Elternkurse als Methode der Gewaltprävention in Familien mit

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Elternkurse als Methode der Gewaltprävention in Familien mit
Fachhochschule Köln
Fakultät 01
Elternkurse als Methode der Gewaltprävention
in Familien mit türkischem Migrationshintergrund
Bachelor Thesis
Sebastian Gewande
Erstgutachterin: Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler
Zweitgutachter: Prof. Dr. Winfred Kaminski
Eingereicht am _____
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
3
2. Türken in Deutschland
5
2.1. Geschichte der Türken in Deutschland
5
2.2. Situation der Türken in Deutschland
6
3. Struktur und Interaktion in der türkischen Familie
8
3.1. Hierarchie innerhalb der Familie
9
3.2. Rolle des Vaters
9
3.3. Rolle der Mutter
10
3.4. Rolle des Sohns
12
3.5. Rolle der Tochter
13
4. Wertvorstellungen und Normverständnis in der Erziehung
15
4.1. Der Einfluss des Islam
15
4.2. Verschiedene Erziehungsstile
16
4. 3. Sevgi, Şeref, Namus, Saygi – Grundwerte der Erziehung
17
4.4. Gewalt in türkischen Familien
20
5. Traditionelle Strukturen
25
5.1. Die Beschneidung
25
5.2. Die Eheschließung
27
6. Schlussfolgerung
29
7. Elternkurse als Präventionsinstrument
31
7.1. Grundlagen des Elternkurses „Starke Eltern – Starke Kinder“
31
7.2. Inhalt und Methodik der Kursstunden
32
8. „Güçlü Anne- Babalar – Güçlü Çocuklar"
34
8.1. Anforderungen an Kurse für türkische Eltern
34
8.2. Grundlagen des Elternkurses
36
8.3. Inhalt und Methodik der Kursstunden
37
8.4. Übertragung der Anforderungen an türkische Elternkurse auf
37
„Güçlü Anne- Babalar – Güçlü Çocuklar"
9. Konklusion
39
10. Literaturverzeichnis
41
Anhang I: Zusammenfassung der Kursstunde vom 7. April 2008
43
Anhang II: Interview mit dem Kursleiter von „Güçlü Anne- Babalar – Güçlü
Çocuklar", Herrn Hayri Argav
45
2
1. Einleitung
Türkische Familien, Familien türkischer Herkunft sind seit Jahrzehnten Bestandteil
der deutschen Gesellschaft. Vorurteile und Fremdenhass hat sie teilweise in die
Isolation geführt, teilweise haben sie sich integriert, teilweise auch assimiliert.
Während ich diese Zeilen schreibe, wird die durch Massenmedien implementierte
öffentliche Diskussion über gewalttätige Jugendliche, besonders gewalttätige
moslemische Jugendliche und noch spezieller gewalttätige türkische Jugendliche
geführt. Der Brand in einem von Türken bewohnten Haus in Ludwigshafen brachte
weitere Differenzen in das deutsch-türkische Verhältnis. Der daraus resultierende
Besuch des türkischen Ministerpräsidenten Erdoğan in Deutschland und seine
Rede in Köln, in denen er die in Deutschland lebenden Türken dazu aufrief, sich
zu integrieren, nicht aber zu assimilieren führte ebenfalls zu diversen
Kontroversen auch innerhalb der deutschen Gesellschaft und der sog. Türkischen
Community.
Es wäre vermessen, das vielschichtige und komplexe Thema „Türken in
Deutschland“ in einer einzelnen Bachelor Thesis zu behandeln. An dieser Stelle
geht es vielmehr um eine Betrachtung der nach traditionellen Familienstrukturen
lebenden Türken in Deutschland verbunden mit der Frage, in wieweit diese
Strukturen Gewalt als Erziehungsmittel beinhalten oder begünstigen können.
Darauf auf baut der zweite Teil der Arbeit. Hier nehme ich mich einer konkreten
Methode zur Gewaltprävention speziell bei türkischen Familien an. Dabei geht es
um Elternkurse, speziell den Elternkurs „Güçlü Anne- Babalar – Güçlü Çocuklar",
eine Adaption des etablierten Kurses „Starke Eltern - Starke Kinder“ vom
Deutschen Kinderschutzbund. Die dort verwendeten Inhalte und Methoden
werden auf ihre Zweckmäßigkeit hinsichtlich der aversierten Zielgruppe von
türkischen Eltern untersucht.
Begrifflichkeiten
Im Laufe der letzten Jahrzehnte waren die Benennungen der Bevölkerungsgruppe,
um die es in dieser Arbeit geht, einem steten Wandel unterlegen. Aus den
Fremdarbeitern wurden die Gastarbeiter. Aus den Türken wurden Deutsche mit
Migrationshintergrund oder auch türkischstämmige Deutsche. Die Pluralität der
verschiedenen Lebensformen macht es unmöglich, einen Begriff zu finden, in dem
sich alle angesprochenen Menschen wieder finden. Dennoch muss an dieser
3
Stelle ein durchgehender Begriff verwendet werden. Ich habe mich für die Variante
der Türken entschieden, unabhängig ob diese die türkische oder deutsche
Staatsangehörigkeit besitzen. In dieser Arbeit geht es um die kulturellen
Eigenheiten der türkischen Familien in Deutschland, welche auch den Elternkurs
„Güclü Anne– Babalar – Güclü Cocuklar“ ins Leben gebracht haben. Von daher
halte ich es als angebracht, die angesprochene Bevölkerungsgruppe als ‚Türken’
zu bezeichnen.
4
2. Türken in Deutschland
2.1. Geschichte der Türken in Deutschland
Wenngleich die gemeinsame Geschichte Deutschlands und der Türkei, dem
ehemaligen Osmanischen Reich, schon weit früher begonnen hat, stellt doch der
31. Oktober 1961 einen der wichtigsten Meilensteine in den Beziehungen dieser
beiden Völker dar. Dies war das Datum der Unterzeichnung des „Abkommen zur
Anwerbung
türkischer
Arbeitskräfte
für
den
deutschen
Arbeitsmarkt“ (Şen/Goldberg S. 10).
Nachdem in den vier Jahren zuvor schon Türken zur Arbeit nach Deutschland
geholt wurden, wurde durch dieses Abkommen eine große Migrationswelle
begonnen. Einen Einschnitt stellte der 23. November 1973 dar. Im Zuge der
Ölkrise kam es durch die Bundesregierung zum Anwerbestopp von weiteren
türkischen
Arbeitskräften,
„Maßnahmen
zur
Eindämmung
der
Ausländerbeschäftigung“ genannt (Bade / Oltmer, S. 76f). Durch Familienzuzug
wuchs die türkische Wohnbevölkerung in den kommenden Jahren jedoch weiter
an. Männer holten ihre Frauen und Kinder nach Deutschland, Kinder wurden in
Deutschland geboren.
Im Jahr 1983 führte die Bundesregierung das Rückkehrförderungsgesetz ein. In
Deutschland beschäftigten türkischen Arbeitnehmern wurde eine Prämie in
Aussicht gestellt, wenn sie in die Türkei zurückkehrten. Dieses Gesetz hatte nicht
Erfolg in dem Rahmen, wie gewünscht. Etwa eine Viertelmillion Männer, Frauen
und Kinder kehrten während der Durchführung des Rückkehrförderungsgesetztes
in ihre Heimatländer zurück. Das Gesetz wurde bereits 1984 letztmalig eingesetzt.
(Şen/Goldberg S. 23f)
In den 47 Jahren seit Inkrafttreten des Anwerbeabkommens 1961 sind die Türken
in Deutschland eine präsente Größe geworden. Viele Familien leben in der
zweiten oder dritten Generation in Deutschland, besitzen die deutsche
Staatsangehörigkeit. In den letzten Jahren ließen sich über 30.000 Türken per
Anno einbürgern. (Statistisches Bundesamt, 1). Im Jahr 2006 lebten insgesamt
1.738.831 Türken in Deutschland. (Statistisches Bundesamt, 2) Die Gesamtzahl
der Türken und der Deutschen mit türkischem Migrationshintergrund bezifferte
sich im Jahr 2005 auf 2.397.400 Personen.
5
2.2. Situation der Türken in Deutschland
Altersverteilung
Die türkische Bevölkerung in Deutschland ist insgesamt sehr jung. Mit 32,7 Jahren
stellt sie die im Altersdurchschnitt jüngste aller größeren Migrantengruppen in
Deutschland dar.
Verweildauer in Deutschland
Das Alter bei der Einreise nach Deutschland lässt sich in zwei größere Blöcke
unterteilen. Zum einen in die Personen, die schon als Kinder oder Jugendliche aus
der Türkei gekommen sind. Zum anderen die Personen, die als junge Erwachsene
in die Türkei kamen.
Die große Mehrheit der Türken lebt seit über 20 Jahren in Deutschland. Etwa zehn
Prozent der Türken lebt seit weniger als zehn Jahren in Deutschland.
Familiensituation1
Türken in Deutschland sind weitaus häufiger als Deutsche familiär gebunden. 81
% der erwachsenen Türken sind verheiratet, zum Vergleich sind dies 45 % der
Deutschen. Lediglich zwei Prozent der Türken leben in Ein-Personen-Haushalten.
(Deutsche 36 %). Türken haben im Schnitt 2,1 Kinder.
Erwerbstätigkeit
Von den gezählten 2,397,400 Personen sind 1,127,800 als Erwerbspersonen zu
zählen. Erwerbstätig hiervon sind 871,400, nicht erwerbstätig 256,400.
Schulbildung und berufliche Qualifikation
Die Mehrheit der Türken in Deutschland verfügt über einen niedrigen
Schulabschluss. Etwa zwei Drittel aller Türken mit Schulabschluss haben diesen
an einer Hauptschule erworben. Etwa eine halbe Million Türken besitzen keinen
Schulabschluss. Die berufliche Qualifikation ist daher auch verhältnismäßig niedrig.
Etwa 35,000 Personen mit abgeschlossenem Studium stehen fast zwei Millionen
Personen ohne beruflichen Bildungsabschluss gegenüber.
1
Diese Zahlen beziehen sich auf eine repräsentative Umfrage in Nordrhein-Westfalen durch das Zentrum für
Türkeistudien in der Studie „Perspektiven des Zusammenlebens: Die Integration türkischstämmiger
Migrantinnen und Migranten in Nordhrein-Westfalen“ durch Martina Sauer.
6
Religion2
94,2 % der Türken in Deutschland sind Muslime, wobei die Aleviten hier mit
einbegriffen sind (Vgl. 4.1.). 0,2 % sind Christen, 1 % gehören einer anderen
Glaubensrichtung an, 2,4 % rechnen sich keiner Religion zu. Die übrigen 2,3 %
äußern sich nicht zu ihrer Religionszugehörigkeit.
Anmerkung: Die verwendeten Zahlen entstammen der Studie „Bevölkerung und Erwerbstätigkeit – Bevölkerung mit
Migrationshintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus 2005“ wenn nicht anders gekennzeichnet. Diese fasst den
Migrationshintergrund nach Staaten zusammen. Für die Auswertung bedeutet dies, dass die Gruppe der aus der Türkei
stammenden Kurden ebenfalls zu den aus der Türkei stammenden Menschen zählt wenngleich sie keine Türken sind. Die
Angaben beziehen sich auf Menschen türkischer Nationalität in Deutschland sowie ethnische Türken, die die deutsche
Staatsangehörigkeit angenommen haben.
22
Diese Zahlen beziehen sich auf eine repräsentative Umfrage in Nordrhein-Westfalen durch das Zentrum
für Türkeistudien in der Studie „Perspektiven des Zusammenlebens: Die Integration türkischstämmiger
Migrantinnen und Migranten in Nordhrein-Westfalen“ durch Martina Sauer.
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3. Struktur und Interaktion in der türkischen Familie
Voranzuschicken ist die Feststellung, dass man die türkischen Familien in
Deutschland nicht einheitlich erfassen kann. Jede Familie hat ihre eigene Dynamik
und Wertvorstellungen. Dennoch lassen sich anhand bestimmter Faktoren
bestimmte Familientypen festlegen. Atabay (Atabay S. 35) benennt hierbei drei
verschiedene Familientypen:
1. Religiös-traditionell orientierte Familien
2. Familien zwischen Tradition und Moderne
3. Moderne Familien und Paare
Diese drei Familientypen dienen weiters als Grundmodelle, die Struktur und
Interaktion von türkischen Familien in Deutschland zu analysieren. Je genauer
man auf die Abläufe innerhalb der Familien schauen würde, desto mehr
Untertypen würde man finden, etwa Familien, die sich nach moderner
Lebensweise auf religiöse wie traditionelle Werte zurückbesonnen haben oder
Alleinerziehende mit Kindern, die entgegen ihrer traditionellen Einstellung mit
anderen Strukturen konfrontiert werden. Dies würde aber zwangsläufig zu
weitläufig und unpräzise werden. Die oben benannten Familienmodelle erachte ich
als derzeit bestmögliche Kategorisierung von türkischen Familien in Deutschland.
Nachfolgend wird die Struktur und Interaktion in Familien des ersten Typs
beschrieben. Sie stellen weit häufiger als Familien des zweiten und dritten Typs
potentielle Klienten für sozialpädagogisches Handeln.
8
3.1. Hierarchie innerhalb der Familie
Die religiös-traditionell orientierten Familien sind patriarchalische Familien. Der
Vater ist das Oberhaupt der Familie und sein Wort hat letztendlich Gewicht. Die
Stellung der anderen Familienmitglieder lässt sich am besten in Form einer Grafik
verdeutlichen, hierbei orientiere ich mich an der Darstellung von Schäfers
(Schäfers S. 31):
Vater
↑
↑
Mutter
↑
↑
Söhne
↨
↨
Ältester Sohn
Töchter
Schwiegertochter
Abb. 1
3.2. Rolle des Vaters
Wie oben erwähnt, stellt der Vater das Oberhaupt der Familie dar. Gleichzeitig
vertritt er die Familie nach außen und sorgt für den Lebensunterhalt. Ein Mann,
der nicht imstande ist, seine Familie eigenständig zu ernähren oder dies seiner
Frau überlässt, gilt als ‚namusuz’, als schwach (vgl. Kapitel 4.2.).
Der Vater ist in der Kindererziehung wenig präsent. Auch in seiner Freizeit
verbringt er nur geringe Zeit mit seinen Kindern. Der erzieherische Alltag ist
Aufgabe der Mutter und der Vater greift nur dann als strafende Instanz ein, wenn
die Kinder wiederholt die Autorität der Mutter missachtet haben.
Wenngleich der Vater in der alltäglichen Erziehung wenig handelt, so obliegen ihn
doch die wesentlichen Entscheidungen in der Gestaltung des Lebens der Kinder.
Dies betrifft die Schullaufbahn und daran anknüpfend die Berufsausbildung sowie
die Wahl des Ehepartners. (vgl. Schäfers S. 27).
Im traditionellen, durch den Islam geprägten Verständnis steht der Mann in der
Hierarchie über der Frau. Begründet wird dies mit Passagen aus dem Koran. Es
ist an dieser Stelle nicht möglich, so auf dieses Thema einzugehen, wie es
eigentlich nötig wäre. Dennoch zitiere ich zum Verständnis der obigen Feststellung
den Koran mit der vierten Sure, Vers 35:
9
Männer sollen vor Frauen bevorzugt werden (weil sie für diese
verantwortlich sind), weil Allah auch die einen vor den anderen mit
Vorzügen
begabte
und
auch
weil
jene
diese
erhalten.
Rechtschaffende Frauen sollen gehorsam, treu und verschwiegen
sein, da ihr fürchtet, dass sie euch durch ihr Betragen erzürnen, gebt
Verweise, enthaltet euch ihrer, sperrt sie in ihre Gemächer und
züchtigt sie. Gehorchen sie euch aber, dann sucht keine Gelegenheit,
gegen sie zu zürnen; denn Allah ist hoch und erhaben.
Der Mann hat die Entscheidungsgewalt über die Frau. Dies bezieht sich nicht nur
auf die Leitlinien der Kindererziehung oder die Frage, ob die Frau einer
Erwerbstätigkeit nachgehen kann, sondern auch auf die Sexualität. Aufgabe der
Frau ist es, die Sexualität des Mannes zu stillen, der Mann hat hierauf ein Recht
(Atabay, S. 54).
Die Freizeit verbringen die Männer und Väter wie erwähnt wenig mit ihrer Familie.
Vielmehr verbringen sie diese in Gesellschaft anderer Männer bevorzugt in
Caféhäusern. Bordieu bemerkt hierzu, dass die Frauen ins Haus eingeschlossen
sind
während
die
Männer
gleichzeitig
zumindest
tagsüber
vom
Haus
ausgeschlossen sind. (Petersen, S. 34)
Toprak (Toprak, 2004a, S. 58) weist bei der Rolle des Vaters darauf hin, dass
diese in vielen Fällen nur nach außen als klassisch-patriarchalisch dargestellt wird
und der Vater in der Realität intern weit mehr Entscheidungen im Einvernehmen
mit der Mutter treffe oder dieser die Entscheidungen ganz überlasse. Toprak
verwendet hier den Begriff des „Pressesprechers“, der die Familie nach außen
vertritt.
3.3. Rolle der Mutter
Die Mutter ist im klassischen Familienmodell dem Vater untergeordnet. Während
der Vater die Familie nach außen vertritt, ist die Mutter für das innere Handeln,
zumindest im Alltag zuständig. Neben der Haushaltsführung ist sie für die
Kindererziehung zuständig. Wie oben beschrieben gibt hier jedoch der Mann die
groben Leitlinien vor und fungiert als Bestrafungsinstanz, auf die sich die Mutter
10
bei Bedarf beruft. Tut sie dies, stellt sie damit gleichzeitig ihre eigene Autorität
gegenüber den Kindern zurück da sie das aktive Handeln dem Vater überlässt.
Bei der Auswertung diverser narrativer Interviews (Toprak 2004a 2004b, 2005,
Gür, Atabay) ist festzustellen, dass die Frauen faktisch kein Mitspracherecht bei
der Wahl des Ehepartners bekommen haben. Sind aus den Frauen jedoch Mütter
geworden, so haben sie in der Realität durchaus Mitspracherecht bei der Wahl
des Schwiegersohns bzw. der Schwiegertochter wenngleich ihre Stimme meist
weniger zählt als die ihres Mannes.
Wie in 3.2. beschrieben hat der Mann unter Berufung auf den Koran sexuelle
Verfügungsgewalt über die Frau. Neben der Haushaltsführung und der
Kindererziehung ist dies die dritte Pflicht der Frau. Inwieweit es hierbei zu
Vergewaltigungen kommt, ist empirisch kaum belegbar. Die Analyse von
narrativen Interviews durch Toprak (Toprak, 2004a) und Kelek (Kelek 2006) lässt
jedoch darauf schließen, dass sexuelle Gewalt in traditionell geprägten Ehen
überdurchschnittlich häufig vorkommt.
Nach außen hat sich die Frau ehrenhaft zu verhalten (vgl. 4.2.). Sie muss ihren
Körper bedecken, was in traditionellen türkischen Familien bedeutet, nur ihr
Gesicht und Hände außerhalb des Hauses zu zeigen und Körperkontakt mit
anderen Männern vermeiden wozu auch das Handgeben gilt. Ein Zuwiderhandeln
dessen bringt Schande über die Frau und damit gleichzeitig über ihren Mann was
im Extremfall dazu führt, dass die Frau von der Familie verstoßen wird oder im
schlimmsten Fall ermordet wird. Anzumerken an dieser Stelle ist, dass diese so
genannten „Ehrenmorde“, wenngleich von den Massenmedien stark beleuchtet,
tatsächlich
extreme
Auswüchse
darstellen
und
keinesfalls
die
normale
Konsequenz für Untreue oder sonstiges Fehverhalten darstellt.
Im obigen Schaubild ist festzustellen, dass der älteste Sohn über der Mutter
eingeordnet ist. Hier wird ein ambivalentes Verhältnis deutlich. Wenngleich der
Sohn der Mutter, die ihn geboren hat, bedingungslos Liebe und Dankbarkeit
schenken muss, so stellt der älteste Sohn gleichzeitig den Stellvertreter des
Vaters dar, besonders in der Rolle des Beschützers und Erziehers der jüngeren
11
Geschwister. Da der älteste Sohn zumindest in Abwesenheit des Vaters dessen
Aufgaben und somit auch dessen Rolle übernimmt, steht er in dieser Zeit an der
Spitze der Familie und somit auch über der Mutter. Dies geschieht gewöhnlich,
sobald der Sohn das Jugendalter erreicht hat.
Hier sei jedoch noch einmal auf die Diskrepanz zwischen traditionellen
Handlungsmustern in der Theorie und Praxis verwiesen. Im Alltag kann der Sohn
dennoch hinter der Mutter zurückstehen oder sich in seinem Handeln ihr
Einverständnis holen.
3.4. Rolle des Sohns
In traditionellen türkischen Familien sind die Söhne besser gestellt die Töchter,
was nicht zwangsläufig heißen muss, dass sie für die Eltern auch mehr wert sind.
Für die Umwelt hingegen steigt das Ansehen der Mutter, je mehr Söhne sie
gebiert. Dies ist auf die ursprünglich ländliche Herkunft vieler türkischer
Einwanderer zurückzuführen, wo ein Sohn einen höheren ökonomischen Nutzen
hat als eine Tochter (vgl. Toprak 2004b, S. 31ff). Den Söhnen wird mehr Freiraum
gewährt. Sie dürfen der Mutter schon früh widersprechen ohne gleiche
Konsequenzen für dieses Verhalten zu erfahren wie die Töchter. Im Jugendalter
zeichnet sich der Unterschied zwischen Jungen und Mädchen auch dadurch ab,
dass den Jungen zugestanden wird, ihre Freizeit ohne Aufsicht der Erwachsenen
alleine oder mit ihren Freunden zu verbringen. Hat ein Junge eine Freundin, so
wird dies vom Elternhaus nicht unbedingt gutgeheißen, jedoch toleriert. Im
Gegensatz zu Mädchen sind sexuelle Kontakte vor der Ehe nicht verboten.
Die Jungen werden in ihrem Verhalten wenig gemaßregelt. Das Fehlverhalten
eines kleinen Jungen wird durch seine Kindlichkeit entschuldigt, dies gilt für kleine
Mädchen genauso. Die ‚Sünnet’, die Beschneidung des Penis stellt den ersten
Wandel in seiner Biographie dar. Während des Rituals, traditionell oft ohne
Betäubung und unter den Augen der Familie und Bekanntschaft muss der Junge
Stärke zeigen und sich Weinen oder Schreien verbieten. Der beschnittene Junge
hat den ersten Schritt zum Erwachsenwerden getan. Ihm obliegen nun gewisse
Pflichten wie etwa die Mutter beim Einkaufen zu begleiten oder auf die jüngeren
Geschwister aufzupassen falls keine große Schwester da ist. Wichtig ist hierbei
jedoch die Feststellung, dass es sich in der Regel gegenüber der Mutter, nicht
dem Vater gegenüber um Soll-Pflichten handelt während es sich bei den Mädchen
12
um Muss-Pflichten handelt. Der Junge wird von der Mutter angehalten, etwas zu
tun, muss aber mit wenigen Konsequenzen rechnen, wenn er ihrer Aufforderung
nicht nachkommt. (vgl. Toprak 2004b, S. 44). Das Wort des Vaters gilt jedoch
auch für den Jungen als bindend.
Neben den Soll-Pflichten hat der Junge nun mehrere Verhaltensweisen zu erfüllen.
Es wird von ihm erwartet, dass er sich in die Hierarchie der Autoritäten einfügt. Er
ist den älteren Familienmitgliedern zu Respekt und Gehorsam verpflichtet und darf
sie nicht mit Vornamen anreden sondern mit ‚Mutter’, ‚Onkel’ oder ‚Großmutter’
(Toprak 2004b, S. 34). Ferner hat er sich ehrenhaft zu verhalten (vgl. 4.2.) und die
Familie nach außen positiv verkörpern. Ebenfalls ein wichtiges Erziehungsziel, das
die Eltern vom Sohn erfüllt sehen wollen ist nationaler Stolz und die Erfüllung der
religiösen Pflichten in dem Maße wie die Familie sie selbst lebt. (Toprak, 2004b, S.
38f).
3.5. Rolle der Tochter
Während bei kleinen Kindern keine unterschiedlichen Rollenvorstellungen
herrschen, so entwickeln sich etwa ab dem sechsten Lebensjahr unterschiedliche
Erwartungshaltungen gegenüber Jungen und Mädchen. Während die Jungen ihre
Freizeit möglichst außer Haus verbringen sollen, so wird von Mädchen das
Gegenteil erwartet. Sie sollen sich viel zuhause aufhalten wo sie, ihre Freizeit ist
knapper bemessen als die der Jungen, der Mutter bei der Hauswirtschaft zur Hand
gehen müssen (vgl. Toprak 2004b, S. 45f). Außer Haus werden die Mädchen
möglichst von der Mutter, dem älteren Bruder oder auch mehreren Freundinnen
begleitet.
Die Mutter stellt im Alltag die erzieherische Autorität dar. Während sie gegenüber
den Jungen jedoch keine Absolution genießt, tut sie dies bei den Mädchen wohl.
Nur in extremen Situationen schaltet sich der Vater, der in der Hierarchie noch
über der Mutter steht, in die Situation ein. Das Mädchen erfährt seitens der Mutter
ferner weniger körperliche Zuwendung als der Sohn (ebenda). Wie bereits oben
erwähnt wird bei den Mädchen und Jungen zwischen Soll – und Muss-Pflichten
unterschieden. Die Aufgaben des Mädchens, etwa das Bewirten von Gästen,
stellen gewöhnlich Muss-Pflichten dar. Gemeinsam ist Söhnen und Töchtern
jedoch die strenge Einhaltung von Hierarchien, kein ungefragtes Sprechen in
13
Anwesenheit von älteren Familienmitgliedern, eine zurückhaltende Körperhaltung
und andere Dinge.
Die Mädchen und Frauen verkörpern die Ehre der Familie (Atabay, S. 33). Einem
Mädchen ist es untersagt, vor der Ehe einen Partner und sexuelle Kontakte zu
haben. Es muss sich in der Öffentlichkeit züchtig zeigen, d.h. unaufreizende
Kleidung, oft verbunden mit dem Tragen eines Kopftuchs.
Die Mädchen werden früh verheiratet. In der ländlichen Türkei kann schon in der
Kindheit der zukünftige Partner für die Tochter festgelegt werden. Die Partnerwahl
übernehmen die Eltern, die Kinder haben hierbei gewöhnlich kein Mitspracherecht.
14
4. Wertvorstellungen und Normverständnis in der Erziehung
In diesem Kapitel wird das Erziehungsverständnis von traditionellen türkischen
Familien näher beschrieben. Da die traditionelle Erziehung gleichzeitig eine starke
religiöse Prägung beinhaltet, wird nachfolgend zuerst der Islam kurz beschrieben,
danach werden verschiedene Erziehungsstile, die in türkischen Familien präsent
sind, behandelt. Anschließend werden die Wertvorstellungen, insbesondere die
Ehre, näher thematisiert. Der dritte Teil dieses Kapitels handelt davon, wie weit
Gewalt in türkischen Familien ein verbreitetes Erziehungsmittel ist.
4.1. Der Einfluss des Islam
Der Islam ist die vorherrschende Religion der türkischen Bevölkerung. 94 % der in
Deutschland lebenden Türken sind Anhänger dieser Religion. Während ein Christ
seinen Glauben durch Kirchenaustritt abstreifen kann, kann sich ein Moslem nur
durch Zuwendung zu einer anderen Religion, bspw. durch die christliche Taufe,
vom Islam abwenden. Dies bedeutet, nicht jeder der 94 % Muslime ist
zwangsläufig gläubig. Der Anteil der Türken, die sich als nicht überhaupt nicht
gläubig bezeichnen, nimmt mit etwa 5 % jedoch einen sehr geringen Rahmen ein.
Die Hälfte der Türken in Deutschland bezeichnet sich als eher religiös, des
Weiteren bezeichnet sich etwa jeder Sechste als sehr religiös (Sauer, S. 47f).
Aufgrund dieser Erkenntnisse ist festzuhalten, der Islam spielt im Leben von etwa
zwei Drittel der Türken in Deutschland eine größere bis bestimmende Rolle. Er
beeinflusst die Wert – und Normvorstellungen von vielen Menschen. Obgleich eine
intensive Betrachtung des Islam den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, soll
an dieser Stelle dennoch auf einige grundlegende Gegebenheiten eingegangen
werden.
Wie sich das Christentum in Katholiken, Protesten, Orthodoxe etc. aufgliedert, so
erfährt auch der Islam unterschiedliche Deutungsansätze die zu unterschiedlichen
Glaubensströmungen führten. Die drei Hauptströmungen sind die Schiiten,
Sunniten und Aleviten 3 . Die Schiiten sehen den Nachfolger Mohammeds,
Begründer des Islam, in einem seiner leiblichen Nachfahren. Für die Sunniten
hingegen muss der Nachfolger Mohammeds, der Kalif, von der Mehrheit der
3
Durch Gespräche mit Aleviten erfuhr ich, parallel zur Recherche für diese Arbeit, dass sich Aleviten selbst
oft nicht als Muslime bezeichnen da sie ihren Glauben nur vom Islam ableiten. Um dieses Thema
befriedigend zu thematisieren fehlt mir im Rahmen dieser Arbeit der Raum. Daher halte ich mich an dieser
Stelle an die Erkenntnisse aus der angegebenen Literatur, wonach die Aleviten dem Islam zugeordnet werden.
15
Muslime gewählt werden. Während sowohl für Schiiten wie Sunniten Mohammed
nichts Göttliches an sich habe, so sehen die Aleviten in ihm eine Art Lichtwesen,
geschaffen
aus
Lichtpartikeln
Gottes.
Gleiches
gilt
für
Mohammeds
Schwiegersohn Ali, der den Aleviten ihren Namen gegeben hat. Die Mehrheit der
Türken in Deutschland gehört dem sunnitischen Glaubenszweig an (Şen/Goldberg,
S. 85f).
Hieran erkennt man Tendenzen, die sich auch auf das alltägliche Leben beziehen
können. Die Schiiten begründen ihr religiöses Oberhaupt durch Erbrecht während
die Sunniten dieses durch einen demokratischen Prozess wählen. Die Aleviten
haben eine losere Interpretation des Korans, dem heiligen Buch der Muslime.
Kennzeichnend ist für sie, dass Frauen den Männern oft gleichgestellt sind. Auch
das Kopftuch ist bei Aleviten unüblich (ebenda).
Die sog. fünf Säulen des Islam stellen für einen gläubigen Moslem die Grundlage
seines Handelns dar. Diese sind das Glaubensbekenntnis, dessen Aussprache
einen Menschen, so er es aufrichtig spricht, sofort zum Muslim macht; das
Pflichtgebet fünfmal am Tag; die Pflichtabgabe als regelmäßige Spende an
Bedürftige; das Fasten zwischen Sonnenauf – und Untergang im Monat Ramadan
sowie die Wallfahrt, die Reise nach Mekka, die Stadt, in der der Islam begründet
wurde (Tworuschka, S. 102 - 111).
Der Islam kennt eine Anzahl von Festen, das Opferfest und das Zuckerfest als
bedeutendste. An dieser Stelle soll hier jedoch nicht näher darauf eingegangen
werden. Abschließend bleibt nur festzustellen, dass bei der Betrachtung von
türkisch-muslimischen Familien sehr differenziert geschaut werden muss,
inwieweit der Glaube für die jeweilige Familie eine Rolle spielt und wie sehr das
Leben sowie die Erziehung von religiösen, oft mit kulturellen Traditionen
verbundenen Elementen, geprägt wird.
4.2. Verschiedene Erziehungsstile
Der Begriff Erziehungsstil bezeichnet relativ fest ausgeprägte Verhaltensmuster
seitens der Erziehenden, hier also der Eltern, dem Kind gegenüber. Im
Allgemeinen wird bei Erziehungsstilen grob zwischen dem autoritären bzw.
16
autokratischen
Erziehungsstil,
dem
demokratischen/sozialintegrativen
Erziehungsstil und dem permissiven Laissez-Faire-Erziehungsstil unterschieden
(Schaub / Zenke, S. 130).
Überträgt man diese drei klassischen Erziehungsstile auf die traditionelle türkische
Familie, so dominiert hier der autoritäre Erziehungsstil patriachischer Prägung.
Vom Kind wird ein bestimmtes Verhalten erwartet. Wenn es dies erbringt, wird es
von den Eltern gelobt (die Tochter von der Mutter, der Sohn meist vom Vater),
enttäuscht es die Erwartungen der Eltern, wird durch Konsequenzen eine
Verhaltensänderung verlangt. Festzustellen ist jedoch auch ein Einfluss des
permissiven Erziehungsstil in bestimmten Phasen, was einen klaren Kontrast zum
autoritären Erziehungsstil darstellt. Dies betrifft zum einen die frühe Phase der
Kindheit bis etwa zum Beginn der Schulzeit sowie das Freizeitverhalten der
Jungen allgemein. Hier können die Kinder weitestgehend ohne Lenkung seitens
der Eltern ihren Interessen nachgehen. Solange sie gewisse Grenzen, etwa
Sachbeschädigung, nicht überschreiten, können sie ohne Einflussnahme der
Eltern ihren Interessen nachgehen.
4. 3. Sevgi, Şeref, Namus, Saygi – Grundwerte der Erziehung
Eine wichtige Feststellung bevor die obigen Begriffe näher erläutert werden, ist die
hohe Bedeutung von Kindern im ökonomisch-utilitaristischen Kontext. Etwa 70 %
der türkischen Eltern in Deutschland verweisen auf ihre Kinder als Hilfe im Alter
und in Notfällen. Zum Vergleich sehen dies nur zehn bis 20 % der Deutschen
ähnlich (vgl. Toprak 2004a, S. 28f). Der Aspekt der Versorgung und Unterstützung
durch die Kinder hat somit auch bei den Türken in Deutschland noch eine sehr
hohe Gewichtung.
Weiters werden mehrere Begriffe behandelt, die in türkischen Familien eine
prägende Rolle spielen. Sie stellen Grundlagen der Wertevorstellungen dar und
haben daher einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Erziehung
türkischer Kinder. Die drei letzteren Begriffe können alle synonym mit ‚Ehre’ ins
Deutsche übersetzt werden. Die Tatsache, dass es für diesen einen deutschen
Begriff drei türkische Adäquate gibt, spiegelt die Bedeutung dieser Eigenschaften
für die türkische Kultur wieder.
17
Sevgi
Dies bedeutet im türkischen ‚Liebe’. In diesem Fall geht es jedoch nicht um die
Liebe im Allgemeinen sondern um die Liebe eines Älteren zu einem Jüngeren.
Hierbei ist nicht nur die Liebe von Eltern und älteren Geschwistern zu den
jüngeren Familienmitgliedern gemeint, auch die Liebe des türkischen Staates zu
seinen Untertanen wird als ‚Sevgi’ bezeichnet (Atabay, S. 25f).
Ältere Geschwister nehmen im Alltag gegenüber den jüngeren Kindern oft,
zumindest zeitweise, die Rolle von Vater und Mutter ein. Die ältere Schwester
weist die jüngere Schwester in die Hausarbeit ein, der jüngere Bruder hat auf das
Wort des älteren Bruders zu hören. Diese besondere Geschwisterkonstellation
wird auch dadurch hervorgehoben, dass jüngere Geschwister ihre älteren
Geschwister mitunter nicht mit Vornamen anreden sondern den älteren Bruder als
‚abi’ und die ältere Schwester als „abla’, was ihr Verwandtschaftsverhältnis
ausdrückt. Dies gilt auch für weitere Familienmitglieder wie Onkel, Tanten,
Großväter – und Mütter (Toprak 2004a, S. 69).
Die drei folgenden Begriffe umfassen allesamt den Bereich der Ehre.
Şeref
Der Wert ‚Şeref’ entspricht den Begriffen von Würde und Ansehen. Das Ansehen
ist kein ständig vorhandener Begriff. Durch gutes, anderen Menschen hilfreiches
Handeln kann ein Mensch, egal ob Mann oder Frau, sein Şeref in den Augen
seiner Mitmenschen erhöhen. Schlechte, selbstsüchtige und der Gemeinschaft
abträgliche Handlungen verringern sein es (Atabay, S. 27).
Das Ansehen ist somit keine konstante Größe. Es verändert sich und wird durch
das Handeln der jeweiligen Person definiert. Sie hat Einfluss auf diesen Wert.
Şeref als Wert unterscheidet nicht zwischen Männern und Frauen.
Namus
‚Namus’ lässt sich wörtlich mit Ehre übersetzen. Es stellt den wichtigsten Wert der
traditionellen türkischen Gesellschaft dar und ist für Männer und Frauen zwar
gleichermaßen bedeutsam, jedoch nicht identisch.
18
Ein Mann ist dann ehrenhaft, wenn er sich stark, hart, männlich und viril gibt
(Petersen, S. 30). Er muss sich und seine Familie bei Angriffen verteidigen und
niemals den Anschein geben, dass er an seinem Handeln zweifelt. Tut er dies, gilt
er in den Augen als ‚namusuz’, als schwach und unehrenhaft.
Während sich die männliche Ehre durch Stärke definiert, so definiert sich die Ehre
der Frau durch ihre sexuelle Reinheit. Dies bezieht sich zum einen auf die Pflicht,
als Jungfrau in die Ehe zu gehen, was für einen Mann nicht zwingend gilt, aber
auch auf korrekte Kleidung, Kopftuch und bedeckte Arme und Beine. Eine Frau,
die sich als sexuell attraktiv präsentiert, gilt als ‚orospu’, als Hure ohne Ehre.
Mitunter haben Frauen sämtliche Körperfunktionen vor Männern zu verbergen
(Petersen, S. 19). Dies kann dazu führen, dass Frauen nicht in Anwesenheit von
Männern essen, und wenn dann nur mit einem vor den Mund gehaltenen Schleier,
und es vermeiden, eine Toilette aufzusuchen wenn dies von Männern bemerkt
werden könnte.
Die Ehre des Mannes definiert sich durch sein eigenes Handeln, die Ehre der Frau
durch ihre Interaktion mit Männern. Während der Mann seine Ehre durch
Nichthandeln zerstört oder verletzt und dies gegebenenfalls durch späteres
Handeln wieder rückgängig machen kann, ist die Ehre der Frau durch
unehrenhaftes Handeln endgültig zerstört. Da der Mann als Verteidiger seiner
Familie gilt, werden das Fehlverhalten seiner Frau oder Kinder immer auf ihn
zurückgeführt. Er ist also abhängig vom Verhalten seiner Familie. Umgekehrt gilt
dies für die Frau nicht. Unehrenhaftes Verhalten seitens des Mannes hat keine
Konsequenzen für das Ansehen der Frau oder Kinder.
Saygi
Dieser Wert umfasst die Achtung, den Respekt vor Älteren. Er ist eng mit dem
Begriff des ‚Sevgi’ verbunden. So wie jüngere Menschen, Familienmitglieder ein
Recht auf Liebe haben, haben ältere ein Recht auf Respekt. Saygi entwickelt ein
Mensch durch zunehmendes Alter (Atabay, S. 26).
Je höher ein Mensch in der Familienhierachie steht, desto höher ist sein Anspruch
auf Saygi. Dem Großvater wird so mehr Achtung entgegengebracht als dem
ältesten Sohn, auch von den jüngeren Kindern.
Saygi wird durch das konkreten Handeln bzw. Nicht-Handeln von jüngeren
gegenüber älteren Menschen ausgedrückt. Ausdrucksformen sind etwa das
19
Schweigen in Anwesenheit von Älteren solange die Jüngeren nicht zum sprechen
aufgefordert wurden oder der Verzicht von Zigarettenkonsum in Anwesenheit der
Älteren. Aber auch hier gibt es durchaus Unterschiede in der Hierachie. So kann
es einem heranwachsenden Sohn verboten sein, in Anwesenheit seines Vaters zu
rauchen, in Anwesenheit seiner Mutter muss dies jedoch nicht gelten. Für die
heranwachsende Tochter kann neben dem Rauchverbot in Anwesenheit des
Vaters auch das Verbot in Anwesenheit der Mutter gelten.
Saygi ist genau wie Sevgi ein Wert, der sich durch das Alter der betreffenden
Person ausdrückt. Anders als bei den Werten Şeref und Namus hat die betroffene
Person keinerlei Einfluss darauf.
Diese vier Elemente werden im Alltag Kindern von klein auf vermittelt. Natürlich
sind sie nicht in jeder Familie gleich ausgeprägt, sie finden sich dennoch in
traditionellen Familien stets wieder. Nach Auswertung von narrativen Interviews
verschiedener Autoren (Atabay, Gür, Petersen, Toprak) ist allgemein festzustellen,
dass das soziale Umfeld hier einen entscheidenden Einfluss nimmt. Vielfach wird
von
den
interviewten
Türken
ihr
eigenes
Missfallen
an
bestimmten
Wertvorstellungen ausgedrückt, sie werden aber dennoch legitimiert zum einen
durch die Religion zum anderen wegen der Angst, das soziale Umfeld, die
Nachbarn und weitere Familie, würde schlecht über die betreffenden Personen
denken, sie gar isolieren.
4.4. Gewalt in türkischen Familien
Türkische Eltern gelten als anfälliger, Gewalt in der Erziehung anzuwenden als
deutsche Eltern. Diese Behauptung lässt sich durch Untersuchungen aufgrund der
hohen Dunkelziffer nicht endgültig empirisch belegen. Pfeiffer und Wetzels haben
in einer Studie zur Gewaltbelastung von türkischen Jugendlichen 16,000
Jugendliche unterschiedlicher ethnischer Herkunft zu ihren Gewalterfahrungen
seitens der Eltern in den letzten zwölf Monaten befragt (Pfeiffer / Wetzels). Die
Autoren machten hierbei eine Trennung zwischen eingebürgerten Türken und
Türken mit Status von Ausländern.
30,6 % der eingebürgerten türkischen Jugendlichen haben Misshandlungen
seitens der Eltern erlebt, 18,2 % hiervon schwere Züchtigungen.
20
28,8 % der türkischen Jugendlichen haben Misshandlungen seitens der Eltern
erlebt, 17,8 % hiervon schwere Züchtigungen.
Dem gegenüber stehen 5,4 % misshandelte und 7,5 % schwer gezüchtigte
deutsche Jugendliche. In totalen Zahlen besagt die Studie, dass drei von zehn
türkischen Jugendlichen Gewalt seitens der Eltern erfahren. Bei deutschen
Jugendlichen ist es nur etwa jeder Zehnte. Als Schlussfolgerung ist somit
festzuhalten, dass Gewalt in der Erziehung bei türkischen Familien etwa dreimal
so häufig vorkommt wie bei deutschen Familien.
Zu berücksichtigen ist, dass durchaus nicht alle befragten Jugendlichen
wahrheitsgemäß auf die Frage nach Gewalterfahrungen geantwortet haben vor
dem Hintergrund, die Eltern nicht zu diskreditieren oder anzugreifen.
Pfeiffer und Wetzels weisen darauf hin, die Ergebnisse auch bezüglich der
sozialen Milieus, denen die befragten Jugendlichen angehören, ausgewertet zu
haben. Auch dadurch war die Diskrepanz zwischen den Erfahrungen von
deutschen und türkischen Jugendlichen gleich hoch, unabhängig ob es sich um
Sozialleistungsempfänger oder sozial abgesicherte Familien handelte. Wenngleich
eine endgültige quantitative Feststellung nicht möglich ist, so muss die
Behauptung, dass Gewalt in der Erziehung von türkischen Eltern weit häufiger
eingesetzt wird als von deutschen Eltern bestätigt werden.
Es ist davon auszugehen, dass Eltern mit konservativen, traditionellen
Erziehungsstilen häufiger Gewalt anwenden als Eltern mit demokratischen
Erziehungsstilen.
Sondiert man nun erstere Gruppe aus der gesamten
Gemeinschaft der Deutsch-Türken heraus, so ergibt dies die These, dass deutlich
mehr als 30 % dieser Eltern Gewalt in der Erziehung einsetzen (Pfeiffer/Wetzels,
S. 14ff)
Gewalt findet auf verschiedene Weisen statt. Körperlich, seelisch und sexuell. Der
letzte Punkt wird aufgrund seiner Komplexität an dieser Stelle nicht behandelt.
Eine gängige Erziehungspraxis ist die ‚tokat’, die Ohrfeige. Ein türkisches
Sprichwort sagt, „Die Ohrfeige stammt aus dem Paradies“. Es wird als legitimes
Mittel angesehen, Kindern den Willen der Eltern aufzugeben, eine standardisierte
Form der Disziplinierung. Als Gewalt im eigentlichen Sinne wird eine Ohrfeige
seitens der Eltern nicht gesehen (Toprak 2004b, S. 47). Die körperlichen
Bestrafungen gehen jedoch, besonders vom Vater, oft über das Maß einer
21
Ohrfeige hinaus und es kann zu schwereren körperlichen Misshandlungen
kommen.
Es
ist
auch
in
diesem
Bereich
so,
dass
es
zu
einer
gewissen
Geschlechtertrennung kommt. Die Mutter ist in erster Linie für die Bestrafung der
Tochter zuständig, der Vater für die des Sohnes. Während es dem Vater auch
zusteht, die Tochter zu maßregeln, hat der Sohn die Möglichkeit, sich der
Bestrafung seiner Mutter zu entziehen (vgl. 3.4.). In diesem Fall überträgt die
Mutter die Aufgabe auf den Vater (Toprak 2004a, S. 109f).
Ein weiteres Element der Gewalt ist neben körperlichen Sanktionen die
psychische Gewalt. Als Erziehungsmittel werden hierbei zum einen die
Beschimpfung und zum anderen das Ignorieren angewendet. In Topraks Studie
über die Sozialisation von türkischen Männern in Deutschland (vgl. Toprak 2005)
werden diese Mittel von den Gesprächspartnern vielfach beschrieben. Hierbei
kommt es vor allem zu Beschimpfungen, die die Ehre des Jungen bzw. jungen
Mannes
angreifen,
er
wird
als
‚schwul’
oder
als
‚Nutte’
bezeichnet.
Interessanterweise haben diese gängigen Beleidigungen einen sexuellen Bezug
während Sexualität an sich in türkischen Familien meist ein großes Tabu darstellt.
Ignorieren des Kindes bedeutet, dass die Mutter bzw. meist der Vater oft für Tage
nicht mit dem Sohn oder der Tochter redet und es entweder zu einem abrupten
Umschwung oder einer langsamen Wiederannäherung kommt.
Nicht ausgeklammert werden soll auch der Faktor des passiven Erlebens von
Gewalt zwischen den Eltern. Hier geschieht dies meist seitens des Vaters der oft
sein Recht, über die Frau zu herrschen aus dem Koran ableitet (Toprak 2005, S.
167f). Kindern kann hier ein verheerendes Rollenverständnis vorgelebt werden bei
dem sie Gewalt als legitimes Mittel zur Konfliktlösung von Erwachsenen erleben.
Abschließend sei auf einen weiteren Punkt hingewiesen, der in der Literatur häufig
nicht beachtet wird, im Alltag jedoch oft präsent ist. In der Türkei genießt das
Militär einen sehr hohen Stellenwert was auch verbunden mit dem hohen
Nationalbewusstsein der Mehrheit der Türken ist. Neben der teilweisen
Omnipräsenz von türkischen Flagge zeigt sich auch darin, dass Jungen schon im
Kindergartenalter gelegentlich Camouflage-Kleidung tragen, also als Soldat
22
‚verkleidet’ werden. Für einen kleinen Jungen symbolisiert ein Soldat vor allem
Waffen, Gewalt und Macht. Er wird selbst in diese Rolle gebracht und dadurch
weit eher angeregt, sich im Rollenspiel an diesen Punkten zu erproben. Gewalt
wird dadurch weiter normalisiert.
Jungen betrifft weiterhin das Ritual der Beschneidung (vgl. 5.1.). Der Junge erlebt,
wie andere Menschen über seinen Körper entscheiden. Klassisch ohne Narkose
durchgeführt stellt die Beschneidung neben der potentiellen psychischen
Traumatisierung ferner eine klare Form von körperlicher Gewalt dar.
Auch Mädchen erleben, wie andere Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt in
ihrem Leben über ihren Körper entscheiden. Gewöhnlich zu Beginn der Pubertät,
also im Alter von etwa elf, zwölf Jahren, hat das Mädchen ein Kopftuch zu tragen.
Tut sie dies nicht, muss sie mit schweren Sanktionen seitens der Eltern rechnen.
Während Jungen sämtlich beschnitten werden, gibt es jedoch auch traditionell
orientierte Familien, in denen das Kopftuch für Mädchen nicht immer Pflicht ist.
Die Eheschließung und die fehlende Autonomie bei der Partnerwahl sowie für die
Frau ferner die fehlende Autonomie bei der sexuellen Selbstbestimmung sind in
Kapitel 5.2. genauer beschrieben.
Abschließend ist festzustellen dass körperliche Gewalt in türkischen Familien auch
in Deutschland sehr präsent ist. Wenngleich ihre Akzeptanz nachlässt je
gebildeter das Milieu der Familie ist, so geht dies nicht linear mit dem
Akzeptanzverlust bei deutschen Familien einher.
Jungen, Mädchen und Frauen erleben in ihrem Alltag und in Schlüsselmomenten
(Beschneidung, Kopftuch, Hochzeit) wie von anderen über sie bestimmt wird.
Einziges Familienmitglied, das alleine über sich bestimmt, ist der Vater, wobei
dieser auch einmal ein Junge war.
Das ständige Erleben der Missachtung des eigenen Willens kann zu
Ohnmachtsgefühlen führen. Der Mensch ist zwar bis zu einem gewissen Grad je
nach Alter auf Weisung und Anleitung von anderen angewiesen, er drängt aber
gleichzeitig auch auf ein immer größer werdendes Maß an Selbstbestimmung.
Diesem Bedürfnis wird durch die traditionelle Erziehungskultur in türkischen
Familien nicht nachgekommen. Die Begutachtung, inwieweit obige Feststellung
23
Einfluss auf potentielle psychische Erkrankungen, Gewaltbereitschaft gegen Dritte
oder sonstige Formen der Auffälligkeiten, die zu einer Ausgrenzung aus der
Gesellschaft bzw. zu einer Abgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft führen,
würde an dieser Stelle den Rahmen sprengen. Festzuhalten bleibt aber, dass
Gewalt in traditionell orientierten Familien oftmals ein Teil des Alltags ist und
teilweise gar nicht als Gewalt angesehen wird.
24
5. Traditionelle Strukturen
Exemplarisch werden hier zwei Elemente der türkisch-moslemischen Kultur näher
beschrieben um die Unterschiede zwischen dem türkischen und deutschen
Werteverständnis transparenter zu machen.
5.1. Die Beschneidung
An dieser Stelle betrachte ich die traditionelle Form der Jungenbeschneidung als
Exempel, wie unterschiedlich die Wertvorstellungen und Normen zwischen Türken
und Deutschen sein können. Während die Beschneidung im türkischen
Verständnis einen großen Tag im Leben des Jungen darstellt, vielleicht den
größten, so ist sie im deutschen Verständnis eine Einschränkung der Autonomie
des Kindes bezogen auf das Recht, über seinen Körper frei zu entscheiden.
Bezogen auf Mädchen gehört die Pflicht, ab der Pubertät ein Kopftuch zu tragen,
auch zu einer Handlung, in der das Kind nicht frei über seinen Körper entscheiden
kann. Das Kopftuch ist für jeden sichtbar, jedoch theoretisch wieder ablegbar. Die
Beschneidung bleibt Anderen verborgen, ist jedoch nicht revidierbar. Ich habe
mich entschieden, nur auf die Beschneidung näher einzugehen, da das Kopftuch
zum einen in den Medien breit thematisiert wird während die Jungenbeschneidung
kaum Beachtung findet, zum anderen würde eine angemessene Beschäftigung mit
der Kopftuchthematik nicht in den Rahmen dieser Arbeit passen.
Wenngleich die Eheschließung einen jungen Türken endgültig zu einem
erwachsenen Mann werden lässt in den Augen des sozialen Umfelds, so stellt die
Beschneidung doch den ersten Schritt zum Mannwerden dar.
Die Beschneidung im moslemischen Verständnis wird darauf zurückgeführt, dass
Mohammed ohne Vorhaut auf die Welt gekommen sei. Quelle hierzu ist nicht der
Koran,
der
die
Beschneidung
nicht
erwähnt
sondern
die
Sunna,
die
zweitwichtigste Schrift des Islam. Als tatsächliche Indikatoren können zwei andere
Gründe angenommen werden. Zum einen hat der Islam seinen Ursprung in
wasserarmen,
oft
wüstenhaften
Gebieten.
Wassermangel
erschwert
die
regelmäßige Körperreinigung und damit auch die Genitalhygiene. Durch eine
Beschneidung kann einer Infektion des Penis durch mangelnde Hygiene zum Teil
25
vorgebeugt werden wenngleich dieses Argument in Deutschland und weiten
Teilen der Türkei, wo jeder Mensch jederzeit Zugriff auf Wasser hat, nichtig ist.
Ein weiterer Indikator kann die verminderte Reizempfindlichkeit des Penis durch
die Beschneidung sein. Die Vorhaut beinhaltet Nervenzellen, die für Reize, auch
sexuelle, empfänglich sind. Eine ohne Vorhaut ungeschützte Eichel verhornt und
verliert zusätzlich an Empfindlichkeit. Auf diese Weise nehmen die sexuelle
Empfindsamkeit und mitunter auch das sexuelle Verlangen ab (Väteraufbruch, S.
13). Diese These ist, auch wenn Sexualität im islamischen Verständnis weitläufig
als etwas negatives, Einzuschränkendes gilt, jedoch kritisch zu sehen. Zwar wird
dem Jungen eine eigene Sexualität untersagt, so wird diese Einschränkung bei
Erwachsenen weitestgehend nur den Frauen auferlegt.
Die Sünnet, die türkische Beschneidung, wird in der Regel bis zum Eintritt der
Pubertät durchgeführt. Sie ist Pflicht für jeden Jungen. Ein unbeschnittener Mann
gilt als temizsiz, als unsauber. Die Art und Weise der Beschneidung hängt vom
Verständnis der jeweiligen Familie ab. Moderne Familien lassen ihre Söhne im
Krankenhaus beschneiden. Die traditionelle Form der Beschneidung findet
während eines großen Festes statt wobei der zu beschneidende Junge oft auf
einem Bett vor den Augen der Gäste beschnitten wird. Mitunter findet dies jedoch
auch in einem Nebenzimmer statt mit einer kleinen Zahl von Angehörigen.
Die Rechtslage in Deutschland bezüglich der Jungenbeschneidung ist unklar, vor
allem da sie anders als das Kopftuch noch nicht in das Bewusstsein der
Öffentlichkeit getreten ist. Hier steht das Recht auf freie Religionsausübung
(Grundgesetz Artikel 4) im Widerspruch mit dem Recht auf körperliche
Unversehrtheit in Artikel 2. Die Mädchenbeschneidung wird in Deutschland auf
Grundlage des § 223 StGB strafrechtlich verfolgt. Kern und Köhler weisen darauf
hin, dass bei konsequenter Rechtsauslegung die Jungenbeschneidung eine Form
der Körperverletzung darstellt (Kern / Köhler, S. 104f). Wenngleich die Folgen der
Jungenbeschneidung nicht so gravierend sind wie die der Mädchenbeschneidung
so stellt die Sünnet doch die Amputation eines gesunden Körperteils und
lebenslange Beeinträchtigung des Sexualempfindens dar. Ferner wird sie auch
dann durchgeführt, auch wenn der Junge hierzu nicht sein Einverständnis
26
gegeben hat. Das Recht des Jungen, über seinen Körper selbst zu entscheiden,
zählt nicht. Durch das große Fest verbunden mit Geschenken, materiell wie
finanziell wird er zur Bereitschaft gelenkt. Ob er über die tatsächlichen
körperlichen, mitunter seelischen Folgen adäquat aufgeklärt wird, erachte ich für
unwahrscheinlich.
5.2. Die Eheschließung
Die Ehe stellt nach traditioneller türkischer Vorstellung die anzustrebende
Lebensweise dar. Gewöhnlich ziehen Männer und Frauen erst dann aus dem
Haus der Eltern aus, wenn sie geheiratet haben. Erst durch die Heirat gilt man als
wirklich erwachsen.
In traditionellen Familien stellt die Eheschließung in vielen Fällen keine
Liebesheirat dar. Die Eltern entscheiden, welcher Partner für ihr Kind der Richtige
ist. Gesichtspunkte sind dabei der gute Ruf der Familie aus der der Partner bzw.
die Partnerin kommt, in der ländlichen Türkei dominiert auch der utilitaristische
Wert des künftigen Ehepartners hinsichtlich Mitgift und Vermögen. Für Frauen ist
es unabdingbar, als Jungfrau in die Ehe zu gehen. Bei Männern wird dies lockerer
gehalten. In der ländlichen Türkei ist es zudem Sitte, nach der Hochzeitsnacht das
bei der Entjungferung verwendete blutige Laken als Beweis für die Reinheit der
Frau aus dem Fenster zu hängen.
Nicht immer ist es gegeben, dass sich die künftigen Ehepartner vor der Hochzeit
tatsächlich kennen gelernt haben. In konservativen Familien werden die Ehen
meist sehr jung geschlossen. Dies geschieht unter dem Gesichtspunkt, die
sexuellen Bedürfnisse der jungen Menschen möglichst früh zu stillen um sie von
einer Lebensweise, die nicht mit den islamischen Werten vereinbar ist, zu
schützen (Atabay, S. 35-37). Was die sexuellen Bedürfnisse angeht, stehen die
Rechte des Mannes vor denen der Frau. Im Gegensatz zur Frau hat er das Recht,
über seinen wie ihren Körper zu verfügen was auch zu Vergewaltigungen führt
(Toprak 2005, S. 146f).
Die Hochzeit selbst wird als großes Fest, oft über mehrere Tage, inszeniert bei
dem sämtliche Familienmitglieder und Bekannte eingeladen werden. Hunderte von
27
Gästen bei einer einzelnen Feier sind nicht ungewöhnlich. Je größer und
prachtvoller die Feier, desto höher das Ansehen der zusammengeführten Familien.
In vielen traditionell orientierten Familien lebt das jung verheiratete Paar bei den
Eltern des Ehemanns wobei die auftretenden Konflikte vielfach von der Mutter bzw.
Schwiegermutter und insbesondere vom Vater bzw. Schwiegervater gelöst werden
(Toprak 2004a, S. 25f). Eine vollständige Autonomie ist somit auch durch die
Eheschließung nicht gewährleistet.
Es sei noch einmal erwähnt, dass oben beschriebenes religiös-traditionell
orientierte Familien betrifft. Elemente davon können sich individuell auch in
moderneren Familien wieder finden, grundsätzlich ist die Heirat dort jedoch auf
Liebe begründet und nicht auf Zweckmäßigkeit.
28
6. Schlussfolgerung
Traditionelle türkische Familien befinden sich in Deutschland in einem steten
Rollenkonflikt. Die traditionell türkisch-moslemische Gesellschaft ist kollektivistisch,
der Einzelne hat sich der Mehrheit unterzuordnen, seine Meinung ist von geringer
Bedeutung. Die deutsche Gesellschaft hingegen ist individualistisch orientiert.
Selbstverwirklichung und Meinungsfreiheit sind Ziele und Werte, die von großer
Bedeutung sind.
Türkische
Einwanderer
der
ersten
Generation
haben
oft
schon
eine
Binnenwanderung in der Türkei hinter sich. In Dörfern aufgewachsen erleben sie
in türkischen Großstädten andere Lebensweisen und Rollenmuster was zu
Verunsicherungen führt. Diese verstärken sich durch die Migration nach
Deutschland wo sie, gewöhnlich ebenfalls in Großstädten mit noch einmal
anderen Lebensweisen, Werten und Normen konfrontiert werden. Türkische
Einwanderer der ersten Generation reagieren hiermit oft durch Rückzug in die sog.
türkische Community und/oder suchen Halt in der Religiosität.
Für die Kinder dieser Generation sieht die Situation anders aus. Während ihre
Eltern erst als Erwachsene nach Deutschland kamen, ihre Kindheit somit in der
Türkei verbracht haben, wurde die nachfolgende Generation in Deutschland
sozialisiert. Kontakte mit Deutschen beschränkten sich nicht mehr nur auf den
Arbeitsplatz, sondern erstreckten sich auf Kindergarten, Schule, Jugendtreff etc.
Diese zweite Generation wurde in einem weitaus stärkeren Maß von deutschen
Wertvorstellungen und Lebensweisen beeinflusst. Während ein Teil der zweiten
Generation durch Integration oder Assimilation das für sich beste aus der Situation
herausgeholt hat, gibt es dennoch einen Teil, der auf das Zusammentreffen der
Unterschiedlichkeiten mit Rückzug reagiert.
Auf diese Gruppe der türkischen Subkultur ist in der sozialen Arbeit besonders
einzugehen. Pädagogische Maßnahmen und Angebote, hierzu gehören auch
Elternkurse, können nicht ohne weiteres auf diese Familien übergestülpt werden.
Eine ausschließliche Orientierung an deutschen Werten und Normen seitens des
Pädagogen würde zu Irritationen, Unverständnis und im schlimmsten Fall
Ablehnung bzw. Rückzug seitens der angesprochenen Familien führen.
29
Dies verhält sich umgekehrt genauso. Auch beim Pädagogen kann es zu
kulturellen Irritationen kommen wenn er das Handeln der türkischen Familie
betrachtet. Er kann das Schwimmverbot der Mädchen oder die Beschneidung der
Jungen als Ausgrenzung oder Missachtung von Selbstbestimmungsrechten
deuten wohingegen die Eltern dies zum Schutz oder zur Feier ihres Kindes
machen. Es ist nicht davon auszugehen, dass die Eltern ihr Handeln als
Einschränkung bzw. Verhinderung der Autonomie ihrer Kinder betrachten, da sie
ihr Erziehungshandeln vom Handeln ihrer eigenen Eltern ableiten und selbst
wenig demokratische Elemente in ihrer Kindheit erlebt haben.
Grundsätzlich
muss
festgehalten
werden,
dass
auch
Eltern
dieser
Migrantengruppe ihr Handeln gegenüber den Kindern auf Liebe basieren lassen
und bestrebt sind, ihren Söhnen und Töchtern eine angenehme Zukunft zu
gestalten. Sie orientieren sich jedoch häufiger an äußeren ‚Richtern’ – Familie,
Nachbarschaft, Religion – bei der Beurteilung, was richtig und was falsch ist.
Von daher ist immer zu berücksichtigen, dass diese Gruppe Eltern den Begriff
Gewalt anders definiert als es in Deutschland gemeinhin üblich ist. Eine Ohrfeige
gilt wie beschrieben nicht als Gewalt. Hingegen kann es für eine türkische Mutter
durchaus als Gewalt empfunden werden, wenn sie gezwungen wäre ihre
pubertierende Tochter ohne Kopftuch in die Öffentlichkeit zu lassen.
Ein Elternkurs zur Gewaltprävention für türkische Eltern stellt daher immer eine
Gradwanderung dar. Die Inhalte müssen auf die Situation der Eltern abgestimmt
sein. Es ist kontraproduktiv, die Eltern mit den aus unserer Sicht richtigen
Erziehungsleitlinien zu konfrontieren und ihnen Vorhaltungen zu machen, dass sie
diese nicht einhalten. Genauso kontraproduktiv wäre es, eine falsche Toleranz
gegenüber sämtlichen traditionellen Erziehungsmethoden walten zu lassen.
Niemals darf Gewaltanwendung als Erziehungsmittel legitimiert werden.
In den nächsten Kapiteln wird der vom Deutschen Kinderschutzbund initiierte
Elternkurs „Starke Eltern – Starke Kinder“ und sein auf türkische Eltern zielendes
Pendant „Güçlü Anne- Babalar – Güçlü Çocuklar" in Betracht genommen und
daraufhin untersucht, inwieweit er ein adäquates Mittel zur Gewaltprävention in
türkischen Familien ist.
30
7. Elternkurse als Präventionsinstrument
Bevor ich mich exemplarisch dem Kurs „Güçlü Anne- Babalar – Güçlü
Çocuklar“ näher widme, wird an dieser Stelle das deutschsprachige Pendant
„Starke Eltern – Starke Kinder“ kurz vorgestellt.
7.1. Grundlagen des Elternkurses „Starke Eltern – Starke Kinder“
Der Kurs „Starke Eltern – Starke Kinder“, im weiteren Verlauf kurz mit SESK
bezeichnet, baut auf Ideen des Finnischen Kinderschutzbundes aus den 1980ern
auf. Auf dieser Grundlage hat der Deutsche Kinderschutzbund den Elternkurs
weiterentwickelt. Verfolgt werden dabei primär zwei Hauptziele:
1. Stärkung der elterlichen Erziehungskompetenz und Verhinderung von
physischer wie psychischer Gewalt.
2. Stärkung der Rechte und Partizipation der Kinder im Familiensystem
Das Erziehungskonzept von SESK wird als „anleitende Erziehung“ bezeichnet. Es
basiert auf dem Menschenbild des Deutschen Kinderschutzbundes, wonach jeder
Mensch nach Homöostase strebt, der Balance zwischen Autonomie und Bindung.
Es ist somit weder als autoritär noch als antiautoritär zu bezeichnen.
SESK arbeitet ressourcenorientiert, die Stärken sowohl von Eltern als auch
Kindern stehen im Mittelpunkt des Handelns und nicht die Defizite. Dabei wird der
Schwerpunkt auf die jetzige und zukünftige Familiensituation, nicht auf
Vergangenes gerichtet. Der Kurs basiert auf Freiwilligkeit und versteht sich als
Präventivangebot, nicht als therapeutische Maßnahme.
SESK ist ebenfalls eine Maßnahme zur Stärkung der Durchführung des § 1632
BGB. Dieser im November 2000 geltend gewordene Paragraph beinhaltet das
Recht der Kinder auf gewaltfreie Erziehung.
Der Kurs soll hierbei zur Bewusstseinsbildung der Eltern diesbezüglich beitragen
und ihnen helfen, Verunsicherungen durch diesen Paragraphen zu mindern
(Hokanen-Schoberth, S. 1f)
31
7.2. Inhalt und Methodik der Kursstunden
Für jeden SESK-Kurs gibt es verbindliche Standards. Diese sehen unter anderem
die Zeitstruktur und die Gruppengröße vor. Der zeitliche Umfang beträgt auf acht
bis zwölf Kurseinheiten verteilt mindestens 16 Zeitstunden. Die Teilnehmerzahl ist
zwischen acht und 16 Teilnehmern festgelegt (Schnabel, S.1). Die SESK-Kurse
werden nicht in Blockform angeboten sondern über einen längeren Zeitraum. Auf
diese Weise werden die Eltern längerfristig begleitet und bestimmte Situationen
und Verhaltensänderungen können eher wahrgenommen, thematisiert und
reflektiert werden. Die Teilnehmerzahl zwischen acht und 16 Personen führt zur
Möglichkeit einer guten Gruppendynamik ohne Anonymität zu vermitteln.
Der SESK-Kurs wird von ein oder möglichst zwei Kursleitern durchgeführt, die
hierzu durch spezifische Fortbildungen qualifiziert wurden.
SESK ist grundsätzlich ein allgemeiner Elternkurs, kann aber bei entsprechender
Zielgruppe spezialisiert werden, etwa auf Kindergartenkinder, Alleinerziehende
oder Eltern mit Migrationshintergrund.
Jede Kurseinheit steht unter einem bestimmten Motto (unten aufgeführt). Die
einzelnen Stunden bestehen aus Theorie und Praxis. Visuell unterstützt wird der
Theorieteil vermittelt, anschließend folgt in Kleingruppenarbeit der Praxisteil.
Die teilnehmenden Eltern kriegen für die jeweils nächste Einheit aufgetragen,
zuhause bestimmte Verhaltensweisen zu erproben oder zu beobachten (Schnabel,
S.2).
Mottos der einzelnen Kurseinheiten
1. Achte auf die positiven Seiten deines Kindes
2. Vorbild dringt tiefer als Worte
3. Zum Wachsen braucht man Anerkennung, Liebe und Vertrauen
4. Wenn du dich verstecken willst, verstecke dich nicht zu gut, irgendwann
mal musst du dich selbst ja wieder finden
5. Sprache schafft Wirklichkeit
6. Hör dem Kind mehr zu, dann verstehst du es besser
7. Keiner kann für den anderen dessen emotionale Probleme lösen
8. Alle Gefühle als solche sind erlaubt und akzeptiert
32
9. Verändere zuerst dein Verhalten und erwarte nicht, dass der Andere den
ersten Schritt tut
10. Je mehr Macht du in einer Konfliktsituation anwendest, desto weniger
bleibenden positiven Einfluss hast du auf den Anderen
11. Wenn man Beschlüsse, die einen selbst betreffen, mitentscheiden kann, ist
man auch eher bereit sie einzuhalten
12. Wenn Du es eilig hast, mach einen Umweg
Die Grundlagen der SESK-Kurse basieren auf verschiedenen Theoriepositionen.
Honkanen-Schoberth
(Honkanen-Schobert,
S.
2)
führt
hierzu
neben
systemtheoretischen Ansätzen den kommunikationstheoretischen Ansatz von
Watzlawick, Inhalte unterschiedlicher familientherapeutischer Schulen, Elemente
der
Individualpsychologie
Alfred
Adlers,
verhaltens
–
und
gesprächstherapeutische Ansätze Carl R. Rogers sowie Ideen von Thomas
Gordon auf. SESK hat somit ein sehr heterogenes Theoriefundament.
33
8. „Güçlü Anne- Babalar – Güçlü Çocuklar"
An dieser Stelle wird in Bezugnahme auf die im ersten Teil der Arbeit
festgestellten Lebenswelten und Erziehungsmuster der türkischen Familien eine
Reihe von Anforderungen gestellt. Im Anschluss wird der „Güçlü Anne- Babalar –
Güçlü Çocuklar“-Kurs näher beleuchtet und in Kontext mit den nachfolgenden
Anforderungen gestellt.
8.1. Anforderungen an Kurse für türkische Eltern
Die unterschiedlichen Wertvorstellungen von traditionell lebenden Türken in
Deutschland und der deutschen Mehrheitsbevölkerung, Hauptzielgruppe von
Elternkursen, erfordern einige Änderungen in der Konzipierung und Durchführung.
Sicherlich kann man sie nicht als Schablone auf jeden einzelnen Kurs, jede
Gruppe übertragen. Dennoch stellen die hier aufgeführten Anforderungen einen
Maßstab der Orientierung und Möglichkeit zur Überprüfung der Arbeit dar.
Anforderungen an Kurse für türkische Eltern
a) Räumliche Faktoren
b) Kostenfaktoren
c) Zeitliche Faktoren
d) Geschlechtertrennung
e) Die Kursleitung
a) Räumliche Faktoren
Die angesprochene Zielgruppe verfügt meist über ein geringes Einkommen. In den
Familien ist meistens nur ein PKW vorhanden, dieser wird meist vom
Familienvater während seiner Erwerbstätigkeit genutzt. Dies bedeutet, dass die
Mutter und Kinder in ihrer Mobilität eingeschränkter sind. Schon der regelmäßige
Kauf von Fahrkarten für öffentliche Verkehrsmittel kann eine finanzielle Belastung
darstellen, die eine Aufhebung dieser mobilen Einschränkungen verhindern kann.
Ein zentral in der Innenstadt angebotener Elternkurs stellt sicherlich ein besseres
Angebot dar als ein Kurs in den Randgebieten der Stadt. Dennoch ist zu
berücksichtigen, dass auch dadurch nicht alle potentiellen Eltern erreicht werden
können. Elternkurse sollten regelmäßig in den Stadtteilen mit besonders hohem
34
Anteil türkischer Migranten angeboten werden. Als Ort der Durchführung bieten
sich für die Familien vertraute Räumlichkeiten wie Kindertagestätte, Schule oder
Jugendtreff an.
b) Kostenfaktoren
Wie in a) bereits aufgegriffen, kann die finanzielle Situation der Familie dazu
führen, dass sie viele Angebote aus Kostengründen ablehnen obwohl diese bei
ihnen durchaus auf Interesse gestoßen sind. Ein Elternkurs sollte auch für sozial
schwache Familien finanziell erschwinglich sein.
c) Zeitliche Faktoren
Hier stellt sich die Frage, ob ein Kurs besser in den Vormittagsbereich gelegt wird
oder
in
den
Nachmittags/Abendbereich.
Erstere
Variante
kann
die
Kinderbetreuung durch Kindertagesstätte oder Schule sichern, beschränkt aber
die Teilnahme der Eltern bei Berufstätigkeit. Während in klassisch türkischen
Familien die Frau als Hausfrau dem Kurs nachkommen kann, hat der Vater, wie in
dieser Arbeit beschrieben, meist das Zentrum der Familie, nicht die Möglichkeit,
dem Kurs nachzukommen.
Ein Kurs spät am Tag ermöglicht mehr Vätern die Teilnahme, sodass die Eltern
als Paar an dem Kurs teilnehmen können. Hier stellt sich jedoch die Frage der
Kinderbetreuung. Nicht immer ist es für diese Familien möglich, die Kinder von
den Großeltern, der Tante etc. versorgen zu lassen. Eine allgemein gültige
Richtlinie ist hier nicht zu finden. Ein parallel zum Kurs laufendes Angebot der
Kinderbetreuung ist jedoch in jedem Fall ein positiv verstärkender Faktor.
d) Die Geschlechtertrennung
Männer und Frauen in klassisch türkischen Milieus verbringen ihre Freizeit
gewöhnlich getrennt voneinander. Auch bei der Arbeitsteilung kommt es selten zu
Berührungspunkten. Hier stellt sich die Frage, inwieweit die angezielten Ehepaare
zu gemeinsamen Sitzungen bereit sind. In den Kursen wird das Privatleben
zumindest zu einem Teil offenbart. Die Eltern kommen in die Situation, auch
Schwächen im eigenen Handeln und Verhalten vor der Gruppe einzugestehen.
Dadurch besteht die Gefahr des ‚Ehrverlusts’. Männer könnten sich in
Anwesenheit von anderen Männern und Frauen als schwach empfinden, Frauen
35
könnten ihre Aufgaben als Mutter in Gegenwart von anderen Müttern hinterfragt
und
kritisiert
sehen.
Eine
Alternative
wäre
hier
der
Ansatz,
die
Geschlechtertrennung zu dulden und, während des gesamten Kurses oder bei
bestimmten Einheiten, nur mit einer reinen Vätergruppe bzw. reinen Müttergruppe
zu arbeiten.
e) Die Kursleitung
Die Leitung des Kurses stellt im Idealfall einen Pädagogen mit türkischem
Migrationshintergrund dar. Auf diese Weise wird das Sprachproblem von
vornherein ausgeschaltet. Eine türkischstämmige Kursleitung ist eher in der Lage,
sich in die Mentalität der Zielgruppe hineinzuversetzen. Dennoch muss sie eine
professionelle Distanz bewahren und in der Lage sein, althergebrachte
Handlungsmuster in der Erziehung hinterfragen zu können und zu lassen sowie
alternative Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen.
Die Kursleitung muss sich trotz Verständnis für die Mentalität der Eltern und deren
Schwierigkeiten mit dieser in der deutschen Gesellschaft ohne Einschränkungen
für eine gewaltfreie Erziehung einsetzen.
Die nachfolgend verwendeten Informationen sammelte ich in Gesprächen mit zwei Mitarbeitern des Deutschen
Kinderschutzbundes, Ortsverband Wuppertal: Frau Kerstin Holzmann und besonders Herrn Hayri Argav (Siehe Anhang).
8.2. Grundlagen des Elternkurses
Das türkische Pendant von SESK verfolgt dieselben Grundziele wie der
Ursprungskurs: Wege in eine gewaltfreie Erziehung aufzeigen und Kinder als
autonome Individuen achten.
Ein zentraler Unterschied ist die Vermittlung durch die türkische Sprache. Hiermit
werden Familien angesprochen, die sich im Deutschen sprachlich nicht so treffend
ausdrücken können wie in ihrer Muttersprache. Durch Gespräche mit Mitarbeitern
des Kinderschutzbundes erfuhr ich, dass die Türken, die fließend deutsch
sprechen, eine Teilnahme an einem türkischsprachigen Kurs nicht wünschen, da
sie es aufgrund ihrer Sprachkompetenz für unnötig halten und teilweise auch, da
sie mit den Besuchern eines solchen Kurses keinen Kontakt wollen.
36
8.3. Inhalt und Methodik der Kursstunden
Die angesprochene Zielgruppe verfügt über teilweise stark eingeschränkte Schreib
– und Lesekompetenzen. Daher wird in diesem Kurs nur sehr eingeschränkt mit
schriftlichen
Aufgaben
und
Hausaufgaben
gearbeitet.
Teilweise
werden
Stichpunkte, visualisiert durch eine Stelltafel, zu einem Thema aufgeführt. Die
Mottos der einzelnen Kurse werden als Großschriftausdruck an die Teilnehmer
ausgegeben.
Ein weiterer Punkt, in dem sich die hier angesprochene Zielgruppe von der der
Deutschen unterscheidet, ist die Bereitschaft über innerfamiliäre Probleme zu
reden. Die einzelnen Teilnehmer kommen oft durch private Kontakte, Mund-zuMund-Propaganda zum Kurs. Neben der grundsätzlichen Hemmung über
familieninterne Probleme in Gegenwart von Anderen zu reden, kommt hier noch
zusätzlich der Aspekt hinzu, sich gegenüber Freunden und Familienangehörigen
eine Blöße zu geben. Das Gespräch über eigene Fehler und Probleme wird
vermieden um nicht als schwach oder versagend zu gelten. Aufgrund dieser
Voraussetzungen kommt in den GABGC-Kursen ein großer Teil des Inputs von
Seiten des Kursleiters.
8.4. Übertragung der Anforderungen an türkische Elternkurse auf „Güçlü
Anne- Babalar – Güçlü Çocuklar"
An dieser Stelle wird der vom Wuppertaler Kinderschutzbund organisierte Kurs
„Güçlü Anne- Babalar – Güçlü Çocuklar" auf die in 8.1. gesammelten
Anforderungen an einen gelingenden Kurs für türkische Eltern übertragen.
a) Räumliche Faktoren
Der Kurs findet zentral in Wuppertal-Elberfeld statt, eine Minute Fußweg vom
Hauptbahnhof entfernt. Die Verkehrsanbindungen sind somit optimal. Dennoch
werden dadurch durch die in 8.1. genannten Gründe nicht alle Eltern erreicht. Die
Organisation eines Kurses in einzelnen Stadtteilen wäre bei genügend Bedarf
jedoch möglich.
b) Kostenfaktoren
37
Der komplette Kurs in zwölf Einheiten kostet für eine Einzelperson 40 Euro, für
Paare 70 Euro und für Sozialhilfeempfänger jeweils 10 Euro. Der Kurs ist somit für
alle angesprochenen Familien erschwinglich.
c) Zeitliche Faktoren
Der Kurs findet im Vormittagsbereich, montags zwischen 9.30 Uhr und 11.30 Uhr
statt. Dadurch können nicht alle berufstätigen Eltern, besonders Väter, erreicht
werden.
Kinder
können
zum
Kurs
mitgebracht
werden
sofern
der
Veranstaltungsort eine Kinderbetreuung ermöglichen kann. Insgesamt ist die
Abhaltung des Kurses von der Zeit her variabel. Dadurch können möglichst viele
potentielle Kursteilnehmer angesprochen werden.
d) Die Geschlechtertrennung
Der Kurs ist für Mütter und Väter gleichermaßen offen. In der Realität nehmen
jedoch weit mehr Mütter als Väter am Angebot teil. Neben Arbeitstätigkeit kann
das Fernbleiben der Väter auf Hemmnisse zwischen Männern und Frauen
zurückgeführt werden. Kurse speziell für Mütter oder Väter werden aus
Konzeptionsgründen derzeit nicht stattfinden.
e) Die Kursleitung
Der Kursleiter, Herr Argav, ist ein aus der Türkei stammender Grundschullehrer
und türkischer Muttersprachler. Mit diesem Hintergrund stellt er einen optimalen
Kursleiter für dieses Klientel dar.
38
9. Konklusion
Ausgangsfrage war, welche Faktoren Gewalt in türkischen Familien begünstigen
und in wieweit Elternkurse eine geeignete Präventionsmaßnahme darstellen
können.
Gewalt ist in der hier betrachteten traditionell lebenden Gruppe türkischer Familien
weitaus präsenter als im Gesellschaftsdurchschnitt. Nicht jede Gewaltanwendung
wird innerhalb der Familie auch als solche erkannt und benannt.
Der Islam und die Relevanz der Ehrerbietung bzw. Ehrerhaltung prägt das
Handeln im Alltag. Die patriarchalischen Strukturen führen zu einer strikten
Rollenverteilung und unterbinden eine Diskussionskultur. Die traditionellen
Familien schirmen ihr internes Familienleben von äußeren Einblicken ab.
Probleme werden nicht öffentlich gemacht und können somit nicht immer gelöst
werden.
Traditionelle Initiationen werden auf die Kinder bzw. jungen Menschen
übergestülpt und behindern eine individuelle Entwicklung. Insgesamt steht der
Kollektivismus vor der Individualität – die Meinung der Gemeinschaft ist erstrangig,
die Meinung des Einzelnen zweitrangig. Althergebrachte Strukturen und
Handlungsweisen werden auf diese Weise wenig oder gar nicht hinterfragt. Durch
fehlende Diskussionsbereitschaft wird die Relevanz der Veränderung bestimmter
Verhaltensweisen nicht ins Bewusstsein gerückt.
Elternkurse wie hier exemplarisch dargestellt „Starke Eltern – Starke Kinder“ und
sein türkisches Pendant „Güçlü Anne- Babalar – Güçlü Çocuklar" können diesen
Familien helfen, eigene Verhaltensweisen zu hinterfragen und Konfliktsituationen
gewaltfrei zu lösen. Eltern, die diesen Kurs besuchen haben bereits eigenständig
den ersten Schritt zur Verhaltensänderung getan: Sie haben eine außerhalb der
Familie
stehende
Institution
aufgesucht
um
sich
Unterstützung
in
Erziehungsfragen zu holen. Nur durch diese Grundeinstellung zur etwaigen
Verhaltensänderung seitens der Eltern kann ein solcher Kurs auch erfolgreich sein.
Ein deutscher Elternkurs lässt sich nicht unverändert auf traditionelle türkische
Familien übertragen. Zu berücksichtigen sind Faktoren wie die sozio-ökonomische
39
Lage, das Rollenverständnis oder die interkulturelle Kompetenz der Kursleitung.
Die wenig ausgeprägte Diskussionskultur und die Hemmnis, über familiäre
Probleme in Anwesenheit Dritter zu reden fordern einen eher vortragsorientierten
Kurscharakter. Die oft geringen Lese – und Schreibkompetenzen müssen bei der
Visualisierung und Aufgabengestaltung berücksichtigt werden.
Ein
weiterer
zentraler
Punkt
ist,
Eltern
transparent
zu
machen,
dass
Veränderungen in der Erziehung durchaus Monate und Jahre brauchen um als
solche wahrgenommen zu werden.
Inwieweit ein Elternkurs tatsächlich zur Gewaltreduktion in der Erziehung
türkischer Familien beiträgt, ist empirisch noch nicht zu belegen. Dennoch stellen
Elternkurse, so sie durchgängig besucht und möglichst mit Nachtreffen verbunden
sind, einen wichtigen Schritt zu einer reflektierten Erziehung dar. Strukturen
können hinterfragt und Verhaltensweisen diskutiert werden. Die Schaffung eines
solchen Bewusstseins in traditionellen türkischen Familien stellt einen großen
Erfolg für einen Elternkurs dar.
40
10. Literaturverzeichnis
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1998
•
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•
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„Elternkurse:
„Starke
Eltern
–
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Kinder“ Gewaltfreie Erziehung in der Familie“ IN: Homepage des
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(10.03.08)
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•
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•
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Statistisches Bundesamt, 2007
•
Statistisches Bundesamt – www.destatis.de:
1.
http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Content/Statistiken/Bevoelkerung/Auslaen
discheBevoelkerung/Tabellen/Content50/EinbuergerungStaatsangehoerigkeit,templateId=renderPrint.psml
(12.02.08)
2.
http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Content/Statistiken/Bevoelkerung/Auslaen
discheBevoelkerung/Tabellen/Content50/TOP10,templateId=renderPrint.psml (12.02.08)
•
Toprak, Ahmet: „Das schwache Geschlecht – die türkischen Männer“,
Lambertus, 2005
•
Toprak, Ahmet: „Jungen und Gewalt“, Centaurus, Herbolzheim, 2004 – Im
Fließtext mit ‚b’ gekennzeichnet.
•
Toprak, Ahmet: „Wer sein Kind nicht schlägt, hat später das Nachsehen“,
Centaurus, 2004, Herbolzheim – Im Fließtext mit ‚a’ gekennzeichnet.
•
Tworuschka, Monika: „Grundwissen Islam“, Aschendorff Verlag, Münster,
2002
•
Väteraufbruch für Kinder e.V. (Hg.): „Genitale Verstümmlung bei Jungen
und Männern“, Väteraufbruch für Kinder e.V., Augsburg, 2005
42
Anhang I: Zusammenfassung der Kursstunde vom 7. April 2008
Am 7. April 2008 bekam ich die Gelegenheit, selbst an einer Kursstunde von
„Güçlü Anne- Babalar – Güçlü Çocuklar“ teilzunehmen. Diese fand von 9.30 Uhr
bis 11.30 Uhr in den Räumen des Deutschen Kinderschutzbundes, Ortsverband
Wuppertal, an der Schlossbleiche 18 statt. Da der Kurs auf türkisch gehalten
wurde, konnte ich ihm nur oberflächlich folgen.
An diesen Kurs nahmen sieben Mütter, zwei Väter und eine Großmutter teil.
Abgesehen von einem Säugling waren keine Kinder anwesend. Der Kursleiter,
Herr Argav verwendete zur Veranschaulichung eine Klapptafel. Neben einem
Ordner mit Arbeitsblättern war dies das einzig verwendete Arbeitsmaterial.
Der Kurs startete in der Vorwoche. Zu dem Zeitpunkt waren jedoch sehr wenige
Eltern anwesend sodass heute der Einstieg wiederholt wurde.
Begonnen wurde mit einer Vorstellungsrunde der Teilnehmer. Es wurde vereinbart,
sich mit Vornamen anzureden. Herr Argav erläuterte das grundlegende Konzept
von GABGC und begann dann mit dem eigentlichen Einstieg.
Auf die Stelltafel schrieb er diverse Zahlen zur Situation von Türken in
Deutschland bezüglich ihrer Berufs – und Lebensbedingungen. Den Schwerpunkt
legte er auf folgende Werte:
Arbeitslosenquote von Deutschen: 8 %
Arbeitslosenquote von Migranten insgesamt: 18 %
Arbeitslosenquote von Türken: 40 %
Der Runde wurde nun die Frage gestellt, woher diese große Diskrepanz rühren
könnte. Es wurde auf Diskriminierungen hingewiesen. Herr Argav wies seinerseits
jedoch auf ‚hausgemachte Probleme’ seitens der Türken hin.
Gegen Ende der ersten Stunde wurde eine Übung abgehalten, bei der die Eltern
aufzuzählen hatten, was ihnen und was ihren Kindern wichtig sei. Bei den Eltern
wurden Begriffe genannt wie Sevgi (Liebe), Saygı (Ehre/Respekt), Arbeit, Geld,
Urlaub genannt. Für die Kinder kamen sie auf Begriffe wie Liebe, Glück und
43
Freunde. Auffällig war hierbei, dass die Begriffssammlung für Kinder deutlich
länger dauerte als die der Eltern.
Im Anschluss verdeutlichte Herr Argav die Bedeutung der Eltern für die Erziehung
der Kinder mit einem Sinnbild. Er zeichnete einen Bogen, bezeichnete den Griff
als Mutter, die Sehne als Vater und den Pfeil als Kind. Zwischenzeitlich teilte er
auch zwei Merkblätter an die Eltern aus.
Für die restliche halbe Stunde kam es zu einer Diskussion. Nachdem zuvor meist
nur ein Vater und eine Mutter sich in die Diskussion eingebracht hatten, kamen
nun alle Teilnehmer mit ihren Beiträgen zu Wort. Sämtliche Inhalte der Gespräche
kann ich aus Verständigungsgründen nicht wiedergeben. Es wurde jedoch der
Vergleich der Kindererziehung mit der Mathematik gezogen. Während es in der
Mathematik immer einen stets anwendbaren Lösungsweg gibt, so ist dies in der
Kindererziehung nicht möglich.
Der Kurs endete kurz vor 11.30 Uhr. Nachdem die anderen Kursteilnehmer den
Raum verlassen hatten, hatte Herr Argav noch ein Gespräch mit einer
Teilnehmerin, die ihn darum gebeten hatte.
44
Anhang II: Interview mit dem Kursleiter von „Güçlü Anne- Babalar – Güçlü
Çocuklar", Herrn Hayri Argav
Im Anschluss an die Kurseinheit vom 7. April 2008 hatte ich die Gelegenheit,
Herrn Argav über seine Erfahrungen mit dem Elternkurs zu befragen.
In den letzten vier Jahren hat Herr Argav etwa 20 Kurse im Bergischen Land
sowie Düsseldorf geleitet. Er selbst ist in der Türkei Grundschullehrer gewesen
und in Deutschland hauptsächlich als Journalist und Regisseur tätig.
Erreichte Klientel des Kurses
Den Kurs besuchen mehrheitlich Mütter. Der Anteil von Vätern bei den Kursen
liegt zwischen ein und drei Teilnehmern. Die Teilnehmer haben sich teilweise
schon vor der ersten Kurseinheit gekannt. Hieraus resultiert, dass die
tatsächlichen Probleme der Familien nicht erzählt werden. Oft kommen
Kursteilnehmer nach dem eigentlichen Kurs auf Herrn Argav zu um ihn um Hilfe
bei einem bestimmten Problem zu bitten.
Immer wiederkehrende Themen
Diese Frage verneinte Herr Argav. Die zur Sprache gebrachten Probleme seien
immer wieder unterschiedlich. Bestimmte Themen, die stets zu Konflikten führten,
könne er nicht benennen.
Spezifische Unterschiede zwischen türkischen und deutschen Eltern
Herr Argav bestätigte die klassische Rollenaufteilung in türkischen Familien. Der
Vater entscheidet in der Familie, eine Diskussionskultur ist nicht gegeben,
wenngleich es zu Konflikten kommen kann, wenn die Mutter anderer Meinung ist
als der Vater. Die Meinung der Kinder ist weitgehend ohne Gewicht.
Die Lebenswelten von Mann und Frau sind klar getrennt. Die Mütter verfügen als
Hausfrau über den internen Bereich, die Männer verbringen ihre Freizeit
außerhalb des Hauses. Herr Argav bemängelte hierzu das geringe Interesse der
Väter an ihren Kindern. Diese würden auf fehlende Zeit verweisen, hätten aber
Zeit für andere Dinge wie das Internet oder den Besuch von Kaffeehäusern.
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Türkische Eltern würden einen Pädagogen wie einen Arzt betrachten. Sie
schildern ihm ihr Problem und erwarten ein Patentrezept zur sofortigen Lösung
des Problems. Die Erkenntnis, dass familiäre Probleme oft Monate oder Jahre
brauchen um gelöst zu werden, ist nicht bekannt.
Die türkischen Eltern würden mehrheitlich keinen Sinn in zusätzlicher Bildung wie
Erwachsenenbildung sehen, da sie sich, die sie Erwachsene sind, als ausgelernt
betrachten.
Gewaltproblematik in türkischen Familien
Herr Argav bestätigte meine in Punkt 4.4. erläuterten Erkenntnisse zur
interfamiliären Gewalt. Die Zahlen von 30 Prozent + Dunkelziffer X konnte er
bestätigen.
Herr Argav fragt in seinen Kursen die Eltern direkt, ob sie ihre Kinder schlagen
würden. Er führte weiter aus, dass er nicht jeder Verneinung glaubt. Weiters wies
er auf die Gewalt von Seiten des Manns gegenüber der Frau hin, die er als
weitaus höher erachtet als in deutschen Familien.
Die Rolle des Islam in der Erziehung
Herr Argav bestätigte, dass in den erreichten Familien der Islam einen gewichtigen
Einfluss auf die Erziehung hat. Es sei normal für moslemische Väter, ihren Frauen
und Kinder zu schlagen. Der Islam präge auch die Kleidungsvorschriften. Kinder
dürften keine kurzen Hosen tragen.4
Herr Argav bestätigte, dass die Beschneidung und das Kopftuch eine
Autonomieverletzung der Kinder darstellt. Er könne dies jedoch nicht in seinen
Kursen thematisieren, da diese Themen tabuisiert sind und ein Großteil der Eltern
dann seinen Kursen fernbleiben würde.
Weiter wies er darauf hin, dass einige der Eltern, die seinen Kurs besuchen, der
verbotenen Organisation „Tarikat“5 angehören, die von einem sehr strikten Islam
bestimmt wird.
4
Herr Argav sprach hier nicht nur von Mädchen. Durch meine eigenen Beobachtungen konnte ich auch
feststellen, dass moslemische Jungen auch im Sommer stets Hosen tragen, die mindestens bis zum Knie
reichen.
5
„Tarikat“ ist ein Ordensbund, der dem sufiistischen Islam zugeordnet wird. Ihn kennzeichnet eine sehr
strikte Religionsausübung. Zu genauerer Analyse im Rahmen dieser Arbeit fehlt hier der Raum.
46
Positive Erfahrungen mit den Kursteilnehmern
Herr Argav bestätigte, dass sich durchaus positive Verhaltensänderungen bei den
Kursteilnehmern feststellen lassen. Sehr erfreulich findet er den Wunsch von
einigen Kursteilnehmern, den Kurs erneut besuchen zu wollen.
47