Das kurze Gedächtnis digitaler Publikationen - UK

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Das kurze Gedächtnis digitaler Publikationen - UK
Das kurze Gedächtnis digitaler Publikationen
Klaus-Dieter Lehmann
(online: http://www.klostermann.de/verlegen/lehma_02.htm, 19.10.2003). Der Beitrag
wurde zuerst veröffentlicht in Heft 3-1996 der Zeitschrift für Bibliothekswesen und
Bibliographie, S. 209-226, Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main, 1996
1. Bibliotheken im Wandel
Wissenschaftliche Texte und Informationen sind längst nicht mehr gleichbedeutend
mit gedruckten Informationen auf Papier. Informationen werden zunehmend in digitaler Form angeboten und vertrieben, sei es in physischer Form als Disketten, Magnetbänder oder CD-ROMs oder in immaterieller Form als Publikationen im Netz.
Selbst die Printmedien sind heute überwiegend das Resultat elektronischer Textverarbeitung - als eine unter "mehreren" möglichen Ausgabeformen. Letztlich hängt die
Entscheidung über die jeweilige Ausgabe- und Distributionsform vom Markt und der
Akzeptanz durch die Nutzer ab.
Sicher ist, daß sich Anwender, besonders in Wissenschaft und Forschung, zeitgemäßer
Informationsmethoden bedienen werden.
Heute kommunizieren bereits mehr als 60 Mio. Menschen auf der ganzen Welt über
das Netz. Täglich werden allein im Internet Daten in einem Umfang übermittelt, der
500 000 Büchern von je 200 Seiten entspricht. Das Internet wächst monatlich um 10
bis 15 Prozent. Einen ähnlich gewaltigen Informations- und Datenaustausch im globalen Maßstab hat es nie zuvor gegeben. Auch wenn ein Großteil des Datentransfers eher
der Kommunikation als der Publikation zuzuordnen ist und auch wenn die klassischen
Verleger im Internet kein oder noch kein Publikationsmedium sehen, als alternatives
wissenschaftliches Medium etabliert es sich zunehmend, z. T. unter Veränderung der
Zuständigkeiten zwischen Autor, Verlag, Bibliothek.(1) Diese Entwicklung ist in ihrer
zeitlichen Realisierung sicher unterschiedlich von Fachgebiet zu Fachgebiet, sie ist
auch abhängig vom Aktualitätsdruck, von der jährlichen Zahl der Publikationen, vom
Grad der Internationalität und von der Größe der Fachgruppe in der Wissenschaft.
Digitale Informationsangebote sind jedoch nicht nur im Zusammenhang mit neu erscheinenden Publikationen oder der Präsentation neuer Forschungsergebnisse zu
sehen. Die wissenschaftliche Kommunikation über Datennetze hat inzwischen eine
solche Dynamik entwickelt, daß in zunehmendem Umfang Programme zur retrospektiven Digitalisierung großer Bibliothekssammlungen geplant und realisiert werden.
Die Digitalisierung älterer Literatur wird als strategisch wichtige Maßnahme für die
Wissenschaft und Wirtschaft eines Landes angesehen. Damit wird nicht nur die Qualität der wissenschaftlichen Informations- und Arbeitsmöglichkeiten verändert, sondern
auch mittelfristig das quantitative Verhältnis von Printmedien und digitalen Medien.
Welche Größenordnung die Fördermaßnahmen für digitale Bibliotheken inzwischen
erreicht haben, zeigen die Programme in den USA und in Frankreich. Die Library of
Congress digitalisiert im Rahmen einer National Digital Library 5 Mio. Americana bis
zum Jahr 2000. Dafür hat der Kongreß 15 Mio. US Dollar bewilligt. 24,4 Mio. US
Dollar wurden von der National Science Foundation, der NASA und ARPA an sechs
Universitäten vergeben, um die geeigneten Werkzeuge für virtuelle digitale Bibliotheken zu entwickeln bzw. zu optimieren. Frankreich verfolgt das ehrgeizige Ziel, mit der
Eröffnung der neuen Bibliothèque Nationale de France 1996/97 rund 100 000 Bücher
und Mikroformen digitalisiert über das Internet anzubieten und diese digitale Bibliothek bis zum Jahr 2000 auf 300 000 Bücher zu erweitern. Die Deutsche Bibliothek
verfügt mit ihrem Anfang 1997 fertiggestellten Neubau in Frankfurt a. M. über die
entsprechende Informationsinfrastruktur und wird mit der Digitalisierung von Beständen sowohl als Ergänzung von Maßnahmen zur Erhaltung von Bibliotheksbeständen
als auch zur Bereitstellung beginnen. Als kleineres Pilotprojekt ist gemeinsam mit dem
Börsenverein des Deutschen Buchhandels vorgesehen, einen Kanon deutschsprachiger
Publikationen (Belletristik und Sachbücher) nach qualitativen Gesichtspunkten zusammen zu stellen ("1000 Bücher: eine deutsche Bibliothek"), zu digitalisieren und im
Internet anzubieten. Ein wichtiges Planungspapier hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft geliefert: Neue Informations-Infrastrukturen für Forschung und Lehre.(2)
Darin wird der unverzügliche Beginn einer dezentral organisierten Bibliothek digitaler
Forschungsbestände gefordert. Zum Aufbau einer solchen verteilten Forschungsbibliothek in Deutschland soll nach Auffassung der Experten ein Sondermittelprogramm von
Bund und Ländern über die Bund-Länder-Kommission initiiert werden. Zur Verbesserung der Geräteausstattung sollen Mittel im Hochschulbauförderungsgesetz (HBFG)
bereitgestellt werden. Mit Leitprojekten will man zu einer raschen Umsetzung innovativer Anwendungssysteme kommen.
Interessant ist die Empfehlung, Bund, Länder und Deutsche Forschungsgemeinschaft
in ein gemeinsames Verbundförderkonzept für neue Informationsinfrastrukturen einzubinden und damit zu einer Konzentration der Mittel und der Maßnahmen zu
kommen.
2. Gefährdung der kulturellen und intellektuellen Überlieferung
Die Tatsache, daß sich unsere wissenschaftlichen Informationen alle 10-15 Jahre verdoppeln und die hohen Produktionskosten bei sinkenden Exemplarzahlen die Printmedien ständig überproportional verteuern, muß zu neuen Lösungen im wissenschaftlichen Publikationswesen führen. Digitale Publikationen können hier Angebote machen, zumindest in Teilgebieten. Unterstützt wird diese Entwicklung durch neue
attraktive Eigenschaften der digitalen Publikationen:
beliebige Verfügbarkeit
wahlweise Bereitstellungsmöglichkeiten
flexibler Zugriff (Selektivität)
freie Kombinierbarkeit von Text, Bild und Ton
leichte Aktualisierbarkeit
Interaktivität
kurze Zykluszeiten
Die Tatsache, daß digitalisierte Bibliotheksbestände in die Arbeitsumgebung integriert,
die Ressourcen erweitert und der Zugriff beschleunigt werden können, läßt auch eine
zunehmende Bereitschaft zur Digitalisierung älterer Bestände erwarten.
Diese Bereitschaft birgt aber auch eine Gefahr, nämlich digitalisierte Texte und Informationen nicht nur wegen der für wissenschaftliches Arbeiten innovativen Eigenschaften einzusetzen, sondern Digitalisierung quasi als Allheilmittel zur Lösung wirklicher
oder vermeintlicher Bibliotheksprobleme anzusehen, die im Zusammenhang mit physischen Büchersammlungen entstehen; z. B. wachsender Magazinbedarf, Bücherzerfall
wegen saurer Papiere, Betriebskosten für Bibliotheken. Bibliotheken sind nicht nur
stromlinienförmige Servicepunkte, Bücher nicht nur Textträger. Es sind kulturelle und
intellektuelle Indikatoren ersten Ranges. Deshalb müssen Wissenschaftler und Bibliothekare gemeinsam Strategien erarbeiten, die spezifische und nicht generalisierte
Lösungen vorsehen, dem Buch seinen Rang einräumen und die digitale Form sachgemäß und ideologiefrei verwenden.
Die politische Forderung, den wissenschaftlichen Arbeitsplatz ohne Medienbruch zu
schaffen, erscheint mir eher als technokratischer Anspruch formuliert.
Kein Zweifel, digitale Publikationen verbessern nicht nur Produktionsbedingungen im
ökonomischen Sinn, sie warten auch mit neuen Qualitäten auf, die den wissenschaftlichen Erkenntnisprozeß entscheidend beeinflussen und auch beschleunigen werden;
aber ihr Einsatz ist nicht ohne Risiken, besonders dann, wenn er undifferenziert erfolgt.
Der Weg in die Informationsgesellschaft ist vorgezeichnet. Ob man sich nun zu den
missionarischen Computer-Gurus zählt oder zu den pessimistischen Schwarzmalern,
eines ist dabei unbestritten: Die vorherrschende Form des neuen Wissens ist das flüchtige, transitorische, nutzerorientierte Wissen. Zwar ist die Information theoretisch nicht
zerstörbar, das Medium, in dem sie abgelegt ist, aber sehr wohl. Die Langzeitverfügbarkeit ist ein wesentliches Kriterium für wissenschaftliche Quellen. Sie soll deshalb
näher betrachtet werden. Es sind insbesondere die folgenden Eigenschaften und Umstände, die eine Langzeitverfügbarkeit von digitalen Publikationen gefährden:
Physischer Verfall der digitalen Information
Bei der gegenwärtigen Unbeständigkeit digitaler Speichermedien ergibt sich für die
Haltbarkeit der Informationen ein Zeitraum von 5 bis 30 Jahren. Magnetische Speicher, von der Diskette bis zum DAT oder den Magnetbändern, können Teile ihrer Information schon innerhalb weniger Jahre verlieren, CD-ROMs halten ein halbes Jahrhundert. Noch sind keine Speichermedien in Sicht, die ein Umkopieren überflüssig
machen.
Änderung von Codierung und Formaten
Für die Rückgewinnung von Information bedarf es der internen Struktur der Zeichencodierung und des Datenformats, um den verschlüsselten Bedeutungsinhalt zu erkennen. Diese Struktur ändert sich innerhalb eines Zeitraumes von 10-20 Jahren. Der
jetzige Entwicklungsstand ist nicht geeignet, die Festschreibung zeitlos gültiger Standards und Regeln zu erwarten. Gerade in der raschen Veränderung der Informationstechnologie liegen ja auch die Chancen für neue Entwicklungspotentiale.
Wechsel der Software- und Betriebssysteme und der Hardware
Hard- und Software, die den Zugangsschlüssel zur codierten Information darstellen,
ändern sich in schnellem Wechsel und können bestehende Informationssammlungen
obsolet machen. Hinzu kommen Marktstrategien, die Vor- und Rückwärtskompatibilität bewußt unterbinden - durch einen unzugänglichen Kern im Betriebssystem, versteckte Objekte im Programm oder Schutzmechanismen bei Prozessoren.
Systemimmanente Ursachen
Hypertextdokumente sind von Natur aus durch ihre nur im Netz existierenden Verknüpfungen lokal nicht darzustellen und zu sichern. Erst die codierten Anweisungen
liefern die Optionen zu den Beziehungen der Dokumentteile untereinander bzw. der
Nutzer ist frei, neue Publikationen durch Zusammenfügen zu erzeugen.
Ökonomische Einschränkungen
Informationen verlieren in der modernen Gesellschaft innerhalb kurzer Zeit an Wert;
Publikationen veralten auf einigen Gebieten in 2 - 5 Jahren. Das fördert die Auffassung, es handle sich um Wegwerfpublikationen.
Radikale Delokalisierung der Verarbeitung und Dezentralisierung der Datenbestände
Daten werden in der Regel dort bereitgestellt, wo sie entstehen, sind aber jederzeit von
jedem Ort abrufbar. Eine verbindliche Verantwortung zur Langzeitverfügbarkeit ist
dabei nicht zu erreichen. Die Vernetzung führt zu einer Reduzierung in der geographischen Verteilung von Information. Im Extremfall ist die digitale Publikation einmal
auf einem Server im globalen Netz gespeichert. Auf welchem Server sie wie lange verfügbar bleibt ist eine Einzelentscheidung. Das führt zu Unsicherheiten bezüglich Verfügbarkeit auf Dauer, aber auch zu mangelnder Referenzierbarkeit bezüglich der
Authentizität digitaler Publikationen.
Das sind einige markante Eigenschaften digitaler Publikationen, die die Kurzfristigkeit
des gespeicherten Wissens bei dieser Art der Aufzeichnung und des Mediums belegen
und die Schwierigkeit der dauerhaften Archivierung verdeutlichen.
Bei massenhaftem Gebrauch der neuen Techniken steht die kulturelle und wissenschaftliche Überlieferung einer ganzen Epoche auf dem Spiel. Wird unsere Gesellschaft geschichtslos?
2. 3. Intellektuelle und kulturelle Infrastruktur
Umberto Eco wurde einmal nach einer Lesung gefragt, wie man denn als durchschnittlich intelligenter Mensch in der Informationsgesellschaft den Überblick behalten kön-
ne.(3) Immer gewaltigere Wissensbestände entziehen sich der Kenntnis des Normalgebildeten; immer abseitigere Wissensgebiete bringen ihre eigene Sprache und Präsentation hervor. Er sagte, er sei keineswegs der Meinung, daß wir einer Zukunft des unüberblickbaren Wissens entgegen sähen, sondern einer Epoche des Vergessens, in der
das Gedächtnis der Menschheit nur in Bruchstücken überleben könne. Es werde immer
einfacher, mit wenig Wissen zu beeindrucken.
Beide Positionen, die Resignation vor der Wissensflut und die Furcht vor einer Weltkultur voller blinder Flecken, sind zwei Seiten einer Medaille. So weltumspannend
und dicht das globale Datennetz auch geknüpft wird, die Zweifel wachsen, ob dieser
Wissenstransfer auf Dauerhaftigkeit gegründet ist.
Bibliotheken waren bislang immer ein ganz wesentliches Element der kulturellen und
wissenschaftlichen Infrastruktur. Sie sind gleichermaßen Schatzhäuser, kulturelle
Werkzeuge und Serviceeinrichtungen. Ihr Wert liegt in der Quellensicherung und in
der Zugänglichkeit.
Sie gehören nicht nur einer Generation, sondern verbinden Vergangenheit und Gegenwart. In ihrer langen Geschichte hat es immer wieder technische Transformation gegeben - keine aber war so radikal wie die jetzige. Es scheint, daß Bibliotheken in einer
Zeit, in der die Vision einer globalen virtuellen Bibliothek technisch Wirklichkeit werden kann, sich selbst aufzulösen beginnen, insbesondere wenn sie im Netz nur noch
verteilt auf Servern existieren und der Nutzer als elektronischer Nomade frei in den
globalen Netzwerken navigiert.
Bei den digitalen Publikationen geht es nun um mehr als nur um Sichtung, Auswahl
und Verwaltung durch Bibliotheken. Es geht auch um die Sicherung des geistigen
Eigentums. Versäumen es die Bibliotheken, diese Position aktiv zu gestalten, werden
sie ihre Funktionen als Informationsvermittler und objektives Gedächtnis der kulturellen Überlieferung schnell verlieren. Aber es geht nur mittelbar um Bibliotheken, unmittelbar geht es um die Nutzer. Ihnen garantieren Bibliotheken in unserer Gesellschaft den ungehinderten Zugang, sie ermöglichen Beziehungen zwischen der individualisierten Gesellschaft und der kulturellen Tradition mit ihrer historischen Dimension. Ich würde das als Ökonomie der Kultur bezeichnen. Sie stellt sich nicht nur in
DM dar, sondern auch in der Akzeptanz von Werten. Dieses Aufgabengebiet müssen
sich Bibliotheken weiterhin sichern und weiter entwickeln. Goethe hat einmal formuliert: "Jede Bibliothek vergreist, wenn man sie nicht fortführt".
Er hat dabei sicher nicht an digitale Publikationen gedacht, aber die Formulierung ist
übertragbar auf unsere Situation! Papier ist kein geeignetes Kriterium für die ausschließliche Definition von Bibliotheksaufgaben.
Warum ist in diesem Zusammenhang dauerhafte Sicherung so wichtig? Worin liegt ihr
besonderer Wert? Publikationen sind Ausdruck unserer kulturellen und intellektuellen
Aktivitäten und Leistungen. Jede Kultur stützt sich auf eine historisch gewachsene
Überlieferung, nicht als Kult des Vergangenen, sondern als dauernde und dauerhafte
Verbindung von Tradition und den Veränderungen der Gegenwart.
Für einen Teil der Wissenschaft sind konventionelle Publikationen schon jetzt nicht
mehr ausreichend. Online-Datenbanken, Online-Preprints, CD-ROMs sind hinzugetreten, z. T. findet der wissenschaftliche Fortschritt genau in diesen digitalen Publikationen statt.
Wenn die intellektuelle Überlieferung Defekte aufweist - und das wird sie, wenn wir
uns nicht zügig um eine umfassende Archivierung kümmern, die auch digitale Publikationen einschließt, dann riskieren wir die Gefährdung unserer Kultur, zumindest
reduzieren wir ihre Qualität. Und das ist nicht wenig! Jarislov Pelikan hat einmal in
einem prägnanten Bild die Wissenschaft mit einem Gabentisch verglichen, der auf den
folgenden vier Beinen ruht:(4)
die Weiterentwicklung von Wissen durch die Forschung
die Vermittlung von Wissen durch die Lehre
die Verteilung von Wissen durch das Publizieren
die Erhaltung von Wissen in Bibliothekssammlungen
Dieses Bild unterstreicht, wie nötig unsere Anstrengungen sind, gedruckte und digitale
Publikationen gleichermaßen zu sichern und dafür einen systematischen Ansatz zu
finden, auch im Sinn einer Ökonomie der Kultur.
3. 4. Digitale Depotbibliothek
So wichtig wie das Bekenntnis zu den Büchern ist, so richtig ist also auch die Erkenntnis, daß digitale Publikationen Teil unserer Bibliothekssammlungen sind und das
noch verstärkt werden.(5) Würden Bibliotheken künftig bestimmte Informationsträger
ausblenden, sind vielfältige Zugangsbarrieren zu erwarten. Diese Überlegungen haben
dann aber die klare Konsequenz, daß die für Printmedien von fast allen Kulturstaaten
eingegangene Verpflichtung, solche Sammlungen für künftige Generationen zu erhalten, natürlich in gleichem Maß auch für digitale Publikationen gelten muß. Wir
haben es hier zwar mit einer anderen Ausgabeform zu tun, Inhalt und Zweck unterscheiden sich jedoch nicht.
Die Tatsache, daß die Langzeitarchivierung digitaler Publikationen erheblich größere
Schwierigkeiten verursacht, darf wohl kaum zum Maßstab einer Entscheidung ob oder
ob nicht gemacht werden, sondern sollte Ansatz für die Entwicklung geeigneter Verfahren sein. Häufig haben die Nationalbibliotheken die Rolle der Depotbibliothek
übertragen bekommen. Sie sind verantwortlich für die umfassende Sammlung der
Publikationen eines Landes, sie erstellen die Nationalbibliographie und sie gewährleisten durch Archivierung und Nachweis die Authentizität von Publikationen und
damit den Schutz des geistigen Eigentums. In der Regel erfolgt die Sammlung auf der
Grundlage einer gesetzlichen Regelung. Sie sollte künftig digitale Publikationen einschließen.
Die Deutsche Bibliothek ist per Gesetz verpflichtet, die in Deutschland erscheinenden
Veröffentlichungen (Text, Bild und Ton) und die deutschsprachigen Veröffentlichun-
gen des Auslands vollständig zu sammeln, nach nationalbibliographischen Grundsätzen zu verzeichnen, dauernd aufzubewahren und öffentlich der Benutzung zur Verfügung zu stellen. Aufgrund des geltenden Gesetzes bezieht sich der Auftrag auf die
physisch verbreiteten Publikationen, d.h. auf Printmedien, Musikalien, Tonträger und
elektronische Publikationen auf Datenträgern (CD-ROM, Disketten usw.). Publikationen können jedoch nicht vom Träger, sondern müssen vom Inhalt her definiert werden. Deshalb ist eine Unterscheidung von Offline-Publikationen und Online-Publikationen nicht sinnvoll. Sie wird letztlich vom Produzenten nach marktpolitischen Gesichtspunkten getroffen; sie kann durchaus auch zu parallelen Ausgaben auf verschiedenen Trägern führen. Für Die Deutsche Bibliothek ergibt sich unmittelbar aus ihrer
Aufgabenstellung eine zwingende Verpflichtung zum Sammeln digitaler Publikationen
– unabhängig vom spezifischen Träger.
Zur Anpassung an den aktuellen Stand der Technik und der dadurch bedingten neuen
Produktions- und Vertriebsformen im Publikationsbereich ist deshalb ein Änderungsgesetz erforderlich, das noch in dieser Legislaturperiode dem Parlament vorgelegt
werden soll.
Verschiedene Nationalbibliotheken wenden bereits geänderte gesetzliche Regelungen
an, die den neuen Publikationsformen Rechnung tragen oder bereiten solche Regelungen vor. Die Library of Congress als Sitz des US Copyright Office entwickelt zusätzlich ein automatisches Registriersystem für digitale Publikationen (ECMS: Electronic Copyright Management System).
Die europäischen Nationalbibliotheken haben sich im Rahmen des Telematics-Programms der Europäischen Kommission zu einer konzertierten Aktion zusammengefunden und eine Studie definiert und betreut, die die wichtigsten Aspekte zur Vorbereitung einer gesetzlichen Regelung zur Archivierung digitaler Publikationen behandelt.(6) Die Studie wurde Ende Dezember 1995 in Luxemburg auf einem Workshop
von Verlegern und Nationalbibliothekaren diskutiert und verabschiedet. Sie bildet eine
gute Grundlage für die nationalen gesetzgeberischen Initiativen und sie enthält konkrete Ansätze für einzelne Projekte zur Lösung informationstechnischer und organisatorischer Probleme. Im einzelnen werden behandelt:
die Notwendigkeit für die Langzeitarchivierung
die Aufgaben von Pflichtexemplarbibliotheken
die Kooperation von Nationalbibliotheken und Verlagen
die Sammelrichtlinien
die technische Infrastruktur
die nationalbibliographische Verzeichnung
die Bereitstellung
Die Studie wurde von der holländischen Beraterfirma nbbi durchgeführt (J.S. Mackenzie Owen und J. van de Walle), das Steuerungsgremium setzte sich zusammen aus den
Leitern der British Library, Der Deutschen Bibliothek und der Königlichen Bibliothek
in Den Haag.
Die Bibliothekare und Verleger folgten den Empfehlungen der Studie, insbesondere
auch der Auffassung, die Depotfunktion für digitale Publikationen den Nationalbibliotheken zu übertragen. Verleger und Nationalbibliothekare verabredeten eine enge Zusammenarbeit für weitere Überlegungen und Modellversuche. Eine gemeinsame
Arbeitsgruppe soll die Aktivitäten definieren und betreuen. Sie werden innerhalb des
2-Jahres-Programms von CoBRA+ (1996/97) gefördert werden. CoBRA+ ist eine konzertierte Aktion europäischer Nationalbibliotheken innerhalb des Telematics-Programms der Europäischen Union, CoBRA+ befaßt sich insbesondere mit der Langzeitsicherung digitaler Publikationen, mit Metadaten und bibliographischer Kontrolle.
Die Resultate sollen allen interessierten Bibliotheken zur Verfügung gestellt werden.
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat in ihren Empfehlungen "Elektronische Publikationen im Literatur- und Informationsangebot wissenschaftlicher Bibliotheken"(7)
ebenfalls sehr eindringlich auf die langfristige, referenzfähige Verfügbarkeit digitaler
Publikationen hingewiesen. Sie unterstreicht die Notwendigkeit, für die digitale Publikation Pflichtexemplarregelungen zu schaffen, die eine Langzeitsicherung einschließen. Gute Voraussetzungen für einen solchen Auftrag sieht sie bei Der
Deutschen Bibliothek. Dabei weist sie darauf hin, daß mit dem erweiterten Auftrag der
Langzeitsicherung auch die nationale Verzeichnung digitaler Publikationen gesichert
werden kann. Entsprechende bibliographische Daten sollten von Der Deutschen Bibliothek überregional angeboten werden, ebenso die erforderlichen Nachweis- und Navigationsinstrumente, die analog zum Printbereich zur Fremdleistungsübernahme auf
regionaler und lokaler Ebene vorbereitet werden sollen.
Die Deutsche Bibliothek wird im Zusammenhang mit dem Neubau die dringend erforderliche technische Plattform für die erweiterte Aufgabenstellung erhalten. Die konkreten Maßnahmen mit dieser Infrastruktur wird sie in enger Zusammenarbeit mit den
deutschen wissenschaftlichen Bibliotheken innerhalb der Förderprogramme einleiten
sowie in enger Absprache mit den Verlagen durchführen. Die enge Kooperation mit
den europäischen Nationalbibliotheken ist gesichert.(8)
Weil sich die Rahmenbedingungen im elektronischen Bereich so schnell ändern, müssen alle Entscheidungen sehr sorgfältig bedacht werden. Sie bedeuten beachtliche Investitionen und das Vorhalten personeller Ressourcen, eine hohe Innovationsbereitschaft, Prüfen und Anwenden komplexer Kommunikationsschnittstellen und das
Arbeiten in internationaler Kooperation.
4. 5. Sammelrichtlinien
Es bietet sich an, für den Sammelauftrag zunächst eine möglichst allgemeine Definition zu wählen, um künftige Entwicklungen berücksichtigen zu können. Durch Ausschließen bestimmter Publikationsformen sollte dann eine Konkretisierung erfolgen.
Schließlich sollte eine Strategie für das praktische Vorgehen entwickelt werden, die
eine schrittweise Annäherung an diesen komplexen Anwendungsbereich erlaubt. Mit
diesen Prämissen lassen sich die Sammelrichtlinien wie folgt formulieren: Die Publikation muß in digitaler Form vorliegen und zur Verbreitung bestimmt sein. Dabei ist
es unerheblich, ob sie in physischer oder in Netzform (networked publication) vorliegt.
Parallelausgaben in gedruckter und digitaler Form sind gleichermaßen abzuliefern. In
aller Regel sind Datenbankeinspeicherungen als Vervielfältigung im Sinn des §16
UrhG anzusetzen (zur Verbreitung bestimmt). Folgende Ausnahmen vom Sammelauftrag sollten gemacht werden (beispielhaft):
öffentliche Kommunikation und Nachrichten (e-mail, NetNews, listservs)
Mitteilungen, Meinungsforen
Werbung; Publikationen, die nur gewerblichen, geschäftlichen oder innerbetrieblichen
Zwecken dienen
Computerspiele
verteilte Publikationen (hyperlinks)
Datenträger, die keine Darstellung in Text, Bild und Ton haben
Publikationen mit sehr häufiger Aktualisierung
Parallelausgaben verschiedener digitaler Versionen
Publikationen, die mit der bestehenden Informationsinfrastruktur der Depotbibliothek nicht
kontrolliert archiviert werden können.
Die Sammelrichtlinien müssen sicher noch weiter differenziert werden, um für die
komplexen Anforderungen auch ein strategisches Konzept zu haben - "vom Leichten
zum Schweren". Die Langzeitsicherung digitaler Publikationen ist Neuland. Also sollte die Selektion zunächst so erfolgen, daß das Risiko kalkulierbar bleibt und Erfahrungen schrittweise gewonnen werden. Ausgewählt werden sollten zunächst Publikationen mit eingeführten technischen Plattformen und physischen Datenträgern. Sie
sollten durch die eigene Informationsinfrastruktur verarbeitbar sein. Exotische Strukturen sollten ausgeschlossen werden.
Als Lieferanten sollten zunächst klassische Verlage ins Auge gefaßt werden, um
möglichst mit stabilen und ausgereiften Produkten zu arbeiten (elektronische
Zeitschriften und Bücher). Anschließend können Erweiterungen erfolgen.
Dynamische Publikationen sollten in Zeitschnitten gesammelt werden (Mitschnitt),
wobei größere Intervalle (jährlich) gewählt werden oder nur die erste und letzte Fassung für die Archivierung genutzt wird.
Weder Datenformate noch Datenträger sollten Selektionskriterien für digitale Publikationen sein. Die Bibliothek muß frei sein, die für sie geeignete Archivform durch Konversion wählen zu können. Akzeptiert werden muß, daß eine wachsende Anzahl von
dynamischen oder verteilten Publikationen nicht in der digitalen Depotbibliothek gespeichert werden kann. Hier kann die Bibliothek nur als Referenz-Server agieren und
durch Adressen auf Publikationen verweisen.
Die Effizienz der Depotfunktion durch die Bibliothek hängt sehr stark von der Kooperationsbereitschaft der Verleger ab. Deshalb sollten zusätzlich zu den Sammelrichtlinien Regelungen zwischen Bibliothek und Verleger bestehen, die die Langzeitsicherung unterstützen.
Digitale Publikationen sollten mit dem Begleitmaterial archiviert werden (Dokumentation,
Handbücher usw.), mit dem die Publikation auch üblicherweise vertrieben und benutzt wird.
Sofern die Publikation nur mit proprietärer Hard- und Software lauffähig ist und auch so
verkauft wird, muß diese zugehörige Hard- und Software abgeliefert werden.
Existiert die digitale Publikation auf verschiedenen Medien in identischen Versionen
(Diskette, CD-ROM), so sollte die Bibliothek entscheiden können, welches Medium sie für
ihre Archivfunktion bevorzugt.
Im Hinblick auf die zu erwartende Notwendigkeit, die digitale Vertriebsform in eine
geeignete Archivform zu konvertieren, muß die Bibliothek die zu archivierenden
Publikationen ohne Kopievorbehalt seitens des Verlages erhalten.
Die digitale Publikation muß in einwandfreiem benutzungsfähigem Zustand abgeliefert
werden. Sollte sich bei Eingang der Publikation oder in einem späteren Stadium herausstellen,
daß die Publikation unvollständig oder fehlerhaft ist, muß die Bibliothek autorisiert sein, eine
neue Kopie kostenfrei herzustellen.
Im Hinblick auf die gemeinsame Verantwortung von Verlagen und digitaler Depotbibliothek
zur Erhaltung der intellektuellen und kulturellen Überlieferung sollten sich beide Partner
frühzeitig bereitfinden, in gemeinsamen Arbeitsgruppen Bedingungen und Verfahren für
künftige Arbeitsschritte auszuarbeiten und anzuwenden.
Zu prüfen ist, ob neben Verlegern und Produzenten auch Datenbankanbieter oder
Gateway-Betreiber ablieferungspflichtig sind.
.
5. 6. Archivierung und Langzeitsicherung
Entscheidend für die Aufgabenerfüllung der digitalen Depotbibliothek ist die Langzeitsicherung der erworbenen digitalen Publikationen. Dabei muß die Archivierung
von Anfang an die Verfügbarkeit (access) berücksichtigen. Die Langzeitsicherung
kann nur erfolgreich sein, wenn mit einer sicheren Technologie ein möglichst einheitliches Archivierungskonzept gefunden wird, das sich durch Reformatierung und Konversion aus der jeweiligen Distributions- und Nutzungsform ergibt. Ein zentrales
Server-Konzept mit einem schnellen lokalen Netz, das über offene Kommunikationsschnittstellen (Z 39.50) an das Weitverkehrsnetz (Wide area network) angebunden ist,
sollte vorgesehen werden. Digitale Publikationen umfassen nicht nur Texte, sondern
können Sprache, Musik, Bilder etc. in einer Anwendung beinhalten. Deshalb muß die
Systemarchitektur so ausgelegt sein, daß die verschiedenen Komponenten im System
gespeichert, transportiert und dargestellt werden können.
Die digitalen Publikationen, die künftig von Der Deutschen Bibliothek archiviert
werden, sind:
digitale Publikationen auf physischen Datenträgern
online verfügbare Publikationen (Netzpublikationen)
konvertierte digitale Publikationen
Transformationen analoger Objekte
Die Vielfalt von Materialien sollte möglichst in eine homogene Speicherform überführt werden. Diese Speicherform muß insbesondere die folgenden Anforderungen berücksichtigen:
Langzeitarchivierung nach dem aktuellen Stand der Technik
möglichst gesicherte Anpassung an die technischen Weiterentwicklungen
Bereitstellung unabhängig von spezifischen Eigenschaften des Originalträgers
Verfahren zur Qualitätskontrolle beim Kopieren, Konvertieren und Migrieren
Die Deutsche Bibliothek hat nach eingehender Prüfung der vorhandenen Archivierungstechniken den optischen Datenträgern eine Präferenz eingeräumt. Sie ist der Auffassung, daß die CD-ROM heute vergleichsweise als langlebiges und einheitliches
Speichermedium für Multimedia-Daten angesehen werden kann. Es wird prognostiziert, daß in 5 Jahren magnetooptische Speicher zur Verfügung stehen, die eine Langzeitarchivierung von mehr als 100 Jahren zulassen. Diese Speichermedien sind derzeit
Gegenstand der Normung. Ein mögliches Szenario könnte so aussehen, daß die Bereitstellung in fünf Kategorien eingeteilt wird; wobei sich die Kategorien aus der
Nutzungshäufigkeit und dem Bandbreitenbedarf ergeben.
CDs werden auf Festplatten kopiert. Die Benutzer können dann auf die CD-Kopien auf den
Festplatten gemeinsam zugreifen. Diese Art der Bereitstellung von Informationen eignet sich
besonders für "Handbibliotheken", auf die sehr häufig zugegriffen wird.
CDs, die häufig benutzt werden, aber nicht den Charakter von "Handbüchern" haben, werden
in zugeordneten CD-Laufwerken in dedizierten CD-Servern oder in CD-ROM-Subsystemen
zur Verfügung gestellt.
CDs werden in Jukeboxen bereitgestellt.
CDs, die im Archiv vorhanden sind, können dem Benutzer auf Anfrage an einem besonderen
Arbeitsplatz (mit CD-Laufwerken) oder als virtuelles Laufwerk zur Verfügung gestellt
werden. Werden diese CDs nach statistischer Auswertung häufig angefordert, werden sie in
eine der oben genannten Kategorien eingeordnet.
CDs, deren Retrieval-Software auf der CD mitgeliefert wird, die aber nicht netzwerkfähig
sind, können dem Benutzer auf Anfrage an einem besonderen Arbeitsplatz (mit CDLaufwerk) zur Verfügung gestellt werden. Es kann auch eine Emulationssoftware eingesetzt
werden, die den Zugriff über das Netzwerk ermöglicht.
Das Netzwerk ist ein Hochgeschwindigkeitsnetz. Im Backbone-Bereich und bis zu den
Etagenverteilern werden nur ATM-Komponenten eingesetzt. Den Endgeräten steht exklusiv eine Bandbreite von mindestens 10 Mbit/s zur Verfügung. Server und Host-Systeme werden über ATM-Schnittstellen mit 155 Mbit/s in das Netz eingebunden. Es
wird eine offene, modulare Systemarchitektur zugrunde gelegt. Sie läßt sich in fünf
Funktionsblöcke unterteilen:
Endgeräte, Multimedia-Arbeitsplätze
Verwaltungssystem
Exportsystem
Objektserver (ermöglicht die Transaktionssteuerung zwischen Endgerät und Medienserver)
Medienserver
Der Medienserver ist das eigentliche Archiv, in dem die bereitzustellenden digitalen
Objekte langfristig oder temporär abgelegt werden. Hinzutreten müssen technische
Geräte und Einrichtungen, die Voraussetzungen zum Umkopieren, zum Formatieren,
zum Konvertieren und zum Migrieren bieten.
Im Gegensatz zur Archivierung von Printmedien im Original können digitale Medien
wegen der Vielfalt von Distributionsformen und der damit verbundenen Vielfalt von
Hard- und Software nicht als Original oder Artefact aufbewahrt werden. Die Bibliothek würde sehr schnell zu einem technischen Museum werden. Die Entscheidung
Artefact oder Inhalt muß deshalb für den Inhalt getroffen werden, auch wenn im Einzelfall interaktive, dynamische Aspekte der Originalpublikationsform verloren gehen.
Aber auch dann bleibt die Bibliothek von ständiger Anpassung nicht verschont. Die
Informationsinfrastruktur der Bibliothek selbst ändert sich alle fünf bis zehn Jahre. Der
Wechsel zu einem neuen Computersystem, Betriebssystem, Datenbanksystem garantiert nicht immer die Kompatibilität zu dem bis dahin eingesetzten Archivierungs- und
Bereitstellungssystem. So bleibt die Frage nach der geeigneten Migrationsplanung bestehen.
Die Kurzzeiteigenschaften digitaler Aufzeichnung wurden zu Beginn charakterisiert.
Daraus lassen sich gezielte Maßnahmen ableiten, die dem Verlust entgegenwirken.
Der physische Verfall digitaler Informationen kann durch das Umkopieren (refreshing)
auf einen Träger gleichen Typs verhindert werden oder durch das Übertragen (conversion) auf einen anderen stabileren Träger. Die Rückübertragung auf Papier mag zwar
in diesem Zusammenhang auf den ersten Blick attraktiv erscheinen, sie ist aber nicht
unbedingt zu empfehlen. Wichtige Multimediaeigenschaften können dabei verloren
gehen.
Trotzdem ist in diesem Zusammenhang eine Variante zu erwähnen, bei der Probleme
der Langzeitsicherung digitaler Informationen durch traditionelle Träger gelöst werden. Häufig haben Institutionen ihre Archive auf optische Digitalspeicher übernommen, die sich nicht auf neue Software-Lösungen übertragen lassen. Hier bietet
Kodak das Digital Science Document Archive an, mit dem sehr umfangreiche digitale
Archive auf Mikrofilm konvertiert werden und so als Langzeitspeicher weitere digitale
Systemgenerationen überspringen können. Herzstück ist der Digital Science Document
Archive Writer, der es ermöglicht, digitalisierte Dokumente auf Mikrofilm zu schreiben. Dieses Verfahren bezieht sich aber in erster Linie auf Dokumente, die ursprünglich Papierdokumente waren und aus Platzgründen bzw. Zugriffskomfort digitalisiert
wurden. Hier sind keine Multimediaeigenschaften zu berücksichtigen.
Eine Arbeitsgruppe in den USA, die sich auf Initiative der Commission on Preservation and Access und der Research Libraries Group gebildet hat, legte Mitte 1995 den
Entwurf einer umfassenden Studie vor, die Maßnahmen zur Langzeitarchivierung beschreibt.(9)
Die Studie schlägt ein Migrationskonzept vor, das wesentlich breiter und tiefer als die
Sicherungsverfahren durch Umkopieren oder Konvertieren angelegt ist. Migration ist
ein Maßnahmenbündel, das eine periodische Übertragung digitaler Materialien von
einer Hardware/Software-Konfiguration auf eine andere oder von einer Computergeneration auf die nächste ermöglicht. In der Studie wird eingehend dargestellt, daß
die Langzeitsicherung digitaler Publikationen nicht einfach eine Optimierung bestehender Ansätze ist, sondern ein strategisches Vorgehen verlangt. Gefordert ist eine
wirkliche Infrastruktur, die eine kontrollierte Langzeitsicherung unserer kulturellen
Überlieferung leistet. Die Arbeitsgruppe sieht die Verantwortung für die Migration bei
definierten digitalen Depotbibliotheken. Sie fordert aber auch die Verantwortung der
Produzenten ein, d.h. es müssen schon bei der Produktion geeignete Voraussetzungen
für eine vertretbare Langzeitverfügbarkeit überlegt werden, beispielsweise technische
Plattformen, Komprimierungsmechanismen, Codierungen usw.
Die digitalen Depotbibliotheken sollten als definierte Repositorien für digitale Publikationen über zwei Hauptmechanismen verfügen:
1. Sie sollten offiziell ein Zertifikat als digitale Depotbibliotheken erhalten. Das bedeutet zunächst keinen direkten ökonomischen Nutzen. Aber der Prüfungsprozeß führt
zu einem werte- und vertrauensbildenden Prozeß im Zusammenhang mit Maßnahmen
zur Bestandserhaltung.
2. Die Arbeitsgruppe betont die Notwendigkeit für einen umfassenden Auftrag zur
Langzeitsicherung für digitale Depotbibliotheken, am besten durch gesetzgeberische
Maßnahmen. Damit kann die Bibliothek offensiv ihre Sicherungsfunktion für digitale
Informationen ausüben und den kulturellen Wert dieser Aufgabe überzeugend vertreten.
Ohne das formelle Zertifikat und ohne die Absicherung des Auftrags wird die Erhaltung der digitalen kulturellen Überlieferung den Marktmechanismen überlassen. Dabei
stehen dann in erster Linie fiskalische und ökonomische Kriterien und tagespolitische
Entscheidungen im Vordergrund, aber nicht das öffentliche und wissenschaftliche
Interesse.
Der US-Bericht beschränkt sich nicht auf allgemeine Aussagen, sondern schlägt konkrete Initiativen, Studien und Pilotprojekte vor. Erfreulich ist die Tatsache, daß anläßlich des Workshops in Luxemburg Vertreter der Commission on Preservation and
Access eingeladen waren und ein gemeinsames Vorgehen abgesprochen worden ist.
Es ist sicher noch zu früh über die Chancen und Risiken, den Aufwand und die
Verfahren der technischen Migration für große Datenmengen endgültige Aussagen zu
treffen. Doch schon jetzt ist deutlich, daß die Verfahren aufwendig sein werden.
Digitale Depotbibliotheken sollten sorgfältig die technische Entwicklung im Hinblick
auf ihre Aufgabenstellung analysieren. Dabei sollten sie nicht nur langfristige Änderungen beobachten, sondern auch kurzfristige radikale Änderungen identifizieren und
berücksichtigen.
Eine alternative Lösung zur Migration findet sich in dem Papier zum Workshop vom
Dezember 1995 in Luxemburg.(10) Dort wird der Einsatz von Emulatoren zur Konservierung digitaler Publikationen vorgeschlagen. Das sind Systeme, die in einer neuen
Hardware/Software-Umgebung eine inzwischen überholte Systemumgebung simulieren können. Wie wir wissen, wird eine digitale Information erst verständlich, wenn das
zugehörige Programm mit den Anweisungen in der dafür geeigneten Systemumgebung
eingesetzt werden kann. Man kann mit speziellen Programmen das Verhalten der aus-
rangierten Geräte auf einem Computer neuerer Generation simulieren. Diese Nachbildung per Programm ist ein Emulator. Für die Nachwelt wären also nicht die Konservierung der Gerätetypen, sondern die Dokumentation über die Gerätetypen in einer unabhängigen Form zu speichern.
Inzwischen hat die Entwicklung eines neuen Softwaretyps im Netz eingesetzt, der
neue Probleme für die Archivierung bringen wird. Es handelt sich um die Java-Software von Sun (Microsystems). Sie setzt die Netzphilosophie des virtuellen Computers,
die wir bereits bei Dokumenten kennengelernt haben, konsequent auch für Software
ein. Die Programme müssen sich nicht mehr komplett auf jeder Festplatte befinden,
sondern sie werden als einzelne kleine Programmbausteine für den jeweiligen Zweck
geschrieben. Diese sogenannten Objekte, bei Java heißen sie Applets, stehen im Netz
auf verschiedenen Netzcomputern zur Verfügung und werden erst bei Bedarf abgerufen und für die Aufgabe zusammengefügt.
Damit die verschiedenen Browser-Programme die Applets verstehen, gibt es einen
Interpreter, der auf einem PC einen zweiten Rechner simuliert. Er spielt die Applets
ab, sobald er sie empfängt.
Wenn Java zu einem Standard des Internet wird - und es sieht danach aus -, ergeben
sich durch diese Softwarestruktur nicht nur verteilte Publikationen, sondern auch verteilte Programme.
Die Betrachtungen zeigen, wie wichtig es ist, daß digitale Depotbibliotheken solche
Entwicklungen frühzeitig einbeziehen, experimentelle Phasen und Projekte initiieren
und insbesondere auch die möglichen Alternativen unter ökonomischen Aspekten
prüfen.
Die verschiedenen Migrationsstrategien machen deutlich, daß die Langzeitarchivierung mit erheblichem Aufwand und noch mit erheblichen Unsicherheiten verbunden ist. Auch wenn man sich vorstellen kann, daß Standards und Migrationswege
einmal einen gebräuchlicheren Aufbau von digitalen Sammlungen erlauben werden, zu
denken ist etwa an objektorientierte Datenbanken oder relationale Datenbanken, so
wird es doch noch für lange Zeit nicht-standardisierte Formate geben. In der Praxis bedeutet das, daß trotz unserer Sammelrichtlinien die digitale Depotbibliothek bei ihren
Überlegungen zur Langzeitsicherung Kostengesichtspunkte bei der Selektion nicht
außer Acht lassen kann. Die dadurch notwendige Auswahl sollte trotzdem sicherstellen, daß eine repräsentative Sammlung der verschiedenen digitalen Publikationen
erfolgt und Autoren, Verlage, Fächer und Nutzergruppen angemessen vertreten sind.
6. 7. Bibliographische Kontrolle
Die Überlegungen zu den Sammelrichtlinien und zur Langzeitsicherung beschreiben
nur den halben Weg. Unverzichtbar für die Aufgabenerfüllung ist die bibliographische
Kontrolle, d.h. die mediengerechte Erschließung und Katalogisierung. Erst dadurch
gewinnt die Sammlung eine Ordnung, eine Identifizierbarkeit und einen übersicht-
lichen Zugriff. Es wird niemanden überraschen, wenn nach der Darstellung der verschiedenartigen digitalen Publikationsformen, der damit verbundenen Konversionsund Migrationsprozesse und der neuartigen Nutzeranforderungen eine schlichte bibliographische Titelaufnahme nicht ausreichen wird. Am ehesten sind noch die physisch
verbreiteten Publikationen (CD-ROM und Disketten) damit zu erschließen. Aber auch
bei ihnen kommt zu den bibliographischen Feldern ein zusätzlicher Informationsanteil,
der aus der Installation des jeweiligen Datenträgers zu gewinnen ist und datentechnische Angaben zur Publikation verzeichnet.
Es bietet sich also an, hier der derzeitigen Katalogisierungspraxis für gedruckte Publikationen weitgehend zu folgen, zumindest für die bibliographischen Elemente. Sie basieren auf den Regeln RAK-NBM für Computerfiles, wobei Festlegungen im AACR2-Regelwerk berücksichtigt wurden. Eine möglichst große Nähe zu AACR kann nur
von Vorteil sein. Globale Vernetzung muß sich auch in Regelwerken widerspiegeln.
Für die erforderlichen Metadaten sollten möglichst bald Standards gefunden werden.
Für Netzpublikationen haben sich inzwischen neue "index services" entwickelt, die
mehr oder weniger im Internet gebildet werden, z.B. WebCrawler, Alex, Lycos und
Yahoo, aber auch WWW-pages mit spezifischen Sachstrukturen. Sie bieten sehr einfache und komfortable Zugriffe. Die Form des "auto-indexing" in Netzen wird sich
wohl auch immer stärker entwickeln, nicht zuletzt wegen der schnellen und wirtschaftlichen Arbeitsweise.
Trotzdem bin ich der Auffassung, daß auch für Netzpublikationen eine bibliographische Verzeichnung im Zusammenhang mit Depotsammlungen ein Muß ist. Zu dieser
Auffassung kommen auch die europäische und die US-Studie. Bibliographische Aufnahmen bieten eine klare Zuordnung von bibliographischen Informationen zu einer
authentischen Publikation. Die Publikationen werden im Sinn der Copyright-Bestimmungen dokumentiert, vor Textmanipulationen geschützt, übersichtliche normierte
Zugriffsmöglichkeiten geschaffen und der Status der Netzpublikation als wissenschaftliche Quelle verbessert.
Für einen besseren Zugriff können die bibliographischen Daten - wie die Dokumente
selbst - in einer HTML-Struktur angeboten werden. Ansonsten können die bibliographischen Datenfelder auch hier durch die Regeln zur Formalerschließung und die
zugehörigen Datenformate (MAB/MARC) definiert werden. Zusätzliche Arbeitsanweisungen für networked publications gewinnt man aus den OCLC guidelines
"Building a Catalog of Internet Resources".
Als weitere Datenelemente treten sog. deskriptive Informationen hinzu, die die digitalen Eigenschaften berücksichtigen. Gewonnen werden sie aus den folgenden Quellen:
Eröffnungsschirm
Metadaten aus der Publikation
Begleitmaterial in elektronischer Form
anderes Begleitmaterial (Beipackinformationen).
Folgende Daten sind zusätzlich erforderlich:
Zugriffsdaten
Sie müssen in den Titeldatensatz aufgenommen werden. Sie haben in etwa die Funktion der Standortnummer.
Strukturierte deskriptive Informationen (Metadaten)
Dafür existiert derzeit keine einheitliche Festlegung. Eine Standardisierung ist erforderlich für
Definition der Elemente
Definition des Formats
Definition der Darstellung
Beziehung zum Dokument.
Archivdaten
Sie beschreiben die verschiedenen Zustände während des Migrationsprozesses:
das Dokument im Originalformat
der augenblickliche Publikationsstatus für Zwecke der Nutzung
die Archivform der Publikation.
Die Erschließungsarbeit dient nicht nur den lokalen Bedürfnissen der digitalen Depotbibliothek. Sie ist unverzichtbarer Teil der Nationalbibliographie. Grundsatz sollte
deshalb sein, jede digitale Publikation der Depotsammlung in die Nationalbibliographie aufzunehmen. Dies dient nicht nur der Dokumentation der nationalen Literaturproduktion, sondern liefert auch den Mechanismus zwischen bibliographischer
Beschreibung einschließlich Metadaten und der ursprünglichen digitalen Publikation.
Die digitale Depotbibliothek sollte sich bei der Erarbeitung der Nationalbibliographie
nicht auf die eigene Sammlung beschränken. Gerade wegen der schwierigen Zuordnung zu nationaler Produktion und extrem verteilten Publikationen sind Ergänzungen
aus weiteren Quellen sinnvoll.
.
7. 8. Schluß
Die Vorgehensweise, die sicher in ihrer Festlegung noch am Anfang steht, liefert mögliche Überlegungen zur Langzeitsicherung und zum Zugriff auf digitale Publikationen.
Nächste konkrete Schritte müssen folgen, um daraus wirklich ein Verfahren zu
machen und Lösungen zu bieten. Diese Lösungen sollten nach Möglichkeit durch
internationale Kooperation offene Lösungen sein, um die globale Vernetzung zu fördern.(11) Auch wenn der Aufwand groß ist, wir können uns um die Verantwortung,
wissenschaftliche und kulturelle Erfahrungen und Ergebnisse weiterzugeben und nicht
nur für den Tag zu planen, nicht herumdrücken. Dem Kurzlebigen Dauerhaftigkeit zu
geben, die Publikationen der Stunde zu Publikationen aller Zeiten zu machen, ist eine
große und wichtige Aufgabe für Bibliotheken.
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8. Quelle
Der Beitrag wurde zuerst veröffentlicht in Heft 3-1996 der Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie, S. 209-226, Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt am
Main, 1996
1 Die unendliche Bibliothek: digitale Information in Wissenschaft, Verlag und Bibliothek. - Wiesbaden: Harrassowitz, 1996.
2 Deutsche Forschungsgemeinschaft: Neue Informations-Infrastrukturen für Forschung und Lehre. Dezember 1995 (masch. schriftl. vervielfältigt). Veröffentlicht in
Heft 2-1996 der Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie, S. 133-155
3 Frankfurter Allgemeine Zeitung. 6. Dezember 1995, S.37.
4 Pelikan, J.: The idea of the University. Yale University Press, 1992.
5 Lehmann, K.-D.: Networking and the challenges to be faced. In: Proceedings of the
European Conference "Library Networking in Europe". Brüssel 12.-14. Okt. 1994.
London: 1995. S. 365-375.
6 European Commission, DG XIII. Telematics for Libraries. Report of the Workshop
Dec. 18, 1995. A Study of Issues Faced by National Libraries in the Field of Deposit
Collection of Electronic Publications. Luxemburg Februar 1996.
7 Deutsche Forschungsgemeinschaft: Elektronische Publikationen im Literatur- und
Informationsangebot wissenschaftlicher Bibliotheken. In: ZfBB 42 (1995) 5, S.445463.
8 Lehmann, K.-D.: Langzeitsicherung digitaler Medien durch Die Deutsche Bibliothek. In: ZfBB 42 ( 1995) 2,. S.214-219.
9 Preserving Digital Information. Draft Report of the Task Force on Archiving of Digital Information, commissioned by the Commission on Preservation and Access and
the Research Libraries Group. Version 1.0, August 1995.
10 Mackenzie Owen, J.S. und van de Walle, J.: ELDEP Project. A study of issues
faced by national libraries in the field of deposit collections of electronic publications.
Nov. 1995. Version 2.0 (besonders S.12).
11 European Commission, DG XIII Telematics Applications Programme 1994-1998.
Telematics for Libraries. Luxemburg 1995.
Endnoten
Die unendliche Bibliothek:
1
digitale Information in Wissenschaft, Verlag und Bibliothek. Wiesbaden: Harrassowitz, 1996.
2
Deutsche Forschungsgemeinschaft:
Neue Informations-Infrastrukturen für Forschung und Lehre. Dezember 1995
(masch. schriftl. vervielfältigt). Veröffentlicht in Heft 2-1996 der Zeitschrift für
Bibliothekswesen und Bibliographie, S. 133-155
3
Frankfurter Allgemeine Zeitung. 6. Dezember 1995, S.37.
4
Pelikan, J.: The idea of the University. Yale University Press, 1992.
5
Lehmann, K.-D.: Networking and the challenges to be faced. In: Proceedings of
the European Conference "Library Networking in Europe". Brüssel 12.-14. Okt.
1994. London: 1995. S. 365-375.
6
European Commission, DG XIII. Telematics for Libraries. Report of the Workshop Dec. 18, 1995. A Study of Issues Faced by National Libraries in the Field of
Deposit Collection of Electronic Publications. Luxemburg Februar 1996.
7
Deutsche Forschungsgemeinschaft: Elektronische Publikationen im Literaturund Informationsangebot wissenschaftlicher Bibliotheken. In: ZfBB 42 (1995) 5,
S.445-463.
8
Lehmann, K.-D.: Langzeitsicherung digitaler Medien durch Die Deutsche Bibliothek. In: ZfBB 42 ( 1995) 2,. S.214-219.
9
Preserving Digital Information. Draft Report of the Task Force on Archiving of
Digital Information, commissioned by the Commission on Preservation and
Access and the Research Libraries Group. Version 1.0, August 1995.
10
Mackenzie Owen, J.S. und van de Walle, J.: ELDEP Project. A study of issues
faced by national libraries in the field of deposit collections of electronic publications. Nov. 1995. Version 2.0 (besonders S.12).
11
European Commission, DG XIII Telematics Applications Programme 1994-1998.
Telematics for Libraries. Luxemburg 1995.