9/2003 - Pädagogische Hochschule Weingarten

Transcription

9/2003 - Pädagogische Hochschule Weingarten
ethik –report
Nr. 9 / April 2003
Editorial
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Von der Bioethik zur Wirtschaftsethik
Presse- und Literaturspiegel
Informationen und Rezensionen
zu ethischen Themen aus Tagespresse, Fachzeitschriften,
Gremien und von Fachtagungen
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Biopolitik
Klonen
Biomedizin und Ethik
Besprechungen
herausgegeben
vom Institut für Bildung und Ethik
der Pädagogischen Hochschule
Weingarten
Leibnizstraße 3
88250 Weingarten
Tel.: 0751/5018377
e-mail: [email protected]
• Dietmar Mieth: Was wollen wir
können? Ethik im Zeitalter der
Biotechnik, Freiburg i. Br: Herder, 2002
• Georg Lind: Ist Moral lehrbar?
Ergebnisse der modernen moralpsychologischen Forschung.
2. überarb. Aufl. Berlin: Logos
Verlag, 2000
Tagung
•
Bericht von der Tagung „Shareholder Value & Public Value. Unternehmerische Verantwortung
für das Gemeinwohl“ vom 26. bis
28. Februar in der Evangelischen
Akademie Tutzing
Editorial
Liebe Leserin, lieber Leser,
mit der aktuellen Ausgabe möchten wir Ihre Aufmerksamkeit auf drei Schwerpunkte
lenken: Einmal geht es wie gewohnt um aktuelle Fragen der Bioethik und Biopolitik.
Prof. Dietmar Mieth hat inzwischen seine „summa“ bioethischer Reflexion vorgelegt,
die wir in einer Rezension würdigen wollen. Des Weiteren widmen wir uns in dieser
Ausgabe einer zentralen moralpädagogischen Frage. In seinem neuesten Buch fragt
Georg Lind, ob Moral lehr- und lernbar sei. Unsere Rezension gibt Auskunft über seine Antwort und eröffnet vielleicht eine erweiterte Diskussion. Mit dem Bericht von der
Tagung „Shareholder Value & Public Value. Unternehmerische Verantwortung für
das Gemeinwohl“ betreten wir wirtschafts- und unternehmensethisches Neuland.
Der Bogen von der Bioethik zur Wirtschaftethik verbindet verschiedene Lebens- und
Wissenschaftsbereiche, die vordergründig nicht viel miteinander zu tun haben. Hinweise aus den USA zeigen aber, dass gentechnologische Forschung mit hohen Anteilen von Risikokapital aus den Börsen finanziert wird. Damit bestimmt der Verlauf
der Börsen diesen Forschungszweig stark mit. Gentechnik funktioniert dann primär
nach marktwirtschaftlichen Gesetzen. Dazu gehören z.B. Marketingmaßnahmen wie
das sehr frühzeitige Ankündigen oder In-Aussicht-Stellen von Heilerfolgen durch gentechnische Fortschritte. Die Anleger müssen und sollen bei Laune gehalten werden.
Ihre Investition in eine Zukunftsbranche soll sich schnell lohnen. Ethische Überlegungen fallen dabei unter den Tisch. Otfried Höffe hat in einem bemerkenswerten Essay
(s. Presse- und Literaturspiegel) auf die wechsel- und konflikthafte Beziehungsgeschichte von Forschung und philosophischer Ethik hingewiesen. Heute bliebe der
Ethik eine ideologiekritische Funktion, biomedizinische Forschung u.a. vor einem
„humanitaristischen Fehlschluss“ zu warnen. Dieser bestehe darin, dass Forschung
in einem sehr frühen Stadium Hilfsmöglichkeiten prophezeit, deren Vorarbeiten nicht
einmal in Ansätzen erledigt sind. Ethik erinnert nach Höffe die Genforschung an ihre
Verantwortung und bringt diese auf den Begriff. An die Würde des Menschen erinnern und die endliche Maßstäblichkeit menschlichen Lebens ins Gespräch bringen:
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Das wären umfangreiche Aufgaben einer Ethik - auch im wirtschaftsethischen Diskurs.
Für die Redaktion
Hans-Martin Brüll und Bruno Schmid
Presse- und Literaturspiegel
Biopolitik
N.N.: Ethikkommission komplett. In: Frankfurter Allgemeine vom 15.04. 2003, 8
Die Enquetekommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“ des Deutschen
Bundestages hat sich neu konstituiert. Wie der Vorsitzende dieser Kommission, der
SPD-Abgeordnete Rene Röspel, bekannt gab, wird sie am 5. Mai ihre Arbeit aufnehmen. 13 Parlamentarier und 13 Sachverständige gehören der Kommission an
und haben gleiches Stimmrecht. Folgende Sachverständige wurden von den Parteien ernannt:
Die CDU bestellte die Vizepräsidentin der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die
Berliner Mikrobiologin Bärbel Friedrich, den Kitzinger Richter Rainer Beckmann, den
Bonner Palliativmediziner Eberhard Klaschik, den katholischen Moraltheologen Johannes Reiter aus Mainz und den Vorsitzenden der Kammer für Öffentliche Verantwortung der Evangelischen Kirche in Deutschland, den Heidelberger Theologen Wilfried Härle.
Die SPD benannte die bei der Weltgesundheitsorganisation in Genf tätige Medizinethikerin Nikola Biller-Adorno, den Bonner Mediziner Linus Geisler, die am Berliner
Institut für Mensch, Ethik und Wissenschaft tätige Biologin und Ethikerin Sigrid
Graumann, die Karlsruher Verfassungsrechtlerin Marion Albers und den Hamburger
Psychologen Michael Wunder.
Für die FDP kommt der frühere Bundesjustizminister Edzard Schmidt-Jortzig.
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Die Grünen entsenden die Berliner Juristin Ulrike Riedel und den Tübinger katholischen Ethiker Dietmar Mieth. Die Kommission will sich schwerpunktmäßig mit diesen
Themen befassen: Verteilungsgerechtigkeit in der modernen Medizin und neue
Technologiefelder wie die Nanotechnologie.
Helmut Herles: Europaparlament setzt der Forschung Grenzen. Gegen Klonenund Embryonenmissbrauch. In: General Anzeiger vom 17.04. 2003, 2
Das Europäische Parlament hat die Forderung des Deutschen Bundestages nach
einem umfassenden Klonverbot positiv aufgegriffen. Während sich die Europäische
Kommission und die Bundesregierung laut dem Vorsitzendem der Arbeitsgruppe
Bioethik, Peter Liese, "bisher skeptisch bis ablehnend" gegenüber einem totalen
Klonverbot geäußert haben, will das Europaparlament sogar eine verbindliche EURichtlinie verabschieden. Diese würde dann gegenteiliges Nationalrecht brechen
können. Das Forschen an sogenannten überzähligen Embryonen wurde allerdings
vom Europaparlament ausdrücklich erlaubt.
Klonen
Andreas Sentker: Chaos im Kern der Herrentiere. War die ganze Aufregung um
geklonte Menschen umsonst? In: Die Zeit vom 16.04. 2003, 31 und
Joachim Müller-Jung: Das Klonen am Scheideweg. In: Frankfurter Allgemeine
Zeitung vom 11.04.2003, 38
Ernüchterung und Skepsis machen sich in der Klonforschung breit. Zu diesem
Schluss kommen in zwei Artikeln Andreas Sentker und Joachim Müller-Jung. Sentker
schildert die Forschungsergebnisse eines Klonexperimentes an Rhesusaffen in der
Universität of Pittsburgh School of Medicine. Dort wurde 716 Mal versucht, geklonte
Tiere aus Körper- und Embryozellen zu gewinnen. Alle Versuche an den genetisch
dem Menschen am Nächsten stehenden Primaten scheiterten. Es wurde von chaosartigen Reaktionen nach dem Eingriff berichtet. Die manipulierten Zellen konnten sich
nicht mehr richtig reorganisieren, die Regie des komplexen Zellteilungsprozesses fiel
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gänzlich aus. Die Autoren kamen zu dem klaren Ergebnis: Mit dem jetzigen Verfahren sei das reproduktive Klonen bei Primaten unmöglich.
Müller-Jung berichtet von ähnlich gescheiterten Versuchen nach der sogenannten
Dolly-Methode, die ihren Namen dem geglückten Klonexperiment am Schaf Dolly
verdankt.. In der neuesten Ausgabe der Zeitschrift „Science“ (Bd. 300, S.297) und in
der Zeitschrift „Development“ (Bd. 130, S.1673) schildert der aus Deutschland stammende Rudolf Jaenisch vom Massachusetts Institute of Technology eindringlich die
genetischen Komplikationen des Klonens. Viele Fachleute werten diese Artikel als
„Grab der modernen Klontechnik“. Jaenisch weist nach, dass das fehlerfreie Reprogrammieren der Gene unmöglich ist. Sogar bei genetisch niedrig strukturierten
Mäusen beträgt die „Erfolgsrate“ nur ein bis vier Prozent; dabei geraten Dutzende
wichtiger Gene der transferierten Zellkerne in Unordnung. Besonders die für die frühe
Entwicklung und die Herstellung einer gewissen Plastizität der Embryonalzellen zuständigen Gene sind Fehlregulationen unterworfen. 70 bis 80 solcher Gene hat Jaenisch bereits bei Mäusen gefunden. Bei den genetisch komplexer gebauten Primaten
(s.o.) und dem Menschen sind Klonversuche kläglich gescheitert. Immerhin konnten
33 Embryonen auf Affenweibchen übertragen werden, sie starben aber alle frühzeitig
ab. Die Hauptgründe: Die Chromosomen konnten sich nicht „ordentlich“ sortieren,
wichtige Proteine, die den Aufbau des Spindelapparates unterstützen, fielen völlig
aus. Das Ergebnis: Erbmaterial wird nicht gleichmäßig auf die Zellen verteilt, dieser
Umstand löst die geschilderten Fehlsteuerungen aus.
Biomedizin und Ethik
Otfried Höffe: Aufgeklärtes Eigenwohl. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom
19.04. 2003, 8ff
Welchen Weg soll die biomedizinische Forschung angesichts der Frage der moralischen Zulässigkeit verbrauchender Embryonenforschung einschlagen? Der Tübinger
Philosoph Otfried Höffe empfiehlt dazu als Gesprächspartner, Berater und Kontrollinstanz die philosophische Ethik. Er zeigt anhand von fünf historischen Epochen unterschiedliche Verhältnisbestimmungen von Forschung und Ethik auf, um die philosophische Ethik dann für die Gegenwart mit ihren neuen Fragestellungen gegenüber
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der Biowissenschaft zu positionieren. Im alten Orient stand Wissenschaft noch
selbstverständlich im Dienst menschlichen Lebens. Elitär organisiert, war sie humanitär, aber nicht gerecht (Phase 1). In der griechischen Kultur wird Wissen überprüfbar,
lern- und lehrbar und muss sich keinen Nutzenerwartungen stellen. „Forschung, die
sich in Niemandes Hand begibt, hat einen humanen und zugleich moralischen Wert.“
Dies wird am Beispiel antiker Medizin deutlich. Das oberste Gebot: Der Mensch ist
höchstes Gesetz (Salus aegroti suprema lex) wird ergänzt durch das (zu kontrollierende) Verbot zu schädigen (nil nocere) (Phase 2). Christentum, Judentum und Islam
unterstellten alle natürliche Wissbegier einer (göttlich geoffenbarten) Weisheit. Zum
Wissenwollen tritt das Gespräch mit der forschungslegitimierenden Ethik (Phase 3).
Die frühe Neuzeit lebt vom „Abenteuer des Entdeckens“, aber auch vom Experiment
und vom Evidenzdenken. Wer allerdings experimental in menschliches Lebens eingreift, lädt Verantwortung auf sich. Es bedarf daher einer Kontrollmoral, die ihrer richterlichen Unparteilichkeit treu bleiben muss. Ethik übernimmt in dieser vierten Phase
die Rolle der Ideologiekritikerin, die (Allmachts-)Illusionen der humanitären Versprechen von Forschung kritisiert. Heutzutage (Phase 5) werden die Folgen von naturwissenschaftlichen Experimenten auch lebenspraktisch gesehen unumkehrbar. Ethiker könnendie daraus erwachsene „Verantwortung benennen und als Teil der Kontrollethik eine Risikoethik entwickeln“. Für diese Risikoethik skizziert Höffe ein Verlaufsmuster : „Zunächst erkunde man, welche Arten von Gefahren drohen. Sodann
überlege man, ob die noch unbekannten und daher unheimlichen Gefahren sich in
bekannte, also überschaubare Risiken umwandeln... Nicht zuletzt ist nach dem Preis
zu fragen, zu dem die Gefahren, wenn sie überhaupt beherrschbar sind, tatsächlich
beherrscht werden.... Zu berücksichtigen sind auch personale, soziale und kulturelle,
selbst ästhetische Kosten.“ Eine solche Risikoethik setzt nicht nur auf das persönliche Gewissen des Forschers, sondern auch auf soziale Vorkehrungen, die vom aufgeklärten Eigenwohl der Forscher getragen werden. Diese moralische Selbstbindung
an berufs- und standesethische Regeln wird ergänzt durch Sanktionen wie die Reputation durch Kollegen. Wo die Selbstkontrolle an Grenzen stößt, bedarf es auch national und international gültiger Regeln. Ethik warnt Forschung, wenn sie unseriös wird
oder zu werden droht. Sie warnt insbesondere vor einem „humanitaristischen Fehlschluss“, wenn biomedizinische Forschung schwerkranken Patienten mehr an Hilfen
verspricht als sie einlösen kann. Dabei bringt Ethik das Gebot der Menschenwürde
auf den Begriff; sie unterscheidet eine einander geschuldete Rechtsmoral und die
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„freiwillige Mehrleistung einer Tugendmoral“ und stellt fest: „Im Namen der Tugendmoral darf man nicht die Rechtsmoral verletzen, vor allem darf man im Namen des
Hilfsgebotes kein menschliches Leben töten.“
Rezensionen
Dietmar Mieth: Was wollen wir können? Ethik im Zeitalter der Biotechnik. Freiburg i. Br./Basel/Wien: Herder, 2002. 532 S., Geb., €35, - ; CHF 62,50.
Unter dem Titel Ethik im Zeitalter der Biotechnik kündigte der Verlag das Buch an.
Wenn Mieth diesem „eigentlichen Titel“ (Vorwort) die Frage voranstellt: Was wollen
wir können?, so nennt er damit das Leitmotiv seiner Überlegungen. Dass wir nicht
alles dürfen, was wir können (so 1980 die Eingangsthese einer Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz zur Umweltethik), ist uns längst aufgegangen. Aber auch
die Frage nach dem Sollen greift für Mieth zu kurz, denn „was wir tun sollen, muss
unser Wollen werden - sonst hat die Ethik keine Chance“. Dieses Motiv bildet den
roten Faden des Werkes: das ethisch Richtige auf dem Feld biotechnischen Handelns zu reflektieren, es als das Plausible zu begründen, Erfahrungen freizulegen,
Fehlschlüsse aufzudecken, sich für die angemessenen politischen und rechtlichen
Rahmenbedingungen einzusetzen.
Damit ist ein weiter Horizont abgesteckt, den Mieth in fünf Perspektiven angeht. Der
erste Teil beschreibt die Herausforderungen, die die Möglichkeiten des biotechnisch
Machbaren uns aufnötigen. Es ist die interdisziplinäre Verflechtung von Wissenschaft, Technik und Ökonomie, die sich insbesondere in der „Entdeckung neuer
Genwelten“ und in den Eingriffsmöglichkeiten am Beginn und am Ende des Lebens
zuspitzt. Schon in diesem Zusammenhang begegnen zwei Gedanken, die für das
Buch bestimmend sind und das Leitmotiv des Verfassers profilieren. Das ist zum einen jene (im Verlauf das Buches mehrfach wiederholte ) „ethische Regel, in der man
die Verantwortung zusammenfassen kann: Man soll Probleme nicht so lösen, dass
die Problemlösung mehr Probleme schafft, als sie löst“ (9). Diese Regel wendet sich
gegen die „Durchbrechermentalität“, die darauf setzt, dass sich die Probleme schon
irgendwann und irgendwie lösen werden - ungeachtet der Endlichkeit und Fehlerfähigkeit des Menschen. Der andere für das Buch bestimmende Gedanke ist der, dass
die besondere Herausforderung der Biotechniken in ihrer sozialethischen Dimension
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liegt. Was individuell durchaus verantwortbar sein mag (etwa die künstliche Befruchtung bei einer Eileiterbehinderung), hat - ist die Technik erst einmal etabliert - gesellschaftliche Folgen (z.B. ,überzählige‘ Embryonen), die zu einer vorherigen sozialethischen Abwägung zwingen.
Diesen sozialethischen Überlegungen im Kontext der Biotechnik widmet sich der
zweite Teil. Bei der Reflexion der ethischen Urteilsfindung plädiert Mieth für eine
„konduktive Methode“ (66f.), d.h. für ein „zusammenführendes“ Verfahren, in dem die
Kenntnis der Sachverhalte mit der Prüfung der Sinnorientierungen und der diesen
entsprechenden Wertfeststellungsurteile vermittelt, die Handlungsalternativen rational dargestellt und schließlich die Prioritäten abgewogen werden. Auf der Grundlage
dieses methodischen Ansatzes werden Argumentationen in der anwendungsbezogenen Ethik (Medizin, Humangenetik) geprüft, wobei der Ethikberatung im politischen
Raum besondere Bedeutung zukommt. „Das Problem, dem wir uns stellen müssen“,
resümiert Mieth, „ist folgendes: Welche Lebenswelt wollen wir in der Zukunft haben?“
(106)
Ist das Interesse des zweiten Teils eher formalethisch, so dominieren im dritten Teil dem mit Abstand umfangsreichsten - die materialethischen „heißen Eisen“ der gegenwärtigen Biomedizin: Fortpflanzungsmedizin generell, dann Genomanalyse und
damit verbunden Pränataldiagnostik, Präimplantationsdiagnostik, genetische Testverfahren und Gentherapie, schließlich Klonen und Forschung an embryonalen Stammzellen, klinische Versuche am Menschen. Die im zweiten Teil gewonnene Perspektive bleibt jedoch formal auch hier leitend, etwa wenn es zur künstlichen Befruchtung
heißt: „Die ethische Frage ist hier freilich nicht: kann man dies im Einzelfalle tolerieren?, sondern: welchen Anspruch auf Allgemeingültigkeit kann diese Verschiebung
erheben? Die Ausnahme bleibt ja dort keine Ausnahme, wo Bedürfnisse sozialstaatlich anerkannt werden.“ (122)
Wesentlich kürzer gefasst ist der vierte Teil, in dem es um Ethik in der Biotechnik
geht. Irritierend ist dabei der Begriff der Biotechnik, der hier in Abgrenzung zur Biomedizin (Teil 3) verwandt und deshalb die nicht auf den Menschen bezogenen Anwendungsbereiche meint, wie „grüne“ Biotechnologie, Tierethik, Biopatentierung.
Damit entsteht freilich ein Widerspruch zu dem Biotechnik-Begriff, der im Titel des
Buches begegnet. Offensichtlich unterscheidet Mieth zwischen einem engeren und
einem weiteren Biotechnik-Verständnis, ohne dies explizit zu sagen. Das dem Buch
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beigefügte Glossar klärt die Frage nicht direkt, führt aber (unter „Biotechnologie“ bzw.
„Bioethik“) auf die richtige Spur.
Der fünfte Teil knüpft unter dem Stichwort Biopolitik wieder an die sozialethischen
Überlegungen des zweiten Teils an. Vor welcher rechtlichen und ethischen Verantwortung die politischen Instanzen stehen, wird insbesondere an der „Menschenrechtskonvention des Europarats zur Biomedizin“ (als „Bioethik-Konvention“ bekannt)
und an der „UNESCO-Deklaration über das menschliche Genom und die Menschenrechte“ gezeigt. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede im rechtlichen und ethischen Bewusstsein der europäischen Länder kommen als entscheidender Problemhintergrund zur Sprache.
Natur, Menschenbild und Menschenrechte ist der abschließende sechste Teil überschrieben, der die gesellschaftlichen Trends mit der christlich-theologischen Perspektive konfrontiert. Hier werden die inhaltlichen Kernpunkte bioethischen Denkens (etwa Natur und Schöpfung, Endlichkeit des Menschen, Menschenbild, Menschenwürde) wie auch die methodischen Fragen nach einer angemessenen Argumentationsweise („Autonome Moral im christlichen Kontext“) von ihren theologisch-ethischen
Grundlagen her bedacht. Ein Ausblick in Möglichkeiten interkultureller Ethik am Beispiel der Biotechnologie setzt den Schlusspunkt.
Mehr als drei Jahrzehnte arbeitet Dietmar Mieth intensiv an Fragen der Bioethik; dies
spiegelt sich im Materialreichtum dieses Werkes ebenso wie in der differenzierten
Darstellung und Beurteilung der Problemstellungen, die ein einzelner heute kaum
mehr zu überschauen vermag. Mieths differenziertes Problembewusstsein resultiert
aus seiner langjährigen Arbeit als Sprecher des Tübinger Interfakultären Zentrums
für Ethik in den Wissenschaften und auf seine Mitwirkung in renommierten Beratergruppen, etwa des Europarats und der UNESCO. Diese interdisziplinäre Erfahrung
macht das Buch nicht nur zu einem Kompendium, das die bioethische Reflexion auf
Jahre hinaus bestimmen wird, sie prägt auch seinen Charakter als ein Werk des Dialogs. Die engagierte Auseinandersetzung, der sich Mieths Problembewusstsein wie
seine Lösungsansätze verdanken, wird auf zahlreichen Seiten des Buches lebendig,
wo er von Disputen und Kontroversen berichtet (etwa 22, 74, 89, 153, 214, 236, 312,
480, 485, 489, 503, 506).
Freilich hätte mehr getan werden können, um dem Leser den Durchblick durch die
komplexen Zusammenhänge zu erleichtern. Warum gibt es neben dem kurzgefass-
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ten Inhaltsverzeichnis, das den Überblick ermöglicht, nicht auch ein vollständiges,
das alle Kapitelüberschriften enthält und so bei der Suche nach einzelnen Aspekten
hilft? Warum neben dem Glossar nicht auch ein Namens- und ein Sachregister, das
ohne Mühe das Auffinden von Personen und Themen erlaubt?
Unabhängig von solchen Hinweisen gilt: Mieths Werk ist in Inhalt und Form ein Markstein im bioethischen Diskurs. Mag sein, dass manchem Leser ein „Lehrbuch“ im
herkömmlichen Sinn lieber wäre, in dem die ethischen Handlungsnormen aus Prinzipien deduziert werden - der Sache angemessener ist in jedem Fall der hier verwandte diskursive Argumentationsstil.
Bruno Schmid
Georg Lind: Ist Moral lehrbar? Ergebnisse der modernen moralpsychologischen Forschung. 2. überarb. Aufl. Berlin: Logos Verlag, 2000, brosch., 319 S.,
€ 23,-.
Georg Lind: Moral ist lehrbar. Handbuch zur Theorie und Praxis moralischer
und demokratischer Bildung (EGS-Texte). München: Oldenbourg Schulbuchverlag, 2003, brosch., 157 S., € 18,90.
Hinter dem Frage-Antwort-Schema der beiden Buchtitel verbirgt sich keineswegs
Phantasielosigkeit, sondern ein gelungenes Wechselspiel theorie- und praxisbezogener Ansätze. Das 2000 erschienene Werk Ist Moral lehrbar? ist die zweite Auflage
einer Untersuchung, die der Autor erstmals 1993 unter dem Titel Moral und Bildung
veröffentlicht hatte. Georg Lind, Psychologe an der Universität Konstanz, befasst sich
seit langem mit der Vertiefung und Präzisierung der Forschungsergebnisse der Piaget-Schule. Das Fragezeichen im Buchtitel ist Indiz intensiver Nachfrage nach dieser
kognitiv-entwicklungsorientierten Theorie, die Lind kritisch reflektiert und zu einer
„Bildungstheorie der Moralentwicklung“ weiterführt. Linds Grundthese ist: Moralische
Entwicklung und moralisches Verhalten sind das Ergebnis von Bildungsprozessen,
nicht von Sozialisation oder (biologischer) Reifung. Im moralischen Urteil verbinden
sich dabei affektive und kognitive Aspekte; sie bilden unterscheidbare, aber untrennbare Eigenschaften eines Verhaltensmusters. Linds empirische Untersuchungen bestätigen hier Lawrence Kohlbergs Hypothese einer affektiv-kognitiven Parallelität.
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Dessen Methode - das Interview zum moralischen Urteil - konnte diesen Nachweis
freilich noch nicht liefern, da die Struktur der individuellen Urteilsmuster bei der Auswertung nicht sichtbar wird. Erst die Weiterentwicklung zum „MUT (Moralisches Urteil-Test)“ durch eine Forschungsgruppe unter Beteiligung Linds in den Jahren nach
1970 ergab ein geeignetes Messinstrument.
Ebenfalls kritisch setzt sich der Verfasser mit Kohlbergs Theorie auseinander, wonach sich das moralische Urteil stets von tieferen zu höheren Stufen entwickle, invariant sei und keinen Rückfall auf eine frühere Stufe kenne. Gestützt auf empirische
Studien, hält er eine Stagnation bis hin zur Regression der moralischen Urteilskompetenz dort für möglich, wo entsprechende Bildungsprozesse fehlen. Die Korrelation
von Bildungserfahrungen mit moralischer Entwicklung ist Chance und Aufgabe
zugleich: „Institutionalisierte Bildungsprozesse“, folgert Lind, „sind eine notwendige
und hinreichende Bedingung für die Entwicklung der moralischen Urteilsfähigkeit
beim einzelnen“ (255). Im Schlusswort plädiert er dafür, in Bildung und Erziehung
nicht einfachhin - wie heute oft zu hören - die „Identifikation mit Werten“ zu fördern
(gewaltbereite Jugendliche identifizieren sich z.B. durchaus mit Werten - aber mit
welchen!), sondern das Verstehen des Sinns solcher Werte, ihre differenzierte und
integrierte Anwendung - mit Th. W. Adornos Worten: die „Kraft zur eigenen Reflexion,
zum unabhängigen Denken, zum Nicht-Mitmachen“ (266).
Der umfangreichen, mit Daten gespickten theoretischen Legitimation seines Ansatzes lässt Lind nun 2003 ein deutlich schmaleres „Handbuch“ folgen, das sich an Studierende und Lehrende wendet und unmittelbar auf Unterrichtspraxis zielt. Im ersten
Teil fasst er auf gut 40 Seiten die theoretischen Grundlagen seiner Bildungstheorie
der Moral nochmals zusammen. Lind holt dabei im Einzelfall auch weiter aus, etwa
bei der Begriffsbestimmung von Moral; im Kern geht es freilich um die These der moralischen Urteilsfähigkeit nach Kohlberg und die damit verknüpften Bildungschancen.
Dann werden zwei didaktische Vorschläge Kohlbergs aufgegriffen und von Lind eigenständig weiterentwickelt: die Dilemmadiskussion (Teil 2) und die Demokratische
Schulgemeinschaft (Teil 3). Ziele, didaktische Prinzipien, Vorbereitung und Durchführung der „Konstanzer Version“ der Dilemmadiskussion werden praxisnah vorgestellt.
Dass bioethische Dilemmata für den Unterricht in der Sekundarstufe besonders geeignet sind, zeigen die Beispiele, die sich im Anhang finden und über deren Einsatz
der Verfasser berichtet: Organentnahme, Embryonenspende, „DNA nach Wunsch“,
riskante Hilfe für einen AIDS-Kranken... - Den Ansatz einer Demokratischen Schul-
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gemeinschaft, unter dem Namen Just Community ebenfalls von Kohlberg initiiert, hat
Lind in den 1980er Jahren in Nordrhein-Westfalen u.a. zusammen mit Fritz Oser und
Wolfgang Althof erprobt und führt ihn nun kreativ weiter.
Fazit: „Ist Moral lehrbar?“ Ja, „Moral ist lehrbar“! Auf die Anfrage des ersten Werkes,
das sich um die theoretischen Fundamente müht, folgt im zweiten Buch eine ermutigende und hilfreiche Praxisanleitung zum ethischen Lernen in Bildungseinrichtungen.
Bruno Schmid
Tagung
Bericht von der Tagung „Shareholder Value & Public Value. Unternehmerische
Verantwortung für das Gemeinwohl“ der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius, der Eberhard von Kuenheim Stiftung und der Evangelischen Akademie Tutzing vom 26. bis 28. Februar in der Evangelischen Akademie Tutzing.
Die Tagung befasste sich auf hohem Niveau und mit prominenter Besetzung mit der
sozialen Verantwortung von Unternehmen und Unternehmern. Standen in der ersten
Hälfte wirtschaftsethische Fragestellungen im Vordergrund, konzentrierte sich die
zweite Hälfte auf die Arbeit von Stiftungen als besonderen Instrumenten der Förderung des Gemeinwohls durch Unternehmen.
Den Auftakt bildete eine Podiumsdiskussion zum Thema „Gemeinsinn unternehmen.
Freies Unternehmertum und seine Verantwortung“. Teilnehmer waren Prof. Karl Homann (Lehrstuhl für Philosophie und Ökonomik an der Universität München), Eberhard von Kuenheim (Vorstandsvorsitzender der Eberhard von Kuenheim Stiftung von
BMW) und Prof. Jürgen Friedrich Strube (Vorstandsvorsitzender BASF Ludwigshafen). Alle drei zeichneten ein ausgesprochen positives Bild der Wirtschaft in ihrer Bedeutung für die soziale Entwicklung auf internationaler Ebene. Den gemeinsamen
Nenner bildete die Voraussetzung eines aufgeklärten Eigeninteresses, das an einem
dauerhaften wirtschaftlichen Erfolg interessiert sei, und diesen durch eine Balance
von sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Interessen zu erreichen suche.
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Das den wirtschaftenden Subjekten zu unterstellende Streben nach Vorteil, so Karl
Homann, müsse nicht nur auf Kosten Anderer gehen, sondern könne sich auch zu
deren Gunsten auswirken. So liege es schon aus rein wirtschaftlichen Gründen nahe,
in die soziale Entwicklung derjenigen zu investieren, die sich aufgrund mangelnder
Kaufkraft und/oder mangelnder Bildung ,außerhalb des Marktes‘ befänden, da hier
ein „gewaltiges Konsumpotenzial“ brach liege. Dabei gehe es zunächst um die Etablierung effizienter Verwaltungen und Steuerungssysteme sowie um die Implementierung von Rechtsstaatlichkeit. Um diese Ziele zu erreichen, müsse es den Unternehmen ermöglicht werden, nachhaltige, d.h. zeitlich unbegrenzte und ,sozial ungestörte‘
Strategien zu entwickeln. Auch der Sozialstaat sei als Investition in Nachhaltigkeit
durch die Unternehmen zu verstehen. Entscheidende Punkte seien dabei Deregulation und Transparenz. Dem Einwand, dass das mit der Deregulation verbundene Vertrauen auf die Netzwerke der Wirtschaft potenziell undemokratisch sei, hielt Homann
entgegen, eine nachträgliche Kontrolle durch die Bürger sei möglich und ausreichend.
Jürgen Friedrich Strube betonte die Bedeutung von Auslandsinvestitionen für die internationale Entwicklung. Jene seien als Export von Management und Werten zu begreifen. Der derzeitige Abschwung biete den Unternehmen eine Chance für unspektakuläre Kontinuität und für das Anschieben langfristiger Investitionen. Die Macht der
Finanzanalytiker an den Börsen, so Eberhard von Kuenheim, resultiere aus der
Schwäche der Unternehmen, langfristige Strategien zu entwickeln und zu vertreten.
Bezeichnend für die öffentliche Diskussion sei die mangelnde Wertschätzung des
Unternehmers als eines Menschen, der etwas tue und die von ihm verfolgten Ziele
durch seine „ansteckende Energie“ in Gang bringe. Zu diesem Bild gehöre die Fähigkeit, nach vergleichsweise kurzer Analyse Möglichkeiten wahrzunehmen, die sich
nach einer langen und ausführlichen Analyse später nicht mehr bieten würden.
Auch die folgenden Vorträge betonten die positive Rolle der Wirtschaft als Motor sozialer Entwicklung und Emanzipation. Prof. Peter L. Berger und Anne Bernstein befassten sich am Beispiel Südafrikas mit dem Konzept des „invisible corporate citizenship“. Diesem Konzept zufolge fungieren Unternehmen als zentrale Akteure sozialer Entwicklung innerhalb einzelner Gesellschaften. Wie die Bürger eines Staates
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seien sie an der Förderung des Gemeinwohls und an der Zukunft ihres Landes orientiert, agierten jedoch eher im Verborgenen. Diese wichtige Leistung der Unternehmen kollidiere häufig mit der öffentlichen Meinung über die Wirtschaft. Gemäß einer
verbreiteten wirtschafts- bzw. kapitalismuskritischen Haltung erscheine die Wirtschaft
als „big bad beast“ (Bernstein) und soziale Investitionen würden allenfalls als eine Art
von „Reparationszahlungen“ betrachtet (Berger).
Berger vertrat die These, die Wirtschaft sei in der Lage „soziale Räume zu öffnen“,
d.h. wesentlich zur Entwicklung zivilisatorischer Grundlagen bis hin zur Etablierung
demokratischer Strukturen beizutragen. Bernstein konkretisierte diese These anhand
der Rolle, die südafrikanische Wirtschaftsunternehmen bei der Überwindung der Arpartheid und für das Aufbrechen von Geschlechterrollen gespielt hätten. Schon lange
vor der Abschaffung des Apartheidsystems hätten sie betriebsintern die Gleichbehandlung von Weißen und Schwarzen sowie von Männern und Frauen durchgesetzt.
Ein bürgerliches Engagement von Unternehmen zum Wohle der Allgemeinheit (corporate citizenship) sei damit nicht nur möglich, sondern finde bereits seit langem
statt.
In der anschließenden Diskussion wurde davon ausgegangen, dass die genannten
Leistungen der Wirtschaft für das Allgemeinwohl um so effektiver seien, je mehr es
an zivilisatorischen und demokratischen Grundlagen fehle. Daraus ergab sich zum
einen die Forderung einer Ausdifferenzierung des Konzepts des corporate citizenship
für Entwicklungsländer und Industrienationen. Im Hinblick auf die Entwicklungsländer
wurde die Frage aufgeworfen, ob Entwicklung und internationale Zusammenarbeit
von internationalen Unternehmen besser als durch den Staat angeschoben werden
könne – sofern sie etwa vom Staat und von Nichtregierungsorganisationen überwacht würde. Zweifel an der Tragfähigkeit des Konzeptes des invisible corporate citizenship richteten sich gegen die mangelnde Berücksichtigung einer spezifisch ethischen Orientierung. Auch der Drogenhandel in Südamerika trage zur Entwicklung
des Landes und zum Aufbau von Schulen und Krankenhäusern bei. Das Kriterium
des sozialen Engagements müsse daher eine ethische Bewertung der Unternehmensziele wie der Geschäftspraktiken einschließen.
Unter dem Titel „Gerechtigkeit und globaler Wettbewerb“ vervollständigte Prof. Josef
Wieland (Wissenschaftlicher Direktor des Zentrums für Wirtschaftsethik (ZfW GmbH)
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Konstanz) das Bild, indem er mit dem Konzept des Wertemanagements eine öffentlichkeits- bzw. marketingorientierte Variante des Ansatzes des corporate citizenship
vorstellte (visible corporate citizenship). Der Begriff des ,Sichtbaren‘ zielt dabei auf
die beabsichtigte öffentliche Wahrnehmung des unternehmerischen Engagements.
Die Maxime lautet: ,Tue Gutes und rede darüber‘.
Wieland begann mit einem großangelegten Überblick über die Unternehmensethik.
Diese untergliedere sich in die drei Ebenen von „Personen“, „System“ und „Organisationen“. Die Ebene der Personen könne als Bereich der Tugendethik charakterisiert
werden, in dem es um persönliche Motive (wie Gewinnerzielung, Egoismus, Altruismus etc.) und Werte (z.B. Gerechtigkeit, Fairness, Vertrauenswürdigkeit) gehe. Der
Tugendethik sei der Bereich einer „Governanceethik“ nebengeordnet, die sowohl die
Ebene des Systems als auch die Ebene der Organisationen umfasse. Während die
Tugendethik auf persönliche face-to-face-Beziehungen ausgerichtet sei, habe es die
Governanceethik mit Institutionen zu tun. Die Gegenüberstellung von Tugendethik
und Governanceethik sei nicht zuletzt deshalb wichtig, weil beiden Bereichen verschiedene Kriterien zugrunde lägen. Gehe es im Bereich der Tugendethik um Achtung und Missachtung, so müsse in der Governanceethik nach Anreiz- und Präventionsmitteln gesucht werden. Wieland unterschied hier zwischen der informalen Institution der Kultur und den formalen Institutionen von Staat, Verfassung, Unternehmen
oder Organisation. Als Beispiel für die unternehmensethische Bedeutung der kulturellen Dimension verwies Wieland darauf, dass es etwa in China keine ausgeprägte
Vertragskultur gäbe. Ein Unternehmen könne sich daher nur begrenzt auf mündliche
Absprachen verlassen. Entscheidend für den letztendlichen Geschäftsabschluss seien die zwischenmenschlichen Beziehungen.
Im Hinblick auf die formalen Institutionen der Governanceethik sei eine Aufgabenverschiebung vom Staat zum international agierenden Unternehmen festzustellen. Auf
der einen Seite bilde ein starker Staat durch die Funktionen der Gesetzgebung, der
Etablierung von Rechtssicherheit und durch Investitionen eine zentrale Voraussetzung der Zivilgesellschaft. Auf der anderen Seite stelle sich jedoch die Frage, ob einige der traditionell dem Staat zugeschriebenen Aufgaben nicht besser bzw. effizienter von Unternehmen gelöst werden könnten. Im Zuge der Globalisierung seien weltumspannende Wertschöpfungsketten entstanden, die durch eine Kooperation bereits
in der Produktion gekennzeichnet seien. Es habe ein Wechsel vom Welthandel, d.h.
der weltweiten Vermarktung national hergestellter Produkte zur Weltproduktion, d.h.
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der weltweiten Vermarktung international hergestellter Produkte stattgefunden. In der
durch diesen Wechsel gekennzeichneten Kooperationsökonomie könne der Konkurrent von heute der Kooperationspartner von morgen sein. Die in diese Form der Ökonomie eingebundenen Unternehmen verfügten über ein engmaschiges Netz von
Wirtschaftsbeziehungen – und diese Vernetzung versetze sie in die Lage, schnell
und effektiv auf internationaler Ebene zu agieren.
Der zentrale Ansatzpunkt für eine nach moralischen Gesichtspunkten ausgerichtete
Unternehmensethik liegt laut Wieland in dem Konzept eines Wertemanagements.
Dessen Aufgabenbereich werde durch die „drei Ws der Verantwortung“: das Wofür,
das Wovor und das Wieviel abgesteckt. Der Erfolg hänge davon ab, ob es einem Unternehmen gelinge, eine breite Öffentlichkeit von der Legitimität seiner Produkte zu
überzeugen. Um einen solchen Erfolg zu ermöglichen, müsse schon im Vorfeld unbedingt deutlich gemacht werden, wo die Grenzen der Verantwortung liegen. Das
Unternehmen müsse so klar und so überzeugend wie möglich darlegen, für welche
Folgen und bis zu welchem Grad es Verantwortung übernehmen könne. Die damit
geforderte Selbstbindung wirke zudem nur dann überzeugend, wenn sich ihr Prozesse der Selbsterzwingung anschließen. Wertemanagment könne nur dann erfolgreich
sein, wenn es sich über vier Prozessstufen erstrecke. Der bereits etablierten, aber
häufig wirkungslosen Formulierung von Grundwerten (1) und Leitlinien (2) müssten
konkretisierende operative Dokumente (3) bis hin zu eindeutigen Arbeitsanweisungen (4) folgen. Bindung und Erzwingung dürften sich zudem nicht nur auf das eigene
Unternehmen beschränken, sondern müssten über entsprechende Verträge auch an
Subunternehmer weitergegeben werden. Sofern ein Unternehmen die sozialen Aufgaben eines Bürgers oder gar Teilaufgaben des Staates übernehme, solle es dies
offen und öffentlichkeitswirksam tun (visible corporate citizenship).
Angesichts der von Wieland offensiv betonten Werbewirksamkeit des Wertemanagements als Strategie eines visible corporate citizenship kamen bei einigen Teilnehmern Zweifel auf, ob es sich bei diesem Modell tatsächlich um ein wirtschaftsethisches Konzept handele. In der Tat spielen Gesinnung oder moralische Einstellung
bei Wieland keine große Rolle. Tugendethische Überlegungen kommen allenfalls auf
der Ebene des Managements zum Tragen, da den Managern eine gewisse Vorbildbzw. Glaubwürdigkeitsfunktion zugesprochen wird. Als Modell einer von oben nach
unten gerichteten Governanceethik soll das Wertemanagement aber Strukturen
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schaffen, die ein moralisches Verhalten ermöglichen. Seine starke Ausrichtung an
wirtschaftlichen Zielen und Denkweisen könnte es attraktiv für Unternehmen machen.
Wieland bezeichnete es als Fehler, die Unternehmensethik bei der Personalentwicklung zu belassen, da diese innerhalb des Unternehmens nicht über die notwendige
Macht zur Umsetzung der erforderlichen Maßnahmen verfüge. Faktisch sei dies daher mit einer „Abwertung des Themas“ verbunden. Ein überzeugendes Wertemanagement müsse von den Vorständen selbst angegangen und überzeugend umgesetzt
werden.
Weniger überzeugend fiel der Vorschlag von Prof. Birger P. Priddat (Lehrstuhl für
Volkswirtschaft und Philosophie der Universität Witten/Herdecke) für eine neue Verteilungsstrategie sozialen Kapitals aus. Im Anschluss an eine Vorstellung verschiedener traditioneller Theorien des Gemeinsinns schlug er zunächst eine Begriffsrevision vor. Ein aktuelles Verständnis müsse berücksichtigen, dass sich gemeinsame
soziale Orientierung heute weniger über eine bestimmte Grundhaltung als über einzelne Kooperationsprojekte und einen lediglich kurzfristigen Konsens verwirkliche. In
diesen Projekten gehe es um die Erzeugung von Kollektivgütern, d.h. Gütern, die von
einzelnen Privatpersonen gar nicht oder zumindest nicht zu rentablen Bedingungen
erzeugt werden könnten. Wie die meisten seiner Vorredner plädierte auch Priddat für
einen Rückzug des Staates. Die Bürger sollten steuerlich stark entlastet werden und
selbst darüber entscheiden, in welche sozialen Projekte sie einen vorher festgelegten
Teil ihres Einkommens als sogenanntes soziales Kapital investierten. Priddat ging mit
seinen Liberalisierungsvorschlägen sogar so weit, die Steuerhoheit nahezu vollständig den Kommunen zu übertragen, was zu einer Konkurrenz der Gemeinden um
Steuerzahler durch möglichst günstige Steuersätze führen solle. In der Diskussion
wurde dieses Modell scharf kritisiert: Neben der Gefahr sozialer Schieflagen wurde
bemängelt, dass jeder Bürger mit der Entscheidung über die Verwendung seines sozialen Kapitals nicht unerhebliche unternehmerische Fähigkeiten an den Tag legen
müsse – eine Anforderung, der viele weder gerecht werden könnten noch wollten.
Die weiteren Vorträge und die abschließende Podiumsdiskussion hatten die Arbeit
von Stiftungen als besonderen Instrumenten zur Förderung des Gemeinwohls durch
Unternehmen und Privatpersonen zum Thema. Prof. Michael Göring (ZEIT-Stiftung)
sprach Stiftungen eine zentrale Rolle für die Organisation von Gemeinsinn und sozia-
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lem Kapital zu. Sie seien damit ein wesentliches Element der Bürgergesellschaft. Mit
Klaus-Dieter Trayser (Plansecur-Stiftung) und Karl Ludwig Schweisfurth (Schweisfurth-Stiftung) berichteten zwei Gründer von Stiftungen anschaulich von ihren persönlichen Motiven und Erfahrungen. Beide verbindet eine christliche Grundhaltung und
der geglückte Vorsatz, das in einem nach gängigen Mustern operierenden Unternehmen erwirtschaftete Kapital nicht nur für eine Stiftung, sondern auch für ein neues, nach alternativen, d.h. nachhaltigen Prinzipien organisiertes Unternehmen einzusetzen. Den fachspezifischen, aber instruktiven Vorschlägen von Prof. Peter Rawert
(Hamburg) für notwendige Reformen des Stiftungsrechts folgte in der Schlussdiskussion ein eher allgemeiner Schlagabtausch von Bundestags- und Landtagsabgeordneten von SPD, CSU, FDP und den Grünen über die Rolle des Staates in der Sozialpolitik.
Charakteristisch für die Tagung war zum einen das der Wirtschaft entgegengebrachte Vertrauen hinsichtlich von Anstößen für soziale Entwicklung, zum anderen eine
letztlich elitäre Auffassung von Wirtschaftsethik, die vorwiegend auf die Managementebene zielt. Es bleibt jedoch fraglich, ob von oben ,verordnete‘ sogenannte topdown Strategien auch bis in die unteren Unternehmensebenen reichen. Institutionelle
Freiräume für moralisches Handeln müssen nicht nur geschaffen, sondern auch genutzt werden.
Die an der Tagung beteiligten Stiftungsgründer und Wirtschaftsführer lieferten ermutigende Beispiele für ein von persönlicher Überzeugung getragenes Engagement für
das Gemeinwohl. Dass sie allesamt älter als 60 waren, nährte allerdings die Befürchtung, es könne sich um einen vom Aussterben bedrohten Unternehmertypus handeln.
Eike Bohlken