar gerissene Schlagadern flicken konnte. Wer hätte gedacht, dass das alles auch magisch war?
„Hör mal... wir haben gewonnen, oder?“
„Ja, verdammt, wenn man das Sieg nennen kann...“
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„Ich verstehe nicht, Herr Feldarzt...“ Es schien, als würden die Lippen des Feldwebels, die vom
Blutverlust grau geworden waren, ihm nicht gehorchen wollen. „Wieso 'wenn man das Sieg
nennen kann'?“
Wag es nicht, befahl Haladdin sich. Das war meine Entscheidung; ich habe kein Recht, jemand
anderen mit ihr zu belasten, nicht einmal Tzerlag, kein Stück weit. Er sollte noch nicht einmal
ahnen, was er mit angesehen und unfreiwillig mit verursacht hat, zu seinem eigenen Besten.
Soll es für ihn unser Dagor-Dagorlad bleiben – ein siegreiches Dagor-Dagorlad...
„Ich will damit sagen... Es ist so, dass niemand in Mittelerde an unseren Sieg glauben wird. Keine Siegesparaden, verstehst du? Glaub mir: die Elben und die Menschen auf der anderen Seite
des Anduin werden einen Weg finden sich als Sieger hinzustellen, so oder so.“
Der Orozene nickte und hielt einen Moment still, als wolle er dem nachlassenden Grollen des
Schicksalsberges lauschen. „Stimmt. So wird es wohl sein. Aber was kümmert uns das?“
299
Epilog
„Was wird die Geschichte sagen?“
„Die Geschichte, mein Herr, wird lügen – wie immer.“
Bernard Shaw
Hab den Mut, zu träumen und zu lügen.
Friedrich Nietzsche
Unsere Erzählung basiert vollständig auf Tzerlags Erzählungen, die sein Stamm mündlich als
Teil seiner Traditionen bewahrt hat, so unvollständig sie auch sind. Man muss betonen, dass es
keine Schriftstücke gibt, die als Beleg dafür dienen können. Derjenige, von dem man die vollständigsten Aufzeichnungen hätte erwarten können, nämlich Haladdin selbst, hat kein einziges Wort aufgeschrieben, und die anderen Teilnehmer an der Jagd nach Galadriels Spiegel,
Tangorn und Kumai, schwiegen aus offensichtlichen Gründen. Wer also alles als alte Märchen
eines Orks, der das Ende des Kriegs des Ringes neu aufführen wollte, kann dies ruhigen Gewissens tun. Dazu sind Memoiren schließlich da: damit Veteranen ihre Niederlagen als tatsächliche Siege darstellen können.
Andererseits werden diejenigen, die diese Geschichte für eine plausible oder gar wahre Version der historischen Ereignisse halten, an einigen Ereignissen jenseits des unmittelbaren Zeitrahmens interessiert sein. Tzerlag zufolge hatte er Haladdin vom Orodruin nach Ithilien begleitet; der Doktor schien sehr krank zu sein und sprach die ganze Reise nie mehr als zehn
Worte am Stück. Bei einer Rast fiel der Feldwebel in einen derart tiefen Schlaf, dass er erst am
nächsten Abend mit gewaltigen Kopfschmerzen und Übelkeit wieder aufwachte. Statt seinem
Kameraden lag neben ihm das Mithrilhemd, mit einem Abschiedsbrief darin. Haladdin schrieb,
dass Mittelerde nun von der Bedrohung durch die Elben befreit sei; als kommandierender Offizier der Operation spreche er Tzerlag seinen Dank für hervorragende Dienste aus und verleihe ihm die wertvolle Rüstung. Was ihn selbst angehe, habe er leider 'den Sieg so teuer erkauft,
dass er für sich keinen Platz mehr bei den Menschen sehe.' Diese Worte ließen den Kundschafter das Schlimmste fürchten, aber eine Bestätigung fand er nicht: aus den Spuren las er, dass
Haladdin die Ithilier Hochstraße erreicht hatte und nach Süden verschwunden war.
Interessanterweise hat vor ein paar Jahren ein bestimmter leichtgläubiger Doktorand an der
Fakultät für Mittelalterliche Geschichte der Universität Umbar diese Legende für bare Münze
genommen und sich die Mühe gemacht, die Aufzeichnungen mehrerer Klöster des Ostens zu
durchkämmen, die die letzten fünfzehn Jahrhunderte zurückreichen, mit geradezu abnormaler Hartnäckigkeit. Man sollte es nicht glauben, aber der Welpe fand einen sehr merkwürdigen
Zufall: im Januar 3020 des damals gültigen Kalenders trat ein nach einem Umbarer aussehender Mensch als Mönch dem Höhlenkloster Gurwan Aren in den Bergen des nördlichen Vendotenien bei. Der Mönch legte ein Schweigegelübde ab und spendete dem Kloster einen Ring aus
Inoceramium. Das verführte den Studenten dazu, (laut dem Protokoll einer Fakultätssitzung),
'die voreilige, unbegründete und vollkommen unwissenschaftliche Behauptung aufzustellen,
dieser Mönch sei der legendäre Haladdin gewesen.' Selbstverständlich wies der Prüfungsausschuss den Möchtegerngeisterjäger auf das Schärfste zurecht, so dass er jeden Abweichungen
von seinem genehmigten Dissertationsthema abschwor und seither pflichtbewusst Tonfragmente von den Müllhaufen der Siebten Dynastie Khands abstaubt.
Was den historischen Haladdin angeht, fällt sein Name in jeder Universitätsvorlesung in Medizingeschichte – als Beispiel für die Gefahren plötzlichen Sprünge vorwärts – und nicht etwa in
Physiologie, seinem Lebenswerk. Seine brillanten Studien zur Arbeitsweise des Nervengewe300
bes waren seiner Zeit so weit voraus, dass sie aus dem wissenschaftlichen Zusammenhang
fielen und in Vergessenheit gerieten. Erst drei Jahrhunderte später stießen die Ärzte der
Schule von Ithilien auf seine Werke, als sie nach alten Gegengiften suchten. Es stellte sich
heraus, dass Haladdin den berühmten Vespuno um fast hundert Jahre geschlagen hatte; er
hatte nicht nur im Versuch die elektrische Stimulation des Axon bewiesen, sondern auch die
Existenz von Neurotransmittern vorhergesagt, und sogar ein Modell ihrer Wirkungsweise aufgestellt. Leider interessieren sich nur Historiker für die Frage, wer zu erst da war; die Wissenschaft hat keinen Nutzen von dieser Art Wissen Jedenfalls ist Haladdins letzte bekannte Arbeit
im Jahr 3016 des Dritten Zeitalters datiert, und offiziell ist er im Krieg des Ringes gefallen.
Zurück zu Tzerlag, dessen Geschichtlichkeit außer Frage steht. Soweit bekannt ist, endete die
Besetzung Mordors plötzlich und auf unerklärliche Weise im Winter 3020, und das Leben dort
wurde langsam wieder normal. Die Stadtbevölkerung hatte gewaltige Verluste erlitten, von denen sich die Zivilisation Mordors genau genommen seit damals nicht mehr erholt hat. Die Nomaden aber hatten sich aus diesen Verwirrungen größtenteils heraushalten können. Der Feldwebel war der Ansicht, ein Mann, mit den Händen am richtigen Platz gewachsen statt am Hintern, wird in jeder Lage obenauf sein, und bewies diesen Wahlspruch mit seinem ganzen Leben. Nach der Rückkehr in heimatliche Gefilde wurde er zum Gründer eines großen und
mächtigen Stammes, der die Geschichte seiner Reisen nach Sitte der Nomaden mündlich weitergab.
Zufälligerweise war das Schicksal Runcorns, des anderen Feldwebels, fast das gleiche wie das
Tzerlags, abgesehen davon, dass der ehemalige Waldläufer auf der anderen Seite der Schattenberge im Tal des Otterbachs lebte, nicht auf dem Morgaiplateau. Die Siedlung, die er unter dem
seltsamen Namen Lianica gegründet hatte, wuchs innerhalb von fünf Jahren zu einem richtigen Dorf heran. Als sein kleiner Sohn das erste Goldkorn in Ithilien im Kies des Bachbettes
fand, zuckten die Nachbarn nur mit den Schultern: Geld kommt immer zu Geld. Hätten er und
der Orozene sich in hohem Alter noch einmal getroffen, hätten sie ohne Zweifel ihre Debatten
vom Finsterwald über die Vorzüge von Schwarzbier und Kumiss in der Praxis fortgeführt, aber
es sollte wohl nicht sein.
Tzerlag hatte eigentlich vor, das Mithrilhemd an Haladdins Freundin zu übergeben, zusammen
mit der Geschichte der heldenhaften Errungenschaften seines verschwundenen Freundes.
Aber Kumai war verstorben, und der Kundschafter selbst wusste nichts über das Mädchen außer dem Namen Sonya, der unter Trollen sehr häufig ist, und ihre angebliche Beteiligung am
Widerstand, also konnte er sie nicht ausfindig machen. Der verzweifelte Orozene entschied
deshalb, dass er und sein Stamm nicht die Besitzer, sondern die Bewahrer des Artefakts seien
(die Nomaden sind in solchen Angelegenheiten immer übertrieben genau). Sein Ur- UrGroßenkel übergab es schließlich zusammen mit den dazugehörigen Kopfschmerzen dem Geschichtlichen Museum von Núrnen, wo man es heute mit den anderen Relikten der mysteriösen Zivilisation von Mordor bewundern kann. Hier wird der Befürworter der Legende den
Finger heben und sagen: „Aha! Das Kettenhemd ist doch ein eindeutiger Beweis!“ Die schwerwiegende und absolut korrekte Antwort darauf wäre, dass das Hemd auch in Tzerlags Geschichte gar nichts beweist, weil Haladdin es noch vor dem Ring des Nazgúl erhalten hatte.
Wo wir schon von Mithril reden: In den Museen von Arda existieren insgesamt vier solcher
Kettenhemden, aber die Art ihrer Herstellung bleibt mysteriös. Wenn man von einem Metallurgen etwas schweres an den Kopf geworfen haben will, fragt man ihn am besten nach dieser
Legierung. Man hat sie zu Tode analysiert: 86 Prozent Silber, 12 Prozent Nickel und Spuren
neun anderer seltener Metalle von Vanadium bis Niob; man kann die Mengenverhältnisse bis
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zur neunten Stelle nach dem Komma messen, die Röntgenstruktur analysieren und eine
Unmenge anderer Dinge tun, nur eines nicht: sie reproduzieren. Manche behaupten, nicht
ohne sanften Spott, dass die alten Meister wohl in jeden Barren Mithril einen Teil ihrer Seele
eingeschmolzen hätten, und da es heute keine Seelen mehr gibt, sondern nur die objektive
Realität, die unsere Sinne wahrnehmen, können wir heutzutage auch kein echtes Mithril mehr
herstellen.
Der neueste Versuch wurde von den schlauen Jungs des Hochtechnologiezentrums Arnor unternommen, mit einer Sonderspende von Angmar Aerospace. Es war alles vergebens: man
zeigte dem Spender eine zwei Millimeter dicke Platte einer Legierung (86,12% Silber, 11,96%
Nickel und so weiter) und behauptete, dies sei echtes Mithril und alles andere nur Legende.
Wie üblich verlangten die Herren anschließend mehr Geld, um ihre Schöpfung weiter untersuchen zu können. Ohne mit der Wimper zu zucken, holte daraufhin der Chef der Raketenbauer
eine geladene, museumsreife Armbrust unter seinem Schreibtisch hervor, zielte auf den Projektleiter und schlug vor, er solle sich mit der Platte schützen – wenn sie hielte, bekäme er das
Geld, wenn nicht, brauche er es nicht. Wenig überraschend war das das Ende des Projektes.
Ich weiß nicht, ob diese Geschichte stimmt, aber diejenigen, die den geschäftsführenden Vorstand von Angmar Aerospace persönlich kennen, schwören darauf, dass so ein Witz ganz nach
seinem Geschmack sei – er führe seine Abstammung nicht umsonst auf den Hexenkönig zurück.
Die Geschichte des Inoceramium, aus dem angeblich die Ringe der Nazgúl waren, ist viel einfacher, und der Grund, warum es so wenige zu Gesicht bekommen, liegt auf der Hand. Dieses
Metall der Platingruppe ist nicht nur extrem selten (man schätzt 0,04 ppm, Gold zum Beispiel
0,5 ppm und Iridium 0,1 ppm der Kruste Ardas) - im Gegensatz zu den anderen Platinmetallen
findet man es niemals fein verteilt, sondern ausschließlich in großen Körnern. Wie wahrscheinlich es ist, so eines zu finden, kann sich jeder selbst ausrechnen. Tatsächlich fand man
vor gar nicht allzu langer Zeit ein solches Korn in der Kigvalimine im südlichen Harad, das unglaubliche 87 Unzen wog; die örtliche Zeitung titelte Fund des Jahrhunderts – sechs Pfund Inoceramium – Würde genug Ringe für eine ganze Kompanie Nazgúls liefern. Dieses Metall hat absolut keine ungewöhnlichen Eigenschaften außer seiner extremen Dichte, die sogar Osmium
übertrifft.
Aber genug von Metallen.
Alwiss heiratete nie. Sie blieb in selbst gewählter Einsamkeit in ihrem Haus in der Jasperstraße und widmete sich ganz der Erziehung des Sohnes, den sie in angemessener Zeit nach diesen Ereignissen geboren hatte. Aus diesem Jungen wuchs niemand anderes als der berühmte
Commodore Amengo heran – der, der nach allgemeiner Ansicht mit seinen Reisen das Zeitalter der großen Entdeckungen einläutete. Der Commodore hinterließ Karten der Küste eines
neuen Kontinents, der später seinen Namen tragen sollte, in literarischem Sinne wunderbare
Reisetagebücher und eine lange Kette gebrochener Herzen – nichts davon hatte ihm Familienglück gebracht. Außer dem großen Westkontinent, den man lange für den legendären Fernen
Westen hielt und in dessen Eingeborenen lange versuchte, elbische Eigenschaften zu finden,
gehört zu Amengos Entdeckungen auch eine kleine tropische Inselgruppe, die er verdientermaßen 'Paradiesinseln' getauft hatte. Der Name wurde später von der Heiligen Kirche geändert (die eingeborenen Mädchen sahen aus wie lebende, atmende Houranis, wie sie die abscheuliche hakimianische Häresie dargestellt hatte), aber die zwei größten Inseln der Gruppe,
die von der Form her dem Yin-Yang – Symbol ähnelten, behielten ihre vom Entdecker gegebenen Namen: Alwiss und Tangorn.
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Was mich angeht, hat der berühmte Seefahrer seine Eltern auf die beste Art unsterblich gemacht. Allerdings ist die Liebesgeschichte zwischen der Umbarer Kurtisane und dem Gondorer Aristokraten schon lange ein beliebtes Thema zahlloser Schriftsteller. Aus irgendwelchen
Gründen machen diese Leute aus den Hauptdarstellern entweder entkörperlichte romantische Geister oder reduzieren alles auf primitive Pornographie. Leider ist die neueste amengianische Kinoversion – Der Spion und die Hure – keine Ausnahme davon: sie wurde mit Recht in
Gondorer Kinos mit XXX eingestuft und im sittenstrengen Angmar direkt verboten. Künstlerischer Anspruch ist in dem Film wenig vorhanden, aber er ist politisch absolut korrekt: Alwiss
ist schwarz (Verzeihung – Harado-Amengianerin) und die Beziehung zwischen Grager und
Tangorn hat einen leicht homosexuellen Unterton. Alle Kritiker waren sich einig: Um sich vor
Anfeindungen wegen Sexismus, Rassismus und anderen schlimmen Ismen zu schützen, würden die Kritiker des Silberhafener Filmfestivals ihm jeden denkbaren Preis verleihen, was
auch genau so zutraf. Jedenfalls war die Goldene Elanor als beste Schauspielerin für die unnachahmliche Gunun-Tua hochverdient.
Almandin und Jacuzzi wurden in einer der unerträglich heißen Augustnächte des Jahres 3019
auf dem Hof des Gefängnisses von Ar-Horan gehängt, Flaggkapitän Makarioni und sieben weitere Offiziere, die an 'Admiral Carneros Meuterei' teilgenommen hatten, wurden mit ihnen hingerichtet. So lautete die nachträgliche Beschreibung von Operation Schirokko. Der Admiral
hatte in einem Erstschlag die gesamte Invasionsflotte Gondors noch im Hafen versenkt und
dann eine Landetruppe abgesetzt, die die Schiffswerften von Pelargir vollständig niedergebrannt hatte. Um das Gesicht zu wahren, musste Aragorn den Pakt von Dol Amroth unterzeichnen. Darin bezeichnete sich Umbar als 'untrennbaren Teil des Wiedervereinigten Königreiches', aber wurde dafür zur Freien Stadt. Der Senat wurde in Magistrat umbenannt und die
Armee in Garnison; Sonderbotschafter Alkabir, der für die Republik verhandelte, holte sogar
eine Sonderklausel heraus, die der Geheimwache Ihrer Majestät jede Aktivitäten in ihrem Gebiet verbot. Zur gegenseitigen Zufriedenheit des Königs von Gondor und des Umbarer Senats
wurde Admiral Carneros Überfall als simple Piraterie eingestuft, und alle Teilnehmer zu Deserteuren und Verrätern, die ihren Eid gebrochen und keinerlei militärischer Ehren würdig
waren, erklärt.
Natürlich sah das Volk Carneros Mitverschwörer (der Admiral war dem Kriegsgericht durch
seinen Tod bei Pelargir entgangen) als Helden, die das Vaterland vor einer Invasion beschützt
hatten, aber das änderte nichts daran, dass sie gegen ihre Befehle gehandelt hatten. Generalstaatsanwalt der Republik Almaran hatte für dieses ethische Dilemma eine einfache Lösung:
„Der Sieger hat immer recht, sagt ihr? Von wegen! Entweder es gibt das Gesetz, und zwar für
alle gleichermaßen, oder überhaupt kein Gesetz.“ Seine pathetische Anklagerede (die vollständig oder in Auszügen in jedem modernen Rechtskundebuch zitiert wird), lässt sich am vollständigsten mit ihrem Schlusssatz zusammenfassen: „Mag die Welt daran zu Grunde gehen,
aber übt Gerechtigkeit!“ Sei es, wie es sei, die hingerichteten Geheimdienstler Umbars hätten
wissen müssen, dass das Vaterland ein seltsames Verständnis von Dankbarkeit hat...
Sonya erfuhr nie,was Haladdin getan hatte (wie wir wissen, war das seine größte Sorge) und
verblieb in der Gewissheit, dass er und Kumai auf dem Feld von Pelennor gefallen waren. Aber
die Zeit heilt alle Wunden, und als es so weit war, erfüllte sie ihren Lebenszweck und wurde
eine liebende Ehefrau und Mutter, mit einem würdigen Ehemann, dessen Name für uns keine
Rolle spielt.
Meiner Ansicht nach sind die adligen Persönlichkeiten weniger interessant, denn ihr Schicksal
ist wohl bekannt. Wer zu faul ist, ein Buch in die Hand zu nehmen oder zu mindestens die Ge303
schichtsaufgaben der sechsten Klasse, sei erinnert, dass Aragorns Herrschaft eine der großartigsten der Geschichte Mittelerdes war und als eines der Dinge gilt, die das Mittelalter (oder
Dritte Zeitalter) von der Neuzeit trennen. Der Thronräuber versuchte gar nicht erst, sich beim
Adel Gondors beliebt zu machen, was schon von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen
wäre. Stattdessen setzte er klugerweise auf den Dritten Stand, den Steuersätze und sicherer
Handel mehr interessierten als dynastische Rechte und ähnliche Spinnereien. Da Seine Majestät ziemlich alle Verbindungen zum Adel gekappt hatte, gab ihm das paradoxerweise die Freiheit, eine radikale Agrarreform umzusetzen, die die Macht der Landherren drastisch einschränkte und Freibauern bevorzugte. Das waren die Faktoren, die zum 'Gondorer Wirtschaftswunder' und der kolonialen Ausbreitung führten, während die repräsentativen Legislativkörper, die Aragorn als Gegengewicht zur Aristokratie geschaffen hatte, bis heute beinahe
unverändert existieren und dem Wiedervereinigten Königreich den wohlverdienten Titel als
Mittelerdes ältester Demokratie einbringt.
Es gehört zum Allgemeinwissen, dass der König die Wissenschaft unterstützte und förderte,
genau so Handwerk und Seefahrt, fähigen Männern Staatsämter verschaffte, ohne ihre Abstammung zu berücksichtigen, und vom Volk aufrichtig geliebt wurde. Der einzige dunkle
Fleck auf Elessar Elbensteins Reputation ist die Frühzeit seiner Herrschaft, als seine Geheimwache (zugegebenermaßen eine angsteinflößende Truppe) den Thron vor den Feudalherren
mit eiserner Faust schützen musste, auch wenn heutige Historiker der Ansicht sind, dass die
Geschichtsschreiber der Adligen das Ausmaß des Terrors weit übertrieben hatten. Aragorns
für ihre Schönheit berühmte Ehefrau Arwen (der Legende nach elbischer Abstammung) spielte in Staatsangelegenheiten keine Rolle und verlieh seinem Hof lediglich eine leicht geheimnisvollen Glanz. Sie blieben kinderlos, und die Dynastie der Elbenstein endete mit ihrem Gründer.
Der Thron ging zurück an den Prinz von Ithilien – in anderen Worten, alles wurde wieder wie
früher.
Eine Analyse der Herrschaft des ersten Prinzenpaares von Ithilien, Faramir und Éowyn, in
politischer oder wirtschaftlicher Hinsicht ist ziemlich schwierig – es scheint, als habe es dort
weder Politik noch Ökonomie gegeben, sondern eine unendliche Liebesgeschichte. Fast alle
zeitgenössischen Dichter und Maler müssen am fesselnden Bild der Waldfee von Ithilien mitgewirkt haben (es klingt seltsam, aber Ithilien, das industrielle Herz Mittelerdes, war wirklich
einmal ein Waldgebiet!), denn Faramirs bescheidener Hof wurde für sie eine Art Heiligenschrein, und wer nicht mindestens einmal dort hin gepilgert war, galt als geschmacklos im
höchsten Grade. Aber selbst ohne die unvermeidliche Idealisierung muss diese Éowyn eine
außergewöhnlich reine Seele gewesen sein.
Dank dieser Armee von Künstlern haben wir mehrere Porträts von Prinz Faramir; das meiner
Meinung nach beste ist in einer Monographie namens Philosophischer Agnostizismus und seine
frühen Vertreter reproduziert, die kürzlich beim Turmverlag Amon Sul in Anuminas erschienen ist. allerdings hat keines von ihnen Ähnlichkeit mit dem scharfen Profil, das einen von den
Kokarden an den senffarbenen Baretten anstarrt, die die Kommandosoldaten des Ithilischen
Fallschirmjägerregiments tragen. Übrigens, die berühmten 'Mungos' – die Antiterroreinheit,
deren Mitglieder letzten auf jedem Fernsehschirm Ardas zu sehen waren, als sie ein voll besetztes vendotenisches Flugzeug auf dem Flughafen von Minas Tirith aus der Hand von fanatischen Hannani der Nordmingaer Befreiungsfront retteten – gehören ebenfalls zu diesem Regiment.
Faramir hatte genau einmal in seiner ganzen Amtszeit eine außenpolitische Handlung begangen – er genehmigte Baron Gragers Bitte, ihn nach Süden über den Fluss Harnen zu schicken,
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um eine Reihe von Aufklärungs- und Zersetzungsaktionen durchzuführen: „...denn so wie es
aussieht, wird sich dort im Nahen Harad das Schicksal Mittelerdes entscheiden.“ Seltsamerweise ist das weitere Schicksal von Grager von Aran – der nicht ganz unbegründet oft der Retter des Westens genannt wird – verschüttet unter unverifizierten Legenden und Anekdoten.
Man weiß nur, was das Ergebnis seiner Bemühungen war – der massive Aufstand der Aranianer gegen ihre Herren aus Harad, was einen Dominoeffekt auslöste, an dessen Ende das ganze
geheimnisvolle Reich von Harad gefallen war und sich in eine ungefährliche Gruppe einander
bekriegender Stämme spaltete. Keiner weiß, woher dieser abenteuerlustige Intellektuelle seine eiserne Autorität bei den widerspenstigen Wilden der Harnensavanne her hatte. Das Märchen, wie er zufällig den Sohn eines aranianischen Häuptlings auf dem Sklavenmarkt von
Khand erwarb, scheint komplett unzuverlässig; die Vermutung, dass er seine Macht im Bett
der Hohepriesterin Svantatra erobert hat, ist niedlich und romantisch, aber wer die Verhältnisse im Süden kennt, kann nur darüber lachen. Sogar seine Todesart ist unklar: entweder
starb er auf der Löwenjagd oder aus Versehen, als er wegen einer Wasserstelle zwischen zwei
verfeindeten aranianischen Stämmen vermittelte.
Aber das Schicksal von Éomer ist dermaßen unglaublich, dass manche Autoren immer noch
versuchen zu beweisen dass er eine Legende und keine reale Person war. Als er nach dem
Mordorfeldzug den Thron der Mark Rohan bestieg, stellte er zu seiner Überraschung und seinem Ärger fest, dass es niemanden mehr zu bekämpfen gab, zu mindestens nicht in seiner
Ecke Mittelerdes. Eine Zeit lang versuchte der berüchtigte Krieger sich mit Turnieren, der Jagd
und Liebesabenteuern abzulenken, aber er hatte es schnell satt und verfiel in Depressionen.
(Die historische Genauigkeit zwingt mich übrigens, zuzugeben, dass dieser Ritter ohne Furcht
und Tadel sich auf dem Schlachtfeld der Liebe durch ein vollkommenes Fehlen von Geschmack
und einen unglaublichen Appetit auszeichnete. Deshalb schlugen die Witzbolde in Edoras ihrem Monarchen den Wahlspruch 'Einer für alle' vor.) Da erinnerte sich der zwangsweise
untätige Monarch an einen bestimmten, wundervollen Glauben, der hm auf dem Feld von
Pelennor zum Sieg verholfen hatte. Zuerst dachte er daran, Hakimiani zur Staatsreligion zu
machen, aber dann hatte er eine interessantere Idee.
Zu dieser Zeit herrschte im Kalifat von Khand ein blutarmer Religionskrieg zwischen zwei
Sekten der Hakimiani. Bis heute ist unklar, wie Éomer entschied, welche Seite den richtigen
Glauben vertrat. Ich persönlich glaube, er hat eine Münze geworfen – die eigentlichen Unterschiede in den Lehrmeinungen waren und sind ein fruchtbares Feld für ganze Heerscharen
von Theologen. Wie auch immer, er bekehrte seine gesamte Königliche Garde, die sich ebenso
langweilte und gegen jeden angetreten wäre, zu dieser Sekte (der Legende nach gab einer von
Éomers Kriegern, als man ihn fragte, wie es sich anfühle, auf dem Pfad des Wahren Glaubens
zu wandeln, die Antwort: „Nicht schlecht, Tulkas sei gepriesen – meine Stiefel halten dicht“)
und zog südwärts. Der König ließ einen Vetter zweiten Grades als Regent in Edoras zurück;
unvermeidlicher Weise löste das Erbfolgestreitereien aus, die das Land ein Jahrhundert lang
im Griff hatten und ihren Höhepunkt im Krieg der Neun Burgen fanden, der die gesamte Ritterschaft Rohans auslöschte.
Zur völligen Verblüffung seiner Kameraden schwor Éomer in Khand seinem bisherigen Leben
ab, verteilte seinen Besitz bis auf sein Schwert an die Armen und schloss sich den Kriegerderwischen vom Orden der Hannaniten an. Er nutzte sein Führungstalent im Dienste seiner ausgewählten Sekte und zerschmetterte die Opposition in drei Entscheidungsschlachten, die
sechsundzwanzig Jahre 'heiligen Krieg' in nur sechs Monaten beendeten. Die 'guten'
Hakimiani ehrten ihn als Schwert des Propheten, die 'Schismatiker' nannten ihn die Geißel
Gottes. Am Ende der dritten Schlacht, als die Niederlage der Ketzer alles außer sicher war,
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wurde Éomer von einem feindlichen Katapultgeschoss getötet – der beste Tod, den sich ein
geborener Kommandant wünschen kann. Die Hakimiani ernannten ihn sofort zum heiligen
Märtyrer, also dürfte er inzwischen die Gesellschaft der Houranis genießen.
Das scheint eine gute Stelle zu sein, um anzuhalten. Zum Abschluss möchte ich betonen, dass
ich die Lücken in Tzerlags Geschichte mit eigenen Worten gefüllt habe. Der alte Soldat ist nicht
verantwortlich für meine Erfindungen, vor allem weil jetzt viele den Erzähler – wen sonst? leidenschaftlich angreifen werden, weil er von der öffentlichen Version des Endes des Dritten
Zeitalters abgewichen ist. Dabei haben die meisten ihr Wissen darüber aus dem angepassten
westlichen Epos Der Herr der Ringe, im besten Fall, und noch öfter aus der Fernsehserie Das
Schwert Isildurs und dem Computer – Ballerspiel Hallen von Moria.
Diese Kritiker möchte ich daran erinnern, dass Der Herr der Ringe die Geschichte der Sieger
ist, die natürlich ein Interesse daran hatten, die Besiegten in bestimmter Weise darzustellen.
Wenn damals ein Völkermord stattgefunden hat – und wo sollten all diese Leute sonst geblieben sein? - dann ist es höchst wichtig, alle zu überzeugen, auch sich selbst, dass die Gegner
Orks und Trolle waren statt Menschenvölker. Ich könnte auch fragen: Wie oft gab es in der
menschlichen Geschichte Herrscher, die ihren Thron freiwillig zugunsten eines Niemands von
nirgendwo her aufgegeben haben? Entschuldigung – eines Dúnadan aus dem Norden? Und
noch eine interessante Frage ist, was Elessar Elbenstein eigentlich wirklich den wunderbaren
Freunden, die er auf den Pfaden der Toten gewonnen hat, bezahlt hat. Die Mächte des Absolut
Bösen zu zu beschwören (für die gute Sache natürlich) ist nichts ungewöhnliches, er war weder der erste noch der letzte; aber dass diese Mächte sich nach Erfüllung ihrer Aufgabe einfach
so ins Nichts zurückziehen, ohne eine Gegenleistung zu verlangen, klingt doch recht zweifelhaft. Zumindest habe ich nie von so etwas gehört. Oder ich kann... Ich kann, aber ich werde
nicht. Wozu auch? Ich habe keine Lust, mich an dieser Polemik zu beteiligen.
Anders gesagt, Leute, leben und leben lassen. In unserem Fall bedeutet das: Wenn es euch
nicht gefällt, hört einfach nicht darauf, wie ich eine große Geschichte umdrehe.
ENDE
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