Der ganze Verlag ist einfach eine Bonbonniere

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Der ganze Verlag ist einfach eine Bonbonniere
A
ALLGEMEINES
AQ
BUCH- UND VERLAGSWESEN
AQB
Verlagswesen, Buchhandel
Deutschland
Ullstein-Verlag <Berlin>, Deutscher Verlag <Berlin>
1900 - 1959
AUFSATZSAMMLUNG
16-1
"Der ganze Verlag ist einfach eine Bonbonniere" : Ullstein in
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts / hrsg. von David Oels
und Ute Schneider. - Berlin ; München [u.a.] : De Gruyter, 2015.
- VII, 433 S. : Ill., graph. Darst. ; 24 cm. - (Archiv für Geschichte
des Buchwesens : Studien ; 10). - ISBN 978-3-11-033708-2 :
EUR 89.95
[#4459]
„Was Ullstein war, wußte in Berlin jedes Kind: viele kleine Filialläden, über
alle Stadtteile verstreut, an die hundert, gleichmäßig eingerichtet, in den
gleichen Farben gehalten, mit einer Eule, einem schwarzen, spitzohrigen
Uhu als Geschäftszeichen; und darüber stand ‚Ullstein’“.1 Damit erinnerte
Max Krell (1887 - 1962), in den 1920er Jahren Lektor in der Romanabteilung des Ullstein/Propyläen-Verlags und in dieser Funktion verantwortlich
u.a. für den Bestseller Im Westen nichts Neues von Erich Maria
Remarque, 1961 an eine national ebenso wie international bekannte
„Marke“ des deutschen Verlagswesens, die zwei Jahre zuvor von Axel
Springer aufgekauft worden war. Heute existiert zwar noch der Name
Ullstein-Buchverlag, der inzwischen zum schwedischen Medienkonzern
Bonnier gehört und sich nach einer wechselvollen historischen Entwicklung
seit 2003 wieder am Stammsitz in Berlin befindet. Doch von der Weltgeltung, die das 1877 gegründete Verlagshaus im Deutschen Kaiserreich und
in der Weimarer Republik besessen hatte, ist nur noch wenig geblieben.
Selbst die Geschichte des Hauses Ullstein und seine prägenden Persönlichkeiten sind zwar häufiger in Festschriften gewürdigt, aber bis heute
kaum wissenschaftlich fundiert erforscht worden.2 Umso wert- und
1
Das alles gab es einmal / Max Krell. - Frankfurt a.M. : Scheffler, 1961. - 361 S. :
Mit 48 Bildtaf. ; 8°. - Hier S. 121.
2
Hundert Jahre Ullstein : 1877 - 1977 / [Hrsg.: W. Joachim Freyburg u. Hans
Wal-lenberg]. - Berlin : Ullstein. - 25 cm. - Bd. 1 (1977). - 455 S. : Ill. - ISBN 3-55007371-2. - Bd. 2 (1977). - 387 S. : Ill. - ISBN 3-550-07372-0. - Bd. 3 (1977). - 599
S. : Ill. - ISBN 3-550-07373-9. - Bd. 4. Ein Bilderbuch mit Randbemerkungen / von
verdienstvoller ist es, daß eine im April 2013 vom Institut für Buchwissenschaft der Gutenberg-Universität Mainz organisierte Tagung als Grundlage
für einen Sammelband diente, der mit den Vorträgen und hinzugefügten
Aufsätzen einen vertieften Einblick in eine Vielzahl von Aspekten des
größten deutschen Medienkonzerns in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gibt.
Die beiden Herausgeber haben sich bei der Gliederung des Bandes mit
seinen 19 Beiträgen für die sachliche Systematik entschieden.3 Insgesamt
fünf Kapitel gehen auf das Unternehmen, auf Periodika und Reihen,
Autorinnen und Autoren, Fotojournalismus und die Familie Ullstein ein. Das
hat den Nachteil, daß die Entwicklung des Verlags in den unterschiedlichen
historischen Epochen nicht so eindeutig herausgearbeitet werden kann, wie
es angebracht wäre. Denn die 1933 einsetzende politische Knebelung und
die 1934 exekutierte „Arisierung“ des Ullstein-Konzerns durch die Nationalsozialisten mit der Konsequenz der Emigration der jüdischen Eigentümer,
Führungspersönlichkeiten und leitenden Angestellten war eine so entscheidende Zäsur, daß der Ullstein-Verlag auch nach dem Ende der NS-Diktatur
nicht mehr an seine dominante Stellung und seine Erfolge aus der
Weimarer Republik anknüpfen konnte. Als der Verlag 1952 endlich restituiert wurde, war der westdeutsche Buchmarkt längst unter anderen Verlegern
aufgeteilt worden – nicht zuletzt unter Bertelsmann,4 Holtzbrinck5 oder
Christian Ferber. - 1977. - 271 S. : zahlr. Ill. - ISBN 3-550-07374-7. - Presse- und
Verlagsgeschichte im Zeichen der Eule : 125 Jahre Ullstein / [Projektleitung:
Edda Fels. Konzept und Red.: Erik Lindner. Übers.: Volker Englich (Beitr. Peter de
Mendelssohn) ; Thomas F. Kramer (Beitr. Bartholomew Ullstein)]. - Berlin : Springer, 2002. - 161 S. : zahlr. Ill., graph. Darst. ; 30 cm. - ISBN 3-00-009719-8. - Ullstein-Chronik : 1903 - 2011 / hrsg. von Anne Enderlein. Unter Mitarb. von Ulf
Geyersbach. - Berlin : Ullstein, 2011. - 560 S. : Ill. ; 25 cm. - ISBN 978-3-55008880-3 : EUR 49.90.
3
Inhaltsverzeichnis: http://d-nb.info/1046138006/04
4
Bertelsmann im Dritten Reich / Saul Friedländer ; Norbert Frei ; Trutz Rendtorff
; Reinhard Wittmann. Unter Mitarb. von Hans-Eugen Bühler ... - 1. Aufl. - München
: Bertelsmann, 2002. - 794 S. : Ill., graph. Darst. ; 23 cm. - ISBN 3-570-00711-1 :
EUR 35.00 - ISBN 3-570-00713-8 (in Kassette mit Bertelsmann 1921 - 1951) :
EUR 50.00 [7112]. - Rez.: IFB 03-1-05 - Bertelsmann 1921 - 1951 : Gesamtverzeichnis / Saul Friedländer ; Norbert Frei ; Trutz Rendtorff ; Reinhard Wittmann.
Bearb. von Dina Brandt und Olaf Simons. - 1. Aufl. - München : Bertelsmann,
2002. - 640 S. ; 23 cm. - ISBN 3-570-00712-X : EUR 20.00 - ISBN 3-570-00713-8
(in Kassette mit Bertelsmann im Dritten Reich) : EUR 50.00 [7113]. - Rez.: IFB 031-059 http://swbplus.bsz-bw.de/bsz101173970rez.htm
5
Georg von Holtzbrinck als Verlagsunternehmer im Dritten Reich : "... für unseren Betrieb lebensnotwendig ..." / Thomas Garke-Rothbart. - München : Saur,
2008. - 248 S. : Ill. ; 25 cm. - (Archiv für Geschichte des Buchwesens : Studien ;
7). - S. 215 - 226 Bibliographie der Devex und des Verlags Deutsche Volksbücher.
- ISBN 978-3-598-24906-8 : EUR 69.95 [#0121]. - Rez.: IFB 09-1/2 http://ifb.bszbw.de/bsz289458803rez-1.pdf
Rowohlt,6 die nach 1933 mit dem NS-Staat kollaboriert und vom politisch
reglementierten Buchmarkt ganz wesentlich profitiert hatten.7 Die Chronologie vom Aufstieg und Niedergang des Hauses Ullstein, die Hermann
Ullstein 1943 in seinen gleichnamigen Erinnerungen von seinem New
Yorker Exil aus nachgezeichnet hat,8 läßt sich dennoch klar aus den
einzelnen Beiträgen herausfiltern.
Den wenig bekannten Wurzeln der Familie Ullstein in Fürth geht Volker Titel
nach (S. 365 - 387). Die von Hajum Hirsch Ullstein (1792 - 1875)
gegründete Papierfabrik stieß rasch an die Grenzen der fränkischen, seit
1806 zum Königreich Bayern gehörenden Kleinstadt. Daher wanderten zwei
seiner Söhne in den 1850er Jahren in die beiden Zentren des deutschen
Buchhandels aus: Julius (1823 - ?) ging nach Leipzig und Leopold (1826 1899) nach Berlin. In der expandierenden Hauptstadt Preußens, die rasch
zum politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Zentrum Deutschlands aufstieg, legte Leopold Ullstein mit der Gründung eines eigenen Verlags im
Jahre 1877 den Grundstein für eine Erfolgsgeschichte. Aus Fürth nahm er
die Identität eines liberalen, weltoffenen Bürgers jüdischer Religion mit, die
den Geist des Hauses Ullstein in den kommenden Jahrzehnten tragen
sollte.
6
100 Jahre Rowohlt: : eine illustrierte Chronik / Hermann Gieselbusch ; Dirk Moldenhauer ; Uwe Naumann ; Michael Töteberg. - 1. Aufl. - Reinbek bei Hamburg :
Rowohlt, 2008. - 383 S. : zahlr. Ill. ; 26 cm. - ISBN 978-3-498-02513-7 : EUR
20.00 [9667]. - Rez.: IFB 08-1/2-061
http://swbplus.bsz-bw.de/bsz277879310rez.htm
7
Hier drei weitere, in IFB besprochene Titel von Verlagsgeschichten in der Zeit
des Dritten Reiches: Die "rechte Nation" und ihr Verleger [Medienkombination] / Sigrid Stöckel (Hrsg.). - 1. Aufl. - Berlin : LOB.de, Lehmanns Media, 2002. - ISBN 3-931253-98-8 : EUR 24.95 [7125]. - [Buch]. Politik und Popularisierung im J.-F.-Lehmanns-Verlag 1890 - 1979. - 328 S. : Ill. ; 25 cm. - [CDROM]. Publikationen des J.-F.-Lehmanns-Verlages 1890 - 1979. - 1 CD-ROM. Rez.: IFB 03-1-064 http://ifb.bsz-bw.de/bsz100949193rez.htm - Der EugenDiederichs-Verlag 1930 - 1949 : ein Unternehmen zwischen Kultur und Kalkül /
Florian Triebel. - München : Beck, 2004. - 460 S. : Ill. ; 24 cm. - (Schriftenreihe zur
Zeitschrift für Unternehmensgeschichte ; 13). - Zugl.: Konstanz, Univ., Diss., 2001.
- ISBN 3-406-52200-9 : EUR 68.00 [8201]. - Rez.: IFB 05-1-038 http://ifb.bszbw.de/bsz113672306rez.htm - Der Verlag H. Goverts im Dritten Reich / AnneM. Wallrath-Janssen. - München : Saur, 2007. - 479 S. : Ill. ; 25 cm. - (Archiv für
Geschichte des Buchwesens : Studien ; 5). - S. 445 - 471 Verlagsbibliographie. Teilw. zugl.: Göttingen, Univ., Diss., 1999. - ISBN 978-3-598-24904-4 : EUR
128.00 [9425]. - Rez.: IFB 08-1/2-058
http://swbplus.bsz-bw.de/bsz267591128rez.htm
8
The rise and fall of the house of Ullstein / by Herman Ullstein. - New York, NY
: Simon and Schuster, 1943. - 308 S. ; 22 cm. - Das Haus Ullstein / Hermann Ullstein. Aus dem Engl. von Geoffrey Layton. Mit einem Nachw. von Martin Münzel.
In Zusammenarbeit mit dem Hrsg.-Kreis Deutsches Pressemuseum im Ullsteinhaus e.V. (DPMU). - Einheitssacht.: The rise and fall of the house of Ullstein <dt.>.
- Berlin : Ullstein, 2013. - 304 S. : Ill. ; 22 cm. - ISBN 978-3-550-08046-3 : EUR
22.99. - Inhaltsverzeichnis: http://d-nb.info/1034275127/04
In der Anfangsphase stand der Name Ullstein vor allem für renommierte,
auflagenstarke Zeitungen und Zeitschriften, die meinungsbildend in alle
Schichten der Bevölkerung wirkten, wie David Oels und Ute Schneider in
ihrer Einleitung Masse, Mobilität, Moderne (S. 1 - 15) nachweisen. Die
Berliner Illustrirte Zeitung (seit 1894), die Berliner Morgenpost (ab
1898), die B.Z. am Mittag (seit 1904) und die Vossische Zeitung (1704
gegründet, 1913 von Ullstein übernommen) zählten zu den führenden
Tageszeitungen, die in den Straßen der Großstadt in Erscheinung traten –
sei es über Zeitungsgeschäfte und Zeitungsboten in Uniform oder über
Lieferwagen, Plakatsäulen und Motorboote, die als schwimmende
Zeitungsstände auf Berliner Seen fuhren. In der Weimarer Republik kamen
neue Titel hinzu: ab 1924 die Zeitschrift Der Querschnitt und das
Monatsmagazin UHU, 1925 Koralle. Monatshefte für alle Freunde von
Natur und Technik, 1927 Die Grüne Post als Sonntagszeitung für Stadt
und Land, 1928 Tempo. Ab 1903 wurde das Angebot an tagesaktuellen
Printmedien um einen Buchverlag ergänzt, 1919 noch einmal erweitert um
den Propyläen-Verlag. 1920 stieg der Ullstein-Konzern in die Uco-Film-AG
ein™9 und verfügte damit über ein weiteres modernes Verbreitungsmedium
für seine Produkte, zu dem dann auch noch Kooperationen mit dem seit
1920 sich entwickelnden Rundfunk kamen. Bis zum Ende der Weimarer
Republik stieg die Anzahl der Mitarbeiter auf rund 10.000 an, die in 14
Abteilungen des Gesamtkonzerns und dessen 85 Filialen im Berliner
Stadtgebiet arbeiteten. So verwundert es nicht, daß ein Vertreter des in
München angesiedelten Georg-Müller-Verlags 1927 nach einer
Deutschlandreise zu der Einschätzung kam, daß Berlin „tatsächlich
vollkommen durch Ullstein belegt“ sei und daß „das, was wir unter
‚berlinerisch‘ in literarischer Beziehung verstehen, [..] im Grunde vollkommen identisch mit Ullsteinisch“ war.10
Auf die vergessene Geschichte des Ullstein-Verlags in Wien macht Murray
G. Hall aufmerksam (S. 44 - 66). Ab 1905 ist Ullstein als Zeitungs- und
Zeitschriftenverlag in Wien vertreten. Erste Bücher mit dem Impressum
Wien/Berlin können für das Jahr 1908 nachgewiesen werden. Bereits früh
erfolgte eine Spezialisierung auf bestimmte Sachthemen und Zielgruppen:
Musik für Alle. Monatshefte zur Pflege volkstümlicher Musik, die seit
1904 erschienen, Das Blatt der Hausfrau, eine Vorläuferin der Zeitschrift
Brigitte, die 1905 den Grundstein für den Modeverlag legte. Von Wien aus
erfolgte auch die Auslieferung der Bücher des Ullstein- und des PropyläenVerlags für ganz Österreich. Von 1926 bis 1927 unterhielt der Verlag auch
9
Zu den Filmaktivitäten des Ullstein-Verlags liegt eine ganz neue Monographie
vor: Der Ullstein-Verlag und der Stummfilm : die Uco-Film GmbH als Ausdruck
einer innovativen Partnerschaft / Bernard Schüler. - Wiesbaden : Harrassowitz,
2013. - XV, 344 S. : 25 cm. - Zugl. stark gekürzte Ausg. von: Mainz, Univ., Diss.,
2011. - (Mainzer Studien zur Buchwissenschaft ; 23). - ISBN 978-3-447-06953-3 :
EUR 68.00. - Inhaltsverzeichnis: http://d-nb.info/103771556x/04
10
Der im Deutschen Literaturarchiv Marbach, Bestand Langen-Müller, überlieferte
Vertreterbericht wird zitiert in Masse, Mobilität, Moderne – Zur Einleitung / von David Oels/Ute Schneider, hier S. 1.
einen eigenen Nachrichtendienst in Wien. Die Wiener Dependance konnte
nach dem Ende der NS-Diktatur und noch vor der Berliner Zentrale ihre
Arbeit fortsetzen: Fritz Ross, Schwiegersohn von Hans Ullstein und von
1918 bis 1934 in der Verlagsleitung in Berlin tätig, und seine Frau Hilda
Ross-Ullstein erhielten bereits im Juni 1945 eine Lizenz der Alliierten. Als
Schnittmuster- und Modeverlag, aber auch als Buchverlag mit Bestsellern
wie Thor Heyerdahls Kon Tiki konnte er noch bis 1962 das Haus Ullstein in
Wien vertreten, obwohl seit 1952 die Berliner Zentrale wieder den Ton
vorgab. Daß sich das Verlagshaus in Wien letztlich nicht behaupten konnte,
hing auch mit dem Entzug der Druckerei Waldheim-Eberle zusammen, die
von den Nationalsozialisten 1938 enteignet und für die Ullstein vom Österreichischen Staat im Rahmen eines Vergleichs zu einem Dumpingpreis von
16 Millionen Schilling (bei einem realen Marktwert von ca. 60 Millionen)
„entschädigt“ wurde.
Die innovative Kraft und die mediale Wirkungsmacht des Unternehmens in
der Weimarer Republik beleuchten mehrere Beiträge. Roland Jaeger geht
auf das wenig bekannte Engagement des Verlags im Bereich Architektur ein
(S. 109 - 136). Bauwelt, 1910 als Fachverlag gegründet, war der
„Markenkern“ einer größeren „Produktfamilie“. Zu ihr gehörten die wöchentlich erscheinende Bauwelt. Zeitschrift für das gesamte Bauwesen, die
mit ihrem Anzeigenteil den Verlag wesentlich mitfinanzierte, seit 1929/30
der Bauwelt-Katalog mit einer Auflage von 10.000 Exemplaren, ebenfalls
ab 1929 die Bauwelt-Musterschau, Bücher und Sonderhefte sowie die von
1930 bis 1933 angebotenen Bauwelt-Autorundfahrten zu den
architektonischen „Highlights“ in Berlin. Der Konzern selbst setzte die
Architektur als „Medium moderner Unternehmenskultur“ ein: das Ullsteinhaus in der Kochstraße im Berliner Zeitungsviertel, das Bauwelt-Haus in der
Charlottenstraße und das von Eugen Schmohl im Stil des Backsteinexpressionismus entworfene und zum Firmenjubiläum 1927 in Betrieb
genommene Druckhaus in Tempelhof repräsentierten im Stadtbild das
Selbstbewusstsein des führenden deutschen Medienkonzerns. Ab 1933
wurde die von der Bauwelt unterstützte Architektur der Moderne nach der
Verdrängung des Verlagsleiters Leopold Lion und des Redakteurs Hans
Maison von Friedrich Paulsen, dem neuen Chefredakteur, bekämpft. Die
Zeitschrift Bauwelt überdauerte die unterschiedlichen Epochenumbrüche
und erscheint nach der Übernahme 1959 durch den Springer-Verlag und
1968 durch Bertelsmann bis heute als einzige der ehemaligen Zeitschriften
des Ullstein-Verlags.
Absolut Modern im Erscheinungsbild ebenso wie in der Erscheinungsweise
war die Tageszeitung Tempo, die Ullstein am 11. September 1928 auf den
Markt brachte. Sie bot eine attraktive Mischung aus Wort- und Bildbeiträgen,
war aufgrund ihrer dreimal täglichen Erscheinungsweise hochaktuell,
wandte sich an die junge Mittelschicht der Angestellten und berufstätigen
Frauen. Die Zeitung beteiligte sich, wie Jochen Hung herausarbeitet (S. 137
- 159), am öffentlichen Diskurs über die Moderne, war an amerikanischen
Vorbildern orientiert und propagierte die Verbindung von liberaler Demokratie und Massenkonsum. Im Zuge der Weltwirtschaftskrise und der
Unfähigkeit der politischen Parteien, die wirtschaftlichen und sozialen
Probleme zu lösen, verdüsterte sich allerdings auch in Tempo das Bild der
Moderne, die nun genauso kritisch bewertet wurde wie das Vorbild USA und
das parlamentarische Regierungssystem. Damit war der Übergang zur
nationalsozialistischen Moderne vorgezeichnet, die parallel zur Ausschaltung der demokratischen Grundrechte den „freien“ Massenkonsum förderte.
Der Vergleich mit der Berliner Illustrirten Zeitung, den Maren Tribukait
vornimmt (S. 344 - 361), weist nach, daß Tempo nicht nur an den
politischen Veränderungen scheiterte. Da der Berliner Boulevardmarkt 1928
bereits unter den liberalen, nationalkonservativen, kommunistischen und
nationalsozialistischen Verlagsprodukten aufgeteilt war und der mit Tempo
vertretene offensive Sensationsjournalismus ebenso wie der dezidierte
Amerikanismus in weiten Kreisen der Bevölkerung abgelehnt wurde, konnte
die „Zeitung der Zeit“ als verspätete Reaktion des Ullstein-Verlags nur in
einer Auflage zwischen 100.000 und 140.000 Exemplaren verkauft werden
und entwickelte sich aufgrund der bescheidenen Anzeigeneinnahmen zum
Verlustgeschäft. Die BIZ hingegen konnte mit ihrer verträglichen Mischung
aus Information, Unterhaltung und maßvollen Sensation ihre Auflage von
1918 bis 1930 bei rund 1,8 Millionen Exemplaren halten. Während für
Tempo mit der Machtübernahme Hitlers die Zeit abgelaufen war und ihr
Erscheinen am 5. August 1933 als erste der Ullstein-Zeitungen eingestellt
wurde, blieb die BIZ auch im Eigentum des Zentralverlags der NSDAP noch
bis zum 29. April 1945 eine der beliebtesten und erfolgreichsten Fotoillustrierten.
Die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wachsende Bedeutung des
Fotojournalismus hatte Ullstein früh erkannt. Bernd Weise erinnert in seinem
Beitrag über ullstein bild (S. 259 - 286) daran, daß der Zeitungsverlag
bereits 1896 eine eigene Cliché-Anstalt einrichtete, die Berliner Morgenpost seit 1898 über eine eigene Bildredaktion verfügte und am 5.
September 1899 die erste telegrafierte Fotografie veröffentlichte, die BIZ
seit 1894 und der Buchverlag seit seiner Gründung 1903 ein Bildarchiv
aufbauten, die B.Z. am Mittag ab 1905 eine tägliche Sportbeilage mit Fotos
herausgab und die Vossische Zeitung seit 1914 die Sonntagsbeilage
Zeitbilder. Die Gründung neuer Zeitungen und Zeitschriften während der
Weimarer Republik steigerte den Bildbedarf im eigenen Hause, führte aber
auch zu einer immer größeren Nachfrage durch andere Verlagshäuser. Die
von der Ullstein & Co. Bilderzentrale monatlich gelieferten Fotos beziffert
Weise auf mehr als 10.000. Das Druckhaus in Tempelhof sorgte seit 1927
für eine exzellente Druckqualität der Fotos und ab 1929 unterhielt Ullstein
als einziger Zeitungsverlag einen Apparat zur telegrafischen Bildübertragung über ein normales Telefonkabel mit Verbindungen nach London,
Paris, Wien und Kopenhagen. Die neuen, nationalsozialistischen Eigentümer machten sich diese Infrastruktur zunutze, „säuberten“ allerdings das
Bildarchiv und schlossen knapp 250 der im Jahre 1933 zugelassenen
Fotografen aufgrund ihrer jüdischen Herkunft von der weiteren Berufsausübung aus. Nach dem Krieg wurde das Fotoarchiv ab 1946 in Berlin
wiederaufgebaut und firmiert seit 1952 als Ullstein-Bilderdienst. Es verfügte
1977 über mehr als 3 Millionen Fotos aus der Zeit bis 1945, von denen ca.
140.000 jährlich bestellt wurden und heute rund 750.000 online zugänglich
sind.
So fortschrittlich die Berücksichtigung des Mediums Fotografie und so
modern die Technik von dessen Reproduktion und Verbreitung in den
Zeitungen des Ullstein-Konzerns gewesen sein mag, so konservativ verhielt
man sich gegenüber innovativen Sichtweisen auf die Welt. Die Bewegung
des „Neuen Sehens“, zu denen heute weltbekannte Größen wie László
Moholy-Nagy, Albert Renger-Patzsch,11 Umbo, Martin Munkácsi, Alfred
Eisenstaedt, Erich Salomon12 oder Sasha Stone gezählt werden, fand nach
den Recherchen von Patrick Rössler (S. 287 - 319) in den bekanntesten
Ullstein-Zeitungen und -Zeitschriften kaum Berücksichtigung. Die BIZ
veröffentlichte „bildpublizistische Massenware“. In Der Querschnitt, den der
Galerist Alfred Flechtheim 1921 als „Magazin der aktuellen Ewigkeitswerte“
gegründet hatte und das ab 1924 im Propyläen-Verlag erschien, gewann die
Fotografie nie einen eigenständigen Stellenwert als Kunstrichtung, trat
vielmehr deutlich hinter den gesellschaftlich bevorzugten Themen „Kunst“
und „Sport“ zurück, wie Daniela Gastell in ihrem Beitrag belegt (S. 320 343). Und auch im neuen Monatsmagazin UHU lassen sich ab 1927 nur
vereinzelt Fotos, Reportagen und Diskussionsbeiträge im Sinne des „Neuen
Sehens“ finden. Die Ullstein-Illustrierten waren zwar durchaus modern, aber
nie avantgardistisch, so das Fazit Rösslers.
Ähnlich ambivalent fällt die Analyse des Umgangs von Ullstein mit den
Autoren der 1920er und 1930er Jahre aus. Das Verhältnis zu den
Schriftstellern des linken Parteinspektrums charakterisiert Walter Fähnders
in seinem Beitrag (S. 189 - 206) als „eine Mesalliance“ – durchaus
wechselseitig. Denn bei Ullstein zu publizieren, galt unter linken Autoren als
„ungehörig oder anrüchig“, was Franz Jung, Kurt Tucholsky oder Bertolt
Brecht jedoch nicht davon abhielt, gut bezahlte Autorenverträge zu
unterschreiben. Doch als das Verlagshaus 1930 Georg Bernhard (1875 1944), seit 1908 bei Ullstein engagiert und seit 1920 Chefredakteur der
„Vossischen Zeitung, entließ, sich 1931 auch von Richard Lewinsohn
(1894 - 1968), seit 1925 Leiter der einflussreichen Wirtschaftsredaktion,
trennte, und im September 1931 den Filmkritiker Heinz Pol (1901 - 1972)
wegen des Verrisses eines Ufa-Films, für den der Filmkonzern Hugenbergs
einen einwöchigen Anzeigen-Boykott angedroht hatte, kaltstellte, bedeutete
11
Briefwechsel 1943 - 1966 und weitere Dokumente / Ernst Jünger ; Albert
Renger Patzsch. Hrsg. von Matthias Schöning ... - Orig.-Ausg. - Paderborn ; München : Fink, 2010. - 216 S. : Ill. ; 24 cm. - (Photogramme). - ISBN 978-3-77054872-9 : EUR 24.90 [#0946]. - Rez.: IFB 09-1/2
http://ifb.bsz-bw.de/bsz307837424rez-1.pdf
12
Das ideale Parlament : Erich Salomon als Fotograf in Berlin und Den Haag
1928 - 1940 / Andreas Biefang ; Marij Leenders (Hrsg.). - Düsseldorf : Droste,
2014. - 367 S. : zahlr. Ill., Kt. ; 25 cm. - (Parlament und Öffentlichkeit ; 5) (Beiträge
zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien ; 167). - ISBN
978-3-7700-5324-7 : EUR 69.90 [#3919]. - Rez.: IFB 15-1
http://ifb.bsz-bw.de/bsz417474407rez-1.pdf
dies das Ende der Unterstützung auch der liberalen Kräfte der Weimarer
Republik durch den wichtigsten Medienkonzern Deutschlands. Am Ende
ging es nur noch um Zerstreuung, Unterhaltung und Trivialität, mit denen in
der Masse Profite gemacht werden konnten. Wie systematisch literarische
Erfolge organisiert und kommerziell ausgenutzt wurden, lässt sich am
Beispiel von Vicki Baum (1888 - 1960) veranschaulichen. Madleen
Podewski widmet sich der Autorin und ihrem erfolgreichsten Roman
Menschen im Hotel (1929) im Kontext der Mehrfachauswertung: vom
Vorabdruck in der BIZ, über die Buchveröffentlichung, die Aufführung der
Bühnenfassung in der Regie von Gustaf Gründgens bis zur Verfilmung
durch MGM in Hollywood 1932 (S. 207 - 221). Joan Weng beschäftigt sich
mit der Autorin als „Ullsteins Hausmarke“ (S. 222 - 238). Denn nicht nur ihre
Romane wurden erfolgreich vermarktet, sondern auch Vicki Baum selbst,
die seit 1926 als Redakteurin für Mode und Schönheit bei Ullstein angestellt war, mit ihrem eigenen Foto als Prototyp der „neuen Frau“ in der
Ullstein-Presse in Erscheinung trat und mit einem Exklusivvertrag von
Ullstein zur bestbezahlten Romanautorin Deutschlands avancierte. Bereits
der 1929 veröffentlichte Roman Stud. chem. Helene Willfüer war mit rund
einer halben Million verkauften Exemplaren ein Bestseller und mit
Menschen im Hotel, für den Vicki Baum das „Traumhonorar“ von 40.000
RM erhielt, wurde sie so bekannt wie Melissengeist oder Leibnizkekse. Für
das seriöse Feuilleton war diese Art Literatur allerdings nicht viel mehr als
massentauglich gestaltete Fassade und „wohlig parfümierte Kosmetik“, die
die politische und gesellschaftliche Wirklichkeit verdecken sollte.
Am Ende der Weimarer Republik war der Ullsteinkonzern jedoch nicht allein
politisch neutralisiert, sondern auch durch einen innerfamiliären Konflikt
paralysiert. Vordergründig ging es dabei um die geplante Eheschließung
von Franz Ullstein, dem damals einflußreichsten Mitglied in der fünfköpfigen
Konzernspitze, mit der wesentlich jüngeren Bankierstochter Rosie
Gräfenberg (1898 - 1982), die unter dem Pseudonym Rosie G.(oldschmidt)
Waldeck für die Ullstein-Presse schrieb. Das in die Öffentlichkeit lancierte
Gerücht, sie hätte während des Ersten Weltkriegs in Paris Spionage betrieben, verfolgte das Ziel, Franz Ullstein zu desavouieren, der auf Betreiben
von Louis Ullstein kurzzeitig aus dem Vorstand ausscheiden mußte, nach
einem Gerichtsverfahren, das die Haltlosigkeit der Behauptungen nachweisen konnte, aber wieder zurückkehrte. Die über die Presse ausgetragene
Schlacht hatte verheerende Wirkungen sowohl innerhalb des Konzerns als
auch in der politischen Öffentlichkeit. Aus diesem Stoff der Wirklichkeit
entstand ein Schlüsselroman, den der Insider Stefan Großmann (1875 1935) im Exil unter dem Titel Wir können warten schrieb und den Erhard
Schütz ausgewertet hat (S. 19 - 43). Auch wenn er zu dem Schluß kommt,
daß die Qualität als „eher bescheiden“ zu bewerten ist, so wirft der Text
selbst doch ein Schlaglicht auf den substantiellen Konflikt im Hause Ullstein
am Ende der Weimarer Republik. Denn es ging um die Frage, ob sich der
größte deutsche Medienkonzern seiner publizistischen Verantwortung für
den Erhalt der Demokratie und damit für eine aktive Bekämpfung der
politischen Gegner stellen oder ob er sich jeglicher Parteinahme entziehen
und sich dem reinen Profitinteresse unterordnen sollte. Hermann Ullstein
kam 1940 im amerikanischen Exil zu dem bitteren Fazit, daß sein
Verlagshaus durch die Preisgabe der politischen Einflussnahme letztlich
mitgeholfen habe, Hitler an die Macht zu bringen.13 Daß dabei auch die
bürgerlichen Ideale des deutschen Judentums geopfert wurden, stellt
Schütz abschließend mit besonderer Wehmut fest.
Was während der dann zwölfjährigen NS-Diktatur aus dem Ullstein Verlag
wurde, kann nur noch als Schatten dessen bezeichnet werden, was in den
Jahrzehnten seit der Gründung 1877 an Qualität mit dem Namen verbunden
war. Bereits die „Arisierung“ war nichts anderes als ein staatlich sanktionierter Raub jüdischen Vermögens. Während des Zweiten Weltkriegs erhielt
diese kriminelle Energie weiteren Auftrieb. Olaf Simons (S. 67 - 85)
beleuchtet dies am Schicksal von Matthias Lackas, der unter den
Bedingungen der verschärften Papierkontingentierung ab 1941 durch den
illegalen Handel mit Blankoschecks Millionengeschäfte mit der Wehrmacht
abschließen konnte – von denen sinnigerweise der Bertelsmann Verlag
mehr profitierte als der zum Deutschen Verlag umfirmierte Ullstein-Konzern,
bei dem Lackas unter Vertrag stand. Das System der Korruption war so
vielschichtig, daß Lackas, obwohl im April 1944 zum Tode verurteilt, als
benötigter Zeuge in Folgeprozessen und zum Fronteinsatz begnadigter
Delinquent den Zweiten Weltkrieg überlebte und in der Bundesrepublik mit
seinen Buchhandelsgeschäften wieder zum Millionär aufsteigen konnte. Die
Ausbeutung der beträchtlichen Ressourcen an Papier, Druck- und Buchbindemöglichkeiten in den besetzten Niederlanden durch den Deutschen
Verlag14 in den Jahren 1940 bis 1944 weist Stefanie Martin anhand der bei
der Reichsschrifttumskammer eingereichten Anträge und der Monatsberichte von Verlagsleiter Max Wießner an den Zentralparteiverlag nach (S. 86
- 105). Der Versorgung von Bombengeschädigten und Umquartierten mit
Lesestoff und damit dem deutschen Durchhaltewillen diente die Deutsche
Romanpost, auf die Carolin Antes näher eingeht (S. 170 - 185). Insgesamt
erschienen acht Hefte mit einem Umfang von jeweils 64 Seiten in einer
Auflage von 500.000 Exemplaren, die im Rotationsverfahren auf Zeitungspapier gedruckt und in einen dünnen Kartonumschlag eingebunden wurden.
Zu lesen war leichte Unterhaltungsliteratur von heute unbekannten Autoren,
die von November 1943 bis September 1944 von der Wirklichkeit des
Krieges und der bevorstehenden deutschen Niederlage ablenken sollten.
13
We blundered Hitler into power / Hermann Ullstein. // In: Saturday evening
post. - 213 (1940), 2, S. 12.
14
Im Deutschen Verlag erschien auch die Zeitschrift Signal, „eine deutsche Auslandsillustrierte als Propagandainstrument im Zweiten Weltkrieg“, wie es im Untertitel der maßgeblichen Monographie heißt: Signal : eine deutsche Auslandsillustrierte als Propagandainstrument im Zweiten Weltkrieg / Rainer Rutz. - 1. Aufl. Essen : Klartext-Verlag, 2007. - 446 S. : Ill. ; graph. Darst. ; 22 cm. - Zugl.: Berlin,
Humboldt-Univ., Diss., 2005. - ISBN 978-3-89861-720-8 : EUR 34.00 [9152]. - Hier
insbesondere Abschnitt 2.3. Die Entscheidung für den „Deutschen Verlag“, S. 52 57. Die Zeitschrift war überdies „auf teurem Kunstdruckpapier“ gedruckt (S. 395). Rez.: IFB 07-1-047 http://swbplus.bsz-bw.de/bsz260608599rez.htm
Den Mißbrauch der vermeintlich unpolitischen Reiseliteratur zu propagandistischen Zwecken illustriert Volker Bendig an Alfred Ernst Wollschläger (S.
239 - 255). Der Journalist (1901 - 1996) veröffentlichte unter dem
Pseudonym A. E. Johann ab 1928 Bücher vor allem über die USA, in denen
er ein zunehmend negatives Bild der Weltmacht zeichnete. Sein Buch Das
Land ohne Herz. Eine Reise ins unbekannte Amerika, das eine von der
NS-Ideologie geprägte Abrechnung mit der Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
und Kultur der USA darstellte, wurde 1943 vom Propagandaministerium
angeregt und bis 1944 mit Unterstützung von Staats- und Parteidienststellen
in 283.000 Exemplaren vertrieben. Trotz aufklärender Berichte über die
Rolle Johanns als „wertvoller Propagandist“ des NS-Staates in der
Nachkriegspresse konnte der beliebte Reiseschriftsteller in der Bundesrepublik bei Bertelsmann seine Karriere unbehindert fortsetzen – seinen
Antiamerikanismus relativierend, aber ohne jede selbstkritische Reflexion
über sein Verhalten in den Jahren 1933 bis 1945.
Daß der Ullstein-Verlag nach 1945 nicht mehr an seine bedeutende Rolle
als führender Medienkonzern Deutschlands anknüpfen konnte, war die
nachhaltige Folge der von den Nationalsozialisten erzwungenen „Arisierung“
und Emigration der gestaltenden Persönlichkeiten. Martin Münzel weist in
seinem Beitrag Tempelhof – Manhattan und zurück (S. 388 - 406) darauf
hin, daß von den 20 Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern des Jahres
1933 14 wegen ihrer jüdischen Herkunft abgelöst wurden. Der im Juni 1932
eingesetzte Generaldirektor Paul Schäffer (1886 - 1967) mußte am 13. März
1933 gehen. Hinzu kam der Aderlaß bei den leitenden Angestellten,
Redakteuren, Lektoren und der Autoren, deren Bücher verbrannt und
verboten wurden. Von den fünf Brüdern, die die Mehrheit des Aktienkapitals
hielten, verstarben Louis Ullstein (1863 - 1933) und Hans (1859 - 1935) zu
Beginn der NS-Herrschaft, während Franz (1868 - 1945), Rudolf (1874 1964) und Hermann (1875 - 1943) ins Exil gingen, aus dem nur Rudolf
Ullstein nach 1945 zurückkehrte. In New York konnten weder Franz noch
Hermann Ullstein verlegerisch wirksam werden: aufgrund ihres Alters, der
fehlenden Sprachkenntnisse, des Mangels an Kapital, das durch die
„Arisierung“ und den Abzug der „Reichsfluchtsteuer“ weitgehend vernichtet
worden war, und der völlig andersartigen Strukturen des amerikanischen
Zeitungs- und Buchmarkts. Lediglich Karl Ullstein (1893 - 1964), Sohn von
Hans Ullstein, konnte seit 1941 seine in den Jahren 1926 bis 1934 im
Management der Berliner Druckbetriebe gewonnenen Erfahrungen in New
York als Händler für Druckmaschinen erfolgreich einsetzen. Ab 1952 leitete
er dann zusammen mit seinem Onkel Rudolf den restituierten Zeitungs- und
Buchverlag, der allerdings 1957 mit 4400 Mitarbeitern nur noch halb so groß
war wie zur Zeit der Weimarer Republik. Obwohl mit der Berliner Morgenpost ab 1952 und der B.Z. ab 1953 wieder zwei erfolgreiche Tageszeitungen etabliert werden konnten, lastete der „lange Schatten“ der
Ausraubung und Emigration, wie es Münzel treffend bezeichnet, auf dem
Unternehmen: die verspätete Rückkehr auf den deutschen Presse- und
Buchmarkt, die Veränderung Lesermentalitäten in der Nachkriegsgesellschaft, das Fehlen einer neuen Generation herausragender Redakteure
und Fotografen, der Verlust der Rolle Berlins als Metropole und die Teilung
Deutschlands. Auch die innovativen Leistungen spielten sich in anderen
Verlagen ab, wie das Beispiel von Rowohlts Monographien belegt: sie
waren keine Fortsetzung oder Mitnahme der von Kurt Kusenberg bei
Ullstein von 1919 bis 1932 veröffentlichten Lebensbilder, wie Christian
Seeger in der Ullstein-Chronik 1903 - 201115 behauptet, sondern eine am
Vorbild der Edition du Seuil orientierte Neuschöpfung, wie Sören Ohle
nachweist (S. 160 - 169). Schließlich mangelte es auch noch an
Kapitalrücklagen, die durch den finanziellen Verlust von 1,5 Millionen DM
mit der nach nur sechs Ausgaben eingestellten Sonntags-Illustrierten als
20seitiger Beilage der Tageszeitungen aufgezehrt wurden. Die unvermeidbare Konsequenz war die Übernahme des Ullstein/Propyläen-Verlags am
29. Dezember 1959 durch den erfolgreichen Newcomer Axel Springer. Der
endgültige Zusammenbruch einer im Deutschen Kaiserreich und in der
Weimarer Republik aufgebauten Lebenswelt und der schmerzliche Verlust
einer blühenden deutsch-jüdischen Kultur ist in den Briefen von Hermann
Ullstein nachzulesen, die er in den Jahren 1934 bis 1943 zunächst aus
Deutschland, ab 1938 aus Großbritannien und ab 1939 aus den USA an
seine bereits 1934 emigrierte Tochter Edit (1905 - 1964) geschickt hat. Aus
den rund 250 überlieferten Briefen, die heute im Archiv des Springer
Verlags aufbewahrt werden, hat dessen Leiter Rainer Laabs eine Auswahl
unter dem Gesichtspunkt Hermann Ullsteins Weg ins Exil getroffen (S. 407 423).
Der vorliegende Sammelband - der leider nur über ein Personenregisgter
(S. 424 - 431) verfügt, aber leider nicht über ein Register der zahlreich
erwähnten Titel von Zeitschriften und Reihen - vermittelt eine beeindruckende Übersicht über die vielseitige und spannende Geschichte des
Hauses Ullstein. Er legt damit ein gutes Fundament und eröffnet die
Perspektiven für eine tiefere wissenschaftliche Erforschung. Es bleibt zu
hoffen, dass trotz der schwierigen Quellenlage in naher Zukunft weitere
Studien zu den unterschiedlichen, in den Aufsätzen nur angerissenen
Themen folgen werden.
Jan-Pieter Barbian
QUELLE
Informationsmittel (IFB) : digitales Rezensionsorgan für Bibliothek und
Wissenschaft
http://ifb.bsz-bw.de/
http://ifb.bsz-bw.de/bsz416644090rez-1.pdf
15
Wie Anm. 2.