Die Erfindung der Weltzeit

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Die Erfindung der Weltzeit
ethmundo.de - Online-Magazin für Kultur und Gesellschaft
Die Erfindung der Weltzeit
Beigesteuert von Thomas Reinhardt
Monday, 30. November 2009
Der Begriff Globalisierung ist seit einigen Jahren in aller Munde. Nicht immer freilich wird er auch wirklich angemessen
gebraucht. Ein Globalisierungsphänomen im ursprünglichen Sinne des Wortes ist die Erfindung einer gemeinsamen
Zeit für den gesamten Globus. Im Oktober 2009 jährte sich die Unterteilung der Erde in 24 Zeitzonen zum 125. Mal.
Nicht nur Vielfliegern ist der Handgriff vertraut: Irgendwann im Verlauf eines Langstreckenflugs greifen wir zur Uhr und
stellen sie um auf die Ortszeit unseres Zielortes. Wir können das tun, ohne lange nachdenken zu müssen. Ein paar
Stunden vor, ein paar zurück – der Minutenzeiger bewegt sich zwar mit, eigentlich aber verstellen wir nur die Stunden.
Wenn es in Berlin zehn Minuten vor der vollen Stunde ist, ist es auch in New York zehn Minuten vor. Oder in Sydney.
Oder Kapstadt. Oder Hongkong … So natürlich uns das auch scheinen mag, selbstverständlich ist es nicht. Der Weg zu
einer für alle Nationen verbindlichen Weltzeit, die den Tag im Pazifik beginnen und enden lässt und die Erde in eine
überschaubare Zahl von Zeitzonen unterteilt, begann vor gar nicht allzu langer Zeit und war alles andere als einfach.
Am Anfang stand ein Druckfehler
An seinem Anfang stand – das jedenfalls besagt die Legende – ein Druckfehler. Unterlaufen ist er den Herausgebern des
monatlich erscheinenden Official Irish Travelling Guide. Der darin abgedruckte Fahrplan der Bahnlinie zwischen
Londonderry und Belfast nannte für den kleinen Bahnhof Bundoran eine falsche Abfahrtszeit des Zuges nach Belfast.
5:35 p. m. stand dort zu lesen, tatsächlich aber fuhr der Zug zwölf Stunden früher: um 5:35 a. m.
Just diesen Fahrplan nun führte der kanadische Eisenbahningenieur Sandford Fleming mit sich, als er im Juli 1876 die
Route einer Reise auf den britischen Inseln zusammenstellte und in Bundoran den Zug nach Belfast nehmen wollte. Es
kam, wie es kommen musste. Fleming verpasste seinen Zug und verbrachte die Nacht auf einer der harten Bänke am
Bahnhof. Er nutzte diese Nacht gut. Der Druckfehler mochte zwar bloß ein Druckfehler sein, letztlich aber war er
Ausdruck eines viel größeren Dilemmas: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nämlich gab es nahezu ebenso viele
Zeiten wie Ortschaften. Und genau diesem Problem widmete sich Sandford Fleming während des langen Wartens auf
den Morgenzug.
Tatsächlich lag in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Einiges im Argen, was die Zeitmessung anging. Jahrtausende
lang hatte es genügt, einen Stock in die Erde zu stecken und die Länge seines Schattens zu beobachten. Wenn die
Sonne am höchsten Punkt ihrer Laufbahn stand und der Schatten am kürzesten war, war es Mittag. Da unser Planet
sich beständig um die eigene Achse dreht, wandert dieser astronomische Mittagszeitpunkt im Verlauf eines Tages in
einer gleichmäßigen Bewegung einmal rund um die Erde. Je weiter man nach Westen kommt, desto später erreicht die
Sonne den Zenit. Dass dieser astronomische Mittag beispielsweise in Versailles erst vier Sekunden später eintritt als im
20 km weiter östlich gelegenen Paris, mochte zwar Gegenstand gelehrter Salonplaudereien sein, gestört aber hat es
niemanden.
Die Rolle der Eisenbahn
Und wirklich war dies auch kein Problem, solange sich der Mensch noch mit dem Tempo eines Fußgängers oder Reiters
fortbewegte. Erst die Erfindung der Eisenbahn sollte die Situation dramatisch verändern. Eisenbahnen nämlich brauchen
Fahrpläne. Nicht nur, um dem Reisenden die Planung zu erleichtern, sondern mehr noch, um Kollisionen auf den
zunächst überwiegend eingleisig ausgebauten Strecken zu vermeiden.
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Nehmen wir einfach einmal an, wir wollen mit dem Zug von Paris nicht nur bis ins nahe Versailles fahren, sondern ins
knapp 500 km entfernte Straßburg. Die Längendifferenz beträgt in diesem Fall schon 5°26’. In Zeit umgerechnet heiß
dass es in Straßburg 21 Minuten und 44 Sekunden früher Mittag ist als in Paris. Stellen wir uns weiter vor, dass der Zug
für die Strecke insgesamt zehn Stunden braucht und den Bahnhof in Paris um 8:00 Uhr morgens verlässt. Er trifft dann
(vorausgesetzt natürlich, er ist pünktlich), um 18:00 Uhr Pariser Zeit in Straßburg ein. Dort ist es zu diesem Zeitpunkt
aber schon 18:21 Uhr und 44 Sekunden. Ein Zug, der Straßburg um 18:15 Uhr Ortszeit in Richtung Paris verlassen hätte,
wäre also nach wenigen Minuten mit dem pünktlichen 18:00-Uhr-Zug aus Paris zusammengestoßen!
Nun gibt es prinzipiell zwei Möglichkeiten, dieses Unglück zu verhindern: Man kann bei der Fahrplanerstellung die
unterschiedlichen Ortszeiten berücksichtigen und den Zug in Straßburg erst um 18:25 Uhr starten lassen. Das wäre
zwar ziemlich aufwändig, aber durchaus möglich. Oder man ordnet die einzelnen Ortszeiten einer einheitlichen
Eisenbahnzeit unter. Mehrere europäische Länder hatten das – dem Vorbild Großbritanniens folgend, wo 1847 eine
nationale Eisenbahnzeit eingeführt worden war – seit Mitte des 19. Jahrhunderts bereits getan.
Komplizierter stellte sich die Situation allerdings in den großen Flächenstaaten des Westens dar – den USA und Kanada.
Weder gab es hier einen zentralen Bezugspunkt mit langer astronomischer Tradition (wie sie etwa die königliche
Sternwarte von Greenwich für Großbritannien bildete) noch erschien es besonders sinnvoll, den gesamten
nordamerikanischen Kontinent unter eine einzige Ortszeit zu zwingen. Die Folge war, dass jede Eisenbahngesellschaft
ihrer eigenen Zeit folgte – meist der Ortszeit am Stammsitz der Gesellschaft. Das daraus resultierende Durcheinander
kann man sich leicht vorstellen. Allein in den USA gab es zeitweise 44 unterschiedliche offizielle Eisenbahnzeiten. Im
Bahnhof von Pittsburgh etwa hingen Anfang der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts gleich sechs Uhren, die die Zeiten der
verschiedenen Gesellschaften anzeigten, von denen die Stadt angesteuert wurde.
Das alles war Sandford Fleming wohlbekannt, als er seine einsame Nacht am Bahnhof von Bundoran verbrachte.
Immerhin war er als Chefingenieur der Canadian Pacific Railway am Bau der Ost-West-Verbindung quer über den
gesamten nordamerikanischen Kontinent entscheidend beteiligt gewesen. Nun aber, so scheint es, fand er zum ersten
Mal Gelegenheit und Muße, das Problem gründlich zu durchdenken.
Flemings Weltzeit
Am Ende seiner Ãœberlegungen stand der Entwurf einer allgemeinen Weltzeit, die die Erde in 24 Zeitzonen unterteilte.
Jede Zone sollte 15 Längengraden entsprechen und der Übergang von einer zur nächsten Zeitzone jeweils in ganzen
Stundenschritten erfolgen. Im Ergebnis würden damit, so Fleming, „die Zeiten an weit voneinander entfernten Orten
lediglich um ganze Stunden differieren. In jeder anderen Beziehung wäre die Standardzeit auf allen Längen- und
Breitengraden in perfekter Übereinstimmung. Jede Uhr auf der ganzen Welt würde eine der 24 Stunden des Tage zum
selben Moment zeigen, und es herrschte eine perfekte Synchronie von Minuten und Sekunden rund um den Globus.“
Vier Monate nach seinem Missgeschick mit dem verpassten Zug stellte Sandford Fleming einen ersten Vorschlag für
eine globale Zeit am Canadian Institute in Toronto vor. Dieser Entwurf war weit radikaler als alle Reformversuche, die
bisher in Richtung einer Standardisierung der Zeit unternommen wurden. Statt nämlich einen für alle Nationen
verbindlichen Nullmeridian festzulegen, dachte sich Sandford Fleming die Erde selbst als eine riesige Uhr, deren
„Ziffernblatt“, beschriftet mit den Buchstaben des englischen Alphabets (ohne J und Z), in 24 gleich große Segmente von
jeweils 15° Längenausdehnung unterteilt werden sollte. Das Längengradsegment nun, das zu einem bestimmten
Zeitpunkt von einer gedachten Linie vom Erdmittelpunkt zur Sonne senkrecht durchschnitten würde, sollte die
„internationale“ oder „terrestrische Stunde“ bezeichnen. Volle Stunden würden also, wenn die Sonne beispielswe
gerade über dem Gebiet der USA im Zenit steht, als R-, S-, T- oder U-Uhr bezeichnet werden.
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In Flemings erstem Entwurf hätte jede Nation weiterhin ihre eigene lokale Zeit behalten und in der üblichen Weise
notieren können, daneben aber würde eben jene terrestrische Zeit eingeführt werden, die auf dem ganzen Globus
gleichermaßen gelten sollte. Wenn es in New York Mittag wäre, könnte man dort also nach wie vor von 12:00 Uhr
sprechen und in Berlin von 18:00 Uhr, zugleich aber entspräche dies der internationalen Zeit „R-Uhr“ – und zwar übe
auf der Welt. In China ebenso wie in England oder Russland oder Australien.
Umgehen wollte Fleming damit nicht zuletzt das Problem der nationalen Empfindlichkeiten, die immer dann alle
internationalen Vereinbarungen scheitern ließen, wenn es um die Festlegung eines gemeinsamen Nullmeridians ging.
Das dürfte auch der Grund dafür gewesen sein, das Segment A, an dem der kosmische oder terrestrische Tag
beginnen sollte, in den Pazifik (etwa auf die heutige Datumsgrenze) zu legen. Auf diese Weise, dachte sich Fleming,
würde keine Nation für sich in Anspruch nehmen können, die Zeit für die ganze Welt vorzugeben.
Die Festlegung des Null-Meridians
Fleming musste allerdings einsehen, dass offenbar niemand ernsthaft daran dachte, seine Verabredungen künftig für
„M.45 Uhr“ oder „ Q-Uhr-35“ zu treffen. Zwei Jahre später trat er daher mit einem veränderten Entwurf an die Ö
Die Vorstellung von der Erde als kosmischer Uhr spielte darin keine Rolle mehr, doch immer noch versuchte Fleming,
den Nullmeridian keiner einzelnen Nation zuzugestehen. Stattdessen sollte er mitten durch den Pazifik laufen.
Dahinter standen nicht zuletzt handfeste praktische und wirtschaftliche Gründe: Großbritannien war im 19. Jahrhundert
die weltweit führende Seehandelsmacht, und etwa 70% der seinerzeit im Umlauf befindlichen Seekarten waren auf den
Meridian von Greenwich bezogen. Durch Sandford Flemings Kunstgriff, seinen Nullmeridian als eine Art „Anti-Null“ genau
180° von Greenwich entfernt verlaufen zu lassen, hätten diese Karten weiterhin genutzt werden können.
Genau diesen Vorschlag unterbreitete er dann auch sechs Jahre später auf der Prime Meridian Conference in
Washington, zu der der amerikanische Präsident Chester W. Arthur die Vertreter aller damals von den USA als „zivilisiert“
anerkannten 25 Staaten eingeladen hatte. In mehreren Sitzungsrunden versuchte man sich hier in den Wochen ab dem
1. Oktober 1884 auf eine einheitliche Weltzeit zu verständigen.
Das Hauptproblem lag – wie von Fleming vorhergesehen – in der Wahl eines für alle Staaten verbindlichen Nullmeridians.
Die Konferenzteilnehmer nämlich repräsentierten nicht allein 25 Nationen, sondern auch elf verschiedene Meridiane.
Neben Greenwich waren dies die Längenkreise von Paris, Sankt Petersburg, Rom, Lissabon, Cadiz, Berlin, Tokio, Rio,
Stockholm und Kopenhagen. Dazu kam dann noch als zwölfter Sandford Flemings „Anti-Null“ im Pazifik.
Schon bald zeigte sich, dass eigentlich nur London und Paris als ernsthafte Kandidaten in Betracht kamen. London
(Greenwich) aus praktischen und wirtschaftlichen Gründen, Paris aus eher wissenschaftshistorischen. In der Stadt an
der Seine lagerte schließlich nicht nur der physische Urmeter in Form eines Platinlineals, sondern die Maßeinheit selbst
war definiert als der zehnmillionste Teil der Entfernung vom Pol zum Äquator auf dem Pariser Längenkreis. Und mochte
auch seine politische Neutralität durchaus für Sandford Flemings Entwurf sprechen, hatte er doch den gravierenden
Nachteil, dass er die internationale Datumsgrenze geradewegs durch London hätte verlaufen lassen. Eine Abstimmung
am vorletzten Tag der Konferenz verwarf denn auch fast einstimmig den Vorschlag eines neutralen Meridians. Und
nachdem schließlich auch die französischen Delegierten ihren Widerstand gegen einen „englischen“ Meridian zuminde
so weit aufgegeben hatten, dass sie sich bei den Schlussabstimmungen verschnupft der Stimme enthielten, verständigte
sich die Konferenz am 13. Oktober 1884 auf den Längenkreis von Greenwich als gemeinsamen Nullmeridian.
Eine gemeinsame Zeit für die Welt
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Es sollten noch einige Jahre ins Land ziehen, bis die Standardzeit tatsächlich von allen Nationen eingeführt war. Längst
aber gilt sie (seit 1926 als „koordinierte Weltzeit“ oder UTC) auf dem gesamten Globus. Seit jenem 13. Oktober 1884, 392
Jahre und einen Tag nachdem Kolumbus Amerika für Europa entdeckte und die Menschen begannen, einen
gemeinsamen Raum zu bewohnen, hat die Menschheit auch eine gemeinsame Zeit.
Zur Person:
Thomas Reinhardt, geb. 1964, lehrt Ethnologie und Afrikanistik an den Universitäten München, Köln und Frankfurt.
Forschungsschwerpunkte: Diaspora- und Postcolonial Studies, Black Atlantic, Anthropologie der Medien, visuelle
Anthropologie, Semiotik, Geschichte und Methoden der Ethnologie, Wissens- und Wissenschaftsgeschichte,
Gedächtnispolitiken.
http://www.ethnologie.uni-muenchen.de/personen/mitarbeiter/reinhardt/index.html
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