„Dabei ist alles“
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„Dabei ist alles“
„Dabei ist alles“ Die Zuschauerbeteiligung in Castingshows von Christian Richter (fertiggestellt im März 2012) -- AUSZUG -- für eine vollständige Version wenden Sie sich bitte an: Christian Richter [email protected] | www.christv.net Jegliche weitere, auch teilweise, Veröffentlichung ist mit dem Autor abzusprechen! „Dabei ist alles“1 Die Zuschauerbeteiligung in Castingshows Die Erfüllung eines Traumes ................................................................................................ 3 Methodische Anmerkung...................................................................................................... 4 (Ein)schalten und walten ...................................................................................................... 4 Ruf‘ doch mal an! ................................................................................................................. 6 1 sehr bekanntes Zitat von Johanna Malcherek, die sich im Jahr 2007 in der vierten Staffel der Castingshow „Deutschland sucht den Superstar“ bewarb. Anzusehen auf http://www.clipfish.de/video/223306/dsds-johanna/ [aufgerufen am 28.02.2012] Die Erfüllung eines Traumes Zum ersten Mal in der Geschichte machen die Medien die massenhafte Teilnahme an einem gesellschaftlichen und vergesellschafteten produktiven Prozess möglich […]. Ein solcher Gebrauch brächte die Kommunikationsmedien, die diesen Namen bisher zu Unrecht tragen, zu sich selbst.2 Man könnte meinen, Hans Magnus Enzensberger hat diese Worte direkt im Anschluss an eine Entscheidungsshow der Fernsehsendung «Deutschland sucht den Superstar» (RTL, seit 2002)3 formuliert, denn in derartigen Castingshows scheint die Partizipation der Bevölkerung am Massenmedium Fernsehen verwirklicht zu sein. Dort entscheiden schließlich allein die Fernsehzuschauer durch Anrufe und SMS-Mitteilungen, welcher Kandidat eine Runde weiterkommt und letztlich auch, wer den angestrebten Titel als „Superstar“, „Supertalent“ oder „Voice Of Germany“ gewinnt. Damit haben die Zuschauer die Möglichkeit aktiv von beliebigen Orten aus, in das laufende Fernsehprogramm eingreifen zu können und es (im Rahmen eines basisdemokratischen Abstimmungsprozesses) nach ihren Vorlieben zu beeinflussen. Die Zuschauer werden auf diese Weise zu Programmgestaltern und Fernsehproduzenten. Tatsächlich aber ist Enzensbergers Aussage bereits im Jahr 19704 und damit rund 30 Jahre vor der erstmaligen regelmäßigen Verwendung des Begriffs Castingshow5, veröffentlicht worden. In seinen Überlegungen griff er den Gedanken des Rückkanals auf, der oft auf Bertolt Brecht zurückgeführt wird6. In dessen 1932 erschienenen Werk „Der Rundfunk als Kommunikationsapparat“ wird nämlich gefordert: Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Der Rundfunk wäre der denkbar 2 Enzensberger, Hans Magnus (1997): „Baukasten zu einer Medientheorie (1970).“ In: Enzensberger, Hans Magnus; Glotz, Peter (Hrsg.): „Baukasten zu einer Theorie der Medien. Kritische Diskurse zur Pressefreiheit“. Ex libris kommunikation; Bd. 8; München: Verlag Reinhard Fischer, S. 99 3 vgl. Reufsteck, Michael; Niggemeier, Stefan (2005): „Das Fernsehlexikon – Alles über 7000 Sendungen von Ally McBeal bis zur ZDF-Hitparade.“ München: Wilhelm Goldmann Verlag, S. 262ff 4 Die Erstveröffentlichung des entsprechenden Textes „Baukasten zu einer Theorie der Medien“ erfolgte im Jahr 1970 in der Zeitschrift „Kursbuch“ (Ausgabe 20, Berlin: Suhrkamp Verlag, S. 159-186). Diese Version lag dem Verfasser nicht vor, sondern lediglich ein späterer Nachdruck aus dem Jahr 1997, aus dem zitiert wird. 5 Erstmals wurde der Begriff in Deutschland im Zusammenhang mit dem Format «Popstars» im Jahr 2000 verwendete. 6 ebd. großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens […], wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen […].7 Schon damals bestand offenbar eine Sehnsucht nach einer Partizipation des Publikums an Rundfunksendungen und einer Einflussnahme an deren Programmen. Die Forderung nach einem Rückkanal, wie ihn Brecht beschrieben hat, und der Wunsch nach einer aktiven Teilnahme der Zuschauer am Programmverlauf scheint durch heutige Castingshows längst realisiert zu sein. Ein entscheidender Schritt zur Demokratisierung der Massenmedien wäre demnach umgesetzt. Diese Einteilung soll in der vorliegenden Ausarbeitung in modifizierter Form als Grundlage für die Vorstellung der verschiedenen Formen der Partizipation dienen8. Methodische Anmerkung Für die Funktionsweisen von interaktivem Fernsehen gibt es mannigfaltige Strukturmodelle, die jedoch alle zu einen scheint, dass ihnen ein Stufenmodell zu Grunde liegt. Auch im entsprechenden Beitrag der deutschen Version von Wikipedia wird ein solches Modell vorgeschlagen, das für den vorliegenden Rahmen anwendbar, verständlich und nicht überkomplex erscheint. (Ein)schalten und walten Die Sichtweise, dass gerade durch Castingshows eine erhöhte Publikumsbeteiligung ermöglicht wird, setzt den Gedanken voraus, dass ein traditioneller Fernsehzuschauer, der sich nicht an diesen Formaten beteiligt, lediglich eine rein passive Rolle bekleidet, dass er ausschließlich ein Konsument der ihm vorgesetzten TV-Ware ist. Dem widerspricht Eggo Müller, denn… 7 Brecht, Bertolt (1967): „Der Rundfunk als Kommunikationsapparat.“ In: Brecht, Bertolt: „Gesammelte Werke 18. Schriften zur Literatur und Kunst I.“; Auflage 133. bis 137. Tausend: 1990; Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, S. 129 8 Aufgrund seiner hohen Eignung zur Veranschaulichung der grundlegenden Prozesse wird dieses Modell verwendet, obwohl der Verfasser nicht eindeutig zugeordnet werden kann. Offenbar stammt ein Großteil der Ausführungen von einem Nutzer namens „Mercuria3407“, der mittlerweile jedoch nicht mehr erreichbar ist. Von ihm/ihr scheinen Thesen von Udo Rimmelspacher (bzw. aus dessen Buch „Interaktives Fernsehen“) und Dipl.-Informatiker Harald Molina-Tillmann (bzw. von dessen Internetseite http://www.tv-interaktiv.de/) kombiniert worden zu sein. (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Interaktives_Fernsehen [alles aufgerufen am 22.02.2012]) Programmvervielfachung und -diversifizierung, Verspartung, Boulevardisierung und Lifestyle-Programme gehen von einem Zuschauer aus, der fortwährend aus den Angeboten zur Befriedigung seiner kulturellen und materiellen Bedürfnisse wählt und sich dadurch in der Gesellschaft orientiert und sozial und kulturell verortet.9 Damit erscheint für Müller das Zappen des zeitgenössischen Zuschauers eben nicht als eine passive Tätigkeit, sondern vielmehr bereits als ein aktiver Akt der Partizipation, wenngleich seine Einflussmöglichkeit nur direkte Auswirkungen auf die eigene Person und nicht auf das Kollektiv der anderen Fernsehzuschauer hat. Über die Messung der Einschaltquoten, die über Erfolg und Misserfolg, über Fortführung und Absetzung von Sendungen sowie über konzeptionelle Schwerpunkte entscheiden, kann die heimische Auswahl der Fernsehprogramme letztlich dennoch eine Außenwirkung erhalten. Selbst wenn man als Zuschauer nicht direkt am Quotenmessverfahren beteiligt ist, können durch den Austausch mit Freunden und entsprechenden Empfehlungen oder Ablehnungen von Sendungen Zuschauerströme und Aufmerksamkeiten gelenkt und beeinflusst werden, die sich dann längerfristig auch in den Quoten und Programmabläufen niederschlagen können. Dass bereits die Auswahl und Zusammenstellung des eigenen Fernsehprogramms eine Form der Partizipation – oder der Interaktivität – darstellt, spiegelt sich auch in dem hier bevorzugten dreistufigen Modell wider. Eine individuelle Selektion markiert dabei (in verschiedenen Ausprägungen und technischen Wegen u.a durch Bild-in-BildFunktionen, Timeshift oder elektronische Programmführer) die erste Stufe des interaktiven Fernsehens. Offenkundig verbindet sich mit ihr nur eine ehr limitierte und indirekte Entscheidungsgewalt, daher resultierte für Enzensberger im Gegensatz zu Müller aus dieser Art der Interaktion nur eine… […] Minimale Selbsttätigkeit der Wähler/Zuschauer: wie bei Parlamentswahlen im Zweiparteiensystem wird der feedback auf Indexziffern reduziert. Die ‚Willensbildung’ läuft auf die Rückmeldung eines einzigen, dreiwertigen 9 Müller, Eggo (2005): „Performativ, transformativ, interaktiv. Fernsehen als Dienstleistungsagentur im digitalen Medienensemble.“ In: „Montage/AV Ausgabe 14/1/2005“, Marburg: Schüren Verlag GmbH, S. 149; abrufbar unter: http://www.montageav.de/pdf/141_2005/14-1_Eggo_Mueller-Performativ-transformativ-interaktiv.pdf [aufgerufen am 22.02.2012]) Schaltvorganges hinaus: 1. Programm, 2. Programm, Ausschalten des Geräts (Stimmenthaltung).10 Enzensberger hätte dieses Verfahren wohl nicht als eine bedeutsame Beteiligung der Zuschauer eingestuft11. Aus diesem Grund und weil diese Form der Publikumsbeteiligung auf das gesamte Fernsehprogramm anwendbar ist und kein gesondertes Wesensmerkmal von Castingshows darstellt, soll es nachfolgend nicht weiterführend behandelt werden. Ruf‘ doch mal an! Wesentlicher erscheint im Zusammenhang mit Castingformaten die zweite Stufe des interaktiven Fernsehens, die nämlich über die Nutzung jenes Rückkanals erfolgt. Darunter sind insbesondere Abstimmungs- und Voting-Verfahren zu subsumieren, die sich bei fast allen Vertretern des Genres finden lassen. In dieser Möglichkeit des (scheinbar) unmittelbaren Eingriffs in den Ablauf liegt wahrscheinlich ein Erfolgskriterium12 für das Genre, das seit seiner Einführung 10 Enzensberger 1997, 100 Enzensbergers Aussage erfolgte in einer Zeit, als es nur sehr wenige Sender in Deutschland gab. Dennoch darf bezweifelt werden, dass er schon die reine Kanalauswahl auch angesichts des heutigen Mehrangebots an TV-Veranstaltern als signifikante Zuschauerbeteiligung ansehen würde. 11 12 Dass die Fernsehzuschauer dadurch mehr Möglichkeiten haben, in den Programmablauf eingreifen zu können, ist nachvollziehbar. Doch auch die Fernsehanbieter können von der erhöhten Interaktivität von Castingshows profitieren. Zum einen versuchen sie „durch die Chance der Partizipation ihre Kunden, die Bürger, die User an sich zu binden“ und anderseits erhalten sie „eine direkte Rückmeldung über die Marktchancen der Idole. Genau hierin liegt der eigentliche ökonomische Erfolg dieses Formats.“ (Bolz, Norbert im Gespräch mit Pleikies, Simon und Pelzer, Elena (2010): „Wettkampf der Feuerwerker.“ In: Pörksen, Bernhard; Krischke, Wolfgang (Hrsg.): „Die Casting-Gesellschaft. Die Sucht nach Aufmerksamkeit und das Tribunal der Medien“, Köln: Herbert von Halem Verlag, S. 78) Außerdem, und dieser Fakt sollte nicht unterschätzt werden, verbirgt sich dahinter eine enorme Einnahmequelle, weil in der Regel jeder Anruf 0,50 Euro kostet, von dem die Fernsehveranstalter einen Anteil von schätzungsweise 0,39 Euro erhalten. (vgl. Tietz, Janko (2004): „Anschluss gesucht.“ In: DER SPIEGEL, Ausgabe 38/2004, S. 2004, 102) Die Sender und Telefonanbieter sind diesbezüglich mit Informationen zurückhaltend, weswegen es nur wenige verlässliche Zahlen gibt. Laut Eggo Müller hätten beim Finale der holländischen Version von «Deutschland sucht den Superstar» rund eine halbe Million der fünf Millionen Fernsehzuschauer an der Telefonabstimmung teilgenommen. (vgl. Müller 2005, 147) Rechnet man dies auf die Sehbeteiligung von fast 13 Millionen Zuschauern beim Finale der ersten «Deutschland sucht den Superstar»-Staffel (vgl. Reufsteck; Niggemeier, 2005, 262ff) hoch, wird schnell deutlich, welches finanzielle Potential damit verbunden ist. Den Recherchen des Journalisten Janko Tietz zufolge wären damals 4,5 Millionen Anrufe registriert worden, durch die der Sender RTL zusätzliche Einnahmen von 1,2 Millionen Euro erzielen konnte. Dies hätte einem Viertel jener Summe entsprochen, die durch klassische Werbung eingenommen wurde. (Tietz 2004, 103) In seinem Online-Blog warf der Journalist Stefan Niggemeier am 05. Mai 2007 den Produzenten von «Deutschland sucht den Superstar» sogar vor, den Kandidaten Max Buskohl im Jahr 2007 bedrängt zu haben, mit der Verkündigung seines Entschlusses für einen freiwilligen Ausstieg bis zum Abschluss des Telefonvotings zu warten, damit die Erlöse aus den Anrufen für ihn nicht verloren gehen. (vgl. http://www.stefan-niggemeier.de/blog/was-rtl-bei-dsds-von-9live- mindestens 35 Varianten (z.T. mit acht Jahresstaffeln) hervorgebracht hat. Ein Großteil der seit dem Jahr 2000 in Deutschland ausgestrahlten Formate verfügt deswegen über einen erheblichen Sendeanteil, der live ausgestrahlt wird und über die Gelegenheit für die Zuschauer an einer Stelle im Verlauf der Staffel, via Telefon oder SMS über die Auswahl der Kandidaten bestimmen zu können13. Dabei variieren Zeitpunkt und Umfang der Einflussnahme abhängig vom Sendeformat. Dem gegenüber stehen Shows, die vollständig vorproduziert werden, meist einen dokumentarischen Stil haben und eben keine Abstimmung durch die Fernsehzuschauer vorsehen14. Bei diesen Vertretern handelt es sich jedoch um eine zahlenmäßige Minderheit, die auch in den meisten Fällen bezüglich der Sehbeteiligungen hinter den Voting-Varianten zurückbleiben. --- Ende des Auszugs --für eine vollständige Version wenden Sie sich bitte an: Christian Richter [email protected] | www.christv.net gelernt-hat/ [aufgerufen am 23.02.2012]) Beim Finale der zehnten Staffel der brasilianischen Version von «Big Brother» wurden gar 154.878.460 kostenpflichtige Stimmen abgegeben. (vgl. http://entretenimento.br.msn.com/famosos/noticias-artigo.aspx?cp-documentid=23954401 und http://www.dailymail.co.uk/news/article-2087801/Big-Brother-Brazil-Daniel-Echaniz-raped-Monique-Aminlive-TV-alcohol-fueled-party.html#ixzz1nCCC2Yyz [beide aufgerufen am 23.02.2012]) 13 Dazu gehören insbesondere «Deutschland sucht den Superstar» (RTL), «Das Supertalent» (RTL), «X-Factor» (VOX) und «The Voice Of Germany» (Sat.1/ProSieben) sowie «Teenstar» (RTL II), «Die Deutsche Stimme» (ZDF), «Star Search» (Sat.1), «SSDSGPS» (ProSieben), «SSDSDSSWEMUGABRTLAD» (ProSieben), «You Can Dance» (Sat.1), «Ich Tarzan, Du Jane!» (Sat.1), «Musical Showstar 2008» (ZDF), «The Next Uri Geller» (ProSieben), «Ich kann Kanzler» (ZDF), «Unser Star für Oslo» (ProSieben), «My Name is...» (RTL II) und «Unser Star für Baku» (ProSieben). Mitunter beschränken sich die Möglichkeiten für eine Teilnahme am Voting nicht mehr nur auf Telefon und SMS. Seit 2011 kann man beispielsweise bei «Big Brother» auch über ein kostenpflichtiges Facebook-Plugin abstimmen. (vgl. Kirsch, Jürgen (2011): „Erstmals «Big Brother»-Voting via Facebook möglich“. In: Quotenmeter.de vom 30.06.2011; abrufbar unter http://www.quotenmeter.de/cms/?p1=n&p2=50507&p3= [aufgerufen am 23.02.2012]) Bei «The Voice of Germany» wurden zusätzlich zu den Anrufen auch die erreichten Download-Zahlen der Singles der jeweiligen Kandidaten berücksichtigt (vgl. swd/DPA (2012): „Goldkehlchen Ivy Quainoo ist die Stimme.“ In: stern.de vom 10.02.2012; abrufbar unter http://www.stern.de/kultur/tv/the-voice-of-germany-finale-goldkehlchen-ivy-quainoo-ist-die-stimme1785070.html [aufgerufen am 24.02.2012]). Im Kern bleiben die Wahlmodi trotz dieser Erweiterungen allerdings unverändert. 14 Darunter sind vor allem «Popstars» (insbesondere die ersten Staffeln auf RTL II) und «Germany’s Next Topmodel» (ProSieben) zu fassen.