Beruhigt euch — Sind Beruhigungsmittel wie Temesta oder

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Beruhigt euch — Sind Beruhigungsmittel wie Temesta oder
Datum: 01.02.2014
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HERUear
EUCH
Sind Beruhigungsmittel wie Temesta oder Xanax das neue Aspirin für Gefühle?
Text BIRGIT SCHMID
Das letzte Mal habe ich es vor einem langen Flug geschluckt.
Wenn das Flugzeug abhebt, die Stadt unter mir plötzlich schief
steht und ich mir ausmale, in einem Flugzeug zu sitzen, das abstürzt, kann ich mich entscheiden zwischen einer schlaflosen
Nacht und einer Pille, die mich tief in den Schlaf sinken lässt. Das
Gefühl geht über in den Sinkflug, und beim Aufwachen setzt das
Flugzeug federnd auf.
Ich habe es schon in Momenten genommen, in denen alles
zu Ende schien. Ein Mensch geht, und man denkt, es wird nie
mehr gut, was immer noch Gutes kommen mag. Wenn das Herz
immer stärker pocht und die Gedanken rasen, kann ich mich entscheiden zwischen dem sicheren Gefühl, sterben zu müssen, und
einer Pille, die den Angstkrampf löst und dem Denken wieder ein
Geländer gibt.
Und das ist bloss ein Milligramm und fünfzehn Minuten
später. Der Wirkstoff Benzodiazepin bindet an die GABA-Rezeptoren und unterdrückt die Ausschüttung von Neurotransmittern,
die sonst auf emotionale und psychische Reize antworten. Angst
kann so gar nicht erst aufkommen.
Ich trage es in meiner kleinen Notfallapotheke mit mir, wie
ich auch Aspirin oder Ponstan zur Hand habe, falls ich im Büro
plötzlich Kopfweh kriege oder mir beim Wandern das Knie aufschlage. Ich greife in meiner Tasche nach der flachen Pillenbox
mit den fünf Fächern, in denen je eine Tablette für die verschiedenen Notfälle liegt. Der Temesta-Blister ist so vorgestanzt, dass
man einzelne Pillen abtrennen kann, als wären sie gedacht als
Tranquilizer to go, für den Einsatz bei akuter Unruhe unterwegs.
Zum Glück sind diese Momente rar. Ich bin nicht süchtig
nach Tabletten, eine Grippe kann ich auch nur mit Tee im Bett
auskurieren. Traurigkeit darf sein, sie zieht vorüber. Ich habe
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noch nie länger Psychopharmaka genommen, würde ich jedoch
depressiv ich nähme sie ohne Scheu. Auch sie werden gegen
Angst eingesetzt, jedoch dann, wenn die Angst zum beständig
bedrohenden Gefühl wird und die Stimmung dunkel bleibt. Im
Gegensatz zu Temesta und ähnlichen Beruhigungsmitteln beginnen Antidepressiva erst nach einigen Tagen bis Wochen Wirkung zu zeigen, und sie müssen täglich eingenommen werden,
damit sie wirken.
Die sogenannten Benzodiazepine, Medikamente auf Basis
von Benzodiazepin, zu denen Temesta gehört, sollte man hingegen nicht regelmässig über lange Zeit und in hoher Dosis nehmen. Sie machen abhängig; schnell.
Ein Freund erzählte, er habe die vielen Familienanlässe an
Weihnachten nur dank Xanax überstanden. «Ich hätte mich auch
betrinken können», sagte er, «aber ich denke nicht, dass mir das
besser täte. Ich habe auch das Gefühl, so mehr ich selbst zu bleiben. Alkohol macht mich nur laut und ausfällig, und am Schluss
bin ich verkatert.»
Natürlich steht niemand öffentlich mit Namen hin, obwohl
in' an sich im Vertrauen zur Selbstmedikation freimütig bekennt.
Man rnacht Witze darüber, spielt es herunter, weist auf die wider-
sprüchliche eigene Lebensweise hin. Denn gleichzeitig ernährt
man sich ja rein biologisch und ruht dank Yoga meist in sich.
Eine Kollegin, die beruflich unter Druck steht, griff vor
öffentlichen Auftritten und Beförderungsgesprächen auch schon
zu Temesta. «Manchmal reicht das Adrenalin aus, dass ich gerade noch gut bin», sagt sie. «Wenn ich aber merke, jetzt beginne
ich zu schwitzen, ist das puschende Mass der Nervosität überschritten. Dann macht mich eine Pille besser.»
Ein Bekannter, er ist über achtzig, liegt nachts wach. Wenn
der Schlaf nicht kommt, bricht bald die Angst aus: Er denkt an
den Tod. Sein Hausarzt verschreibt ihm für diese Momente das
Benzodiazepin L,exotanil, ein Name, dessen Klang schon eine
relaxierende Wirkung hat.
Man muss kein psychiatrischer Fall sein, um diese sofortige
biochemische Hilfe zu schätzen. Sogar mein Zahnarzt hat eine
Schachtel Midazolam in der Schublade, ein weiteres Benzo, falls
ein Patient vor Angst den Mund nicht aufbringt.
Ärzte selber schlucken sie: Warum sollen die hilflosen Helfer nicht von den Beruhigungsmitteln Gebrauch machen, die sie
ihren Patienten verschreiben?
Sie sind im Umlauf, sie sind verbreitet, und, vor allem, man
teilt sie grosszügig. An einem Abend sass eine Freundin bei mir in
der Küche, sie hatte soeben entdeckt, dass ihr Freund sie betrügt.
Ich hätte ihr auch Wein nachschenken können, damit sie ihre Ver-
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zweiflung ertränken könnte, stattdessen bot ich ihr ein Temesta
an. Man hilft Freunden, die Hilfe brauchen, und tut dies bestimmt auch deshalb so freigebig, weil die Medikamente billig
sind. Eine Packung mit zwanzig Tabletten kostet 8.10 Franken.
Der Gang zum Psychiater kostet erst noch viel mehr Zeit.
Öffne ich meine kleine Notfallapotheke ausnahmsweise für
andere, dann übernehme ich gerne die Stimme der Ärztin: Man
solle es doch zuerst einmal mit einer halben Tablette versuchen.
Überhaupt, falls sich die Krisen häufen, wäre vielleicht fachliche
Hilfe angebracht. Mit einer Pille sei es nicht getan.
Es braucht keine Zahlen, um zu belegen, dass Beruhigungsund Schlafmittel genommen werden. Was besagen Statistiken von
ärztlichen Verschreibungen, wenn siebzig Prozent der im Internet angebotenen Psychopharmaka Benzodiazepine sind? Noch
haben wir nicht ein so lockeres Verhältnis wie die Amerikaner zu
ihren «happy pills»; für sie sind die Namen Xanax und Prozac,
Letzteres ein Antidepressivum, zu Synonymen für einen Lifestyle geworden, bei dem man seine Stimmung medikamentös
optimiert, ohne als krank zu gelten. Im Unterschied zu den übersichtlichen Blistern in Europa werden die Pillen in den USA wie
Kaugummi in Dosen aufbewahrt, das macht den Konsum niederschwelliger, dazu passt, wie sie es nennen, «to Pop a pill».
Wachsein tut weh
Obwohl sie mehr oder weniger unhinterfragt auch in unseren
Alltag gehören, werden Benzodiazepine in Schweizer Apotheken, Spitälern oder von Ärzten nicht häufiger abgegeben als vor
zehn Jahren. Die Zahlen gehen eher zurück, rechnet Interpharma
vor, der Verband der Pharmafirmen. Auch Rechtsmediziner
weisen sie nicht öfters nach bei Todes- oder Verkehrsunfällen.
«Sie tauchen auf, da sie häufig verordnet werden», sagt Thomas
Krämer von der Universität Zürich. Sie sind im Spiel, wenn wieder jemand an einem Medikamentencocktail stirbt, viele hörten
dank Whitney Houston und Michael Jackson zum ersten Mal von
Xanax. An einer Überdosis Benzodiazepine kann man normalerweise nicht sterben, doch kombiniert mit anderen Substanzen,
etwa mit Alkohol, werden sie giftig. Die Wirkungen der Substanzen verstärken sich gegenseitig.
Wenn sich ein Schlaf- und Beruhigungsmittel in den letzten
Jahren durchsetzte, dann Zolpidem, bei uns besser bekannt als
Stilbox. Es wird in Europa und den USA am häufigsten verschrieben. Schlaflosigkeit ist die grösste Angstproduzentin. Stilnox gehört zu den sogenannten «Z-Drugs», die als Nachfolger
der Benzodiazepine erfunden wurden und genau gleich wirken.
Sie kamen auf den Markt, weil man sich schwächere Nebenwir-
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kungen versprach. Die Pharmaforscher irrten, wie so oft, wenn
sie diese Substanzen verbessern wollen. Das Versprechen hat
sich nicht erfüllt.
Wir sind überzeugt: Die Unruhe in der Kultur ist grösser
denn je. Deutet denn nicht die chemische Einstellung unseres
Körpers, die Zurichtung der Gefühle mittels Medikamente,
daraufhin, dass wir permanent überfordert werden? Man beginnt
nach den Ursachen zu fragen: Leben wir in einem Zeitalter der
Angst, in dem man lieber nichts mehr fühlt, als das der Situation
Angemessene zu fühlen? Wovor fürchten wir uns? Warum müssen wir uns beruhigen?
Wofür mussten zu viel Arbeit und zuwenig, der ii. September und das Internet schon alles herhalten. Aber was haben Beschleunigung und Entfremdung, die zeitkritischen Begriffe, mit
meiner Angst zu tun? Mit dem Konsum von Beruhigungsmitteln
lässt sich kein epochales Gefühl erklären. Angst ist intim und persönlich. Unsere Angst wird besser diagnostiziert und behandelt,
aber sie muss deshalb nicht grösser sein als jene der Leute im Mittelalter, die Pest und Hölle fürchteten. Hat man sich nicht immer
berauscht und betäubt, um das Leben auszuhalten? Wachsein tut
weh. Die Erinnerung plagt: allein daran, dass wir sterblich sind.
Man verdrängt und will in einem traumlosen Schlaf vergessen.
Wenn das nicht gelingt, zieht man den kleinen Pillentod dem
Schmerz der Erkenntnis vor.
Das erste Beruhigungsmittel kam 1955 unter dem Namen
Miltown auf den Markt, und innert kurzer Zeit wurde das «Aspirin für Gefühle» zu einem der meistverkauften Medikamente in
den USA. An Miltown-Partys dopten sich die Leute locker, man
wurde geschmeidig, es half im Umgang. Wenig später wurde das
erste Benzodiazepin erfunden, das verträglicher schien: Der Chemiker Leo Sternbach synthetisierte 1960 für die Schweizer Firma
Hoffmann-La Roche Librium, 1963 folgte Diazepam, sein berühmtestes Kind, besser bekannt als Valium. Ende der Siebzigerjahre war Valium das weltweit am häufigsten verschriebene Medikament. Weil es bei Frauen beliebt war, geriet es bald in Kritik,
Feministinnen sahen darin ein Machtmittel des Patriarchats, unzufriedene Hausfrauen mhigzustellen. Die Rolling Stones sangen
«Mother's Linie Helpen>.
Das ist bis heute gleich geblieben, Frauen schlucken gegen
Angst noch immer eher Tabletten, zwei von drei Verschreibungen gehen an sie. Für die Studie, die das zeigt, wurden vor sechs
Jahren mehr als eine halbe Million Patienten in der Schweiz be-
fragt, nicht ganz jeder Zehnte hatte in den vergangenen sechs
Monaten ein Benzo-Rezept erhalten, oft einmalig und niedrig
dosiert. Während Frauen stiller leiden und scheinbar harmlo-
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sere Mitteln nehmen, reagieren Männer aggressiver, wählen illegale Substanzen, die stimulieren: Ritalin, Kokain, Amphetamin.
Oder sie trinken gegen ihre Ängste an, Männer und Frauen.
Erst leisten, dann beruhigen
Arud, das Zentrum für Suchtmedizin, liegt hinter dem Zürcher
Hauptbahnhof unweit des Platzspitz, wo sich vor 2.5 Jahren die
Heroinabhängigen zu Tode spritzten. Junkies taumeln hier noch
immer durch die Tür. Benzos sind bei Süchtigen beliebt, sie senken den Druck, wenn sie auf Entzug sind und es in ihnen brodelt. Sie fangen die depressive Verstimmung auf, etwa nach dem
Koksen. Das wissen wiederum die Geschäftsleute und Banker,
die hier Rat suchen.
Thilo Beck, Chefarzt der Beratungsstelle, sitzt am Konferenztisch, an der Wand hängt das Foto eines Mannes, der vor
einer Alphütte sitzt. Beruhigt euch: Temesta zu schlucken, Xanax
und wie sie alle heissen, ist uncool. In der Zeit liegen leistungssteigernde Medikamente, keine Schlaftabletten. «Benzos», sagt
der Psychiater, «haben, wie Heroin, heute eher einen Verliererruf, denn sie sind nicht leistungsfördernd.» Sie würden insofern
einen Trend abbilden, als dass man sich selber behandeln will.
«Menschen haben vermehrt den Anspruch, sich zu verbessern.
Einerseits will man die Leistung steigern, andererseits Schwächen
und Ängste ausgleichen und abdämpfen. Man beschäftigt sich mit
seiner Psyche, und wenn etwas nicht ist, wie es sein sollte, nimmt
man es selber in die Hand.»
Der Begriff «Enhancement» wurde wichtig in der Debatte
um Ritalin, das gesunde Erwachsene nehmen, um sich anzutreiben und mehr leisten zu können. Die Selbstmedikation mit Beruhigungsmitteln gehört dazu. Medikamente werden immer feiner
abgestimmt auf an sich normale Befindlichkeiten. Man schluckt
Drogen, wie man Kleider trägt: wenn es kalt wird, den Wintermantel, bei Sonne das T-Shirt. Wenn man wach sein muss, zehn
Milligramm Ritalin, wenn man müde werden will, ein Milligramm
Temesta. Wer sich unpässlich fühlt, passt sich an.
«Manchmal sorge ich mich etwas, dass wir unsere Selbstwirksamkeit verlieren», sagt Thilo Beck. «Man hält Angst nicht
mehr aus und weiss: Wird sie zu gross, gibt es dagegen ein Mittel.
Man glaubt nicht mehr an die eigenen Möglichkeiten und traut
sich weniger zu, als man vielleicht aushalten könnte.» Er fügt
an: «Andererseits, warum sollten wir nicht von etwas Gebrauch
machen, das es gibt. Bei Kopfschmerzen sind wir ja auch nicht so
hart mit uns.»
Ist man schon gefährdet, wenn man mehr auf die chemischen
Angstkiller setzt als auf Bachblüten und Steinmassagen und der
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nächste Berggipfel auch nicht um die Ecke liegt, um den Blick
schweifen zu lassen?
Nein, sagt der Psychiater. Weil sie so schnellwirken, hat man
zwar schneller das Gefühl, sie zu brauchen; deshalb können sie
schnell abhängig machen, vor allem Leute, die auch sonst suchtanfällig sind. Ansonsten seien Benzodiazepine aus dem Gesundheitssystem nicht mehr wegzudenken. «Viele dieser Substanzen
werden als Krisenintervention verschrieben, und das ist in meinen Augen absolut unproblematisch. Man will ja helfen. In der
Psychiatrie und Notfallmedizin, wo man mit agitierten Menschen
zu tun hat, könnten wir ohne sie nicht arbeiten, man käme nicht
an die Leute heran.»
Trotzdem, vermutet er, lassen sich Ärzte wohl auch unter
Druck setzen und stellen Rezepte unkritisch und zu häufig aus.
Benzodiazepine fallen unter das Betäubungsmittelgesetz, man
erhält kein Dauerrezept dafür. Die Ärzte mögen aber durchaus
berührt sein von der Angst und Unruhe ihrer Patienten, verdienen tun sie ja kaum daran, Benzos sind billig, die Marge ist klein.
Was sie damit anrichten, kann man im Drogenforum
«EvE & Rave» nachlesen. Sie müssen ihren Arzt oder Apotheker nicht mehr fragen, die User hier, sie wissen ja bestens Bescheid. Wie es klingt, wenn das Verhältnis zu den «chill pills» zu
innig wird, zeigte kürzlich die Umfrage: «Welches Benzo ist dein
Lieblings?»
«Oxazepam. Weils nicht so dicht klatscht.»
«Tetrazepam Weil es ein wunderschönes Körpergefühl auslöst, ohne zu sehr zu sedieren. Ich fühle mich dann wie nach einer
Massage.»
«Rohypnol. War aber auch der härteste Entzug, den ich je
hatte.»
Sie werden fast liebevoll verteidigt, die «Diaz», «Flunis»,
«Loras», von denen Diazepam (Valium), Flunitrazepam (Rohypnol) und Lorazepam (Temesta) die meisten Stimmen erhielten.
Man diskutiert, wie sie sich unterscheiden. Man stellt fest, dass
das bei jeder Person wieder anders ist. Benzos unterscheiden
sich auch darin, wie schnell sie im Gehirn wirken, «anfluten» im
Jargon; und ebenso in der Dauer. Valium, das über 48 Stunden
lang wirken kann, hat auch den Ruf, aus Menschen Zombies
zu machen.
Die schlaflosen Alten
Unter akutem Einfluss wird man nicht gefühllos, aber gleichgültiger. Es fühlt sich einfach nicht mehr an, als schleiften sich die
Gedanken ins Gehirn ein. Man wird vergesslicher, vor allem bei
häufiger Einnahme, das Gedächtnis wird jedoch nicht nachhal-
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tig geschädigt. Man spricht undeutlicher, manchmal wirr, auch
kann es vorkommen, dass man über die eigenen Füsse stolpert,
weil auch die Körperspannung nachlässt.
Das riskieren vor allem ältere Leute, und gerade sie haben
Beruhigungs- und Schlafmittel gern. Die Hälfte der Patienten
der Studie von 2007 waren 65 und älter. Beim Suchtmonitoring
Schweiz 2011 sagten 14 Prozent der befragten Frauen über 75, dass
sie täglich etwas nehmen.
Sie bekommen die Mittel von ihrem Hausarzt verschrieben.
Die meisten Rezepte für Benzodiazepine stellen Allgemeinprak-
tiker aus, obwohl es sich um Psychopharmaka handelt. Mein
achtzigjähriger Bekannter will wegen seines Herzklopfens nicht
gleich zum Psychiater. Er schläft ja nicht nur nicht, weil er an die
Zeit denkt, die ihm bleibt. Sondern weil mit einem alten Körper
nicht mehr so gut zu ruhen ist. Mit seiner Freundin, sie ist bald
neunzig, unterhielt er sich kürzlich über Medikamente, die sie
nehmen, ein Pingpong von Namen, die sich Wache nicht besser
merken könnten.
Lodine gegen Bluthochdruck.
Betaserc gegen Schwindel.
Cordarone zur Stärkung des Herzens.
Stilnox um zu schlafen.
Voltaren gegen Rheuma.
Rohypnol um zu schlafen.
Sie schlucke das Rohypnol nie, ein starkes Schlafmittel, sagte
die Freundin. Sie beruhige ihren Hausarzt, der ihr offenbar vertraut, dass es zu ihrer Beruhigung diene, es im Haus zu haben. Ihr
Freund, sorgloser im Umgang, hat sich vor kurzem die Hüfte gebrochen, bloss, sagt er, weil der Bus ruppig angefahren sei, bevor
er sich festhalten konnte. Ob sie wissen, dass Pillen das Sturzrisiko erhöhen können? «Ach was», sagt die Freundin, «bei uns
im Heim stürzen die Alten auch ohne etwas im Blut und manchmal mitsamt dem Rollator.»
Muss man es nicht etwas entspannter sehen? Ist es denn so
schlimm, wenn sich alte Leute ab und zu in Watte hüllen, um
vergessen und schlafen zu können? In den Altersheimen kiffen
sich die Alt-Hippies auch dem Tod entgegen wer mag es ihnen
verdenken.
Das sieht die Hausärztin Margot Enz Kuhn anders. Dass
man Benzos als Schlafmittel bei anhaltenden Schlafstörungen
verschreibe, diese Zeit sei vorbei, nur noch ein paar ältere Arztkollegen tun das bei ihren ausgebrannten Patienten in verantwortungsvollen Managerjobs, da diese das Gefühl hätten, sie könnten nicht mehr leben ohne. «Es gibt bessere Medikamente, die
genauso angstlösend sind, ohne süchtig zu machen», sagt sie. Sie
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gibt dann lieber ein Medikament gegen Depressionen, das aber
auch bei körperlichen Schmerzen hilft, die eine psychische Ursache haben, und bei Angst.
Auch die Allgemeinpraktikerin in Baden hat immer eine
Packung Temesta in ihrer Praxis und verschreibt es bei klarer Indikation: dem Mann, dessen Frau in die Psychiatrie eingewiesen
wurde und der nun allein zu den Kindern schauen muss. Er hatte
Kopfweh, ihm war übel, er schlief nicht mehr «ldare körperliche Symptome bei unmittelbarer Belastung». Der Frau, einem
Opfer von Mobbing, die am ganzen Körper zitterte, sich erbrach
und nur noch liegen konnte. Dem Mann im Notfall, er kam mit
einem Druck auf der Brust und dem Gefühl, keine Luft mehr zu
kriegen: «ein Temesta, und der Spuk war vorbei».
Und ja, sie gibt es auch mal bei Flugangst ab, «zurückhaltend
und höchstens eine kleine Packung pro Jahn>. Denn letztlich, das
sagt sie auch der Patientin, die schon beim Anblick einer Pille in
Panik gerät und meint, sie vergifte sich damit: Letztlich schadet
man sich mehr, wenn man eine Flasche Wodka leert. «Da kann
ich guten Gewissens ab und zu eine Pille geben.»
Es wird genommen, und die meisten, die es sich hin und
wieder selbst verordnen, übertreiben wohl nicht damit. Es gibt
diese Möglichkeit, wenn uns etwas bedroht und ängstigt, und wir
haben mit der Möglichkeit leben gelernt. Die chemischen Angsthemmer erleichtern uns den Alltag, wie ihn auch die Waschmaschine oder Kontaktlinsen erleichtert haben. Es ist kaum zu
befürchten, dass deshalb nur noch komatöse Geister herumlaufen. Denn dem schnellen Griff zur Pille steht ein waches Bewusst-
sein entgegen: Wir leben heute gesund und nachhaltig, haben
Angst vor Pestiziden, wollen unsere Kinder nicht impfen, gebären ohne Schmerzmittel. Man möchte unberührt bleiben von
Chemie, und diese Reinheit soll künftige Umweltkatastrophen
verhindern und einen vor gesundheitlichen Schäden schützen.
Zu Pillen, die auf unsere Psyche einwirken, haben wir ein
zwiespältigeres Verhältnis als zu Aspirin. Man kämpft mit sich,
spricht es an, nimmt sich zurück, während man sich bekennt. Wie
kann jemand, der keine Tiere isst, überhaupt Medikamente schlucken? Ich stelle mir nicht gerne vor, dass Tiere in Versuchen leiden müssen, bloss damit ich selber weniger leide, falls meine Katze
von einem Auto totgefahren wird. Bei den Beruhigungsmitteln
immerhin, als diese erforscht wurden, ist beruhigend zu wissen,
dass sich die gestressten Laborratten unter Einfluss des Wirkstof-
fes entspannten: Er wirkte.
Ja, man sollte es selten nehmen wenn man es braucht, und
nicht, wenn man es will.
Denn die Vorstellung einer Gesellschaft, in der die Menschen
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nihiggestellt werden, betäubt und dumpf hinleben, ist schrecklich.
Einer Gesellschaft, in der es keine Gefühle wie Angst mehr gibt,
ebensowenig Schmerz und Trauer. Ich möchte kein angstfreies
Leben haben, sediert und wohltemperiert, ohne Ausschläge des
Pulses. Es geht nicht darum, jedes Mal abzuschalten, abzudichten, wenn die Haut immer dünner wird im Zustand todmüder
Wachheit. Nein, ich möchte nur wissen: Wenn eines Tages ein
Anruf kommt oder wenn mich nachts die Stille umschliesst; wenn
ich fürchte, den Morgen nicht zu ertragen, an dem das Grelle und
Graue hereinbricht dann ist es da wie ein Freund, im Badezimmer, im Apothekenschrank, in einer Packung im Blister. Es
ist da und verspricht eine Pause, es bringt Ruhe und Vergessen,
wie eine tröstende Hand auf dem Haupt.
BIRGIT SCHMID ist stellvertretende Chefredaktorin des «Magazins».
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