Schnupperartikel - Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft
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Schnupperartikel - Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft
Julie Sutton, Iain McDougall Der Schrei jenseits der Stille – Musiktherapie mit traumatisierten Männern in Irland1 Der Hintergrund Dieser Beitrag beschreibt die dreijährige gemeinsame Arbeit mit einer Gruppe schwer traumatisierter junger Männer zwischen 15 und 24 Jahren2. Die Männer lebten in einem typisch nordirischen sozialen Brennpunkt3 und hatten bislang keine offiziell angebotenen Dienstleistungen in Anspruch genommen. Mit ihnen innerhalb ihrer Gemeinde zu arbeiten schien uns ein vielschichtiges Unterfangen. Deshalb konzentrierten wir uns zunächst darauf zu prüfen, welches Angebot wir der Gruppe machen sollten. Wir beschäftigten uns eingehend mit den jungen Männern, ihren Lebensumständen und setzten uns damit auseinander, wie und auf welche Art und Weise sie die Musik und uns nutzen würden oder auch nicht. Wir setzten uns also mit ihnen zusammen, hörten zu, beobachteten, gingen auf ihre Reaktionen ein; wir nahmen verschiedene Instrumente mit und versuchten gemeinsam, den möglichen Sinn hinter dem entstehenden musikalischen und verbalen Material zu entdecken. Aufgrund unseres unterschiedlichen beruflichen Hintergrunds als Musikpsychotherapeutin beziehungsweise als Psychiater, betrachteten wir die Gruppe aus unterschiedlichen Blickwinkeln, die sich jedoch positiv ergänzten. Auch wenn jeder von uns andere Erfahrungen mitbrachte, gingen wir beide von einer psychoanalytischen Grundlage aus, die von der britischen Tradition der unabhängigen Objektbeziehungen geprägt ist. Der Begriff »Trauma« weist auf etwas Schockierendes, etwas überwältigend Erschreckendes, Unerträgliches, etwas Undenkbares. Einer unserer Kollegen beschrieb, wie der Therapeut durch das traumatische Material des Patienten einen kurzen Blick auf einen Ort des Schreckens werfen kann: Es fühlt sich an, als befände man sich »am äußersten Rande von sich selbst«. Weiter sagte er, es sei genau das, »wofür wir in unseren Köpfen Raum schaffen müssen, wenn wir diese Arbeit, die wir uns ausgesucht haben, auch gut machen wollen« (Fry 2008, S. 21). Genau um solche Menschen geht es in dem vorliegenden Beitrag, Menschen, die an solchen potenziell nicht beherrschbaren Orten leben. Es geht aber auch um unsere Bemühungen, in unseren Köpfen für diese Art von Material Platz zu schaffen. 1 Übersetzung Karl Robel 2 ein erster Erfahrungsbericht beschreibt die ersten 6 Monate der Arbeit (s. Sutton & McDougall 2010) 3 In diesem Falle ein Gebiet, in dem rasch Konflikte ausbrechen, in dem zwei Seiten einer Gemeinschaft (Protestanten und Katholiken) sehr eng nebeneinander leben und auf eine lange Geschichte von Gewalt und Verlust zurückblicken. Musiktherapeutische Umschau, 32, 1 (2011), S. 54–70 © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2011, ISSN 0172-5505 08_sutton_MU_01_2011.indd 54 01.02.11 16:50 Der Schrei jenseits der Stille 55 Leben in Nordirland »Nach zwei Wochen waren meine Haare so fettig, dass sie am Kopf klebten. Ich hatte Probleme mit dem Gestank des vor sich hin faulenden Essens … und der Scheiße, die wir mit aus unseren Matratzen herausgerissenen Schaumstoffstückchen an die Wand schmierten… Es war schwierig, mich nicht so zu fühlen, als wäre ich in einem Abwasserkanal lebendig begraben. Die einzige Möglichkeit, dem zu entkommen, war, die Grundsätze aufzugeben, die einmal den Kern meines Wesens ausmachten.«4 Vieles wurde über den 30 Jahre währenden Krieg in Nordirland gesagt und geschrieben, wie diese Worte eines Gefangenen, der am sogenannten »schmutzigen Protest«5 im Maze Gefängnis beteiligt war. Dieser Krieg wurde nicht nur in endlosen Medienberichten öffentlich ausgetragen, sondern auch im Inneren eines jeden Einzelnen, in Haus und Familie aller Bewohner Nordirlands (Alderdice 2007, Mitchell 1999). Mit der Zeit hat sich die Wahrnehmung, wie sich drei Jahrzehnte Gewalt auf das Leben auswirken, geändert, und sie wird sich weiter verändern. Nordirland befindet sich in einer schwierigen Übergangsperiode nach dem Krieg: der Krieg ist zwar vorbei, aber Frieden gibt es noch nicht. Es herrscht immer noch Gewalt, die oft von jenen ausgeht, die früher in paramilitärische Aktivitäten verwickelt waren. Wir haben dies erfahren, denn durch unsere Arbeit kamen wir in Gemeinden, in denen noch alte Seilschaften der IRA aktiv sind, und in denen die Polizei ohne Beteiligung der alten paramilitärischen Organisationen kaum für Ordnung sorgen kann. Dieser Umstand hatte einen direkten Einfluss auf unsere Gruppenmitglieder, da alle irgendwann in Bestrafungsaktionen wie Schlägereien und Schießereien sowie andere körperliche Auseinandersetzungen mit der Polizei verwickelt waren. Diese zerbrechliche Übergangsphase ist wesentlich Gegenstand dieses Artikels, denn als wir anfingen zu schreiben, machte sich in den Gemeinden immer mehr Unmut breit. In den Monaten vor der Nordic Music Therapy Conference 2009, auf der wir von unserer Arbeit berichten wollten, wurde das Sicherheitsrisiko in Nordirland erneut als »hoch« eingestuft. Fünf Tage danach berichteten die Medien von der Ermordung zweier Soldaten, die erschossen wurden, als sie Pizza holten. Wiederum zwei Tage später wurde ein Polizist ermordet, der einer Frau helfen wollte, die bedroht worden war. In der darauf folgenden Woche gab es in ganz Nordirland Friedensdemonstrationen, bei denen die Menschen ihre Angst und Wut über diese Ereignisse zum Ausdruck brachten, die das Land, wie sie fürchteten, wieder in die Vergangenheit zurückzerren könnten. Neben einer klaren Stellungnahme des langjährigen Sinn-Fein-Politikers Martin McGuinness, in der er sich öffentlich 4 O’Rawe (2005), S.33 5 Mit dem so genannten »schmutzigen Protest« reagierten paramilitärische Gefangene heftig auf die Aberkennung ihres Sonderstatus’ in den 1970er Jahren, den sie als Anerkennung als politische Gefangene betrachteten (im Gegensatz zu »kriminellen« Gefangenen). Ihr Protest blieb erfolglos, sie traten in den Hungerstreik und verweigerten die Nahrung, bis einige von ihnen starben. 08_sutton_MU_01_2011.indd 55 01.02.11 16:50 56 Julie Sutton, Iain McDougall zu seiner Vergangenheit als IRA-Mitglied bekannte und Gewalt verurteilte, waren diese Vorgänge beispiellos. Sie markierten eine Wende in ganz Nordirland und standen einer Reihe von Interviews mit jungen Männern gegenüber, die den Tod eines »peelers«6 (wörtl.: Schäler A.d.Ü.) feierten. Die Situation hat sich mittlerweile weiter entwickelt; die Ergebnisse der Wahlen, die kürzlich stattfanden, führten zu einer Veränderung der politischen Vertretungsverhältnisse, Sorgen um die wirtschaftliche Entwicklung und die Umwelt nehmen zu. Es gibt immer noch gelegentlich Gewaltausbrüche und bestimmte Tage im Jahr geben dazu verstärkt Anlass, wie zum Beispiel Jahrestage persönlicher oder politischer Ereignisse oder die Zeit der Loyalistenmärsche. Das Gesamtbild wandelt sich kontinuierlich, während sich die persönlichen traumatischen Erfahrungen ständig zu wiederholen scheinen. Auswirkungen des gewaltsamen Konflikts auf die Gruppe In vielen Gemeinden schuf der Krieg eine sehr klare Machtstruktur, innerhalb derer die Paramilitärs dominierten und Befehlsgewalt und Kontrolle inne hatten. Dieses System bekam nach dem Karfreitagsabkommen von 1998 Risse, so dass in der Gegend, die wir aufsuchten, ein mafiaähnlicher Konflikt zwischen zwei Familienclans an dessen Stelle trat. Eine Familie, die Verbindungen zu Paramilitärs hatte, bedrohte ein Mitglied einer anderen Familie, einen Mann, der Drogen- und Alkoholprobleme, aber nichtparamilitärischen Einfluss in der Gemeinde hatte. Es begann mit Androhung von Gewalt, steigerte sich zu Schlägereien und Schießereien und endete schließlich mit einem Angriff aus dem Hinterhalt, bei dem sechs Männer diesen Mann überfielen und ihn töteten. Gemeinde und Familie, darunter Freunde, Tanten, Nichten und zwei Söhne mussten zusehen, wie er auf der Kühlerhaube eines Autos verblutete. Dieser Vorfall ereignete sich vor drei Jahren, eine Straße von unserem späteren Gruppentreffpunkt entfernt, und bestimmt bis heute das Leben in der Gemeinde. Der Fall erreichte erst Ende 2009 die Gerichte, die Urteile lauteten auf Totschlag. Die beiden Söhne des getöteten Mannes nahmen an unserer Gruppe teil. Die Sozialarbeiter unserer Gruppe und andere Gruppenmitglieder waren Zeugen der Tat. Dieser Umstand verstärkte die ohnehin bereits komplexe Zusammensetzung der Gruppe noch mehr. Wir diskutierten dies mit den Sozialarbeitern und kamen mit ihnen überein, dass wir die Arbeit mit der Gruppe mit ihrer Unterstützung leiten und auch über die Gruppensitzungen hinaus Gelegenheit bestehen werde, über die Arbeit in der Gruppe zu sprechen. Wir verfolgten die Entwicklung dieser komplexen Struktur in unseren Supervisionen, sie stellte ein Kontinuum in den Gruppensitzungen dar und war letztendlich einer der Gründe, weshalb die Gruppe überhaupt zusammenkam. Ein weiteres Merkmal der Gruppe war, dass fast jeder 6 Regionales Slangwort für Polizist 08_sutton_MU_01_2011.indd 56 01.02.11 16:50 Der Schrei jenseits der Stille 57 junge Mann mindestens einmal versucht hatte, sich das Leben zu nehmen7. Viele hatten auch enge Familienmitglieder durch Selbstmord verloren. Ein Gruppenmitglied erzählte die Geschichte seines Bruders, der nach religiösen Wahnvorstellungen und der ausgeprägten Furcht, vom Teufel verfolgt zu werden, psychotisch geworden sei und sich daraufhin das Leben genommen habe. In jeder Familie der Gruppenmitglieder wiederholten sich solche Geschichten über Generationen nicht nur ein Mal, sondern viele Male. In den ersten Sitzungen nahmen wir daher ein Gefühl des Überwältigtseins seitens der Gruppe wahr, das in Zeiten erhöhter Spannungen in der Gemeinde immer wieder hochkam. Die Arbeit mit der Gruppe Drei Jahre lang fuhren wir einige Meilen von unserem Arbeitsplatz zu einem kleinen Raum im Herzen dieser Gemeinde. Der Raum war spartanisch ausgestattet: ein paar Tische und Stühle, und Hanteln in einer Ecke. Die jungen Männer, die wir dort antrafen, waren kurz zuvor von den beiden Sozialarbeitern per sms kontaktiert worden. Die Gruppe bestand aus einem harten Kern von 8–10 jungen Männern, von denen meist 2–5 anwesend waren. Es gab allerdings auch Wochen, in denen keiner zur Sitzung erschien. Aufgrund des Charakters der Gruppe war es nicht unsere Absicht, dynamische Musiktherapie oder Therapie überhaupt anzubieten, sondern einen geschützten Raum, in den alles eingebracht werden und in dem sich jeder Gehör verschaffen konnte. Die Sitzung begann nach unserer Ankunft. Wir stellten Stühle im Kreis auf und platzierten die mitgebrachten Instrumente (Gitarren, Keyboard, Djembe, Congas, Ocean Drum, kleine Jahrmarktspfeifen, Bodhrain, Saxophon und Flöte) in der Mitte. Die Sitzungen waren frei gestaltet und bestanden meist aus Gesprächen und getrenntem oder gemeinsamem Musizieren. Wir drängten die Männer nicht an die Instrumente, denn wir dachten, sie würden von sich aus zugreifen, wenn ihnen danach war. Von Anfang an spürten wir, wie stark sich die Arbeit mit solch schweren Störungen auf uns auswirkte. In den ersten Sitzungen waren wir oft von den Berichten traumatischer Erlebnisse überwältigt. Da es für uns schwierig war, den Inhalt der Sitzungen zu dokumentieren, trafen wir zwei Entscheidungen, wie dieses Material verarbeitet werden sollte. Nachdem wir die Instrumente an unseren Arbeitsplatz zurückgebracht hatten, begannen wir zu improvisieren. Anfangs waren diese Improvisationen wie Orte, an denen wir die in den Gruppen gesammelten Eindrücke ablegen konnten; mit der Zeit wandelten sie sich jedoch immer mehr zu Träumerei ähnlichen Zuständen, die uns halfen, unterschiedliche Aspekte zu klären und schließlich zu einem klareren Bild der Sitzungen zu gelangen. Wir zeichneten diese Improvisationen auf und hielten unsere Gedanken dazu schriftlich fest. Dann legten wir ein Protokoll an, das uns eine Struktur lieferte, über die 7 Zum Thema präsuizidale Zustände Campbell, D. in Williams, P. (2010). Vgl. auch Campbell, D. (1995). 08_sutton_MU_01_2011.indd 57 01.02.11 16:50 58 Julie Sutton, Iain McDougall wir einzelne Informationen, die wir während oder nach einer Sitzung gesammelt hatten, herausfiltern konnten (Sutton &McDougall 2010, S. 98–100). Was anfangs als Möglichkeit, unsere Eindrücke zu dokumentieren, gedacht war, wurde später zu einer unerschöpflichen Quelle von Daten, die eine objektive Sicht des Verlaufs unserer Arbeit ermöglichten, etwas, wozu wir während und zwischen den Sitzungen keinen Zugang hatten. Wir konzentrierten uns darauf, nicht nur im Raum ständig ein offenes Ohr für die Gruppe zu haben, sondern auch immer in uns selbst hinein zu hören. Die musikalischen Träumereien nach den Sitzungen wurden für uns zu einem Bindeglied mit der Gruppe im Raum, und wir nahmen dafür Konzepte zu Hilfe, die wir mit dem Gedanken des Hinhörens auf Musik (Freud 1912, Bion 1967) und den Arten von Raum, die dies ermöglichen könnten, verbanden (Ogden 1997, Winnicott 1971). Dieses Denken wurde vom Arbeitsethos unseres Teams getragen und insbesondere von den beiden Psychiatern, die das Projekt leiteten, unterstützt (siehe Alderdice 2007, Williams 2006). Forschung zur Gruppe Aus Zeitgründen und aufgrund der Komplexität des Gesprächsmaterials und der entstandenen Musik war es uns – wie erwähnt – unmöglich, die Sitzungen anhand von Verlaufsnotizen zu dokumentieren. Mit Hilfe des entworfenen Protokolls konnten jedoch wichtige Eindrücke festgehalten werden und gleichzeitig nach verschiedenen Bereichen geordnet werden. Es war in drei Abschnitte unterteilt: − Bereich 1 – Hinhören auf Musik (Aufzeichnung der Affekte, die durch Übertragung und/oder musikalische oder verbale Äußerungen entstanden) − Bereich 2 – Inhalt (Wesen und Thematik des verbalen Materials) − Bereich 3 – Gemeinde (äußere Umstände der jeweiligen Sitzung, zum Beispiel Jahrestage, politische Ereignisse…) Der Protokollbogen erlaubte das Ankreuzen von (vor-)formulierten Merkmalen im Protokollbogen ebenso wie die freie Formulierung von Eindrücken zu den jeweiligen Sitzungen. Das Protokoll erwies sich als ergiebiges und nützliches Instrument für Dokumentation und Forschung.8 Es ist unmöglich über diese Gruppe zu schreiben, ohne die Umgebung, in der die Männer groß geworden sind, und den historischen Kontext mit einzubeziehen. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung Nordirlands ist direkt von dem Konflikt betroffen und kennt jemanden, der verwundet oder getötet wurde. In diesem Sinne ist Nordirland geprägt von 30 Jahren Misstrauen, Feindseligkeit und Brutalität. Die jungen Männer in unserer Gruppe wurden geboren, als die Hälfte der Kriegszeit bereits vorbei war, ihr ganzes Leben lebten sie ausschließlich in einer Atmosphäre 8 Aufgrund der Bedeutung des Protokolls für die Gruppenarbeit bei vergleichbaren Störungsbildern ist eine Weiterentwicklung mit anschließender Veröffentlichung in Arbeit. 08_sutton_MU_01_2011.indd 58 01.02.11 16:50 Der Schrei jenseits der Stille 59 Diagramm 1: Atmosphäre im Raum Diagramm 2: Affekt im Raum von Einschüchterung und Bedrohung. Was wir als außergewöhnlich und inakzeptabel betrachten würden, ist für sie normaler Alltag, ein Alltag in beständiger Furcht vor Bedrohung von innen aus der Gemeinde oder von außen durch die Polizei. Die in der Gruppe allgegenwärtige Stimmung von Paranoia führten wir auf diesen Umstand zurück. Jeder, der sich einer Gruppe anschließt, funktioniert in ihr nicht mehr als auto- 08_sutton_MU_01_2011.indd 59 01.02.11 16:50 60 Julie Sutton, Iain McDougall Diagramm 3: Inhalt des Materials nomes Individuum, sondern als Gruppenindividuum (Freud 1921). In Situationen jedoch, in denen Gewalt an der Tagesordnung ist und Gruppenindividuen angegriffen werden, treten Gefühle von Demütigung und Entmenschlichung besonders stark zutage, und das Gefühl, ständig Bedrohungen von außen ausgesetzt zu sein, wird rasch internalisiert. Demütigung und Scham generieren Rache und bedienen gleichzeitig die eigenen Gefühle von Scham. Ent-Menschlichung kann genutzt werden, um normale, aber unerwünschte und nicht kontrollierbare Gefühle wie Bedauern und Reue loszuwerden (Varvin 2005). Unsere Beobachtungen bestätigten dies, die Sprache der Männer war geprägt von Aggression, Frustration, Wut, Manie und dem Wunsch nach Vergeltung. Die folgenden Diagramme illustrieren Ergebnisse der Protokolle im Wochenverlauf.9 Anhand der Protokolle konnten wir im ersten Jahr Merkmale ausfindig machen, die die Gruppe am häufigsten zeigte. Aggression, Angst und Manie wurden nicht nur häufig beobachtet, sondern manifestierten sich auch sehr ausgeprägt. Phasen des Schweigens waren selten, und wenn sie auftraten, wirkten sie eher wie gähnende Leere. Musikalisches wie verbales Material wiesen dieselben Charakteristika auf. Gleichzeitig rannten wir immer wieder vor eine offenbar undurchdringliche Wand von Geschichten über Erfahrungen aus der Vergangenheit, aus der Gegenwart, aus der inneren oder aus der äußeren Welt, und alles ohne logischen Zusammenhang. Das Protokoll bot uns jedoch eine externe, praktische und objektive Linse, durch die wir uns noch einmal in die Sitzungen zurückversetzen konnten, und wir sahen eine Reihe von Aspekten aus der bereits zitierten Literatur bestätigt. 9 Für den dt. Beitrag standen nur die englischen Graphiken zur Verfügung. Die Redaktion bittet um Verständnis 08_sutton_MU_01_2011.indd 60 01.02.11 16:50 Der Schrei jenseits der Stille 61 Fallbeispiel 1 Wir waren gerade dabei, die Instrumente ins Auto zu verladen, als wir einen Anruf von den beiden Sozialarbeitern bekamen, die uns baten, nicht zu kommen, »da keiner der Jungs da ist«. Wir schlugen vor, trotzdem zu kommen, wie wir es immer machten, unabhängig davon ob jemand da war oder nicht. Als wir die Gemeinde erreichten, sahen wir zwei Busse mit der Aufschrift SOS. Sie waren von einer Organisation, die den Menschen in der Gegend Hilfe anbot. Fünf Minuten nach unserer Ankunft kamen zwei Gruppenmitglieder und sprachen abschätzig über die beiden Busse. Wir bemerkten, dass einer Cannabis geraucht und der andere getrunken hatte. Sie ›pöbelten‹ nicht und wollten nur reden, wobei der Jüngere dem Älteren immer zur Seite sprang. Der Ältere der Beiden (der Angetrunkene) erzählte uns von seiner Wut über die paramilitärische Familie in der Gegend, die am Tag zuvor einige Gruppenmitglieder und andere gereizt hatte und sie wegen des Vaters, der ermordet worden war, verspottete. Er wolle jetzt Rache und berichtete ausführlich über die Waffen, die er zuhause habe und wie er sie einsetzen wolle. Er wolle die gesamte Familie umbringen und zerstören. Wir hörten ruhig zu, als uns der Ältere eröffnete, er habe vor einigen Tagen versucht, sich auf dem nahe gelegenen Friedhof zu erhängen, aber das Seil sei zu lang gewesen, so dass er schließlich »auf einem Grab stehend endete«. Die Sozialarbeiter waren sehr betroffen und besorgt baten sie eindringlich, von diesem Vorhaben abzusehen. Er schien ihre Besorgnis mit Anerkennung wahrzunehmen, fuhr aber fort, seiner Wut mit Gewaltplänen gegen sich und andere Luft zu machen. Iain sagte daraufhin: »Ich habe Dich noch nie so wütend gesehen.« Darauf er: »Ich bin Alkoholiker, ich weiß das.« Worauf der Jüngere ruhig entgegnete: »Ja, ich weiß, Du hast es mir erzählt«. Uns wurde bewusst, dass wir es bei dieser Mitteilung mit einer neuen Qualität zu tun hatten. Wir bemerkten die Besorgnis der beiden Sozialarbeiter, während für das jüngere Gruppenmitglied der Inhalt wohlbekannt schien. Beides waren Reaktionen von Besorgnis, allerdings in unterschiedlicher Form: Einer signalisierte Handlungsbedarf, der Andere bot Akzeptanz an. Wir erinnerten uns daran, dass der Ältere zu Beginn des Jahres Unbehagen äußerte, sein Alkoholkonsum könne eskalieren und er dem Ratschlag folgte, seinen Hausarzt aufzusuchen und sich in eine Spezialabteilung einweisen zu lassen. Aus uns unerfindlichen Gründen wurde seine Einweisung aufgeschoben. Es schien sich hier ein Muster zu wiederholen, jemand bittet um Hilfe und erlebt, dass sie ihm verwehrt wird. Das Gruppenmitglied war ganz verzweifelt und sagte in einem sanfteren, verletzlicheren Ton und in einer höheren Stimmlage: »Niemand hat mir geholfen, niemand!« Wir redeten eine Weile ermutigend auf ihn ein bis er schließlich einwilligte, einem der Sozialarbeiter den Brief seines Hausarztes zu geben, damit dieser in seinem Namen das Hilfeersuchen weiterverfolgen könne. Er sagte: »Ich bin Alkoholiker, ja, stimmt, und ich brauche Hilfe, ich will Hilfe haben.« Zu einem späteren Zeitpunkt in derselben Sitzung: 08_sutton_MU_01_2011.indd 61 01.02.11 16:50 62 Julie Sutton, Iain McDougall Der Ältere sprach nun direkt Julie an und erzählte von »all dem, was meiner Familie angetan worden ist.« Das war ein seltener und ungewöhnlich direkter Kontakt zu ihr. Dann drehte er sich von ihr weg und sprach weiter über seine Kinder und seine Partnerin, von der er sich entfremdet hatte und die er in der Nachbarschaft gesehen hatte. Es rührte uns, wie er über seine Kinder sprach, die er nicht sehen durfte. Er sagte: »Aber sie werden zu mir kommen, wenn sie älter sind, ja, da bin ich ganz sicher.« Das klang wie ein fahler Hoffnungsschimmer … Dabei stand für ihn weniger der Wunsch nach Vergeltung im Vordergrund, sondern vielmehr seine Wut, die in ihm brodelte. Am Ende verbrachte er llieber den Abend mit Freunden, um der anderen Familie aus dem Weg zu gehen, und mit ihnen »ein bisschen abzuhängen«, wie er sich ausdrückte. In dieser Sitzung wurde nicht musiziert, sondern nur zugehört. Dieses Beispiel verdeutlicht, welche Inhalte, welches Material in die Gruppe eingebracht werden konnten, welche Rolle die beiden Sozialarbeiter spielten und wie die Gruppenmitglieder einander und uns in Zeiten von Krisen nutzten. Zyklisch tauchte im Prozess immer wieder das Ersuchen um Hilfe, die nicht verfügbar ist, auf. Dies spielte sich immer vor demselben Hintergrund ab: einer Stimmung aus Aggression und dem Bedürfnis nach Vergeltung, das nicht nur in die äußere Welt hinaus geschrieen wird, sondern auch innerlich wütet. Die Zeit scheint in einem unbeweglichen Rahmen aus Angst und Furcht festzustecken, zwar ist ein Drang ›nach vorne auszubrechen‹ erkennbar, diesem kann aber nicht nachgeben werden. Gleichzeitig ist die Katastrophe spürbar nahe, was wiederum ein starkes Bedürfnis nach Rettung auslöst. Das Dilemma, in dem dieser junge Mann steckte, erfüllte den ganzen Raum, und diesen Zustand mit ihm auszuhalten, war eine große Herausforderung, insbesondere deshalb, weil niemand wissen konnte, was nach dieser Sitzung passieren würde. Wir konnten in diesem Moment lediglich sehen, dass sich der Mann während der vergangenen Stunde beruhigt hatte, seine Wut und sein Gefühl von Verlust schwächer geworden und einem stabileren Zustand gewichen waren, in dem er sich dem Ausmaß seiner Wut stärker bewusst war. Klinisch musikalisches Material Im Vergleich zum verbalen Material dieser Sitzung, war das musikalische, das die Gruppenmitglieder im allgemeinen einbrachten, eher repetitiv, fragmentarisch und ohne erkennbare Form (Sutton & De Backer 2009). Für uns gab es wenig oder gar keinen musikalischen Raum, und wenn eine Verbindung zustande kam, wurde sie entweder zerstört, dagegen Widerstand geleistet oder abgebrochen. Wir konzentrierten uns auf eine besondere Art des Hinhörens auf die Musik, die es uns ermöglichte, immer auch musikalisch neben den jungen Männern anwesend zu sein, sie nicht aus dem Gedächtnis zu verlieren und innerhalb wie außerhalb der Sitzungen über sie nachzudenken. Wie bereits erwähnt, nutzten wir auch immer wieder unsere musikalischen Träumereien nach den Sitzungen als zusätzlichen Raum, das jeweilige Material zu verarbeiten. 08_sutton_MU_01_2011.indd 62 01.02.11 16:50 Der Schrei jenseits der Stille 63 Es entstand eine besondere Art des »Hinhörens auf die Musik«, mit der das verbale und das musikalische Material der Gruppe unter ein Dach gebracht werden konnte. Anschaulich dargestellt wird dies im ersten Abschnitt des Protokolls, das wir in Anlehnung an De Backers Beschreibungen des sensorischen Spiels und der Momente der Synchronizität erstellten.10 Wenn wir das verbale Material aus dem Fallbeispiel musikalisch betrachten, können wir Parallelen zu unserem musikalischen Denken ziehen. Verbales und musikalisches Material haben folgendes gemein: repetitiven Charakter, keine Vorwärtsbewegung oder Fortentwicklung und keine affektive Verbindung zu ihrem verbalen Material. Von affektiver Warte aus betrachtet, kann man sagen, dass sowohl Worte als auch Musik lediglich ausgeworfen und nicht genutzt wurden, um Sinn und Bedeutung weiterzugeben, wobei sich die Gruppenmitglieder ihres Anteils an den Klängen, die sie produzierten, nicht bewusst zu sein schienen. Die Musik der einzelnen Gruppenmitglieder »bewegte sich nicht mit«, wie Daniel Stern es formulierte (Stern 2004, S. 149–151), sie lief richtungslos weiter, wiederholte sich ohne Ende, war von zusammenhanglosem Klang. Sie hing in einem zeitlosen Raum, form- und bedeutungslos. Während des Musizierens hatten die Mitglieder der Gruppe außer zur aktiven Handlung des Spielens keine Verbindung zu dem, was sie taten (De Backer 2004, 2008; Sutton & De Backer 2009). Es war rohes, unverdautes, nicht bearbeitetes Material. Fallbeispiel 2 4 Mitglieder sind anwesend: A, B, C und D. Wie üblich sitzen sie auf Stühlen um die Instrumente herum, lehnen sich entweder an größere Trommeln oder nehmen eine Gitarre und halten sie in der Hand. A und B sprechen leise miteinander, es klingt wie ein Privatgespräch, das niemand sonst hören soll. A beklagt sich schließlich, dass sein Kopf weh tue, er habe Kopfschmerzen. Er sagt zu Iain: »Mein Kopf ist geschmolzen, irgendetwas tut sich da drin, ich spür’ etwas in meinem Kopf. Du bist doch Arzt, oder? Ein Kopfdoktor?« Iain fragt nach seinen Empfindungen und A antwortet, es fühle sich so an, »als ob sich etwas bewegt und Schmerzen macht – brauch’ ich jetzt neue Hirntabletten?« Da beginnt D an den Gitarrensaiten zu zupfen und schaut dabei Julie an. Die setzt sich mit einer anderen Gitarre auf einen leeren Stuhl neben ihn und die Beiden versuchen Akkorde zu spielen. D scheint das zu gefallen und fängt ein repetitives, perkussives Spiel an. Für Julie gibt es in dieser Musik keinen Platz und sie hört nur zu. Inzwischen sagt A zu Iain: »Du bist doch ein Hirndoktor, Du weißt alles über Pillen und das ganze Zeug, oder?« Iain fragt A, ob er etwas über 10 Wir fühlten uns zu De Backers Werk hingezogen, weil er musikalisches und analytisches Denken miteinander verbindet und er seine Forschung mit jungen psychotischen Menschen durchführte. 08_sutton_MU_01_2011.indd 63 01.02.11 16:50 64 Julie Sutton, Iain McDougall Pillen wissen wolle und A sagt: »Wie wirken die Tabletten auf einen, wie meine Hirntabletten, die blauen und gelben11 und E?« D legt die Gitarre ab und stellt Djembe und Bongos neben sich auf. B nimmt die Gitarre und C schaut zu. B fängt an, laut und aggressiv zu spielen, sein Spiel hat weder erkennbare Gestalt noch Form, und er scheint gefangen von der physischen Empfindung an den Saiten. A schaut herüber und zuckt zusammen, kehrt aber dann wieder zu seinem Gespräch mit Iain über die Nebenwirkungen von Tabletten zurück. Er vertraut ihm an, dass er am Wochenende »blaue« genommen und Cannabis geraucht und Alkohol getrunken habe. Nun wird klar, dass A nach seinem kürzlich zu Ende gegangenen Haftaufenthalt das vertraute Muster der Selbstmedikation wieder aufgenommen hat. Iain ist sich fast sicher, dass die Symptome von dem Cocktail aus verordneten Medikamenten und Straßendrogen herrühren, und dass der Umstand, dass A aufgrund der Haft einige Monate nicht an Straßendrogen herankam, seinen Organismus nun besonders empfindlich reagieren ließ. Iain schlägt deshalb vor, A solle mit seinem Hausarzt über die Medikation sprechen, und beide sind sich einig, dass die am Wochenende genommenen Dogen einen starken Einfluss auf den derzeitigen Zustand hätten. A ist weiterhin besorgt darüber, was sich in seinem Kopf abspielt, wendet sich ab und spricht eine Weile mit Julie. Julie sagt: »Du machst Dir wohl große Sorgen über all das, oder?«, und A stimmt ihr zu und sagt, es sei eine gute Idee, den Arzt zur Kontrolle aufzusuchen, »obwohl alle Ärzte ein Haufen Scheißkerle sind.« D schließt sich nun B’s lautem Spiel an, indem er immer wieder bruchstückhafte, rhythmische Muster auf die Trommeln hämmert. D und B spielen zwar gleichzeitig und auf ähnliche Weise, aber sie spielen nicht miteinander. Iain hat inzwischen eine Gitarre genommen und spielt einen Akkord an akzentuierten Stellen in der Trommelmusik. A steht auf und hält sich den Kopf: »Hört auf! Mein Kopf bringt mich um!« Kurz darauf hört die Musik auf und die Sitzung läuft langsam aus. In der darauf folgenden Woche berichtet A, sein Kopf sei heute nicht mehr so schlimm. Klinisch musikalisches Material Hier gibt es keinerlei Raum für Reflexion. Der Patient ist in dem nicht mehr an eine bestimmte Zeit gekoppelten traumatischen Material gefangen, spielt wie in einer Endlosschleife, er versucht, sich davon zu befreien, ist aber unfähig sich weiterzubewegen. Ebenso wie dieses musikalische Material, scheint sich auch A’s verbales Material zeitlich verselbständigt zu haben. Während und nach den Sitzungen dachten wir darüber nach, warum A gerade zu diesem Zeitpunkt zur Selbstmedikation zurückkehrte und was ihn zu diesem Schritt bewogen haben mochte. Auch hatten wir den Eindruck, dass seine Einstellung zu den verordneten Medikamenten, zu Ecstasy 11 Diese Farben beziehen sich auf den verbreiteten Belfaster Slang für Diazepam = blau und Lorazepam = gelb; E steht für Ecstasy oder MDMA. Mit »meine Hirntabletten« sind Antiepileptika gemeint, die A nach einer Hirnverletzung verordnet bekam. 08_sutton_MU_01_2011.indd 64 01.02.11 16:50 Der Schrei jenseits der Stille 65 und den »Blauen und Gelben« an Rosenfelds Bild vom manischen Mechanismus der Drogenabhängigkeit erinnerte. Die Droge symbolisiert ein ideales, konkret integriertes Objekt, und ihre Wirkung verstärkt den omnipotenten Status manischer Abwehr. Rosenfeld vergleicht es mit einem Kleinkind, das am Daumen nuckelt, um sich die ideale Brust herbeizuzaubern (Rosenfeld 1960). Wie die der anderen Gruppenmitglieder war auch A’s Welt voll von idealen und verabscheuten Objekten. Da war der perfekte (ermordete) Vater, der alle liebte, und eine an Kummer zerbrochene Mutter, die zur Flasche griff. Auch wir repräsentierten diese Eltern, exotische Musiker, die von Zeit zu Zeit vorbeikamen, und »Scheißkerle« wie alle Ärzte, denn wenn wir A verstehen konnten, dann müssten auch wir verrückt sein. Nach De Backers Beobachtung kann uns Musik am nächsten an das rohe, unbearbeitete traumatische Material im Inneren eines psychotischen Patienten heranführen, wie es sich im sensorischen Spiel zeigte. Williams sagt, dies sei das Gegenteil von Kreativsein (Williams 2007). Wir glaubten, dass uns eine besondere Art und Weise des Hinhörens auf die Musik helfen könnte, größeren inneren Abstand zu den verbal geschilderten traumatischen Erlebnissen zu bekommen, und uns diese gleichzeitig eine Möglichkeit böte, die nonverbale Wirkung dieser Schilderungen (durch musikalische Träumereien und musikalisches Denken) besser zu verarbeiten. Wir konnten somit ein Bild kreativ nutzen, für die Gruppe war dies jedoch nicht möglich. Dass wir das Material außerhalb der Sitzungen durch musikalische Träumereien und Supervision gewissermaßen ›verstoffwechseln‹ konnten, war lebensnotwendig. Integration der Gruppenarbeit, theoretische Ideen und Forschungsergebnisse Auch wenn wir die Gruppe nicht psychodynamisch führten, waren wir der Auffassung, es könnte sinnvoll sein, sich der Arbeit von der Psychotherapie her zu nähern. Wir bedienten uns daher des psychoanalytischen und musikalischen Denkens, um einen fruchtbaren Weg für die Arbeit mit diesen schwer gestörten jungen Männern zu finden, einen Weg, der uns auch helfen sollte, die gemeinsamen und individuellen Merkmale unserer professionellen Rollen unter einen Hut zu bringen. Zunächst mussten wir das komplexe Netz der Einflüsse, das auf das Leben dieser jungen Männer einwirkte, erkennen und mit einbeziehen. Besonders augenfällig war, wie sich die Außenwelt permanent in die Innenwelt der jungen Männer drängte. Zur Philosophie unserer Arbeitsstelle gehörte auch die psychoanalytische Betrachtung der Innen- und der Außenwelt unserer Patienten und diese Methode wandten wir auch auf diese Gruppe an. Entsprechend Bions Modell, folgten die Gruppenmitglieder den Mechanismen Kampf-Flucht und paarweises Auftreten. Letzteres war besonders häufig zu beobachten. Wenn Brüderpaare im Raum waren, fand es einer meist schwierig, mit dem anderen in der Gruppe zu bleiben, sie waren frustriert und aggressiv gegeneinander, und selten sahen wir beide gleichzeitig in der Gruppe. Manchmal hatten auch die Sozialar- 08_sutton_MU_01_2011.indd 65 01.02.11 16:50 66 Julie Sutton, Iain McDougall beiter Probleme, gemeinsam im Raum zu bleiben. Als Außenseiterpaar versuchten wir der Anwesenheit des anderen immer bewusst und mit dem, was der andere gerade tat, in Kontakt zu bleiben. Jedoch gab es Momente, in denen einer von uns von den Reaktionen überwältigt war und Schwierigkeiten bekam, »am Leben« und in seinem Denken in der Gegenwart zu bleiben. Wir beschlossen deshalb, dass der andere dann einen Gang höher schalten und damit dem überwältigten Teil des Paares Zeit und den erforderlichen Raum zur Reflexion über die Reaktionen geben sollte. Da die einzelnen Gruppenmitglieder, die Gruppe und die Gemeinde auf einer psychotisch- paranoid-schizoiden Ebene funktionierten, war es unvermeidlich, dass wir durch Projektion zu Objekten frühkindlicher Erfahrungen wurden. Die jungen Männer nahmen uns nicht als Paar wahr, sondern Iain wurde zum idealisierten guten und Julie oft zu einem abgewerteten schlechten Objekt. Iain war ein Vater, zu dem man gehen konnte, wenn Gefahr drohte und etwas unternommen werden musste, mit dem man aber in der Gruppe nie lange Kontakt haben wollte. Julie war so etwas wie eine Mutter, die einen offenen und geschützten Raum anbot, der von einigen der jungen Männer auch angenommen wurde. Andere wandten sich jedoch davon ab, lehnten ihn ab oder ignorierten ihn, oder betrachteten ihn und Julie mit Verachtung. Wir stellten fest, dass die meisten in der Gemeinde ein gestörtes Verhältnis zu ihren Eltern (dem Primärpaar) hatten. Das Stereotyp des Vaters war der abwesende Aggressor (abwesend, da er im Gefängnis saß oder für ihre Sache kämpfte, oder weil er alkohol- oder drogenabhängig war und oft die Mutter alleine zurück ließ). Die Mütter hatten in der Regel wenig Ressourcen und meist nur wenig oder gar kein Geld zur Verfügung, die Mutter-Kind-Beziehung war geprägt von Stress und der ständigen Angst, die nächste Bombe oder Schießerei könnte den eigenen Mann oder die Familie treffen. In einer solchen Situation, in der der Vater abwesend ist und die Mutter auf bewundernswerte Weise ums Überleben kämpft, ist es für ein Kind unmöglich, die Eltern als funktionierendes Paar zu internalisieren. Greenberg schreibt, das Dilemma des Kindes sei dann: »die Bezugsperson ist gleichzeitig Quelle der Bedrohung und Schutz vor ihr«12 (Greenberg et al 1990, S.163). Kommen wir nun zur Gruppe als Ganzes zurück und führen Erinnern und Vergessen, paarweises Auftreten und Paare zusammen. Wir sind uns des Mythos’ von einer idealen Vergangenheit durchaus bewusst, den alle Gruppenmitglieder in sich tragen, einer Vergangenheit, in der es keine Einschüchterung, weder Bedrohung noch Paranoia gab. Wenn wir auf die Geschichte Nordirlands schauen, sehen wir, dass es diese Vergangenheit nie gegeben hat, denn schon vor dem ersten Mord in der Gemeinde war die Gesellschaft alles andere als perfekt. Dennoch trägt dieser magische Traum die jungen Männer in die Zukunft: einer von ihnen erzählte, sein Traum sei es, sich ein Boot zu kaufen und mit seinen Freunden über die Meere 12 Greenberg, M.T., Cicchetti, D., Cummings, E.M. (1990): Attachment in the preschool years: Theory, research, and intervention. Chicago. 08_sutton_MU_01_2011.indd 66 01.02.11 16:50 Der Schrei jenseits der Stille 67 zu segeln, während sich ein anderer ewige Ferien erträumte mit vielen Mädchen, Parties, Drogen und Sex. Erinnern und Vergessen »Wer die Zeit als Zeitraum wahrnehmen will, muss fähig sein zu warten und sich zu erinnern.«13 Unserer Wahrnehmung nach erlebte die Gruppe Zeit als unmittelbare Erlebnisfragmente, die in der Regel roh und unbearbeitet waren. Es war schwierig, Zeitpunkte und Geschichten zusammenzubringen, sodass eine Geschichte nahtlos in die andere übergehen konnte. Erfahrungen, die mit dem Schrecklichen, dem Bedrohlichen und dem Demütigenden verbunden waren, schienen komprimiert zu werden und sich immer wieder, endlos, vor und zurück, wiederholen zu müssen. Wie oben bereits erwähnt, tauchte dieses Phänomen in der Musik aller Gruppenmitglieder und in der Musik ihrer Sprechweise und ihrer Handlungen auf. Es war ein Zustand, in dem Erinnerung nicht existieren konnte, denn es war unmöglich, Zeit auf einem Kontinuum wahrzunehmen, auf dem Vergangenheit und Gegenwart und Gegenwart und Vergangenheit interagieren konnten, damit die alte Vergangenheit noch einmal erlebt werden und daraus unter Umständen eine neue Gegenwart entstehen kann. Einer der wichtigsten Aspekte unserer Arbeit war, wie wir an die Gruppe dachten, wenn wir nicht alle zusammen waren. Ein Beispiel: Ein Gruppenmitglied befand sich drei Monate lang in Gewahrsam im Zentrum für junge Straftäter; über seinen Bewährungshelfer ließen wir ihm im Namen der ganzen Gruppe ausrichten, dass wir alle an ihn dächten. Er war erstaunt, eine solche Nachricht zu bekommen, denn er war sich sicher, wir hätten ihn längst vergessen. Am Tag seiner Entlassung, zwei Tage vor Weihnachten, trafen wir uns zur letzten Sitzung vor Jahresende und alle waren da, obwohl einige schon mehrere Monate nicht mehr erschienen waren. Diese Sitzung war eine Mischung aus einem Wiedersehen und einer Feier, alles wirkte real und lebendig, obwohl dieses Gefühl des ZusammenSeins über diese Sitzung hinaus nicht aufrecht erhalten werden konnte. Im darauf folgenden Jahr erlebten wir öfter solche Zusammenkünfte, obwohl sie nicht kontinuierlich zustande kamen. Gelegentlich bestand das Gemeinsame darin, dass ein älteres Gruppenmitglied die Schlüssel für den Raum abholte und ihn rechtzeitig vor Eintreffen der Anderen aufschloss. Eine solche Entwicklung lag jenseits aller Erwartungen, die wir von der Gruppe hatten und deutete einen Besitzanspruch auf die Gruppe an. In diesem Sinne war für uns jeder Ausdruck des Erinnerns von Bedeutung, indem wir zum Beispiel einen Teil einer Geschichte aus der Gruppe im Gedächtnis behielten oder den Namen von jemandem aussprachen, der schon wochenlang nicht mehr die Gruppe besucht hatte. 13 Williams, P. (2008): »Making time, killing time« In: R. J. Perelberg (ed.) Time and Memory London, Karnac Books, S.49. 08_sutton_MU_01_2011.indd 67 01.02.11 16:50 68 Julie Sutton, Iain McDougall Wie es weiter geht Wir hatten im Zentrum für Psychotherapie einen Zeitraum von sechs Monaten für die Arbeit mit der Gruppe veranschlagt. Dass die Gruppe als ein Experiment angesetzt war, schien uns von jeglicher Erwartung zu entbinden. Aufgrund der schwerwiegenden Störungen bei diesen jungen Männern ging niemand davon aus, dass die Gruppe überdauern würde. Die Tatsache, dass nach sechs Monaten immer noch junge Männer in die Gruppe kamen, wenn auch nur sporadisch, bewog die zuständige Gesundheitsbehörde dazu, eine erhebliche Summe zur Verfügung zu stellen, damit wir von unserer ambulanten Tätigkeit freigestellt werden und wir drei Jahre lang die Gruppe ein Mal wöchentlich besuchen konnten. In dieser Zeit änderte sich zwar die Gruppenzusammensetzung, aber eine kleine Stammbesetzung blieb, die sich dann mit den neuen Mitgliedern zusammensetzte. Die Gruppe begann schließlich, eigene Entscheidungen zu treffen und selbst finanzierte Ausflüge in die Umgebung zu organisieren. Dies war ein klares Zeichen dafür, aus einer sich immer wiederholenden Vergangenheit auszubrechen und den Weg in eine Zukunft einzuschlagen, die auch etwas Positives bereithält. Das alleine war bereits ein großer Erfolg, denn die Gruppe wurde von innen und außen niedergemacht und angegriffen. Ein Beispiel: einmal wurde ein bekanntes Mitglied einer aktiven IRA-Einheit in einem Wagen mit verdunkelten Scheiben an unserem Raum vorbeigefahren. Der Wagen hielt an, der Mann kurbelte das Fenster herunter und starrte uns an, ohne seine Sonnenbrille abzunehmen. Das sollte eine Drohung sein und war bei der Geschichte der Gemeinde ein klarer Einschüchterungsversuch. Daraufhin trafen wir uns nur noch im Beisein von Sozialarbeitern und Polizei. Es gab noch eine Reihe anderer ähnlicher Situationen, wenn für den Zeitpunkt des Gruppentreffens andere Veranstaltungen angesetzt wurden oder, wie ein Mal geschehen, der Raum von drei Polizisten durchsucht wurde. Nach solchen Vorfällen wieder zur Gruppe zurückzukehren, auch wenn mitunter kein Gruppenmitglied auftauchte, war eine klare Botschaft, dass wir die Gruppe nicht aufgeben würden. Zusammenfassend können wir sagen, die Gruppe bot einen Platz, wo man sich begegnen und die Kraft der Emotionen spüren kann, die hinter alltäglicher Paranoia und Aggression liegt, wo man Geburten, Jahrestage und neue Arbeitsstellen feiern und von aufregenden Reisen ins Ausland berichten kann. 2009 flackerten die paramilitärischen Aktivitäten in Belfast auf besorgniserregende Weise wieder auf. Neue Gruppen bildeten sich, die junge Männer rekrutierten, die sich nicht an den Krieg erinnern konnten. Dies führte zu großer Unruhe unter den Gruppenmitgliedern, die schließlich eskalierte und einige von ihnen wieder in alte Muster wie Alkohol- und Drogenmissbrauch zurücktrieb. Selbstverletzungstendenzen nahmen in dieser Zeit ebenfalls zu, drei Gruppenmitglieder versuchten sich das Leben zu nehmen. Die Belastung für die Sozialarbeiter war enorm, sie setzten sich verzweifelt für diese jungen Männer ein. Diese Phase ging vorüber und alle hatten irgendwie überlebt. Wir wissen nicht, ob das Angebot der Sitzungen in dieser Phase lebensnotwendig war, aber es hatte mit Sicherheit eine positive Wirkung. 08_sutton_MU_01_2011.indd 68 01.02.11 16:50 Der Schrei jenseits der Stille 69 Manchmal äußerten Mitglieder der Gruppe Zweifel, ob wir in der darauf folgenden Woche am Treffpunkt erscheinen würden und waren erstaunt, wenn wir doch kamen. Auch wenn wir zunächst als die verrückten Gutmenschen dastanden, die man für ihre Dummheit eigentlich verachten sollte, spürten wir allmählich wachsendes Interesse an uns und damit Anzeichen von einer Beziehung zu uns. Im Laufe des Jahres 2010 entwickelte sich eine immer stärker werdende Eigenverantwortung für die Gruppe und immer häufiger kam es vor, dass ein Mitglied der Gruppe unaufgefordert den Raum öffnete und andere Gruppenteilnehmer vor unserer Ankunft begrüßte. Einige der Teilnehmer, die von Anfang an dabei waren, ließen sich irgendwo, im Allgemeinen außerhalb der Gemeinde, nieder, bekamen feste Jobs und gründeten Familien. Wie bereits erwähnt, kamen auch jüngere Männer in die Gruppe, die sich zu den Älteren gesellten. Es schien, als bewege sich etwas, was sich »die Gruppe« nannte, immer weiter in Richtung Zukunft und zwar ohne uns. Vielleicht ist das genau das, was eine solche Gruppe ihren Mitgliedern bieten sollte: einen »Raum zum Wachsen«, ein sicherer Ort zwischen Vergangenheit und Zukunft. Wir erwarten nicht, dass Alltägliches die Menschen tief berührt. Allein in der Tatsache, dass sich etwas häufig ereignet, liegt etwas Tragisches, das in der Uremotion der Menschheit jedoch noch keinen Abdruck hinterlassen hat; und wahrscheinlich könnte unser Wesen auch gar nicht viel davon verkraften. Hätten wir eine klare Vision und ein Gefühl für alle Facetten des menschlichen Lebens, dann wäre das so, als könnten wir das Gras wachsen und das Herz des Eichhörnchens schlagen hören. Und wir würden sterben am Schrei, der jenseits der Stille liegt. Also gehen die Schnellsten von uns auf Dummheit weich gebettet durch die Welt. (George Eliot: Middlemarch) In unserer Arbeit sehen wir uns immer wieder am Rande unerträglicher Erfahrungen. Vielleicht hat Eliot Recht und wir entdecken auch was es heißt, auf Dummheit weich gebettet durch die Welt zu gehen. Dumm ist nicht gleichbedeutend mit unwissend, und auch nicht mit selbstgefällig. Weich gebettet zu sein ist notwendig (zum Beispiel in Räumen außerhalb der Klinik, wo unerträgliche Extreme menschlicher Existenz ›verdaut‹ werden können), aber zu weich gebettet zu sein hieße, unsere Patienten zu verlieren und somit die Wiederholung des Unerträglichen zuzulassen. Wir konnten den Männern der Gruppe nur anbieten, uns mit ihnen zu treffen und auf den Schrei zu hören, der sonst wahrscheinlich ungehört geblieben wäre, und gleichzeitig in uns selbst einen Raum offen halten, in dem wir von Möglichem und Unmöglichem träumen konnten. Literatur Alderdice, L. (2007): The individual, the group and the psychology of terrorism. International Review of Psychiatry 19 (3), 201–209. 08_sutton_MU_01_2011.indd 69 01.02.11 16:50 70 Julie Sutton, Iain McDougall De Backer, J. 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Dr Julie Sutton, Musiktherapeutin, tätig am Centre for Psychotherapy, Belfast, sowie in eigener Praxis, langjährige nationale wie internationale Tätigkeit in Forschung und Lehre, zahlreiche Veröffentlichungen, Editor-in-Chief des British Journal of Music Therapy, langjährige Tätigkeit in der EMTC; The Centre for Psychotherapy, Knockbracken Healthcare Park, Saintfield Road, Belfast, BT8 8BH, Northern Ireland; E- mail: [email protected] Iain McDougall, Psychiater am Centre for Psychotherapy in Belfast, Nord Irland, langjährige Berufserfahrung im psychiatrischen Bereich, Hauptinteressensgebiet: Psychoanalytische Psychotherapie im psychiatrischen Behandlungskontext, spielt leidenschaftlich Saxophon; E-mail: [email protected] Dieser Beitrag von Julie Sutton und Iain McDougall ist der erste in einer Reihe von Artikeln zum Thema »Trauma und Musiktherapie« von Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichen Ländern. 08_sutton_MU_01_2011.indd 70 01.02.11 16:50