„Willkommen und Abschied“ – Analyse und Deutung

Transcription

„Willkommen und Abschied“ – Analyse und Deutung
Willkommen und Abschied (1771)
Johann Wolfgang von Goethe
(I)
05
(II)
05
(III)
05
(IV)
05
Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde!
Es war getan fast eh gedacht;
Der Abend wiegte schon die Erde
Und an den Bergen hing die Nacht
Schon stand im Nebelkleid die Eiche
Ein aufgetürmter Riese, da,
Wo Finsternis aus dem Gesträuche
Mit hundert schwarzen Augen sah.
Der Mond von einem Wolkenhügel
Sah kläglich aus dem Duft hervor;
Die Winde schwangen leise Flügel
Umsausten schauerlich mein Ohr
Die Nacht schuf tausend Ungeheuer
Doch frisch und fröhlich war mein Mut
In meinen Adern welches Feuer!
In meinen Herzen welche Glut!
Dich sah ich, und die milde Freude
Floß von dem süßen Blick auf mich;
Ganz war mein Herz an deiner Seite
Und jeder Atemzug für dich.
Ein rosafarbenes Frühlingswetter
Umgab das liebliche Gesicht,
Und Zärtlichkeit für mich - ihr Götter!
Ich hofft es, ich verdient es nicht!
Doch, ach schon mit der Morgensonne
Verengt der Abschied mir das Herz
In deinen Küssen welche Wonne!
In deinem Auge welcher Schmerz!
Ich ging, du standst und sahst zu Erden
Und sahst mir nach mit nassen Blick:
Und doch welch Glück geliebt zu werden!
Und lieben, Götter, welch ein Glück!
1771 verarbeite Goethe sein Liebesserlebnis mit
Friederike Brion.
Nach seinem Abschlussexamen 1771 ließ er sich
als Rechtsanwalt nieder, besuchte Friederike
zum letzten Mal und trennte sich von ihr in
Frankfurt. Weil er sie verließ, hatte er große
Schuldgefühle und schrieb sich diese in dem
Gedicht „Willkommen und Abschied“ von der
Seele.
Aufgabe:
„Interpretieren Sie, wie sich die Gefühle der Liebenden in den Naturdarstellungen
widerspiegeln.“1
1
BLF Deutsch Thüringen 2010
Erwartungshorizont:
Farben:
Grün – Inhalt
Blau – Form
Rot – Deutung
Thema:
- Treffen eines Jünglings mit seiner Geliebten
- Unterthemen: Natur, Liebe, Abschied, Nacht
Formaler Aufbau:
- 4 Strophen mit jeweils 8 Versen
- vierhebiger Jambus  Jambus als vorwärtsdrängendes Metrum („jugendliches
Weltvertrauen und stürmisches Vorandrängen“)
- 4 Verse sind jeweils Kreuzreime (pro Strophe: a, b, a, b; c, d, c, d)
- Wechsel zwischen männlicher und weiblicher Kadenz
- „Herz“ erscheint in allen 4 Strophen (in letzter am Zeilenende)  zentrale Stellung
- (durchgängig Präteritum, außer den letzten beiden Zeilen)  Situation in der
Vergangenheit; beendete Liebesbeziehung ( Autorenbezug; Liebe zu Friederike
Brion)); letzten beiden Zeilen sind „zeitlos“
Strophe
1
-
-
-
2
Analyse und Deutung
Stropheninhalt: Der nächtliche Aufbruch des Jünglings zur Geliebten
„Es schlug geschwind mein Herz zu Pferde!“ (V. I, 1) ( Ausrufezeichen)
 Herz wird zum Antriebsmotor der von tiefem Gefühl der Sehnsucht
geleiteten Handlung (Verdeutlichung: „geschwinder“ Ritt zur Geliebten;
Pferd = Kraft), Aufbruchsstimmung des lyrischen Ichs
„aufgetürmter Riese“; „wo Finsternis aus dem Gesträuche mit hundert
schwarzen Augen sah“ (V. I, 6 – 8) ( zweites Bspl.: Personifizierung
Hyperbel und Metapher („schwarze Augen“ = Nacht)  Darstellung einer
als bedrohlich empfundenen, lebendigen Natur; lyrisches Ich fühlt sich
nahezu beobachtet, ist emotional sehr „geschärft“; Treffen heimlich; sehr
bildhafte Darstellung (Natur = Gefühlslage des lyrischen Ichs)
„Der Abend wiegte schon die Erde“ (V. I, 3)  Natur wirkt auch
gegensätzlich zum aufgewühlten lyrischen Ich
-
Stropheninhalt: Fortführung der Reise
-
„Der Mond […] sah kläglich“; „Die Winde […] umsausten schauerlich mein
Ohr (V. II, 1 – 4) ( Personifizierungen)  Fortführung der eher
schaurigen Naturdarstellungen als Unterstützung des Innenlebens des
lyrischen Ichs  Steigerung (Mond  Wind  Nacht)
„Doch frisch und fröhlich war mein Mut“ (V. II, 6) ( Alliteration); Adern =
Feuer, Herz = Glut  Ellipsen, Anaphern; Sprache des SuD)  deutliche
Verschiebung des Fokus auf die emotional positive Gemütslage des
lyrischen Ichs (Vorfreude auf das Treffen)
-
3
-
Stropheninhalt: Ankunft des Jünglings bei der Geliebten
-
„Dich sah ich, und die Milde Freude floß […] auf mich“ (V. III, 1, 2)  das
Wilde und Ungestüme weicht komplett der „Zärtlichkeit“; Übertragung
der „milde[n] Freude“ der Angebeteten auf das lyrische Ich; Alliteration
sowie „mich“ und „dich“ (Personalpronomen) zur Verdeutlichung der
Zweisamkeit
„rosafarbenes Frühlingswetter“ (V. III, 5)  positive Naturdarstellung,
keine Dunkelheit und Bedrohung mehr („Frühling“ – Aufblühen,
Aufbegehren)  entspricht der Gefühlswelt der Liebenden (äußere Natur
ist innere)
„Und Zärtlichkeit […], ich verdient es nicht“ (V. III, 7, 8)  begrenzte
„Zärtlichkeit; Umkehr und Einleitung des Abschieds
-
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4
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Inhalt: Abschied des Jünglings von der Geliebten
-
„ … mit der Morgensonne verengt der Abschied mit das Herz“ (V. IV, 1, 2)
 Abschied und Ende des Treffens am Tage, Verengung des Gefühls (der
Leidenschaft)  Natur (außen) und Innerlichkeit gleich
„In deinen Küssen, welche Wonne! In deinem Auge welcher und
Schmerz!“ (V. IV, 3, 4); (Ellipsen; Parallelismen und viele Substantive zur
Verdeutlichung; typisch SuD)  gleichzeitige hohe Glückserfahrung, aber
auch dem beginnenden Abschiedsschmerz ( Willkommen und Abschied
als Wechsel zwischen beginnender Distanz und erinnerndem
Nachempfinden  Ambivalenz)
Metapher: „nasser Blick“ (V. IV, 6) für Tränen und Abschied
„Und doch welche Glück geliebt zu werden! Und lieben, Götter, welch ein
Glück!“ (V. IV, 7, 8); (Chiasmus; Aktiv und Passiv; Präsens)  drückt die
trotz des Abschieds (Ende der Liebschaft) positive Meinung und
„Zeitlosigkeit“ der Liebe aus („lieben“ und „geliebt werden“) (V. IV, 7, 8)
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Ergänzung:
Sprache SuD:
-
emotional und gefühlvoll
viele Ellipsen, Interjektionen
Wörter wie „Herz, Wonne, Freude, Liebe, Kuss, Schmerz“  auf Gefühle bezogen