Essstörungen in der hausärztlichen Versorgung

Transcription

Essstörungen in der hausärztlichen Versorgung
Psychotherapie und Psychosomatik
Essstörungen in der hausärztlichen Versorgung –
eine Literaturübersicht
I. Paur
Zusammenfassung
In einer Literaturübersicht werden folgende Fragen beantwortet:
Wie häufig sind Essstörungen? Gibt es präventive Maßnahmen?
Wie häufig und zu welchem Zeitpunkt sieht der Hausarzt Es ssstörungen? Wie präsentieren sich essgestörte Patientinnen und
Patienten in der Praxis? Bei ansteigender Inzidenz von Esssstörungen, insbesondere von Bulimia nervosa, wird die Diagnostik und Therapie durch das doppeldeutige Verhalten der Patientinnen und Patienten und die Präsentation vorgeschobener Symptome erschwert. Es gibt noch keine validierten, praxisgerechten
Schulungen in Zusammenarbeit mit allgemeinärztlichen Praxen.
Viele Allgemeinärzte zeigen ein Verhalten, das von Frustration,
wenig ausgeprägter Empathie und Hilflosigkeit geprägt ist.
Summary
Eating disorder in general practice: A literature review
In this literature review, answer were given to the following questions: How often do eating disorders occur? Are there any preventive interventions? How often and at which moment does the
family doctor recognise eating disorders? How do patients with
eating disorders present themselves in general practice? Increased
incidences of eating disorders, especially bulimia nervosa, and
difficulties in diagnostic and therapy as well as the ambiguous
behaviour of patients in the presentation of delayed symptoms let
diagnose only a small part of these patients. There is no valid practice oriented training for general practice. Many general practitioners show a behaviour that is characterised by frustration and
helplessness, less marked by empathy.
Key words
Eating disorder, incidence, prevention, general practice, diagnosis, therapy
Fragestellung
Folgende Fragen sollen beantwortet werden:
Wie häufig sind Essstörungen?
Gibt es präventive Maßnahmen?
Wie häufig und zu welchem Zeitpunkt sieht der
Hausarzt Essstörungen?
Wie präsentieren sich essgestörte Patientinnen und
Patienten in der Praxis?
228
Dr. med. Ingrid Paur
Rosenhügeler Str. 4a, 42859 Remscheid
Z. Allg. Med. 2003; 79: 228–233. © Hippokrates Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG, Stuttgart 2003
Psychotherapie und Psychosomatik
Die Literaturrecherche
Für diese Literaturrecherche wurden folgende Quellen
benutzt:
Cochrane Review vom 8.2.2002 (11): In den Review
eingeflossen sind das Cochrane Controlled Trial
Register (CCTR) und relevante biomedizinische und
sozialwissenschaftliche Datenbanken, die mit allen
relevanten Schlagwörtern durchsucht wurden. Aus
diesem Pool wurden randomisierte kontrollierte
Studien sowie Bibliographien von systematischen
und nicht-systematischen Reviews gewonnen.
Nur randomisierte kontrollierte Studien mit mindestens einem outcome measure oder mindestens einem
standardisierten psychologischen Parameter bei
Interventions- und Kontrollgruppe, die vor und nach
Intervention überprüft wurden, sind für diese
Recherche berücksichtigt worden. Studien mit einer
Teilnehmerzahl unter 100 wurden nicht eingeschlossen. Der Mindestzeitraum bis zur Nachkontrolle
betrug drei Monate.
Die Datenbanken Medline, Sociofile und Psyline: Diese
wurden ab 1980 mithilfe folgender MESH-Terms
durchsucht: »Anorexia« OR »Anorexia nervosa« OR
»Bulimia« AND »family practice« OR »primary
health care«. Dabei wurden 87 Arbeiten gefunden,
von denen 37 schließlich verwertet wurden.
Epidemiologie
Bei Frauen in Adoleszenz und frühem Erwachsenenalter
beträgt die Prävalenz der Anorexia nervosa 0,5–1 %, die
der Bulimia nervosa 1–3 % (1, 16, 17, 21, 29, 54, 55, 57). Die
überwiegende Anzahl der Autoren postuliert eine deutliche Zunahme von Essstörungen in den letzten 20 Jahren
mit einer nochmaligen Beschleunigung der Zunahme für
die Bulimia nervosa in den letzten fünf Jahren.
Ein wichtiger Aspekt bei der Beurteilung von epidemiologischen Daten und Risikofaktoren von Essstörungen ist
ein subklinisches pathologisches Essverhalten. Es sollten
also Verhaltensweisen bei der epidemiologischen Erfassung einbezogen werden, die (noch) nicht therapiebedürftig sind und vielleicht auch nie werden.
45 % der US-amerikanischen Mädchen und Jungen im
Grundschulalter wollen dünner sein als sie sind. 30–
40 % der Mädchen im Alter von 11–13 Jahren sorgen sich
um ihr Gewicht und 40–60 % der Mädchen im TeenagerAlter machen Diäten (2, 6, 31). Auch australische Untersucher kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Sie berichten
Kurzfassung der Diagnosekriterien nach DSM IV
Anorexia nervosa
Körpergewicht 15 % unter dem erwarteten Gewicht
(BMI < 17,5 kg/m2)
Amenorrhoe
Körperschemastörung
Bewusst herbeigeführter Gewichtsverlust
Bulimia nervosa
Normalgewichtig bis leicht übergewichtig
Starke Gewichtsschwankungen in den letzten24 Monaten
Essattacken mindestens zweimal pro Woche über drei
Monate
Inadäquate gewichtskontrollierende Maßnahmen
EDNOS (Eating Disorders Not Otherwise Specified)
Mischformen, z.B. Fehlen eines Diagnosekriteriums
Methoden der Gewichtsreduktion
restriktiver (asketischer) Typ:
Vermeidung hochkalorischer Speisen, keine aktiven Maßnahmen zur Gewichtsreduktion
aktiver (bulimischer) Typ:
übertriebene körperliche Aktivität, selbst induziertes Erbrechen, Laxantien, Diuretika, Appetitzügler
außerdem über Körperschemastörungen bei einem
Prozentsatz von 12 % der Jugendlichen.
Als »Körperschemastörung« bezeichnet man das Phänomen, dass Betroffene ihren Körper in irrealer Weise
wahrnehmen: Eine Anorektikerin in kachektischem Allgemeinzustand zum Beispiel »sieht« an ihrem Körper
»unschöne« Fettrollen. Rationale Argumente oder nachweisbare Tatsachen wie Körpergewicht und Größe
können diese fehlerhafte Wahrnehmung nicht korrigieren.
Über den erschreckend hohen Prozentsatz von
11–16jährigen Jugendlichen hinaus, die routiniert mit
Diäten umgehen, zeigen nach Untersuchungen von Killlen (21) 13 % der Mädchen und 7 % der Jungen Verhaltensweisen im Sinne von beginnenden Essstörungen.
Risikofaktoren
Um effektive Strategien zur Prävention und/oder Früherkennung von Essstörungen zu entwickeln, ist es zunächst nötig, über die Risikofaktoren informiert zu sein,
die zur Manifestation einer Essstörung führen.
Bisher wurden nur wenige Parameter zuverlässig als Risikofaktoren identifiziert. Es ist gut dokumentiert, dass
die Prävalenz von Essstörungen bei Frauen erheblich höher ist als bei Männern. Das durchschnittliche Alter bei
Krankheitsausbruch liegt zwischen 14 und 20 Jahren.
Patton (11) untersuchte eine australische Gruppe von
Z. Allg. Med. 2003; 79: 228–233. © Hippokrates Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG, Stuttgart 2003
229
Psychotherapie und Psychosomatik
14–15jährigen Mädchen und fand heraus, dass Mädchen,
die sich einer strengen Diät unterzogen, ein 18fach höheres Risiko hatten, eine Essstörung zu entwickeln als
die Kontrollgruppe ohne Diät, und zwar dramatischerweise innerhalb der nächsten sechs Monate. Mäßige
Diäten führten nach seinen Ergebnissen immer noch zu
einem fünffach erhöhten Risiko.
Fairburn (11) beschäftigte sich intensiv mit der Frage,
welche Risikofaktoren spezifisch für die Entwicklung einer Essstörung sind. In drei Studien untersuchte er Risikofaktoren für Anorexia nervosa, Bulimia nervosa und
Binge Eating. Er verglich ein Kollektiv von 67 Frauen mit
Anorexia nervosa zunächst mit 204 gesunden Frauen,
dann mit 102 Frauen, die unter anderen psychiatrischen
Erkrankungen litten, und anschließend mit 102 bulimischen Frauen. Die Rekrutierung der Fälle erfolgte direkt
aus der Gemeinde, also nicht aus der Patientenkartei eines Therapiezentrums, um Verzerrungen bei Schwere
und Ausprägungsgrad der Krankheitsbilder zu vermeiden.
In Interviews wurde eine große Anzahl von Risikofaktoren erfragt und dann verglichen. In ähnlicher Form
wurden 102 bulimische Frauen und 52 Binge-Eaters
untersucht. Fairburn fand unter anderem die im Kasten
aufgeführten Risikofaktoren, die eine Essstörung begünstigen können.
Sowohl bei Anorexie, Bulimie als auch beim Binge Eating
waren eine negative Selbsteinschätzung und Perfektionismus vor Ausbruch der Krankheit überraschend deutlich ausgeprägt.
Greenberg (11) beschreibt eine Korrelation von depresssiven Erkrankungen und Diätverhalten im Sinne einer
Bulimie sowie manisch-depressiven Störungen und
übermäßig restriktivem Essverhalten.
Prävention
Die zuverlässigste Quelle für Daten zur Prävention von
Essstörungen stellt der Cochrane Review »Interventions
for prevention of eating disorders in children and adults«
(11) dar, der mit seinem Erscheinungsdatum Februar
2002 auch die aktuellsten Studien berücksichtigt.
Aus einem Pool von 1379 Studien wurden in dem Review
acht als geeignet herausgefiltert. Insgesamt werden in
diesen acht randomisierten und kontrollierten Studien
2631 Kinder und Heranwachsende untersucht. Alle Studien haben mehr als 100 Teilnehmer. Alle Präventionsprogramme, die in den Unterricht integriert waren und
zum Teil Medien (Filme) nutzten, waren in Schulen angesiedelt, bis auf eine Studie, deren Zielgruppe Pfadfinderinnen waren. Das Alter der untersuchten Zielgruppe
lag zwischen 10 und 19 Jahren. Fünf Studien untersuch-
230
Risikofaktoren, die eine Essstörung begünstigen
können (11)
Psychiatrische Erkrankungen der Eltern, Suchtprobleme
der Eltern,
Eltern-Kind-Probleme,
Übergewicht der Eltern,
Übergewicht als Kind,
kritische Kommentare der Familie bezüglich Figur,
Gewicht und Essgewohnheiten.
ten nur Mädchen. Leider fehlt es an Studien, die Hausärzte in Präventionsprogramme einbinden.
Jerome und Kusel (19, 24) haben keine Randomisierung
der Schüler (Unterrichtsprogramm über Essstörungen
versus Filme über ein neutrales Thema, z.B. Naturfilme)
durchgeführt, während in den übrigen sechs Studien
eine konsequente Randomisierung nachweisbar ist. Eine
Verblindung ist natürlich nicht möglich, sobald man das
Thema »Essstörungen« direkt diskutiert. O’Dea (34) vermeidet das in seinem Schulungsprogramm, so dass seine Studie nachweislich doppelblind ist. Auch Buddeberg-Fischer (5), Killen und Kusel (24) arbeiten mit
»blinden« Lehrern.
Die Analyse der vorliegenden Studien lässt keine Evidenz dafür erkennen, dass die beschriebenen Präventionsprogramme gesunde Essgewohnheiten effektiv fördern.
Positiv ist eine signifikante Verbesserung von psychologischen Schutzmechanismen: In Follow-up-Interviews
drei und sechs Monate nach Abschluss der Programme
zeigte sich bei Buddeberg, Kusel, Zanetti (59) und Neumark-Sztainer (33) eine Verminderung der Internalisierung soziologischer Idealvorstellungen bezüglich der
äußeren Erscheinung.
Langzeiteffekte der Schulungsprogramme analysieren
Killen, Zantonastaso und Zanetti, die den BMI der Schülerinnen vor und 12–14 Monate nach den Schulungsprogrammen ermittelten. Signifikante Unterschiede zeigten
sich nicht.
Carter (9) und andere Autoren kritisieren immer wieder
an Präventionsprogrammen, dass die intensive Beschäftigung mit dem Zielthema erst das unerwünschte Verhalten bahnt, sei es durch Neugier, sei es durch grupppendynamische Prozesse. Die von Carter et al. durchgeführte Untersuchung mit dieser Fragestellung ist allerdings nicht randomisiert, nicht kontrolliert und
analysiert nur 46 13–14jährige Schülerinnen. Auch die
Cochrane-Recherche analysiert mögliche negative Auswirkungen der Schulungsprogramme mit dem Ergebnis,
dass es bei keiner Studie Hinweise auf schädliche Auswirkungen von Essstörungs-Präventions-Programmen
auf die Zielgruppe gibt.
Z. Allg. Med. 2003; 79: 228–233. © Hippokrates Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG, Stuttgart 2003
Psychotherapie und Psychosomatik
Hausarzt und Früherkennung
Erkennen Hausärzte Patientinnen und Patienten mit Esssstörungen? Auf welche Weise präsentieren sich die Patientinnen und Patienten in der Hausarztpraxis? Wann
wird die Diagnose gestellt?
Bursten und Gabel (8) sandten einen Fragebogen an 596
Allgemeinärzte in Ohio, um Erfahrungen der Ärzte mit
Essstörungen zu erfragen. Ein Drittel aller Ärzte hatte
niemals die Diagnose »Bulimie« gestellt. Fast zwei Dritttel gaben an, zum Zeitpunkt der Untersuchung gar keine
bulimischen Patientinnen und Patienten zu haben, und
dies bei einer von den Autoren angenommenen Prävalenz von 1 %, die mit den verfügbaren Literaturdaten
übereinstimmt. Weibliche, jüngere Ärzte und Kollegen
mit privatem Kontakt zu essgestörten Personen hatten
im Schnitt mehr essgestörte Patientinnen und Patienten.
Hoek et al. (17) untersuchten prospektiv in holländischen Allgemeinpraxen mehr als 150.000 Patientinnen
und Patienten und geben eine Inzidenz für Anorexie und
Bulimie von 6,3 resp. 9,9 pro Jahr und pro 100.000 Einwohner an. Sie beleuchten die Frage, wie viele Patientinnen und Patienten von ihrem Arzt nicht erkannt worden sind, obwohl die Allgemeinmediziner zuvor an einer
standardisierten Schulung teilgenommen hatten. Es
zeigt sich in Übereinstimmung mit anderen Studien (4),
dass insbesondere normgewichtige Bulimikerinnen in
vielen Fällen nicht erkannt werden (bis zu 30 %).
Die mittlere Erkrankungsdauer vor Diagnosestellung be trägt nach Turnbull (49) 1,4 Jahre, die Untersuchung von
Ogg und Millar (35) ergab eine mittlere Erkrankungsdauer von 3,5 Jahren vor Therapiebeginn in einem Zentrum oder durch einen spezialisierten Arzt.
Essgestörte Patientinnen und Patienten suchen, gemesssen an einem vergleichbaren Patienten-Kollektiv, vierbis fünfmal so häufig ihren Hausarzt auf, meistens aber,
ohne ihr zentrales Problem zu thematisieren (17). Charakteristisch für Anorexie und Bulimie ist das Vorschieben von Symptomen, die auf andere Erkrankungen hindeuten (36).
Die häufigsten Beschwerden sind Dysmenorrhoe und
Amenorrhoe, weiter finden sich gastrointestinale Beschwerden im Sinne von Gastritiden, Ulcera ventriculi et
duodeni und Meteorismus. Suizidalität und allgemeine
Schwierigkeiten, mit dem Leben fertig zu werden, werden häufiger als in Vergleichsgruppen geäußert (17).
Das »Symptomverschieben« wurzelt oft in Scham und
Schuldgefühlen der Patientinnen und Patienten, gelegentlich werden aber auch gezielt Beschwerden präsentiert, um Wunschmedikamente zu bekommen. 27 % der
Bulimie-Patientinnen und -Patienten hatten vor Diagnosestellung in Verkennung der geäußerten Beschwerden
Laxantien oder Diuretika verschrieben bekommen, 45 %
psychotrope Medikamente (18).
Viele Autoren (9, 37, 38, 62) betonen die entscheidende
Rolle der Früherkennung für den Therapieverlauf einer
Essstörung. Einige Verfasser postulieren, dass die volle
Ausprägung der Bulimie bei frühzeitig einsetzender
Therapie verhindert werden kann. Ben Tovim (11), der
mit die längsten Krankheitsverläufe dokumentiert hat,
spricht der Früherkennung erhebliche Bedeutung für die
Therapiedauer und die Schwere der Erkrankung zu.
Ogg und Millar (35) assoziieren eine kürzere Erkrankungsdauer vor Therapiebeginn mit einer deutlich verbesserten Prognose. Sie glauben, dass diese relativ neuen Krankheiten im Bewusstsein älterer Ärzte nicht als
Problem existieren.
Bursten, Gabel et al. plädieren für ein generelles hausärztliches Screening bei allen Risikopatientinnen und
-patienten, zum Beispiel mit einer vereinfachten Version
des von Garner und Garfinkel entwickelten Eating-Attitude-Tests (15), da hierdurch mit einem geringen Aufwand einiger gezielter Fragen ein erheblicher therapeutischer Vorteil durch Frühintervention erzielt werden
könnte.
Dieser Meinung sind auch Turnbull et al. (49), die zudem
darauf hinweisen, dass ein gezieltes Screening therapeutische Irrwege wie die Verschreibung von Laxantien und
Diuretika durch rechtzeitiges Erkennen und Deuten der
von den Betroffenen vorgespiegelten Symptome vermeiden hilft. Das wiederum vermindere Aggressionen und
Missverständnisse und damit eine Verschlechterung der
therapeutischen Beziehung.
Leider fehlen bei allen diesen positiven Ansätzen (noch)
die Beweise, dass die empfohlenen Maßnahmen einen
messbaren Nutzen haben.
Was tut der Hausarzt?
Während einige Spezialisten der Ansicht sind, schnellstmögliche Überweisung in ein Therapiezentrum sei die
einzige Aufgabe des Hausarztes, schlagen in dieser Literaturübersicht viele Autoren vor, die Hausärzte mehr in
die Behandlung und das Management von Essstörungen
einzubeziehen. Auch hier fehlen leider noch valide Daten zum Erfolg solcher Programme.
Robinson et al. (41) teilen die Hausärzte in vier Gruppen
ein:
der Überweiser – wenig Fachkenntnis, technokratische
Ausrichtung,
der Freund – wenig Fachkenntnis, psychologischempathische Ausrichtung,
der Detektiv – gute Fachkenntnis, technokratische
Ausrichtung,
Z. Allg. Med. 2003; 79: 228–233. © Hippokrates Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG, Stuttgart 2003
231
Psychotherapie und Psychosomatik
der Heiler – gute Fachkenntnis, psychologisch-empathische Ausrichtung.
Burket (7) beschäftigt sich als einer der wenigen Autoren
mit der Einstellung von Hausärzten zu ihren essgestörten Patientinnen und Patienten. 90 Ärzte wurden mittels
eines standardisierten Fragebogens über ihre Einstelllung zu essgestörten Patientinnen und Patienten befragt.
30 % der Ärzte wünschten sich eher keine Patientinnen
und Patienten mit Essstörungen. Charakteristika dieser
ablehnenden Gruppe waren: mehr männliche Ärzte, weniger Empathie, kritischere Einschätzung der Prognose
und dadurch therapeutische Frustration. Die Behandlungsresistenz der Patientinnen und Patienten wurde als
besonders problematisch erlebt.
Nach Turnbull und Ward (49) werden 80 % der Anorexiaund 60 % der Bulimie-Fälle an Spezialisten überwiesen,
im Allgemeinen nur die klinisch schwereren Fälle. Die
Verfasser plädieren für eine frühere psychotherapeutische Intervention auch bei leichteren Fällen, um die
Prognose zu verbessern, leider wieder ohne Belege.
Bisher gibt es nur wenige Studien, die Modelle zur hausärztlichen Intervention bei Essstörungen entwickelt haben. Wir entwickelten im Sommer 2002 einen Fragebogen (36), denwir an 600 Hausärzte in NRW verschickten.
Unter anderem erfragten wir, warum Hausärzte nach ihrer Selbsteinschätzung von essgestörten Patientinnen
und Patienten aufgesucht werden und wie sie weiter
vorgehen. Die Antworten belegen die große Bedeutung
des Vertrauensverhältnisses von Arzt und Patient. Der
Besuch beim Hausarzt scheint sehr oft der erste Arztkontakt von Betroffenen zu sein. Viele Hausärzte halten
das »In-Kontakt-Bleiben« mit den essgestörten Patienten
für eminent wichtig. Als schwierig und teilweise unangenehm wird das Vorspiegeln von Symptomen zum
Zweck der Medikamentenverschreibung (Laxantien, Diuretika) und das ambivalente Verhältnis der Patientinnnen und Patienten zu ihrem Arzt und seiner empfohlenen Therapie empfunden. Der Mangel an Strukturen zur
Hilfestellung bei Problemfällen wird allgemein beklagt.
Literatur
1. American Psychiatric Association. Diagnostic and statistical
manual of mental disorders (DSM-IV). 4th Edition. Washington:
American Psychiatric Association, 1994
2. Anstine D, Grinenko D: Rapid screening for disordered eating in
college-aged females in the primary care setting. J Adolesc Health
2000; 26: 338–42
3. Batal H, Johnson M, Lehmann D, Steele A, Mehler PS: Bulimia: a
primary care approach J Adolesc Health 1999; 24: 324–327
4. Britt E, Del Gobbp S: Changing patterns of referral to an eating
disorders clinic. New Zealand Medical Journal 1990; 103: 564–5
5. Buddeberg-Fischer B: Disorders of eating behaviour – early
detection and treatment possibilities in general practice. Schweiz
Rundsch Med Prax 1997; 86: 1209–12
232
Schlussfolgerungen
Bei ansteigender Inzidenz von Essstörungen, insbesondere
von Bulimia nervosa, wird die Diagnostik und Therapie
durch das äußerst schwierige doppeldeutige Verhalten der
Patientinnen und Patienten und die Präsentation vorgeschobener Symptome erschwert.
Es gibt weder validierte, praxisgerechte Schulungen in Zusammenarbeit mit allgemeinärztlichen Praxen, die in größerem Rahmen getestet worden sind, noch eine suffiziente
Netzstruktur in Zusammenarbeit mit Essstörungs-Zentren.
Viele Allgemeinärzte zeigen ein Verhalten, das von Frustration, wenig ausgeprägter Empathie und Hilflosigkeit geprägt ist (7).
Andererseits ist das oft langjährige Verhältnis der Hausärzte
zu ihren essgestörten Patientinnen und Patienten geprägt
von Vertrauen (37) und Kenntnis der Familienstruktur, also
der ideale Ort für Früherkennung und Frühintervention.
Der Beweis, dass eine verbesserte Früherkennungsrate auch
zu einer besseren Prognose führt, muss allerdings noch
geführt werden. Die überwiegende Anzahl der Autoren hält
Früherkennung für wichtig und sinnvoll – ohne harte
Belege. Es erhebt sich der Ruf nach weiterer Forschung!
6. Buddeberg-Fischer B, Klaghofer R, Gnam G, Buddeberg C: Prevention of disturbed eating behaviour: A prospective intervention
study in 14–19-year-old Swiss students. Acta Psychiatrica Scandinavia 1998; 98: 146–155
7. Burket RC, Schramm LL: Therapist´s attitudes about treating
patients with eating disorders. South Med J 1995; 88: 813–8
8. Bursten MS, Gabel LL, Brose JA, Monk JS: Detecting and treating
bulimia nervosa: how involved are family physicians? J Am Board
Fam Pract 1996; 4: 241–8
9. Carter JC, Fairburn CG: Treating binge eating problems in primary care. Addict Behav 1995; 20: 765–72
10. Chitty KK: The primary prevention role of the nurse in eating
disorders
11. Cochrane Review: Interventions for prevention of eating disorders in children and adults. Cochrane Rev 2002; 20: 204–246
12. Danci LA, Coffey CMM, Veit FCM, Carr-Gregg M, Patton GC, Day
N, Bowes G: Evaluation of the effectiveness of an educational
intervention for general practicioners in adolescent health care:
randomised controlled trial. BMJ 2000; 320: 224–230
13. Freund KM, Boss RD, Handleman EK, Smith AD: Secret patterns: validation of a screening tool to detect bulimia. J Womens
Health Gen Based Med 1999; 8: 1281–4
14. Freund KM, Graham SM, Lesky LG, Moskowitz MA: Detection of
bulimia in a primary care setting. J Gen Intern Med 1993; 8:
236–42
15. Garner DM, Garfinkel PE: Socio-cultural factors in the development of anorexia nervosa. Psychol Med 1980; 10: 647
16. Guerro-Prado D, Barjau R, Chinchilla MA: The epidemiology
of eating disorders and the influence of mass media: a literature
review. Actas Esp Psiquiatr 2001; 29: 403–10
17. Hoek HW: The incidence and prevalence of anorexia nervosa
and bulimia nervosa in primary care. Psychological medicine 1991;
21: 455–460
18. Johnson JG, Spitzer RL, Williams JB: Health problems, impairment and illnesses associated with bulimia nervosa and binge
eating disorder among primary care and obstetric gynaecology
patients. Psychol Med 2001; 31: 1455–66
19. Jerome LW: Primary intervention for bulimia: The evaluation of
a media presentation for an adolescent population. Dissertation
Abstracts International: The Sciences and Engineering 1991; 52:
3296
Z. Allg. Med. 2003; 79: 228–233. © Hippokrates Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG, Stuttgart 2003
Psychotherapie und Psychosomatik
20. Killen JD: Development and evaluation of a school-based
eating disorder symptoms prevention program. In: Levine MP et al.
editor(s). The developmental psychopathology of eating disorders:
Implication for research, prevention and treatment. Mahwah NJ:
Lawrence Erlbaum & Associates 1996
21. Killen JD, Taylor CB, Hammer LD, Litt I et al.: An attempt to modify unhealthful eating attitudes and weight regulation practices
of young adolescent girls. Int J of Eating Disorders 1993; 13:
369–384
22. King MB: Eating disorders in a general practice population.
Prevalence, characteristics and follow-up at 12 to 18 months.
Psychological Medicine 1989; Suppl. 14: 324–326
23. King MB: Eating disorders in general practice. BMJ 1986; 293:
1412–1414
24. Kusel AB: Primary prevention of eating disorders through media literacy training of girls. Dissertation Abstracts International B:
The Sciences & Engineering, 1999; 60: 1859
25. Lipscomb PA: Bulimia: diagnosis and management in the
primary care setting. J Fam Pract 1987; 24: 187–194
26. Maradiegue A, Cecelic E, Bozzelli MJ, Frances G: Do primary
care providers screen for eating disorders? Gastroenterology
Nursing 1996; 19: 65–69
27. Mattingly D, Bhanji S: The diagnosis of anorexia nervosa. Journal of the Royal College of Physicians of London 1982; 16: 191–4
28. Meadows GN, Palmer RL, Newball EU, Kenrick JM: eating
attitudes and disorder in young women: a general practice based
survey. Psychol Med 1997; 13: 175–181
29. Meadows GN, Palmer RL, Newball EUM, Kendrick JMT: Eating
attitudes and disorder in young women: a general practice based
survey. Psychol Med 1996; 16: 191–194
30. Muscari ME: The role of the nurse practicioner in the diagnosis
and mangement of bulimia nervosa. Journal of the American
Academy of Nurse Practicioners 1993; 5: 259–263
31.Muscari ME: Primary health care of adolescents with bulimia
nervosa. J Pediatr Health Care 1996; 10: 17–25
32. Nielsen S: Epidemiology and mortality of eating disorders.
Psychiatr Clin North Am 2001; 24: 201–14
33. Neumark-Sztainer D, Sherwood N, Coller T, Hannan P: Primary
prevention of disordered eating among preadolescent girls: Feasibility and short-term effect of a community-based intervention.
Journal of the American Dietetic Association 2000; 100: 1466–1473
34. O’Dea JA, Abraham S: Improving the body image, eating attitudes and behaviors of young male and female adolescents: A new
educational approach which focuses on self-esteem. Int J of Eating
Disorders 2000; 28: 43–57
35. Ogg E, Millar HR, Pusztai EE, Thom AS: General practice consultation patterns preceding diagnosis of Eating Disorders.
36. Paur I: Eating Disorders in General Practice. Posterpräsentation
DEGAM-Kongress 9.2002 in Koblenz
37. Powers PS: Initial assessment and early treatment options for
anorexia nervosa and bulimia nervosa. Psychiatr Clin North Am
1996; 19: 639–55
38. Powers PS, Santana CA: Eating disorders: a guide for the primary care physician. Prim Care 2002; 29: 81–89
39. Pratt BM, Woolfenden SR: Interventions for preventing eating
disorders in children and adolescents (Cochrane Review), in: The
Cochrane Library, Issue 2, 2002
40. Putukian M: The female triad – eating disorders, amenorrhea,
and osteoporosis. Sports Medicine 1994; 78: 345–356
41. Robinson WD, Prest LA, Susman JL, Rouse J, Crabtree B: Technician, Friend, Detective, and Healer: Family Physician`s Responses
to Emotional Distress. The Journal of Family Practice 2001; 50:
864–869
42. Rohde J, Johannes A, Labeck L, Kelly JT: Diagnos and treatment
of anorexia nervosa. J Fam Pract 1980; 10: 1007–12
43. Santonastaso P, Zanetti T, Ferrara S, Olivotto MC, Magnavita N,
Favaro A: A preventive intervention program in adolescent school-
girls: A longitudinal study. Psychotherapy and Psychosomatics
1999; 68: 46–50
44. Slaughter JR, Sun AM: In pursuit of perfection: a primary care
physician´s guide to body dysmorphic disorder
45. Treasure J, Schmidt U, Troop N, Tiller J, Todd G, Keilen M, Dodge
E: First step in managing bulimia nervosa: controlled trial of therapeutic manual. BMJ 1994; 308: 686–9
46. Treasure J, Ward A et al.: A randomised controlled trial of
sequential treatment for bulimia nervosa incorporating a self-caremanual: Outcome at end of treatment and at eighteen month folllow-up. British Journal of Psychiatry 1996; 168: 94–98
47. Treasure J, Ward A: A practical guide to the use of motivational
interviewing in anorexia nervosa. European eating Disorders
Review 1996; 97: 71–76
48. Tsai G: Eating disorders in the Far East. Eat Weight Disord
2000, 5: 183–97
49. Turnbull S, Ward A, Treasure J, Jick H, Derby L: The demand for
eating disorder care: an epidemiological study using the General
Practice Research Database. British Journal of Psychiatry 1996;
169: 705–12
50. Vandereycken W, van Deth R, Meermann R: Hungerkünstler,
Fastenwunder, Magersucht. Eine Kulturgeschichte der Eßstörungen. 1990, Biermann-Verlag
51. Waller D, Fairburn CG, McPherson A, Kay R, Lee A, Nowell T:
Treating bulimia nervosa in primary care: a pilot study. Int J of
Eating Disorders 1996; 19: 99–103
52. Walsh JM, Wheat ME, Freund K: Detection, evaluation, and treatment of eating disorders: the role of the primary care physician.
J Gen Intern Med 2000; 15: 577–90
53. Wells S, Wells E, Mc Kenzie JM, Hornblow AR: Eating and
weight problems among women attending their general practicioner. New Zealand Medical Journal 1986: 671–673
54. Whitehouse AM, Cooper PJ, Vize CV, Hill C, Vogel L: Prevalence
of eating disorders in three Cambridge general practices: hidden
and conspicuous morbidity. British Journal of General Practice
1992; 42: 57–60
55. Wildes JE, Emery RE, Simons AD: The roles of ethnicity and culture in the development of eating disturbance and body dissatisfaction: a meta-analytic review. Clin Psych Rev 2001; 21: 521–51
56. Wilfley DE, Grilo CM: Eating disorders: a women´s health
problem in primary care. Nurse Pract Forum 1994; 5: 34–45
57. Williams P, King M: The »epidemic« of anorexia nervosa:
another medical myth? The Lancet 1987; I: 205–207
58. Yanovski SZ: Bulimia nervosa: the role of the family physician.
Am Fam Physician 1991; 44: 1231–8
59. Zanetti T, Ferrara S, Favaro A, Santonastaso P: Teaching teachers
prevention interventions. In: European Council of Eating Disorders, Stockholm. 15–17 September; 1999: 19 (abstract)
60. Zinkand H, Cadoret R, Widmer RB: Incidence and detection of
bulimia in a family practice population
61. Zipfel S, Löwe B, Reas DL, Deter H-C, Herzog W: Long-term prognosis in anorexia nervosa: lessons from a 21-year follow-up study
Zur Person
Dr. med. Ingrid Paur, Fachärztin für
Allgemeinmedizin, Sportmedizin, seit
1988 niedergelassen in Remscheid, seit
1998 Lehrärztin der Abteilung Allgemeinmedizin der Heinrich-Heine-Universität
Düsseldorf.
Z. Allg. Med. 2003; 79: 228–233. © Hippokrates Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG, Stuttgart 2003
233