Essstörungen in der hausärztlichen Versorgung
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Essstörungen in der hausärztlichen Versorgung
Psychotherapie und Psychosomatik Essstörungen in der hausärztlichen Versorgung – eine Literaturübersicht I. Paur Zusammenfassung In einer Literaturübersicht werden folgende Fragen beantwortet: Wie häufig sind Essstörungen? Gibt es präventive Maßnahmen? Wie häufig und zu welchem Zeitpunkt sieht der Hausarzt Es ssstörungen? Wie präsentieren sich essgestörte Patientinnen und Patienten in der Praxis? Bei ansteigender Inzidenz von Esssstörungen, insbesondere von Bulimia nervosa, wird die Diagnostik und Therapie durch das doppeldeutige Verhalten der Patientinnen und Patienten und die Präsentation vorgeschobener Symptome erschwert. Es gibt noch keine validierten, praxisgerechten Schulungen in Zusammenarbeit mit allgemeinärztlichen Praxen. Viele Allgemeinärzte zeigen ein Verhalten, das von Frustration, wenig ausgeprägter Empathie und Hilflosigkeit geprägt ist. Summary Eating disorder in general practice: A literature review In this literature review, answer were given to the following questions: How often do eating disorders occur? Are there any preventive interventions? How often and at which moment does the family doctor recognise eating disorders? How do patients with eating disorders present themselves in general practice? Increased incidences of eating disorders, especially bulimia nervosa, and difficulties in diagnostic and therapy as well as the ambiguous behaviour of patients in the presentation of delayed symptoms let diagnose only a small part of these patients. There is no valid practice oriented training for general practice. Many general practitioners show a behaviour that is characterised by frustration and helplessness, less marked by empathy. Key words Eating disorder, incidence, prevention, general practice, diagnosis, therapy Fragestellung Folgende Fragen sollen beantwortet werden: Wie häufig sind Essstörungen? Gibt es präventive Maßnahmen? Wie häufig und zu welchem Zeitpunkt sieht der Hausarzt Essstörungen? Wie präsentieren sich essgestörte Patientinnen und Patienten in der Praxis? 228 Dr. med. Ingrid Paur Rosenhügeler Str. 4a, 42859 Remscheid Z. Allg. Med. 2003; 79: 228–233. © Hippokrates Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG, Stuttgart 2003 Psychotherapie und Psychosomatik Die Literaturrecherche Für diese Literaturrecherche wurden folgende Quellen benutzt: Cochrane Review vom 8.2.2002 (11): In den Review eingeflossen sind das Cochrane Controlled Trial Register (CCTR) und relevante biomedizinische und sozialwissenschaftliche Datenbanken, die mit allen relevanten Schlagwörtern durchsucht wurden. Aus diesem Pool wurden randomisierte kontrollierte Studien sowie Bibliographien von systematischen und nicht-systematischen Reviews gewonnen. Nur randomisierte kontrollierte Studien mit mindestens einem outcome measure oder mindestens einem standardisierten psychologischen Parameter bei Interventions- und Kontrollgruppe, die vor und nach Intervention überprüft wurden, sind für diese Recherche berücksichtigt worden. Studien mit einer Teilnehmerzahl unter 100 wurden nicht eingeschlossen. Der Mindestzeitraum bis zur Nachkontrolle betrug drei Monate. Die Datenbanken Medline, Sociofile und Psyline: Diese wurden ab 1980 mithilfe folgender MESH-Terms durchsucht: »Anorexia« OR »Anorexia nervosa« OR »Bulimia« AND »family practice« OR »primary health care«. Dabei wurden 87 Arbeiten gefunden, von denen 37 schließlich verwertet wurden. Epidemiologie Bei Frauen in Adoleszenz und frühem Erwachsenenalter beträgt die Prävalenz der Anorexia nervosa 0,5–1 %, die der Bulimia nervosa 1–3 % (1, 16, 17, 21, 29, 54, 55, 57). Die überwiegende Anzahl der Autoren postuliert eine deutliche Zunahme von Essstörungen in den letzten 20 Jahren mit einer nochmaligen Beschleunigung der Zunahme für die Bulimia nervosa in den letzten fünf Jahren. Ein wichtiger Aspekt bei der Beurteilung von epidemiologischen Daten und Risikofaktoren von Essstörungen ist ein subklinisches pathologisches Essverhalten. Es sollten also Verhaltensweisen bei der epidemiologischen Erfassung einbezogen werden, die (noch) nicht therapiebedürftig sind und vielleicht auch nie werden. 45 % der US-amerikanischen Mädchen und Jungen im Grundschulalter wollen dünner sein als sie sind. 30– 40 % der Mädchen im Alter von 11–13 Jahren sorgen sich um ihr Gewicht und 40–60 % der Mädchen im TeenagerAlter machen Diäten (2, 6, 31). Auch australische Untersucher kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Sie berichten Kurzfassung der Diagnosekriterien nach DSM IV Anorexia nervosa Körpergewicht 15 % unter dem erwarteten Gewicht (BMI < 17,5 kg/m2) Amenorrhoe Körperschemastörung Bewusst herbeigeführter Gewichtsverlust Bulimia nervosa Normalgewichtig bis leicht übergewichtig Starke Gewichtsschwankungen in den letzten24 Monaten Essattacken mindestens zweimal pro Woche über drei Monate Inadäquate gewichtskontrollierende Maßnahmen EDNOS (Eating Disorders Not Otherwise Specified) Mischformen, z.B. Fehlen eines Diagnosekriteriums Methoden der Gewichtsreduktion restriktiver (asketischer) Typ: Vermeidung hochkalorischer Speisen, keine aktiven Maßnahmen zur Gewichtsreduktion aktiver (bulimischer) Typ: übertriebene körperliche Aktivität, selbst induziertes Erbrechen, Laxantien, Diuretika, Appetitzügler außerdem über Körperschemastörungen bei einem Prozentsatz von 12 % der Jugendlichen. Als »Körperschemastörung« bezeichnet man das Phänomen, dass Betroffene ihren Körper in irrealer Weise wahrnehmen: Eine Anorektikerin in kachektischem Allgemeinzustand zum Beispiel »sieht« an ihrem Körper »unschöne« Fettrollen. Rationale Argumente oder nachweisbare Tatsachen wie Körpergewicht und Größe können diese fehlerhafte Wahrnehmung nicht korrigieren. Über den erschreckend hohen Prozentsatz von 11–16jährigen Jugendlichen hinaus, die routiniert mit Diäten umgehen, zeigen nach Untersuchungen von Killlen (21) 13 % der Mädchen und 7 % der Jungen Verhaltensweisen im Sinne von beginnenden Essstörungen. Risikofaktoren Um effektive Strategien zur Prävention und/oder Früherkennung von Essstörungen zu entwickeln, ist es zunächst nötig, über die Risikofaktoren informiert zu sein, die zur Manifestation einer Essstörung führen. Bisher wurden nur wenige Parameter zuverlässig als Risikofaktoren identifiziert. Es ist gut dokumentiert, dass die Prävalenz von Essstörungen bei Frauen erheblich höher ist als bei Männern. Das durchschnittliche Alter bei Krankheitsausbruch liegt zwischen 14 und 20 Jahren. Patton (11) untersuchte eine australische Gruppe von Z. Allg. Med. 2003; 79: 228–233. © Hippokrates Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG, Stuttgart 2003 229 Psychotherapie und Psychosomatik 14–15jährigen Mädchen und fand heraus, dass Mädchen, die sich einer strengen Diät unterzogen, ein 18fach höheres Risiko hatten, eine Essstörung zu entwickeln als die Kontrollgruppe ohne Diät, und zwar dramatischerweise innerhalb der nächsten sechs Monate. Mäßige Diäten führten nach seinen Ergebnissen immer noch zu einem fünffach erhöhten Risiko. Fairburn (11) beschäftigte sich intensiv mit der Frage, welche Risikofaktoren spezifisch für die Entwicklung einer Essstörung sind. In drei Studien untersuchte er Risikofaktoren für Anorexia nervosa, Bulimia nervosa und Binge Eating. Er verglich ein Kollektiv von 67 Frauen mit Anorexia nervosa zunächst mit 204 gesunden Frauen, dann mit 102 Frauen, die unter anderen psychiatrischen Erkrankungen litten, und anschließend mit 102 bulimischen Frauen. Die Rekrutierung der Fälle erfolgte direkt aus der Gemeinde, also nicht aus der Patientenkartei eines Therapiezentrums, um Verzerrungen bei Schwere und Ausprägungsgrad der Krankheitsbilder zu vermeiden. In Interviews wurde eine große Anzahl von Risikofaktoren erfragt und dann verglichen. In ähnlicher Form wurden 102 bulimische Frauen und 52 Binge-Eaters untersucht. Fairburn fand unter anderem die im Kasten aufgeführten Risikofaktoren, die eine Essstörung begünstigen können. Sowohl bei Anorexie, Bulimie als auch beim Binge Eating waren eine negative Selbsteinschätzung und Perfektionismus vor Ausbruch der Krankheit überraschend deutlich ausgeprägt. Greenberg (11) beschreibt eine Korrelation von depresssiven Erkrankungen und Diätverhalten im Sinne einer Bulimie sowie manisch-depressiven Störungen und übermäßig restriktivem Essverhalten. Prävention Die zuverlässigste Quelle für Daten zur Prävention von Essstörungen stellt der Cochrane Review »Interventions for prevention of eating disorders in children and adults« (11) dar, der mit seinem Erscheinungsdatum Februar 2002 auch die aktuellsten Studien berücksichtigt. Aus einem Pool von 1379 Studien wurden in dem Review acht als geeignet herausgefiltert. Insgesamt werden in diesen acht randomisierten und kontrollierten Studien 2631 Kinder und Heranwachsende untersucht. Alle Studien haben mehr als 100 Teilnehmer. Alle Präventionsprogramme, die in den Unterricht integriert waren und zum Teil Medien (Filme) nutzten, waren in Schulen angesiedelt, bis auf eine Studie, deren Zielgruppe Pfadfinderinnen waren. Das Alter der untersuchten Zielgruppe lag zwischen 10 und 19 Jahren. Fünf Studien untersuch- 230 Risikofaktoren, die eine Essstörung begünstigen können (11) Psychiatrische Erkrankungen der Eltern, Suchtprobleme der Eltern, Eltern-Kind-Probleme, Übergewicht der Eltern, Übergewicht als Kind, kritische Kommentare der Familie bezüglich Figur, Gewicht und Essgewohnheiten. ten nur Mädchen. Leider fehlt es an Studien, die Hausärzte in Präventionsprogramme einbinden. Jerome und Kusel (19, 24) haben keine Randomisierung der Schüler (Unterrichtsprogramm über Essstörungen versus Filme über ein neutrales Thema, z.B. Naturfilme) durchgeführt, während in den übrigen sechs Studien eine konsequente Randomisierung nachweisbar ist. Eine Verblindung ist natürlich nicht möglich, sobald man das Thema »Essstörungen« direkt diskutiert. O’Dea (34) vermeidet das in seinem Schulungsprogramm, so dass seine Studie nachweislich doppelblind ist. Auch Buddeberg-Fischer (5), Killen und Kusel (24) arbeiten mit »blinden« Lehrern. Die Analyse der vorliegenden Studien lässt keine Evidenz dafür erkennen, dass die beschriebenen Präventionsprogramme gesunde Essgewohnheiten effektiv fördern. Positiv ist eine signifikante Verbesserung von psychologischen Schutzmechanismen: In Follow-up-Interviews drei und sechs Monate nach Abschluss der Programme zeigte sich bei Buddeberg, Kusel, Zanetti (59) und Neumark-Sztainer (33) eine Verminderung der Internalisierung soziologischer Idealvorstellungen bezüglich der äußeren Erscheinung. Langzeiteffekte der Schulungsprogramme analysieren Killen, Zantonastaso und Zanetti, die den BMI der Schülerinnen vor und 12–14 Monate nach den Schulungsprogrammen ermittelten. Signifikante Unterschiede zeigten sich nicht. Carter (9) und andere Autoren kritisieren immer wieder an Präventionsprogrammen, dass die intensive Beschäftigung mit dem Zielthema erst das unerwünschte Verhalten bahnt, sei es durch Neugier, sei es durch grupppendynamische Prozesse. Die von Carter et al. durchgeführte Untersuchung mit dieser Fragestellung ist allerdings nicht randomisiert, nicht kontrolliert und analysiert nur 46 13–14jährige Schülerinnen. Auch die Cochrane-Recherche analysiert mögliche negative Auswirkungen der Schulungsprogramme mit dem Ergebnis, dass es bei keiner Studie Hinweise auf schädliche Auswirkungen von Essstörungs-Präventions-Programmen auf die Zielgruppe gibt. Z. Allg. Med. 2003; 79: 228–233. © Hippokrates Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG, Stuttgart 2003 Psychotherapie und Psychosomatik Hausarzt und Früherkennung Erkennen Hausärzte Patientinnen und Patienten mit Esssstörungen? Auf welche Weise präsentieren sich die Patientinnen und Patienten in der Hausarztpraxis? Wann wird die Diagnose gestellt? Bursten und Gabel (8) sandten einen Fragebogen an 596 Allgemeinärzte in Ohio, um Erfahrungen der Ärzte mit Essstörungen zu erfragen. Ein Drittel aller Ärzte hatte niemals die Diagnose »Bulimie« gestellt. Fast zwei Dritttel gaben an, zum Zeitpunkt der Untersuchung gar keine bulimischen Patientinnen und Patienten zu haben, und dies bei einer von den Autoren angenommenen Prävalenz von 1 %, die mit den verfügbaren Literaturdaten übereinstimmt. Weibliche, jüngere Ärzte und Kollegen mit privatem Kontakt zu essgestörten Personen hatten im Schnitt mehr essgestörte Patientinnen und Patienten. Hoek et al. (17) untersuchten prospektiv in holländischen Allgemeinpraxen mehr als 150.000 Patientinnen und Patienten und geben eine Inzidenz für Anorexie und Bulimie von 6,3 resp. 9,9 pro Jahr und pro 100.000 Einwohner an. Sie beleuchten die Frage, wie viele Patientinnen und Patienten von ihrem Arzt nicht erkannt worden sind, obwohl die Allgemeinmediziner zuvor an einer standardisierten Schulung teilgenommen hatten. Es zeigt sich in Übereinstimmung mit anderen Studien (4), dass insbesondere normgewichtige Bulimikerinnen in vielen Fällen nicht erkannt werden (bis zu 30 %). Die mittlere Erkrankungsdauer vor Diagnosestellung be trägt nach Turnbull (49) 1,4 Jahre, die Untersuchung von Ogg und Millar (35) ergab eine mittlere Erkrankungsdauer von 3,5 Jahren vor Therapiebeginn in einem Zentrum oder durch einen spezialisierten Arzt. Essgestörte Patientinnen und Patienten suchen, gemesssen an einem vergleichbaren Patienten-Kollektiv, vierbis fünfmal so häufig ihren Hausarzt auf, meistens aber, ohne ihr zentrales Problem zu thematisieren (17). Charakteristisch für Anorexie und Bulimie ist das Vorschieben von Symptomen, die auf andere Erkrankungen hindeuten (36). Die häufigsten Beschwerden sind Dysmenorrhoe und Amenorrhoe, weiter finden sich gastrointestinale Beschwerden im Sinne von Gastritiden, Ulcera ventriculi et duodeni und Meteorismus. Suizidalität und allgemeine Schwierigkeiten, mit dem Leben fertig zu werden, werden häufiger als in Vergleichsgruppen geäußert (17). Das »Symptomverschieben« wurzelt oft in Scham und Schuldgefühlen der Patientinnen und Patienten, gelegentlich werden aber auch gezielt Beschwerden präsentiert, um Wunschmedikamente zu bekommen. 27 % der Bulimie-Patientinnen und -Patienten hatten vor Diagnosestellung in Verkennung der geäußerten Beschwerden Laxantien oder Diuretika verschrieben bekommen, 45 % psychotrope Medikamente (18). Viele Autoren (9, 37, 38, 62) betonen die entscheidende Rolle der Früherkennung für den Therapieverlauf einer Essstörung. Einige Verfasser postulieren, dass die volle Ausprägung der Bulimie bei frühzeitig einsetzender Therapie verhindert werden kann. Ben Tovim (11), der mit die längsten Krankheitsverläufe dokumentiert hat, spricht der Früherkennung erhebliche Bedeutung für die Therapiedauer und die Schwere der Erkrankung zu. Ogg und Millar (35) assoziieren eine kürzere Erkrankungsdauer vor Therapiebeginn mit einer deutlich verbesserten Prognose. Sie glauben, dass diese relativ neuen Krankheiten im Bewusstsein älterer Ärzte nicht als Problem existieren. Bursten, Gabel et al. plädieren für ein generelles hausärztliches Screening bei allen Risikopatientinnen und -patienten, zum Beispiel mit einer vereinfachten Version des von Garner und Garfinkel entwickelten Eating-Attitude-Tests (15), da hierdurch mit einem geringen Aufwand einiger gezielter Fragen ein erheblicher therapeutischer Vorteil durch Frühintervention erzielt werden könnte. Dieser Meinung sind auch Turnbull et al. (49), die zudem darauf hinweisen, dass ein gezieltes Screening therapeutische Irrwege wie die Verschreibung von Laxantien und Diuretika durch rechtzeitiges Erkennen und Deuten der von den Betroffenen vorgespiegelten Symptome vermeiden hilft. Das wiederum vermindere Aggressionen und Missverständnisse und damit eine Verschlechterung der therapeutischen Beziehung. Leider fehlen bei allen diesen positiven Ansätzen (noch) die Beweise, dass die empfohlenen Maßnahmen einen messbaren Nutzen haben. Was tut der Hausarzt? Während einige Spezialisten der Ansicht sind, schnellstmögliche Überweisung in ein Therapiezentrum sei die einzige Aufgabe des Hausarztes, schlagen in dieser Literaturübersicht viele Autoren vor, die Hausärzte mehr in die Behandlung und das Management von Essstörungen einzubeziehen. Auch hier fehlen leider noch valide Daten zum Erfolg solcher Programme. Robinson et al. (41) teilen die Hausärzte in vier Gruppen ein: der Überweiser – wenig Fachkenntnis, technokratische Ausrichtung, der Freund – wenig Fachkenntnis, psychologischempathische Ausrichtung, der Detektiv – gute Fachkenntnis, technokratische Ausrichtung, Z. Allg. Med. 2003; 79: 228–233. © Hippokrates Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG, Stuttgart 2003 231 Psychotherapie und Psychosomatik der Heiler – gute Fachkenntnis, psychologisch-empathische Ausrichtung. Burket (7) beschäftigt sich als einer der wenigen Autoren mit der Einstellung von Hausärzten zu ihren essgestörten Patientinnen und Patienten. 90 Ärzte wurden mittels eines standardisierten Fragebogens über ihre Einstelllung zu essgestörten Patientinnen und Patienten befragt. 30 % der Ärzte wünschten sich eher keine Patientinnen und Patienten mit Essstörungen. Charakteristika dieser ablehnenden Gruppe waren: mehr männliche Ärzte, weniger Empathie, kritischere Einschätzung der Prognose und dadurch therapeutische Frustration. Die Behandlungsresistenz der Patientinnen und Patienten wurde als besonders problematisch erlebt. Nach Turnbull und Ward (49) werden 80 % der Anorexiaund 60 % der Bulimie-Fälle an Spezialisten überwiesen, im Allgemeinen nur die klinisch schwereren Fälle. Die Verfasser plädieren für eine frühere psychotherapeutische Intervention auch bei leichteren Fällen, um die Prognose zu verbessern, leider wieder ohne Belege. Bisher gibt es nur wenige Studien, die Modelle zur hausärztlichen Intervention bei Essstörungen entwickelt haben. Wir entwickelten im Sommer 2002 einen Fragebogen (36), denwir an 600 Hausärzte in NRW verschickten. Unter anderem erfragten wir, warum Hausärzte nach ihrer Selbsteinschätzung von essgestörten Patientinnen und Patienten aufgesucht werden und wie sie weiter vorgehen. Die Antworten belegen die große Bedeutung des Vertrauensverhältnisses von Arzt und Patient. Der Besuch beim Hausarzt scheint sehr oft der erste Arztkontakt von Betroffenen zu sein. Viele Hausärzte halten das »In-Kontakt-Bleiben« mit den essgestörten Patienten für eminent wichtig. Als schwierig und teilweise unangenehm wird das Vorspiegeln von Symptomen zum Zweck der Medikamentenverschreibung (Laxantien, Diuretika) und das ambivalente Verhältnis der Patientinnnen und Patienten zu ihrem Arzt und seiner empfohlenen Therapie empfunden. Der Mangel an Strukturen zur Hilfestellung bei Problemfällen wird allgemein beklagt. Literatur 1. American Psychiatric Association. Diagnostic and statistical manual of mental disorders (DSM-IV). 4th Edition. Washington: American Psychiatric Association, 1994 2. Anstine D, Grinenko D: Rapid screening for disordered eating in college-aged females in the primary care setting. J Adolesc Health 2000; 26: 338–42 3. Batal H, Johnson M, Lehmann D, Steele A, Mehler PS: Bulimia: a primary care approach J Adolesc Health 1999; 24: 324–327 4. Britt E, Del Gobbp S: Changing patterns of referral to an eating disorders clinic. New Zealand Medical Journal 1990; 103: 564–5 5. Buddeberg-Fischer B: Disorders of eating behaviour – early detection and treatment possibilities in general practice. 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Der Beweis, dass eine verbesserte Früherkennungsrate auch zu einer besseren Prognose führt, muss allerdings noch geführt werden. Die überwiegende Anzahl der Autoren hält Früherkennung für wichtig und sinnvoll – ohne harte Belege. Es erhebt sich der Ruf nach weiterer Forschung! 6. Buddeberg-Fischer B, Klaghofer R, Gnam G, Buddeberg C: Prevention of disturbed eating behaviour: A prospective intervention study in 14–19-year-old Swiss students. Acta Psychiatrica Scandinavia 1998; 98: 146–155 7. Burket RC, Schramm LL: Therapist´s attitudes about treating patients with eating disorders. South Med J 1995; 88: 813–8 8. Bursten MS, Gabel LL, Brose JA, Monk JS: Detecting and treating bulimia nervosa: how involved are family physicians? J Am Board Fam Pract 1996; 4: 241–8 9. Carter JC, Fairburn CG: Treating binge eating problems in primary care. Addict Behav 1995; 20: 765–72 10. Chitty KK: The primary prevention role of the nurse in eating disorders 11. 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