20 Jahre auf dem Weg zur Einheit - Friedrich-Naumann

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20 Jahre auf dem Weg zur Einheit - Friedrich-Naumann
magazin
programm 1_10
20 Jahre auf dem
Weg zur Einheit
Beiträge und Interviews
von und mit
Lothar de Maizière,
Avi Primor, Jakob Hein
und anderen
Inhalt
Editorial
Hinter uns liegt ein Jahr des Rückblicks, aber auch des Abschieds. Im
­ ovember jährte sich der Fall der Berliner Mauer zum 20. Mal. Damals
N
glückte eine friedliche Revolution, eine historische Sternstunde, wie es wenige gibt in der deutschen Geschichte. Zwei andere Tage des Jahres 2009 indes
werden in der Erinnerung schwarz markiert bleiben: Im Juni verstarb, kurz
nach seinem 80. Geburtstag, Lord Ralf Dahrendorf, im Oktober, im Alter von
90 Jahren, Werner Maihofer. Der Liberalismus verliert mit ihnen zwei seiner
profiliertesten Vordenker. Auch unserer Stiftung waren beide aufs Engste verbunden: Dahrendorf war von 1982 bis 1987 Vorsitzender ihres Vorstandes,
Maihofer war knapp drei Jahrzehnte Mitglied des Kuratoriums, davon einige
Jahre stellvertretender Vorsitzender.
2009 könnte aber auch als ein Jahr der politischen Weichenstellung in die
Annalen der Geschichte eingehen. Die Mehrheitsverhältnisse im neuen, Ende
September gewählten Bundestag geben Anlass zur Hoffnung, dass die Politik
hierzulande bald wieder eine klar erkennbare liberale Handschrift trägt. Vor uns
liegen könnte dann ein Jahr des Aufbruchs, der Renaissance freiheitlicher Ideen.
Verbunden mit dem Jahr 2010 ist natürlich aber auch noch etwas anderes:
Am 3. Oktober feiert die deutsche Einheit ihren 20. Geburtstag. Der Sturz des
SED-Regimes im Herbst 1989 bleibt das historische Verdienst der Bürger der
damaligen DDR. Der 3. Oktober indes ist ein Feiertag mit perspektivischem
Anspruch, schließlich begann 1990 etwas Neues.
Auch der „Tag der Deutschen Einheit“ eignet sich für historische Retrospektiven, keine Frage. Viel mehr noch aber bietet er die Möglichkeit, ­Bilanz
zu ziehen und sich über den Standpunkt und vor allem die Perspektiven
unseres Landes neu zu verständigen. Genau das wollen wir tun, indem wir
dieses Programm-Magazin thematisch dem 20. Jahrestag der deutschen
­Einheit widmen.
Wir freuen uns, dass wir auch diesmal wieder zahlreiche prominente
Vertreter aus Politik und Wissenschaft, Medienwelt und Kultur als Autoren
gewinnen konnten. Jakob Hein gehört dazu, aufgewachsen in der DDR und
berühmt geworden unter gesamtdeutschen Vorzeichen, Klaus Schroeder,
dessen Schülerstudie zum DDR-Wissen für Furore sorgte, ferner Avi Primor,
ehemaliger Botschafter des Staates Israel in Deutschland. Ich wünsche Ihnen
eine anregende Lektüre.
Der Gott des rechten ­Augenblicks
Dr. Dr. h. c. Lothar de Maizière
3
Vor allem eine Sache der Wahrnehmung
Interview mit Dr. Jakob Hein
4–5
Das DDR-Bild von Jugendlichen
Prof. Dr. Klaus Schroeder
6–7
Pro & Contra
Aufbau Ost – weiter so?
Pro: Prof. Dr. Karl-Heinz Paqué
Contra: Uwe Müller
8–9
Programm 1. Halbjahr 2010
Verfassungspatriotismus im vereinten
Deutschland
Dr. Volker Kronenberg
10–11
Kurs gehalten. Das deutsch-israelische
Verhältnis nach 1990
Avi Primor
12–13
„50 Jahre deutsche Einheit“.
Ein fiktiver Rückblick
Johannes Vogel MdB
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Lesetipps, Impressum
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Dr. h. c. Rolf Berndt
Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der
Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit
Titelbild: Mauergedenkstätte in der Bernauer Straße, Berlin
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magazin 1_10 | thema
Der Gott
des rechten
­Augenblicks
Dr. Dr. h. c. Lothar de Maizière
Zwanzig Jahre Fall der Berliner Mauer,
zwanzig Jahre Herstellung der deutschen
Einheit – zwei Anlässe, sich an das zu erinnern, was in den stürmischen Tagen, Wochen und Monaten der Jahre 1989/1990
geschehen ist. Heute erscheint vieles etwas von einer historischen Zwangsläufigkeit zu haben. Wir tun heute manchmal
so, als hätten die Akteure von damals
schon gewusst, was aus ihrem Tun erwachsen würde. Dem war nicht so. Ein
Beispiel: Als Gorbatschow mit Glasnost
und Perestroika begann, hatte er nicht
die Absicht, den Sozialismus in der Sow­
jetunion zu beseitigen und die UdSSR
aufzulösen. Und doch kam es so. Es war,
das habe ich einmal in einem Interview
gesagt, eine „Zeit der Plötzlichkeit“.
Ein anderes Beispiel: Am Abend des
9. November saß ich im Französischen
Dom am Berliner Gendarmenmarkt. Manfred Stolpe, damals Konsistorialpräsident
der Berlin-Brandenburgischen Kirche (Region Ost), hatte Vertreter aller alten und
neuen Parteien und Gruppierungen dorthin eingeladen, um mit ihnen darüber zu
beraten, wie es in der DDR weitergehen
sollte. Wenige hundert Meter entfernt
gab Günter Schabowski seine inzwischen
historisch gewordene Pressekonferenz,
bei der er eher beiläufig die Öffnung der
Mauer erklärte. Wenig
später strömten die
ersten Ostberliner über
die Bornholmer Brücke
in Richtung Westen.
Während wir also noch
über eine neue, reformierte DDR diskutierten, wurde bereits die
letzte Stunde dieses
Staates eingeläutet.
Schnell wurde aus der Losung „Wir sind
das Volk!“ der Ruf „Wir sind ein Volk!“. Eine
„Zeit der Plötzlichkeit“ eben.
Dr. Dr. h. c. Lothar de Maizière war erster demokratisch
gewählter Ministerpräsident der DDR. Von März bis
Oktober 1990 war er Mitglied der Volkskammer,
vom 3. Oktober 1990 bis zu seinem Ausscheiden am
15. Oktober 1991 Mitglied des Deutschen Bundestages.
Heute arbeitet er als Anwalt.
Wir alle konnten uns damals nicht vorstellen, dass in einem halben, drei viertel
Jahr der Einigungsprozess so weit gedei-
hen würde, wie er letztendlich gediehen
ist. Wir alle waren überrascht von dieser
historischen Plötzlichkeit, mit der wir in
diesen Prozess hineinkamen. In der Regierungserklärung, die ich am 19. April
1990 abgab, habe ich noch gesagt: „Ich
hoffe, dass wir 1992 in Barcelona mit
einer gemeinsamen deutschen Olympiamannschaft antreten werden.“ Und Helmut Kohls Zehn-Punkte-Plan, den er im
November 1989 im Deutschen Bundestag
vorstellte, hatte, so hat er vor Journalisten eingeräumt, einen Zeithorizont von
fünf bis acht Jahren.
Die alten Griechen ordneten die Zeit
zwei Göttern zu: dem Gott Chronos, der
den Ablauf der Zeit, die ewige Zeit versinnbildlicht, und dem Gott Kairos, dem
Gott der günstigen Gelegenheit und des
rechten Augenblicks. Viele Menschen, die
Demonstranten auf den Straßen in der
DDR und den anderen osteuropäischen
Staaten, sowie viele Politiker waren dem
Gott Kairos behilflich.
So ist der 9. November für mich zum
Tag des Endes des 20. Jahrhunderts
geworden: des Jahrhunderts zweier Weltkriege, zweier menschenverachtender
Diktaturen, der leninistisch-stalinisti­
schen und der natio­nalsozialistischen. Wir
Deutschen haben die große Chance, dass
das, was wir am 3. Oktober 1990 begonnen haben, von keiner Diktatur entstellt
und von keinem Krieg zerstört wird. Dafür
müssen wir den Dreiklang „Einigkeit und
Recht und Freiheit“ hüten und bewahren.
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thema | magazin 1_10
Vor allem eine Sache
der Wahrnehmung
Der Schriftsteller Jakob Hein zu Ost-West-Unterschieden
nach 20 Jahren Wiedervereinigung
Dr. Jakob Hein
_ Herr Hein, der 3. Oktober 1990 liegt
fast zwanzig Jahre zurück. Ist zusammen­
gewachsen, was zusammengehört?
Ich glaube, der Unterschied Ost/West
ist immer noch ein Thema, sogar stärker,
als ich mir das vor zwanzig Jahren hätte
vorstellen können. Ich habe sogar die Befürchtung, dass ich dereinst als einer der
letzten DDR-Schriftsteller von dieser Erde
gehe. Eine bedrückende Vorstellung. Ich
habe sogar schon überlegt, ob ich mich
nicht umoperieren lasse zum Wessi.
_ Kennen Sie Kliniken, die solche Eingriffe
vornehmen?
Dr. Jakob Hein ist Schriftsteller und arbeitet als Arzt
in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am
Berliner Universitätskrankenhaus Charité.
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Es gibt zumindest ein Internetportal,
in dem man Biografien tauschen kann.
Menschen, die aus beruflichen Gründen
vom Westen in den Osten gehen müssen,
können ihre Lebensgeschichte gegen eine
Ost-Biografie tauschen und umgekehrt.
Ich war mal kurz davor, mit jemandem
aus Westerkappeln bei Osnabrück zu tauschen. In letzter Sekunde habe ich es mir
dann aber doch verkniffen.
magazin 1_10 | interview
_ Gibt es Situationen im Alltag, in denen Sie
noch an das Thema Ost-West-Unterschiede
denken?
Ich glaube, dass dieser Unterschied
vor allem eine Sache der Wahrnehmung
ist. Der Unterschiedene kann häufig gar
nichts dafür. Mir selbst würde es im Übrigen nie einfallen, mir meine Freunde
oder Gesprächspartner danach auszusuchen, ob sie aus dem Osten oder Westen
kommen. Ich fände es ziemlich absurd,
jemanden nur deshalb sympathisch zu
finden, weil er einen bestimmten Sozialisationshintergrund hat.
_ Wenn Sie mal an 1990 zurückdenken:
Wie haben Sie damals zur Frage der ­
deutschen Einheit gestanden?
Es war doch eigentlich recht früh klar,
dass alles auf die Einheit hinauslief. Dagegen zu sein, das wäre so gewesen, als
wäre man gegen Kiefern in Mischwäldern.
Was ich mir allerdings schon gewünscht
hätte: dass man sich auf
beiden Seiten mehr Zeit
fürs Nachdenken, für eine
kritische Reflexion genommen hätte. So ist alles sehr schnell gegangen,
und hinterher musste sehr
viel verdaut werden.
_ Die Frage an den Arzt: Kann man das heilen,
Ideologiegläubigkeit?
Das ist nicht so einfach, einmal, weil
Ideologie einfache Antworten auf komplexe Fragen gibt, aber auch, weil man ja
nur Menschen heilen kann, die sich krank
fühlen. Als gesellschaftliches Phänomen
finde ich Ideologien im Übrigen hochinteressant. Unsere Gegenwart beispielsweise
krankt an etwas, was ich als Ideologie der
Zahlen bezeichnen würde. Es wird so getan, als ob Zahlen Naturgesetze sind, die
über uns hinwegrollen, Wachstumsprognosen beispielsweise.
_ Ideologie bedeutet ja auch Gleichmacherei.
Sie selbst haben den Spagat zwischen Medizin
und Schriftstellerei gewagt. Würden Sie sich
als Individualist bezeichnen?
Sicher, das Leben, das ich in den letzten
Jahren geführt habe, wäre in der DDR so
nicht möglich gewesen. Sich entfalten zu
können, das ist natürlich ein ungeheures
_ Sie haben im Ausland
studiert, in Schweden und
den USA …
Eine solche Studien­
biografie hätte unter
DDR-Vorzeichen natürlich eher ins Reich der
Träume gehört. Ich glaube nicht, dass
ich in der DDR dreißig geworden wäre;
ich wäre sicher akut gefährdet gewesen,
das Land zu verlassen. Ich bin jemand, der
immer gerne gereist ist. Außerdem hatte
ich von jeher eine Ideologie-Allergie. Ich
habe Ideologien schon immer als hohl
und blutleer empfunden.
Privileg, für das ich dankbar bin. Es wäre
schön, wenn möglichst viele Menschen
in diesen Genuss kämen. Trotzdem habe
ich immer noch das Gefühl, dass ich versehentlich in der ersten Klasse gelandet
bin und gar keine Fahrkarte habe. Irgendwann kommt vielleicht der Schaffner und
wirft mich raus. Aber bis dahin genieße
ich die Fahrt.
_ Vielen Menschen geht die Lust an der
­Freiheit verloren, sobald sie merken, dass
Freiheit mit Verantwortung zu tun hat.
Das ist richtig. Ich finde es beispielsweise wichtig, dass man am politischen
Leben partizipiert und zur Wahl geht. Das
Recht auf Meinungsfreiheit setzt aber
auch die Pflicht zur Informationsgewinnung vor­aus. Was mich in diesem Zusammenhang bedrückt: dass in den letzten
Jahrzehnten das öffentliche Reflexionsniveau immer weiter verflacht. Politiker
haben für ihre Pressestatements, wenn’s
hoch kommt, noch zwanzig Sekunden,
das klassische Fernsehen wird abgelöst
durch zweieinhalb Minuten auf YouTube.
Freiheit aber heißt Partizipation. Wenn
wir nur noch auf der Grundlage von Kurzinformationen partizipieren, geben wir
Freiheit auf.
_ Sie haben viel über Berlin geschrieben. Hat
sich Berlin, seit es Hauptstadt ist, verändert,
und hat Berlin die Politik verändert?
Ich habe die Hauptstadt-Diskussion seinerzeit für ziemlich absurd
gehalten. Es wäre verständlich gewesen, wenn
man sie aus Kostengründen verschoben hätte.
Aber in dem Moment, als
man die Frage gestellt
hat, konnte die Antwort
nicht Bonn lauten. Der
Umzug nach Berlin hat
die Politik ganz sicher
wieder dichter ans reale
Leben gerückt. Inwieweit
sich Berlin als Ganzes
verändert hat, lässt sich wahrscheinlich
erst in zwanzig Jahren sagen. Spandau
oder Treptow wird man auch sicher dann
noch wiedererkennen. Auf das Gesicht von
Berlin als Ganzes indes bin ich gespannt.
Das Interview führte Boris Eichler. Die voll­
ständige Fassung des Interviews als Video
finden Sie im Internet unter www.freiheit.org
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thema | magazin 1_10
Das DDR-Bild
von ­Jugendlichen
Prof. Dr. Klaus Schroeder
Prof. Dr. Klaus Schroeder ist Leiter des Forschungs­
verbundes SED-Staat der FU Berlin sowie der Arbeitsstelle Politik und Technik des Otto-Suhr-Institutes.
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Was weiß eine Generation, die die
DDR nicht mehr aus eigener Anschauung
kennt, über diesen 1990 von der europäischen Landkarte verschwundenen Staat?
Der Forschungsverbund SED-Staat der
Freien Universität Berlin ist dieser Frage
nachgegangen und hat mehr als 5.200
Schülerinnen und Schüler in fünf Untersuchungsregionen in Ost- und Westdeutschland (Bayern, Berlin Ost, Berlin
West, Brandenburg und Nordrhein-Westfalen) nach ihrem Wissen über die DDR
befragt. Folgendes ist dabei aufgefallen:
Die überwiegende Mehrzahl der befragten Schüler in den fünf Untersuchungsregionen glaubt, wenig über die
DDR und das geteilte Deutschland zu
wissen, und erfährt hierüber in der Schule
kaum etwas oder überhaupt nichts. Dabei ist die DDR in den drei westdeutschen
Regionen häufiger Unterrichtsgegenstand
als in den beiden ostdeutschen. Gleichzeitig äußern viele der Jugendlichen Interesse an der DDR und möchten mehr über
das Leben dort erfahren.
magazin 1_10 | thema
Eine Mehrheit der Schüler hat ein
überwiegend negatives Gesamtbild der
DDR. Immerhin knapp 40 Prozent legen
sich aber nicht fest oder geben eine positive Bewertung ab. In Ostdeutschland sowie unter Haupt- und Realschülern liegt
die Quote der negativen Stimmen sogar
deutlich unter der absoluten Mehrheit.
Anhänger der PDS/Linkspartei und der
NPD urteilen am positivsten, Sympathisanten der Bündnis-Grünen am negativsten über die DDR.
Ostdeutsche Schüler loben mit breiter Mehrheit die sozialen Seiten des
SED-Staates, und gleichzeitig neigt eine
beträchtliche Minderheit unter ihnen
zur Ausblendung diktatorischer Aspekte.
Westdeutsche Schüler sprechen – wenn
auch in abgeschwächter Form – der DDR
bei einigen sozialen Dimensionen des Lebens ebenfalls ein Lob aus, erkennen aber
mit sehr breiter Mehrheit den Diktaturcharakter dieses Staates.
Der Vergleich verschiedener politischer
und gesellschaftlicher Dimensionen der
beiden deutschen Teilstaaten zeigt ebenfalls eine unterschiedliche, mitunter sogar
gegensätzliche Sichtweise. Westdeutsche
Jugendliche präferieren auf nahezu allen
Feldern die Verhältnisse in der alten Bundesrepublik, ostdeutsche in den sozia­len und alltäglichen Bereichen die DDR
und bei den politischen Aspekten mit
allerdings geringeren Anteilen als ihre
westdeutschen Mitschüler die Bundesrepublik. Eine nennenswerte Minderheit
vornehmlich ostdeutscher Schüler favorisiert sogar das politische System und vor
allem die Wirtschaftsordnung der DDR.
Die Trennlinien zwischen Demokratie
und Diktatur sind vielen Schülern nicht
bekannt. In Ostdeutschland kennzeichnet nicht einmal jeder Zweite, in Westdeutschland immerhin noch jeder Dritte
die DDR nicht ausdrücklich als Diktatur.
Eine absolute Mehrheit weiß nicht, ob
die DDR-Regierung durch demokratische
Wahlen legitimiert war.
Wie die älteren Generationen präferieren junge Westdeutsche stärker als ihre
ostdeutschen Altersgenossen individuelle
Freiheit statt soziale Rundumversorgung
und sind Ausländern gegenüber wesentlich toleranter eingestellt. Erfreulicherweise wird die Wiedervereinigung nur
von wenigen Schülern, im Wes­
ten häufiger als im Osten, in
Frage gestellt.
In Westdeutschland – vornehmlich in
Nordrhein-Westfalen – zeigt sich an den
Schulen eine auch in der Bevölkerung
vorhandene Tendenz, der DDR und ihrer
Geschichte immer weniger Bedeutung
beizumessen, da sie nur die Vergangenheit der Ostdeutschen beträfe.
Die große Mehrheit der Jugendlichen konnte die von uns
gestellten Wissensfragen nicht
richtig beantworten. Außer in
Bayern, wo auch die Hauptschüler durch vergleichsweise hohes
Wissen glänzen, haben breite
Mehrheiten kaum ausgeprägte
Kenntnisse über die DDR.
Auch zwanzig Jahre nach
dem Fall der Mauer zeigt die
ostdeutsche Gesellschaft starke
postsozialistische Tendenzen,
und zwar sowohl in der mentalen
Verfassung großer Teile der Bevölkerung als auch im Hinblick
auf die Kritik demokratischpluralistischer Institutionen. Die
in der DDR erworbenen mentalen Prägungen wirken weiter und werden in den
verschiedenen Milieus ebenso wie Fragmente eines Geschichtsbildes an jüngere
Generationen weitergegeben.
In familiären Gesprächen wird Jugendlichen ein selektives DDR-Bild vermittelt.
Erzählt werden positive Erlebnisse sowie
im Nachhinein als lobenswert empfundene Aspekte des SED-Staates. Dabei
nehmen die Arbeitsplatzsicherheit – ohne
Berücksichtigung ihrer negativen Seiten
– und der Zusammenhalt in Betrieb und
Wohngebiet eine herausragende Rolle
ein. Die diktatorischen Bedingungen und
die Mangelwirtschaft werden dagegen
ebenso wie die Aktivitäten des MfS nur
selten erwähnt.
Die Beurteilung der DDR durch die
Schüler erfolgt weitgehend assoziativ, wobei das Bild ostdeutscher Schüler stärker
von Familiengesprächen, das westdeutsche stärker durch den Schulunterricht
beeinflusst wird. Das Bild der DDR ist auffällig geprägt durch den Kenntnisstand:
Je mehr Schüler über den SED-Staat wissen, umso kritischer fällt ihr Urteil aus,
unabhängig von Herkunft, Geschlecht,
Alter und besuchtem Schultyp.
Es muss Aufgabe der Schule sein,
dieses Wissensdefizit auszugleichen. Dabei sollte die Delegitimation der sozialistischen Diktatur mit der Vermittlung freiheitlich-demokratischer Werte verknüpft
werden mit dem Ziel, Jugendliche gegen
jegliche diktatorische Verführung zu immunisieren.
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pro | magazin 1_10
Aufbau Ost
– weiter so?
Pro
Prof. Dr. Karl-Heinz Paqué
Prof. Dr. Karl-Heinz Paqué ist Autor des Buches
„Die Bilanz – eine wirtschaftliche Analyse der
­Deutschen Einheit“, jüngst erschienen im Carl Hanser
Verlag, München. Er war von 2002 bis 2006 Finanzminister des Landes Sachsen-Anhalt. Er ist Professor
der Volkswirtschaftslehre an der Otto-von-GuerickeUniversität Magdeburg. Er hat dort einen Lehrstuhl
für Internationale Wirtschaft.
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Nötig, richtig, unvermeidbar. – Der
Mauerfall war ein großer Sieg der Freiheit. Und er war eine große Herausforderung für die Politik, vielleicht die größte,
die es jemals in einem Industrieland gegeben hat. Denn plötzlich konnten Millionen von Menschen abwandern. Nur wenige Kilometer westlich lockte die Arbeit:
bei gleicher Sprache, Kultur und Tradi­
tion, aber bei modernem Kapitalbestand,
markterprobter Produktpalette und Löhnen, die weltweit mit an der Spitze lagen.
„Erweiterung West“ statt „Aufbau Ost“,
das war stets ökonomisch möglich, mit
dem Osten als verlassenem Bauernland,
Biotop und Rentnerparadies. Politisch war
es undenkbar, genauso wie das Errichten
einer neuen Mauer.
Damit hätte klar sein müssen: Die deutsche Einheit wird extrem schwierig und
teuer. Denn jede Weichenstellung musste
schnell sein, Vertrauen schaffen und Löhne in Aussicht stellen, die nicht allzu weit
unter dem westdeutschen Niveau lagen.
Alle anderen Ideen waren Illusionen, gepflegt von Wirtschaftstheoretikern und
Salonsozialisten, die keine Verantwortung trugen. Die Politik dagegen reagierte entschlossen und mutig: Die sofortige
Währungsunion schuf vertrauenswürdiges, stabiles Geld, die Treuhandanstalt
privatisierte die volkseigenen Betriebe im
Rekordtempo, die Wirtschaftsförderung
setzte ein, zügig und massiv.
Das Ergebnis: der radikalste Strukturwandel der Wirtschaftsgeschichte. Zunächst die fast komplette De-Industria­
lisierung des Ostens bei gleichzeitigem
Bau- und Dienstleistungsboom, und dann
die kontinuierliche Re-Industrialisierung
mit permanenter Krise der Bauwirtschaft.
Also: eine tiefgreifende Umwälzung im
Zeitraffer – mit riesigen persönlichen Opfern, politischen Stockfehlern und hohen
Kosten, nur möglich durch Transfers aus
dem Westen. Und gleichzeitig eine verbreitete Frustration der Bevölkerung über
die Marktwirtschaft, die noch heute im
Osten zu spüren ist. Ein gewaltiges Dra-
ma der Anpassung. Aber: im Kern nötig,
richtig und unvermeidbar.
Was ist dabei herausgekommen? Eine
ostdeutsche Industrie, die heute wieder
fast zehn Prozent der gesamtdeutschen
Produktion liefert – nach gerade mal 3,5
Prozent am Tiefpunkt 1992. Obendrein
eine wettbewerbsfähige Industrie, die 70
bis 80 Prozent der westdeutschen Arbeitsproduktivität aufweist, bei zwei Drittel des
Lohnniveaus. Eine verlängerte Werkbank
des Westens mit beachtlich gestiegener
Exportorientierung, aber noch immer zu
wenig Forschung und Entwicklung. Effi­
zient, preiswert und flexibel, aber mit
noch schwacher Innovationskraft. Stark
genug, um am Markt zu bestehen, aber
noch nicht groß genug, um die Transferlücke zwischen Verbrauch und Produktion im Osten zu schließen. Diese hat zwar
deutlich abgenommen, aber Rentenzahlungen und Arbeitslosenunterstützung
lasten noch immer schwer.
Ist dies enttäuschend? Nur für den,
der naive Erwartungen hatte. Denn der
Flurschaden des Sozialismus ist gewaltig
– ob in Tschechien, wo ohne „Aufbau Ost“
gerade mal 30 Prozent der industriellen
Arbeitsproduktivität Westdeutschlands
erzielt werden, oder eben in Ostdeutschland, wo es mit „Aufbau Ost“ 70 bis 80
Prozent sind. Die Wiedergeburt der Innovationskraft, verbunden mit dem Aufstieg
eines neuen Unternehmertums, wird noch
Jahrzehnte dauern.
Was ist zu tun? Wir brauchen eine zukunftsorientierte Industriepolitik für den
Osten. Dies verlangt Prioritäten: weg von
Maßnahmen der Arbeitsbeschaffung hin
zur Innovationsförderung; weg von Pres­
tigeprojekten der Infrastruktur hin zur
wirtschaftsfreundlichen Ansiedlungspolitik vor Ort, wie sie manche erfolgreiche
Bürgermeister schon längst praktizieren.
Und vor allem: keine Mindestlöhne. Nur
so kommen wir der Vollendung der deutschen Einheit näher, Schritt für Schritt.
magazin 1_10 | contra
So viel Aufbruch war selten. Im Jahr
1989 wurde der Eiserne Vorhang zerschnitten, überall in den Ostblockstaaten
begehrten die Menschen auf, und die
kommunistischen Regimes kippten wie
Dominosteine. Nach einer Phase rascher
Freiheitssiege galt es, marode Planökonomien in Marktwirtschaften zu verwandeln.
Bei dem nun einsetzenden Wettbewerb
um den besten Weg schienen die Bürger
der ehemaligen DDR klar im Vorteil, denn
sie mussten die Last des Umbaus nicht
allein schultern. Gefordert waren die
Bundesdeutschen, die in den Zeiten der
Teilung auf der Sonnenseite gestanden
hatten und ein beeindruckendes Werk der
Solidarität in Gang setzten.
Zwanzig Jahre später ist der Osten
der Republik kaum wiederzuerkennen.
Die Infrastruktur ist so modern wie kaum
anderswo, einst zerfallene Städte und
verwüstete Landschaften sind saniert. Ob
Wohlstand, Lebensqualität oder Bildung
– die Fortschritte sind in fast allen Bereichen gewaltig. In geradezu atemberaubender Geschwindigkeit haben sich die
Anpassungsprozesse zwischen Ost und
West vollzogen. Zwar sorgen noch bestehende Unterschiede bei vielen Ostdeutschen für Verdruss. Sie übersehen dabei,
dass die Gefälle innerhalb des Wes­tens
mittlerweile oft größer sind als die zwischen Ost und West.
War der Aufbau Ost also ein Erfolg?
Ökonomisch kann die Bilanz nicht befriedigen. Denn während in den Reformstaaten
durchweg robuste Volkswirtschaften entstanden sind, hat sich im deutschen Osten
eine gigantische Wirtschaftssonderzone
herausgebildet. Nirgendwo sonst auf der
Welt muss eine vergleichbar große Re­
gion innerhalb eines Staates vom stärkeren Landesteil so allumfassend alimentiert werden, bislang mit insgesamt rund
1,6 Billionen Euro. Damit ließen sich auf
einen Schlag alle Staatsschulden tilgen.
Doch die Politik des vielen Geldes hat in
eine Sackgasse geführt. Auf sich gestellt,
wäre Ostdeutschland ebenso wenig über-
lebensfähig, wie es die DDR in ihrer Endphase war.
Die Westdeutschen haben 2008 netto etwa 80 Milliarden Euro in die neuen
Länder und nach Berlin überwiesen. So
steht es in einer Studie, der zufolge die
Belastung auch in absehbarer Zeit nicht
geringer wird. Der Betrag entspricht gut
drei Prozent des gesamtdeutschen und
mehr als 20 Prozent des ostdeutschen
Brutto­inlandsprodukts. Oder 4.850 Euro
pro Bürger in Ostdeutschland. Größtenteils werden die Mittel für Sozialleistungen benötigt. Bereinigt um die Transfers,
erreicht die Wirtschaftsleistung im Osten
je Einwohner nicht einmal das Niveau
von Zypern, Slowenien oder Tschechien.
Und statt auf der Überholspur bewegen
sich die neuen Länder und Berlin auf
der Kriechspur, das reale Bruttoinlandsprodukt ist zwischen 1997 und 2008 im
Durchschnitt jährlich so eben um 1,1 Prozent (alte Länder: 1,6 Prozent) gestiegen.
Trotz solcher Zahlen ist es um den
Aufbau Ost still geworden. Die Politik verdrängt und verschleiert den Fehlschlag.
Ein „Weiter so!“ darf es aber nicht geben,
denn die Verhältnisse wenden sich nicht
zum Besseren. Die ostdeutsche Gesellschaft schrumpft und altert rasant. Dabei setzt nun ein fataler Prozess ein: Im
Verhältnis zu Westdeutschland nimmt im
Osten, wo bereits mehr Alte und weniger
Junge leben, der Anteil der Menschen im
erwerbsfähigen Alter beständig ab. Statt
aufzuholen, fällt der Osten wegen dieses
demografischen Handicaps, das über die
Jahrzehnte hinweg immer größer werden wird, zwangsläufig wieder zurück.
Der schon erreichte wirtschaftliche Angleichungsgrad lässt sich nicht halten.
Ein Patentrezept dagegen gibt es nicht.
Statt ausufernder Fürsorge benötigt Ostdeutschland jedoch endlich mehr echte
Freiheit. Dazu müssen wir unseren verkrusteten Föderalismus von Grund auf reformieren. Das aber ist eine gesamtdeutsche Aufgabe.
Contra
Uwe Müller
Uwe Müller ist Volkswirt und Reporter der Tages­
zeitung „DIE WELT“. Vor fünf Jahren hat er den
­Bestseller „Supergau Deutsche Einheit“ geschrieben.
Mit Co-Autorin Grit Hartmann hat er jetzt „Vorwärts
und Vergessen! Kader, Spitzel und Komplizen:
Das gefährliche Erbe der SED-Diktatur“ vorgelegt.
Beide Bücher sind bei Rowohlt Berlin erschienen.
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thema | magazin 1_10
Verfassungspatriotismus
im vereinten Deutschland
Dr. Volker Kronenberg
Kaum ein anderer Begriff der politischen Kultur der Bundesrepublik hat in
den letzten Jahren eine solche Renaissance erfahren wie der Patriotismus. Man
blicke nur zwei Jahrzehnte zurück: Noch
während des „Historikerstreits“ der „alten
Bundesrepublik“ haftete dem nationalen
Patriotismus der Hautgout des Anachronismus an. Der dominierenden Selbstdeutung der Bundesrepublik als „postnationaler Demokratie unter Nationalstaaten“
korrespondierte damals ein von Jürgen
Habermas popularisiertes Identitätskonzept eines transnationalen Verfassungspatriotismus.
Die nationalstaatliche, also die „deutsche“
Perspektive war hinter eine europäische,
ja weltbürgerliche zurückgetreten.
Dr. Volker Kronenberg ist Akademischer Direktor
am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie
der Universität Bonn.
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Doch war es eben dieses Postnationale,
welches sich im Moment der „friedlichen
Revolution“ in der DDR von 1989 als eine
„entschieden selbstbezügliche provinziellnationale Denkfigur“ entpuppte und
einem anderen Verständnis des Patriotismus mehr Raum zugestehen musste.
magazin 1_10 | thema
Hat infolge der Wiedervereinigung
nun die nationszentrierte über die verfassungszentrierte Perspektive des Patriotismus obsiegt? Keineswegs, auch
wenn bzw. gerade weil der „Verfassungspatriotismus“ nach 1990 immer stärker
auf sein Ursprungskonzept, wie es Dolf
Sternberger 1979 formulierte, zurückgeführt wurde. Dieser hatte in signifikantem
Gegensatz zu Habermas eine „gemischte
Verfassung“ im Sinne der freiheitlichen
demokratischen Grundordnung zur festen
Bezugsgröße eines bundesrepublikanischen Patriotismus erklärt, ohne diesen
als Ersatz für einen nationalen Patriotismus zu sehen.
Warum konnte sich dieses Patriotismusverständnis, das sich sowohl in den
weltoffen-konkreten Verfassungsnormen
des Grundgesetzes widerspiegelt als auch
in der europäischen bzw. westlichen Kulturtradition verwurzelt ist, durchsetzen?
Tatsache ist: Schon in der rot-grünen
Regierungszeit erfolgte eine Rückbesinnung auf die „Nation“ diesseits einer
postnationalen Europaidee sowie – damit
verbunden – die Proklamation eines freiheitlichen Patriotismus innerhalb einer
demokratischen Nation. Auch als Antwort
auf die enormen integrationspolitischen
und demografisch-zuwanderungspoliti­
schen Herausforderungen („Leitkulturdebatte“) wurde zunehmend über das
politisch-kulturelle Wertefundament der
deutschen Gesellschaft, mithin über die
Frage, wer als Bürger seines Landes bereit
ist, welchen Beitrag zur Sicherung des
Gemeinwohls zu leisten, debattiert. Und
das nicht zuletzt von unerwarteter Seite:
Ein „Patriotismus von links“ wurde
­verkündet, eine Wiederannäherung an die
Nation gesucht, ja die Berliner Republik
sogar zum „Vaterland“ erklärt.
Erstaunlich, aber verständlich, ging es
dem Patriotismus-Diskurs der vergangenen
Jahre doch vor allem um die Sensibilisierung des Bürgers hinsichtlich der Notwendigkeit, für sein Land, in das er entweder
geboren wurde oder für das er sich willentlich entschieden hat und dem er sich
zugehörig fühlt, tätig einzustehen, nicht
zuletzt auch – Stichwort: Auslandseinsätze
der Bundeswehr –, wenn es um das große
Ganze geht, etwa um die Verteidigung und
Zukunftssicherung der Nation als staatlich
verfasster Bewusstseinsgemeinschaft aller
Bürgerinnen und Bürger.
Zunehmend setzt sich, von linksdemokratischer ebenso wie von liberalkonservativer Seite getragen, eine Übereinstimmung dahin gehend durch, dass
die Verpflichtung auf gemeinsame Werte,
Rechte und Pflichten die entscheidende
Voraussetzung dafür darstellt, dass es eine
von Zuwanderung geprägte Gesellschaft
ihren Bürgern ermöglicht, gemeinsam, sicher und friedlich zusammenzuleben.
Interdependenzen in Politik, Gesellschaft und Kultur der „Berliner Republik“
haben zu einem neuen Nachdenken über
Patriotismus geführt, zu einem moderateren Ton und einem sachlicheren Tenor
in der öffentlichen Debatte. Geschichtsbewusste und gesellschaftlich geweitete
Perspektiven geben zur Hoffnung Anlass,
künftig weniger über Patriotismus reden,
ihn beschwören oder problematisieren zu
müssen, als vielmehr seine Lebendigkeit
konstatieren zu können. Dieser Patriotismus gründet auf Recht und Gemeinwohl
und formuliert eine überzeugende Antwort auf die Frage, was der Deutschen
„Vaterland“ sei.
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thema | magazin 1_10
Kurs gehalten.
Das deutsch-israelische
Verhältnis nach 1990
Avi Primor
Avi Primor ist Direktor des Zentrums für Europäische
Studien an der Privatuniversität IDC Herzliya, Israel.
Von 1993 bis 1999 war er Botschafter des Staates
Israel in der Bundesrepublik Deutschland.
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1989 lebte ich in Brüssel, als israelischer Botschafter, akkreditiert sowohl
bei der Europäischen Union als auch beim
belgischen König und beim luxemburgischen Großherzog. Wie viele Menschen
weltweit verbrachte auch ich die Nacht
vom 9. auf den 10. November vor dem
Bildschirm, verblüfft über die Geschehnisse in Berlin.
Für mich bedeutete der Mauerfall in
Berlin einen historischen Durchbruch in
Richtung einer immensen Hoffnung. Erstaunt stellte ich aber fest, dass die Ereignisse in den Kreisen, in denen ich mich in
Brüssel bewegte, nicht überall so positiv
aufgenommen wurden wie von mir. Über
den Fall der Mauer und die deutlichen
Risse im Eisernen Vorhang freute man
sich zwar. Die Ängste vor den bevorstehenden Entwicklungen jedoch waren
größer. Irgendwie schien sich die Welt an
das Gleichgewicht des Schreckens zwischen den beiden Weltblöcken gewöhnt
zu haben, irgendwie schien sie aus diesem Zustand ein Gefühl von Sicherheit zu
schöpfen. Die Zukunft aber war ungewiss
und machte Angst.
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Dass die Ostdeutschen den Weg zur
­Freiheit fanden, war zwar erfreulich, über
das zukünftige Deutschland aber machte
man sich Sorgen.
Mehrfach habe ich in Brüssel – und dies
nicht unbedingt von Juden oder Israelis –
den Begriff des „Vierten Reichs“ gehört.
Europa hatte sich an eine Bundesrepublik gewöhnt, die sich im Laufe der Jahre
nicht nur zu einer echten demokratischen
Gesellschaft entwickelt hatte,
sondern die auch ernsthaft
an ein europäisches Deutschland glaubte und sich von der
Idee eines deutschen Europas
endgültig gelöst hatte. Die
demografisch größte Nation
der Europäischen Union zu
werden, das könnte, so die
Befürchtung im Mikrokosmos
Brüssel, die Deutschen wieder auf unkalkulierbare Ideen
bringen.
Die Ängste, die man eu­
ropa-, ja weltweit angesichts einer Wiedererstarkung
Deutschlands empfand, gab
es in Israel ebenfalls. Hinzu
kamen Sorgen um die Zukunft
der deutsch-israelischen Beziehungen. Unter größten
Schwierigkeiten – und gegen
den Willen der Mehrheit der
eigenen Bevölkerung – hatten die israelische und die
westdeutsche Regierung ei­
nen langjährigen Annäherungsprozess erfolgreich in die Wege geleitet. Die DDR hingegen hatte sich einer
solchen Annäherung gänzlich verweigert.
Mehr noch: Im gesamten sowjetischen
Block, der mit Ausnahme von Rumänien
1967 die diplomatischen Beziehungen
mit Israel abgebrochen und seither seinen Ton dem jüdischen Staat gegenüber
unüberhörbar verschärft hatte, zeichnete sich die DDR als größter Feind Israels
aus. Die DDR, die im Gegensatz zu allen
anderen kommunistischen Staaten den
Staat Israel nie anerkannt hatte, betrieb
eine beharrliche Hasspropaganda gegen Israel und unterstützte aktiv nah­
östliche Terrorgruppierungen, die Israel
bekämpften. Folglich fürchtete man in
Jerusalem, eine Vereinigung der beiden
deutschen Staaten könnte die deutschisraelische Annäherung zunichtemachen,
weil die Haltung der sich auflösenden
DDR in Dingen Nahost auf das Verhältnis
des vereinten Deutschlands zu Israel ei-
im Westen bezeichnete, dass „das Land,
das wirtschaftlich und technologisch so
mächtig war wie Kalifornien“, wie man die
DDR in Amerika beschrieb, wirtschaftlich
nicht mehr als eine Seifenblase war. Helmut Kohl, die gesamte Bundesregierung
wie auch die westdeutsche Bevölkerung
konnten darüber hinaus die Welt davon
überzeugen, dass Deutschland, was seine
Europa-Politik und sein Verhältnis zu Israel anbelangte, Kurs halten würde, ungeachtet seiner neuen Größe.
In Israel beobachtete man
diese Entwicklungen aufmerksam. Schnell stellte man fest,
wie wenig die Hasspropaganda der DDR die Meinung der
Bevölkerung tatsächlich beeinflusst hatte.
Israelische Besucher in den
neuen Bundesländern berichteten, dass die Hasspolitik und
-propaganda dort keinerlei
Spuren hinterlassen hatte.
nen verheerenden Einfluss haben könnte.
Diese Sorge ging so weit, dass der damalige israelische Ministerpräsident Itzchak
Schamir Bundeskanzler Helmut Kohl in
einem Schreiben drängte, die Wiedervereinigung Deutschlands nicht Realität
werden zu lassen.
Die DDR-Bürger, so wie die
Bürger in den meisten kommunistischen Ländern, hatten sich primär Sorgen um
ihre Lebensbedingungen unter
den diktatorischen und unterdrückerischen Umständen
gemacht. Die offizielle Propaganda in allen Bereichen,
besonders auf dem Gebiet
der Außenpolitik, interessierte
sie kaum. Die Ostdeutschen
wussten wenig über Israel und waren
dar­an interessiert, ihre Lücken auch in
diesem Bereich zu schließen. Dies führte
zu einem fruchtbaren Dialog zwischen
Israel und den neuen Bundesländern und
zur Fortsetzung der guten Beziehungen
zwischen Deutschland und Israel.
Die Ängste vor der DDR evaporierten
rasch. Zunächst stellte die Welt sehr
schnell fest, dass „die zehntgrößte Industriemacht der Welt“, wie man die DDR
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„50 Jahre
deutsche
Einheit“.
Ein fiktiver
Rückblick
Johannes Vogel MdB
Zum 50. Jubiläum der deutschen Einheit kann man als Liberaler gleich doppelt
feiern. Zum einen mit freudiger Erinnerung an 1989/90, an den Einheitswillen
der Deutschen, der genauso Freiheitswille
gewesen ist. Zum anderen darf man sich
in die Zukunft freuen, denn es ist eine
Generation herangewachsen, für die die
FDP ganz selbstverständlich eine Partei
auf Augenhöhe mit den Konservativen
und der Sozialdemokratie geworden ist.
Diese Erfolgsgeschichte der Freien Demokraten hat dem Land gutgetan. Die
Gesellschaft ist vielfältig und offen, die
klügsten Köpfe der Welt kommen zu uns
und bereichern unser Land. Die Zeiten, in
denen Leistungsfreundlichkeit und Solidarität Gegenbegriffe waren, sind vorbei. Deutschland steht gut da, es stellt
sich den Herausforderungen der zweiten
Hälfte des 21. Jahrhunderts. 2040 sind die
Aussichten also blendend.
Warum so optimistisch? Weil es gelungen ist, liberale Politik umzusetzen. Weil
die FDP gesellschaftlichen Entwicklungen
Rechnung getragen, weil sie im Gegensatz
zu anderen eingesehen hat, dass heute bei
jeder Wahl jede einzelne Stimme neu gewonnen werden will. Weil sie deswegen
als moderne Partei vor allem auf Glaubwürdigkeit und Kompetenz gesetzt hat.
So ist es gelungen, die soziale Marktwirtschaft zu reformieren und damit
zu bewahren. Das Substantiv ist eben
Marktwirtschaft und sozial das Adjektiv.
Johannes Vogel ist Bundesvorsitzender der Jungen
Liberalen und seit 2009 Bundestagsabgeordneter.
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Nur der florierende Markt bringt Wohlstand, individuell und gesellschaftlich.
Sozial ist das Ganze, weil der Wohlstand
dazu genutzt wird – und genutzt werden
sollte –, denen unter die Arme zu greifen, die am Markt einmal Pech gehabt
oder auch ganz grundsätzliche Schwierigkeiten haben. Durch Transparenz und
mutige Entscheidungen ist es gelungen,
dem deutschen Sozialstaat seinen gigantischen ursprünglichen Erfolg wiederzugeben, auch zwischen den Generationen.
Heute, im Jahr 2040, ist er einfach wieder
das, was er sein sollte: fair! Glücklicherweise sieht dies inzwischen auch so gut
wie j­eder ein.
Und richtig glücklich macht auch
der Grund für diese Einsicht, die liberale
Bildungspolitik. 2040 weiß die ganze
Welt, wie Deutschland seinen Status als
Wirtschaftsmacht erhalten und festigen
konnte – Bildung, made in Germany. Die
Förderung jedes Einzelnen, von frühester
Kindheit bis ins hohe Alter, Schulen, die
zum Fördern und Fordern auch tatsächlich Geld haben, und konkurrenzlos gute
Rahmenbedingungen für die Wissenschaft, dies alles musste mühsam durchgesetzt werden.
Ein halbes Jahrhundert nach der Wiedervereinigung wissen wir aber, dass
sich die Mühe gelohnt hat. Denn soziale
Marktwirtschaft und Bildung sind zwei
Seiten derselben Medaille. Geprägt wird
diese durch die Freiheit.
magazin 1_10 | lesetipps
Andreas Rödder
Jürgen Ritter/Peter Joachim Lapp
Stefan Wolle
Deutschland
einig ­Vaterland
Die Grenze
Die heile Welt
der ­Diktatur
Die Geschichte der Wiedervereinigung
C.H. Beck Verlag, München, 2009, 24,90 1
ISBN 978-3-406-56281-5
Schon den Zeitgenossen war klar:
1989/90 erlebten sie Weltgeschichte. Der
Zusammenbruch des Ostblocks, der Fall
der Mauer, das Ende der DDR, die Wiedervereinigung Deutschlands beendeten eine
Epoche, die im Zeichen der Weltkriege
und des Ost-West-Konflikts gestanden
hatte. Ein neues Zeitalter begann. Dieses
Buch erzählt, wie alles geschah.
Andreas Rödders Buch ist eine souveräne,
sorgfältig differenzierende und mit großer Sensibilität für die unterschiedlichen
Perspektiven von West- und Ostdeutschen geschriebene Gesamtdarstellung
der deutschen Einheit.
Ein deutsches Bauwerk
Ch. Links Verlag, Berlin, Neuauflage 2007,
29,90 1
ISBN 978-3-86163-466-6
Jürgen Ritter hat zu Zeiten der deutschen
Teilung über Jahre die Sperranlagen an
der „grünen Grenze“ von westlicher Seite
aus fotografiert und ein Archiv mit über
40.000 Motiven aufgebaut. Peter Joachim
Lapp recherchierte die genauen Mechanismen der Grenzsicherung und dokumentiert prominente Fälle von Versuchen
zur Überwindung dieser tödlichen Anlagen. Seit dem Ersterscheinen des Buches
hat sich das Erscheinungsbild entlang der
innerdeutschen Grenze deutlich verändert. Von der einstigen Teilung zeugen oft
nur noch vereinzelte Hinweisschilder. Die
aktualisierte Auflage zeichnet die Veränderungen fotografisch eindrucksvoll nach.
Alltag und Herrschaft in der DDR
1971–1989
Ch. Links Verlag, Berlin, Neuauflage 2009,
24,90 1
ISBN 978-3-86153-554-6
Die Bilder von der untergegangenen Welt
der DDR fallen immer mehr auseinander.
Die einen erinnern sich behaglich schmunzelnd an die humoristischen Aspekte des
DDR-Alltags, andere verweisen bitter und
anklagend auf Mauer, Schießbefehl und
Stasi-Knast. Stefan Wolle versucht, diese
widersprüchlichen Bilder wieder zusammenzufügen. Von den Alltagserfahrungen
bis zu den Herrschaftspraktiken – ein Geschichtsbuch, das Maßstäbe setzt: materialreich, provokant und sinnlich.
Impressum
Herausgeber:
Friedrich-Naumann-Stiftung
für die Freiheit
Truman-Haus
Karl-Marx-Straße 2
14482 Potsdam-Babelsberg
Verantwortlich:
Kirstin Balke
Leiterin Redaktion der Freiheit
www.freiheit.org
Kontakt:
Pressestelle
Telefon 03 31.70 19-2 76
Telefax 03 31.70 19-2 86
[email protected]
Redaktion:
Klaus Füßmann
Ruth Holzknecht
Achim Kansy
Dr. Lars-André Richter
Kreative Beratung:
Helmut Vandenberg
Büro für Kommunikation
und Werbung
Gestaltung:
Runze & Casper
Werbeagentur GmbH
Gesamt­herstellung:
COMDOK GmbH
Büro Berlin
Auflage:
82.000
Erscheinungsweise:
halbjährlich
Fotos:
Caro/Teich (Titel), VISUM/
Raupach (S. 3), McPhoto/
vario images (S. 4),Transit/
Busse (S. 5), Das Fotoarchiv/Henning (S. 6),
Hermann Bredehorst (S. 7),
VISUM/Denzel (S. 10),
Caro/Ruffer (S. 11), AFP/
gettyimages/Armand
(S. 12), Ipon/Boness (S.13),
Ostkreuz/Schirrmeister
(S. 14), Lokomotiv/Willemsen (Programmteil/Titel)
Alle übrigen Fotos:
Friedrich-Naumann­Stiftung für die Freiheit
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Freiheit und Verantwortung
gehören für uns untrennbar
zusammen.
Neue Wege beschreiten – mit der Villa Lessing
eine Auswahl des Programms finden Sie unter
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