Radikale Mitte - Nuovo Realismo

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Radikale Mitte - Nuovo Realismo
48 LITERATUR FEUILLETON
TASCHENBUCH
1 4 . AU G U S T 20 1 3
GEDICHT:
KERSTIN HENSEL
»Neuer Realismus«:
Der Bonner
Philosophieprofessor
Markus Gabriel
Wissen, wann Schluss ist
Was sein oder wieder
Von Holger Afflerbachs »Kunst der
Niederlage« kann man nur lernen
Foto: Oliver Hohmann
Der Philosoph Markus Gabriel erklärt,
warum es die Welt nicht gibt
VON GREGOR DOTZAUER
N
ichts leichter, als sich für Markus Gabriels
doppelte Abrechnung zu erwärmen. Endlich
holt einer mal aus zum Schlag gegen den Brachialszientismus, mit dem der Evolutionsbiologe Richard Dawkins und seine neoatheistischen Freunde einen Gott aus den Himmeln
vertreiben wollen, der dort nie zu Hause war.
Und endlich stemmt sich einer mal gegen die
kulturwissenschaftliche Versuchung, noch die
letzte empirisch nachprüfbare Tatsache als
wacklige soziale Konstruktion zu entlarven.
Zwischen blindem Naturalismus und haltlosem Skeptizismus ist Gabriel, seit 1999 Inhaber des Lehrstuhls für Erkenntnistheorie an
der Universität Bonn, ein Mann der radikalen
Mitte. Denn sein Programm eines »Neuen
Realismus« erledigt beide Gegner im Handstreich, und das in jargonfrei-prägnanten Sätzen. Wer ein Jahr im Elfenbeinturm forsche
und dann nicht in der Lage sei, sein Thema
verständlich zu erklären, sagt er, der könne es
selbst nicht verstanden haben.
Ein rheinisches Gute-Laune-Wunder
wider den Nihilismus
Markus
Gabriel:
Warum es die
Welt nicht gibt
Ullstein Verlag,
Berlin 2013;
272 S., 18,– €
Entsprechend begierig wird ihm die Bühne bereitet. Hier parliert er bei Anke Engelke über das
»Fernsehen als grundlegenden Modus der Weltaneignung«, wie er in seinem bisher rund 20 000mal verkauften Buch Warum es die Welt nicht gibt
schreibt. Dort tingelt er durch die Rundfunkstudios oder gibt im Podcast (www.verdammtguterkuchen.de) ansteckend aufgekratzt Auskunft
über seinen Weg. Seit Jüngstem hat ihn obendrein
die FAS als Kolumnisten entdeckt. Mit 33 Jahren
ist Markus Gabriel der Denker der Stunde, ein
rheinisches Gute-Laune-Wunder wider den Nihilismus, besessen vom Traum, die deutsche Philosophie erneut zum »Weltmarktführer« zu machen und vom Ruf der »Depressionswissenschaft«
zu erlösen: Heideggers »Sein zum Tode« leuchtet
ihm nur als »Sein zur Freude« ein.
In diesem Großprojekt bildet Warum es die
Welt nicht gibt mit seinem Anspruch, voraussetzungslos lesbar zu sein, die populäre Vorhut und
ist doch ein vollgültiger, theoretisch verästelter
Beitrag zur »Einführung einer neuen Ontologie«.
Sie beruht auf der Lehre von objektiv getrennten
Gegenstandsbereichen, deren Gegenstände in
sogenannten Sinnfeldern erscheinen müssen, um
zu existieren. So kann man sich auf den Mond
als geologischen Himmelskörper beziehen, als
Dichtungsmotiv bei Eichendorff oder als Hilfskalender. Die Zahl der Existenzweisen ist tendenziell unendlich, wobei man über jede klare
Aussagen treffen kann: Den Mann im Mond
zum Beispiel gibt es nur in Ludwig Bechsteins
Märchen. Gabriel versucht auf diese Weise den
Dualismus von Geist und Materie zugunsten
eines Pluralismus der Substanzen zu überwinden.
Begrenzt wird diese Perspektivenvielfalt von der
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Noch der heiligste Krempel taugt
Zum Verfeuern. Weg die Girlanden der
Gebete,
Die postdramatischen SchnittMuster! Weg die gelifteten Synapsen!
Das Kälbergold! Die brillanten Provider!
Das ausgekippte Aktienpaket – auf den
Müll! Alles
Herrlich, alles umsonst. Seltene Erden
Kleben an meinen Sohlen. Sie strahlen
Daß ich was bin
Aber was und warum geht mir das Herz
In die Knie
Radikale
Mitte
SACHBUCH
Die schönste Sendung im Fernsehen war in
meinen Augen eine, die völlig schiefging. Wunderbar drückte in der Sendung Peter Sloterdijk
die Einsicht aus: »Wir werden Mühe haben, die
volle Höhe des Anspruchs zu erreichen.« Die
Mühe begann schon damit, dass Rüdiger Safranski fehlte, er war sonst immer beim Philosophischen Quartett dabei, und ausgerechnet die
letzte Sendung der vom ZDF abgesetzten Reihe
musste ohne ihn auskommen. Safranski war
nicht fahnenflüchtig geworden, sondern wirklich
krank: Die Stimme hatte ihm versagt.
Das letzte Philosophische Quartett trug den
selbstbezüglichen Titel Die Kunst des Aufhörens,
und die Kunst scheiterte, weil der auf die schönste Weise vitale Martin Walser ihr Gelingen ironisch sabotierte: Vom Aufhören wollte ein Walser nichts wissen, irgendwo würde ein jeder schon
weiterkämpfen. Aber nach der Sendung war
Schluss, jedenfalls mit der Sendung!
Leute, die wie ich der Dekadenz das Wort
reden, zumindest gegen die Illusionen der ewig
Tüchtigen, ewig Übenden und Streitbaren, können jetzt ein wissenschaftliches Werk lesen, an
dem sich die Thesen zum Projekt des Aufhörens
überprüfen lassen: Holger Afflerbachs Die Kunst
der Niederlage. Der Autor ist Professor of Central
European History an der Universität von Leeds.
In seinem gelehrten Buch findet man Zitate, die
den Leser aufstacheln, das Problem angemessen
scharf zu sehen. So hatte Churchill einen Kriegsgefangenen beschrieben als »einen Mann, der
versucht, dich zu töten, es nicht schafft und dann
bittet, dass du ihn nicht tötest«. Über den Homo
erectus pekinensis stellte
Konrad Lorenz die Vermutung an, unser Vorfahre sei
»der Prometheus gewesen,
der lernte, das Feuer zu beherrschen, um darauf seine
Brüder zu rösten«.
Das Buch vergegenwärtigt die Techniken des Kapitulierens von der Steinzeit
bis heute. Es geht um Ehre
Holger
versus Überlebenstrieb. Man
Afflerbach:
lernt, dass im Mittelalter die
Die Kunst der
Heere mit einer sozialen
Niederlage
C. H. Beck,
Trennung aufmarschierten:
München 2013;
adlige Kavallerie, nicht ad320 S., 14,95 €
liges Fußvolk, und dass
allmählich das Bild vom heldischen Einzelkämpfer abgelöst wurde durch den Zwang zu Uniformität
und Gehorsam. Im soldatischen Verband war es
nicht mehr die Entscheidung des Einzelnen, weiterzukämpfen oder sich zu ergeben. Über die
Aufgabe des Kampfes entschieden die Offiziere,
was auch seine grotesken Seiten hatte: Im Hitlerdeutschland galt die Parole »Siegen oder sterben«.
Daher wollten die Offiziere, die sich ergeben
mussten, nicht kapitulieren. Die HermannGöring-Division kämpfte nach der Kapitulation
in Nordafrika weiter, und als es auch damit
Schluss war, verlangte der deutsche Offizier von
seinem amerikanischen Widerpart eine Bescheinigung, dass seine Einheit die letzte war, die die
Waffen niederlegte. Erst mit der Bescheinigung
würden sie Ruhe geben. Der Amerikaner hielt
nichts davon: »Freundchen«, erwiderte er, »entweder kommt ihr jetzt raus und lasst das Affentheater sein, oder wir werden euch diese Bescheinigung auf euren Grabstein meißeln.«
Die Regeln des Krieges gelten bekanntlich
nicht nur für den Krieg. Am Schluss eines Berichtes über den Suhrkamp Verlag stand in der
ZEIT: »Es gab und gibt in diesem Konflikt keine
Lösung, keinen Kompromiss, kein Einvernehmen. Es wird nur ein Ende geben, indem eine
der Parteien besiegt wird oder kapituliert.« Für
mich als Anhänger einer soliden depressiven
Lebensanschauung lautet die erste Maxime:
Wissen, wann Schluss ist.
FRANZ SCHUH
Annahme des »Neuen Realismus«, dass der
Mensch Dinge und Tatsachen stets an sich erkenne, ohne dass ihm sein spezifischer Sinnesapparat einen Strich durch die Rechnung mache.
Es sei unbestreitbar, gibt Gabriel zu, »dass
wir die Welt vom ›Standpunkt eines Menschen‹
sehen, wie Kant gesagt hat. Doch bedeutet dies
nicht, dass wir sie damit nicht erkennen können, wie sie an sich ist. Wir erkennen eben vom
Standpunkt eines Menschen, wie die Welt an
sich ist.« Kants »Ding an sich« war immer eine
philosophische Fiktion. Doch wenn die Rede
vom An-sich einen Sinn haben soll, muss es sich
dann nicht vom Für-mich unterscheiden? Oder
glaubt Gabriel, dass die Wahrnehmungs- und
Ordnungsregistraturen des Menschen tatsächlich eins zu eins mit den zu erkennenden Weltstrukturen übereinstimmen?
Als Urvater eines Konstruktivismus, der
Wahrheit grundsätzlich als menschliche Hervorbringung betrachtet, ist ihm Kant so suspekt wie
die Metaphysik als Theorie eines vollständig erfassbaren Ganzen, in dem alles mit allem zusammenhängt. Gabriels spektakulär inszenierte,
aber hochgradig unspektakuläre Behauptung,
dass es die Welt nicht gibt, meint genau das, will
sich aber auch nicht auf Kants Vorschlag einer
»regulativen Idee« einlassen. Die Welt existiert
tatsächlich immer nur als Ausschnitt, also im
Plural. Im Universum als Gegenstandsbereich der
Physik kann sie nicht aufgehen, und wollte man
eine Liste anlegen, die auch sämtliche Gedanken,
Träume und künstlerischen Reflexionen beinhaltet, bliebe sie notwendig Fragment. Deshalb,
argumentiert Gabriel mit Recht, müsse man sich
auch von der Weltformel verabschieden.
Nur: Wer außer Stephen Hawking, dem er
wunderbar eins mitgibt, vertraut noch darauf?
Nicht einmal die verhassten Neurowissenschaftler. Durch seine Begriffsdefinitionen treibt Gabriel auch ein gutes Stück Sandkastenphilosophie
mit imaginären Gegnern. Wer sind die Metaphysiker, die die ganze Welt umarmen? Wer sind die
Konstruktivisten, die nichts als Projektionen
wittern? Der linke Pragmatist Richard Rorty, den
er kürzlich einen »elend schlechten Philosophen«
nannte? Der Dekonstruktivist Jacques Derrida,
dessen Theorien er für »groben Quatsch« hält?
Und hat sich Jürgen Habermas schon jemals vorhalten lassen müssen, er habe sich von den Naturwissenschaften »einschüchtern lassen«?
Bei allem, was man gegen die Genannten
vorbringen mag, scheint hier doch ein kleiner
Fall von Selbstüberhebung vorzuliegen. Wo
Fingerspitzengefühl nötig wäre, trifft einen sofort die Pranke des analytischen Philosophen,
der jeden Text in seine Wahr-falsch-Maschine
füttert, als müsste man nicht gelegentlich zwischen Aussage und sprachlicher Darstellung
vermitteln. Gabriel verbindet das Artistische der
formalen Logik mit Gottlob Freges Überlegungen zu Sinn und Bedeutung, und das Ganze
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verbindet er dann mit einer tiefen Bewunderung
für Martin Heideggers Existenzphilosophie.
Das Ungewöhnlichste an dieser Mischung
ist der ranschmeißerische Ton, mit dem sich der
Autor immer wieder direkt an den Leser wendet. Denn Gabriel hat durchaus Kampfgefährten, die das zugegebenermaßen antirealistische
Pendel der zeitgenössischen Philosophie gerade
mächtig zurückschwingen lassen. Es sind Denker wie der Amerikaner Paul Boghossian, dessen
Anti-Rorty-Studie Angst vor der Wahrheit dieser
Tage im Suhrkamp Verlag erscheint, oder der
Franzose Quentin Meillassoux, Kopf eines
»Spekulativen Realismus«, der die Welt ähnlich
wie Gabriel ohne konstituierendes Subjekt zu
entwerfen versucht.
In vielem steht Gabriel seinen postmodernen Gegnern indes näher, als er meint. Wenn
er schreibt: »Gedanken über die Welt ›im Ganzen‹ sind nicht wahrheitsfähig, sie haben keinen
Gegenstand, auf den sie sich beziehen«, könnte man das glatt für einen Satz von Rorty halten. Der hielt Aussagen über die Wahrheit oder
die Wirklichkeit nämlich für Einladungen zu
einem metaphysischen Salbadern, bei dem
jeder alles behaupten könne.
Zwischen lustvoller Denkübung und
billiger Lebenshilfe
Wenn Gabriel sich mit dem Ethnologen Eduardo Viveiros de Castro darin einig ist, dass »viele
der indigenen Gemeinschaften, die sich heute
in Brasilien befinden, ontologisch viel weiter
als das wissenschaftliche Weltbild« seien, wie
weit ist er da von der anarchistischen Erkenntnistheorie des abtrünnigen Popper-Schülers
Paul Feyerabend entfernt? Und wenn er die
Unendlichkeit seiner Sinnfelder beschwört, ist
er da nicht verteufelt nah bei den unabschließbaren Sinnstrukturen, für die Jacques Derrida
den Begriff der différance erfand?
Ein wesentlicher Unterschied dürfte in der
Schlichtheit liegen, mit der Gabriel einem Sinn
vertraut, den »unsere Hoffnungen und Wünsche in der Regel ergeben«. Gabriel hat gerade
vorgetragen, dass es die Aufgabe der Philosophie sei, jedes Mal wieder von vorne anzufangen. »Fangen wir also von vorne an! Was soll
das Ganze? Dies ist die philosophische Grundfrage schlechthin.« Im Jahr 2013 kann man das
nicht ernsthaft als prima philosophia verkaufen.
Von Heidegger müsste er wissen, dass sie mindestens »Warum ist überhaupt Seiendes und
nicht vielmehr nichts?« lauten muss. Oder ist
die philosophische Frage nicht vielmehr, was
die Frage ist? Kein Wunder, dass die Grundfrage nach dem Sinn des menschlichen Lebens
zwei Seiten später zur Leitfrage verkümmert.
Vielleicht ist es das, was dieses Buch so heftig
zwischen einer lustvollen Denkübung und einem billigen Stück Lebenshilfe changieren lässt.
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An allen acht deutschen Wertpapierbörsen
Diese Verheiß... tröstung, denn wo
Dein Herz ist Dein Schatz
Matthäus Sechs Punkt zwoeins
Et cetera ach et cetera
Sollte ich nach mir noch einmal
Zurück auf die Erde geraten
Wünschte ich zu gedeihen in Wasser
und Sand
Achtfüßig, weißblütig, winzig, tauglich
Für Feuer und Frost, Zucker und Salz,
Ein total toleranter Algenfresser, der,
sich häutend
den Tod überlebt, starr
Vor gutem Willen, weltweit beliebt: ein
Bärtierchen mit dem Geist
Eines Bärtierchens.
So sei es. Wo denn
Ist mein Herz
Kerstin Hensel: Das gefallene Fest
Gedichte und Denkzettel. Reihe Neue
Lyrik, Band 4; poetenladen, Leipzig 2013;
96 S., 16,80 €
WIR RATEN AB
Genie verheddert sich
Ein aufregender, verschlungener Lebensweg. Ein Lebensthema, wie es schöner und interessanter kaum sein könnte.
Und dann eine Autobiografie, deren
Seiten dermaßen Langeweile verströmen, dass der Leser sie nur unter Aufbietung besten Willens umblättern mag:
was für ein Desaster!
Ausgerechnet Benoît B. Mandelbrot,
ein Mathematiker, der sich vom Mainstream seiner Wissenschaft abwandte,
um in neue Welten vorzustoßen, dessen
Werk schließlich durch die Begriffe
»Chaostheorie« und »Fraktale« populär
wurde, dessen Computersimulationen
eine Ahnung davon vermittelten, was
Schönheit in der Mathematik bedeuten
kann, dessen Lebensgeschichte recht
wild durch das 20. Jahrhundert kreuzte
und vorzugsweise in Paris und Amerika
spielte – ausgerechnet er also hat seine
Biografie nach Art eines Buchhalters zu
Papier gebracht. Wir erfahren, welche
Berühmtheiten er alles traf, aber nur
wenig darüber, was er mit ihnen erlebt
hat. Immer wieder deutet er Streit und
Reibereien unter Mathematikern an,
aber worum genau ging es? Keine Antwort. Bescheidenheit wird der Grund
dieser Zurückhaltung nicht gewesen
sein, schließlich preist sich der Autor
unentwegt selbst als den neuen Kepler.
So müssen wir uns wohl mit der Erkenntnis abfinden, dass nicht jeder alles
kann, selbst so ein Genie wie Mandelbrot nicht.
GERO VON RANDOW
Benoît B. Mandelbrot: Schönes Chaos
Mein wundersames Leben; Piper Verlag,
München 2013; 471 S., 24,99 €
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Niederlande € 4,80;
Norwegen NOK 65,00;
Österreich € 4,60;
Portugal € 5,50;
Schweden SEK 64,00;
Schweiz CHF 7,30;
Slowakei € 6,20;
Slowenien € 5,50; Spanien € 5,50;
Kanarische Inseln € 5,70;
Tschechische Republik CZK 185,00;
Ungarn HUF 1960,00
ISSN: 0044-2070