Organtransplantation

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Organtransplantation
Organtransplantation
Eine weit reichende Entscheidung
Dr. med. Paolo Bavastro
Über das Thema Organtransplantation wird seit längerer Zeit heftig und kontrovers diskutiert; selbst wenn es vergleichsweise
wenige Menschen direkt betrifft, ist es wichtig, dass sich jeder einzelne damit befasst und zu einem eigenen Standpunkt kommt.
Es geht hier nicht um eine pauschale Stellungnahme für oder gegen Organtransplantation: es geht vielmehr darum, Gesichtspunkte zu entwickeln für eine bewusste, individuelle Entscheidung des einzelnen, sowie um das Bemühen, der Transplantationsmedizin eine langfristig tragfähige und aufrichtige Grundlage zu geben.
Nach Angaben der Deutschen Stiftung Organtransplantation
(DSO) sind seit der ersten Nierentransplantation im Jahre
1963 in Deutschland rund 103.000 Organe übertragen worden, im Jahr 2010 waren es 5.083. Der sogenannte „Bedarf“
an Organen ist jedoch etwa zwei- bis viermal größer als das
„Angebot“. Zurzeit warten allein in Deutschland 12.000 schwer
kranke Menschen auf ein Spenderorgan.
Daraus ergeben sich einige der Probleme der Transplantationsmedizin. Sie ist heute keine experimentelle Methode
mehr, sondern eine etablierte Behandlungsmöglichkeit, die
für besondere, kritische Erkrankungen ihre Berechtigung haben kann.
biologischer Ebene letztlich nie ganz angenommen: Es bleibt
fremd und wird als solches vom Organismus des Empfängers
auch erkannt. Gleichwohl können transplantierte Nieren beispielsweise bis zu 20 oder 30 Jahre funktionsfähig bleiben. Die
Dauereinnahme von immununterdrückenden Medikamenten
führt zu einer erhöhten Infektanfälligkeit und zu einer erhöhten Tumorrate. Die Auseinandersetzung zwischen Empfängerorganismus und neuem Organ ist sehr komplex: Das Beziehungsgeflecht zwischen Leib, Seele und Geist wird nachhaltig
verändert: Die Organabstoßung ist daher ein tieferes Problem,
das menschenkundlich noch eine Fülle von unbeantworteten
Fragen aufweist, die zugelassen und gestellt werden müssen.
Ich möchte vier Problemkreise kurz skizzieren: Der Empfänger,
der sich nach kurzer oder langer Erkrankung für oder gegen
eine Organverpflanzung entscheidet, ist in seiner Haltung zu
respektieren. Wir haben seinen Wunsch zu akzeptieren — er ist
aus seiner Sicht gerechtfertigt. Damit aber die Entscheidung
eine freie und bewusste sein kann, muss der potentielle Empfänger ausführlich und aufrichtig informiert und aufgeklärt
werden — ganz besonders über strittige Punkte, wie z. B. über
die Diskussionen über den sogenannten „Hirntod“. Die lange
Wartezeit bis zur Operation kann eine schwierige Zeit werden:
Hoffnung und Angst wechseln sich ab. Nach der Operation
entsteht eine mehr oder weniger ausgeprägte „Abhängigkeit“
vom operierenden Zentrum, da viele Kontrollen regelmäßig
durchgeführt werden müssen. Eine psychologisch-menschliche Betreuung der Angehörigen muss stattfinden, da diese für
den Patienten die Stütze darstellen.
Immer wieder wird berichtet über Wesensveränderungen
nach Organtransplantation. Liegt dies unmittelbar am übertragenen Organ, wie manche vermuten? Wesensveränderungen sind auch nach normalen Operationen beschrieben: Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, Schlafstörungen bis
hin zu psychiatrischen Krankheitsbildern. Auch die erforderlichen Medikamente können zu Wesensveränderungen führen.
Jedes Organ muss separat betrachtet werden: Die Niere hat
im Organismus eine andere Stellung als das Herz, das Herz
eine andere als die Lunge. Jedes Organ muss in seiner Funktion
auch im Hinblick auf Leib, Seele und Geist angeschaut werden:
Das sind Aspekte, die bis heute nicht ausreichend untersucht
worden sind.
Kein Mensch gleicht seelisch-geistig einem anderen, und das
gilt auch auf rein biologischer Ebene: Die Individualisierung
wird hier aufrechterhalten durch die Immunabwehr. Der Patient muss lebenslänglich Medikamente einnehmen, um eine
Abstoßung des Organs zu unterdrücken. Das Organ wird auf
Ausgabe 5 Herbst 2011
Folgende Fragen werden meist in der Diskussion ausgeblendet
und ausgelassen: Sind wir verpflichtet etwas zu tun, weil es
machbar ist? Verpflichtet uns der Wunsch oder das Bedürfnis
des Patienten, von einem „Bedarf“ zu sprechen? Müssen Organe zur Verfügung gestellt werden? Sollte ich nicht vielmehr
als Patient dankbar sein, wenn mir ein Organ von einem anderen Menschen freiwillig und aufrichtig gespendet wird? Ist der
Patient im sogenannten „Hirntod“ zur Organabgabe verpflichtet, gibt es eine Bringschuld?
Foto: Digitalpress / Fotolia
Ist der Hirntote ein Toter oder ein Sterbender?
Im Folgenden möchte ich nicht von „Hirntod“ sprechen: Der
Begriff „unumkehrbares Hirnversagen“ scheint mir korrekter. Der „Unbegriff Hirntod“ soll die Assoziation mit dem Tod
suggerieren! Das ist aber die zentrale Problematik der Organtransplantation.
„Hirntod“ wird definiert als Zustand des unumkehrbaren Ausfalls der Gesamtfunktion des Gehirns bei einem künstlich beatmeten Patienten. Der „Hirntod“ wird von einigen mit dem
Tod des Menschen gleichgesetzt.
Neuere Arbeiten belegen, dass die geforderten Untersuchungen zur Feststellung des sogenannten Hirntodes nicht eindeutig und sicher den Ausfall aller Gehirnfunktionen anzeigen
können.
Wir stellen nicht das Hirnversagen fest und treffen dann Entscheidungen über die Behandlungsnotwendigkeit, sondern
wir müssen die Behandlung eines schwerkranken Menschen
beginnen und können oft das Hirnversagen nicht verhindern!
Durch intensivmedizinische Maßnahmen können wir die Möglichkeit anbieten — wir sind dazu verpflichtet — die Inkarnation aufrechtzuerhalten. Es liegt jedoch nicht in unserer Macht,
den Tod zu verhindern. Es ist wichtig zu betonen, dass auch
ein beatmeter Patient im Hirnversagen in Würde sterben kann.
Auch ein beatmeter Patient im
Hirnversagen kann in Würde sterben.
Wenige Monate nach der ersten Herztransplantation 1967
wurde durch das sogenannte Harvard-ad-hoc-Komitee der
Begriff „Hirntod“ eingeführt. Die Intention war deutlich: Es
werden Organe benötigt, der Todeszeitpunkt wird vorverlegt.
Diese Vorverlegung wird nicht hergeleitet, sondern sie wird
ohne Diskussionen und ohne Bezugnahme auf kulturelle, gesellschaftliche, anthropologische, menschenkundliche oder
andere Kriterien festgesetzt. Es handelt sich um eine reine
Zweckdefinition, um eine autoritäre Festsetzung.
Der Begriff „Hirntod“ ist eine reine
Zweckdefinition.
Mit der Diagnose Hirnversagen wendet sich der therapeutische Blick über den betreffenden Patienten hinweg. Obwohl
„für tot“ erklärt, wird nun dieser Patient noch intensiver behandelt, um seine Organe optimal funktionsfähig zu erhalten.
Damit setzt sich der behandelnde Arzt über den Patienten
als Ganzheit hinweg und würde eigentlich ohne Heilauftrag
handeln, wenn, wie meistens, keine ausdrückliche Erklärung
des Betreffenden vorliegt. Die Bemühungen gelten nun nicht
mehr dem Patienten, sondern gehen jetzt in eine andere, anonyme Richtung. Der Heilerwille ist nun nicht mehr auf den
Patienten gerichtet.
Der beatmete Patient im Hirnversagen zeigt Lebensvorgänge wie Puls, Kreislauf, Blutdruck, Temperatur, Stoffwechsel,
Hormonvorgänge, Reflexe und vieles andere. Der Verlauf der
Schwangerschaft einer Patientin im Hirnversagen bis zur Geburt eines gesunden Kindes in der Filderklinik beweist geradezu, dass die „für Tot-Erklärung“ des Hirntodkonzeptes eine
Sprach- und Geistverwirrung darstellt. Ein Toter lässt sich
höchstens „aufblasen“, aber niemals beatmen!
gesundheit aktiv
anthroposophische heilkunst e.v.
Ich möchte noch auf zwei Merkwürdigkeiten aufmerksam
machen. Man spricht von personalem Leben, von Bewusstsein, von Rationalität und identifiziert diese mit dem Gehirn.
Der Mensch habe diese Fähigkeiten nur dank seines Gehirns:
nur derjenige ist Mensch, der rational und ich-bewusst
ist. Ist aber derjenige, dessen Gehirn ausgefallen ist, kein
Mensch mehr, also tot? Bewusstsein und Personsein werden
dem Leben gleichgesetzt und zudem an einem Leibesorgan
festgemacht, das am totesten von allen ist: Die Gehirnzellen wachsen und teilen sich schon wenige Wochen nach der
Geburt nicht mehr. Das Gehirn ist aus der biologischen Individualisierung des Organismus gleichsam herausgenommen.
So erscheint doch merk-würdig, dass man gerade am Gehirn
einige menschliche Merkmale festmachen will und den Tod
mit deren Abwesenheit verbindet.
Es handelt sich also beim irreversiblen Hirnversagen um eine
schwere Erkrankung, die ohne Hilfe rasch zum Tode führt.
Wir können durch intensivmedizinische Maßnahmen von
außen eingreifen und eine gewisse Zeit das Leben aufrechterhalten. Mit dem Hirnversagen, sofern eine Behandlung
durchgeführt wird, beginnt ein langsamer Sterbeprozess,
der aber medizinisch und menschenkundlich weder mit dem
Tod, noch mit einem dem Tiefschlaf ähnlichen Bewusstseinszustand gleichgesetzt werden kann.
Angesichts solcher Probleme sollte jedoch nicht voreilig der
Umkehrschluss gezogen werden, dass Organtransplantationen nicht mehr stattfinden sollten.
Die psychologisch-menschliche Betreuung des Empfängers
und seiner Angehörigen muss intensiviert werden. Bisher
völlig außer acht gelassen ist die psychologisch-menschliche Betreuung der Angehörigen des Spenders: Auf diesem
Gebiet besteht ein enormer Handlungsbedarf!
Gesetzliche Regelungen
Weil „hirntote“ Patienten Menschen im Sterbeprozess sind,
verbietet sich die Zustimmung Dritter zur Organentnahme
als schwerer Eingriff in das Persönlichkeitsrecht.
Die Zustimmung zur Organspende muss
eine bewusste, individuelle Entscheidung
sein.
Ein Transplantationsgesetz darf die Entnahme von Organen
nach Eintritt des unumkehrbaren Hirnversagens dann und
nur dann erlauben, wenn eine persönliche Einwilligung des
Betreffenden (Spenderausweis) vorliegt.
Ausgabe 5 Herbst 2011
Dr. med. Paolo Bavastro.
Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie
und Betriebsmedizin, war bis 2003 Leitender Arzt der Inneren Abteilung der Filderklinik, Stuttgart.
Foto: privat
Die hier vorgetragenen Gesichtspunkte hat der Autor seit
1995 vielerorts mündlich und schriftlich dargestellt und auch
weiter ausgeführt. Insbesondere sei hingewiesen auf sein
Buch „Anthroposophische Medizin auf der Intensivstation —
Historische Hintergründe, Schlaf, Narkose, Hirntod, Organtransplantation. Eine besondere Krankengeschichte", Dornach
1994, Verlag am Goetheanum.