Deutsche Sprachwissenschaft` (Hauptfach) 2008/II

Transcription

Deutsche Sprachwissenschaft` (Hauptfach) 2008/II
Schriftliche Magisterprüfung
‚Deutsche Sprachwissenschaft‘ (Hauptfach) 2008/II
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
Das Streiflicht
(SZ) Die neue Woche fängt an, und nun kann man nicht mehr entrinnen. Denn in dieser
Woche, am Freitag, beginnen die Olympischen Spiele. Vormals, in den Kindertagen,
war dies ein Anlass für kindliche Freude: Man studierte mit Feuereifer die olympischen
Zeitpläne, man las jeden Vorbericht, vom ersten Wort bis zum letzten. Doch diesmal ist
das herrschende Gefühl die Beklemmung. Mancher Sportfan erwägt ernsthaft, das
Spektakel stolz zu ignorieren. Und auch, wer hierzu nicht die Kraft hat, spürt in sich
noch keine Erregung — zumal ja leider weder Biathlon noch Sommerbiathlon auf dem
Programm stehen, dafür altbekannte Langweiler und Zeitverschlinger wie das
Dressurreiten oder das Segeln.
Die Stimmung also ist flau bis traurig, doch das kann sich natürlich noch
ändern. Wenn in einer Woche wieder eine neue Woche beginnt, sind die Wettkämpfe
machtvoll im Gang, und dann werden zum Beispiel am nächsten Montag die
Schwimmerinnen zum 200-Meter-Frei-Stilrennen ins chinesische Wasser springen, und
dann wird jeder deutsche Sportsfreund mit Rührung an die Athletin Franziska van
Almsick denken, die beinahe die Goldmedaille auf dieser Strecke gewonnen hat, aber
eben nur beinahe. Die darüber aber nicht klagt und trauert, sondern, im Gegenteil, von
Herzen froh ist, wie sie jetzt dem Kicker in einem bewegenden vorolympischen
Interview gestanden hat. Als Besiegte sei sie, so die Meisterschwimmerin feierlich, der
Mensch geworden, der sie jetzt ist. Mit dem Olympiasieg, das sagt sie so nicht, aber der
Leser muss es sich denken, wäre sie wohl eine rechte Gold-Zicke geworden, nicht die
reife Frau von heute, die gütige Mutter des kleinen Don Hugo. Ein wahres, ja ein
weises Wort! Sind denn die Besiegten nicht fast immer schöner als die Sieger? Wie
banal und austauschbar sind die Szenen des Sieges: mit den immer gleichen Sprüchen
und Gesängen, den Champagnerbädern und Weißbierduschen, den echten und falschen
Tränen bei der Hymne! Weshalb auch bei den Champions die Bilder ihrer größten
Niederlage am längsten in Erinnerung bleiben werden: also nicht der lächelnde, sondern
der heulende Ballack, nicht der titanesk tobende Kahn, sondern der müde Mann am
Torpfosten, Finale 2002. Auch im Liebesleben, dies nebenbei, sind die notorischen
Siegertypen, die brathuhnhaft gebräunten Lebemänner, viel uninteressanter als die
bleichen Verlierer.
Vae victis! Wehe den Besiegten! So verhöhnten einst die Gallier die Römer, das
hat uns der Lateinlehrer erzählt, oder war es der Turnlehrer? Egal. Bei den Spielen von
Peking ist ja nun leider jeder Athlet verdächtig, aber die Verdächtigsten von allen
werden unweigerlich die Goldmänner und Goldmädels sein. Weshalb es nun an der Zeit
ist, den alten Spruch endlich zu ändern. Die Spiele von Peking beginnen. Wehe den
Siegern!
[Süddeutsche Zeitung 04.08.08]
Schriftliche Magisterprüfung
‚Deutsche Sprachwissenschaft‘ (Hauptfach) 2008/II
Beantworten Sie knapp folgende Aufgaben:
1.
Bestimmen Sie die Nebensätze im ersten Absatz des vorliegenden Textes (Z. 2-10) nach
syntaktischen und semantischen Kriterien!
2.
Analysieren Sie den Satz und dann wird (Z. 14) ... nur beinahe (Z. 16) syntaktisch bis zur
Ebene der Satzglieder. Berücksichtigen Sie dabei folgende Gesichtspunkte: Grobstruktur,
Feinstruktur, topologische Felder!
3.
Welche Satzgliedteile kommen in den Zeilen 2 (Die neue Woche...) bis 5 (...bis zum letzten.)
vor?
4.
Beschreiben Sie die Wortbildungskonstruktionen von Z. 7 (Und auch ...) bis Z. 10 (...das
Segeln.) semantisch (Wortbildungsparaphrase), morphologisch, und bestimmten Sie das
Wortbildungsmodell!
5.
Welche Funktion(en) hat die Wortform das in Z. 6 (2-mal) und 11?
6.
Welche Tempusformen kommen in den Z. 1 (Die neue Woche ...) bis 18 (... gestanden hat.)
vor? Beschreiben Sie deren Funktionen im (Kon-)Text!
7.
Bestimmen Sie die Wortklassenzugehörigkeit der Inflexibilia in den Z. 11 (Die Stimmung
...) bis 14 (... Wasser springen), und begründen Sie Ihre Entscheidungen!
8.
Welche Orthographieprinzipien regeln die Schreibung des Anfangsbuchstabens im
Adjektiv olympisch in Z. 3 und 4?
9
Mit welchen sprachlichen Mitteln wird im ersten Absatz (Z. 2-10) aus Sätzen ein
kohäsiver Text erzeugt?
10.
Welche Partizipformen kommen mit welcher Funktion in den Zeilen 2 bis 18 (... gestanden
hat) vor?
11.
In welchen syntaktischen Funktionen stehen folgende Adjektive: ernsthaft (Z. 6), flau (Z.
11), natürlich (Z. 11) und machtvoll (12)?
12.
Beschreiben Sie das Syntagma sind in Gang (Z. 12/13) als eine Möglichkeit, Aktionsart
auszudrücken!
13.
Erläutern Sie anhand von leider (Z. 8), was ein ‚Modalwort‘ ist und welche syntaktische
Funktion es hier einnimmt!
14.
Beschreiben Sie die syntaktische Valenz von entrinnen (Z. 2) in der Langue und im
vorliegenden Text, und erläutern Sie die Wirkung der unterwertigen Verwendung!