ULRIKE LIEBERT

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ULRIKE LIEBERT
DANKSAGUNG
Der vorliegende Band geht aus einem Projektverbund zur Entwicklung des europäischen Lehrmoduls „Topographie Europäischer Erinnerungskonflikte: Gedächtnisorte einer multidemokratischen Gemeinschaft“ am Jean Monnet Centrum für Europastudien und dem Seminar für Ost- und Mitteleuropäische Studien der Universität
Bremen hervor, das von der Europäischen Kommission im Rahmen des Jean Monnet Programms für lebenslanges Lernen über drei Jahre (2009-12) gefördert wird.
Für die hier zusammengestellten Beiträge danken die beiden Modulverantwortlichen und Herausgeber vor allem den AutorInnen, GastreferentInnen und KollegInnen an der Universität Bremen. Unser besonderer Dank geht an den EuropaPunktBremen und an Dr. Henrike Müller sowie Dr. Yvonne Pörzgen für die Ausrichtung einer lebhaften öffentlichen Diskussionsreihe zur Thematik des Bandes,
die nicht nur vom Interesse der älteren Generation, sondern auch dem der jüngeren
Semester profitierte. Nicht zuletzt gebührt unser herzlicher Dank Gisela Lysiak für
die sachkundige redaktionelle Bearbeitung und Erstellung des Manuskripts.
INHALT
Autoren..................................................................................................................... 5
Einleitung: Europäische Erinnerungskonstellationen – zum Wandel nationaler
Narrative nach 1989 ................................................................................................. 9
Wolfgang Stephan Kissel, Ulrike Liebert
I. ALTE UND NEUE KONSTELLATIONEN IM OSTEN EUROPAS ............................. 31
Wolfgang Stephan Kissel
An den östlichen Grenzen der Europäischen Union: Erinnerungskonflikte im
postsowjetischen Raum .......................................................................................... 31
Galina Michaleva
Vergangenheitsbewältigung als Voraussetzung für die Modernisierung
Russlands................................................................................................................ 47
Karol Sauerland
Polen und Juden innerhalb der polnischen Erinnerungskultur............................... 59
Yvonne Pörzgen, Bremen
Vielfalt ohne Einheit: Identitätskonstruktionen in Ex-Jugoslawien ...................... 71
II. TRANSNATIONALE ERINNERUNGSDYNAMIKEN IN WESTEUROPA ................. 91
David Bathrick
Enttabuisierte Erinnerung? Deutsches Leiden im Zweiten Weltkrieg................... 91
Helga Bories-Sawala
Un passé qui ne passe pas. Täter, Opfer und Erinnerungskonflikte in
Frankreich............................................................................................................. 105
Anja Mihr
Francos langer Schatten – Aufarbeiten, Erinnern und Demokratie in Spanien .. 127
Zdzisław Krasnodębski
Erinnerungskonflikte, Gespräch und Versöhnung ............................................... 145
III. DEMOKRATIE UND RECHT ALS VORAUSSETZUNG FÜR VERSÖHNUNG ...... 161
Walter Süß
Die Stasi-Unterlagen-Behörde in der Erinnerungslandschaft Deutschlands. Ein
Beitrag zu Transitional Justice ............................................................................ 161
Gábor Halmai
Dealing with the Past in the Context of Post-totalitarian Societies in East
Central Europe...................................................................................................... 183
Janna Wolff und Charlotte Bruun Thingholm
Lieber sterben als reden – Kriegsvergewaltigungen als Ursache für
Erinnerungskonflikte am Beispiel Kosovo .......................................................... 201
Ulrike Liebert
Perspektiven einer europäischen Erinnerungsgemeinschaft ................................ 227
Autoren
Bathrick, David: Jacob Gould Schurman Professor Emeritus für Theater, Film &
Tanz und Professor für Germanistik, der Cornell Universität, Ithaca N.Y., USA. Er
ist Mitbegründer und -Herausgeber der Zeitschrift New German Critique. Seine
Bücher umfassen The Dialectic and the Early Brecht (1976); Modernity and the
Text (1989, Hg. mit Andreas Huyssen); The Powers of Speech: The Politics of Culture in the GDR (1995, dafür erhielt er den DAAD/German Studies Association
“Buch des Jahres” Preis); Visualizing the Holocaust: Documents, Aesthetics, Memory (2008). Sein derzeitiges Buchprojekt gilt den Repräsentationen des Holocaust
im deutschen und internationalen Nachkriegsfilm.
Bories-Sawala, Helga: Akademische Oberrätin für Sozialgeschichte Frankreichs
und frankophoner Länder an der Universität Bremen sowie Sprecherin des Bremer
Instituts für Kanada- und Québec-Studien. Aufenthalte als Gastprofessorin an der
Universität Montréal und an der Universität Paris 13. Derzeitiges Forschungsprojekt Les perceptions mutuelles entre l’Europe et le(s) Canada(s). Neuere Publikationen: Dans la gueule du loup. Les Français requis au travail en Allemagne
(2010); La France occupée et la Résistance (mit R. Sawala und C. Szczesny,
2008) ; und Découvrir le Québec. Une Amérique qui parle français (2011, i.V.).
Halmai, Gabor: Professor für Rechtswissenschaft und Direktor des Instituts für
Politische und Internationale Studien der Eötvös Lóránd University, Budapest, Direktor des Ungarischen Menschenrechtsinformations- und Dokumentationszentrums (INDOK), und Vorstandsmitglied der Fundamental Rights Agency der EU.
Seine Publikationen umfassen Lustration and Access to the Files in Central Europe
(2008), das Kapitel zu Ungarn im Handbuch Ius Publicum Europaeum, Vol I.
Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts (Hg. A. von Bogdandy,
P. Cruz Villalón, P. M. Huber 2007); und „Living Well is the best Revenge: The
Hungarian Approach to Judging the Past“ (in Transitional Justice and Rule of Law
in New Democracies, McAdams Hg. 1997).
Kissel, Wolfgang Stephan: Professor für Kulturgeschichte Ost- und Ostmitteleuropas an der Universität Bremen, Forschungsschwerpunkte: Kultur- und Zivilisationstheorie, russische Literatur und Kultur des 18.-20.Jahrhunderts, polnische und
serbische Moderne, Exilliteratur in Ost- und Ostmitteleuropa, Orientalismus in slavischen Kulturen, u. a. Gastprofessuren an der EHESS und Paris VIII. Koautor der
Russischen Literaturgeschichte, Stuttgart (Metzler) 2002, u. a. Herausgeber des
Bandes Flüchtige Blicke. Relektüren russischer Reisetexte des 20. Jahrhunderts,
Bielefeld 2009, russische Übersetzung Beglye vzgljady, Moskau (Novoe literaturnoe obozrenie) 2010.Seit 2007 Slavistischer Mitherausgeber des Kritischen Lexikons der fremdsprachigen Gegenwartsliteratur im Verlag text+kritik, München.
6
Krasnodębski, Zdzisław: Professor für Soziologie am Seminar für Ost- und Mitteleuropäische Studien der Universität Bremen. Von 1976-1991 unterrichtete er an der
Universität Warschau, seit 2001 auch an der Kardinal-Wyszyński-Universität in
Warschau, und von 2006-2007 als Gastprofessor an der Columbia University in
New York. Er arbeitet als politischer Publizist und Kommentator mit polnischen
Zeitungen und Zeitschriften zusammen, u.a. Rzeczpospolita, Dziennik, Wprost. Zuletzt sind erschienen: Demokracja peryferii („Periphere Demokratie“, 2003, 2005),
Drzemka rozsądnych („Schlaf der Vernünftigen“ 2006), Zmiana klimatu („Klimawandel“ 2006), Upadek idei postępu („Niedergang der Fortschrittsidee“ 2009, 2
Aufl.), Już nie przeszkadza („Er stört nicht mehr“ 2010).
Liebert, Ulrike: Professorin für Politikwissenschaft, Jean Monnet Centrum für Europastudien, Universität Bremen und Field-Chair „Integration and Diversity in the
New Europe“ an der Bremer Graduiertenschule (BiGSSS). Ko-Leiterin des EU
Forschungsprojektes Reconstituting Democracy in Europe: Civil Society and the
Public Sphere (RECON, koordiniert von ARENA, Oslo). Jüngste Publikationen:
The New Politics of European Civil Society (Hg. mit H.-J.Trenz, Routledge 2010),
Contentious European Democracy: National Intellectuals in Transnational Debate
(in European Stories. Intellectual Debates on Europe in National Contexts; Hg. J.
Lacroix, K. Nicolaidis 2010); und European Economic and Social Constitutionalism after the Treaty of Lisbon (Hg. mit D.Schiek, H.Schneider, CUP 2011).
Michaleva, Galina: Dozentin für Allgemeine Politikwissenschaft an der RGGU
Moskau. Sie arbeitet politisch für die Partei Jabloko, u.a. in den Funktionen als
Vorsitzende der Frauenfraktion und als Mitglied des Föderalrates der Partei. Ihre
deutschsprachigen Veröffentlichungen (auch unter dem Namen Luchterhandt) behandeln ein breites Spektrum an Fragen der politischen Entwicklung Russlands
sowie der Beziehungen zwischen der Russischen Föderation und der Europäischen
Union. Ihr jüngstes Buch Parteien Russlands im Transformationskontext (auf Russisch) erschien 2009 in Moskau.
Mihr, Anja: Dr.phil., Associate Professor am Niederländischen Institut für Menschenrechte (SIM) an der Fakultät für Recht, Governance und Wirtschaft der Universiät Utrecht, Niederlande. 2008 hielt sie eine Gastprofessur für Menschenrechte
an der Peking University Law School (Beida) in China und von 2006-2008 war sie
Direktorin des Europäischen Masterprogramms für Menschenrechte und Demokratie am European Inter-University Center for Human Rights and Democratisation
(EIUC), Venedig, Italien. Mihr ist u.a. Mitherausgeberin des Handbook of Human
Rights, Sage Publication, (2012); Human Rights in the 21st Century; Continuity
and Change since 9/11, Palgrave Macmillian (2011) und des European Yearbook
on Human Rights, Neuer Wissesnchaftlicher Verlag, Intersentia (2009). Sie veröffentlichte u.a. The UN-Decade for Human Rights Education and the Inclusion of
7
National Minorities, Peter Lang Verlag (2008) sowie Beiträge zu Reconciliation,
Democratization and Transitional Justice in: Stan, Lavina/ Nedelsky, Nadya (Eds.)
Encyclopedia on Transitional Justice, Volume 2, Cambridge University Press
(2011).
Pörzgen, Yvonne: Akademische Rätin an der Universität Bremen und Geschäftsführerin des BA-Studiengangs Integrierte Europastudien. Nach ihrer Dissertation
"Berauschte Zeit. Drogen in der russischen und polnischen Gegenwartsliteratur"
arbeitet sie an einem Habilitationsvorhaben zum freien Willen.
Sauerland, Karol: polnischer Germanist und Philosoph, bis 2005 Lehrstuhlleiter für
Germanistik an der Universität Toruń. Mit Gastprofessuren war er u.a. in Zürich
(ETH), Mainz, Frankfurt am Main (Fritz Bauer Institut), Berlin (FU), Amiens,
Hamburg und Kassel (Franz Rosenzweig Professur 2008) tätig. In seiner Forschung
setzt er sich u.a. mit der deutschen Philosophiegeschichte und den Problemen des
deutsch-polnischen Kulturtransfers auseinander.
Süß, Walter: Dr. phil., seit 1992 Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der StasiUnterlagen-Behörde. Forschungsprojektleiter zu östlichen Geheimdiensten und
KSZE in der Abteilung Bildung und Forschung der Stasi-Unterlagen-Behörde.
Veröffentlichungen u.a. Militär und Staatssicherheit im Sicherheitskonzept der
Warschauer-Pakt-Staaten (Hg. mit Thorsten Diedrich, 2010); Von der Ohnmacht
des Volkes zur Resignation der Mächtigen. Ein Vergleich des Aufstandes 1953 mit
der Revolution von 1989 (VZG, 2004); Staatssicherheit am Ende. Warum es den
Mächtigen nicht gelang, 1989 eine Revolution zu verhindern (1999).
Thingholm, Charlotte B.: B.A. European Studies der Universität Maastricht (NL),
derzeit MA Studium Development and International Relations, Global Refugee
Studies, an der Aalborg Universität, Dänemark. Von Januar bis Juli 2010 war sie
als wissenschaftliche Praktikantin am Jean Monnet Zentrum für Europastudien,
Universität Bremen, tätig.
Wolff, Janna: Dr. rer. pol., seit 2008 wissenschaftliche Assistentin am Jean Monnet
Zentrum für Europastudien, Universität Bremen. Forschungs- und Lehrschwerpunkte: Theorien Europäischer Integration, Europäische Außen- und Sicherheitspolitik, Demokratisierungs-prozesse. Aktuelles Forschungsprojekt: No democratisation without reconciliation? Viable approaches of the European Union in ‘postviolence’ societies.
8
Einleitung
Europäische Erinnerungskonstellationen – zum Wandel nationaler
Narrative nach 1989
Wolfgang Stephan Kissel, Ulrike Liebert
1.
Im Laufe des letzten Jahrzehnts haben Begriffe wie „europäischer Erinnerungsraum“ oder „europäisches Gedächtnis“ ihren Weg in die öffentlichen Debatten gefunden. 1 Die einprägsame Formel scheint nahe zu legen, es gäbe bereits ein einheitliches Geschichtsbild, das in allen Mitgliedsstaaten von den EU-Bürgern akzeptiert
würde. Daher ist für Politiker die Versuchung, auf die Wortverbindung zurückzugreifen, offensichtlich besonders groß. Gegen Ende des ersten Jahrzehnts des
21. Jahrhunderts kann das Projekt der Einigung der europäischen Staaten eine einzigartige Erfolgsgeschichte vorweisen und steckt doch in einer tiefen Krise. Kaum
hat die Europäische Union nach außen die große Erweiterung nach Osten vollzogen
und nach innen ihre Reformblockade mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon überwunden, stellen die Herausforderungen der internationalen Finanz- und
Wirtschaftskrise und die Unsicherheiten etwa der Situation in Griechenland das
Erreichte erneut in Frage. Die aktuelle Problemlage lässt sich nicht getrennt von
einer neuerlichen globalen Machtverschiebung betrachten, diesmal jedoch in östliche, genauer gesagt asiatische Richtung, die sich vor unseren Augen abspielt.
Gleichgültig wie sich die aktuelle Weltwirtschaftskrise weiterentwickelt, die USA
werden danach nicht mehr die Position eines unangefochtenen Welthegemons beanspruchen können. 2 Dies bedeutet, dass sich die EU in einem weniger westlich
dominierten multipolaren globalen Umfeld neben China und Indien, Russland und
Brasilien als Regionalmacht behaupten muss. Der Widerstand gegen das EUVerfassungsprojekt und die Wellen von EU-Skepsis haben den Druck erhöht, nach
einer „europäischen Identität“ als einer weiteren stützenden und treibenden Kraft
des Einigungsprojektes zu suchen. 3 Dafür bieten das 20. Jahrhundert und die Erinnerungen an die Katastrophen seiner ersten Hälfte und die Verständigungen und
Versöhnungen in der zweiten ein starkes Narrativ und einen reichen Fundus aussagekräftiger Bilder und Symbole.
In engem Zusammenhang mit dem Begriff des „europäischen Erinnerungsraums“
oder des „europäischen Gedächtnisses“ wird dabei oft auf das Holocaust-Gedenken
– und im weiteren Sinne das Bewusstsein für die Singularität der nationalsozialistischen Verbrechen – verwiesen, das mittlerweile in den meisten Mitgliedsstaaten
fest verankert sei. 4 Auf den Zusammenbruch des sowjetischen Machtblocks 1989
und das Ende der Ost-West-Polarisierung folgte in den neunziger Jahren eine all-
10
Wolfgang Stephan Kissel, Ulrike Liebert
mähliche Universalisierung des Holocaust-Gedenkens, an der auch zahlreiche jüdische Organisationen und Institutionen in den USA wesentlichen Anteil hatten. 5 Ein
Schlüsselereignis auf diesem Weg waren die internationalen Gedenkfeierlichkeiten
in Auschwitz 1995. Aber erst zum Ende des Jahrhunderts vollzog sich der Wandel
hin zur Inter- oder Transnationalisierung. Internationale Konferenzen forderten die
Restitution konfiszierten oder enteigneten jüdischen Vermögens und geraubter
Kunstschätze bzw. Kulturgüter. Die schwedische Regierung ergriff die Initiative
und regte eine Internationalisierung von Maßnahmen zum Holocaust-Gedenken
an. 6 Die „Stockholmer Erklärung“ vom Januar 2000 enthält eine politische Verpflichtung zur dauerhaften Erinnerung an den Holocaust, die von 55 Regierungen,
darunter den meisten europäischen, unterzeichnet wurde. In der Sprache von Diplomatie und Politik nach Stockholm wurde der Holocaust somit zum zentralen europäischen Gedächtnisort, den jede europäische Identitätskonstruktion als Grundlage oder unabdingbare Voraussetzung anzuerkennen hat. Auch die neuen EU Mitgliedsstaaten in Ostmitteleuropa öffneten sich im Zuge der Verhandlungen zur sog.
Osterweiterung von 2004 und 2007 einer entsprechenden Neubewertung ihres Umgangs mit jüdischen Minderheiten. Das Leiden jüdischer Opfer wurde von offiziellstaatlicher Seite anerkannt und gewürdigt, die Träger des kulturellen Gedächtnisses, Historiker und Museen begannen, die nationalen Narrative, die bisher ausschließlich von den Traumata unter den kommunistischen Regimen erzählten, umzuschreiben. 7 All dies scheinen Indizien zu sein, dass sich der Holocaust tatsächlich als zentraler Gedächtnisort eines europäischen Erinnerungsraums oder einer
europäischen Erinnerungskultur zu etablieren und zu institutionalisieren vermochte,
wie es die Stockholm-Konferenz anstrebte. 8 Die EU, internationale Organisationen
wie die UNO und Nichtregierungsorganisationen suchen, diesem Auftrag entsprechend mit Aktionen, der Einrichtung von Museen und in anderen Formen das Gedenken zu stützen und weiter zu verbreiten. Sie werben für ein potenziell gemeinschaftliches Gedächtnis, das um den „transnationalen Gedächtnisort“ Holocaust als
Kern einer europäischen Identität zentriert ist. Selbst Skeptiker, die dem HolocaustGedenken keine universale Wirkung zubilligen wollten, sprechen ihm den Status
einer Prägeform für andere Gewalttraumata und Erfahrungen kollektiven Leids zu.9
Diese Entwicklungen seit 1989, dem Ende der Spaltung Europas, lassen sich als
Ausstrahlung eines negativen Gedächtnisses beschreiben. 10
In den vergangenen Jahren haben Europapolitiker die sog. Vergangenheits- oder
Geschichtspolitik als ein Feld entdeckt, auf das die EU Einfluss nehmen und das sie
sprachlich definieren kann. In diesem Zusammenhang lässt sich zum Beispiel auch
das vom Europäischen Parlament angenommene Konzept zu einem „Haus der europäischen Geschichte“ verstehen, welches den Weg Europas durch Spaltungen
und Kriege vergangener Jahrhunderte hindurch nachzeichnet und schließlich in der
heutigen EU als bisherigem Endpunkt gipfeln lässt. 11 Allerdings blenden die Autoren – eine vom Parlament eingesetzte Historiker-Kommission mehrerer Länder –
Europäische Erinnerungskonstellationen – zum Wandel nationaler Narrative nach 1989
11
geflissentlich aus, dass ein solches Konzept eine wissenschaftlich fragwürdige Teleologie konstruiert, indem es die Disparatheit der Nationalgeschichten zu einer
Erfolgsgeschichte der europäischen Integration verknüpft. Dieses politisch instrumentalisierbare historische Konstrukt mag sich einmal aus der Retrospektive als
Begleitphänomen eines europäischen Staatsbildungsprozesses ausnehmen, haben
Staaten und Imperien doch immer eine Art von Geschichtspolitik betreiben müssen,
um sich zu stabilisieren, ihre Legitimation zu begründen, ihre Existenz auf Dauer
zu stellen. Es kann aber auch das Gegenteil bewirken, nämlich zentrifugale Tendenzen, die sich nicht in dieses zentralisierte Konzept fügen, stärken und unbeabsichtigte Konfliktdynamiken auslösen. Denn abgesehen davon, dass trotz verschiedener Erweiterungsrunden die Europäische Union und Europa keineswegs deckungsgleich geworden sind, wird eine europäische Vergemeinschaftung nationaler
Geschichtspolitiken durch eine Reihe von Faktoren kompliziert. Europa ist historisch nicht trotz, sondern gerade wegen der Vielfalt seiner Kulturen, Sprachen,
Staaten, seiner Antagonismen, Konkurrenzen und Spannungen zu einem weltweit
ausstrahlenden Zentrum der Moderne geworden. 12 Die heutige Europäische Union
ist daher mehr als ein Staatenbund aber auf absehbare Zeit weniger als ein supranationaler Bundesstaat. Ihre polyzentrische Form umfasst wechselseitig miteinander
verflochtene demokratische Nationalstaaten und Völker, welche über völkerrechtlich gültige Verträge hinaus und auf der Basis internationaler Menschenrechte eine
gemeinsame Ordnung ausbildeten. Damit delegieren sie Teile ihrer Souveränität an
eigens ermächtigte Gemeinschaftsorgane – den Europäischen Rat, die Ministerräte,
die Europäische Kommission, das Europäische Parlament, die Europäische Zentralbank. Die EU-Mitgliedsstaaten und -Gesellschaften bringen in die Union jedoch
ihre je eigene Narrative über ihre Nationalgeschichte und insbesondere die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts ein, die sie unter sehr unterschiedlichen Vorzeichen erlebt haben. Diese unterschiedlichen, in kollektiven Symbolen und Gedächtnisorten verankerten nationalen Narrative lassen sich nicht per Vertrag vergemeinschaften. Sie verbleiben im Wirkungsbereich nationaler Kulturen, Gesellschaften
und Staaten und wandeln sich nach deren eigentümlichen Gesetzlichkeiten.13
2.
Um die noch in das frühe 21. Jahrhundert hineinwirkende Bedeutung nationaler
Narrative im europäischen Erinnerungsraum besser zu veranschaulichen, soll an
dieser Stelle an die singuläre Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts und deren
Bewahrung bzw. Transformation im kulturellen Gedächtnis der Nationen in der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erinnert werden. Nach der „seminal catastrophe“ (George F. Kennan), der Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs, geriet
Europa in eine Phase der hochgradigen politischen Instabilität, die von ökonomischen Krisen begleitet wurde. In dieser Phase gelang es autoritären und totalitären
Regimen, große Teile der Bevölkerung für eine „Kultur der Gewalt“ zu gewinnen,
d.h. viele Bürger zu aktiven oder passiven Komplizen gewaltsamer Aktionen gegen
12
Wolfgang Stephan Kissel, Ulrike Liebert
politische Gegner oder ethnische und religiöse Minoritäten zu machen oder sie zumindest einzuschüchtern und so den politischen und öffentlichen Raum mit Gewalt
zu kontaminieren. Diese Kultur der Gewalt kehrte den Prozess der Zivilisation, der
sich von der Aufklärung herleitete, um: Hatten sich unter Einwirkung der Aufklärung mehr und mehr Staaten und Gesellschaften im 19. Jahrhundert darauf verständigt, Gewalt aus dem öffentlichen Raum so weit wie möglich zu verbannen und sie
als Mittel von Politik auszuschließen, so gewann nun permanente Gewalt, spontane
oder gesteuerte Massengewalt wie auch Gewalt von regulären Armeen, von Polizeieinheiten oder Geheimdiensten oder speziellen Sicherheitsdiensten einen festen
Platz im politischen Raum, ja wurde gar zum Normalzustand erklärt. 14
In diesem Humus wurzelten die Verbrechen der totalitären Regime des Nationalsozialismus, des sowjetischen Kommunismus wie auch der Diktaturen und autoritären Regime in Spanien, in Italien, Ungarn oder Rumänien. Der Sündenfall der europäischen Gewaltexzesse war auch deshalb so tief und zerstörerisch, weil sich die
Täter modernster Technologien bedienen konnten, um Angehörige der menschlichen Spezies, denen das Menschsein bestritten wurde, industriell zu liquidieren. 15
Das trifft insbesondere auf den Mord an den europäischen Juden zu, aber nicht nur
auf diesen. 16 Denn in vielen Arbeitslagern des sowjetischen Gulag wurden Strafgefangene durch Arbeit vernichtet; Massenerschießungen während des Großen Terrors (1936-38) hatten Fließbandcharakter. 17 Man muss sich die Spezifika der Gewaltformen des 20. Jahrhunderts in Erinnerung rufen, um die Bedeutung von Erinnerungskultur in Europa wirklich ermessen zu können. Die Erfahrungen von Dezivilisierung im Sinne der Preisgabe von Tötungshemmungen erstrecken sich auf die
gesamte Epoche und alle Gewaltformen. 18 Ob man den Begriff des Zivilisationsbruchs im Sinne einer Steigerungsform von Dezivilisierung auf die Shoah, den
Mord an den europäischen Juden, eingrenzen muss, bedarf weiterer Klärungen,
Debatten und auch Forschungen. 19 Kaum ist aber zu bezweifeln, dass allen genannten Fällen gemeinsam ist, dass Normen und Übereinkünfte der Aufklärung gezielt
verletzt wurden. 20 Die europäischen Gesellschaften und Staaten mussten nach 1945
mit der Erfahrung einer nie da gewesenen Dezivilisierung bzw. eines Zivilisationsbruches, der Millionen Menschen existentiell betraf, umgehen, um ihren Fortbestand zu sichern bzw. neu zu beginnen. Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg
drohte 1945 die Zukunft auf immer zu verdüstern und zu einer dauerhaften Entfremdung unter den europäischen Völkern zu führen. Im verwüsteten Nachkriegseuropa kam es in den Jahren von 1945 bis 1947 zu spontanen Racheaktionen an
den Tätern von gestern oder Menschen, die man dafür hielt: In Frankreich machten
Angehörige der Résistance Jagd auf Kollaborateure oder auch auf Frauen, die sich
mit deutschen Besatzern eingelassen hatten. In Norwegen kam es zu ähnlichen Racheakten, in Böhmen wurden Sudetendeutsche auf der Flucht erschossen, in den
sog. Ostgebieten wurden Millionen Menschen in Kollektivschuld genommen und
aus ihren über viele Generationen angestammten Heimatgebieten vertrieben. Die
Europäische Erinnerungskonstellationen – zum Wandel nationaler Narrative nach 1989
13
frische Erinnerung an Verbrechen der Nationalsozialisten, deutscher Soldaten und
Besatzer schien dies zu rechtfertigen. Um ihre Gesellschaften wiederaufzubauen,
das Alltagsleben in normale Bahnen zurückzuführen, mussten diese spontanen Racheakte beendet und ein nationaler Konsens herbeigeführt werden, mittels welcher
Erzählungen man die jüngste traumatische Vergangenheit verstehen konnte. Für die
Mehrzahl der Staaten, die vom nationalsozialistischen Deutschland überfallen und
teilweise oder ganz okkupiert worden waren, bot sich die Perspektive des Widerstandes und des unter schweren Opfern schließlich doch gemeinsam errungenen
Sieges über die Tyrannei und Gewaltherrschaft an. In Frankreich, den Beneluxstaaten und vor allem den Niederlanden und Norwegen blieb dies bis in die achtziger
Jahre hinein der dominante Diskurs. Deutschland galt als eindeutig Hauptschuldiger am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges.
Diese erste Dichotomie der europäischen Erinnerungslandschaft nach dem Zweiten
Weltkrieg, die Spaltung in Opfer und Täter, in Sieger und Besiegte, wurde überlagert und kompliziert durch eine zweite Konfliktachse, die ihre Ursache im globalen
Antagonismus, in der Konfrontation der beiden Supermächte hatte: Der Kalte Krieg
spaltet Europa und die Welt in zwei verfeindete Blöcke: ökonomisch in die marktwirtschaftlich verfassten Demokratien des Westens und die Planwirtschaften des
sowjetisch dominierten Ostblocks, und militärisch in Nato und Warschauer Pakt,
die sich mit nuklearer Hochrüstung und wechselseitiger Vernichtung bedrohten.
Das geteilte Deutschland lag im Zentrum dieser Konfrontation, die über vier Jahrzehnte bis 1989 den Rahmen vorgab, der auch die nationalen Erinnerungskulturen
prägte. Dementsprechend konkurrierte eine westliche demokratische mit einer östlichen kommunistischen kollektiven Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und die
Gewaltgeschichte der Zeit von 1914 bis 1945. Dies bedeutete de facto, dass im
Westen die Erinnerung an die Gewaltverbrechen des sowjetischen Kommunismus,
die während und nach dem Zweiten Weltkrieg begangen worden waren, aus dem
Horizont der offiziellen Vergangenheitspolitiken verschwand. Im Osten errichteten
die kommunistischen Diktaturen eine rigide Zensur, die alle Äußerungen über sowjetische Verbrechen in Polen, im Baltikum, in Finnland kontrollierte und Verstöße
gegen den offiziellen Diskurs mit Sanktionen ahndete. Unter der Oberfläche dieses
Pseudokonsenses bestanden jedoch in mündlicher Überlieferung oder in SamizdatSubkulturen hochgradig divergente nationale Versionen der jüngsten Vergangenheit fort. Dies trifft sowohl für Polens Version der Ereignisse von Katyń wie auch
für die Sicht der baltischen Staaten auf die sowjetische Invasion von 1940 und 1944
und die folgende Zwangseingliederung in die stalinistische Sowjetunion zu.
Diese mehrschichtige Konfiguration geteilter Erinnerungen hatte Folgen für den
Status der Erinnerung an die Shoah in den einzelnen nationalen Narrativen. Die
Wahrheit über den Mord an den Juden, über die immense Zahl der Opfer und die
industrialisierte Massentötung war spätestens wenige Monate nach dem Zweiten
14
Wolfgang Stephan Kissel, Ulrike Liebert
Weltkrieg in weiten Teilen Europas bekannt oder zugänglich geworden. Doch ihre
Wahrnehmung bis hin zur Anerkennung der Einzigartigkeit des Verbrechens musste sich gegen erhebliche Widerstände durchsetzen, die in vielen Ländern zum Teil
bis heute bestehen. Nach einer Phase des „kollektiven Beschweigens“ (H. Lübbe)
in den späten vierziger und den fünfziger Jahren zwang eine Serie Aufsehen erregender Prozesse in Israel und Deutschland Anfang der sechziger Jahre die bundesrepublikanische Öffentlichkeit, sich einer schmerzlichen und langwierigen Erinnerungsarbeit zu stellen, die schließlich in den heute herrschenden Konsens mündete,
dass die Erinnerung an den Holocaust Teil deutscher Identität ist und bleiben
muss. 21 Das Eingeständnis deutscher Schuld musste sich erst im nationalen Rahmen festigen, bevor auch die ehemaligen Gegner Deutschlands dieses Eingeständnis anerkennen konnten und eine fundamentale Neubewertung Deutschlands zuließen. Gewiss gehört zur vollständigen Geschichte des Mordes an den europäischen
Juden, dass Letten, Litauer Ukrainer, Polen, Franzosen, Norweger, Italiener, Rumänen, Ungarn sich als Komplizen, Helfer und Helfershelfer freiwillig oder gezwungen schuldig machten. Aber darum wurde der Holocaust noch nicht zu ihrer
nationalen Schuld und Teil ihrer nationalen Geschichtsnarrative. Die deutsche
Schuld ist daher keine europäische Schuld und kann nicht Grundlage einer europäischen Erinnerungskultur werden. 22
Für Westeuropa zentrierte sich das auf Sieg und Widerstand ausgerichtete Gedächtnis um das Datum des 8. Mai 1945, den Tag der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands. Für eine Reihe europäischer Nationalstaaten wie Norwegen, die
Niederlande oder Frankreich schien die scharfe Abgrenzung gegen die deutschen
Okkupanten und die Heroisierung des Widerstands der sicherste Weg zu einer
scheinbar dauerhaften nationalen Identitätsbildung. Der zweifellos bedeutende Widerstand in diesen Ländern wurde entgegen den historischen Fakten auf die gesamte Nation ausgedehnt und so die Erkenntnis verweigert, dass die Kollaboration mit
dem Nationalsozialismus keineswegs auf wenige „Verräter“ beschränkt war. Es
sollte zwei Generationen und vier bis fünf Jahrzehnte dauern, bis die RésistanceMythen durchbrochen und die Verstrickung von Eliten und Bevölkerung in die NSVerbrechen anerkannt wurden. Die Wende in den siebziger und achtziger Jahren
führte schließlich zu öffentlichen Eingeständnissen kollektiver (Teil-)Schuld, etwa
von Seiten des französischen Präsidenten oder der niederländischen Königin.
Die Implosion des sowjetischen Imperiums und das Ende der globalen Dichotomie
haben wesentlich dazu beigetragen, dass seit einiger Zeit die Bedeutung des Raumes für historische Prozesse wiederentdeckt bzw. neu gewichtet wird. 23 Über 40
Jahre lang waren die Staaten Ostmitteleuropas im so genannten Ostblock, d.h. in
einer ökonomischen, politischen und militärischen Zwangsgemeinschaft eingeschlossen, die historische, kulturelle und sprachliche Differenzen nivellierte oder
negierte. Diese schloss die Eingeschlossenen zugleich von der Teilhabe an der
Europäische Erinnerungskonstellationen – zum Wandel nationaler Narrative nach 1989
15
Entwicklung der westlichen Demokratien und ihrem Zugewinn an Freiheit,
Wohlstand und Zivilisierung aus. 24 Mit der Osterweiterung der Europäischen Union sind viele dieser bisher ausgeschlossenen Nationen im Jahr 2004 bzw. 2007 in
eine Staaten- und Völkergemeinschaft aufgenommen worden, von der sie sich nicht
nur den (Wieder)Eintritt in eine Wohlstandssphäre erwarten, sondern auch eine
Beschleunigung ihrer „Rückkehr nach Europa“ und damit zu ihren kulturellen
Wurzeln erhoffen. Seit dem Zerfall der Sowjetunion im Jahr 1991 traten zudem die
Bruchlinien zwischen den Erinnerungskulturen der Russischen Föderation und den
übrigen SU Nachfolgestaaten immer deutlicher zu Tage. So spielte die Entwicklung
einer je eigenen Version nationaler Vergangenheit eine Schlüsselrolle für das politische und kulturelle Selbstverständnis von Litauen, Lettland und Estland, Belarus
und der Ukraine.
Als Fazit lässt sich ziehen: Zu Beginn des 21. Jahrhunderts und gewiss für die
kommenden Jahrzehnte ist kaum eine homogene, vergemeinschaftete europäische
Erinnerung möglich. Die Vielfalt nationaler Narrative, Gedächtnisorte und Sonderwege verschwindet nicht einfach, sie bleibt bestehen, so dass jede künstliche,
von oben gesteuerte Vereinheitlichung scheitern muss. Wenn dies hier konstatiert
wird, soll zugleich nicht in Zweifel gezogen werden, dass der Holocaust ein singuläres Verbrechen oder eine Reihe solcher Verbrechen verkörpert und als solches
europaweit in Erinnerung bleiben wird und bleiben muss. Fraglich ist jedoch, ob
und inwieweit dieser auch zur Grundlage eines gemeinsamen europäischen Gedächtnisses werden kann. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass der
Begriff Gedächtnisort auf die französische Prägung lieu de mémoire zuückgeht,
d.h. aus dem französischen nationalen Narrativ stammt und erst nach 1989 vermehrt auf andere Nationalkulturen übertragen wurde. 25 Die Erinnerung an einen
Massenmord von bisher unbekannten technisch-industriellen Dimensionen in einen
solchen Gedächtnisort zu verwandeln, verlangt dem Begriff gleich mehrere Erweiterungen ab. Es mehren sich Zweifel, ob und inwieweit die sehr verschiedenartigen
Erfahrungen von Todes-, Arbeits- und Vergewaltigungslagern, Schlachtfeldern und
Bombardements auf europäischem Boden in die eine Matrix des Holocaust eingepasst werden können. Der Althistoriker Christian Meier hat diese Vorbehalte unlängst zusammengefasst:
Es ist und bleibt […] eine höchst schwierige Frage der Güterabwägung, wie
man nach Kriegen, Bürgerkriegen, Revolutionen und Umstürzen mit der
schlimmen Vergangenheit […] umgehen soll. Es gibt keinen abstrakten
Maßstab dafür. Jeder Fall ist anders. Daher ist es keineswegs ausgemacht,
dass sich seit der unabweisbaren deutschen Erinnerung an Auschwitz alles
anders verhält als früher. Die uralte Erfahrung, wonach man nach solchen
Erfahrungen besser vergisst und verdrängt als tätige Erinnerung walten zu
lassen, ist noch keineswegs überholt. Und es ist keineswegs ausgemacht,
dass tätige Erinnerung Wiederholung ausschließt. 26
16
Wolfgang Stephan Kissel, Ulrike Liebert
Trotz intensiver Gedenkrituale und -debatten haben sich in den neunziger Jahren
des vergangenen Jahrhunderts Massenmorde oder Genozide in Bosnien und in Ruanda ereignet. Sie scheinen die skeptische Einschätzung des Historikers zu bestätigen, dass eine noch so tief verwurzelte, noch so sehr auf Dauer gestellt Erinnerung
nicht notwendig eine sichere Prophylaxe gegen neue Eruptionen von Gewaltexzessen bietet. Dies darf andererseits nicht heißen, dass das Holocaust-Gedenken seinen
Sinn verlöre oder heute überholt und abgeschlossen sei. Es gilt nur nüchtern zu
konstatieren, dass auch das Gedenken an diesen einzigartigen Zivilisationsbruch
den Zyklen von Erinnern und Vergessen unterliegt. Das Erinnern war und ist eine
notwendige Voraussetzung, um stabile demokratische Strukturen nach gewaltsamen Umbrüchen zu schaffen. Es ist aber keine hinreichende Voraussetzung, um in
allen Fällen Gewaltausbrüchen entgegenzuwirken.
3.
Die in diesem Band versammelten Untersuchungen nehmen allesamt eine kritische
Haltung zur behaupteten oder angestrebten Vereinheitlichung des europäischen
Erinnerungsraums ein. Sie zielen vielmehr auf die spezifischen Muster und Dynamiken neuer Konstellationen und Konflikte, die den europäischen Erinnerungsraum
charakterisieren und welche es zu beobachten und zu analysieren gilt. Damit wird
der Erinnerungsraum nicht als feste, statische Größe behandelt, auf welchem eine
europäische Identität gründen könnte, sondern eher als ein großes Problemfeld für
Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik. Die nationalen Narrative leben fort, treten
aber in komplexe Wechselwirkungen ein und unterziehen sich hieraus resultierenden Wandlungsprozessen. Nach 1989 und deutlicher noch nach den EUErweiterungen von 2004 und 2007 zeichnen sich spezifische Wechselwirkungen
etwa zwischen den deutschen und den polnischen offiziellen Narrativen ab. Diese
sind mit einer Renationalisierung von Vergangenheitsbildern und -politiken nicht
zu verwechseln. Vielmehr gibt es zunehmend Verknüpfungen, Querbeziehungen,
Reaktionen aufeinander, die so vor 20 oder gar 30 Jahren nicht vorstellbar gewesen
wären. Eine transnationale Dynamik wird wirksam, die unabhängig von EUInstitutionen die Bilder nationaler Vergangenheiten der Deutschen und Franzosen,
der Polen und Deutschen oder der Ungarn und Rumänen in Beziehung zueinander
setzt. Die Erzählungen über die Nationalgeschichten drehen sich nicht mehr um die
französische oder deutsche oder polnische Nation als einzige oder dominante Achse, sondern öffnen sich dem Blick der Nachbarn und für dessen Geschichte. Die
nationalen Narrative nehmen eine Wendung ins Über- oder Transnationale, sie erzählen die eigene Geschichte in ihren wechselseitigen Abhängigkeiten von der Geschichte der Nachbarn.
Infolge der verschiedenen Erweiterungsschübe der EU, zunächst der Süd-, dann der
Nord- und zuletzt der Osterweiterungen ist der europäische Erinnerungsraum kom-
Europäische Erinnerungskonstellationen – zum Wandel nationaler Narrative nach 1989
17
plexer und kontroverser geworden. Der vorliegende Band trägt dieser Entwicklung
Rechnung, indem er eine Reihe zentraler, seit der Wende 1989/90 im neuen Europa
verhandelter Erinnerungskonflikte untersucht. Im Zentrum stehen zum einen Fragen nach den Mustern und Dynamiken kollektiver Erinnerungs-Konflikte: Wie unterscheiden sich die offiziellen – dominanten – Konsensanspruch erhebenden – kollektiven Erinnerungsdiskurse von oppositionellen Formen der Vergangenheitsbewältigung? Welches sind die dem Streit zugrunde liegenden zentralen Fragen,
Konzepte, Normen? Welche typischen Äußerungsformen, Konfliktdynamiken, Eskalationen lassen sich erkennen? Wieweit führt der Dissens zur Vergangenheitsbewältigung zu gesellschaftlichen Spaltungen, Gewalt und Unterdrückung? Zum anderen geht es um Fragen der rechtsstaatlich-demokratischen Kulturen: Wie gelingt
es, Erinnerungskonflikte auf rechtsstaatliche, zivile, demokratische Weise zu vermitteln oder aufzuheben? Wie lässt es sich erklären, dass solche Versuche scheitern? Die zwölf Beiträge beziehen unterschiedliche kulturelle Erinnerungsmedien –
d.h. Medien öffentlicher Erinnerung – ein, u.a. Literatur, Film, wissenschaftliche
Publikationen, Massenmedien, Gerichtsakten, öffentlich zugängliche Archive, etc.
In den Auseinandersetzungen der in diesem Band versammelten Beiträge mit diesen Fragen kristallisieren sich drei Konstellationen des europäischen Erinnerungsraumes mit je eigenen Dynamiken und Konfliktmustern heraus:
(1) In einem ersten Komplex werden die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs jenseits der Grenzen des alten Europa und im Verhältnis der EU zur Russischen Föderation, in Ostmittel-, Ost- und Südosteuropa jahrzehntelang beschwiegenen Traumata zum Gegenstand heftiger gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen, deren politische Instrumentalisierung neue intra-, inter- und transnationale Konflikte
auslöst. Die Osterweiterungen von 2004 und 2007 haben den Charakter der Union
verändert. Die intensiven Debatten über ostmittel- und osteuropäische Erinnerungskonflikte wirken mittlerweile bis ins alte Zentrum der westeuropäischen Union hinein. Es entstehen neue Erinnerungskonstellationen zwischen Mitgliedsstaaten
und Nicht-Mitgliedsstaaten. Die baltischen Staaten, Polen und die tschechische Republik verlangen, dass man ihre unter dem Kommunismus erlittenen Traumata anerkennen möge. Noch sind die Namen der Gulag-Lager nicht in die europäische
Gedächtnislandschaft so eingeschrieben wie die Namen der nationalsozialistischen
Vernichtungslager. Der europäische Gedächtnisraum muss in einem konflikthaften
Prozess der Aneignung von Erinnerungen über die Grenzen Ostmitteleuropas hinaus erweitert werden. Dies kann aber nicht bedeuten, eine Hierarchie der Opfer oder eine Opferkonkurrenz zwischen kommunistischen und nationalsozialistischen
Vernichtungslagern zu akzeptieren. 27 Diese Fragen erörtert Wolfgang Stephan Kissels Beitrag An den östlichen Grenzen der Europäischen Union: Erinnerungskonflikte im postsowjetischen Raum. Die schwere Erbschaft stalinistischer Dezivilisierung lastet bis heute auf der russischen Gesellschaft und blockiert kostbare Potenti-
18
Wolfgang Stephan Kissel, Ulrike Liebert
ale für die dringend gebotenen Reformen. Dies macht sich auch und gerade im offiziellen Umgang mit den Verbrechen und Gewaltexzessen unter Lenin und Stalin
bemerkbar, wie Galina Michalevas Beitrag Stalinismus damals und heute. Vergangenheitsdiskurse in Russland darlegt. Die Verfasserin erinnert auch an die von der
EU für ihre Außenbeziehungen übernommene Verantwortung für den Schutz von
Menschenrechtsstandards, etwa für Nichtregierungsorganisationen wie Memorial,
die unter der Regentschaft von Vladimir Putin einen schweren Stand haben. Sie
erinnert zudem an die Verflechtungen, die mittlerweile zwischen dem europäischen
und dem russischen Erinnerungsraum bestehen: Die Grenze zwischen Russland und
Europa und damit Russlands Europäizität, seine immer problematische, aber immer
auch betonte Zugehörigkeit zur europäischen Zivilisation. Beides sind Elemente
der Europäischen Vergangenheits- und Identitätspolitik. Rückfälle in das alte
Freund-Feind-Denken und die Wiederkehr der Gespenster des Kalten Krieges liegen nahe und werden immer wieder vorkommen. Russland spielt dabei seine neuen
Trümpfe ungeniert aus: es bildet mit den BRIC-Staaten eine neue Gruppierung innerhalb der aufsteigenden Mächte und es nähert sich China in einer kalkulierten
Interessengemeinschaft an, die freilich auch für Russland selbst Risiken birgt. Aber
dieses Denken in dichotomen Kategorien wird der neuen Situation nicht wirklich
gerecht. Russland und die EU befinden sich längst in einer Verantwortungsgemeinschaft für einen gewaltigen Teil des Planeten. Die Interdependenz dieser Staaten,
auch der Europäischen Union und der Russländischen Föderation ist soweit gediehen, dass Binnenkonflikte Folgen für das Außenverhältnis haben müssen.
Die bis heute andauernde tiefe Spaltung der polnischen Erinnerungskultur zeichnet
Karol Sauerland nach: Polen und Juden innerhalb der polnischen Erinnerungskultur. Diese Spaltung hängt eng mit dem komplexen historischen Geschehen während
des Zweiten Weltkriegs bzw. der Okkupation Polens durch das nationalsozialistische Deutschland und die stalinistische Sowjetunion zusammen. Polen war der
Hauptschauplatz des Mordes an den europäischen Juden, zugleich sollte die polnische Kultur ausgelöscht werden und die Polen selbst sollten auf den Stand eines
Sklavenvolkes zurückgeworfen werden. Dabei spaltete sich der polnische Widerstand in einen sowjetisch dominierten und einen nationalpolnischen. Nach dem
Krieg spielte die kommunistische Regierung Volkspolens die „gegenläufigen Gedächtnisse“, die Erinnerung an jüdisches Leid unter den nationalsozialistischen
Okkupanten und an das polnische Leid unter den Kommunisten, gegeneinander
aus. Der Ghetto-Aufstand von 1943 fand seinen Platz in offiziellen Gedenkfeierlichkeiten, während der Warschauer Aufstand der Heimatarmee (Armia Krajowa)
von 1944 verschwiegen werden musste – wegen seiner deutlich antikommunistischen Tendenz und der zweifelhaften Rolle der siegreichen Roten Armee, die am
anderen Weichselufer zusah, wie die deutschen Okkupanten den Aufstand noch
einmal blutig niederschlugen und Warschau in Schutt und Asche legten. Ein anderer Konflikt, der das kulturelle Gedächtnis bis heute belastet, ist das lange Fortdau-
Europäische Erinnerungskonstellationen – zum Wandel nationaler Narrative nach 1989
19
ern antisemitischer Einstellungen und Handlungen auch in der Volksrepublik Polen. Der Artikel von Sauerland geht der Spur der Pogrome von Jedwabne im Juli
1941 und Kielce im Juli 1946 nach und verfolgt den Antisemitismus bis zu den
Ausschreitungen und Verfolgungen des Jahres 1968, die im Wesentlichen von der
kommunistischen Regierung gesteuert wurden und eine große Emigrationswelle
auslösten. Obwohl diese Pogrome oder Verfolgungen nicht im Entferntesten mit
den Gewalttaten der Nationalsozialisten verglichen werden können, müssen sie als
Fakten anerkannt und in ein kulturelles Gedächtnis, das Polen einbezieht, integriert
werden.
Es gehört zu den wohl wichtigsten aktuellen Befunden, dass EU-Konfliktbearbeitungsstrategien und die sich entwickelnden Erinnerungskulturen auch über die
südöstlichen Grenzen der Union hinaus ausstrahlen und wesentlich zur Stabilität
der Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien beigetragen haben und weiter
beitragen. Lange galt Jugoslawien im gespaltenen Nachkriegseuropa als eine Brücke zwischen den Blöcken, als Alternative zur Ost-West-Konfrontation, als dritter
Raum. Einer jugoslawischen Identität schien im Vergleich zu den „rückständigen“
ethnisch oder konfessionell dominierten Modellen einer serbischen bzw. kroatischen Identität die Zukunft zu gehören. Doch allzu oft verbarg sich hinter dem jugoslawischen Modell die serbische Dominanz, die schon im Königreich der Südslawen bestanden hatte. Es gab massive Machtkonflikte zwischen dem ökonomisch
stärkeren Norden, Kroatien und Slowenien, und dem politisch dominanten Süden,
Serbien mit der Vojvodina, Montenegro und dem von Serbien als Stammland beanspruchten, aber mehrheitlich von Albanern bewohnten Kosovo. Unter der Oberfläche der nationalen Einheit wirkten schärfste Erinnerungskonflikte um die Hypotheken des Zweiten Weltkriegs fort. Es ging nicht zuletzt um die Gewaltexzesse, die
serbische Četniki und kroatische Ustaša-Einheiten ihren Völkern wechselseitig zugefügt hatten, über die aber ein Jahrzehnte währendes Schweigegebot verhängt war
und die daher im Untergrund ungehindert Hass und Ressentiments nähren konnten.
An diesen Ungleichgewichten scheiterte schließlich das Projekt einer einheitlichen
nationalen Identität der Südslawen. Es scheiterte so gründlich wie blutig in einem
Bürgerkrieg in mehreren Akten, der die verschiedenen ethnischen, kulturellen und
konfessionellen Komponenten nun durch einen tiefen Graben trennt. Kriegsverbrechen bzw. Verbrechen gegen die Menschheit haben eine jahrhundertealte kulturelle
Symbiose zerstört oder zumindest schwer gestört, der Einheitsstaat ist zerfallen, die
politische Stabilität der Region ist immer noch nicht ganz wiederhergestellt. Die
schwere Hypothek der Desintegration Jugoslawiens lastet vor allem auf BosnienHerzegowina, Serbien und dem Kosovo. Yvonne Pörzgen illustriert in ihrem Beitrag Vielfalt ohne Einheit: Identitätskonstruktionen in Ex-Jugoslawien anhand einer
Anthologie, die zeitgleich in mehreren südosteuropäischen Ländern und in
Deutschland erschienen ist, wie diese Erinnerungskonflikte auf die Identität von
Schriftstellern der mittleren und jüngeren Generation nachwirken, viele von ihnen
20
Wolfgang Stephan Kissel, Ulrike Liebert
seit Jahren im Ausland lebend. So entsteht ein kaleidoskopartiges Muster der Bürgerkriegsfolgen in der individuellen Erinnerung junger Menschen.
(2) Der zweite Komplex von Untersuchungen im vorliegenden Band zeigt, wie die
östlichen Dynamiken auf den westlichen Erinnerungsraum zurückwirken, etwa auf
Deutschland, Frankreich und Spanien. Wie sehr dieser Raum wieder in Bewegung
geraten ist, zeigen allein die Debatten um deutsches Opfertum und deutsches Leid,
die David Bathrick in seinem Beitrag Enttabuisierte Erinnerung? Deutsche Leiden
im Zweiten Weltkrieg nachzeichnet. 28 Fast drei Jahrzehnte lang hat sich die (west-)
deutsche Erinnerungskultur auf deutsche Schuld und nationalsozialistische Verbrechen konzentriert, begleitet und gestützt durch eine wissenschaftliche Forschung
auf hohem Niveau und von einer zunehmend differenzierten öffentlichen Debatte.
Diese Entwicklungen gipfeln heute in zahlreichen Gedenkveranstaltungen und ritualen und einem sicheren Konsens über die Tragweite der Verbrechen, der politisch unantastbar ist und immer wieder auch juristisch verteidigt wird. Ihre relative
Abgeschlossenheit war mit dem Jahr 1989 jedoch dahin. Stärker noch seit 2004
spürt man in Deutschland die Forderungen der neuen EU-Mitgliedsstaaten, eine
andere Geschichte des Zweiten Weltkriegs, ja der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu schreiben, in die andere Zäsuren einzutragen sind, etwa die der erneuten Okkupation des Baltikums im Juni 1944 durch die Rote Armee, die nachfolgenden Verschleppungen Zehntausender Esten und Letten in den Gulag und eine
andauernde Knechtschaft. Auch für Polen, die Ukraine und Belarus markiert das
Ende des Zweiten Weltkriegs den Beginn einer langen Okkupationsperiode. Diese
eigene Erinnerungskultur erzeugt zusammen mit anderen Faktoren wie dem Generationswechsel unter Opfern und Tätern einen deutlichen Druck auf die zentrale
Stellung des Holocaust-Gedenkens in der deutschen Erinnerungskultur, ja eine Opferkonkurrenz, welche der Zentralrat der Juden in Deutschland verständlicherweise
mit großer Sorge verfolgt. Dies führt zu einer Konstellation, die Verunsicherung
und neue Herausforderungen mit sich bringt. Möglich geworden sind z. B. Angriffe
auf die angebliche Heuchelei des Erinnerungskonsenses, wie sie z. B. der österreichische Philosoph Rudolf Burger gewagt hat. 29 Seit den späten neunziger Jahren
häufen sich auch Debatten über die deutschen Opfer des Bombenkrieges und den
Charakter dieses Krieges als Verbrechen gegen die Menschheit, die zwei Jahrzehnte zuvor kaum zugelassen worden wären. In Film, Fernsehen, Literatur lässt sich
ebenfalls eine verstärkte Aufmerksamkeit für die lange tabuisierten deutschen Opfer der Vertreibungen in Polen und der Tschechoslowakei beobachten. Die Bundesregierung hofft durch ein „Dokumentationszentrum über Vertreibung, Flucht und
Versöhnung“ einen Gedächtnisort zu schaffen, der den Interessen der Vertriebenenverbände ebenso gerecht wird wie der polnischen oder tschechischen Sicht.
Darüber gibt es allerdings eine lebhafte Debatte mit Vertretern polnischer Gedenkinitiativen und -organisationen sowie Teilen der polnischen Öffentlichkeit. 30 Auch
Europäische Erinnerungskonstellationen – zum Wandel nationaler Narrative nach 1989
21
und gerade auf die deutsche Erinnerungskultur der letzten Jahre wirkt sich also die
transnationale Dynamik aus, die aus dem Osten so starke Impulse erhält.
Helga Bories-Sawala verfolgt in ihrem Beitrag Täter, Opfer und Erinnerungskonflikte in Frankreich die komplizierten Wendungen der offiziellen französischen
Vergangenheitspolitik. Diese gab klare Trennlinien vor und regelte den Umgang
mit der Last der Geschichte: Frankreich musste seine Position als Siegermacht im
Zweiten Weltkrieg am Verhandlungstisch und in Diskursen behaupten. Es sollte
eine ganze Generationen dauern, bis der Resistance-Mythos durchbrochen und die
Verstrickung von Teilen der eigenen Bevölkerung, vor allem aber der VichyRegierung in die NS-Verbrechen akzeptiert wurde. Frankreich musste u. a. auf
Grund der Forschungsergebnisse amerikanischer und deutscher Historiker erfahren,
dass das Regime von Vichy den einzigen Fall in Westeuropa darstellte, bei dem
eine unabhängige Regierung der Ermordung der Juden aus freien Stücken zuarbeitete. Diese Wende führte schließlich Anfang und Mitte der neunziger Jahre zu öffentlichen Eingeständnissen kollektiver (Teil)Schuld, so z. B. von Seiten des französischen Präsidenten Chirac am 16. Juni 1995, dem Jahrestag der Großrazzia gegen Pariser Juden. Mit dieser eigenen Erinnerungsarbeit und der Bereitschaft zur
Selbstkritik hat Frankreich sich transnationalen Standards angenähert und einen
wichtigen Beitrag zu einer europäischen Erinnerungsgemeinschaft geleistet.
Auch die Position Spaniens in Erinnerungsfragen hat sich im letzten Jahrzehnt demokratisch-rechtsstaatlichen EU-Standards angenähert, wie Anja Mihr, Der lange
Schatten Francos: Aufarbeiten, Erinnerung und Demokratie in Spanien ausführt.
Sehr spät erst wurde das Schweigegebot über den Bürgerkrieg zwischen der gewählten republikanischen Regierung und den franquistischen Putschisten aufgehoben. Dieses hatte die Franco-Diktatur (1939-1975) der Gesellschaft auferlegt. Die
Vertreter der jungen, noch instabilen Demokratie hatten es nicht zu brechen gewagt, sondern vielmehr im Amnestiegesetz von 1977 juristisch verankert. Der Opfer des faschistischen Terrors während des Bürgerkriegs und der franquistischen
Diktatur durfte offiziell nicht gedacht werden. Erst 30 Jahre – eine ganze biologische Generation – später verabschiedete die spanische Regierung die Ley de la
memoria histórica de Espana (Gesetz zur historischen Erinnerung Spaniens, kurz:
Erinnerungsgesetz), welches das Bild des Diktators weitgehend aus dem öffentlichen Raum verbannte und einen Prozess der Verrechtlichung von Opferansprüchen
einleitete. Noch lebende Opfer sollen Entschädigungen, alle Nachkommen (Ley de
los Nietos) der Widerstandskämpfer gegen Franco, die ins Ausland fliehen mussten, sollen die spanische Staatsbürgerschaft erhalten, und das Schicksal Verschwundener und Ermordeter des Bürgerkrieges soll aufgeklärt werden. Offen ist,
ob das vom König 1977 erlassene Amnestiegesetz in Kraft und damit vergangenes
Unrecht weiterhin straflos bleibt.
22
Wolfgang Stephan Kissel, Ulrike Liebert
In seinem Beitrag Erinnerungskonflikte, Gespräch, Versöhnung setzt sich Zdzislaw
Krasnodebski mit Erinnerungskonflikten als „Konflikten besonderer Art“ auseinander. Darin sucht er nach Antworten auf die grundlegenden Fragen: Wie kann
man durch bessere Verständigung Erinnerungskonflikte beenden? Wie kann man
gar Versöhnung erreichen? Warum glauben wir, dass das über den Dialog, das Gespräch möglich sei? Warum meinen wir, dass es in solchen Situationen besser sei,
miteinander zu sprechen als gemeinsam zu schweigen? Aus dem Blickwinkel
postkommunistischer ostmitteleuropäischer Gesellschaften stellt er zunächst fest,
dass der deutsche Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und dem
Zweiten Weltkrieg kaum verallgemeinerbar sei. Auch die „Mode des Entschuldigens“ durch Regierungsrepräsentanten erschlösse keine wirklich befriedende Perspektive. Im Anschluss an Hannah Arendt plädiert Krasnodebski schlussendlich für
eine macht- wie vernunftkritische Revision des Modells der „Versöhnung durch
Dialog“ von Hans-Georg Gadamer oder auch der Diskursethik von Jürgen Habermas’: In transnationalen Erinnerungskonflikten gäben nicht allein aufklärerischrationalistische Intentionen sondern immer auch subjektivistisch-irrationalistische
Dynamiken den Ton an.
(3) Die im abschließenden Komplex versammelten Beiträge – zur „transitional
justice“ in Deutschland von Walter Süß, in Ostmitteleuropa von Gabor Halmai, im
Kosovo von Janna Wolff und Charlotte Thingholm – behandeln spezifisch institutionelle Probleme von Recht und Gerechtigkeit als Grundlagen und Rahmen für
Aufarbeitung und Versöhnung. Eine Reihe von EU-Mitgliedsstaaten experimentiert
mehr oder weniger erfolgreich mit neuen rechtsstaatlichen Formen der Aufarbeitung historischer Ungerechtigkeiten, sei es auf dem Wege der Entschädigung von
Opfern und Sanktionierung von Tätern oder mit unterschiedlichen Formen der Versöhnung. Prozedurale Mechanismen, die Regeln und Normen internationalen und
europäischen Rechts erlauben es, mit den Hinterlassenschaften gewaltförmig ausgetragener Konflikte auf zivile Art umzugehen. Auf den internationalen Menschenrechten begründet, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs als Basis einer neuen
„Moralpolitik“ gelten, haben diese zweifellos ein neues Zeitalter eingeleitet. 31 Mit
dem Vertrag von Lissabon hat sich die EU 2009 ein konstitutionelles Fundament
gegeben, welches die Charta der Grundrechte, die Verpflichtung auf demokratische
Werte und die Anerkennung nationaler, ethnischer, religiöser und anderer Identitäten verbindlich macht.
Wie Walter Süss zeigt, wurde die Berliner Stasi-Unterlagen-Behörde gegen Widerstände aus Politik (Ost und West) und aus der Wissenschaft durchgesetzt, reiht sich
aber ein in den in den letzten drei Jahrzehnten in der westlichen Hemisphäre erfolgten Wandel im Umgang mit Menschenrechtsverletzungen – sei es durch Diktaturen
oder nach inner- und zwischenstaatlichen Konflikten. Die Verwendung des Leitbegriffs Transitional Justice ist umstritten: Von den einen als „Übergangsjustiz“ in
Europäische Erinnerungskonstellationen – zum Wandel nationaler Narrative nach 1989
23
Frage gestellt, sehen die anderen darin die rechtliche Gestaltung eines Regimewechsels. Wenn es um Recht und Gerechtigkeit gehe, in welchem Verhältnis stehen beide? Elementarer Bestandteil von Gerechtigkeit ist das Streben nach Wahrheit über die Vergangenheit; d.h. der Versuch, die Würde der Opfer wiederherzustellen, indem das, was ihnen angetan worden ist, offen benannt und öffentlich verurteilt wird. Wieweit sind die institutionellen Formen, die dafür in Deutschland,
Polen, Ungarn, Tschechien gewählt wurden, geeignet? Wer im Sinn einer kontrafaktischen Hypothese immer noch fragt, ob ein gnädiges Beschweigen nicht sinnvoller als die Öffnung der Akten der Geheimpolizei unter den kommunistischen
Regimen gewesen wäre, den verweist Süß auf das Gegenbeispiel Russlands. Sein
Fazit: Es sei ein hohes moralisches Gut, dass Unrecht offen benannt werde und
dass die Opfer politischer Repression sich über die Hintergründe dessen, was ihnen
widerfahren ist, Aufklärung verschaffen können.
Gabor Halmais Beitrag Vergangenheitsbewältigung im Kontext posttotalitärer Gesellschaften in Ost-Mittel-Europa beschäftigt sich mit „Lustration“ (Durchleuchtung) als einer Form nicht strafrechtlich verfahrender administrativer Sanktionierung in den postkommunistischen Gesellschaften Ostmitteleuropas. Das Ziel, jene
aus dem öffentlichen Sektor auszuschließen, die dem repressiven Regime dienten,
stellt eine zentrale Herausforderung für die Gestaltung des Übergangs zu demokratischen Rechtsstaaten dar. Halmais Vergleich der Regelungen Ungarns mit denen
der anderen mittelosteuropäischen Länder zeigt erhebliche Unterschiede auf, wie
der Zugang der Opfer und der allgemeinen Öffentlichkeit zu den Akten der Geheimpolizei der kommunistischen Regime gehandhabt wurde: Während Deutschland unbegrenzten Zugang für die Opfer auch hinsichtlich der Daten über die Agenten ebenso wie für Regierungsagenturen erlaubte, folgte Ungarn zwar dem
deutschen Weg, erlaubte aber auch der allgemeinen Öffentlichkeit den Zugang zu
Daten über Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Den weitestmöglichen öffentlichen Zugang bieten die Regelungen der Tschechischen Republik und der Slowakei, wo die Akten der Geheimpolizei für jedermann zugänglich gemacht wurden.
Wolffs und Thingholms Beitrag handelt vom Umgang mit Kriegsvergewaltigungen
im Kosovo, wobei sie insbesondere den Einsatz von Vergewaltigungen von Frauen
und Mädchen als Kriegswaffe und die daraus resultierenden gesellschaftlichen geschlechtsspezifischen Muster des Beschweigens und der Unfähigkeit zur Trauer
wie zum Dialog beleuchten. Den Schwerpunkt der Analyse bilden die derzeit praktizierten Möglichkeiten und manifesten Grenzen einer – vor allem juristischen –
Aufarbeitung dieser Traumata im nationalen Rahmen, hinsichtlich derer, wie die
Autorinnen argumentieren, die internationale Gemeinschaft eine besondere Rolle
übernehmen sollte.
24
Wolfgang Stephan Kissel, Ulrike Liebert
Das abschließende Kapitel von Ulrike Liebert setzt sich mit der These auseinander,
aufgrund der Defizite einer europäischen Erinnerungsgemeinschaft sei eine wesentliche Voraussetzung für eine europäischen Identität nicht gegeben, weswegen letztlich auch das Projekt einer demokratisch legitimierten Europäischen Union notwendiger Grundlagen – eines europäischen demos – entbehren müsse. In Perspektiven einer europäischen Erinnerungsgemeinschaft wendet sie diese Diagnose eines unausweichlichen Demokratie-Dilemmas im europäischen Integrationsprozess
in eine Zukunftsperspektive für das erweiterte Europa. Anhand der Debatte über
die Formen, Bedingungen und Konsequenzen einer europäischen Identität untersucht sie Argumente, die sich für den umgekehrten Kausalzusammenhang anführen
lassen: dass unterschiedliche kollektive Identitätskonstruktionen einerseits den
Umgang mit Erinnerungskonflikten auf verschiedene Weise selektiv strukturieren;
und andererseits, dass kollektive Identitäten ihrerseits wesentlich durch die politisch-gesellschaftliche Institutionenordnung geprägt sind. Aus beiden Argumenten
leitet sie die zukunftsorientierte These ab, dass die Entwicklung transnationaler
demokratisch-rechtsstaatlicher Institutionen und Verfahren eine europäische politische Identität fördern und damit einen Beitrag zur Versöhnung auch solcher nationaler Erinnerungskonflikte leisten wird, welche dem europäischen Integrationsoder Erweiterungsprozess bislang entgegenwirken.
Wenn die Autoren dieser Beiträge dem Wunschbild eines homogenen Gedächtnisses oder Erinnerungsraums mit großer Vorsicht oder gewichtigen Vorbehalten entgegentreten, so beschreiben ihre Ergebnisse doch Elemente eines „acquis historique communautaire“ , d.h. eines Fundamentes von Grundüberzeugungen und Normen, die von allen Mitgliedsstaaten geteilt und respektiert werden. 32 Dementsprechend muss symbolische Geschichtspolitik von der Vermittlung nationalstaatenübergreifend gemeinsamer rechtsstaatlicher und demokratischer Werte begleitet
werden. Die Etablierung und immer wieder neue Verlebendigung der EU als einer
demokratischen und rechtsstaatlichen politischen Gemeinschaft lässt sich nicht von
der immer wieder erneuerten Selbstvergewisserung durch die Auseinandersetzung
mit den Verbrechen des 20. Jahrhunderts lösen.
4.
Nach den beiden Osterweiterungen der Jahre 2004 und 2007 ist die Attraktivität
des europäischen Einigungsprojekts ungebrochen. Im Osten und Südosten warten
weitere Bewerber wie die Türkei oder die Ukraine, und der eher als pro-russisch
bekannte neue Ministerpräsident der Ukraine lässt nach seinem Wahlsieg keinen
Zweifel am Interesse seines Landes an möglichst engen Beziehungen zur EU.
Selbst in Georgien bekundet die Mehrheit der Bevölkerung Interesse an einem Beitritt. Diesen expansiven Tendenzen gegenüber mehren sich zunehmend prominente
Stimmen in Deutschland oder Frankreich, die mahnen, der Bogen sei überspannt,
Europäische Erinnerungskonstellationen – zum Wandel nationaler Narrative nach 1989
25
die Erweiterung gehe über die Integrationskräfte der Union und vor allem auch ihrer Bürger. In diesem Kontext ist das Potential der Erinnerungskulturen und Erinnerungskonflikte, jenes horizontale Vertrauen zu stiften und die vertikale Partizipation der Bürgerinnen und Bürger zu befördern, beträchtlich. Diese Formen der Integration durch Vertrauen und Partizipation entstehen oft nicht von oben gelenkt,
sondern von unten und spontan und sollte als eine wichtige Dimension des europäischen Einigungsprozesses einbezogen werden. Aus dieser „bottom-up“ Perspektive
betrachtet, würde die EU von den europäischen Bürgern nicht nur am Maßstab kollektiven Wohlstands, sozialer Sicherheit und politischer Stabilität gemessen werden. Sie würde auch als Kristallisationspunkt einer pluralistischen politischen Identität fungieren, welche die Diversität der europäischen Nationen und ihrer Geschichte aufnimmt. Der nach Osten erweiterte europäische Gedächtnisraum birgt
beträchtliche Potentiale zivilgesellschaftlicher Partizipation und Mitgestaltung für
kommende Generationen, die von den Zivilisationsbrüchen der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts nur noch durch Lektüre erfahren oder aus dem Schulunterricht
wissen. Der Prozess natürlichen Vergessens wird dadurch kaum aufgehalten werden. Was auf keinen Fall aus der Perspektive und im Horizont der jeweiligen Generation vergessen werden sollte, sind die an diese Brüche erinnernden europäischen
Erinnerungsorte, welche immer wieder spannungsreiche Debatten auslösen werden.
Es wäre reines Wunschdenken anzunehmen, dass diese Spannungen durch eine
seitens der EU gesteuerte Geschichtspolitik geglättet werden könnten. Dafür gründen sie viel zu tief im Selbstverständnis und dem Selbstbewusstsein der Nationalstaaten, aus deren Vielfalt die EU ihre Legitimation und ihre Anziehungskraft gerade bezieht. Mit größerer zeitlicher Distanz leuchten den nachfolgenden Generationen die Gründe für das Gedenken immer weniger unmittelbar ein. Es bedarf also
zunehmend der Rechtfertigung und der Vermittlung und wird damit zu einer Angelegenheit der Schulen und Universitäten, der Medien und Museen. Beobachter, Historiker, Soziologen, Politologen und Kulturwissenschaftler sind sich einig, dass seit
geraumer Zeit weniger als eine Geschichtsvergessenheit eine Erinnerungsversessenheit herrscht.
Das Ziel einer Wirtschafts- und Währungsunion hat das Denken und Handeln der
europapolitischen Eliten von der Gründung an über lange Jahrzehnte bestimmt.
Dabei umfasste das alte Zentrum der Union, ihr geographischer und kultureller
Kern, die Wohlstandszonen von Oberitalien und Süddeutschland, über das Ruhrgebiet, die Beneluxstaaten und die EU-Metropolen Brüssel und Straßburg bis hin zu
Nordfrankreich und Südengland. Die Einigung folgte weitgehend den Logiken
wirtschaftlicher und rechtlicher Integration. Zur Fortführung und Stärkung der Union gibt es keine ernstzunehmende Alternative, deren Zusammenhalt und Legitimierung erfordert mehr denn je auch die Identifikation der Bürgerinnen und Bürger
mit dem Einigungsprozess. Der „permissive Konsens“, d.h. die jahrzehntelang verfügbare Bereitschaft der Öffentlichkeit zur passiven Hinnahme der „Brüsseler Vor-
26
Wolfgang Stephan Kissel, Ulrike Liebert
gaben“ wird auf die Dauer als Motivations- und Legitimationsgrundlage nicht ausreichend sein. 33 Selbst neuere Darstellungen der europäischen Einigung beharren
auf dem Primat wirtschaftlicher, rechtlicher oder institutioneller Probleme. 34 Die
Streitthemen auf dem Feld der europäischen Erinnerungskultur oder Geschichtspolitik, welche die Öffentlichkeiten zunehmend spalten, werden kaum oder gar nicht
als eigenständiger Faktor des Integrationsprozesses thematisiert. Der europäische
Einigungsprozess hat sich nach dem Ende des Kalten Krieges und insbesondere
nach der Osterweiterung von einem ökonomischen zu einem politischen Projekt
transformiert, für dessen Umstrittenheit die Vielfalt seiner Erinnerungskulturen
konstitutiv ist. 35 Diese Vielfalt verlangt von Bürgern und Politikern gleichermaßen,
ihre Erinnerungskonflikte auszuhalten und auf friedliche Weise zu versöhnen.
Die künftigen Dynamiken im europäischen Erinnerungsraum werden davon abhängen, ob die Pflege und Weiterentwicklung eines europäischen Gedächtnisses mit so
heterogenen Bestandteilen wie Holocaust und Gulag auch für die kommenden Generationen zu einer sinnvollen, für das Projekt der europäischen Einigung unverzichtbaren Aufgabe wird. Dies kann und sollte durchaus politisch, aber nur dezentral und pluralistisch gefördert werden. Den Bildungssystemen der Mitgliedstaaten
kommt bei der Entwicklung dieser Art dezentraler europäischer Geschichtspolitik
eine wichtige Stellung zu. Diese Art des Umgangs mit Erinnerungskonflikten könnte eine neue Stufe voranschreitender Zivilisierung darstellen. Die realen Aggressionen verschöben sich auf die Erinnerungsebene, Erinnerungskonflikte träten innerhalb der EU an die Stelle gewaltsamer Konflikte Die Hochtechnologiegesellschaften unserer Epoche sind längst zu fragil, um sich dem geringsten Kriegsrisiko und
der damit verbunden Destruktivität auszusetzen, in Zeiten eines solcherart erzwungenen Gewaltverzichts träten Symbole, Gesten, Rituale, Gedächtnisorte an die Stelle der wirklichen bewaffneten Auseinandersetzung.
Die Gewaltverbrechen der entfesselten Nationalismen und der Totalitarismen haben Teile Europas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeitweise in Barbarei
zurückfallen lassen, diese traumatische Erfahrung war den Gründervätern der Montanunion und der EWG stets gegenwärtig. Wenn die Zivilisationsbrüche mittlerweile auch in zeitliche Distanz gerückt sind, wirken sie doch immer noch nach als eine
Vergangenheit, die nicht vergehen will, im Osten ebenso wie im Westen. 36 Daher
prägen Erster und Zweiter Weltkrieg, Shoa und Gulag auf sehr unterschiedliche
Weise den gesamten europäischen Gedächtnisraum des frühen 21. Jahrhunderts. 37
Nach Osten hin waren die Grenzen Europas seit jeher offen, umstritten und wechselnden Grenzziehungen unterworfen. 38 In einer neuen Zone, gebildet von den östlichen Mitgliedsstaaten und ihren Grenzen zu ehemaligen Sowjetrepubliken bzw.
von ehemaligen Sowjetrepubliken wie den baltischen Staaten und ihrer Grenze zur
Russländischen Föderation, wird nun ebenfalls über die Zukunft der Union und ihre
Bestimmung, ihre „finalité” gestritten. Nicht nur die ökonomischen und sozialen
Europäische Erinnerungskonstellationen – zum Wandel nationaler Narrative nach 1989
27
Lebenswelten Europas verschieben sich hierdurch nach Osten, sondern auch der
Schwerpunkt seiner Nationalgeschichten. Für die politischen und historischen Wissenschaften sind in diesen europäischen Grenzräumen wichtige neue Untersuchungsfelder entstanden.
1
Definition und Verwendung des Terminus „Erinnerungsraum“ sind nicht einheitlich. Aleida
Assmann hat eine Synthese vorgelegt, vgl. Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und
Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, 4. Auflage, München 2009. Aus einer Reihe von jüngeren Veröffentlichungen sei verwiesen auf Buchinger, Kristin, Gantet, Claire, Vogel, Jakob
(Hg.), Europäische Erinnerungsräume, Frankfurt am Main 2009. Abweichend davon findet sich
Sznaider, Natan, Gedächtnisraum Europa. Die Visionen des europäischen Kosmopolitismus. Eine
jüdische Perspektive, Bielefeld 2008. Helmut König, Julia Schmidt, Manfred Sicking (Hg.), Europas Gedächtnis. Das neue Europa zwischen nationalen Erinnerungen und gemeinsamer Identität,
Bielfeld 2008.
2
Fareed Zakaria und Parag Khanna haben unlängst versucht zu beschreiben, wie eine multipolare
Weltordnung nach der Pax americana der Clinton- und Bush-Jahre aussehen könnte. Vgl. Fareed
Zakaria, The Postamerican World, New York 2008 sowie Parag Khanna, The Second World: empires and influence in the new global order, New York 2008. Siehe bereits den Klassiker von E. O.
Czempiel, Weltpolitik im Umbruch. Das internationale System nach dem Ende des OstWestkonflikts, München 1993 (neu bearbeitete 2. Auflage 2002).
3
Zur Debatte über die Möglichkeiten und Formen einer europäischen kollektiven Identität, siehe
Kapitel 12 in diesem Band.
4
Richad Ned Lebwo, Wulf Kansteiner, Claudio Fogu (Eds.), The Politics of Memory in Postwar
Europe, Durham and London 2006.
5
Vgl. Peter Novick, The Holocaust in American Life, Boston 2000.
6
Vgl. die sorgsame und kritische Darstellung bei Kroh, Jens, Transnationale Erinnerung. Der Holocaust im Fokus geschichtspolitischer Initiativen, Frankfurt am Main 2006, dort speziell S. 76
eine Übersicht zur Abfolge der Konferenzen und S. 203-228 zur Task Force for International
Cooperation on Holocaust Education, Remembrance and Research sowie zur StockholmErklärung.
7
Tony Judt hat dies prägnant zusammengefasst: “Holocaust recognition is our contemporary
European entry ticket.” Sowie ebd.: “To deny or belittle the Shoah – the Holocaust – is to place
yourself beyond the pale of civilized public discourse.” Tony Judt, Postwar. A History of Europe
Since 1945, New York 2005, S. 803 und 804.
8
In diesem Sinn vgl. Tony Judt, ebd., S. 805: “As Europe prepares to leave World War Two behind [...] the recovered memory of Europe’s dead Jews has become the very definition and guarantee of the continent’s restored humanity.”
9
Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006, S.255-258 erörtert die Bedeutung des Holocaust als Gedächtnis Europas und
kommt zu dem Schluss: „Dass der Holocaust inzwischen eine fest etablierte Position innerhalb
dieses Kampfes gewonnen hat, bedeutet nicht mehr notwendig, dass er die Ansprüche anderer
Opfergruppen verdrängt, sondern dass er diesen Ansprüchen zur Durchsetzung verhilft. Der Verweis auf den Holocaust durch andere Opfergruppen drückt dabei immer weniger Konkurrenz oder
Relativierung aus und ist immer mehr zu einem global anerkannten Paradigma im Kampf um Anerkennung geworden.“
10
Dan Diner, Gegenläufige Gedächtnisse. Über Geltung und Wirkung des Holocaust, Göttingen
2007, S.39: „In erster Linie kontaminiert Auschwitz das Gedächtnis von Juden und Deutschen.
Aber auch andere europäische Gedächtnisse werden in den Orbit des Ereignisses gezogen – und
dies im Wesentlichen analog zu den sie konstituierenden Gedächtnisgemeinschaften, genauer:
ihrem jeweiligen Verhalten in den Zeiten des Zweiten Weltkriegs.“
28
11
Wolfgang Stephan Kissel, Ulrike Liebert
Vgl. Sachverständigenausschuss Haus der Europäischen Geschichte, Konzeptionelle Grundlagen
für ein Haus der europäischen Geschichte, Brüssel 2007.
12
Vgl. zur Wirkung der innereuropäischen Staatenkonkurrenz in der frühen Neuzeit z. B. Paul
Kennedy, Aufstieg und Fall der großen Mächte. Ökonomischer Wandel und militärischer Konflikt
von 1500 bis 2000, Frankfurt am Main 1991, hier speziell das Kapitel „Das europäische Wunder“,
S. 48-68.
13
Wie die Narrative über Europa in 12 alten und neuen Mitgliedsstaaten durch unterschiedliche
nationale Diskurse geprägt sind, zeigen die Beiträge in dem Band „European Stories. Intellectual
Debates on Europe in National Contexts“, hrsg. Justine Lacroix und Kalypso Nicolaidis (Oxford
University Press 2010).
14
Zu historiographischen Entwürfen dieser Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts vgl. z. B. Eric
Hobsbawm, Age of Extremes. The Short Twentieth History 1914-1991, London 1995; Eberhard
Jäckel, Das deutsche Jahrhundert. Eine historische Bilanz, Stuttgart 1996 sowie Dan Diner, Das
Jahrhundert verstehen. Eine universalhistorische Deutung, Frankfurt am Main 2000.
15
Baumann, Z., Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 1992.
16
Vgl. Dan Diner, Gedächtniszeiten. Über jüdische und andere Geschichten, München 2003,
S. 135 ff.
17
Vgl. Applebaum, Anne, Der Gulag, Berlin 2003 sowie z. B. R. Stettner: "Archipel Gulag". Stalins Zwangslager – Terrorinstrument und Wirtschaftsgigant. Entstehung, Organisation und Funktion des sowjetischen Lagersystems, Paderborn 1996 und zuletzt Karl Schlögel, Terror und Traum
Moskau 1937, München 2008, etwa S. 174-197.
18
Zum Begriff „Dezivilisierung“ als Kehrseite oder Antonym von „Zivilisierung“ vg. z. B. S.
Mennell: Decivilizing Processes: Theoretical Significance and Some Lines of Research, in: International Sociology 5, 1990, 2, S. 205-223, hier S. 220.
19
Dan Diner (Hg.), Zivilisationsbruch: Denken nach Auschwitz. Frankfurt a.M. 1988 und Diner,
D. (Hg.), Zivilisationsbruch Auschwitz, Idstein 1999. Dan Diner, Massenvernichtung und Gedächtnis. Zur kulturellen Strukturierung historischer Ereignisse, in: H.Loewy, Moltmann, B.(Hg.),
Erlebnis – Gedächtnis – Sinn. Authentische und konstruierte Erinnerung, Frankfurt/New York
1996, S.47-57.
20
Vgl. z. B. Tsvetan Todorov, Face à l’extrême: les camps concentrationnaire et la morale, Paris
1991. Les abus de la mémoire, Paris 1998.
21
Vgl. z. B. Norbert Frei, Die Anfänge der Vergangenheitspolitik und die NS-Vergangenheit,
München 1997 sowie Peter Reichel, Politik mit der Erinnerung, Gedächtnisorte im Streit um die
nationalsozialistische Vergangenheit, München Wien 1995.
22
Skeptisch auch U.K. Preuß, der darauf verweist, dass zwar die Opfer der Juden europäisiert
werden sollen, aber nicht der Täter. Vgl. U.K. Preuß, Kann Erinnerung Legitimität stiften? In:
Christian Joerges, Mathias Mahlmann, Ulrich K. Preuß (Hrsg.), „Schmerzliche Erfahrungen der
Vergangenheit“ und der Prozess der Konstitutionalisierung Europas, Wiesbaden 2008, S. 308-320,
hier S. 312: „Europa ist keine Nation. Seine Geschichte seit der frühen Neuzeit ist die Geschichte
seiner Staatsnationen.“
23
Vgl. z. B. Karl Schlögel, 2003: /Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und
Geopolitik/. München Wien; 2005: „Der Raum als Wille und Vorstellung. Erkundungen über den
Osten Europas“. In: O/steuropa/, 55,3.
24
Wirtschaftlich war diese Zwangsgemeinschaft seit 1949 im Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe/COMECON institutionalisiert, militärisch seit 1955 im Warschauer Pakt.
25
Der Begriff des „Gedächtnisortes“ gehört wohl zu den erfolgreichsten der neueren Gedächtnistheorie. Bekannter gemacht hat ihn Pierre Nora, Entre mémoire et histoire, in: Les lieux de mémoire, Bd. 1, Paris 1997. Pierre Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990. In den
Jahren nach der Publikation gab es Versuche, das Erfolgsmodelle auf andere nationale Narrative
zu übertragen so z. B. Etienne François / Hagen Schulze, Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bde, München 2001 ff., Georges Nivat (Ed.), Les sites de la mémoire russe, Paris 2007. Schon bei diesen
Versuchen traten allerdings Unstimmigkeiten und Inkonsistenzen zutage.
Europäische Erinnerungskonstellationen – zum Wandel nationaler Narrative nach 1989
26
29
Vgl. Christian Meier, Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom
öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit, Berlin 2010, S.97.
27
Dieses schwierige Thema geht u. a. an Jean-Michel Chaumont, Die Konkurrenz der Opfer. Genozid, Identität und Anerkennung, Lüneburg 2001.
28
Nach sechs Perioden ordnen diese Entwicklung Torben Fischer, Matthias N. Lorenz, Lexikon
der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, Bielefeld 2007.
29
Vgl. die scharfe Debatte um Rudolf Burger, Im Namen der Geschichte. Vom Missbrauch der
historischen Vernunft, Springe 2007, der versucht, eine „political correctness“ des Erinnerns zu
sprengen. Vorsichtiger aber in eine ähnliche Richtung argumentiert Sergio Romano, Brief an einen
jüdischen Freund, Berlin 2007.
30
Vgl. Torben/Lorenz, 340 ff. Deutsche Opfernarrative.
31
Der Begriff und die Praxis der Menschenrechte haben sich selbst erst im Laufe einer langwierigen Konfliktgeschichte herauskristallisiert, sind also ihrerseits als historisch kontingent zu betrachten, wie z. B. zeigt: Stefan-Ludwig Hoffmann (Hg.), Moralpolitik. Geschichte der Menschenrechte
im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010. Dies bedeutet auch, dass sie anfällig für verschiedenartige
Instrumentalisierungen sind und dazu dienen können, Hegemonialpolitik zu verbrämen oder akzeptabel erscheinen zu lassen.
32
So sieht Fabrice Larat die gemeinsame Aufarbeitung der Verbrechen bereits als Element des
Wertesystems der EU, vgl. z. B. Fabrice Larat; Aufarbeitung der Vergangenheit und Zivilisierung
Europas, in: Christian Joerges, Matthias Mahlmann, Ulrich K. Preuß (Hrsg.), „Schmerzliche Erfahrungen der Vergangenheit“ und der Prozess der Konstitutionalisierung Europas, Wiesbaden
2008, S.48-59, hier S.53, allerdings schränkt Larat ein: „Eine Verrechtlichung des acquis historique communautaire hat allerdings bis jetzt noch nicht stattgefunden.“
33
Dieser öffentlichen, auf Brüssel fixierten Perzeption steht die EU-Entscheidungspraxis entgegen,
in welche die Hauptstädte der EU-Mitgliedsstaaten nicht minder und zunehmend auch das Straßburger Parlament involviert sind.
34
Vgl. etwa Gerhard Brunn, Die europäische Einigung von 1945 bis heute. 3. aktualisierte Auflage, Stuttgart 2009, hier einschlägig S. 256 ff.
35
Claus Leggewie hat im letzten Jahr eine Übersicht vorgelegt, in der er als „Problemkomplexe“
der heutigen europäischen Gedächtnislandschaft den Holocaust, den Sowjetkommunismus, die
Vertreibungen, die Armenische Frage, die Europäische Peripherie und Europa als Einwanderungskontinent identifiziert. Vgl. Claus Leggewie, Schlachtfeld Europa. Transnationale Erinnerung und
europäische Identität, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 2/2009, S. 81–93
36
Vgl. Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006.
37
Vgl. Dan Diner, Gegenläufige Gedächtnisse. Über Geltung und Wirkung des Holocaust, Göttingen 2007, insbesondere S. 13-41.
38
Zur Verschiebung der Ostgrenze Europas, wie sie etwa von den Geographen Ortelius im 16.
Jahrhundert, Strahlenberg 1730 und Ritter, Reclus und Wisotzki Mitte des 19. Jahrhunderts vorgenommen wurde, vgl. etwa Elisabeth Lichtenberger, Europa. Geographie, Geschichte, Wirtschaft,
Politik, Darmstadt 2005, S.14.
30
I. Alte und neue Konstellationen im Osten Europas
Wolfgang Stephan Kissel
An den östlichen Grenzen der Europäischen Union: Erinnerungskonflikte im postsowjetischen Raum
1.
Die Implosion des sowjetischen Imperiums und das Ende der globalen Dichotomie
in den Jahren von 1989 bis 1991 haben entscheidend dazu beigetragen, dass sich
die europäische Landkarte grundlegend verändert hat. Mit der Sowjetunion ging
nicht ein einzelner Nationalstaat unter, sondern das letzte Kolonialreich im Stile
des 19. Jahrhunderts, das sich von den maritimen Mächten Großbritannien und
Frankreich vor allem dadurch unterschied, dass seine Kolonien eine zusammenhängende Landmasse bildeten. Nach dem Kollaps des Warschauer Paktes und dem
wirtschaftlichen Niedergang Anfang der neunziger Jahre entfiel in kürzester Zeit
die Basis für eine sowjetische Supermachtrolle, auch wenn sich große Teile der
Bevölkerung und der postsowjetischen Eliten von der Idee des Imperiums bis heute
nur schwer lösen konnten und können. Die neu gebildete Russländische Föderation
sah sich weitgehend auf die Grenzen des russischen Reiches im 17. Jahrhundert
zurückgeworfen. Der Zerfall des Imperiums zog nicht nur den Verlust des Glacis
abhängiger Satellitenstaaten, sondern Zug um Zug auch der ehemaligen sowjetischen Peripherie nach sich: des Baltikums, Belarus‘ und der Ukraine, der transkaukasischen und zentralasiatischen Republiken. Diese ehemaligen Teilrepubliken der
Sowjetunion, die zumeist nur eine sehr kurze Erfahrung von staatlicher Unabhängigkeit bzw. von Nationalstaat in ihrer Geschichte verzeichneten, bilden nun einen
neuen großflächigen Grenzraum zu den ehemaligen ostmittel- und südosteuropäischen Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktes, die ihre volle außen- und innenpolitische Souveränität wiedererlangt haben und auf eine sehr viel längere, wenn auch
oft durch Phasen von Abhängigkeit unterbrochene Nationalgeschichte zurückblickten.
Über 40 Jahre lang waren diese Staaten Ostmitteleuropas wie die drei baltischen
Staaten Estland, Lettland und Litauen, Polen, die ehemalige Tschechoslowakei,
Ungarn, Rumänien und Bulgarien im so genannten Ostblock, d.h. in einer ökonomischen, politischen und militärischen Zwangsgemeinschaft eingeschlossen, die
historische, kulturelle und sprachliche Differenzen nivellierte oder negierte, einer
Zwangsgemeinschaft, die die Eingeschlossenen zugleich von der Teilhabe an der
Entwicklung der westlichen Demokratien und ihrem Zugewinn an Freiheit,
Wohlstand, politischer Stabilität und Zivilisierung ausschloss.
32
Wolfgang Stephan Kissel
Dieses komplexe Verhältnis von Exklusion und Inklusion sollte unter anderen Vorzeichen auch den Grenzraum prägen, den sie nun zusammen mit den ehemaligen
Sowjetrepubliken bildeten und der viele Instabilitäten und Risiken barg und bis
heute birgt. 1 Russischstämmige bzw. russischsprachige Minoritäten in Estland,
Lettland, in Belarus und der Ukraine, in Georgien, Armenien und Aserbaidschan,
Kasachstan, Kirgisien, Usbekistan, Tadschikistan und Turkmenistan lassen diese
Staaten wiederum in russischer Wahrnehmung zu einer Zone werden, die ein besonderes historisch geprägtes Verhältnis zu Russland hat, zur russischen Interessensphäre gehört und bei entsprechenden Machtverhältnissen wieder eine engere
Assoziation mit der Russländischen Föderation eingehen könnte.
Die Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten erkannten bald, dass es in ihrem vitalen
Interesse lag, diesen Grenzraum nicht etwa sich selbst zu überlassen, was die Gefahr raschen ökonomischen und ökologischen Verfalls und der Entstehung von unregierbaren Zonen heraufbeschworen hätte, sondern vielmehr Einfluss auf ihn auszuüben und ihn mitzugestalten, ja ihn partiell und tendenziell in einen Innenraum
der EU selbst zu verwandeln. Mit den beiden Osterweiterungen der Europäischen
Union in den Jahren 2004 und 2006 wurden viele der bisher ausgeschlossenen Nationen in die Staatengemeinschaft oder supranationale Entität aufgenommen, von
der sie sich nicht nur den (Wieder-)Eintritt in eine Wohlstandssphäre erwarteten,
sondern auch eine Beschleunigung ihrer „Rückkehr nach Europa“ und damit zu
ihren kulturellen Wurzeln erhofften.
Diese neuen Mitgliedsstaaten haben nicht nur ihr politisches, soziales und ökonomisches Potential wie auch ihre besonderen Stärken und Schwächen in die Union
eingebracht, sondern auch eine spezifische Weise, die Erfahrung diktatorischer Unterdrückung und Gewalt, die diese Staaten im Laufe des 20. Jahrhunderts häufig
sowohl unter dem Nationalsozialismus als auch dem Kommunismus machen mussten, im kulturellen Gedächtnis aufzubewahren bzw. als Element einer lebendigen
Erinnerungskultur zu gestalten. Der Umgang mit dieser Vergangenheit nimmt dabei sehr verschiedene Formen an, die man in einem Spektrum von Konsens über
den Gewaltcharakter und völliger Ablehnung der unterdrückenden Macht bis hin zu
einer Eliten- und Herrschaftskontinuität ansiedeln kann. 2 Diese enorme Spannweite
erzeugt eine ausgeprägte Dynamik von Erinnerungskonflikten, die zunehmend auch
auf westeuropäische Konstellationen Einfluss ausüben und nicht mehr ausgeblendet
werden können, wenn es um die schwierige Frage „europäischer Identität“ geht.
2.
Um die aktuellen Verschiebungen und Wandlungen der nationalen und transnationalen Erinnerungskulturen im ostmitteleuropäischen Raum besser zu verstehen, soll
zunächst der Fokus auf die Vergangenheitspolitik der Russländischen Föderation
unter El’cin und Putin gerichtet werden. 3 Die Auseinandersetzung mit ihrer stali-
Erinnerungskonflikte im postsowjetischen Raum
33
nistischen Vergangenheit wird heute wieder verdrängt oder gar als erledigt abgetan.
Dies ist eine gefährliche Illusion, denn die Zerstörungen und Traumatisierungen
dieser Epoche beeinflussen weiterhin staatliches Handeln innen- wie außenpolitisch. Konnte man um 1990 noch die Vorhersage wagen, dass ein ehrendes öffentliches Gedenken für die Opfer des Stalinismus zu den Grundwerten einer künftigen
russischen Demokratie zählen würde, so muss man heute Stagnation oder Rückschritte auf diesem Feld konstatieren. Vielleicht ist die historische Chance für eine
tief greifende Revision der staatlichen Vergangenheitspolitik und eine unzweideutige Verurteilung des Stalinismus als Fundament einer neuen Erinnerungskultur
bereits verstrichen. Damit aber werden weitere Erinnerungskonflikte mit den Staaten an der ehemaligen westlichen Peripherie der Sowjetunion mehr als wahrscheinlich, denn dort trifft das monolithische Geschichtsbild des Kreml auf den härtesten
Widerstand.
Die Perestrojka setzte in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre zwar eine umfassende Aufklärung über die Gewaltexzesse und Verbrechen unter Lenin und Stalin
in Gang, doch trotz großer Anstrengungen von Seiten der Organisation Memorial
und intensiver Geschichtsdebatten bildete sich im postsowjetischen Russland kein
gesamtgesellschaftlicher Konsens über Ausmaß und Bedeutung der stalinistischen
Verbrechen heraus. 4 Die Aufklärungsarbeit ging von einem elitären Kreis aus und
blieb in ihren Tiefenwirkungen letztlich beschränkt, in der Russländischen Föderation verlor die alte Intelligenzija im Laufe der neunziger Jahre zudem rasch an Bedeutung.
Die offizielle russländische Vergangenheitspolitik arbeitet seit Mitte der neunziger
Jahre wieder an einem möglichst monolithisch geschlossenen Geschichtsbild, in
dessen Zentrum der Mythos vom „Großen Vaterländischen Krieg“ steht. 5 Er wurde
Mitte der sechziger Jahre, genau genommen 1965, zum 20. Jahrestag des Sieges
über das nationalsozialistische Deutschland unter Brežnev zur Stabilisierung des
sowjetischen Vielvölkerreichs geschaffen und erzählte von einem heroischen Abwehrkampf aller Bürger der Sowjetunion gegen die nationalsozialistischen Invasoren, aus dem die staatliche Einheit 1945 gestärkt hervorging. Den Republiken der
Sowjetunion wies man einen je eigenen Platz innerhalb des mythischen Narrativs
zu, so auch der Ukraine, deren Hauptstadt Kiev 1961 zur Heldenstadt befördert
wurde – wie zuvor Leningrad, Sevastopol, Volgograd, Stalingrad und Odessa. In
den folgenden Jahrzehnten bildete die Erinnerung an diese Selbstbehauptung eine
der Legitimationsquellen für die Fortexistenz der Sowjetunion. Während bei jeder
Gelegenheit der Opfer des siegreichen Abwehrkampfes gedacht werden musste,
wurden die Opfer des Stalinismus dem Vergessen anheim gegeben.
In breiten Bevölkerungskreisen riss der Strang einer russozentrischen bzw. imperial
betonten Erinnerungskultur niemals völlig ab: Viele Mitglieder der Allrussischen
34
Wolfgang Stephan Kissel
Gesellschaft zum Schutz der Geschichts- und Kulturdenkmäler, die 1965 gegründet
wurde und bis 1982 auf 15 Millionen Mitglieder anwuchs, pflegten ein nostalgisch
verklärendes Geschichtsbild. Im Laufe der achtziger Jahre entstanden am rechten
Rand der Gesellschaft weitere Splittergruppen, die meist unter dem Sammelbegriff
Pamjat’ (Gedächtnis, Erinnerung) zusammengefasst wurden, obwohl sie weder ein
einheitliches Programm noch eine politische Organisationsform zustande brachten
und schließlich in verschiedene selbständige Vereinigungen zerfielen. Im Laufe der
Zeit nahmen einzelne Pamjat’-Gruppen immer deutlicher nationalistische bzw. slavophile und antisemitische Züge an: ihre Mitglieder verklärten das alte Russland
unter den Zaren, die Oktoberrevolution war aus ihrer Sicht das Werk von Juden
und Freimaurern, eine fatale Geschichtsklitterung, die bis heute ihre Anhängerschaft hat.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion und unter dem Eindruck einer chronischen
Wirtschaftskrise ließ der Enthusiasmus von Bevölkerung und Medien für die öffentliche Trauerarbeit spürbar nach. In den folgenden Jahren wurde eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit den Gewaltexzessen des Stalinismus von der Regierung unter Boris El’cin nicht mehr gefördert, sondern allmählich ein Kurswechsel
in Richtung auf eine „patriotische Sicht“ der russischen Vergangenheit vorgenommen. Eine Reihe bedeutender Jahrestage bot in den neunziger Jahren Anlass zu
pompösen Gedenkfeierlichkeiten, mit denen sich die Sehnsucht nach dem untergegangenen Imperium nähren ließ. Zum 850. Jahrestag der Stadtgründung präsentierte sich Moskau 1997 als Bühne eines gewaltigen Historienspektakels. Bürgermeister Jurij Lužkov, der sich selbst als einen unideologischen Pragmatiker darstellte,
nutzte jede Gelegenheit, der Stadt seinen Stempel aufzudrücken und ihr eine möglichst patriotisch korrekte Physiognomie zu geben. 6
Die Instrumentalisierung von Stadtgründungsjubiläen sollte sich 2003 bei der Dreihundertjahrfeier Sankt Petersburgs wiederholen. Die Feiern standen in der lokalregionalen und gesamtrussischen Presse im Zeichen des Stadtgründers Peter, in
dessen Nachfolge Herrschergestalten wie Katherina II. oder Alexander I. und mehr
oder weniger diskret der Präsident Vladimir Putin gewürdigt wurden. Die Feierlichkeiten verschafften Putin aber auch eine einzigartige Gelegenheit, vor der internationalen Öffentlichkeit die russische Außenpolitik als Friedenspolitik, Russland
als verlässlichen Partner der Vereinigten Staaten, als europäische Macht im ständigen Dialog mit einer erweiterten Europäischen Union zu präsentieren.
Bei diesen imperialen Schauspielen wie bei zahlreichen öffentlichen Auftritten führender Repräsentanten der Russischen Föderation fiel der Russischen Orthodoxen
Kirche die Rolle einer „Stifterin nationaler Identität“ zu. 7 Die Rekonstruktion der
1931 unter Stalin gesprengten Christi-Erlöserkathedrale (chram Christa Spasitelja)
gehört zu den finanziell aufwändigsten Unternehmungen, die das Moskauer Stadt-
Erinnerungskonflikte im postsowjetischen Raum
35
bild in postsowjetischer Zeit geprägt haben. Insgesamt hat die Russische Orthodoxe
Kirche (ROK) zweifellos an Einfluss und Gewicht gewonnen, manche Beobachter
sehen sie erneut auf dem Weg zur Staatskirche. Auch diese Entwicklung hatte sich
bereits in der Perestrojka-Zeit mit den Feierlichkeiten zur tausendjährigen Christianisierung der Rus‘ von 1988 angebahnt. 80 Jahre nach ihrer Ermordung wurden die
Gebeine der Zarenfamilie 1998 in einem feierlichen Staatsakt in der Peter-undPauls-Festung in Petersburg beigesetzt. 8 Zwei Jahre später sprach die zunächst zögerliche Kirche den letzten Zaren als Märtyrer heilig. 9 Damit trug die hohe Geistlichkeit dazu bei, den Bruch zwischen vor- und nachrevolutionärer Ära zu überdecken. 10
Der Generationenwechsel an der politischen Spitze von Boris El‘cin zu Vladimir
Putin hat diese Tendenzen staatlicher Erinnerungspolitik weiter verstärkt. Unter
Putin wurde der „patriotische Konsens“ mit allen Mitteln forciert und ein Geschichtsbild propagiert, in dessen Zentrum das „Vaterland“ (otečestvo), d.h. vor
allem die Erinnerung an die imperiale Größe Russlands, seine staatliche Einheit
und seine militärischen Leistungen steht. An die Stelle eines potentiellen Erinnerungskonsenses über den Stalinismus trat die gelenkte Vergangenheitspolitik der
„souveränen russischen Demokratie“, wie sie Vladislav Surkov, der neue Chefideologe Putins, unlängst definiert hat. Zu den Charakteristika dieses Demokratieverständnisses gehört auch das selektive Erinnern und Vergessen, das zur Stabilisierung von Herrschaft eingesetzt wird. So entsteht eine synkretistische, aus sowjetischen und vorrevolutionären Elementen zusammengesetzte Erinnerungskultur. In
diese Richtung wies z.B. schon Putins Gesetzentwurf über die Staatssymbolik, den
die Duma im Dezember 2000 billigte und der als Wappen den Doppeladler, als
Flagge die weiß-blau-rote Trikolore und als Hymne die wohlvertrauten, freilich mit
neuem Text ausgestatteten sowjetischen Klänge vorsieht. In den postsowjetischen
Festkalender wurde 2005 ein „Tag der nationalen Einheit” eingefügt, der jeweils
am 4. November die Befreiung des Moskauer Kreml von polnischen Eindringlingen im Jahr 1612 feiern und den alten Revolutionstag am 7. November ersetzen
soll. So künstlich der neue Festtag wirkt und so wenig Begeisterung er bisher auch
hervorruft, er liegt doch auf einer Linie mit dem „Vaterländischen Krieg“ gegen
Napoleon und dem „Großen Vaterländischen Krieg“ gegen Hitler: die Erinnerung
an Siege über Angreifer aller Art, seien es Polen, Franzosen oder Deutsche, islamistische Fundamentalisten oder tschetschenische Terroristen soll die Russen von
heute zusammenschweißen. 11
Der Aktionsradius und die Aufklärungsmöglichkeiten der Organisation Memorial
wurden hingegen in den letzten Jahren stark beschnitten. Mehr denn je beeinflussen
staatliche Institutionen den Geschichtsunterricht an russischen Schulen im patriotischen Sinn, Schulbücher werden umgeschrieben bzw. korrigiert. Diese Veränderungen der letzten Jahre haben eine zumindest ambivalente Einstellung zur Person
36
Wolfgang Stephan Kissel
Stalins und zu seiner Ära erneut akzeptabel werden lassen und damit eine Grauzone
geschaffen, in der einzelne Personen immer wieder Vorstöße in Richtung einer Rehabilitierung nicht etwa vergessener Opfer, sondern prominenter Täter unternehmen können. So haben Verwandte Lavrentij Berijas beim Obersten Gericht Russlands beantragt, der ehemalige NKWD-Chef möge postum als Terroropfer rehabilitiert werden, sein Sohn Sergo Berija legte eine Apologie vor, die den Vater zum
Vorläufer der Perestrojka verklärt. 12
In Zeiten eines neuen Selbstbewusstseins, das im Wesentlichen auf dem Öl- und
Gasboom der Wirtschaft beruht, entspricht der patriotische Geschichtskonsens den
Bedürfnissen nicht nur der herrschenden „Eliten“, sondern weiter Bevölkerungskreise. Aus der Sicht des Vizepremiers und Verteidigungsministers Sergej Ivanov
erscheint z.B. die Russländische Föderation heute „als ein Staat, der sich selbst genügt. Als Staat mit einer wachsenden Wirtschaft, der historisch sowohl in Europa
als auch in Asien liegt.“ 13 Diese Position einer tendenziellen russländischen Autarkie oder zumindest eines legitimen Sonderwegs inmitten globaler Interdependenzen
nimmt Elemente des Denkens der Eurasier auf, insbesondere die Zwischenlage
zwischen den beiden Kontinenten, und kombiniert sie mit der erhöhten Bedeutung
Russlands als Energielieferant. Aus der räumlich bestimmten Perspektive der „souveränen Demokratie“ sollen die Katastrophen und Zivilisationsbrüche der StalinZeit wie die bedrohlichen Defizite der Gegenwart in den Hintergrund treten, Russlands territoriale Ausdehnung, seine Zwischenstellung zwischen Asien und Europa,
sein Ressourcenreichtum, seine Verteidigungsbereitschaft gegen Invasoren und
nicht zuletzt die stolze Erinnerung an seine imperiale Vergangenheit hingegen die
Grundlagen zukünftiger Politik bilden.
Dies hat innen- und außenpolitische Konsequenzen, beide Male geht es um zivilisatorische Grenzen, die überschritten werden. Am Beispiel des Skandals und der juristischen Auseinandersetzungen um die Moskauer Ausstellung „Achtung, Religion!“, die sich im Januar 2003 kritisch mit dem Thema Religiosität in Gegenwartsgesellschaften auseinandersetzte, lässt sich zeigen, wie bedroht die Stellung unabhängiger, kritischer Künstler und Intellektueller im heutigen Russland ist. Die
Verwüstung der Ausstellungsräume durch sechs junge Männer wurde als Verteidigung der Russischen Orthodoxen Kirche gegen Blasphemie und Sittenlosigkeit entschuldigt, nicht die Zerstörer, sondern die Organisatoren und Künstler der Ausstellung wurden öffentlich angeklagt und nach einem mehrmonatigen Schauprozess
verurteilt. 14 Hingegen wurde eine lange Reihe von Morden an kritischen Journalisten – der spektakulärste Fall war sicherlich die Journalistin und kritische Tschetschenien-Berichterstatterin Anna Politkovskaja – nur schleppend und nicht hinreichend aufgeklärt, die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen. Im November 2009 verstarb in einem Gefängniskrankenhaus der Anwalt Sergej Magnickij, juristischer Vertreter des britischen Konzerns Hermitage Capital Management
Erinnerungskonflikte im postsowjetischen Raum
37
und Schlüsselfigur im Prozess, wahrscheinlich weil ihm rechtzeitige und ausreichende Hilfe versagt blieb. Hier manifestiert sich im Inneren des russländischen
politischen Systems eine zivilisatorische Grenze, die ein autoritäres Regime trennt
von Toleranzgebot, Minderheitenschutz, Respekt vor Menschen- bzw. Bürgerrechten, zu denen sich die EU bekennt. Unter dem Druck der wirtschaftlichen Krise, die
auch den Energieexporteur Russland schwer getroffen hat und weiterhin belastet,
zeigen sich in jüngster Zeit erste Symptome eines neuen Kurses, die aber noch mit
großer Vorsicht zu bewerten sind.
3.
Die Vergangenheitspolitik unter Putin und zumindest bisher auch unter Medvedev
mit ihrer Betonung des sowjetischen Sieges über den Faschismus und der Relativierung oder Verdrängung stalinistischer Gewaltverbrechen hat sich mehrfach negativ
auf das Verhältnis zu den baltischen Staaten oder zu Polen ausgewirkt. Der Drehund Angelpunkt dieser Konflikte im Westen der ehemaligen Sowjetunion ist offensichtlich eine unterschiedliche Deutung des Zweiten Weltkriegs: Aus sowjetischer
und russländischer Sicht begann der „Große Vaterländische Krieg“ am 22. Juni
1941 mit dem Überfall deutscher Truppen und endete in den frühen Morgenstunden
des 9. Mai 1945, als die Nachricht von der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands nach Moskauer Ortszeit eintraf. In der Russländischen Föderation wird dieser
9. Mai eines jeden Jahres nach wie vor als „Tag des Sieges“ gefeiert und als Brücke
in eine ruhmreiche militärische Vergangenheit wahrgenommen, die nach heutiger
Konzeption bis in das Moskauer Zartum zurückreicht und somit eine Klammer über
alle historischen Zäsuren hinweg bildet.
Schon seit dem Zerfall der Sowjetunion im Jahr 1991 treten die Bruchlinien zwischen den verschiedenartigen Erinnerungskulturen der Russländischen Föderation
und der übrigen Nachfolgestaaten immer deutlicher zu Tage. Die Entwicklung einer je eigenen Version nationaler Vergangenheit spielt eine Schlüsselrolle für das
politische und kulturelle Selbstverständnis von Litauen, Lettland und Estland, Belarus und der Ukraine, tendenziell auch der transkaukasischen und mittelasiatischen
Republiken. Die daraus resultierenden Differenzen führen immer wieder zu politischen Konflikten, so im Februar-April 2007 etwa zu einem bizarren Denkmalsstreit, der das Verhältnis zu Estland belastet. Am 19. Januar hat das estnische Parlament ein Gesetz verabschiedet, das den Weg für die eventuelle Beseitigung eines
Denkmals zu Ehren sowjetischer Soldaten im Zentrum der Hauptstadt Tallinn (Reval) freimachen sollte. Bürger Tallinns nahmen Anstoß an diesem Monument, das
sie an den Einmarsch sowjetischer Truppen im Jahr 1944 erinnerte. Russländische
Regierungsvertreter bis zum Präsidenten Putin äußerten hingegen scharfe Kritik am
Vorhaben einer eventuellen Denkmalsdemontage, sprachen von „Verhöhnung“ der
sowjetischen Soldaten, die Estland vom Faschismus befreit hätten, und drohten mit
Wirtschaftssanktionen. 15
38
Wolfgang Stephan Kissel
Litauer, Letten und Esten verbinden hingegen mit diesem Tag den Verlust ihrer
staatlichen Unabhängigkeit, auf den Jahrzehnte der politischen Repression und der
ökonomischen Ausbeutung folgten. Wie die Präsidentin Lettlands, Vaira VikeFreiberga, in einer Erklärung zum 60. Jahrestag 2005 verlauten ließ, ist der 9. Mai
für ihr Land kein Tag des Triumphes, sondern der Trauer oder zumindest des stillen
Gedenkens an zahllose Opfer, Menschen, die während der sowjetischen Okkupation erschossen oder verschleppt und im Gulag als Arbeitssklaven zu Tode geschunden wurden. Die lettische Präsidentin bezeichnete ausdrücklich den Hitler-StalinPakt, d.h. die Einigung der beiden totalitären Regime auf Kosten Polens und der
baltischen Staaten als Voraussetzung für den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges,
der für Lettland folglich mit dem Überfall der Sowjetunion am 15. Juni 1940 begann. Eine offizielle Anerkennung der Okkupation steht von russländischer Regierungsseite noch aus, was als schwere Hypothek auf den Beziehungen lastet. 16
Eine schwere Hypothek für die baltischen Staaten liegt im Zusammenstoß der Erinnerungen an zwei totalitäre Regime und ihre Gewaltexzesse. Die Erinnerung an
die Ermordung der europäischen Juden ist noch nicht dauerhaft und fest in die
postkommunistischen Gesellschaften integriert. 17 Besonders schwer zu verkraften
ist die Erkenntnis, dass viele Menschen in Polen, Litauen, Lettland, Belarus und der
Ukraine, aber auch in der Slowakei, Rumänien und Ungarn an nationalsozialistischen Verbrechen aktiv mitgewirkt oder sie zumindest beobachtet und passiv hingenommen haben. Diese belastende Einsicht wird zudem in einigen Ländern verdrängt oder überlagert von einer jüngeren Schicht eigener leidvoller Erfahrungen
unter dem kommunistischen Regime. So besteht in einigen Ländern eine starke
Spannung zwischen den Erinnerungen an die Verbrechen der beiden totalitären
Systeme Nationalsozialismus und Stalinismus. 18
Auch die belarussische Identität bleibt bis heute fragil und ungefestigt: Immer wieder tauchen Zweifel auf, ob Belarus wirklich als ein konsolidierter und von Moskau
unabhängiger Staat betrachtet werden kann. Lange Jahrhunderte lag das Land ohne
staatliche Souveränität in der Bruchzone zwischen Polen-Litauen und dem Zarenreich, später standen Kultur und Literatur im Schatten des „großrussischen“ Nachbarn, wurde die Sprache als eine Art von russischem Dialekt gering geschätzt. Die
gesamte Gesellschaft, besonders aber die politische Elite hat sich noch nicht von
der sowjetischen Prägung gelöst: So bleibt die Befreiung von der deutschen Okkupation und die Resowjetisierung z.B. bis heute die entscheidende historische Zäsur,
die den Begriff Unabhängigkeit auf besondere Weise färbt. Viel wird davon abhängen, ob man alte vorrussische Symbole und Traditionen wird neu beleben und zur
Basis einer belarussischen Identität machen können. 19
Erinnerungskonflikte im postsowjetischen Raum
39
Die Erinnerungskluft, die die Russländische Föderation von ihren baltischen Nachbarn trennt, spaltet die unabhängige Ukraine nach der „orangenen Revolution“ im
Inneren, wo sich Kommunisten und Nationalisten vielfach unversöhnlich gegenüberstehen. Für den westlichen Teil der heutigen Ukraine begann der Zweite Weltkrieg am 17. September 1939, als sowjetische Truppen in das damalige Ostpolen
einmarschierten und diese Territorien als „Westukraine“ in die Sowjetunion eingliederten. Kernpunkt des heutigen Streits ist die Bewertung der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung bzw. der 1942 gegründeten „Ukrainischen Aufständischen
Armee“ (UPA). Für die ukrainischen Nationalisten sind die UPA-Mitglieder Helden und Vorkämpfer eines unabhängigen Nationalstaats, ihren Veteranen gebührt
von diesem Standpunkt aus eine Gleichbehandlung mit den ehemaligen Rotarmisten, für die Kommunisten sind sie jedoch nur faschistische Kollaborateure, die
Zehntausende Polen in der Westukraine ermordeten. Die Gegner der UPA sehen
die Rotarmisten, die die Ukraine zurückeroberten, als Befreier, die Anhänger als
Besatzer. Abermals sind es Denkmäler, die diesen Streit symbolisieren: in Lemberg, im äußersten Westen des Landes, eines für die „Division Galizien“, im russophonen Doneck eines für die „Ritter der Pflicht“, d.h. sowjetische Geheimdienstoffiziere. 20
Im Artikel 11 der ukrainischen Verfassung hat sich der Staat verpflichtet, „das historische Bewusstsein, Traditionen und Kultur der ukrainischen Nation“ zu fördern.
Daher beschloss die ukrainische Regierung im Mai und Juli vergangenen Jahres,
ein „Zentrales Archiv des nationalen Gedenkens“ aufzubauen, das auch der Bürgerinformation, z.B. der Einsichtnahme in Geheimdienstakten dienen soll. Der Streit
um die Vergangenheit wird allseits auch als Streit über die zukünftige politische
Orientierung der Ukraine geführt, konkret über die Frage, wie das Land sich endgültig von jahrhundertelanger russischer bzw. sowjetischer Dominanz befreien und
Anschluss an Europa, etwa in Form eines EU-Beitritts gewinnen könne. 21 Offen ist
dabei, ob die Erinnerung an den „Holodomor“, die große Hungersnot der Jahre
1932/33 zu einem Kristallisationspunkt einer die gesamte ukrainische Nation umfassenden Erinnerungskultur werden kann. Denn die Deutungen der historisch unbestreitbaren Geschehnisse, die sechs bis sieben Millionen Menschen das Leben
kosteten, schwankt zwischen systematischem, ethnisch motiviertem Genozid an
Ukrainern und einem Soziozid bzw. Politizid an unbotmäßigen Bauern, die sich der
erzwungenen Kollektivierung widersetzten. 22
4.
Die Tendenz zu Friktionen zwischen der Russländischen Föderation und den ehemaligen Sowjetrepubliken und zum verstärkten Druck hat dazu beigetragen, dass
einem östlichen EU-Mitgliedsstaat wie Polen auf Grund seiner Geschichte und
geostrategischen Lage eine neue Mittlerrolle zufällt. Polen besitzt eine der reichsten
und komplexesten Erinnerungskulturen Ostmitteleuropas. 23 Viele der heute noch
40
Wolfgang Stephan Kissel
gültigen Gedächtnisorte, Symbole und Feierlichkeiten gehen dabei auf die Zeit
nach dem zweiten gescheiterten Aufstand, dem sog. Januar-Aufstand von 1863 zurück, also auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die dritte Teilung von 1795
bedeutete den Verlust der staatlichen Souveränität für nahezu 150 Jahre, die Erinnerung an die verlorene Einheit musste gegen zentrifugale Tendenzen bzw. Tendenzen zur Assimilation an die dominierenden Kulturen Deutschlands, Russlands
oder Österreich-Ungarns über diesen gesamten Zeitraum aufrecht erhalten werden.
An die Stelle eines unabhängigen Nationalstaats trat dabei die polnische Kulturnation, die sich besonders in Sprache und Literatur manifestierte. Dabei spielten die
Erinnerungen an die Epoche der Rzeczpospolita eine Schlüsselrolle. Erinnerungsfeiern wie der 200jährige Jahrestag des Sieges über die Türken bei Wien im Jahr
1883 bekräftigten den Anspruch, auch unter fremder Herrschaft weiterhin in der
Kontinuität polnischer Geschichte zu leben. 24 Zentral wurde in dieser Zeit die Figur
des romantischen Exildichters und Propheten („wieszcz“) Adam Mickiewicz, der in
seinen „Büchern des polnischen Volkes und der polnischen Pilgerschaft“ / [„Księgi
narodu polskiego i pielgrzymstwa polskiego“] von 1832 Polen eine eigene christliche „zivilisatorische Mission“ zuschrieb und damit den polnischen Messianismus
begründete. 25 Die Überführung seiner Gebeine im Jahr 1890 nach Krakau auf den
Wawel, die alte Königsburg, wo sie heute noch ruhen, stellte eine Verbindung zwischen dem alten dynastischen Gedächtnisort, der Königsburg und Grablege, der
polnischen Romantik und der Hoffnung auf ein zukünftiges unabhängiges Polen
her. 26 So stifteten öffentliche Rituale des Gedenkens einen engen kultursymbolischen Zusammenhang auch während der Dreiteilung des Landes, ein Zusammenhang, der über das Ende der Zweiten Republik bis heute in der Dritten Republik
fortwirkt.
Nach dem Ersten Weltkrieg erlebte Polen 1918 seine Wiedergeburt als souveräner
Staat, der in Abgrenzung von der Rzeczpospolita als „Zweite Republik“ bezeichnet
wird. Dieser Staat sah sich jedoch schon bei seiner Wiederbegründung als Objekt
einer Reihe folgenschwerer politischer Inklusionen und Exklusionen, die wiederum
aufs engste mit der Neuordnung des sowjetischen Territoriums zusammenhingen
und Polen nach zwei Jahrzehnten zum Verhängnis werden sollten. Die Zweite Republik bezog einerseits ihre Legitimation aus der Zugehörigkeit zum Cordon sanitaire, einem Grenzraum von neugebildeten oder wiedererstandenen, häufig unter
erheblichen inneren Spannungen leidenden ostmitteleuropäischen und südosteuropäischen Staaten, die nach dem Willen der Siegermächte des Ersten Weltkriegs die
Westgrenze der kommunistischen Sowjetunion gegen Zentraleuropa abschotteten,
aber bereits in den dreißiger Jahren zwischen zwei totalitäre Regime, das nationalsozialistische Deutschland und das stalinistische Russland geraten sollten. Andererseits belasteten die Folgen der Teilungsgeschichte, aber auch die (gewaltsame) Inkorporation von allochthonen Teilpopulationen (Ukrainer, Ruthenen, Juden) von
Anfang an die Stabilität dieser zweiten polnischen Republik. Schon der unter dem
Erinnerungskonflikte im postsowjetischen Raum
41
General Piłsudski 1920 erfolgte Versuch, die altpolnischen Ostgebiete (Kresy) zurückzuerobern, führte zum Zusammenprall mit der Roten Armee, die beim Gegenschlag ihre militärische Überlegenheit ausspielte, vor die Tore Warschaus gelangte
und für kurze Zeit noch einmal die Existenz des polnischen Staates gefährdete. Auf
mittlere und längere Frist beschwor dieser Feldzug aber auch Konflikte mit den
belarussischen, litauischen und ukrainischen Unabhängigkeitsbewegungen herauf,
so daß die Verletzlichkeit und Instabilität der östlichen Grenzen Polens offen zu
Tage trat.
Für Polen bedeutete der Überfall durch das nationalsozialistische Deutschland am
1. September und durch die stalinistische Sowjetunion am 17. September 1939 eine
weitere Teilungserfahrung und die Auslöschung als selbständiger Staat, wenn auch
nur für einige Jahre. Die östlichen (litauischen, belarussischen, ukrainischen) Territorien wurden von der Sowjetunion okkupiert und dem eigenen Staatsgebiet inkorporiert, die westlichen vom Deutschen Reich annektiert bzw. dem Generalgouvernement zugeschlagen, das ebenfalls unter deutscher Herrschaft stand. Doch blieb es
nicht bei dieser Wiederholung der Teilungen des 18. Jahrhunderts, vielmehr ging
mit diesem Krieg ein in der Neuzeit einzigartiges Projekt der Versklavung eines
ganzen Volkes einher, denn die nationalsozialistische Okkupationspolitik zielte auf
die Auslöschung Polens als Kulturnation. Um die polnische Nation angesichts des
konzentrierten Vernichtungswillens zu verteidigen, bedurfte es einer Mobilisierung
aller Kräfte, auch und gerade der Kräfte der neuen polnischen Emigration, die mit
dem Ausbruch des Krieges bald wieder den Umfang und die Bedeutung der großen
Emigrationswellen des 19. Jahrhunderts erreichte. 27
Nur knapp zwei Jahre hielt der Nichtangriffspakt zwischen Deutschem Reich und
Sowjetunion, dann befahl Hitler im Juni 1941 den Überfall auf die Sowjetunion,
der zunächst auch die polnischen Ostgebiete, das Baltikum und weite Teile der Ukraine unter die Herrschaft der Nationalsozialisten brachte. Die Gewaltexzesse gegen Zivilisten an der Ostfront eskalierten häufig gerade in Ortschaften, die kurz
zuvor von sowjetischen Einheiten überstürzt und unter Massakern gegen die lokale
Bevölkerung geräumt worden waren und die nun deutsche Spezialeinheiten oder
auch Wehrmachtssoldaten von jüdischen und kommunistischen Elementen zu
„säubern“ hatten. Mit diesen Aktionen gewann jene Ausgrenzungszone ihre endgültigen Konturen, die bereits vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in den
antisemitischen Vernichtungsphantasmen der nationalsozialistischen Rassenideologie antizipiert und in den systematisch gesteigerten Verfolgungen der Juden im
Deutschen Reich vorbereitet worden war: die Zone von Konzentrations- bzw. Vernichtungslagern, in der sich der industriell organisierte Massenmord vor allem der
jüdischen Bevölkerung Europas im wesentlichen abspielte.
42
Wolfgang Stephan Kissel
Im Zweiten Weltkrieg trafen die beiden Totalitarismen hier erstmals direkt aufeinander und Jahrzehnte später gingen von hier die epochale Erschütterung und der
Zusammenbruch des sowjetischen Machtblocks aus. Polen lag in einer zivilisatorischen Bruchzone, in der Gewalt tendenziell enttabuisiert war. Bei den Erklärungshypothesen, die bis heute für diese Geschehnisse vorgebracht worden sind, hat man
die Fernwirkung von Ausgrenzungsverfahren und zivilisatorischen Exklusionsdiskursen, die bis auf die Einrichtung des „Ansiedlungsrayons“ zurückgeführt werden können, wahrscheinlich noch nicht ausreichend berücksichtigt. Eine Bruchzone, in der Gewalt tendenziell enttabuisiert war, bestand zumindest als Vorstellung
und in Form von Diskursen lange vor dem Beginn der massiven Zivilisationsbrüche, die den ostmittel- (und südost)europäischen Raum im 20. Jahrhundert prägen
sollten. besonders die polnischen Territorien des russischen Reiches lagen auf der
“mental map”, die seit dem späten 18. Jahrhundert die Raumvorstellungen der sich
zivilisiert wähnenden Mittel- und Westeuropäer (und auch der Russen) dominierte,
außerhalb der europäischen Zivilisation. Diese topologische Exklusion, die auf dem
„Ansiedlungsrayon“ bis ins 20. Jahrhundert als schwere Hypothek lastete, erleichterte wahrscheinlich die präzedenzlosen Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs. Die Exklusionslogiken zweier totalitärer Systeme, des Nationalsozialismus
und des Stalinismus, prallten in dieser alten Bruchzone enttabuisierter Gewalt aufeinander und trugen beide auf fatale Weise zu einer Dezivilisierungsspirale bei.
Wohl keine polnische Stadt hat alle Stadien der nationalsozialistischen Aggression
und Fremdherrschaft von der Bombardierung, Belagerung und Besetzung, über die
blutig niedergeschlagenen Aufstände des jüdischen Ghettos von April bis Mai 1943
und der Heimatarmee von August bis Oktober 1944 bis hin zur weitgehenden Zerstörung des urbanen Raums durch die nationalsozialistischen Strafaktionen derartig
exemplarisch durchleiden müssen wie Warschau, dessen Altstadt Stein um Stein
wiederaufgebaut und in der polnischen Literatur der Nachkriegszeit aus naheliegenden Gründen zum Symbol der existentiellen Bedrohung und der Wiederauferstehung des Staates bzw. der polnischen Nation wurde. Die Okkupation Polens
durch Deutschland und die Sowjetunion schlug sich in den folgenden Jahren nieder
in der Zweiteilung der polnischen Lagerliteratur in Autoren und Werke der literatura lagrowa, die Erfahrungen in sowjetischen Arbeitslagern, und in Autoren und
Werke der literatura obozowa, die Erfahrungen in nationalsozialistischen Vernichtungslagern beschreiben (vgl. z.B. Sariusz-Skąpska 1995). Diese zwiefache literarische Gattung setzte sofort mit dem Wiederbeginn des kulturellen Lebens ein und
erforschte programmatisch jene „andere Welt“, die wie ein Gegenentwurf zum
Fortschrittsoptimismus der Aufklärung erschien – Inny świat lautete der Titel des
Werks von G. Herling-Grudziński aus dem Jahr 1951.
Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Polen durch die Rote Armee von deutscher Diktatur und deutschem Terror befreit – allerdings um den Preis einer einge-
Erinnerungskonflikte im postsowjetischen Raum
43
schränkten Souveränität: Das Land, das fast von den nationalsozialistischen und
stalinistischen Exklusionslogiken zerrieben worden wäre, wurde nun von einem
unwiderstehlichen Zwang zur Inklusion erfasst und in den Jahren von 1945 bis
1948 sukzessive in den sowjetischen Machtbereich eingegliedert, schließlich mußte
es sich einer neuerlichen Diktatur beugen, einer polnischen kommunistischen Regierung von Stalins Gnaden. Zudem musste es neben den ungeheuren Verlusten an
Menschen und materiellen Werten auch eine Westverschiebung und daraus folgende Migrationen verkraften, die auf der Konferenz von Jalta ohne Beteiligung einer
polnischen Regierung beschlossen worden war. Da diese Grenze lange Zeit jedoch
nicht durch einen Friedensvertrag gestützt wurde, galt sie als bedroht und fesselte
Polen an die Schutzmacht Sowjetunion.
Das dominante Muster der Inklusion in den Ostblock wurde im Falle Polens von
Anfang an durch eine Art von subversiver Exklusion unterlaufen: Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung lehnte die Idee einer kulturellen Konversion zum
Kommunismus als Vaterlandsverrat schon während des Krieges heftig ab, was den
Spielraum der regierenden polnischen Arbeiterpartei erheblich einschränkte. Auch
unter dem von Stalin installierten Regime galten hingegen Patriotismus und Katholizismus, d.h. der alte Wertekanon, der sich während der Teilungsperiode gebildet
hatte, als Fundamente Polens. So entwickelte sich das kommunistische Polen zum
unruhigsten Mitglied der sozialistischen Zwangsgemeinschaft und trug mit einer
Serie von Unruhen erheblich zu deren Dauerkrise und schließlich zur Erosion der
sowjetischen Vorherrschaft bei.
Die Regierungen der „dritten polnischen Republik“ setzten in den neunziger Jahren
alles daran, das Muster einer einschließenden Ausgrenzung durch Russland bzw.
die Sowjetunion zu durchbrechen, indem sie die Inklusion Polens in die westlichtransatlantische Verteidigungsallianz der Nato und den Wirtschaftsraum der EU
vorantrieben. Auf diese Weise gelang es Polen, seine Grenzen zum Westen hin zu
stabilisieren und zu sichern, die Russländische Föderation aber verfügt nicht mehr
über das militärische und politische Potential, um nennenswerten Druck auf den
einstigen Satelliten ausüben zu können. So wurden gegen Ende des 20. und am Anfang des 21. Jahrhunderts die politischen Kategorien von Zugehörigkeit und Ausschluss in diesem Teil des östlichen Europa neu definiert. Die neuen Inklusionen
haben Polen aus der Umklammerung der negativen Polenpolitik gelöst und der
600jährigen polnisch-russischen Beziehungsgeschichte eine völlig andere Wendung gegeben.
Dies hat Polen weiteren Spielraum verschafft und es zu einer Art von Laboratorium
des neuen Gedächtnisraums. Ein Teil der polnischen Öffentlichkeit wendet sich
sogar vom traditionellen polnischen Patriotismus ab, gibt die Opferrolle auf, die
Vertreter der kulturellen Eliten seit den Teilungen des 18. Jahrhunderts angenom-
44
Wolfgang Stephan Kissel
men haben, und akzeptiert auch schuldhafte Verstrickung auf polnischer Seite. So
wurden in den Debatten um die Bücher Nachbarn und Angst von Jan Tomasz
Gross, einem in den USA lehrenden polnischen Historiker, Ansätze einer Neubewertung des polnischen Antisemitismus erkennbar. 28 Auch die polnische Vergangenheitspolitik und Außenpolitik beginnt sich unter dem neuen Ministerpräsidenten
Donald Tusk deutlich zu wandeln. Nach der Konsolidierung des Verhältnisses zwischen Polen und Deutschland strebt die polnische Außenpolitik etwa unter dem
jetzigen Außenminister Sikorski eine Mittlerrolle Polens zwischen Ost- und Zentraleuropa an, konkret zwischen Belarus, der Ukraine, der Russländischen Föderation und Deutschland.
5.
Während sich im Westen allmählich eine Revision der Gedächtnisdiskurse in Richtung einer stärkeren Differenzierung anbahnte, zerfiel im Osten das sowjetische
Imperium. Das Ende der globalen Spaltung im Wendejahr 1989 veränderte die Gedächtnislandschaft Europas tiefgreifend. Die Verschiedenartigkeit der Gedächtniskulturen war lange Zeit durch die politisch-ideologische Spaltung des Kontinents
überdeckt. In den Mitgliedsstaaten der EU hat sich die Erinnerung an die Gewaltgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, insbesondere die radikale Aufklärung über die Ermordung der europäischen Juden und die Verstrickungen verschiedener Mitgliedstaaten in diesen Gewaltexzess als Kern eines ethischen Kodex
herauskristallisiert. Nur knapp zwei Jahrzehnte, nachdem sich dieser Kodex etabliert hat, verlangen die neuen östlichen Mitglieder wie die baltischen Staaten, Polen
oder die Tschechische Republik, die Erinnerung an ihre Gewaltgeschichte stärker
zu berücksichtigen. Diese Gewaltgeschichte wurde aber vor allem durch das stalinistische Terror- und Unterdrückungssystem und die Zwangsarbeitslager des Gulag
geprägt. Ehemalige Sowjetrepubliken wie die baltischen Staaten beharren als Mitglieder der Europäischen Union auf ihrer eigenen, deutlich vom bisherigen EUKonsens abweichenden Version der jüngeren Vergangenheit. Wahrscheinlich werden die unterschiedlichen nationalen Narrative noch geraume Zeit nebeneinander
bestehen bleiben, doch die Erinnerungen an den Holocaust und an den Gulag geraten bereits jetzt in ein Spannungsverhältnis, aus dem neue transnationale Erklärungs- und Deutungsansätze hervorgehen könnten.
Daher ist es eine offene Frage, ob der Holocaust sich wirklich auf Dauer und in
ganz Europa als transnationaler Gedächtnisort durchsetzen wird. 29 Ein allumfassendes und allgegenwärtiges Erinnern könnte zudem als unerträgliche Last empfunden werden, partielles Vergessen, in allen menschlichen Gesellschaften Voraussetzung des Weiterlebens, wird seine Auswirkungen zeigen. Die zahlreichen Versuche, dieses Gedächtnis von staatlicher Seite aus zu steuern, z.B. durch Gesetze
oder symbolische Geschichtspolitik, mögen von besten Absichten zeugen, bergen
aber die Gefahr der Erstarrung und leeren Ritualisierung. 30
Erinnerungskonflikte im postsowjetischen Raum
45
An den östlichen Grenzen der europäischen Gemeinschaft haben sich seit der Erweiterung von 2004 eine Reihe von Erinnerungskonflikten zwischen den neuen
Mitgliedern und ehemaligen Sowjetrepubliken und der Russländischen Föderation
abgespielt. Sie alle hatten und haben das Potential, die Außenpolitik dieser Staaten
und damit der Europäischen Union zu beeinflussen, sie stellen also eine qualitativ
neue Form von Wechselwirkung zwischen Erinnerungskultur und Außenpolitik
dar. Sie zwingen dazu, die laufende Debatte über die Grenzen der Union im Osten
um Aspekte der Erinnerungskulturen, ihrer Diversität und Dynamik zu erweitern.
Nicht zuletzt unter Einwirkung dieser Erinnerungskulturen und ihrer Konflikte
wandelt sich der Charakter der Nationalstaatsgrenzen zwischen den neuen Mitgliedsstaaten der EU, ihren unmittelbaren Nachbarn und der Russländischen Föderation, sie werden mehr und mehr zu einer “frontier”, zu einem Raum, in dem sich
verschiedene Zivilisationskonzepte begegnen und aufeinander einwirken.
1
Zum neueren Forschungsstand und zur Erörterung zahlreicher Einzelfälle vgl. Inklusion, Exklusion, Illusion. Konturen Europas: Die EU und ihre Nachbarn, in. Osteuropa; 57. Jahrgang/Heft 2-3,
Februar-März 2007. Zu den kulturhistorischen Rahmenbedingungen des russisch-polnischen Sonderfalls von Exklusion und Inklusion vgl. auch Wolfgang Stephan Kissel, Franziska ThunHohenstein (Hg.), Exklusion. Chronotopoi der Ausgrenzung in der russischen und polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts, München 2006 (Die Welt der Slawen, Sammelbände, Band 26).
2
Eine vierstufige Gliederung der ost- und ostmitteleuropäischen Erinnerungskulturen schlägt vor
Stefan Troebst, Kulturstudien Ostmitteleuropas, Peter Lang 2006, S. 65 ff.: „Postkommunistische
Erinnerungskulturen im östlichen Europa, Bestandsaufnahme, Kategorisierung, Periodisierung“.
Er unterscheidet Gesellschaften mit einem „Grundkonsens“ über die Ablehnung der Diktatur wie
die baltischen Staaten, solche mit heftigen politischen Kontroversen wie Ungarn oder Polen, solche mit vorherrschender Apathie und Neigung zum Kompromiss mit der Vergangenheit wie Bulgarien und Rumänien und schließlich solche, in denen kein eindeutiger Bruch zur kommunistischen Herrschaftspraxis vollzogen wurde, wie die Russländische Föderation.
3
Für eine erste Bilanz vgl. Kathleen E. Smith, Mythmaking in the New Russia. Politics and Memory during the Yeltsin Era, Ithaca and London 2002.
4
Zur Geschichte der Organisation liegen heute zwei Monographien vor: Nanci Adler, Victims of
Soviet Terror. The Story of the Memorial Movement, Westport/Connecticut-London und Kathleen
E. Smith, Remembering Stalin’s Victims. Popular Memory and the End of the USSR, Ithaca and
London 1996.
5
Zu den Erinnerungsdiskursen um den „Großen Vaterländischen Krieg“ vgl. die neuere Studie
von Andreas Langenohl, Erinnerung und Modernisierung. Die öffentliche Rekonstruktion politischer Kollektivität am Beispiel des Neuen Rußland, Göttingen 2000.
6
K. Smith, Mythmaking, S. 106 ff.
7
Kathrin Behrens, Die Russische Orthodoxe Kirche: Segen für die „neuen Zaren“? Religion und
Politik im postsowjetischen Rußland, Paderborn, Wien, München, Zürich 2002, S. 369.
8
Christiane Hoffmann, Die Russen werden Tränen vergießen. Bestattung der Zarengebeine in St.
Petersburg, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. März 1998, S. 11.
9
Viktor Kriwulin, Die Heiligsprechung von Zar Nikolaus II. Märtyrer, Blutzeuge oder doch Glaubenskämpfer: Die Russisch-Orthodoxe Kirche braucht den toten Zaren, um sich gegen den Staat
durchzusetzen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. September 2000, S. 53.
10
Georg Seide, Die Russische Orthodoxe Kirche in der Gegenwart und im interkonfessionellen
Dialog, in: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte, 2001, Heft 2, S. 303-326, hier
S. 315/16.
46
11
Wolfgang Stephan Kissel
Vgl. z.B. Isabelle de Keghel, Die Staatssymbolik des neuen Russland. Traditionen, Integrationsstrategien, Identitätsdiskurse, Münster 2008.
12
Sergo Berija, Moj otec – Lavrentij Berija, Moskva 1994 liegt mittlerweile auch in englischer
Übersetzung vor: Sergo Beria, Beria, My Father inside Stalin’s Kremlin, London 2001.
13
Der Spiegel 48 / 2006, S. 136.
14
Vgl. etwa Michail Ryklin, Mit dem Recht des Stärkeren, russische Kultur in Zeiten der gelenkten Demokratie, Frankfurt am Main 2006.
15
Vgl. Karsten Brüggemann, Denkmäler des Grolls. Estland und die Kriege des 20. Jahrhunderts,
in: Geschichtspolitik und Gegenerinnerung. Krieg, Gewalt und Trauma im Osten Europas, Osteuropa, 58. Jahrgang, Heft 6 / Juni 2008, S. 129-146.
16
Zu den vielfachen Diskontinuitäten und Brüchen im ostmitteleuropäischen Raum vgl. Timothy
Snyder, The Reconstruction of Nations. Poland, Ukraine, Lithuania, Belarus 1569-1999, New Haven & London 2003.
17
Vgl. Carmen Scheide, Erinnerungsbrüche. Baltische Erfahrungen und Europas Gedächtnis, in:
Geschichtspolitik und Gegenerinnerung. Krieg, Gewalt und Trauma im Osten Europas, Osteuropa,
58. Jahrgang / Heft 6 /Juni 2008, S. 117-128.
18
Vgl. dazu z.B. Alfonsas Eidintas, Jews, Lithuanians and the Holocaust, Vilnius 2003 sowie
Arūnas Bubnys, Der Zweite Weltkrieg im litauischen historischen Gedächtnis, in: Zdzisław
Krasnodębski, Stefan Garsztecki, Rüdiger Ritter (Hg.), Last der Geschichte? Kollektive Identität
und Geschichte in Ostmitteleuropa; Belarus, Polen, Litauen, Ukraine, Hamburg 2008, S.171-186.
19
Vgl. z.B. Zahar Šybeka, Aktuelle Geschichtspolitik in Belarus (1994-2004), in: Zdzisław
Krasnodębski, Stefan Garsztecki, Rüdiger Ritter (Hg.), Last der Geschichte? Kollektive Identität
und Geschichte in Ostmitteleuropa; Belarus, Polen, Litauen, Ukraine, Hamburg 2008, S. 381-393.
20
Kerstin S. Jobst, Geschichte der Ukraine, Stuttgart 2010.
21
Andreas Kappeler, Der schwierige Weg zur Nation. Beiträge zur neueren Geschichte der Ukraine, Wien-Köln-Weimar 2003.
22
Vgl. Osteuropa, Vernichtung durch Hunger. Der Holodomor in der UdSSR und Ukraine,
54. Jahrgang, Heft 12 / Dezember 2004.
23
Zum Versuch einer Übersicht vgl. z.B. Izabella Main, Political Rituals and Symbols in Poland,
1944–2002. A Research Report. Leipzig 2003.
24
Vgl. Patrice M. Dabrowski, Commemorations and the Shaping of Modern Poland, Bloomington
2004.
25
Vgl. Wolfgang Stephan Kissel, Die Anfänge einer Zivilisationskritik in Osteuropa: Čaadaev –
Mickiewicz – Puškin. In: Z. Krasnodębski / S.Garsztecki (Hg.), Sendung und Dichtung. Adam
Mickiewicz in Europa, Hamburg 2002, S. 59-82.
26
Vgl. Stanisław Rosiek, Zwłoki Mickiewicza. Próba nekrografii poety. Gdańsk 1997.
27
Vgl. Klaus Zernack, Polen und Russland. Zwei Wege in der europäischen Geschichte. Berlin
1994, S. 453-457.
28
Jan Tomasz Gross, Neighbours: the destruction of the Jewish community in Jedwabne, Poland,
Princeton 2001 (deutsche Übersetzung: Nachbarn: Der Mord an den Juden von Jedwabne, München 2001) und ders. Fear: anti-semitism in Poland after Auschwitz: an essay in historical interpretation, New York 2006.
29
Vgl. auch Sznaider, Natan, Gedächtnisraum Europa. Die Visionen des europäischen Kosmopolitismus. Eine jüdische Perspektive, Bielefeld 2008
30
Vgl. Dan Diner, Gedächtniszeiten. Über jüdische und andere Geschichten, München 2003.
Galina Michaleva
Vergangenheitsbewältigung als Voraussetzung für die Modernisierung
Russlands
Seit einiger Zeit häufen sich in der Russländischen Föderation öffentliche Debatten
über die Geschichte der Sowjetunion. In einem Fernsehwettbewerb schnitt Stalin
sogar als Sieger ab – zum Entsetzen der liberalen Öffentlichkeit. In einem heftig
umstrittenen Schulbuch, das von A. Fillipov herausgegeben wurde, wird behauptet,
dass für die Industrialisierung unter der Führung des „effektiven Managers“ Stalin
Opfer notwendig waren. Eine Welle von historischen und pseudohistorischen Filmen und Büchern überflutet den Markt.
1. Position der Staatsführung
Die russische Führung blieb nicht abseits und sandte nach bewährtem Muster, widersprüchliche „Signale“ aus. Dazu gehörte einerseits das vom Katastrophen- und
Zivilschutzminister Sergej Šojgu initiierte Gesetz, in dem die Nichtanerkennung
des Sieges im „Großen Vaterländischen Krieg“ als eine Straftat eingestuft wird.
Andererseits besuchten der Präsident und der Ministerpräsident Orte, an denen
Massenerschießungen unter Stalin stattgefunden haben, und legten Kränze nieder.
Auch die Gründung einer Kommission gegen die „Falsifizierung der Geschichte
zum Nachteil der Interessen Russlands“ beim Präsidenten der RF im Frühjahr 2009
hat eine große Diskussion ausgelöst, viele Historiker, Menschenrechtler und Politiker zeigten sich besorgt. Zu den Aufgaben der Kommission zählen: der Kampf gegen die Fälschung historischer Fakten und Ereignisse, die das„internationale Prestige des Landes“ schädigen, Empfehlungen für „adäquate Reaktionen“ auf Fälschungsversuche historischer Fakten und der „Ausgleich möglicher Folgen“. Zu
den Personen, die vom Präsidenten in die Kommission unter Leitung des höheren
Verwaltungsbeamten Sergej Naryškin berufen wurden, gehören Vertreter des Innenministeriums, des Geheimdienstes, des Generalstabs sowie einige wegen ihren
radikalen antiwestlichen und national-patriotischen Ansichten bekannte Politiker
wie Natalia Naročnizkaja und Konstantin Zatulin. Diese Zusammensetzung gibt
Hinweise darauf, von welchen Positionen die Fälschungsfälle behandelt werden.
Massive Kritik an der Gründung einer solchen Kommission kam aus den Reihen
von Geschichtswissenschaftlern, Menschenrechtlern und Politikern. Es sei kaum
vorstellbar, argumentieren sie, dass wissenschaftsferne Personen auf eine bürokratische Art und Weise die „Richtigkeit“ der Einschätzungen historischer Ereignisse
bestimmen. Dieses Vorgehen ähnelt der Situation in sowjetischer Zeit, als Geschichte von marxistisch-leninistischen Prämissen und aufgrund ideologischer
48
Galina Michaleva
Vorgaben gedeutet wurde. Der Anspruch auf ein Wahrheitsmonopol birgt bekanntlich große Gefahren. Die Suche nach Feinden, die diese von oben bestimmte
„Wahrheit“ bestreiten, dürfte ebenfalls unvermeidlich zu Befürchtungen in Ländern
führen, die zum ehemaligen sozialistischen Lager gehören.
Bewusst oder unbewusst gründet der Appell an die Vergangenheit in der Suche
nach einer nationalen Identität (der „nationalen Idee“, wie sie unter El’cin genannt
wurde 1 . Die postimperialistischen Ideen der neuen „Energiesupermacht“ brauchen
eine Legitimation, eine Bestätigung des Rechtes, die Nachbarländer zu kontrollieren bzw. zu beherrschen und wenigstens im postsowjetischen Raum zu dominieren.
Zusätzlich gibt es der Bevölkerung Gründe, Stolz auf ihr eigenes Land zu empfinden und schafft somit einen Ausgleich für die Minderwertigkeitskomplexe der
postsowjetischen Zeit. Dabei spielt es keine Rolle, dass es sich nach einer Formulierung des bekannten Soziologen Boris Dubin um ein falsches Déjà-vu handelt,
eine mythologische Konstruktion, die durch die Mediatisierung der Politik gestärkt
wird 2 . Diese Mediatisierung stellt historische oder aktuelle politische Ereignisse,
wie den Krieg mit Georgien z. B. einem Fußballspiel gleich.
2. Rolle der Vergangenheit und „Erinnerungskonflikte“ im Transformationsprozess
Es gibt unterschiedliche Arten des Umgangs mit der totalitären Vergangenheit in
den Ländern, die Transformationsprozesse erleben, aber sie können in folgenden
Kategorien zusammengefasst werden 3 :
– Die Ideen des vorherigen Systems waren nicht falsch, man hat sie nur falsch
verwirklicht.
– Forderung nach einem „Nullpunkt“, der alle Diskussionen über die Vergangenheit beendet, alle Täter sollen dabei amnestiert werden; dies soll um des Friedens
willen und wegen der höheren Bedeutung der Zukunft im Vergleich mit der
Vergangenheit geschehen.
Forderungen nach einer neuen Einschätzung der Vergangenheit kommen von
Gruppen, die unter dem alten Regime zur Opposition gehörten und noch vor dem
Wechsel den Verzicht auf die alten Traditionen und Institutionen forderten. Eine
der Forderungen ist in der Regel die Rehabilitierung der Opfer, die Bestrafung der
Täter und die Offenlegung der historischen Wahrheit. Dies soll in öffentlichkeitswirksamer Form geschehen.
Nach dem Zusammenbruch von alten Systemen ist oft die Rückkehr der Bürger in
ihr Privatleben und die fehlende Bereitschaft, politisch zu handeln, typisch, was
natürlich ein Hindernis für die Vergangenheitsbewältigung darstellt. Wenn Opfer
Vergangenheitsbewältigung als Voraussetzung für die Modernisierung Russlands
49
und Täter noch in einem öffentlichen und politischen Raum leben, färben Emotionen wie Hass, Schamgefühle oder Verdrängung ihren Umgang miteinander.
In den Ländern Osteuropas, die zur letzten Transformationswelle gehören, ist noch
keine Wahl in bezug auf die Vergangenheitsbewältigung getroffen worden. Die
Geschichte wird oft von der Führungselite instrumentalisiert, um aktuelle Entscheidungen und Äußerungen zu rechtfertigen, die von einer feindseligen Einstellung
gegenüber Nachbarländern oder Bevölkerungsgruppen zeugen. Abgesehen davon,
wie positiv oder negativ die Vergangenheit bewertet wird, schaffen diese Einschätzungen eine kollektive Identität und einen Glauben an eine Gemeinsamkeit 4 . Auf
dieser Basis entstehen Bereitschaft zu politischer Unterstützung und Loyalität. Das
historische Gedächtnis ist immer ein Konkurrenzfeld, es benutzt die wirkliche oder
imaginäre Vergangenheit als Material: es wählt Fakten aus, systematisiert sie und
baut aus ihnen das, was es als Genealogie der kollektiven Identität darstellen will.
Politiker versuchen eigene Positionen in bezug auf die Vergangenheit auszuarbeiten, dabei wird das historische Gedächtnis für Positionen im politischen Streit genutzt.
Im Laufe der letzten hundert Jahre hat der postsozialistische und insbesondere der
postsowjetische Raum eine Reihe von Kriegen und Diktaturen erlebt5 . Viele Völker haben ihre eigene Staatlichkeit verloren oder wiedergewonnen. Jedes Mal fühlten sich bestimmte ethnische Gruppen erniedrigt und beleidigt. Jedes Volk in diesem Raum hat ein eigenes historisches Gedächtnis, das sich von dem der Nachbarn
unterscheidet. In allen postsozialistischen Ländern sind eigene Visionen der Geschichte verbreitet, die eigenes Leiden als Ergebnis eines fremden „bösen“ Willen
deuten. Diktatur und Terror werden als gegen eine bestimmte Nation gerichtete
Handlungen interpretiert. Die Tatsache, dass kommunistische Regime von einigen
Gesellschaftsgruppen in diesen Ländern selbst unterstützt wurden, wird vergessen
oder verschwiegen. Die historischen Einschätzungen bekommen einen einseitigen
Charakter, so wird z. B. der Begriff „Genozid“ immer häufiger verwendet.
Aber Russland, das stets beschuldigt wird, hat selbst einen schrecklichen Weg mit
Massenrepressionen, Liquidierung von Kulaken und Massendeportationen hinter
sich. Sogar das positive Ereignis des Sieges im „Großen Vaterländischen Krieg“
kann man ohne Molotov–Ribentropp-Pakt und GULAG als Wirtschaftsbasis oder
Erschießungkommandos im Rücken der Soldaten während der Offensiven nicht
denken. Der Sieg wie auch der Terror gehören gleichermaßen zur Stalinzeit. Diese
beiden Bilder der Vergangenheit miteinander zu verbinden ist für viele unmöglich.
Daher trat die Erinnerung an den Terror in den Hintergrund. Sie ist nicht völlig verschwunden, spielt aber im kollektiven Bewusstsein eine marginale Rolle. Arsenij
Roginskij nennt dieses Phänomen „fragmentierte Vergangenheit“. „Es ist unter den
gegebenen Umständen erstaunlich, dass sie (die Erinnerung an die Stalinzeit –
50
Galina Michaleva
G.M.) überhaupt überlebt hat und nicht zum Tabu der Nation wurde, dass sie weiter
existiert und sich entwickelt“ , bemerkt er treffend 6 .
Die Geschichte der zerfallenen Sowjetunion ist für die Bürger Russlands ihre eigene Geschichte. Für die Nachbarstaaten ist sie zum Objekt der Kritik geworden, wobei das heutige Russland mit der UdSSR unter Stalin identifiziert und zum einzigen
Verantwortlichen für die nationalen Tragödien abgestempelt wird.
Anstatt die Geschichte des 20. Jahrhunderts neu zu bewerten, wird in Russland zur
Zeit ein Großmachtmythos wiederbelebt, in dem die „vaterländische Geschichte“
als eine Abfolge ruhmreicher Heldentaten dargestellt wird. In diesem Mythos gibt
es keinen Platz für Schuld, Verantwortung oder bewusste Einschätzung von tragischen Ereignissen. Viele russische Bürger sind weder in der Lage die Verantwortung der Sowjetunion vor den Nachbarvölkern noch die tragische Geschichte des
eigenen Landes angemessen zu bewerten.
Ereignisse der jüngeren Vergangenheit wie z. B. der Denkmalstreit in Estland haben deutliche Verantwortungsdefizite sowohl bei den estnischen als auch bei den
russischen Politikern gezeigt. In der Ukraine werden Denkmäler und Ausstellungen, die dem „Golodomor“ gewidmet sind, eröffnet. Es wird aber nirgendwo erwähnt, dass der Hunger zu den Folgen der Kollektivierung gehörte und nicht nur
die Ukraine, sondern auch Zentralrussland und das Wolgagebiet getroffen hat. Andererseits weigert sich Russland, die Erschießung von polnischen Offizieren in
Katyń einzugestehen. Dies alles zeigt, welche Folgen die Divergenzen in den nationalen Bildern der Vergangenheit haben und wie daraus Erinnerungskonflikte mit
politischen Folgen werden können.
3. Stalinismus damals und heute
Die Besonderheit der sowjetischen Entwicklung unter Stalin ist, dass der Große
Terror für die nachfolgende Entwicklung des Landes prägend war. Die Sicherheitsorgane gewährleisteten in einem großen Maßstab Terror gegen ihre eigenen Bürger.
Die Kommunistische Partei begründete ideologisch dieses Vorgehen. Zu den wichtigsten Besonderheiten der Existenz des politischen und ökonomischen Systems
und der Gesellschaft die durch den Terror geprägt waren, gehören:
– Der überdimensionale Maßstab der Repressionen, die alle sozialen Gruppen und
Regionen betrafen, von den Mitgliedern des Zentralkomitees der Partei bis hin
zu einfachen Bauern. Im Laufe von 1937-38 wurden über 1,7 Millionen Menschen politisch motiviert verhaftet. Zusammen mit den sog. „sozial Fremden“
übersteigt die Zahl der Verhaftungen sogar zwei Millionen.
– Die unglaubliche Brutalität der Urteile. In dieser Zeit wurden über 700.000
Menschen hingerichtet.
Vergangenheitsbewältigung als Voraussetzung für die Modernisierung Russlands
51
– Der planmäßige Verlauf. In den geheimen Befehlen des NKWD wurden die
Gruppen und die Zahlen von Personen bestimmt, die den „Säuberungen“ zum
Opfer fallen sollten. In jeder Region gab es Erschießungspläne, die mit der Moskauer Führung abgestimmt waren.
– Die Logik der Verhaftungen war für die Bevölkerung undurchschaubar. Die
Wahl der Opfer kam den Bürgern wie eine große Lotterie vor, was bei Millionen
Menschen Angst verursachte.
– Gefälschte Beschuldigungen in großem Maßstab. Die Wahrscheinlichkeit der
Verhaftung war mit den NKWD-Plänen oder mit der Zugehörigkeit zu bereits
Inhaftierten verbunden, und die eigentliche Beschuldigung war die Aufgabe der
Sicherheitsorgane. Hunderte und Aberhunderte wurden wegen „Spionage“,
„konterrevolutionärer Verschwörung“ oder „Vorbereitung von Terroranschlägen“ verurteilt.
– Das Vorgehen war der Inquisition ähnlich: fehlende Gerichtsprozedur, fehlende
Zeugen, Geschworene; die Rolle des Untersuchungsrichters, des Richters, des
Staatsanwaltes und des Henkers wurden in Personalunion vereinigt. Die Schuldanerkennung der Beschuldigten galt als Beweis. Das Foltern wurde ab 1937 sogar offiziell erlaubt und als Methode der Untersuchung empfohlen.
– Der Geheimcharakter der Prozesse, der Verurteilung und der Urteilsvollziehung.
Es wurden auch Fälschungen in den Listen der Erschossenen, falsche Informationen über die „Lager ohne Briefwechselrecht“ und falsche Bescheinigungen über Krankheit und Tod der schon längst Hingerichteten praktiziert.
– Gegenseitige Deckung und kollektive Verantwortung entstand auf Versammlungen, auf denen Staatsfeinde entlarvt wurden und Kinder sich von ihren Eltern,
Eheleute voneinander lossagten.
– Mitglied der Familie eines Inhaftierten zu sein war Grund genug, selbst verhaftet
zu werden, es gab sogar spezielle Lager für die Witwen von Hingerichteten.
– Der Wert eines Menschenlebens und der Freiheit wurden durch Romantisierung
der Gewalt, Kult der Geheimdiensteund Verschwendung von Menschen im Bewusstsein des Volkes entwertet ebenso wie Gerechtigkeit- und Rechtsvorstellungen.
– Während des Terrors wurde für die angeblich beste Verfassung der Welt, für die
Heldentaten des Sowjetvolkes usw. massive Propaganda betrieben. Das „Doppeldenken“ verwurzelte sich in dieser Zeit tief in der Gesellschaft.
Die Basis für die stalinistische Wirtschaft bildete die Sklavenarbeit von Gefangenen 7 .
Der stalinistische Staatsaufbau stellte ein totalitäres System dar. Die Freiheiten der
Bürger wurden gegen die sozialen Garantien von Seiten des Staates getauscht. Es
gab Möglichkeiten emporzukommen und die soziale Leiter aufzusteigen, wobei
52
Galina Michaleva
Verleumdung ein wirksames Mittel war und die Repressionen eine Voraussetzung
bildeten 8 .
Die nachfolgende Chruščev- und Brežnev-Ära haben diese Besonderheiten gemildert, Stalin wurde kritisiert, das System blieb aber in seinen Grundzügen unverändert. Nach der Wende der achtziger und neunziger Jahre kam es zu einer Reaktion,
die zur Wiederbelebung des Stalin-Mythos führte. Nach dem Zerfall der Großmacht, des Imperiums, entstand das postimperialistische Syndrom, die Erinnerungen an den Status einer Supermacht wurden immer lebendiger, andererseits vermisste man immer stärker die soziale Gerechtigkeit, die angeblich verloren ging.
Das ganze Leben im heutigen Russland ist von fortwirkenden Einflüssen des Stalinismus durchdrungen. Besonders deutlich wird dieses Phänomen bei folgenden
Erscheinungen:
– Das Gefühl der Minderwertigkeit des Individuums gegenüber der Macht.
– Die gelenkte Gerichtsbarkeit sowie die Rechtschutzorgane, die nicht nach dem
Gesetz, sondern auf Befehl von oben handeln.
– Pseudodemokratische Institutionen, da das Parlament, Wahlen, die kommunale
Selbstverwaltung und sogar die NGOs durch von oben organisierte und kontrollierte Dekorativorganisationen ersetzt werden. Die Freiheit, die Bürger- und die
Menschenrechte werden missachtet. Ständige Verletzungen der Verfassung werden von Treueschwüren, diese nicht anzutasten, begleitet 9 .
– Die Bürokratie, die jegliche unabhängige gesellschaftliche Tätigkeit ablehnt und
unter Kontrolle zu bringen sucht.
– Die Konzeption der „feindlichen Umgebung“ wird in der gegenwärtigen russischen Politik wiederbelebt, es wird nach den Feinden außerhalb und nach den
Verrätern innerhalb des Landes gesucht.
– Wachsender Nationalismus und Xenophobie, die von der Deportation ganzer
Völker und der antisemitischen „Kosmopolitismusbekämfung“ der späten StalinZeit herrühren.
– Die Angst anders zu sein, fehlende Gewohnheit, frei und unabhängig zu denken
und sich zu äußern. Zur anderen Seite des Doppeldenkens gehören ein uferloser
Zynismus und fehlende Moralprinzipien.
– Atomisierung und Isolation sind an die Stelle der Zwangskollektivierung getreten, den Menschen fehlt es an Solidarität. Die Bereitschaft, einander zu helfen,
ist in der Gesellschaft selten geworden 10 .
– Das Gefängnis- und Lagersystem sowie das Strafrecht in Russland sind ein direktes Erbe des GULAG. Über ein Million Menschen befindet sich jetzt im Gefängnis oder im Lager, 90% davon sind krank. 340.000 leiden an gefährlichen
Krankheiten wie AIDS oder Tuberkulose.
– In letzter Zeit verbreitet sich erneut die Angst vor Spionen. Den Menschenrechtlern wird vorgeworfen, dass sie von ausländischen Sicherheitsdiensten Geld be-
Vergangenheitsbewältigung als Voraussetzung für die Modernisierung Russlands
53
ziehen. Wissenschaftler, die mit offenen Quellen gearbeitet haben, sind wegen
Landesverrats verurteilt worden. In letzter Zeit wurden die sogenannten Spionagegesetze verschärft. Begriffe wie Staatsgeheimnisse oder Zusammenarbeit mit
ausländischen Organisationen werden jetzt so weit ausgelegt, dass im Prinzip jeder, der mit ausländischen Organisationen regelmäßig zu tun hat, verdächtig ist
und beschuldigt werden kann.
4. Umgang mit der Vergangenheit: Positionen und Akteure in Russland heute
Die Gesellschaft, die Ende der achtziger Jahre intensiv über den Stalinismus und
seine Folgen diskutierte, ist jetzt apathisch geworden und nicht bereit zurück zu
blicken, wenn es nicht um glorreiche Siege geht. Es gibt einflussreiche Kräfte, die
daran interessiert sind, dass solche Diskussionen über die Vergangenheit nicht stattfinden. Es sind nicht nur die Kommunisten, die die sowjetische Vergangenheit idealisieren und Stalin und Lenin verehren. Es gehören auch Vertreter der Sicherheitsdienste dazu sowie die Machthaber oder Mitarbeiter im Propagandaapparat, die
nach einer ideologischen Basis für die autoritäre Regierungsform suchen.
Aber auch für viele russische Bürger ist es leichter, sich durch Mythen beruhigen
zu lassen als sich mit ihrer eigenen tragischen Geschichte auseinanderzusetzen. Es
ist verständlich, weil eine ehrliche Einschätzung der Geschichte auch eine hohe
Bürde der Verantwortung für die jetzt lebenden Generationen bedeutet. Es ist aber
die notwendige Voraussetzung für eine nationale Konsolidierung und eine
neue Demokratisierungswelle.
Im russischen öffentlichen Diskurs 11 sind einige deutliche Positionen in bezug auf
die Geschichte zu beobachten, die von bestimmten kollektiven politischen und gesellschaftlichen Akteuren repräsentiert werden.
1.) Die Gesellschaft „Memorial“, eine Reihe von Menschenrechtsorganisationen,
Wissenschaftler und Kulturträger plädieren für maximale Offenheit, wissenschaftliche Diskussion und bewusste Gedächtnispolitik auf der Basis von offenen Archivdaten innerhalb Russlands sowie in den Nachbarländern.
2.) Eine relativistische Position wird eingenommen, wenn die Ereignisse so oder
anders gedeutet werden können und die ganze Geschichte als eine Kette von
möglichen Fälschungen interpretiert wird. Diskussionen über die Vergangenheit werden deswegen als Zeitverschwendung betrachtet. Stattdessen solle man
auf die Forderungen des 21. Jahrhunderts antworten 12 .
3.) Die offizielle Position will die Geschichte „bewahren“ und zugleich instrumentalisieren. Die oben erwähnte Kommission von Naryškin „soll den Schutz unserer Geschichte vor Fälschungsversuchen gewährleisten“ 13 . Šojgu meint, dass
in den Fällen von Fälschung Sanktionen gegen ausländische Bürger und sogar
gegen Staaten vorgenommen werden können.
54
Galina Michaleva
Bis jetzt gibt es nur eine politische Partei in Russland, die auf die Frage, wie mit
der totalitären Vergangenheit im neuen Russland umgegangen werden sollte, eine
angemessene Antwort gegeben hat. Es ist die liberal-soziale oppositionelle Partei
„Jabloko“, die am 28. Februar 2009 den Beschluss „Überwindung von Stalinismus
und Bolschewismus als Voraussetzung für die Modernisierung Russlands im
21. Jahrhundert“ gefasst hat. Bei der Ausarbeitung des Beschlusses haben maßgebend die Vertreter von Menschenrechtsorganisationen, Historiker, Philosophen und
Soziologen geholfen. 14 In dem Beschluss wird die Einschätzung der heutigen Situation in Russland und ihre Verbindung mit der fehlenden Bewertung und Bewältigung der totalitären sowjetischen Vergangenheit behandelt.
Dabei wird von einer zunehmenden Verschlechterung der Lage ausgegangen: Gewaltanwendung und politische Morde häufen sich, was die Verbreitung von Angst
und Schrecken in ganzen Regionen und sozialen Gruppen zur Folge hat. Die Liste
der Opfer von solchen Verbrechen wird immer länger, darunter sind prominente
Politiker, Journalisten, Anwälte – Dmitrij Cholodov, Anna Politkovskaja, Pol
Chlebnikov, Stanislav Markelov und viele andere. Alle haben die Führung des
Landes kritisiert. Keiner von diesen Fällen wurde bis jetzt aufgeklärt, kein Mörder
bestraft.
Dies sind keine zufälligen Erscheinungen. Der Zustand der Gesellschaft, die Art
und Weise, wie politische Entscheidungen getroffen werden sowie der Inhalt dieser
Entscheidungen selbst zeugen davon, dass die alten Methoden des Regierens wiederhergestellt werden. Dazu gehören die Nichtachtung der Rechte der Bürger, die
häufige Gewaltanwendung, die Verfolgung aus nationalen oder politischen Gründen. Die regierende Gruppe, die über ein Machtmonopol verfügt und keine Alternative duldet, zwingt der Gesellschaft den Großmachtkult und Chauvinismus auf. Offene Diskussionen über Gesellschaft und Politik werden unmöglich gemacht. Das
Fernsehen ist zu einem Propagandamittel und zum Manipulationsinstrument der
öffentlichen Meinung verkommen. Das Massenbewusstsein wird durch billige Medieneffekte banalisiert, gleichzeitig aber werden offen Stalinismus und Bolschewismus im Zusammenhang mit Xenophobie und Nationalismus propagiert. Das
Machmonopol wird gefestigt, Parlament und Gerichte werden auf den Rang von
Befehlsempfängern reduziert, der Rechtsstaat ist nicht mehr existent. Die Tätigkeit
von NGOs, darunter Menschenrechtsorganisationen hat wenig Einfluss auf Politik
und Gesellschaft.
Das alles ist Erbe unserer Vergangenheit, unser Regime hat sich zwar verändert,
wurde aber nicht grundsätzlich abgelöst. Das stalinistische System der Führung
wurde nie richtig verurteilt. Es wurde nie gesagt, das diese Art der Führung zur politischen, kulturellen und geistigen Verkommenheit führt und die Wirtschaft in eine
Sackgasse drängt. Außerdem hieße das Eingeständnis, dass Stalinismus und Bol-
Vergangenheitsbewältigung als Voraussetzung für die Modernisierung Russlands
55
schewismus kriminell und verfassungswidrig sind, für viele Vertreter der Bürokratie, die jetzt über die Machtpositionen verfügen, dass sie selbst als kriminell abgestempelt werden könnten. Die Überwindung von Stalinismus, die Vergangenheitsbewältigung wird eine prinzipielle Veränderung des Regimes und den Aufbau eines
Rechtstaates bedeuten.
Eine solche Überwindung muss genau so tiefgreifend realisiert werden, wie die
Denazifizierung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Partei Jabloko
hält folgende Schritte für wichtig:
1.) Es muss offiziell und öffentlich von Vertretern des Staates bekundet und bestätigt werden, dass die Bolschewiken und das folgende Regime von Stalin die
Macht gewaltsam an sich gerissen haben. Dieser rechtswidrige Akt muss eindeutig und klar rechtlich, politisch und moralisch verurteilt werden. Der Terror
dieser Periode sollte den Verbrechen gegen die Menschheit gleich gestellt werden.
2.) Es ist eine eindeutige Aussage notwendig, wessen Rechtsnachfolge die Russländische Föderation angetreten hat. Dies kann nur Russland vor dem Oktoberputsch 1917 sein. Weder Bolschewiken noch Stalin sind je in freien Wahlen
gewählt worden. Die Machtusurpation hat Russland vom Weg der zivilisierten
modernen Entwicklung abgeschnitten. Alle Errungenschaften der Sowjetperiode sind Verdienste des Volkes, das sich dem System widersetzt hat. Russland
sowie die anderen Nachfolgerstaaten der UdSSR können keine völkerrechtliche
und finanzielle Verantwortung für die Handlungen eines kriminellen Regimes
tragen. Russland wird aber mit den Verbrechen unter Stalin identifiziert, weil
bisher nicht alle Verbrechen inner- und außerhalb des Landes benannt und verurteilt wurden.
3.) Russland ist ein europäisches Land und die russische Kultur ist ein fester Bestandteil der europäischen Zivilisation.
4.) Es müssen Maßnahmen ergriffen werden, die die Wiederkehr des Prinzips
„Das Ziel heiligt die Mittel“ und der stalinistischen und leninistischen Methoden der Staatsführung verhindern können. Es soll ein Berufsverbot für Beamten
eingeführt werden, die Stalin loben und propagieren. Die Leugnung der Massenrepressionen und der Vernichtung von unschuldigen Menschen soll als
Straftat betrachtet werden. Die Nachfolgeorganisationen der Bolschewistischen
Partei/KPdSU und dem NKWD-KGB mit ihren Praktiken sollen kein Existenzrecht haben.
5.) Es soll ein breites Aufklärungsprogramm realisiert werden. Die Geschichte des
sowjetischen Terrors soll ein fester Bestandteil der Schulbücher werden; die
dieser Frage gewidmeten Fernsehprogramme, diverse wissenschaftliche und
Verlagsprojekte sollen staatliche Unterstützung bekommen.
56
Galina Michaleva
6.) Die nach den Verbrechern der Lenin- und Stalin-Zeit benannten Straßen und
Orte sollen umbenannt und die stalinistische Symbolik entfernt werden.
Russland hat ohne ausdrückliche Absage an eine modifizierte und modernisierte
Variante des stalinistischen Systems, das jetzt die Form des postsowjetischen Autoritarismus angenommen hat, keine Zukunft. Die ist unsere tiefe Überzeugung, die
der Beschluss ausdrückt, selbst wenn sie im Widerspruch zur Meinung vieler Bürger und Politiker steht und selbst wenn einige wie die Kommunisten weiterhin Stalin verehren. Die Fehler der letzten 20 Jahre sollen nicht wiederholt werden, denn
durch den Verzicht auf eine Bekämpfung des stalinistischen Erbes sind Gesellschaft und Staat in eine Sackgasse geraten. Diese Entwicklung ist aber nicht nur
mit historisch geprägtem Etatismus, mit den Besonderheiten der Macht und Elite in
Russland verbunden. Auch wir, die Bürger, das Volk insgesamt, mag es auch unter
Druck stehen, tragen die Verantwortung für eine solche Entwicklung.
Die Geschichte hat eindeutig gezeigt, dass der Aufbau eines demokratischen
Rechtsstaates in Russland nur auf der Basis einer Überwindung von allen Bestandteilen des Stalinismus und Bolschewismus Erfolg haben kann.
Dieser Beschluss wurde unterschiedlich eingeschätzt und steht bis jetzt im Kreuzfeuer der Kritik, auch von Seiten der liberalen Medien. Der Partei Jabloko wurde
vorgeworfen, dass sie für die Überwindung des Stalinismus stalinistische Methoden
(z.B. Begrenzung der Medienfreiheit oder Strafverfolgung der Täter) vorschlägt 15 .
Es wurde behauptet, dass „die Bekämpfung von Stalinismus zu neuen Strafverfolgungen führen wird“ 16 . Andere Autoren loben diese Initiative als aktuell und für
die ganze Gesellschaft notwendig und meinen, dass alle Demokraten sie unterstützen sollen 17 .
5. Ausblick
Die neuesten Entwicklungen haben gezeigt, dass das Thema der Vergangenheitskonflikte international zunehmend aktueller wird, und auch zunehmend die russische Gesellschaft spaltet. Am 3. Juli 2009 hat die Parlamentarische Versammlung
der OSZE in Vilnius eine „Resolution on Divided Europe Reunited: Promoting
Human Rights and Civil Liberties in the OESCE Region in the 21st Century“ verabschiedet 18 . Diese Resolution stellt unter anderem fest, dass die europäischen
Länder im 20. Jahrhundert den Druck von zwei mächtigen totalitären Regimen, von
Stalin und Hitler erlebt haben. Beide Regime haben den Völkern Genozid, Menschenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit
gebracht. Historisches Wissen kann der Wiederholung von solchen Verbrechen
vorbeugen, eine offene Diskussion über die Geschichte kann der Versöhnung auf
der Grundlage von Wahrheit und Respekt gegenüber den Opfern helfen. Die Parlamentarische Versammlung hat die Mitgliedsstaaten aufgerufen, die Geschichte
Vergangenheitsbewältigung als Voraussetzung für die Modernisierung Russlands
57
weiter zu erforschen und Programme zur Aufklärung über die totalitäre Vergangenheit zu entwickeln sowie Archive zu öffnen. Alle Staaten werden aufgerufen,
jeglichen Versuchen, die totalitäre Vergangenheit zu rechtfertigen, eine Absage zu
erteilen, denn sie behindern Demokratisierungsprozesse.
Es ist klar, dass diese Resolution Russland direkt betrifft. Reaktionen aus den
höchsten Kreisen ließen nicht auf sich warten. Die Föderale Versammlung der RF
antwortete mit einer Erklärung, es handle sich um einen Versuch, NaziDeutschland und die Sowjetunion, die zu den Alliierten gehörte und Hitler bekämpfte, auf eine Stufe zu stellen, was eine Provokation sei. Es sei weiterhin eine
Beleidigung für die gefallenen sowjetischen Soldaten und ein Versuch, die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs zu verfälschen 19 . Auch vom Außenministerium wurde die Resolution kritisiert. Ein offizieller Vertreter des Ministeriums, Andrej
Nesterenko, erklärte am 9 Juli, dass die Resolution ein Versuch sei, die Geschichte
aufgrund von politischen Zielen zu entstellen, was nicht zur Verbesserung der Beziehungen zwischen Mitgliedsländern der OSZE beitragen könne 20 .
Diese Antworten zeigen, in welchem Maße die Frage nach der sowjetischen Vergangenheit politisiert ist und wie groß die Unterschiede zwischen den Positionen
bleiben, die im Gesamtspektrum der Gesellschaft vorhanden sind.
Doch gibt es keine Alternative. Wie die Entwicklung in anderen Ländern gezeigt
hat, muss die Frage nach der totalitären Vergangenheit früher oder später beantwortet werden 21 .
1
G. Luchterhandt, Der Aufbau der nationalen Staatlichkeit Russlands. In: Forschungsstelle
Osteuropa (Hrsg.) Russland – Fragmente einer postsowjetischen Kultur, 1996, S. 10-40.
2
Б. Дубин, Режим разобещения. In: Pro et contra, Nr. 1 / 2009, S. 6-19.
3
H. König, Von der Diktatur zu Demokratie oder Was ist Vergangenheitsbewältigung, 1998. H.
König, Erinnern und vergessen, in: Osteuropa Heft 6, Juni 2008, S. 27-40.
4
A. Roginskij, A. Fragmentierte Erinnerung, in: Osteuropa 1 / 2009, S. 37-44, hier S. 37.
5
О «НАЦИОНАЛЬНЫХ ОБРАЗАХ ПРОШЛОГО» (ХХ век и «война памятей»). Обращение
Международного Общества «Мемориал», http://www.memo.ru/2008/03/27/Memorial_obrazy_proshlogo_Rus.htm, 2008.
6
Roginskij, Op. cit., S. 41.
7
ГУЛАГ: Экономика принудительного труда, М. 2008. (История сталинизма).
8
А. Аузан, Материалы круглого стола и публичной дискуссии «1956-2006: сбывшееся и
несбывшееся», http://www.polit.ru/analytics/2006/03/06/antistalinizm.html, 2006.
9
А. Краснов, Правовые основы неправового государства, in: Российское государство: вчера,
сегодня, завтра, М. 2007, S. 31-60.
10
Л. Гудков, Общество с ограниченной вменяемостью, in: Вестник общественного мнения,
№ 1 / 2008, S. 8-32.
11
Die wissenschaftlichen Diskussionen, die in akademischen Kreisen geführt werden, können
nicht berücksichtigt werden, da sie leider wenig Einfluss auf die Öffentlichkeit haben.
58
12
Galina Michaleva
Л. Радзиховский, Исторические битвы, in: Российская газета – Федеральный выпуск №
4922 (98), 2. Januar 2009.
13
С. Нарышкин, Историическая комиссия не будет переписывать источники, in: Грани.Ру,
17. Juni 2009, http://www.grani.ru/Politics/Russia/p.152475.html.
14
Die Autorin hat als Geschäftsführerin des Politischen Komites der Partei an dem Beschluss mitgearbeitet.
15
А. Подрабинек, «ЯБЛОКО» от власти недалеко падает, in: Ежедневный журнал, 2. März
2009, http://www.ej.ru/?a=note&id=8856.
16
К. Бюттнер, Неестественный отбор вождей. Борьба со «сталинизмом» обернется
расправой над оппозиционерами, http://www.kasparov.ru/material.php?id=49BA1C203F60D,
13.03.2009.
17
В. Кара-Мурза, Со Сталиным в сердце, in: Ежедневный журнал, 03. März 2009,
http://www.ej.ru/?a=note&id=8862.
18
Resolution on Divided Europe Reunited: Promoting Human Rights and Civil Liberties in the
OSCE Region in the 21st Century, http://www.oscepa.org/images/stories/documents/activities/
1.Annual%20Session/2009_Vilnius/Final_Vilnius_Declaration_ENG.pdf, 2009.
19
Парламент Росссии призвал к ответственности всех, кто уравнял нацизм и сталинизм, in
NEWSru.com, Новости России, 7. Juli 2009.
20
МИД осуждает уравнявшую сталинизм и нацизм резолюцию ПАСЕ, in Коммерсант, 9.
Juli 2009.
21
Siehe außerdem folgende Quellen: 1937 год и современность. Тезисы «Мемориала»,
http://www.memo.ru/history/y1937/y1937.htm,
2007.
«Преодоление
сталинизма
и
большевизма как условие модернизации России в XXI веке». Постановление
Политического комитета РОДП «ЯБЛОКО», http://yabloko.ru/resheniya_politkomiteta/2009/03/11, 28. Februar 2009. В. Кантор, Русский европеец как явление культуры, М. 2001.
В. Кантор, Феномен русского европейца, М. 1999. Ю. Левада, Человек «приспособленный»,
in: ders., От мнений к пониманию, М. 2000, S. 467-488. С.П. Мельгунов, Красный террор в
России. 1918-1923, М. 1990. Э. Паин, Исторический «бег по кругу» (Попытка объяснения
причин иклических срывов модернизационных процессов в России), in: ОНС № 4 / 2008, S.
5-10. Н. Петров, М. Янсен, «Сталинский питомец» - Николай Ежов. М. 2008 (История
сталинзма). A. Рогинский, Материалы конференции «История сталинизма: итоги и
проблемы изучения», 2008. В.С. Соловьев, Три разговора, in: ders., Собр. Соч. 2-е изд. В 10ти т. Т. 10. СПб, o. J., S. 149f. А.И. Солженицын, Архипелаг «ГУЛАГ», М. 1994. Ф. Степун,
Письма из Германии (Национал-социалисты) , in: Современные записки, Париж 1931, кн.
45. Ф. Степун, Сочинения, Составление, вступительная статья, примечания и библиография
В.К.Кантора, М. 2000. Л. Фейхтвангер, Москва 1937, Таллинн 1990. Г.П. Федотов, Судьбы и
грехи России. В 2-х т., СПб. 1992. Г.П. Федотов, Россия и мы, Paris 1973. В. Шаламов,
Несколько моих жизней. Проза. Поэзия. Эссе, М. 1996. Правозащитник, № 3 / 1999,
http://www.democracy.ru/article.php?id=423. M. Arenhovel, Demokratie und Erinnerung. Der
Blick zurück auf Diktatur und Menschenrechtsverbrechen, 2000. P. Dudek, Vergangenheitsbewältigung. Zur Problematik eines umstrittenen Begriffs. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage 12 / 1992, S. 44ff. B. Meyer, Formen der Konfliktregelung, 1997. F. Plasser, H. Waldrausch: Politischer Kulturwandel in Ost-Mitteleuropa, Theorie und Empirie demokratischer Konsolidierung,
1997. P. Reichel, Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinandersetzungen mit der
NS-Diktatur in Politik und Justiz, München 2007.
Karol Sauerland
Polen und Juden innerhalb der polnischen Erinnerungskultur
Die Erinnerung war in den ehemaligen Ostblockstaaten offiziell gesteuert, eine eigene, private Erinnerung durfte man eigentlich nicht haben. Die Menschen, ganze
Völkerschaften im Osten haben dadurch das Gefühl, in einer erinnerungslosen Zeit
gelebt zu haben. Ihnen wurde die Technik des Vergessens beigebracht. Sie sollten
von heute auf morgen bereit sein, Namen aus ihrem Gedächtnis auszumerzen: seien
es die von so einflussreichen historischen Persönlichkeiten wie Trockij, seien es die
Namen der Nächsten, die verhaftet, „als Klassenfeinde liquidiert“ worden waren.
Im Falle von Polen waren es die Namen derjenigen Widerstandskämpfer, die mit
der Emigrationsregierung in London verbunden waren. Und vor allem sollten die
Menschen verlernen, detailliert nachzufragen, wie es denn gewesen sei. Der ganze
Unterricht in der Schule und an der Universität war darauf ausgerichtet, den Lernenden allein große Zusammenhänge einzutrichtern, um die Aussagekraft von Geschehnissen und Fakten, die in das Ganze nicht passten, von vornherein zu desavouieren. Georg Lukács, der nach seinem Übertritt zum Kommunismus zu einem
Ganzheitsfanatiker wurde, soll stets das hegelsche Wort im Mund geführt haben:
umso schlimmer für die Fakten. Einer, der um die historische Gesetzmäßigkeit, wie
es im Marxismus hieß, weiß, braucht im Prinzip keine Erinnerung. Hauptsache, er
weiß um das große Ganze.
Eine dieser Gesetzmäßigkeiten lautete, dass die bestehenden Unterschiede in der
Weltbevölkerung durch die einheitliche wirtschaftliche Entwicklung und den geschichtlichen Prozess in Kürze keine Rolle mehr spielen werden. Hatte doch schon
Marx gesagt, Indien werde den von England erzwungenen kapitalistischen Weg
gehen müssen, um aus der feudalen Zurückgebliebenheit herauszufinden. Es sei
zwar ein mit Blut getränkter, aber historisch notwendiger Weg, der hin zu der konfliktfreien Welt führt: dem Kommunismus. Angesichts dieser leuchtenden Zukunft
ist kaum etwas erinnernswert, höchstens sind es jene Geschehnisse, die, wie es
hieß, dem Fortschritt dienten.
Aber nicht nur die Fähigkeit des spontanen Sich-Erinnerns wurde systematisch zurückgewiesen, eingeschränkt, quasi verboten, sondern auch die des aufmerksamen
Schauens, bei dem jemandem nicht ins aufgezwungene Bild passende Einzelheiten
auffallen konnten. Es ging so weit, dass es als das Beste erschien, wegzuschauen,
so wie wir es aus jener Stelle kennen, die Heiner Müller aus dem Roman Zement
von Fedor Gladkov im Material zu Philoktet anführt:
Sergej stand und konnte seine Blicke von dem Säugling nicht losreißen. Vorübergehende blieben neugierig neben ihm stehen, sahen die Säuglingsleiche
60
Karol Sauerland
an und gingen rasch weiter. Sie brummten, fragten Sergej etwas, aber er
hörte nichts und wußte nicht, wer zu ihm sprach. Er stand und sah ohne Gedanken, schmerzerfüllt, taub, mit einem großen Erstaunen und Leid in den
Augen die kleine Leiche an und fühlte, wie ein unverständlicher, niederdrückender Schmerz abgrundtief in seinem Herzen tobte. Und er hörte seine eigenen Worte nicht, hörte nicht, wie er laut, ohne Teilnahme seines Bewußtseins, zu sich selber sprach: »Nun .. ja .. es muß so sein .. das ist es eben ..« 1
Denjenigen, die vom genauen Hinschauen nicht lassen konnten und vielleicht auch
noch objektive Chronisten sein wollten, war das Schicksal des Historikers Ethan in
Stefan Heyms Der König David Bericht beschieden: er
soll zu Tode geschwiegen werden; keines seiner Worte soll das Ohr des Volkes erreichen, [...] auf daß sein Name vergessen sei, so als wäre er nie geboren worden und hätte nie eine Zeile geschrieben.2
Das Erinnerungsverbot ließ sich aber nicht konsequent durchhalten. Den ersten
Einbruch brachte der XX. Parteitag der KPdSU im Jahre 1956, als Chruščev in seiner Geheimrede an eine Reihe von Genossen erinnerte, die in den dreißiger Jahren
unter falschen Beschuldigungen erschossen worden waren und als Unpersonen aus
dem historischen Gedächtnis ausgemerzt werden sollten. Bucharin durfte wieder
genannt werden, aber Trockij nach wie vor nicht. Eine wichtige Folge des
XX. Parteitags war die Freilassung von vielen Tausenden Häftlingen aus den Gefängnissen und Lagern. Mit ihnen kam Leid zur Sprache. Es sollte aber nur eine
kurze Tauwetterperiode bleiben. Die Kampagne gegen den Doktor Živago, in dem
Pasternak die Revolutionswirren und ihre Auswirkungen aus eigenem Erleben heraus schildert, zeigte, wie wenig es um den detaillierten Blick ging. Selbst die von
Chruščev revidierte Sicht der Parteigeschichte fand unter seinem Nachfolger
Brežnev keine Anerkennung, so dass die DDR-Oberen mit ihrer Verfügung, die
Geheimrede als eine Fabrikation des Westens auszugeben, Recht bekamen. Es
durfte diese Rede nicht geben. Einzig in Polen wurde ihre Authentizität nicht verleugnet. Dort wurde 1956 auch einer der entschiedenen Schritte getan: der Verzicht
auf den sozialistischen Realismus als einer obligatorischen Doktrin. Die Künstler
mussten nun nicht mehr Typisches, das Allgemeine im Besonderen, darstellen,
sondern konnten ihre Leser mit Phantastischem, Skurrilem, Absonderlichem, Absurdem überraschen oder auch schockieren. Es ist die Zeit der Wiederentdeckung
von Witkacy, die Zeit von Gombrowicz, Mrożek und Kantor, um nur die bekanntesten Namen aus der Literatur und dem Theater zu nennen. Aber auch in Polen
wurde die Zensur schnell wieder übereifrig.
Das größte Problem war in dieser Zeit die Anerkennung des polnischen Widerstandkampfes, der von der AK, der Landesarmee, getragen wurde und in dem Warschauer Aufstand von 1944, der vom 1. August bis in den Oktober hinein währte,
Polen und Juden innerhalb der polnischen Erinnerungskultur
61
seinen Höhepunkt fand. Nach dem Krieg wurden Zehntausende von AKAngehörigen in Gefängnisse gesteckt, zum Teil fanden sie sogar den Tod. Diejenigen, die keinen solchen Repressalien unterlagen, wurden im Alltag benachteiligt,
mussten so unbeachtet wie nur möglich leben – wenn sie nicht bereit waren, Abbitte zu leisten. Als sie Mitte der fünfziger Jahre die Gefängnisse verlassen konnten,
erhoben sich Stimmen, die von der Parteiführung verlangten, den Widerstandskampf anzuerkennen, den AK-Angehörigen die gleichen Rechte zu gewähren, wie
sie andere Widerstandskämpfer zuerkannt bekommen hatten.
Eine lebhafte Debatte um den Sinn des Warschauer Aufstandes setzte 1956 ein, die
jedoch schnell unterdrückt wurde, da ja das größte Problem in der Geschichte des
Aufstandes die Sowjetunion darstellte, deren Truppen bis zur Weichsel vorgedrungen waren, um dort im August 1944 stehen zu bleiben und abzuwarten. Zu gleicher
Zeit hatten in verschiedenen Teilen von Paris Franzosen zu den Waffen gegriffen,
um die deutschen Besatzer zu verjagen. Die westlichen Alliierten waren davon
nicht in Kenntnis gesetzt worden. Sie hatten ursprünglich die Absicht, bei ihrem
Vormarsch die französische Metropole zu umgehen. Doch als bekannt wurde, dass
die Pariser selbst aktiv geworden waren, änderten vor allem die Amerikaner ihre
Pläne und marschierten auf Paris zu. Am 29. August feierten Dwight D. Eisenhower, sein britischer Stellvertreter Arthur William Tedder, Oberbefehlshaber sämtlicher alliierter Luftstreitkräfte im Mittelmeerraum, und Charles de Gaulle den Sieg
am Triumphbogen in Paris. Stalin ließ dagegen die Einheiten an der Weichsel, in
Praga, Halt machen. Sie hatten in aller Ruhe zuzuschauen, wie der Aufstand der
Warschauer Bevölkerung niedergeschlagen und die Innenstadt anschließend dem
Erdboden gleichgemacht wurde. Wir wissen heute, dass Žukow und Rokossovskij
zuvor die Absicht hatten, bis Warschau vorzudringen. 3 Erst nach der Wende konnte
hierüber offen gesprochen werden.
Als großer Aufstand wurde dagegen in den ersten Nachkriegsjahren der Warschauer Ghetto-Aufstand von 1943 gefeiert, was völlig zu Recht geschah, das Problem
war nur, dass diese Akzentuierung bewusst gegen den Warschauer Aufstand von
1944 gerichtet war. Gleichzeitig wurde der Ghettoaufstand von den Machthabern
als Teil des antifaschistischen Kampfes in Polen ausgelegt. Die Tatsache, dass ein
ganzes Volk ausgelöscht wurde, überging man mit dem Hinweis, dass die Polen als
Volk die nächsten Opfer gewesen wären. Erst in den achtziger Jahren wurde in einer Debatte in der katholisch-liberalen Wochenzeitung Tygodnik Powszechny für
eine breite Öffentlichkeit klargestellt, dass den Polen im Falle eines deutschen Sieges das Schicksal eines Sklavenvolkes drohte und nicht die Ausrottung.
Einen besonderen Rückschlag für die Erinnerung an das Leid der polnischen Juden
bedeutete der März 1968, als nationalistische, antisemitische und antiintellektuelle
62
Karol Sauerland
Kräfte zuschlugen und einen großen Teil der führenden Köpfe Polens zur Emigration zwangen. Es war ein Aderlass, von dem sich Polen bis heute nicht erholt hat.
Der Anlass für die so genannten Märzereignisse war die Absetzung des Stückes
Die Totenfeier (Dziady) Ende Januar 1968 im Warschauer Nationaltheater. Dieses
Stück gehört zu den zentralen Dramen der polnischen Literatur und war gegen die
zaristische Herrschaft im russischen Teil Polens gerichtet. Es war von Seiten der
Machthaber schon ein Kunststück besonderer Art, dieses Verbot, das das polnische
Nationalgefühl empfindlich traf, in eine antisemitische Kampagne zu verwandeln,
bei der Arbeiter dazu bewegt wurden, mit Transparenten wie „Juden nach Zion“
aufzutreten.
Die antisemitische Kampagne war nicht von einem Tag auf den anderen ausgelöst
worden, sondern hatte ihre Vorgeschichte. Bereits zu Beginn der sechziger Jahre
soll man im Innenministerium begonnen haben, Listen der jüdischen Mitarbeiter im
Geiste der Nürnberger Gesetze anzufertigen. 4 In den Reihen der Armee kam es zu
ersten „rassischen Säuberungen“, wobei die Säuberungen auch mehrfach solche
Offiziere betrafen, die mit Juden befreundet waren. 5 Jaruzelski war in dieser Hinsicht besonders aktiv. 1965 wurde Bolesław Piasecki – ein bekannter Antisemit aus
der Vorkriegszeit, Vorsitzender der Organisation PAX, die die „fortschrittlichen
Katholiken“ als Gegengewicht zu der katholischen Kirche vereinigte bzw. vereinigen sollte – Abgeordneter im Sejm, dem polnischen Parlament. Wasser auf die
Mühlen der Antisemiten sollte dann die Rede Gomułkas, des damaligen Ersten
Sekretärs der Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei, kurz nach dem Sechstagekrieg
sein. Er sprach u. a. davon, dass sich Israel die Wehrmacht zum Vorbild genommen
habe und jetzt die Bundesrepublik von einem Blitzkrieg á la Israel träume, dessen
Sieg von zionistisch gesinnten polnischen Juden gefeiert worden sei, und dass es
eine fünfte Kolonne in unserem Land gebe. 6 Dazu müsse er Folgendes erklären:
Wir haben den polnischen Bürgern jüdischer Herkunft nie Hindernisse in
den Weg gelegt, nach Israel auszuwandern, wenn sie dies wünschen. Wir
stehen auf dem Standpunkt, daß jeder polnische Bürger nur ein Vaterland
haben sollte: Volkspolen. Dieser Meinung ist die überwiegende Mehrheit der
polnischen Bürger jüdischer Herkunft, und sie dienen treu unserem Lande.
Jeder Bürger unseres Landes genießt die gleichen Rechte und auf jedem lasten die gleichen Bürgerpflichten Volkspolen gegenüber. Aber wir können
nicht gleichgültig jenen gegenüber bleiben, die im Angesicht der Bedrohung
des Weltfriedens, also auch der Sicherheit Polens und der friedlichen Arbeit
unseres Volkes, die Partei des Aggressors, der Zerstörer des Friedens und
des Imperialismus ergreifen. Mögen diejenigen, die meinen, daß diese Worte
an ihre Adresse – unabhängig von ihrer Nationalität – gerichtet seien, die
für sie entsprechenden Schlüsse daraus ziehen. 7
Polen und Juden innerhalb der polnischen Erinnerungskultur
63
Nun begannen im Außenministerium entsprechende Säuberungen. Dort waren verständlicherweise nicht alle mit dem Beschluss einverstanden, die diplomatischen
Beziehungen zu Israel abzubrechen. Zwar war dies von der Sowjetunion am 9. Juni
1967 während der Sitzung der politischen Führung des Warschauer Pakts förmlich
diktiert worden, aber Rumänien war der Aufforderung nicht gefolgt.
Gomułkas Reden schuf auch freie Bahn für entsprechende Maßnahmen des Sicherheitsdienstes. Besonders aktiv wurde der damalige Innenminister Moczar, der aus
seiner nationalkommunistischen Gesinnung keinen Hehl machte. Am 8. Oktober
verglich er auf einer Veranstaltung zum 25. Jahrestag der Gründung der polnischen
Volkspolizei die Zionisten mit den „Hitleristen“, d.h. den Nazis. Etwa zur gleichen
Zeit setzte eine Kampagne gegen den bereits 1965 erschienenen achten Band der
neuen Enzyklopädie des PWN-Verlags (d. h. des Verlages der Polnischen Akademie der Wissenschaften) ein, dessen Direktor Adam Bromberg, ein Pole jüdischer
Herkunft, war. 8 Als Anlass diente ein Artikel, in dem die NS-Konzentrationslager
von den Vernichtungslagern unterschieden wurden. In den letzteren seien 99 % der
Opfer Juden und 1 % Zigeuner gewesen. Das entspreche nicht der Wahrheit, meinten die Moczarleute, alle KZs hätten die Vernichtung ihrer Insassen zum Ziel gehabt. Es sei kein Unterschied zwischen Juden und Polen gemacht worden. Überhaupt werde in der Enzyklopädie der polnische Anteil am Kampf gegen die deutsche Besatzung unter- und das jüdische Martyrium überbewertet. Immer wieder
war die Rede von der zionistischen Zerstörung Polens. Die Begriffe „Jude“ und
„Zionist“ wurden mittlerweile austauschbar. Austauschbar wurden aber auch Israel
und BRD, wozu das Buch „Israel i NRF“ (Israel und die Deutsche Bundesrepublik) 9 von Tadeusz Walichnowski, dem Chef des Departements I im Innenministerium (Spionage), 10 beitrug, das im Herbst 1967 erschienen war. Walichnowski hatte am 29. Juni 1967 diese Arbeit unter dem Titel Rola Izraela w założeniach polityki Niemieckiej Republiki Federalnej (Israels Rolle in den Vorraussetzungen der
Politik der Deutschen Bundesrepublik) als Dissertation verteidigt, kurz darauf sollte es als Buch erscheinen, was unter den damaligen Verlagsbedingungen einmalig
war. Erstens war es nicht üblich, dass Doktorarbeiten veröffentlicht wurden, zweitens dauerte es im Allgemeinen zwei, drei Jahre, bis eine wissenschaftliche Studie
die Hürden der Gutachter, der Verlagspläne und der Zensur genommen hatte. Doch
im Falle der Arbeit von Walichnowski bestand in führenden Kreisen ein politisches
Interesse, seine Thesen „unters Volk zu bringen“. Diese waren einfach: Israel und
Westdeutschland seien ein Bündnis eingegangen, das die imperialistischen Bestrebungen der USA realisiere. Israel solle über den Nahen Osten dominieren, Westdeutschland über Europa. In einem Interview, das die PAX-Tageszeitung Słowo
Powszechne (Allgemeines Wort) am 2. Februar 1968 mit Walichnowski unter dem
Titel „Über das Bündnis des schwarzen Kreuzes und des Davidsterns“ brachte, 11
kündigte dieser die Herausgabe eines zweiten Buches unter dem Titel „Die zionisti-
64
Karol Sauerland
sche Doktrin“ an. Er berücksichtige dort die besonderen Verbindungen des Zionismus mit dem III. Reich und der Deutschen Bundesrepublik. 12
Die vielen nationalistischen Töne und Attacken ließen Schlimmes befürchten. Der
Funke musste eines Tages überspringen. Diesen Funken sollten das erwähnte Aufführungsverbot des Stückes Dziady (Die Totenfeier) von Adam Mickiewicz, dem
großen polnischen Dichter, Ende Januar 1968 und die darauf folgenden Proteste
bilden. Während sich allein in Warschau mehr als dreitausend Personen fanden, die
eine an den Sejm gerichtete Petition gegen das Aufführungsverbot unterschrieben, 13 tauchten immer mehr Flugblätter antisemitischen Inhalts auf. In ihnen wurde
gegen den „übermächtigen Einfluss“ von Zionisten und die mit ihnen verbundenen
Intellektuellen Stimmung gemacht. So hieß es in einem Flugblatt: Michnik, Blumsztajn und Szlajfer können und werden uns nicht die patriotische Tradition unseres
Volkes lehren, 14 was im Klartext hieß: Diese Juden können uns Polen nur in eine
Sackgasse führen. Als am 29. Februar der Warschauer Schriftstellerverband zu einer außerordentlichen Versammlung zusammentrat, auf der mehrheitlich eine Resolution gegen die Kulturpolitik der Partei und Regierung verabschiedet wurde, und
als Studenten im ganzen Lande diese Politik sowie das brutale Vorgehen der Ordnungskräfte gegen Demonstranten verurteilten, leiteten die Machthaber eine antisemitische Kampagne von einem Ausmaß ein, wie es bis dahin in einem kommunistisch regierten Land unbekannt war. 15 Offiziell wird die Kampagne gegen jene,
welche für die Rücknahme des Verbots der Totenfeieraufführung demonstrierten,
erst nach dem 8. März mit antisemitischen Argumenten angereichert. Am 11. März
erscheint in der Tageszeitung Słowo Powszechne ein erster anonymer Artikel über
die Herkunft der Unruhestifter vom 8. März: Sie seien aufs Engste mit den Zionisten, Revisionisten und Trotzkisten verbunden, lesen wir dort. Immer häufiger wird
auf die jüdische Herkunft der Verhafteten hingewiesen: Dojczgewand, Szlajfer,
Michnik von Haus aus ... etc. Alle bzw. deren Eltern waren natürlich einmal Stalinisten... kurzum: Feinde des polnischen Volkes, die jetzt bei der Totenfeier nur
vorgeben, um die Erhaltung des nationalen Erbes zu kämpfen. Inoffiziell war der
Sicherheitsdienst aber schon lange vorher auf antisemitische Argumentationen vorbereitet, wie das Beispiel von Beata Dąbrowska zeigt, die am 23. Februar 1968 folgenden Brief an Gomułka schrieb:
Ich bin Studentin des dritten Studienjahrs der philosophischen Fakultät. Am
16. Februar wurde ich um 20 Uhr abends von Sicherheitsbeamten des Innenministeriums auf der Straße festgenommen und in das Polizeipräsidium
gebracht. Die Sätze, die ich zu hören bekam, haben mich so erschüttert, daß
ich sie in gewisser Kürze, aber einige wortwörtlich mitteilen möchte. Ich
hörte: 1. Wie arbeitet man unter Juden? 2. Wieviel Juden waren unter denjenigen, die Unterschriften in Verbindung mit der „Totenfeier“ gesammelt
haben? 3. Sie sind so intelligent und merken nicht die Überschwemmung
durch das Judentum an den Lehrstühlen Ihrer Fakultät? 4. Sie verstehen, wir
Polen und Juden innerhalb der polnischen Erinnerungskultur
65
Polen müssen endlich zu Wort kommen. Denn solange die Juden alle hohen
Posten einnehmen, können die Polen nicht hochkommen. Für Sie wird es
beispielsweise keinen Platz am Lehrstuhl geben. Und hier die Beispiele, die
angeführt wurden, wie die Jidden die Jidden unterstützen: a) Der Jidd Baczko (Professor an der Warschauer Universität) lancierte den Jidd Piotr
Hoffmann [...] 5. Sie sind schließlich eine Arierin reinsten Blutes 6. Wir verstehen, daß es einigen Frauen zu anderen Rassen hinzieht. So lieben z.B. einige Neger, andere Juden. [...] Dabei zeigte sich, daß der mich verhörende
Beamte das Wort Jude als Schimpfwort verwendet. Als ich nämlich sagen
sollte, woran man Juden erkennt, gab ich zur Antwort, an den dunklen Haaren, wonach der mich vernehmende Funktionär ein Jude sei, worauf ich zu
hören bekam, ich solle mir nicht zuviel herausnehmen. [...] Ich frage Sie,
was bedeutet das, daß in Volkspolen 24 Jahre nach der Hitlerbesatzung erneut in der Sprache der Hitleristen und der ONR (polnischen Faschisten)
gesprochen wird? Ich schätze Sie, den Bürger und 1. Sekretär, so sehr, daß
ich überzeugt bin, Sie werden sich dieser Sache annehmen und mir den
Glauben an den guten Namen Polens, den der Bürger Volkspolens oder einfach den des Menschen wieder zurückgeben. 16
Die Studentin hatte wahrscheinlich nicht zur Kenntnis nehmen wollen, dass die
antisemitische Kampagne voll und ganz die Unterstützung Gomułkas fand, was
dieser am 19. März in seiner Rede vor dem Warschauer Parteiaktiv im Kulturpalast
zum Ausdruck brachte. Erneut unterstrich er, dass man nur ein Vaterland haben
dürfe, und jene, die auf Seiten von Israel stehen, forderte er auf, das Land zu verlassen. Vielen Teilnehmern der Versammlung war das zu wenig, sie riefen
Gomułka zu: sei kühner, sei kühner. Auf den Gesichtern der Juden, die sich die
Fernsehübertragung ansahen, malte sich dagegen der Schrecken. So schrieb Gabriel
Tempkin ein Jahr später:
Dieses Fernsehspektakel werde ich wohl nicht vergessen. Als ich auf den
Bildschirm, in den schreienden Saal schaute, erblickte ich Gesichter, die von
Grausamkeit und Blutgier gezeichnet waren. Nicht nur ich. Wie ich später in
Gesprächen mit verschiedenen Leuten, Müttern, die einen Zusammenhang
mit der verurteilten Nation spürten, feststellen konnte, haben sie auf das
Fernsehspektakel ähnlich ragiert: sie verriegelten die Türen in der Furcht
vor einem Pogrom. 17
Ida Kamińska, die Direktorin des Jüdischen Theaters in Warschau, eine großartige
Darstellerin, u.a. der Mutter Courage, schrieb in ihrem Tagebuch:
Ich habe mich kaum beherrschen können, ich lief ins Schlafzimmer, schluckte eine Tablette und versuchte mit allen Kräften meine Emotionen zurückzuhalten [...] ich schrie: Fliehen wir! Sofort! Anders überlebe ich das nicht. 18
66
Karol Sauerland
Die wenigsten allerdings reagierten so. Viele meinten, es betreffe nicht sie, schließlich hätten sie ihre ganze Kraft für den Wiederaufbau und auch die Stärkung Polens
eingesetzt. Doch wurden sie – zumeist durch die Leitungsorgane der kommunistischen Partei, der sie in großer Zahl angehörten – schnell eines anderen belehrt. Unter irgendeinem banalen Vorwand wurden sie entlassen. Manchmal bekamen sie
auch direkt zu hören, dass ihre jüdische Herkunft oder die der Anverwandten der
Grund für diese Maßnahmen sei. Parteifunktionäre scheuten nicht einmal vor dem
Argument zurück, dass ihr Judentum auf der Hand läge, schließlich seien sie nicht
getauft und damit keine echten Polen. Die Entlassungen erfolgten in den verschiedensten Behörden, in den Verlagen, an den Hochschulen, in den Krankenhäusern
und auch in den Betrieben. So mancher junge Mensch erfuhr erst in diesen Tagen,
dass die Eltern, die Großeltern (oder auch nur einer von ihnen) jüdischer Abstammung waren. 19 Die „Ahnentafeln“ waren offensichtlich im Innenministerium angefertigt worden, wie überhaupt klar wurde, dass für die antisemitische Aktion alles
wohl vorbereitet worden war. Die Studentenproteste bzw. Streiks in den größeren
Städten wurden relativ schnell abgewürgt. Die Anführer der Proteste wurden plötzlich als „Zionisten“ und Feinde des polnischen Volkes verurteilt. Gleichzeitig nutzten die Machthaber den Augenblick, um sich der so genannten Revisionisten – wie
Leszek Kołakowski, Bronisław Baczko, Zygmunt Baumann, Brus und andere – zu
entledigen.
Als Gomułka sich im Sommer gezwungen sah, die Losung des Antizionismus zurückzunehmen, weil er wahrscheinlich erkannte, dass der Partei ein Abdriften hin
zum Nationalismus reinsten Wassers drohte, erklärte er den Revisionismus zum
Hauptfeind des Sozialismus. Mittlerweile hatte sich auch die Situation in der
Tschechoslowakei zugespitzt. Der Prager Frühling stand in voller Blüte.
An den März 1968 wurde im Solidarność-Jahr 1981 in einer großen dreitägigen
Veranstaltung erinnert. Sie sollte einem Nie-Wieder dienen. Aber dann kam das
von Jaruzelski verhängte Kriegsrecht, durch das jede offene Diskussion abgewürgt
wurde. Immerhin entfaltete sich plötzlich 1987 in der schon genannten Wochenschrift Tygodnik Powszechny eine hochinteressante Debatte, die der Krakauer Literaturwissenschaftler Jan Błoński entfacht hatte. Dieser zitiert in seinem Artikel
„Die armen Polen schauen aufs Ghetto“ (dies ist eine Paraphrase des Gedichttitels
„Der arme Christ schaut aufs Ghetto“ /Biedny Chrześcijanin patrzy na getto/ von
Czesław Miłosz) eine Forderung, die nach Miłosz die polnische Lyrik zu erfüllen
habe: sie müsse die polnische Erde, die voll von Blut und Schmutz ist, reinigen. Bei
diesem Blut könne es sich, erklärt Błoński, nur um fremdes handeln, nämlich um
das jüdische, das auf der polnischen Erde ohne Schuld der Polen vergossen worden
ist. Aber die Polen dürfen darüber nicht hinweggehen, nicht so tun, als sei nichts
gewesen, denn da, wo sie sich zu Hause fühlen, können sie dies tatsächlich nur
dann, wenn sie sich die Vergangenheit dieses Zu-Hause in Erinnerung rufen, ihrer
Polen und Juden innerhalb der polnischen Erinnerungskultur
67
gedenken. Mit dieser Erinnerung kann es zur Katharsis kommen. Es sei aber auch
notwendig, sich der Schuld bewusst zu werden, die nach Błoński nicht darauf beruht, dass es Polen gab, die an der Judenverfolgung teilnahmen, sondern darauf,
dass man sich klüger, edler, christlicher hätte verhalten sollen. Den Deutschen wäre
es gewiss schwerer gefallen, ihr Werk durchzuführen.
An die Worte von Błoński und die darauf folgende Diskussion erinnerten sich viele
während der berühmten Jedwabne-Debatte im Jahre 2000/2001. 20 Seitdem hat sich
im polnischen Bewusstsein viel verändert, vor allem in der jungen Generation. Das
Interesse für die jüdische Geschichte Polens hat zweifelsohne zugenommen.
Ein besonderes Kapitel stellen die Erinnerungen an das Leid dar, das Polen durch
die Sowjetunion angetan worden ist. In Folge des Hitler-Stalin-Pakts besetzte die
Rote Armee am 17. September 1939 52% des polnischen Territoriums. In kurzer
Zeit wurden Hunderttausende polnischer Bürger nach Sibirien und Kasachstan deportiert. Und am 5. März 1940 beschließt das Politbüro der KPdSU die Erschießung von 14.700 polnischen Gefangenen in den Militärlagern Kozielsk, Ostaszków
und Starobielsk sowie von 7.000 Gefangenen in Lagern, die in der Ukraine und
Belarus gelegen sind (sog. Mord von Katyń). Es handelt sich vor allem um Offiziere, die zum großen Teil zugleich die Intelligenz Polens darstellten. In der Nacht
vom 12. zum 13. April werden die Familien dieser Erschossenen deportiert.
Wenngleich Katyń das größte Symbol für die Sowjetverbrechen darstellt, darf man
nicht vergessen, dass die Moskauer Machthaber insgesamt als Täter anzusehen
sind, die bis heute nicht zur Verantwortung gezogen wurden. Als die Sowjettruppen
gen Westen vorrückten und im Sommer 1944 polnisches Gebiet betraten, behandelten sie dieses wie eigenes Territorium. Sie machten sich an die sofortige Vernichtung der polnischen regulären Armee-Einheiten, der AK, und der sich nach Vorkriegsmustern herausbildenden bzw. der bestehenden Ortsverwaltungen. 21 Kaum
war eine Stadt wie Wilna oder Lemberg durch vereinigte sowjetische und polnische
Kräfte befreit, wurden letztere schon entwaffnet und in Lager geschickt. 22 Die Bekämpfung der Landesarmee fiel den Sowjets insofern leicht, als die Polen von der
Exilregierung in London den Befehl erhalten hatten, der heranrückenden Sowjetarmee zu helfen, die Deutschen zurückzuschlagen, um damit zu beweisen, dass sie
keine tatenlosen Wirtsleute bzw. Herren im eigenen Hause sind. In einer bedeutend
schwierigeren Lage würden sich, heißt es in dem Befehl, ein Befehlshaber und die
ortsansässige polnische Bevölkerung befinden, deren Gebiet einzig durch die Russen von den Deutschen befreit worden wäre. Die Befehlshaber der örtlichen polnischen Streitkräfte hatten die Aufgabe, die Militärführer der sowjetischen Armee zu
begrüßen und mit ihnen über die nächsten Schritte, vor allem die Errichtung einer
Zivilverwaltung, zu beraten. Dazu kam es jedoch nicht, statt dessen wurden die
Offiziere und Soldaten jedes Mal entwaffnet und aufgefordert, entweder der Roten
68
Karol Sauerland
Armee oder den ihr unterstellten volkspolnischen Einheiten beizutreten, was für sie
das Aufgeben des Vorhabens bedeutete, die Republik Polen wiederzuerrichten.
Welche Vasallenrolle die am 22. Juli 1944 von der Sowjetunion eingesetzte volkspolnische Regierung spielte, beweist deren Dekret einen Tag später, nach dem die
Landesarmee betreffende Fragen von sowjetischen Militärgerichten, d. h. von
NKWD-Gerichten, zu behandeln waren. Machtpolitisch gesehen hatten die polnischen Kommunisten keine andere Wahl, denn ohne sowjetische Hilfe hätten sie
nicht die geringste Chance gehabt, sich auch nur für kurze Zeit zu etablieren. Stalin
selbst soll den polnischen Kommunisten im Oktober 1944 gesagt haben: Wenn ich
mir eure Arbeit anschaue, so würdet ihr euch ohne die Rote Armee nicht eine Woche lang halten. 23
Sehr schnell gingen die Angehörigen der Landesarmee wieder in den Untergrund,
doch bekamen sie keine klaren Anweisungen von der Armeeleitung bzw. der Londoner Exilregierung, so dass sich die ehemalige antideutsche Front nicht in eine
antisowjetische verwandeln konnte. Es bildeten sich verschiedenste Formen der
Verteidigung gegen den Terror des NKWD heraus. Bis 1949 kann man daher von
bürgerkriegsähnlichen Zuständen sprechen. Jedwabne gehörte zu den Regionen, in
denen der Widerstand besonders stark war. Am 23. September 1949 befreite eine
Gruppe des NZW (der Nationalen Militärvereinigung) die Stadt für einen Tag von
vom volkspolnischen sowjethörigen Regime. Solche Aktionen gelangen in dieser
Zeit selten, 24 denn im Grunde genommen war der nationalpolnische Widerstand
Anfang 1947 gebrochen. Das ist nicht verwunderlich. Die Führung der Landesarmee saß seit dem März 1945 im Moskauer Gefängnis, 25 darüber hinaus befanden
sich Tausende von Menschen in russischen Lagern und in volkspolnischen Gefängnissen (im Rahmen der Wahlkampagne wurden 1946 etwa 100.000 Mitglieder der
oppositionellen Bauernpartei PSL, darunter 162 Sejmkandidaten, verhaftet; 150
Funktionsträger dieser Partei wurden ermordet), andere hatten aufgegeben, so mancher war zur Gegenseite übergewechselt, nicht selten deren Informant geworden. 26
Sollte ich das hier Gesagte bzw. Geschriebene zusammenfassen, so würde ich lediglich sagen, es gibt heute in Polen nicht nur eine polnische Erinnerungskultur,
sondern mehrere: sie teilt sich auf in die Erinnerung an den Widerstand gegen die
Deutschen und an den gegen die Sowjets und deren Gefolgsleute in Polen, in die
Erinnerung an das jüdische Schicksal, zu dem auch Polen als Täter beigetragen haben, und in die Erinnerung an die tragischen Ereignisse in Volkspolen, von denen
ich nur den März 1968 angeführt habe, nicht die Aufstände in Posen (1956), in
Danzig und Stettin (1970) das von Jaruzelski verhängte Kriegsrecht.
Polen und Juden innerhalb der polnischen Erinnerungskultur
1
69
Heiner Müller, Mauser, Berlin 1978, S. 72.
Stefan Heym, Der König David Bericht, Berlin 1974, S. 280.
3
Vgl. zu all den Fakten: Norman Davies, Powstanie ‘44, Kraków 2004.
4
Vgl. hierzu Jerzy Eisler, Marzec 1968. Geneza. Przebieg. Konsekwencje (Der März 1968. Genese. Verlauf. Konsequenzen), Warszawa 1991, S. 48. Bereits am 23. Mai 1959 wurde vom Außenministerium (MSZ) eine Liste der Mitarbeiter verschiedener Botschaften und Missionen an das ZK
der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei gesandt, auf der diejenigen, die jüdischer Herkunft waren, rot angestrichen waren (siehe Dariusz Stola, Kampania antysyjonistyczna w Polsce 1967–
1968 (Die antizionistische Kampagne in Polen 1967-1968), Warszawa 2000, S. 55.
5
Ebd. S. 49.
6
In den Pressemeldungen tauchte die Formulierung von der fünften Kolonne nicht mehr auf, aber
die Rede war live im Rundfunk übertragen worden, so dass die westlichen Medien davon berichteten.
7
Zitiert nach Eisler, Marzec 1968. Geneza. Przebieg. Konsekwencje, S. 135.
8
Von Brombergs Leben erzählt Henryk Grynbergs Memorbuch, das in Warschau im Jahre 2000
erschienen ist. Der Autor skizziert auch kurz die Attacken gegen den achten Band der Enzyklopädie. Eine gewisse Rolle spielte hierbei, dass Bromberg im Juni 1967 nicht bereit war, eine Resolution der Parteiorganisation gegen Israel zu unterstützen.
9
Damals durfte man den Begriff „Bundesrepublik Deutschland“ (RFN) nicht verwenden.
10
Im Dezember 1967 wurde er in das Departement III berufen, das für die Bekämpfung oppositioneller Tätigkeiten zuständig war. Im gegebenen Augenblick bedeutete dies die Bekämpfung „zionistischer Tätigkeiten“.
11
Unter „schwarzem Kreuz“ ist das Kreuz des Deutschen Ritterordens zu verstehen.
12
Das Interview ist abgedruckt in Piotr Osęka, Syjoniści, inspiratorzy, wichrzyciele. Obraz wroga
w propagandzie marca 1968 (Zionisten, Inspiratoren, Aufwiegler. Das Feindbild in der Propaganda des März 1968), S. 111-114, hier S. 112. Die antikommunistische Opposition nannte ihn den
Dr. Globke Volkspolens (siehe Roman Zimand, „Piołuń i popiół /Czy Polacy i Żydzi wzajem się
nienawidzą?/ [Wermut und Asche. Hassen sich die Polen und Juden gegenseitig?], Biblioteka Kultury Niezależnej, Warszawa 1987 /erschienen im so genannten zweiten Umlauf, d. h. im polnischen Samizdat/, S. 5)
13
Jerzy Eisler, Marzec 1968, S. 159 (In Breslau unterschrieben 1098 Personen).
14
Abgedruckt in Wydarzenia marcowe (Die Märzereignisse), Paris 1968, S. 139. Die Flugblätter
waren – heute erwiesenermaßen – das Werk des Sicherheitsdienstes. Viele erinnerten in ihrem
Sprachduktus und durch gewisse Losungen an antisemitische Losungen aus der Vorkriegszeit (vgl.
dazu Dariusz Stola, Kampania antysyjonistyczna w Polsce 1967–1968, S. 82f.).
15
Es gab allerdings schon Präzedenzfälle: die „Antikosmopolitismus-Kampagne“ in der Sowjetunion Ende der vierziger und zu Beginn der fünfziger Jahre, die im Prinzip gegen Juden gerichtet
war, der Slánský-Prozess und die so genannte Ärzteverschwörung, mit der Stalin kurz vor seinem
Tod die Verfolgung der Juden im Lande einzuleiten gedachte.
16
Nach Stola, Kampania antysyjonistyczna w Polsce 1967-1968, S. 319f.
17
Gabriel Tempkin, „Exodus 1968 “, in Lewy Nurt, 1970, Nr.3, S. 42.
18
Ida Kamińska, Moje życie, mój teatr (Mein Leben, mein Theater), Warszawa 1995, S. 254.
19
Joanna Wiszniewicz sprach 1989 mit fünf Juden bzw. Jüdinnen in Israel, die Polen 1968 verlassen hatten. Nur eine Person wusste vor den Märzereignissen von ihrer Herkunft. Die Gespräche
hat die Autorin unter dem Titel Z Polski do Izraela (Von Polen nach Israel) 1992 in Warschau
veröffentlicht.
20
Vgl. dazu Karol Sauerland: Polen und Juden zwischen 1939 und 1968. Jedwabne und die Folgen, Berlin, Wien 2004.
21
Die Deutschen hatten die lokale Selbstverwaltung im Wesen so belassen (mit Ausnahme der
jüdischen), wie sie in der Zwischenkriegszeit arbeitete.
22
So verhaftete der NKWD am 17. Juli 1944 den Führungsstab der AK von Wilna. Unter den
Verhafteten befanden sich der Kommandant des Südostbezirks, Oberst Aleksander Krzyżanowski,
2
70
Karol Sauerland
und der Delegierte der Londoner Exilregierung, Stefan Federowicz. Vom 26. bis 27. Juli 1944
wurde Lemberg von den AK- und sowjetischen Truppen befreit, und noch am gleichen Tag
wurden der Militärstab unter der Führung von Władysław Filipkowski sowie der Delegierte der
Londoner Exilregierung, Adam Ostrowski, verhaftet.
23
Vgl. Protokoły posiedzeń Biura Politycznego KC PZPR 1944-1945. Dokumenty do dziejów
PRL [Protokolle der Sitzungen des Politbüros des ZK der VPAP. Dokumente zur Geschichte der
Volksrepublik Polen], H. 2, Warszawa 1992, S. 28.
24
Immerhin gelangen bis in die fünfziger Jahre hinein einzelne Aktionen gegen das kommunistische Regime (Vgl. hierzu Anna Bikont, My z Jedwabnego, S. 127f.)
25
Die hinterlistige Verhaftung der 16 Anführer des so genannten Untergrunds, d. h. der eigentlichen Vertretung der polnischen Gesellschaft, erfolgte in der Nacht vom 27. zum 28. März 1945
auf polnischem Boden. Die Verhafteten wurden sofort in die Lubjanka transportiert. Der Moskauer
Prozess fand in der zweiten Junihälfte statt. Die sowjetischen Machthaber demonstrierten damit,
daß sie nicht bereit waren, die in Polen vorgefundene politische Ordnung anzuerkennen.
Gleichzeitig verhandelten sie mit einer Delegation aus Lublin (neben den Kommunisten gehörten
ihr Stanisław Mikołajczyk, der Sozialist Zygmunt Żuławski und Władysław Kiernik von der
Bauernpartei an) über die Zusammensetzung der neuen Regierung. Die Verhandlungen wurden am
28.6.1945 – nach der Urteilsverkündigung – beendet. In der neuen Regierung sollten die
Kommunisten siebzehn, die Opposition vier Ministerposten (Landwirtschaft, Verwaltung,
Volksbildung, Gesundheitswesen) erhalten.
Yvonne Pörzgen
Vielfalt ohne Einheit: Identitätskonstruktionen in Ex-Jugoslawien
1. Identität und Literatur
Individuelle und kollektive Identität stützen sich auf Erinnerungen. Erst das
menschliche Gedächtnis ermöglicht die Feststellung, dass etwas Früheres mit Gegenwärtigem identisch, dessen Identität also gewährleistet ist 1 . Kulturgeschichtlich
werden Erinnerungen erst mündlich überliefert und anschließend in Form etwa von
Bildern oder schriftlichen Texten festgehalten. Bis sie in die nationalen Großerzählungen eingehen, werden Erinnerungen ständig wiederholt und vereinfacht, jedoch
nicht unbedingt kritisch reflektiert. „‚Richtig‘ sind sie nur im Sinne ihrer Kommunizierbarkeit und sozialen Akzeptanz in der jeweiligen Umgebung. Mit dem Erinnerten selbst haben sie mitunter wenig zu tun. Die Macht der Bilder und ‚Erinnerungen‘ ist so überwältigend, dass man ihnen mit empirisch fundierten Gegendarstellungen schwer beikommt.“ 2
Viele heutige Autoren 3 schließen sich häufig nicht unreflektiert den gesellschaftlichen Identitätsvorgaben an, sondern folgen einem individuellen Zugang zum überlieferten kollektiven Gedächtnis und der darauf basierenden Identität. Sie reflektieren Erinnerungen und Identitätskonstrukte und gleichen sie mit denen anderer ab.
Der Herausgeber Richard Swartz hat Texte solcher südosteuropäischer Autoren in
der Anthologie Der andere nebenan versammelt, die 2007 zeitgleich in Deutschland, Albanien, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Kroatien, Mazedonien, Montenegro, Serbien und Slowenien erschienen ist. Der Untertitel „Eine Anthologie aus
dem Südosten Europas“ weckt die Erwartung, dass die Texte, die Swartz ausgewählt hat, eine gemeinsame, südosteuropäische Identität zum Ausdruck bringen.
Ob dies der Fall ist und wie Identität in den Erzählungen und Essays konstruiert
wird, soll im Folgenden untersucht werden. Der Schwerpunkt der Untersuchung
liegt auf den ex-jugoslawischen Ländern und hierbei auf Bosnien-Herzegowina,
Kroatien und Serbien. Die dortigen Ausgaben der Anthologie werden zur Analyse
mit herangezogen. 4
Swartz merkt im Nachwort an, es handle sich um eine „rein literarische“ Arbeit
ohne politische Ansprüche. Da drängt sich die Frage auf, was „rein literarisch“ sein
soll. In vielen Arbeiten wird die Rolle der Literaten und weiterer Intellektueller in
der öffentlichen Diskussion und dem Prozess der Meinungsbildung betont. Pandeli
Pani etwa beschreibt, dass Ndre Mjedjas im 19. Jahrhundert in der Bewegung der
Albanischen Wiedergeburt entwickelte Vorstellung vom mutigen, kampfbereiten
albanischen Mann und der ebenso einsatzbereiten, aufopferungsvollen albanischen
72
Yvonne Pörzgen
Frau eine „literarische Fantasie“ 5 sei, die aber noch heute als historische Tatsache
in Geschichtsbüchern weitergegeben werde. Die Grenzen zwischen Literatur und
Geschichtsschreibung sind nicht immer so streng und undurchlässig, wie man meinen könnte. Der Einfluss der Literatur auf die nie neutral-objektive, sondern immer
auch politisch aufgeladene Geschichte lässt Zweifel an der Möglichkeit eines „rein
literarischen“ Verfahrens aufkommen.
Ein weiterer Aspekt, der die Bedeutung von Literatur für Politik und Geschichtsschreibung belegt, ist die Stellung und politische Wertung der (Literatur-)Sprache.
Die Schaffung einer einheitlichen Literatursprache und die Kanonisierung der Literatur gehörten zu den ersten Projekten der Völker im österreich-ungarischen Imperium, die im 19. Jahrhundert die nationale Idee für sich entdeckten. In der Folge
reformierten Vuk Karadžić das Serbische und Ljudevit Gaj das Kroatische; auf der
Wiener Konferenz von 1850 wurde gefordert, Serben und Kroaten als einheitliches
Volk anzusehen, das eine gemeinsame Literatur in einer gemeinsamen Sprache
brauche 6 . 150 Jahre später sieht der Koordinator im Balkan-Stabilitätspakt Erhard
Busek bei „Künstlern, Intellektuellen, Schriftstellern, Akademikern“ die Verantwortung für die Veränderungen in den ehemals kommunistischen Ländern vor
1989 7 . Angesichts dieser grundlegenden Bedeutung, die Sprache und Literatur für
die nationale Identitätsfindung in Südosteuropa haben, erscheint es sinnvoll, die
gegenwärtige Situation genauer zu untersuchen.
In den folgenden Abschnitten werden dazu die Texte von David Albahari, Vladimir
Arsenijević, Bora Ćosić, Beqё Cufaj, Dimitré Dinev, Slavenka Drakulić, Aleksandar Hemon, Drago Jančar, Miljenko Jergović, Fatos Kongoli, Maruša Krese,
Charles Simic, Saša Stanišić und Nenad Veličković herangezogen, die in Swartz‘
Anthologie erschienen sind. Bei den Autoren handelt es sich allesamt um renommierte Schriftsteller und Essayisten. Da nicht wenige von ihnen inzwischen im
Ausland leben, sind ihre Blicke sowohl von innen als auch von außen auf die Identitätskonstruktionen im postjugoslawischen Raum gerichtet. Dennoch ergibt sich in
der Zusammenschau ein relativ einheitliches Bild, das jedoch kaum zukunftsweisende Perspektiven aufzuzeigen vermag. Zum historischen Vergleich wird weiterhin Ivo Andrić berücksichtigt, da sich an seinem Werk wie an seiner Person die
Bruchlinien jugoslawischer und post-jugoslawischer Identitäten erkennen lassen.
2. Persönliche und kollektive Identität
Die Autoren vollziehen gewissermaßen die kulturtheoretische Entwicklungslinie 8
nach und untersuchen das Phänomen der Gegenüberstellung des Selbst und des
Anderen erst im individuellen Einzelleben, bevor sie Gruppen und schließlich
Ethnien, Völker, Nationen in Betracht ziehen. Aleksandar Hemon (geb. 1964, Sarajevo/Bosnien-Herzegowina; heutiger Wohnort: Chicago) beschwört in „AndersFragen“ 9 die Erinnerung an den ersten Moment herauf, in dem er sich selbst von
Vielfalt ohne Einheit: Identitätskonstruktionen in Ex-Jugoslawien
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außen betrachten konnte; er erinnert sich an die Eifersucht, die er als Vierjähriger
auf seine neugeborene Schwester Kristina empfand, „dieses rußhäutige Nicht-Ich,
das andere“ 10 . Ab dem Moment, in dem sie in sein Leben tritt, ist die Existenz einer unabhängigen persönlichen Identität für Hemon unmöglich: „Niemals mehr
sollte mein Ich ein souveränes Land sein, das frei von der Präsenz anderer wäre.“ 11
Er warnt zugleich vor der Gefahr, die der Anschluss an eine wie auch immer geartete Gruppe mit sich bringe: „Doch in dem Moment, wo du auf Unterschiede aufmerksam machst, gerätst du, egal wie alt du bist, in ein bereits existierendes System
von Unterschieden, ein Netzwerk von Identitäten, die alle letzten Endes willkürlich
sind, mit deinen Absichten nichts zu tun haben und auch nicht von deiner Entscheidung abhängen.“ 12 Zugleich nimmt er die Übernahme einer kollektiven Identität als
notwendig wahr. An seinen Eltern, die nach Kanada auswandern, beobachtet Hemon, wie das Bedürfnis nach Selbstlegitimierung nur durch die Konstruktion einer
kollektiven Identität erfüllt werden könne, was er in der Sozialisation der Eltern
begründet sieht, deren Mentalität aus der alten Heimat stammt, „wo die vorherrschenden Ideologien der letzten Jahrhunderte alle auf einer kollektiven Basis gründeten und die einzige Möglichkeit, legitim zu sein, die Zugehörigkeit zu einer identifizierbaren, sich aus sich selbst heraus legitimierenden Gruppe bedeutete“. 13 Diese Notwendigkeit der Abgrenzung setzt er in Verbindung zum „neoliberalen Multikulti-Diskurs“: „Im neoliberalen Diskurs ist jede Kultur gleich legitim, solange sie
fähig zur Selbstlegitimation ist. Unterschiede sind unbedingt gefragt für Legitimität: Solange wir wissen, wer wir sind und wer wir nicht sind, sind wir so legitim,
wie sie es sind.“ 14
Bora Ćosić (geb. 1932, Zagreb/Kroatien; heutiger Wohnort: Berlin) steht in seinem
Essay „Die anderen“ ebenfalls jedem Zusammenschluss kritisch gegenüber und
propagiert die Rückbesinnung auf das Individuum : „Denn die Welt ist verrückt,
weil die Millionen von Ideen, die in so vielen Köpfen auf dem ganzen Planeten
wimmeln, nur eine allgemeine Schizophrenie produzieren können, kein System,
kein stimmiges und einheitliches.“ 15
Miljenko Jergović (geb. 1966, Sarajevo/Bosnien-Herzegowina; heutige Wohnorte:
Zagreb und Sarajevo) betont in „Dort, wo andere Menschen leben“ die Kraft von
ethnisch und national unabhängigen Gruppenbildungen anhand der Beziehung seines Urgroßvaters zu dessen Schwiegersöhnen: „Ein deutscher Eisenbahner bildete
mit einem kroatischen Eisenbahner eine Bruderschaft, die sich untereinander besser
verstand, als es die Menschen innerhalb eines der Völker taten.“ 16 Jergović verweist somit auf das lange Fortbestehen von Identifikationsformen, die der nationalen vorausgingen. 17
74
Yvonne Pörzgen
3. Jugoslawische Identität
Das jugoslawische Projekt, eine einheitliche nationale Identität zu schaffen, muss
nach dem Zerfall des gemeinsamen Staates und den Kriegen der 1990er Jahre als
gescheitert angesehen werden.
Nach dem Zweiten Weltkrieg galt Jugoslawien als Modell, was das Zusammenleben verschiedener Nationalitäten betraf. 18 Die Diskrepanz zwischen diesbezüglicher Außen- und Innensicht lässt sich heute zum Beispiel am Fall Kosovo erkennen. Von außen erscheint das Zusammenleben von Albanern und Serben als historisches Charakteristikum. Serben und Albaner selbst betrachten dagegen den jeweils anderen als Eindringling. 19
Für die Idee einer gemeinsamen Identität hatte der Literaturnobelpreisträger Ivo
Andrić (1892-1975) gestanden, der in seiner Herkunft und Biographie die Hauptkomponenten des Staatskonstrukts vereinte. Geboren wurde er als Sohn kroatischer
Eltern im bosnischen Travnik. Er studierte in Zagreb, Wien, Krakau und Graz und
erhielt hierfür ein Stipendium der Kroatischen Gesellschaft für Kultur und Bildung.
Im 1918 proklamierten Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, das 1929 in
Königreich Jugoslawien umbenannt wurde, arbeitete er im Außenministerium, zwischen 1920 und 1941 wurde er in Konsulate im Vatikan, in Bukarest, Triest, Graz,
Paris, Madrid, Brüssel, Genf und zuletzt Berlin entsandt. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er Vorsitzender des Jugoslawischen Schriftstellerverbandes und Abgeordneter des Jugoslawischen Parlaments. 1954 unterschrieb er das Abkommen von
Novi Sad, das das Serbokroatische oder Kroatoserbische zur einheitlichen Schriftsprache Jugoslawiens bestimmte. 1961 wurde ihm der Literaturnobelpreis verliehen. 20
Andrić sah sich als jugoslawischen Autor, der dem multiethnischen Staatsgedanken
anhing, der aber auch das problematische Zusammenleben verschiedener Kulturen
in seinen Werken behandelte. Nach den Balkankriegen der neunziger Jahre wird
Andrić von serbischer, bosnischer wie auch kroatischer Seite demontiert. Einer der
Vorwürfe lautet, er stelle in seinen Werken Bosnier grundsätzlich als dumm und
kriminell-verschlagen dar. Dieser Vorwurf ist nicht ganz unberechtigt; 1924
schreibt Andrić in seiner Dissertation „Die Entwicklung des geistigen Lebens in
Bosnien unter der Einwirkung der türkischen Herrschaft“, mit der er in Graz promoviert wurde, dem türkischen Einfluss, der in Bosnien besonders stark war, überwiegend negative Auswirkungen zu – er schreibt von der Eroberung durch ein „asiatisches Kriegervolk“ […], dessen soziale Einrichtungen und Sitten die Negation
jedweder christlichen Kultur bedeuten und dessen Religion […] das geistige Leben
des Landes unterbunden, entstellt und zu einer Ausnahmeerscheinung gestaltet
hat“. 21
Vielfalt ohne Einheit: Identitätskonstruktionen in Ex-Jugoslawien
75
1946 erschien die Erzählung „Brief aus dem Jahre 1920“, in welcher der jüdische
Briefschreiber Max Löwenfeld die Möglichkeit einer gemeinsamen jugoslawischen
Identität negiert:
Wer in Sarajevo die Nacht durchwacht, kann die Stimmen der Nacht von Sarajevo hören. Schwer und sicher schlägt die Uhr an der katholischen Kathedrale: zwei nach Mitternacht. Es vergeht mehr als eine Minute (ich habe
genau 75 Sekunden gezählt), und erst dann meldet sich, etwas schwächer,
aber mit einem durchdringenden Laut die Stimme von der orthodoxen Kirche, die nun auch ihre zwei Stunden schlägt. Etwas später schlägt mit einer
heiseren und fernen Stimme die Uhr am Turm der Beg-Moschee, sie schlägt
elf Uhr, elf gespenstisch türkische Stunden, die nach einer seltsamen Zeitrechnung ferner, fremder Gegenden dieser Welt festgelegt worden sind. Die
Juden haben keine Uhr, die schlägt, und Gott allein weiß, wie spät es bei ihnen ist, wie spät nach der Zeitrechnung der Sepharden und nach derjenigen
der Aschkenasen. 22
Der namenlose Ich-Erzähler und Briefempfänger, der, anders als Löwenfeld, in
Bosnien bleibt, beschreibt Löwenfelds Jugend als die eines Außenseiters. Löwenfeld sieht nach dem Ersten Weltkrieg keine Möglichkeit für einen einheitlichen jugoslawischen Staat und bezeichnet Bosnien sogar als Land des Hasses: „Eure geliebten Heiligtümer befinden sich regelmäßig hinter dreihundert Flüssen und Bergen, und die Objekte Eures Abscheus und Eures Hasses sind gleich neben Euch, in
derselben Stadt, oft nur auf der anderen Seite der Hofmauer.“ 23 Radovan Karadžić,
in den Balkankriegen der 1990er Jahre Anführer der bosnischen Serben, verteilte
diese Erzählung an ausländische Diplomaten, um mit ihr die „ethnischen Säuberungen“, die Vertreibungen und das Morden in Bosnien zu begründen und zu legitimieren. 24 Er übersah dabei, dass sich der Ich-Erzähler nicht Löwenfelds negativen
Ansichten anschließt, sondern ihn als instabilen Menschen beschreibt und somit die
Aussagen des Briefes zu denen eines unzuverlässigen Erzählers macht.
Das Nobelpreiskomitee verlieh Andrić die Auszeichnung „für die epische Kraft,
mit der er Motive und Schicksale aus der Geschichte seines Landes gestaltet“. Heute stellt sich die Frage, welches Land das heute ist. In Serbien stößt man sich an
Andrićs Zugehörigkeit zur katholischen Kirche. In Kroatien wird sein Einsatz für
eine einheitliche serbokroatische Sprache und den Staat Jugoslawien kritisiert.
Bosnische Muslime wiederum behaupten, Andrićs Werke propagierten den Hass
auf den Islam. 25
Andrić schreibt über ein Land, in dem die Vielfalt alles bestimmend war. Diese
Vielfalt und ihre Selbstverständlichkeit, die in der Retrospektive nach den ethnischen Auseinandersetzungen seit Beginn der 1990er Jahre unwahrscheinlich wirkt,
taucht auch in zeitgenössischen Texten immer wieder auf. Slavenka Drakulić (geb.
76
Yvonne Pörzgen
1949, Rijeka/Kroatien; heutige Wohnorte: Wien, Stockholm, Sovinjak) lässt in einem der „Drei Monologe über die anderen“ den Kroaten Josif P. sagen, der sich
1991 bei Ausbruch des Kroatienkriegs als 17-Jähriger freiwillig als Soldat gemeldet hat: „Es kam mir aber schon ziemlich komisch vor, allen kam es komisch vor…
denn wir sind ja zusammen mit den Serben aufgewachsen, wir sind auch zusammen
in die Schule gegangen. Ehrlich gesagt, wussten wir überhaupt nicht, wer wer ist,
und es war uns eigentlich auch egal.“ 26
In Aleksandar Hemons Erinnerung gab es durchaus Unterscheidungen, die aber
nicht an der Grenze von Ethnien verliefen, sondern durch die Zugehörigkeit der
Kinder und Jugendlichen zu einer bestimmten Clique, einer „raja“, bestimmt wurden:
Ja, wir waren alle Jugoslawen und Pioniere, und wir alle liebten Tito und
unser Land, aber dafür wäre ich nicht in den Krieg gezogen und hätte mir
blaue Flecke geholt, wie ich es für meine raja tat. Alternative Identitäten,
wie die ethnische Zugehörigkeit eines jeden von uns, spielten überhaupt keine Rolle. Im Höchstfall wussten wir um die jeweilige Ethnizität der anderen,
aber das gehörte für uns zu den altmodischen Sitten und Gebräuchen unserer Großeltern und hatte mit unserem Alltag nicht im Entferntesten zu tun
[…]. 27
Der geradezu idyllischen Einschätzung der Vorkriegssituation von Drakulićs
Kriegsfreiwilligem widerspricht Beqë Cufaj (geb. 1970, Dečani bzw.
Deçan/Kosovo; heutiger Wohnort: bei Stuttgart), der von Spannungen zwischen
jugoslawischen und nationalen Identitätsvorstellungen bereits zu Titos Zeiten
spricht. Sein Vater befürwortete einerseits das jugoslawische System, „träumte aber
zugleich auch von einem anderen albanischen Leben“ 28 . Der Ich-Erzähler in Cufajs
Erzählung „Der ewige Sonntag“ erinnert sich an seine Kindheit in Jugoslawien und
die wachsende Skepsis der Menschen gegenüber den propagierten sozialistischen
Ideen: „Ich war in einem Land aufgewachsen, in dem unablässig die ‚Brüderlichkeit und Einigkeit‘ der Nationen und Nationalitäten, der Völker und Bevölkerungsgruppen, des Kapitalismus und des Sozialismus beschworen wurde. Nur nahm es
keiner mehr ernst. Auch mein Vater nicht.“ 29 Gerade dieser Verlust des Glaubens
an das Konzept einer jugoslawischen Nation und einer jugoslawischen Identität ist
laut Andrew Baruch Wachtel für das blutige Auseinanderbrechen des jugoslawischen Staates verantwortlich: “It was […] the successful challenge to any supranational Yugoslav vision by particularist national ideals that drove the country to destruction and led to the rise of figures such as Milošević and Tudjman, rather than
the other way round […].” 30
Für Maruša Krese (geb. 1947, Ljubljana/Slowenien; heutiger Wohnort: Berlin) ist
Jugoslawien aus der Sicht der heutigen „sorgenfreien“ Jugend nur noch „etwas
Vielfalt ohne Einheit: Identitätskonstruktionen in Ex-Jugoslawien
77
Komisches, Düsteres und Gott sei Dank, dass es schon in ferner Vergangenheit zerfallen ist“ 31 .
4. Europäische Identität
Versuche wie der des Bildhauers Ivan Meštrović (1883-1962), das kulturelle Leben
der slavischen Ethnien 32 an mitteleuropäische Verfahren heranzuführen, waren im
Zwischenkriegsjugoslawien von der serbischen Öffentlichkeit sehr kritisch beäugt
worden: “Meštrović’s European classicism modified by contemporary central European technique proved incomprehensible and unacceptable to large numbers of
Serbs. The only art they were willing to accept as truly Yugoslav was one built in
all respects on their own traditions […].” 33 Wie damals ist auch heute Bekenntnis
zu einer europäischen Identität ein problematischer Themenkomplex, den Autoren
aufgreifen.
Das Projekt Europa wird weitgehend von der Europäischen Union monopolisiert.
Slowenien wurde 2004 als erste ex-jugoslawische Republik in die EU aufgenommen. Bulgarien folgte 2007. Dem Beitritt der Republik Kroatien, mit der die Beitrittsverhandlungen 2005 begonnen wurden, steht noch die endgültige Lösung von
Grenzstreitigkeiten mit Slowenien im Wege, die aber wohl in absehbarer Zeit erfolgen wird. Serbien hat 2009 den Beitrittsantrag eingereicht. Die Ehemalige Jugoslawische Republik Makedonien strebt ebenfalls danach, muss sich aber mit dem
Nachbarn Griechenland über den Staatsnamen und das Anrecht auf nationale Symbole und Symbolfiguren einig werden, bevor an EU-Mitgliedschaft zu denken ist. 34
In bosnischen Städten ist das EU-Banner, der gelbe Sternenkreis auf blauem Grund,
stark präsent. Die Europäizität der eigenen Identität wird in sämtlichen Staaten herausgestellt. Bei der Rede von der Rückkehr nach Europa bleibt allerdings unklar,
was die europäische Identität ausmacht, wie Pani auf Albanien bezogen feststellt.
Viele Politiker und Intellektuelle leiteten aus Geschichte, Geographie, Sprache und
der „europäischen Identität“ der Albaner den geschichtlichen Anspruch ab, als Mitglied der europäischen Völkerfamilie anerkannt zu werden, wozu die Metapher der
Rückkehr nach Europa verwendet werde:
„Rückkehr“ aber nach welchem Europa? Im Kommunismus war die Nation
immer an Feinde gebunden und Albanien verfolgte eine Politik der extremen
Isolation sowohl gegenüber dem Westen als auch dem Osten. Der Kampf
zwischen dem imaginären „Wir“ und dem symbolischen „Sie“, die sozial
nicht zusammenleben können, war nicht nur Leitmotiv der Ideologie, sondern auch des künstlerischen und literarischen Schaffens. 35
Guibernau 36 sieht den Wunsch nach europäischer Anerkennung als Streben nach
Teilhabe am Wirtschaftsraum und der politischen Institution der EU. Die Autoren
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Yvonne Pörzgen
in Swartz‘ Anthologie greifen dagegen Vorstellungen wieder auf, die weit vor der
Etablierung der Europäischen Union wirksam waren.
Drago Jančar (geb. 1948,Maribor/Slowenien; heutiger Wohnort: Ljubljana) erinnert
in „Kino Volta“ an ein Projekt mit europäischen Dimensionen: 1909 beschlossen in
Triest einige Kinounternehmer, die vor Ort, aber auch in Bukarest und Slowenien
tätig waren, zusammen mit dem damaligen Englischlehrer an der Sprachschule
Berlitz in Triest, James Joyce, im irischen Dublin ein Kino zu eröffnen. Dass das
Kino nach wenigen Monaten aus finanziellen Gründen schon 1910 den Betrieb
wieder einstellen musste, bleibt für Jančar dabei nebensächlich. Entscheidend ist
für ihn, mit welcher Selbstverständlichkeit hier politische, geographische und kulturelle Grenzen überwunden wurden:
Offenbar wurden diese Menschen dabei von keinerlei Zollschranken, steuerlichen Einschränkungen, staatlichen Sondervorschriften, nationalen oder ideologischen Vorurteilen gestört, sondern durch die Freude an der neuen
Kunstform miteinander verbunden […] und dabei verstanden sie den europäischen Raum durchaus selbstverständlich als einen offenen Schauplatz, an
dem man sich, egal ob in Triest, Bukarest oder Dublin, gleichermaßen zu
Hause fühlen konnte. 37
Jančar hebt hervor, wie angesichts der einigenden Idee sämtliche Unterschiede irrelevant waren und unterscheidet die damalige Einstellung von den heutigen Ideen
von Multikulturalität und Respekt vor dem Anderssein und Minderheiten, weil damals solche Hinweise zumindest in Kreisen, die sich für Projekte wie das beschriebene interessierten, nicht notwendig waren: „Das Anderssein, die sprachliche, nationale, kulturelle, aber auch europäische Identität mit ihrem Waren- und Ideentransfer und mit ihr das, was wir heute ‚Multikulturalität’ nennen, war Anfang des
zwanzigsten Jahrhunderts etwas so Selbstverständliches, dass es für ihre Selbstverständlichkeit keiner besonderen Bezeichnung bedurfte.“ 38
Die Geschichte seiner Familie, die Miljenko Jergović in „Dort, wo andere Menschen leben“ nacherzählt, ist ebenfalls von europäischem Ausmaß. Sein Urgroßvater Karlo war Donauschwabe und wurde im heutigen Rumänien geboren. Seine
Ausbildung als Eisenbahnbeamter hatte er in Wien und Budapest erhalten. Eine
seiner Töchter heiratete den Slowenen Franjo. Ihr Sohn Mladen, Jergovićs Onkel,
wurde 1942 in die deutsche Wehrmacht einberufen und fiel wenige Tage, bevor
seine Einheit geschlossen zu den Partisanen überlief. Karlo sollte nach dem Krieg
nach Deutschland deportiert werden. Seine serbischen Nachbarn verhinderten dies
jedoch, weil Karlo sie im Krieg in seinem Haus vor den kroatischen UstašaSoldaten versteckt hatte. Aus der Nationalitätenmischung entwickelte die Familie
aber keine europäische Identität und Jergović konstruiert keine solche. Er zieht dar-
Vielfalt ohne Einheit: Identitätskonstruktionen in Ex-Jugoslawien
79
aus individuelle Schlüsse für seine persönliche Identität und das Konzept von Heimat (s. u.).
5. Neue ethnisch-nationale Identität
Die nationale Zugehörigkeit ist eine junge Kategorie aus dem 18. Jahrhundert, die
sich nicht unbedingt auf Fakten wie Sprache oder Tradition stützen muss sie ist ein
Konstrukt, eine “imagined community”, wie es Benedict Anderson formuliert –
eine Gemeinschaft, die sich mit Eric Hobsbawm auf “invented traditions” stützt. Es
sind die Eliten, die festlegen, was eine Nation ist. Schriftsteller spielten eine wichtige Rolle beim der Erstarkung des serbischen Nationalismus in den 1980er Jahren,
wie Roland Schönfeld 39 anführt, ohne Namen zu nennen. In anderen Fällen, wie
dem von Andrić, werden Texte im Nachhinein zu Propagandazwecken herangezogen (s. o). Charles Simic (geb. 1938, Belgrad/Serbien; heutiger Wohnort: New
Hampshire) spitzt in „Odrod“ bezogen auf das Milošević-Regime zu: „Die Rolle
der Intellektuellen besteht darin, Ausreden für die Mörder von Frauen und Kindern
zu erfinden. Die Journalisten und Kommentatoren hatten die Aufgabe, Lügen zu
verbreiten und dann deren Wahrheit zu beweisen.“ 40 Es ist also aufschlussreich, die
Aussagen der Schriftsteller zur Frage von Ethnizität und Nationalität zu untersuchen.
Die Konstruktivität dieser Konzepte ist auf dem Balkan gut zu beobachten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die ethnisch-nationale Zugehörigkeit weiter Bevölkerungsteile noch unklar, die Nationsbildung war in vollem Gange. 41 Unmittelbar
vor und nach der Gründung des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen
war unter Intellektuellen die Vorstellung von einer einheitlichen südslawischen
Nationalität mit drei Stämmen vorherrschend. 42 In den 1930er Jahren verlor diese
Idee an Anhängerschaft, geriet aber nicht völlig in Vergessenheit. In Miljenko
Jergovićs Roman Dvori od oraha 43 (2003; Das Walnusshaus, 2008) schließt sich
etwa der Kroate Đovani Sikirić 1941 der Einheit des serbischen Četnik-Oberst
Dragoljub Mihajlović an, der an eine einheitliche jugoslawische Nation, bestehend
aus mehreren Stämmen, glaubt. 44
Im Laufe des Jahrhunderts vermehrten sich die Zugehörigkeitsmöglichkeiten zudem durch die Anerkennung weiterer Gruppen, etwa als Tito den bosnischen Muslimen den Status einer eigenen Nationalität verlieh. Nebojša Čović, von 2000 bis
2001 stellvertretender serbischer Ministerpräsident und seit 1997 Präsident der Sozialdemokratischen Partei, gibt denn auch Tito die Schuld für die „prekäre BalkanMischung“; Tito sei ein Manipulator gewesen, der Streit zwischen den Nationen
gestiftet habe, um selbst die Rolle des Versöhners übernehmen zu können. 45
Nach den Jugoslawienkriegen am Ende des 20. Jahrhunderts ist die Frage nach ethnisch-nationaler Zugehörigkeit oft nicht eindeutig zu beantworten. Dies zeigt sich
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Yvonne Pörzgen
bereits an den biographischen Hintergründen der Autoren. Hinter Saša Stanišićs
Namen steht in der serbischen Ausgabe der Anthologie in Klammern „Bosna“. In
der bosnischen Ausgabe wird nur vermerkt, dass seine Erzählung „Da više ne može
doći proljeće“ (Dass kein Frühling kommen kann) aus dem Deutschen übersetzt
wurde. Die kroatische Ausgabe orientiert sich am ehesten an der deutschen und
bietet in einer Kurzbiographie die Information, dass Stanišić 1978 in Višegrad
(Bosnien-Herzegowina) geboren wurde. Mit 14 Jahren verließ er Bosnien, er lebt in
Deutschland und schreibt auf Deutsch.
Miljenko Jergović weigert sich, eine eindeutige Antwort auf die Frage eines Übersetzers zu geben, ob er, der in Sarajevo geboren wurde und aufwuchs und 1993
nach Kroatien ging, wo er heute lebt und schreibt, denn nun Kroatisch oder Bosnisch schreibe. Der Übersetzer solle als Originalsprache angeben, was er für richtig
halte. 46 In „Dort, wo andere Menschen leben“ hadert er mit dem Konzept des Vaterlandes. Erst sagt er, er habe keines. Als Definition dessen, was Heimat nicht ist,
führt er eine Aussage seines Urgroßvaters Karlo an: „Obwohl er Deutscher war,
betrachtete er Deutschland als ein fremdes Land. Wenn er dazu befragt wurde,
antwortete er ganz ruhig, dass er dort nie leben könnte, denn dort seien ‚andere
Menschen‘.“ 47 Jergović kommt zu dem Schluss, dass seine eigene Identität „größtenteils aus dem zusammengesetzt ist, was ich nicht bin. Und viel weniger daraus,
was ich bin“ 48 . Sein Kroatentum sei bosnisch, ein Kroatentum aus dem Koffer. Die
bosnische Ausgabe der Anthologie vermerkt den Essay übrigens als „izvorni tekst“
(Originaltext), so wie alle bosnisch-kroatisch-serbisch geschriebenen Beiträge. In
der serbischen Ausgabe steht hinter Jergovićs Namen in Klammern „Hrvatska“
(Kroatien). Die serbische Ausgabe erinnert darin an Anthologien aus der Zeit des
ersten Jugoslawien, z.B. an das Lesebuch für die dritte Klasse der Mittelschule von
1928, in dem serbische, kroatische und slowenische Literatur thematisch statt national arrangiert wurde und die Herkunftsregion statt der ethnischen Zugehörigkeit
der Autoren vermerkt wurde, “thereby allowing the compiler to avoid the whole
question of whether a given text belongs to Serbian or Croatian literature” 49 .
So wenig wie Jergović will sich der kanadische Politikprofessor festlegen, über den
Aleksandar Hemon in einer Zeitung gelesen hat. Der Professor war in Jugoslawien
geboren worden und mit seinen Eltern nach Kanada emigriert. Im Bosnienkrieg
bereist er das Land und wird an einem Kontrollpunkt von Soldaten gefragt: „Was
bist du eigentlich?“ Er antwortet: „Professor“, womit die Soldaten aber nicht zufrieden sind. „Um vor den in ethnischer Hinsicht eindeutig definierbaren Männern
am Checkpoint als eine menschliche Einheit bestehen zu können, musste er eine
klar konturierte, aus sich selbst heraus verständliche ethnische Identifikation haben;
die ethnische Abstammung des Professors war die einzige epistemologisch und
ontologisch relevante Information.“ 50
Vielfalt ohne Einheit: Identitätskonstruktionen in Ex-Jugoslawien
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6. Gemeinsames im Kollektiven
In den Aussagen zur kollektiven Identität, seien sie nun auf ethnische Gruppen,
nationale Zugehörigkeit oder ganz Europa bezogen, lassen sich zahlreiche Gemeinsamkeiten feststellen. Auffällig ist, dass diese untereinander häufig widersprüchlich
sind und sich eben keine einheitliche Identität herauskristallisiert.
Das Anderssein
Nenad Veličković (geb. 1962, Sarajevo/Bosnien-Herzegowina; heutiger Wohnort:
Sarajevo) gestaltet seinen Essay „Bedel“ als Antwortbrief auf Swartz’ Anfrage,
einen Beitrag für die Anthologie zu verfassen und darin der Frage nachzugehen,
“Why this strife and struggle, why conflict, why the neighbour as an adversary and
not as a partner? What is the relation to the ›other‹?” 51 Das Gefühl des Andersseins scheint eine Grunderfahrung zu sein, die allen in Der andere nebenan vertretenen Autoren über die Themenstellung des Sammelbandes hinaus gemeinsam ist.
Nun ist die Abgrenzung von anderen eine der Grundvoraussetzungen von Identität
schlechthin und somit auch von kollektiver Identität jeder Art. 52 Es ist aber doch
auffallend, dass in der Anthologie statt der Betonung dessen, was eine Nation oder
ethnische Gruppe verbindet, fast ausschließlich auf das verwiesen wird, was sie von
ihren Nachbarn unterscheidet. Das Gleichgewicht von Inklusion und Exklusion ist
zugunsten der Exklusion verschoben. Neben der Situation in Südosteuropa ist eine
mögliche Erklärung, dass die meisten Autoren, deren Beiträge in Der andere nebenan versammelt sind, nicht mehr in ihren Geburtsländern leben. Simic emigrierte
bereits 1954; viele andere, wie Saša Stanišić, verließen während der Kriege der
1990er Jahre ihre Herkunftsländer und kehrten nicht zurück, ein biographisches
Element, das er mit vielen Flüchtlingen aus Ex-Jugoslawien teilt. Das Fremdsein ist
für sie zur doppelten Erfahrung geworden.
Am extremsten ist diese Erfahrung bei Bora Ćosić ausgeprägt. Er führt in „Die anderen“ aus, wie er als Kind durch den Umzug von Zagreb nach Belgrad aus den
gewohnten Kreisen gerissen wurde und sich mit dem Neuen abzufinden versuchte.
Hierbei war es vor allem der Sprachunterschied, der ihn irritierte. Erst differenziert
er Gruppen – Bettler, Studenten, neue Oberschicht –, bis er die individuelle Identität als das Entscheidende herausstellt: „Daran erinnere ich mich seit meinen frühesten Kindertagen, an einen Argwohn der anderen, den schon ein ganz junges Wesen
spürt. In den ersten Schulklassen fiel mir die Verschiedenheit der jungen Menschen
auf, jeder von ihnen war ein Kontinent für sich […].“ 53 Von dieser Vereinzelung
führt kein Weg mehr zu irgendeiner Form von kleinster Gemeinsamkeit. Das Problem dabei ist: „Von den anderen gibt es immer mehr als von mir.“ 54
82
Yvonne Pörzgen
Die Opferrolle
Die Geschichtsdarstellung wird aus politischen Gründen gerne politischideologisch gelenkt, wie Dubravka Stojanović es stellvertretend für serbische
Schulbücher aus dem Zeitraum 1983-1997 nachgewiesen hat. Die Lehrbücher negieren die Existenz jugoslawischer Bewegungen im 19. Jahrhundert, der gemeinsame Staat sei den Serben als künstliche Versailler Konstruktion aufgezwungen
worden. Zeitsprünge zu Ungunsten der Friedensphasen vermittelten den Eindruck
eines permanenten Konfliktzustands. Von Serbien ausgehende Kriege zur Vergrößerung des eigenen Staatsgebiets würden anderen Parteien zugeschrieben. Das Leiden anderer Völker werde vollständig ausgeblendet. 55 Diese Erfahrung macht auch
der albanische Schriftsteller Fatos Kongoli (geb. 1944, Elbasan/Albanien; heutiger
Wohnort: Tirana) selbst. Im Essay „Eine einfache Wahrheit“ beschreibt er seine
Verwunderung bei der Lektüre des Romans Freiheit oder Tod des griechischen
Schriftstellers Nikos Kazantzakis:
Auch die Albaner hatten Verbrechen an den Griechen begangen. Im Buch
wurden Freveltaten albanischer Soldaten des osmanischen Heeres geschildert. […] Trotzdem stand alles in grobem Widerspruch zu meinem Selbstverständnis, den Früchten meiner Bildung, zu allem, was ich als Kind und Jugendlicher in der Schule und später aus Büchern gelernt hatte. Dass Albanien und die Albaner Opfer par excellence waren, hatte man in meinen
Schädel eingemeißelt. […] Alle auf dem Balkan neigen dazu, nur die eine,
die wünschenswerte, für sie angenehme Seite zu sehen. Das, was man ihnen
zu sehen gibt. 56
Alle Völker des Balkans nähmen für sich die Rolle des Beschützers des Westens in
Anspruch und fühlten sich von der Geschichte ungerecht behandelt: „Überall das
gleiche Lied.“ 57
Die Opferrolle findet sich denn auch bei Autoren aus anderen Ländern. Vor allem
in Serbien hat sie lange Tradition im nationalen Selbstbild. Im mehrere Jahrhunderte lang mündlich überlieferten epischen Gesang Propast Carstva Srpskoga (Der
Sturz des serbischen Zarenreichs), den Vuk Karadžić aufgezeichnet und 1815 veröffentlicht hat, wird die serbische Niederlage gegen die Türken 1389 auf dem Amselfeld dadurch erklärt, dass Car Lazar statt des irdischen das himmlische Reich
gewählt habe, wozu er allerdings seine Soldaten opfern musste.
Der in Belgrad geborene Charles Simic, der sich selbst als amerikanischen Dichter
bezeichnet und sagt, er habe nie Heimweh gehabt, erinnert sich in seinem Text an
Diskussionen Erwachsener im Zweiten Weltkrieg.
Gelegentlich fing einer der Besucher an, die Serben zu verteidigen. Unsere
Geschichte handele von Ehre, heldenhaftem Opfer und endlosem Leid, mit
Vielfalt ohne Einheit: Identitätskonstruktionen in Ex-Jugoslawien
83
dem Europa gegen das Osmanische Reich verteidigt worden sei – und nie
habe man uns dafür gedankt. Leichtgläubig seien wir immer bereit, von den
Nachbarn besser zu denken, als sie es eigentlich verdienten. 58
Simic schloss sich später eher der Einstellung seiner Großmutter an: „wir haben so
gehandelt, weil wir eingebildete Narren mit einer aufgeblasenen Meinung von unserer historischen Bedeutsamkeit sind. Ein Haufen diebischer und unterbelichteter
Yokels, die unter den Türken am glücklichsten gewesen sind, als sie keinerlei Freiheiten und keinerlei Bildung besaßen und ihr ganzes Sinnen auf ein gebratenes
Spanferkel am Feiertag ging.“ 59
Vladimir Arsenijević (geb. 1965 in Pula/Kroatien; heutiger Wohnort: Belgrad) lässt
in seiner Erzählung „Wurzellosigkeit“ die serbische Schriftstellerin Marija
Pavlović in Berlin bei einer Lesung zum Thema “Serbia vs. Kosovo: No Acceptance/No Repentance” sagen, nicht nur die Albaner seien Opfer des MiloševićRegimes: “We are all victims.” 60 Das deutsche Publikum buht sie von der Bühne.
In der serbischen Tradition gründet sich der serbische Anspruch auf das Kosovo
darauf, dass sich die Serben hier 1389 für das Christentum aufgeopfert hätten,
weswegen das Kosovo heute für die meisten Serben ein symbolischer Ort sei, eine
Wahrnehmung, die nichts mit der komplexen Situation vor Ort selbst zu tun hat. 61
Die in Swartz‘ Anthologie versammelten Autoren kennen diese Traditionslinie und
brechen sie, indem sie herausstellen, dass die Opferrolle nicht allein für Serbien
abonniert ist.
Unverständnis des Krieges
Als prägende Ereignisse sind die Kriege der 1990er Jahre in zahlreichen Texten
präsent. Die Haltung der Autoren ist dabei einheitlich ablehnend. Im Umgang mit
den Kriegsereignissen ist Rat- und Hilflosigkeit bestimmend.
Slavenka Drakulić lässt den 32jährigen Josip P. einen der „Drei Monologe über die
anderen“ bestreiten und berichten, dass er sich als 17-Jähriger freiwillig gemeldet
hat, als in Slawonien der Krieg ausbrach. Er hat wie seine Kameraden nicht eingegriffen, als Ante dem einzigen Serben in ihrer ansonsten kroatischen Einheit, Marko, den Unterkiefer aus dem Gesicht riss. Ante war überzeugt, Marko habe seine
Eltern getötet. Josip weiß nicht, wie er mit diesem Erlebnis umgehen soll: „Von
unserer Gruppe haben nur drei überlebt. Wir treffen uns nur manchmal zufällig.
Wozu sollten wir uns auch treffen? Die Zeit vor dem Krieg ist vergessen, und der
Krieg…“ 62
Die Mutter der zehnjährigen Verica will im ersten Dialog den Krieg am liebsten
vergessen. Auf Videoaufnahmen des Srebrenica-Massakers wird ihr Mann als einer
84
Yvonne Pörzgen
der Täter erkannt und verhaftet. Er war Offizier in der Armee der Serbischen Autonomen Republik Krajina. Seit der Verhaftung spricht Verica nicht mehr. Sie reagiert so auf die Hilflosigkeit und das Schweigen der Mutter: „Aber ich kann Verica
nicht erklären, was sich jetzt geändert hat – so, dass ihr Vater… ich kann nicht
mehr darüber sprechen.“ 63
Einer der letzten Sätze in David Albaharis (geb. 1948,Péc/Serbien; seit 1994 in Kanada) Erzählung „Warum“ ist die Frage eines kroatischen Mädchens an den IchErzähler, einen etwas zurückgebliebenen serbischen Jugendlichen, der ihr die Haut
in Streifen von den Oberschenkeln zieht: „Warum tust du mir das an?“ 64 Dieser
Satz wurde zum Titel der bosnischen Ausgabe der Anthologie Zašto mi to radiš?
Der Junge antwortet: „‘Ich weiß nicht. Ich wusste es wirklich nicht.“ 65 Der Junge
hatte zuvor die beiden Serben erschossen, die das Mädchen vergewaltigen wollten.
Aus der Perspektive des naiven Außenstehenden, der dem Morden ohne emotionale
Reaktion begegnet, ist kein Sinn an der Gewalt zu erkennen. Seine eigene Brutalität
bleibt dem Erzähler dabei aber ebenso unerklärlich wie dem Leser.
Der junge Kosovo-Albaner Dren Kastrat will in Arsenijevićs Erzählung „Wurzellosigkeit“ 1999 von Dänemark aus seinen Vater in Prizren anrufen. Eine Männerstimme meldet sich und sagt ihm, Drens Vater sei abgeschlachtet worden und Dren
solle sich nie mehr im Kosovo, dem heiligen serbischen Land, blicken lassen. 66
Dren wird kurz darauf bei einem Polizeieinsatz bei den Berliner Erster-MaiDemonstrationen überfahren und stirbt. Sein Tod erscheint ebenso sinnlos wie der
seines Vaters.
Fatos Kongoli sieht Feindschaft als historischen Alltag der Region, „man kommt
nicht darum herum, ständig mit dem Schlimmsten zu rechnen“ 67 . Die Vergangenheit halte die Gegenwart und die Zukunft als Geiseln, die Barrieren im Bewusstsein
der Menschen seien kaum zu überwinden. Mit seinem Schreiben wolle er aber nicht
der nationalen Identität dienen, wie er bei einer Konferenz angab. „Die einzige Identität, der ich beim Schreiben diente, sei meine eigene. Möglicherweise. Denn
eigentlich dächte ich beim Schreiben nur an das Geschriebene selbst.“ 68
Nationalismus
Anfang der 1990er Jahre wuchs im gesamten ehemaligen Jugoslawien die Bedeutung der ethnischen Zugehörigkeit und der nationalen Ausrichtung, eine Entwicklung, die von politischer Seite vorangetrieben und ausgenutzt wurde. 69
Charles Simic wird seiner Aussage nach „nach vierzig Jahren in Amerika […] wieder zum Serben, aber, wie manche sagten, zu einem schlechten“ 70 . Aus der Außenperspektive verurteilt er die Kurzsichtigkeit der Nationalisten sämtlicher Seiten:
„Das Ärgerliche am Nationalismus ist das völlige Unverständnis seiner Vertreter
Vielfalt ohne Einheit: Identitätskonstruktionen in Ex-Jugoslawien
85
dafür, dass ihre Ideologie lediglich das Spiegelbild des Nationalismus der anderen
ist und dass die meisten Verlautbarungen schon immer und überall genauso erklangen.“ 71 Bei den Serben komme eine gewisse Paranoia hinzu: „Die Serben stellen
sich immer gleich komplizierte Verschwörungen vor.“ 72
Hemon beobachtet die Überbetonung der ethnischen Zugehörigkeit und führt das
Beispiel seiner Schwester an, die nach 1995 als politische Beobachterin in Sarajevo
arbeitete. Auf die Frage „Was sind Sie eigentlich?“ antwortete sie erst mit der Gegenfrage „Warum wollen Sie das wissen?“ und bei Nachbohren mit „Ich bin Bosnierin“, womit die Fragenden aber auch nicht zufrieden waren, weil die Schwester
keine ethnische Abstammung, sondern ihre Staatsbürgerschaft benannte.
Fatos Kongoli setzt Identität mit den Wurzeln eines Menschen gleich und definiert
sie in erster Linie geographisch über Geburtsort und -land, betont dann aber die
Wichtigkeit der kulturellen Wurzeln, denn diese
führen dem Individuum sein Leben lang eine Nahrung zu, die aus anderen,
reichen Quellen stammt, weit über das hinausgehend, was er [sic!] der Herkunft verdankt. Die Identität eines Menschen ist also nichts Ehernes, Unveränderliches, ein für allemal Bestehendes. Sie wird ständig bereichert und
komplettiert, ist vielschichtig, real, und was mich betrifft, sind wesentliche
Bestandteile einer weiter gefassten Identität zugehörig, die man ‚europäische Identität’ nennt. 73
Er bestreitet die Außeneinschätzung, die Menschen auf dem Balkan hätten eine
besondere Neigung zu Brutalität.
7. Vielfalt ohne Einheit
Maria Todorova hat die von ihr 2004 herausgegebene Aufsatzsammlung bewusst
mit dem Plural Balkan Identities betitelt: “‘Balkan mentality’ and ‘Balkan memory’
are chimerical notions. There are varieties of individual and group memories in the
Balkans, but no single ‘Balkan memory‘. […] There has never been a common
Balkan identity.” 74 Die Analyse der Texte in Swartz’ Anthologie führt zu einem
ähnlichen Ergebnis: Es lassen sich vergleichbare Einstellungen bezüglich europäischer und exjugoslawischer Identität herausarbeiten. Auffällig ist aber, dass das
Gefühl des Andersseins die größte Gemeinsamkeit darstellt. Eine synchrone südosteuropäische Identität ist nicht feststellbar und ist von Autoren und Herausgeber
auch nicht intendiert. Das jugoslawische Modell ist keine Option und deswegen
auch kein Bezugspunkt mehr. Vorstellungen von einer europäischen Einbettung
sind auf die Vergangenheit gerichtet, das Bild einer zukünftigen europäischen Identität wird nicht entworfen. Ethnisch-nationale Unterschiede werden betont. Hierbei
greifen die Autoren alte Konzepte wie die serbische Opferrolle wieder auf und stel-
86
Yvonne Pörzgen
len sie zugleich in Frage, ohne neue Ideen anzubieten. Verknüpft wird dies mit dem
Appell zu friedlichem Zusammenleben nicht wegen Balkan-spezifischer, exsozialistischer oder europäischer Gemeinsamkeiten, sondern aufgrund einer allgemeinen Menschlichkeit. Am deutlichsten zeigt sich dies an der Erzählung „Der Regen“ von Dimitré Dinev (geb. 1968, Plovdiv/Bulgarien; heutiger Wohnort: Wien),
der seit seiner Auswanderung von Bulgarien nach Deutschland in seiner Arbeit
auch zur deutschen Sprache gewechselt ist. Nachdem ein Erdrutsch den Friedhof
eines bulgarischen Dorfes verschüttet hat, versuchen die Menschen, ihre Toten zu
identifizieren und ihre Gräber wieder zu markieren. Bei dieser Gelegenheit reden
die Anführer der verfeindeten Familien der islamischen Tschelebis und der orthodoxen Orlinovs zum ersten Mal seit Jahren wieder miteinander. Es gelingt ihnen
nicht, die Überreste ihrer Vorfahren, der eng befreundeten Osman und Ognjan, zu
identifizieren. Sie beschließen, die beiden nach christlichem und islamischem Ritus
in einem gemeinsamen Grab wieder zu bestatten. Die Erzählung endet aber nicht in
diesem hoffnungsvollen Ton, sondern mit Zweifeln: „Den ganzen Rückweg überlegte Momtschil, was er zu Hause berichten sollte, und erwog und betastete jedes
Wort, aber er konnte und konnte sich nicht entscheiden, welches als erstes über
seine verbrannte Zunge gleiten sollte.“ 75 Die Kluft zwischen Propagierung und
Umsetzung der Toleranzidee ist nicht überwunden.
1
John Locke hat 1690 in An Essay Concerning Human Understanding zwei Formen von Identität
unterschieden, die später als Idem- bzw. Ipse-Identität bezeichnet wurden. Die Idem-Identität ist
bei zwei Dingen gegeben, die in allen Punkten miteinander übereinstimmen, z.B. zwei
druckfrischen, exakt gleichen Büchern. Die Ipse-Identität ist dem Menschen vorbehalten und
bezeichnet das Bewusstsein eines Menschen, mit der Person, die in der Vergangenheit etwas getan
hat, identisch zu sein. Voraussetzung für die Ipse-Identität sind somit Gedächtnis und
Bewusstsein; vgl. John Locke, An Essay Concerning Human Understanding. Reprint, Oxford
1987.
2
Holm Sundhaussen, Die Befreiung von Kosovo: Das Ende einer „unendlichen“ Geschichte? In:
Wolfgang Dahmen, Petra Himstedt-Vaid, Gerhard Ressel (Hg.): Grenzüberschreitungen. Traditionen und Identitäten in Südosteuropa. Festschrift für Gabriella Schubert. Wiesbaden 2008, S. 632649, hier S. 643.
3
In diesem Artikel werden die grammatischen Geschlechter nicht jeweils einzeln markiert; die
männliche Form, also „Autor“, „Erzähler“, „Leser“ etc., steht für beide Geschlechter.
4
Richard Swartz (Hg.), Der andere nebenan. Eine Anthologie aus dem Südosten Europas.
Frankfurt am Main 2007. Ričard Šwartz (Hg.), Drugi pored mene. Antologija priča i eseja pisaca
Jugoistočne Evrope [Der andere neben mir. Eine Anthologie mit Erzählungen und Essays von
Schriftstellern Südosteuropas], Beograd 2007. Richard Swartz (Hg.), Nepoznati susjed. Antologija
s jugoistoka Europe [Der unbekannte Nachbar. Eine Anthologie aus dem Südosten Europas],
Zagreb 2007. Richard Swartz (Hg.), Zašto mi to radiš. 21 priča o drugima. Antologija jugoistočne
Eu/vrope [Warum tust du mir das an. 21 Erzählungen über die Anderen. Eine Anthologie
Südosteuropas], Sarajevo 2007.
5
Pandeli Pani, „Bereits die Illyrer wollten in die EU und die NATO“. Albanische Identitätsdiskurse im Kontext der Integration in die euro-atlantischen Strukturen, in Dahmen et al. 2008, S. 447459, hier S. 455.
Vielfalt ohne Einheit: Identitätskonstruktionen in Ex-Jugoslawien
6
87
Vgl. Andrew Baruch Wachtel, Making a Nation, Breaking a Nation. Literature and Cultural Politics in Yugoslavia. Stanford, California 1998, S. 28ff.
7
Vgl. Körber-Stiftung (Hg.), Die Zukunft Südosteuropas – auf dem Weg zur europäischen
Integration. 123. Bergedorfer Gesprächskreis. 13. und 14. April 2002 im Hyatt Regency in
Belgrad. Hamburg 2003, S. 108.
8
Die Untersuchung der persönlichen oder subjektiven Identität began bereits in der Aufklärung –
siehe Anmerkung zu John Locke -, während kollektive Identitäten erst im 20. Jahrhundert Eingang
in den wissenschaftlichen Diskurs fand, etwa mit Maurice Halbwachs’ Ausführungen zum kollektiven Gedächtnis und Jürgen Habermas, der ausgehend von Erik Eriksons psychologischer Definition der Ich-Identität dise sowie darauf aufbauend die kollektive Identität als Termini für die Soziologie nutzbar machte.
9
Die Mehrheit der Texte in Der andere nebenan ist, wie auch Hemons Essay, autobiographisch
gehalten. Im Folgenden wird darauf nicht jeweils extra verwiesen, sondern darauf aufmerksam
gemacht, wenn es sich einmal nicht so verhält.
10
Hemon in Swartz 2007 Op. cit., S. 103.
11
Ebd., S. 104.
12
Ebd., S. 108.
13
Ebd., S. 111.
14
Ebd.
15
Ćosić in Swartz 2007, Op. cit., S. 54.
16
Jergović in Swartz 2007, Op. cit., S. 134.
17
Vgl. Wachtel 1998, Op. cit., S. 19ff.
18
Vgl. Nina Dobrković, Auf der Suche nach Identität: Die Bundesrepublik Jugoslawien im
Wandel von der Vergangenheit in die Zukunft. International Scientific Forum „DRC“, Institut für
internationale Politik und Wirtschaft, Belgrad 1998, http://www.bmlv.gv.at/pdf_pool/publikationen/14_sr3_dobrk.pdf (letzter Zugriff: 22.03.2010).
19
Vgl. Konrad Clewing, Bevölkerungsentwicklung und Siedlungspolitik: Die ethnische Zusammensetzung des Kosovo, In: Bernhard Chiari, Agilolf Keßelring (Hg.), Wegweiser zur Geschichte,
Kosovo. Paderborn, München, Wien, Zürich 2006, S. 15-25, hier S. 15. Umgekehrt verhält es sich
mit Bosnien: Während internationale Organisationen auf die innerstaatlichen Konflikte der drei
Entitäten verweisen und vor einem möglichen Zerfall des Staates warnen, bezeichnet Tomislav
Limov, amtierender Botschafter Bosnien und Herzegowinas in Deutschland, sein Land als Europa
im Kleinen und betont den Willen der Entitäten zur Zusammenarbeit (Vortrag Limovs in Bremen,
23.02.2010).
20
Vgl. Peter Thiergen (Hg.), Ivo Andrić: 1892-1992. Beiträge des Zentenarsymposions an der
Otto-Friedrich-Universität Bamberg im Oktober 1992, München 1995.
21
Ivo Andrić in E. Koš (Hg.), Sveske zadužbine Ive Andrića. Godina I, Sveska 1, Beograd 1982.
Ausschnitt unter http://wwwg.uni-klu.ac.at/eeo/Andric_Bosnien (letzter Zugriff: 22.03.2010).
22
Ivo Andrić, Brief aus dem Jahre 1920, in: Ders., Sämtliche Erzählungen. Band III. Gesichter,
München 1964, S. 45. Gerade diese Stelle zitiert auch Anders Österling, Ständiger Sekretär der
Schwedischen Akademie, in seiner Rede zur Vergabe des Literaturnobelpreises an Ivo Andrić; vgl.
Horst Frenz (Hg.), Nobel Lectures, Literature 1901-1967, Amsterdam 1969. Beitrag von Andres
Osterling zu Andrić auch http://nobelprize.org/nobel_prizes/literature/laureates/1961/press.html
(letzter Zugriff: 22.03.2010).
23
Andrić 1964, Op. cit., S. 43.
24
Vgl. Ekkehard Kraft, Ivo Andric – ein geistiger Brandstifter? In der Inquisition treffen sich
Brandstifter aller Lager, in: Neue Zürcher Zeitung, 01. April 2000.
25
Vgl. ebd.
26
Drakulić in Swartz 2007, Op. cit., S. 92.
27
Hemon in Swartz 2007, Op. cit., S. 106.
28
Cufaj in Swartz 2007, Op. cit., S. 63.
29
Ebd.
88
30
Yvonne Pörzgen
Wachtel 1998, Op. cit., S. 17.
Krese in Swartz 2007, Op. cit., S. 184.
32
In Abgrenzung zum Konzept einer gesamtjugoslawischen Nationalität wird hier bewusst von
Ethnien gesprochen. Als ethnische Gruppe wird eine Gruppe von Menschen bezeichnet, die in der
Größe zwischen Familie und Nation steht, durch gemeinsame Herkunft sowie Merkmale wie Sprache, Religion, oder Kultur gekennzeichnet ist und sowohl durch Selbst- als auch durch Fremdzuschreibung besteht (vgl. Georg Elwert, Nationalismus und Ethnizität. Über die Bildung von WirGruppen. In: Peter Waldmann, Georg Elwert, Ethnizität im Wandel. Saarbrücken, Fort Lauderdala
1989 (= Spektrum. Berliner Reihe zu Gesellschaft, Wirtschaft und Politik in Entwicklungsländern,
Band 21); Wilfried Heller, Ethnizität – Globalisierung – Transformation – Südosteuropa. Einführung in die Thematik. In: ders., Jörg Becker, Bernd Belina, Waltraud Lindner (Hg.), Ethnizität in
der Globalisierung. Zum Bedeutungswandel ethnischer Kategorien in Transformationsländern
Südosteuropas. München 2007, S. 11-28.
33
Wachtel 1998, Op. cit., S. 113.
34
Dr. Geert-Hinrich Ahrens, OSZE-Präsenz in Tirana: „Ein albanisches Schulkind lernt, dass Aristoteles und Alexander der Große Albaner gewesen sind. Einem mazedonischen Schulkind erzählt
man, das seien Mazedonier gewesen in dem Sinne, wie man sich heute als Mazedonier versteht.
Die griechischen Kinder lernen natürlich, dass Alexander und Aristoteles Griechen waren.“ (Körber-Stiftung 2002, S. 120.
35
Pani 2008, Op. cit., S. 454.
36
Montserrat Guibernau, The Identity of Nations, Cambridge, Malden 2007, hier S. 106.
37
Jančar in Swartz 2007, Op. cit., S. 121.
38
Ebd., S. 122.
39
Roland Schönfeld, Vom Traum der Serben. Staatsbildung und serbische Identität, in: Dahmen et
al. 2008, Op. cit., S. 570-586.
40
Simic in Swartz 2007, Op. cit., S. 201.
41
Vgl. Sundhaussen in Dahmen et al. 2008, Op. cit., S. 633.
42
Vgl. Wachtel 1998, Op. cit., S. 66.
43
Miljenko Jergović, Dvori od oraha [Das Walnusshaus], Zagreb 2003.
44
Mihajlovićs Einheit wird schließlich der des Oberst Lazar Kobilović unterstellt, der die gegenteilige Meinung vertritt und betont, man könne mit dem Feind kein gemeinsames Haus bauen.
45
Vgl. Körber-Stiftung 2003, Op. cit.
46
Miranda Jakiša, Mašala Jergović, mašala! Ein Portrait des bosnischen Schrifstellers Miljenko
Jergović, in: Novinki, http://www.novinki.de/html/vorgestellt/Portrait_Jergovic.html (letzter
Zugriff: 4.10.2010).
47
Jergović in Swartz 2007, Op. cit., S. 134f.
48
Ebd., S. 141.
49
Wachtel 1998, Op. cit., S. 98.
50
Hemon in Swartz 2007, Op. cit., S. 116.
51
Veličković in Swartz 2007, Op. cit., S. 271.
52
Siehe z.B. Guibernau 2007, Op. cit.
53
Ćosić in Swartz 2007, Op. cit., S. 54.
54
Ebd., S. 55.
55
Dubravka Stojanović, Construction of Historical Consciousness: The Case of Serbian History
Textbooks, in: Maria Todorova, (Hg.), Balkan Identities. Nation and Memory. London 2004,
S. 327-338.
56
Kongoli in Swartz 2007, Op. cit., S. 171.
57
Ebd., S. 172.
58
Simic in Swartz 2007, Op. cit., S. 194.
59
Ebd., S. 194.
60
Arsenijević in Swartz 2007, S. 36.
61
Vgl. Sundhaussen in Dahmen et al. 2008, Op. cit., S. 635.
31
Vielfalt ohne Einheit: Identitätskonstruktionen in Ex-Jugoslawien
62
89
Drakulić in Swartz 2007, Op. cit., S. 96.
Ebd., S. 91.
64
Albahari in Swartz 2007, Op. cit., S. 24.
65
Ebd.
66
Vgl. Arsenijević in Swartz 2007, Op. cit., S. 39f.
67
Kongoli in Swartz 2007, Op. cit., S. 163.
68
Ebd., S. 168.
69
Vgl. Dobrković 1998, Op. cit.
70
Simic in Swartz 2007, Op. cit., S. 198.
71
Ebd., S. 199.
72
Ebd., S. 200.
73
Kongoli in Swartz 2007, Op. cit., S. 168.
74
Maria Todorova, Introduction: Learning Memory, Remembering Identity; in Todorova 2004,
Op. cit., S. 1-24, hier S. 9. Lasse sich eine balkanweite Mentalität feststellen, so müsse diese vorsichtig kontextualisiert und historisiert werden.
75
Dinev in Swartz 2007, Op. cit., S. 86.
63
90
II. Transnationale Erinnerungsdynamiken in Westeuropa
David Bathrick
Enttabuisierte Erinnerung? Deutsches Leiden im Zweiten Weltkrieg
Der folgende Beitrag setzt sich mit dem gegenwärtig wieder auflebenden Thema
des deutschen Leidens im Zweiten Weltkrieg auseinander. Öffentlich äußerte sich
dieses seit Ende der 90ziger Jahre in einer Flut von Buchpublikationen, Film- und
Literaturdarstellungen, Zeitungs- und Fernsehdebatten und Dokumentationsberichten, die mit zunehmender Vehemenz traumatische Ereignisse wie Stalingrad,
die alliierten Bombardierungen deutscher Städte, die Flucht der deutschen Vertriebenen aus den Ostgebieten oder die von der roten Armee begangenen Vergewaltigungen deutscher Zivilistinnen behandelten.
Mein Hauptanliegen hierbei ist vor allem die Rolle der Literatur und des Kinos
bzw. Fernsehens in der Artikulation von deutschen Gedächtniskonflikten in Bezug
auf erlittene Verluste während und wegen des Zweiten Weltkriegs. Als Beispiel für
die Repräsentation solcher katastrophaler Ereignisse und für die hiervon ausgelösten Spannungen einer kollektiven Erinnerungs- bzw. Trauerkultur werden neuere
filmische und literarische Darstellungen des Untergangs des Transportschiffes Wilhelm Gustloff auf der Ostsee herangezogen: Hierbei verloren am 30. Januar 1945
nach einem sowjetischen Angriff auf das Schiff 9.343 Flüchtlinge ihr Leben: also
sechsmal mehr als der Untergang der Titanic – die größte Schiffskatastrophe aller
Zeiten – Tote forderte!
Da in nicht wenigen der jüngsten Diskussionen über „deutsche Opfer“ von vergangener Tabuisierung oder sogar Verdrängung dieses Themas gesprochen wird,
möchte ich zunächst skizzenhaft auf die Vorgeschichte dieser so genannten „Vergangenheitspolitik“ 1 seit 1950, die neuerdings als “German memory contests“ 2
(Deutsche Gedächtnis-Konkurrenz) behandelt wird, eingehen. Mit Konkurrenz sind
hier die Spannungen zwischen historisch konkurrierenden Auffassungen von Deutschen als Opfern vs. Deutschen als Tätern, von deutschem Leid vs. deutscher
Schuld gemeint. Dazu ist es hilfreich, zunächst drei Gedächtnisphasen in punkto
„Aufarbeitung der Vergangenheit“ in der westdeutschen Nachkriegskultur zu unterscheiden: 1945-1965; 1965-1995; 1995-2009.
92
David Bathrick
1. Kurze Erinnerungsgeschichte von deutschem Opfertum und deutscher Täterschaft seit 1945
Im Gegensatz zu manchen gegenwärtigen Behauptungen ist das Thema des deutschen Opfertums im Zweiten Weltkrieg keineswegs neu. In den fünfziger Jahren
war es ein nicht kleiner Bestandteil der offiziellen Öffentlichkeit sowie der familiären Privatsphäre in beiden deutschen Staaten. In der ersten Sitzung des neu gegründeten Bundestages am 7. September 1949 wurde dies zum Beispiel von Bundestagsaltpräsident Paul Löbe explizit zum Ausdruck gebracht:
Wir... bestreiten auch keinen Augenblick das Riesenmaß von Schuld, das ein
verbrecherisches System auf die Schultern unseres Volkes geladen hat. Aber
die Kritiker draußen wollen doch eines nicht übersehen: das deutsche Volk
litt unter zweifacher Geißelung. Es stöhnte unter den Fußtritten der deutschen Tyrannen und unter den Kriegs- und Vergeltungsmaßnahmen, welche
die fremden Mächte zur Überwindung der Naziherrschaft ausgeführt haben.
Wessen Haus an allen Ecken brennt, der sieht zunächst die eigene Not, ehe
er die Fassung gewinnt, die Lage der Nachbarn voll zu würdigen. 3
In diesem kleinen Abschnitt befindet sich in nuce zusammengefasst ein Grundriss
des schon zur Geburtsstunde der BRD entstehenden Opferdiskurses. Hier wird weder von Befreiung noch eigener Schuld gesprochen, sondern von Geißelung und
Vergeltungsmaßnahmen sowohl von Hitler als auch den Alliierten. Die rhetorische
Trennung von verbrecherischem „System“ und dem deutschen „Volk“ verwandeln
Täter und Komplizen außerhalb der Nazi-Hierarchie zu Opfern. Diese Selbstwahrnehmung der Deutschen als Opfer zusammen mit der kategorischen Ablehnung der
Kollektivschuldthese, so Helmut Dubiel, „bestimmen nahezu alle Reden, die sich
im frühen Bundestag auf die Vorgeschichte der neuen Republik beziehen.“ 4
Auch bemerkenswert in dieser ersten Rede ist die Nichterwähnung der jüdischen
Opfer wie auch der Toten des von den Deutschen entfesselten Krieges. Stattdessen
werden etliche deutsche Opfergruppen angedeutet, um die in den folgenden Jahren
immer wieder getrauert und deren Schicksale konkret beschrieben und medial dargestellt wurden. Oben auf dieser Liste – und ich finde es jetzt wichtig, dass wir
Zahlen nennen – befinden sich die fünf Millionen gefallenen Soldaten der Wehrmacht zusammen mit den mehreren Hunderttausend noch nicht heimgekehrten
deutschen Kriegsgefangenen in den sowjetischen Lagern. Dazu, auch in dem obigen Zitat angedeutet, kommen die Opfer der alliierten Flächen- und Feuerbombardierungen zwischen 1942 und 1945, worunter 600.000 Zivilisten ums Leben kamen, 800.000 verletzt und Zahllose obdachlos wurden. 5 Von den 14 Millionen Vertriebenen aus den Ostgebieten waren es zwei Millionen, welche die Flucht nicht
überlebt haben. Die Zahl der vergewaltigten deutschen Frauen betrug weit über
eine Million.
Enttabuisierte Erinnerung? Deutsches Leiden im Zweiten Weltkrieg
93
Diese Zahlen sind als Indiz insofern wichtig, weil sie vor allem die Breite und die
Tiefe der katastrophalen Konsequenzen des Zweiten Weltkrieges für ein Volk konkretisieren, „dessen Haus an allen Ecken brennt“ und dessen Überwindung seines
„Schicksals“ zu einem der Gründungsmythen der neuen Republik wurde. Diese
teils heilenden, teils verdrängenden kommunalen Leidensgeschichten wurden,
wenn nicht immer öffentlich, so doch zum ständigen Gesprächsstoff innerhalb
deutscher Familien und Freundesbeziehungen, für Jahrzehnte danach.
Der Schriftteller Uwe Timm, 1940 geboren, war nur ein kleines Kind, als er die
Feuerbombardierung Hamburgs im Juli 1943 miterlebte. Wir lernen von ihm, dass
dieses Ereignis überhaupt nicht verdrängt oder verschwiegen, sondern im Gegenteil
zum rituell wiederholten Kern der Familiengeschichte wurde. Ich zitiere aus seinem
60 Jahre später erschienenen autobiographischen Text „Am Beispiel meines Bruders:
„Noch Jahre nach dem Krieg, mich durch meine Kindheit begleitend, wurden diese Ereignisse, immer und immer wieder erzählt, was das ursprüngliche Entsetzen langsam abschliff, das Erlebte fassbar und schließlich unterhaltend machte... Das eigentliche war, wie der Schock, der Schreck, das Entsetzen durch das wiederholte Erzählen langsam fasslich wurden, wie das Erlebte langsam in seinen Sprachformeln verblasste: Hamburg in Schutt und
Asche. Die Stadt ein Flammenmeer Der Feuersturm.“ 6
Der Opferdiskurs innerhalb der Familie und halb privater Kreise diente als eine Art
Selbsttherapie. Das Trauma wurde verbalisiert, ständig wiederholt und erreichte
dadurch den Status einer kollektiven Erinnerung:
„Das Familiengedächtnis basiert nicht auf der Einheitlichkeit des Inventars
seiner Geschichten, sondern auf der Einheitlichkeit und Wiederholung der
Praxis des Erinnerns sowie auf der Fiktion einer kanonisierten Familiengeschichte. Ihre synthetisierende Funktion wird immer aufs Neue realisiert...“ 7
Was dieser Opferstatus in den ersten Nachkriegsjahren zustande brachte – in der
politischen Öffentlichkeit (Bundestag, Medien usw.) wie auch im halböffentlichen
und privaten Bereich – war sowohl eine stabilisierte, postnationalsozialistischdemokratische Aufbau-Identität als auch eine fast totale Ausblendung bzw. „Beschweigen” der genoziden NS-Vernichtungspolitik gegenüber anderen Opfergruppen (Juden, Roma, Sinti, Polen, Homosexuellen) verbunden mit der NichtErwägung der eigenen Schuld und Komplizität. 8 Und diese Ausblendung, das muss
man hinzufügen, erfolgte in den fünfziger Jahren durchaus im Interesse und teils
unter der Beförderung der Alliierten, die auf Grund des entstehenden Kalten Krieges die Bundesrepublik Deutschland als Bollwerk im Kampf gegen den Kommunismus brauchten. Soviel zu den fünfziger Jahren.
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David Bathrick
In den sechziger Jahren findet ein allmählicher Strukturwandel in der Erinnerungslandschaft der Bundesrepublik statt. Zentral in dieser Hinsicht war das Hervortreten
von deutschen Tätern und jüdischen Opfern ins Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit: zunächst durch den Eichmann-Prozess im Jahre 1961 und die darauf folgende Publikation des Buches Eichmann in Jerusalem von Hannah Arendt; dann
durch die zweijährigen öffentlichen Strafprozesse in Frankfurt am Main (19631965) gegen 22 Mitglieder der Lagermannschaft des NS Vernichtungslager
Auschwitz-Birkenau – der größte Strafprozess der deutschen Nachkriegsgeschichte.
Auch wichtig war die Rolle der zweiten Generation – oft auch die 68er Generation
genannt –, die nicht mehr bereit war, den alten Geschichten vom deutschen Leid
einfach zuzuhören und die unter der Losung „Vergangenheitsbewältigung“ gerade
die Schuldfrage zum Hauptthema von öffentlichen und privaten Auseinandersetzungen machte, um die eigenen Väter beziehungsweise eigene Vätergeneration zur
Rechenschaft zu ziehen. 9 Diese für meine Begriffe unersetzliche Rolle der 68er für
die Aufarbeitung der Nazivergangenheit ist vor allem hier wichtig zu erwähnen,
weil sie noch immer eine zentrale Rolle – positiv wie auch negativ gesehen – in den
gegenwärtigen Debatten spielt.
Als eine weitere, sehr bedeutsame Dimension der öffentlichen Auseinandersetzungen um deutsche Erinnerungskonflikte und die „Vergangenheitsbewältigung“ muss
man die zunehmende Rolle der visuellen Medien erwähnen – vor allem das Kino,
das Fernsehen und das Theater. Zwischen 1956 und 1993 gab es immer mehr Produktionen, die explizit oder implizit die Judenvernichtung zum Zentralthema machten und deren Wirkungen eine Art Kollektiv-Trauer unter deutschen Zuschauern
hervorbrachte.
Am Anfang zu nennen wäre die aus den USA kommende Theaterfassung von Das
Tagebuch der Anne Frank, die im Herbst 1956 gleichzeitig in sieben Metropolstädten Westdeutschlands und der DDR aufgeführt und diskutiert wurde.10 Der Erfolg
dieser Theaterfassung führte zu einem Durchbruch des schon seit 1950 in deutscher
Sprache existierenden Textes als Bestseller.11 Innerhalb der nächsten fünf Jahre
(1956-1961) gab es 18 Neuauflagen des Buches allein in der Bundesrepublik, von
denen insgesamt 700.000 Exemplare verkauft wurden. Noch dazu wurde Das Tagebuch im Hauptschulunterricht in vielen Bundesländern gelesen. Drei Jahre nach
den Theateraufführungen sahen noch dazu Millionen Kinobesucher die gleichnamige Filmfassung des Anne-Frank-Tagebuches unter der Regie von HollywoodRegisseur George Stevens. „Mit diesem jüdischen Mädel,“ schreibt Peter Reichel,
„wurde der Holocaust (in Westdeuschland) erstmals zum Medienereignis gemacht.
Die unfassbare Anonymität der großen Zahl bekam durch sie ein menschliches Gesicht, der Massenmord eine erste und anrührende Opferikone.“12
Enttabuisierte Erinnerung? Deutsches Leiden im Zweiten Weltkrieg
95
Als zweites bundesrepublikanisches Theaterereignis, das dezidiert Holocaustopfer
würdigte, wäre das nach dem Auschwitzprozess geschriebene „Passionsstück“ Die
Ermittlung von Peter Weiss, das seine Uraufführung am 19. Oktober 1965 gleichzeitig in 14 west- und ostdeutschen Theatern (und in einem Londoner Theater) feierte13 – für die damalige Zeit als deutsch-deutsche Zusammenarbeit ein absolutes
kulturpolitisches Novum. Während die Inszenierung des Anne-Frank-Tagebuchs
vor allem aufgrund einer durch Identifikationsästhetik beförderte Emotionalität ihre
ungeheuere Wirkung erlangte – bei mehreren Aufführungen ist zum Schluss von
minutenlangem Schweigen statt Beifall die Rede – drängt Weiss seine Zuschauer in
die Rolle des Zuhörers. Mit einer strengen, minimalistischen Gestaltung des Genozids appelliert er an die Imagination des Publikums, um – im Sinne von Bertolt
Brecht – jede emotionale Reaktion zu unterbinden.
Das bei weitem größte dieser Medienereignisse überhaupt in der bisherigen Geschichte der Bundesrepublik fand im Januar 1979 statt, als die vierteilige amerikanische TV Mini-Serie Holocaust eine Woche lang im WDR-Fernsehen gezeigt
wurde. Die öffentliche Resonanz stellte alle vorausgegangenen Film-, Fernseh- und
Theaterproduktionen weit in den Schatten. Hier rede ich nicht von den kontroversen Aspekten der Ästhetik, der historischen Genauigkeit oder der ethischpolitischen Korrektheit beziehungsweise Inkorrektheit dieses Hollywood-artigen
Blockbusters – darüber gab es monatelang intensive Auseinandersetzungen –, sondern ausschließlich von dessen emotionaler Schockwirkung auf eine ganze Nation.
Als Doku-Drama erzählt Holocaust die Geschichte der Judenvernichtung zwischen
1935 – dem Datum der Verabschiedung der Nürnberger Rassengesetze – und 1945,
beschränkt auf die Perspektiven von zwei deutschen Familien: die des jüdischen
Arztes Dr. Josef Weiss aus Berlin und die des SS-Offiziers Erik Dorf, der an die
historische Figur des in Nürnberg zum Tode verurteilten SS-Gruppenführers Otto
Ohlendorf undan die Theorie der Banalität des Bösen von Hannah Arendt angelehnt ist.14
Die Einschaltquote pro Abend betrug 20 Millionen Zuschauer, zu einer Zeit, da die
Gesamtbevölkerung der BRD zusammengerechnet auf 60 Millionen kam. Die folgende Beschreibung der gewaltigen Reaktionen auf dieses Ereignis gibt uns knapp
die allgemeine Stimmung wieder:
Holocaust war für Wochen das Tagesthema. Im Büro und beim Einkaufen,
auf der Straße und in der Schule redete man über die Serie. In manchen Universitäten wurden sozialwissenschaftliche Seminare in HolocaustDiskussionen umfunktioniert, in Volkshochschulen taten sich Singles zu
Gruppen zusammen, weil sie den Holocaust allein zu Hause nicht aushielten.
Zehntausende von Anrufen gingen bei den Fernsehredaktionen noch während der Diskussionsrunden ein, die sich an die jeweiligen Folgen anschlossen. Mit ihren Erschütterungen hielten die Anrufer nicht zurück, aus ihrer
96
David Bathrick
Unkenntnis und Hilfslosigkeit machten sie keinen Hehl. Immer wieder berichteten sie von Gesprächen in den Familien, wo die selben bedrängenden
Fragen gestellt worden seien: Wie konnte das geschehen? Was habt ihr getan? Was habt ihr gewusst, was konntet, was wolltet ihr wissen?15
Was die langfristigen politischen und kulturellen Effekte des Films Holocaust für
die Erinnerungskultur der Nachkriegszeit von heute aus gesehen betrifft, würde ich
wie folgt zusammenfassen. Weil die Geschichte perspektivisch innerhalb zweier
Familien erzählt wird, vermochte sie beim Zuschauer eine Empathie oder zumindest Verständnis sowohl für das Opfer als auch für den Täter zu wecken. Hierdurch
wird vor allem eine Komplexität vermittelt, nämlich, dass man unter gegebenen
Umständen auf der einen wie auf der anderen Seite hätte stehen können. Solche
Ambivalenz eröffnet eine Toleranzzone der Rezeption, baut polemische Polarisierung ab, lädt die Zuschauer zur Selbstreflexivität ein, trotz oder sogar wegen der
emotionalen Intensität der momentanen Identifizierung.
2. Erinnerungskulturen nach der Wende
Was wir soweit gesehen haben, ist die Herausbildung zweier Gedächtniskulturen
seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Deutschland. Unmittelbar nach dem
Krieg war es die Selbsterfahrung der Deutschen als Opfer, die ihnen den Blick für
die anderen, insbesondere für die jüdischen Opfer verstellt. Anfangend in den sechziger und siebziger Jahren war es die Etablierung eines globalen Holocaustgedächtnisses – die Vernichtung der Juden und damit zusammenhängend überhaupt
die deutsche Täterschaft im Zweiten Weltkrieg – die eine dominante Präsenz in den
Erinnerungsdebatten bis Mitte der neunziger Jahre, noch nach der Gründung der so
genannten Berliner Republik, erlangte.
Von einer absoluten Tabuisierung des Themas deutschen Leides während dieser
zweiten Periode kann auf keinen Fall die Rede sein. Wovon man reden kann, ist
eine Politisierung zweier koexistierender, nicht kommunikativer Diskurse. Innerhalb der Teilöffentlichkeit der 14 Millionen Vertriebenen zum Beispiel dürfte man
durchaus das Schicksal der ethnisch Deutschen betrauern. Und während der Diskurs des deutschen Leidens politisch seitens der Rechten gelegentlich instrumentalisiert wurde, findet man auf der anderen Seite der politischen Skala immer wieder
die auftauchende Befürchtung, „die Beschäftigung der Deutschen mit ihren eigenen
Leiden während des Zweiten Weltkrieges sei obszön und werde unweigerlich zur
Relativierung der deutschen Verbrechen missbraucht werden...”16 Welches logischerweise zu der Gegenanklage führte, diese permanenten Wächter der politischen
Korrektheit hätten selber einen Schulddiskurs instrumentalisiert, in dem Deutsche
nur als Täter vorkamen, nie als Opfer. In beiden Fällen fanden wir teils berechtigte,
teils instrumentalisierte Ansprüche, entstanden aus traumatischen Erinnerungskulturen. Was wir seltener fanden, war Dialog.
Enttabuisierte Erinnerung? Deutsches Leiden im Zweiten Weltkrieg
97
Aber wie steht es jetzt mit der neuen Welle von künstlerischen Repräsentationen
des deutschen Leides? Wie erklärt man zum Beispiel, weshalb sich allein innerhalb
der letzten neun Jahre so viele Bücher und Mega-Filme dem Thema deutschen Leides gewidmet haben? TV-Filme wie Guido Knopps fünfteilige Dokumentarserie
Die große Flucht im ZDF (2001): 5 Millionen Zuschauer, Roland Suso Richters
zweiteiliger Ereignisspielfilm Dresden im ZDF (2006): 12 Millionen Zuschauer,
Oskar Hirschbiegel, Der Untergang (2005), Kai Wessels zweiteiliger Spielfilm Die
Flucht ZDF (2007): 13 Millionen Zuschauer oder Josef Vilsmeiers Die Gustloff im
ZDF (2008): 9 Millionen Zuschauer. Bücher wie Günter Grass Im Krebsgang
(2002), Reinhard Jirgl, Die Unvollendeten (2003), Uwe Timm, Am Beispiel meines
Bruders (2003), Christoph Hein, Landnahme (2004), Walter Kempowski, Alles
umsonst (2005), und Jörg Friedrich, Der Brand (2002).
Hier tauchen die alten Fragen erneut auf – diesmal in Form von Buch-und Artikeltiteln. „Dürfen die Deutschen ihre eigenen Opfer beklagen“ angesichts des Unheils,
das sie über die Welt gebracht haben? Entsteht hier,” so fragt Heidemarie Uhl in
einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung, „eine alternative oder Gegenerzählung
zum Holocaust-Gedächtnis?“ Siegt hier der Medienmarkt oder eine nationalistische
Politik über das Gewissen der Deutschen und ihre kritische Selbstbefragung? Lässt
die Bundesrepublik womöglich „jene Phase der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit, die seit den Achtzigerjahren unter dem Vorzeichen der Schuldfrage stand, hinter sich?“17 Erleben wir wieder die Ablösung einer Erinnerungskultur, diesmal derjenigen „unter dem Vorzeichen der Schuldfrage,“ wenn man so
will, zugunsten einer „unter dem Vorzeichen“ der Leidensfrage? Oder besteht die
Möglichkeit einer Koexistenz der beiden Gedächtniskulturen?
3. Neue Annäherung an das deutsche Leid
Dies sind die Fragen, die im Vordergrund der gegenwärtigen Debatten stehen und
die ich am Ende meines Beitrags wieder aufgreifen werde. Zunächst wende ich
mich einem Autor zu, der mitverantwortlich dafür war, dass eine neue Annäherung
an das Thema des deutschen Leides, eine literarische, überhaupt in Gang gesetzt
wurde. Das Buch, von welchem ich rede, ist Im Krebsgang von Günter Grass; das
Thema innerhalb eines Themas, der Untergang des Transportschiffes Wilhelm
Gustloff, eine katastrophale Leidensgeschichte innerhalb des kulturellen Gedächtnisrahmens der Vertreibung bzw. Massenflucht der Ostdeutschen gen Westen. Kurz
zur historischen Vorlage: am 30. Januar 1945, zufällig am zwölften Jahrestag der
Machtergreifung Adolf Hitlers, wurde die Gustloff durch drei Torpedos eines sowjetischen U-Boots getroffen und versenkt. Von den 10.000 Passagieren kamen
9.000 ums Leben, über die Hälfte Frauen und Kinder. Am 30. Januar 1895 wurde
jener Wilhelm Gustloff geboren, der 1936 in der Schweiz als Nationalsozialistischer Landesgruppenleiter einem Attentat zum Opfer fiel und nach welchem auf
98
David Bathrick
Wunsch Hitlers das bei Blom vom Stapel gelaufene neue Passagierschiff der Kraftdurch-Freude-Flotte benannt worden war.
Kennzeichnend für die Erzählstrategie von Grass’ Buch ist die implizite und explizite Absicht, deutsches Leiden, wie zwei Jahre vorher in seiner Vilnius-Rede, zu
thematisieren:
Merkwürdig und beunruhigend mutet es an, wie spät und immer noch zögerlich an die Leiden erinnert wird, die während des Krieges den Deutschen
zugefügt wurden. Die Folgen des bedenkenlos begonnenen und verbrecherisch geführten Krieges, nämlich die Zerstörung deutscher Städte, der Tod
hunderttausender Zivilisten durch Flächenbombardierung und die Vertreibung, das Flüchtlingselend von 12 Millionen Ostdeutschen waren nur Thema
im Hintergrund.18
Wie W.G. Sebald, Peter Schneider und Hannes Heer spricht Grass hier von einer
verspäteten kulturellen Trauer, die nur im „Hintergrund” blieb (d.h. in Familiengesprächen oder Teil eines semi-öffentlichen Diskurses) und bloß zögerlich zum
Ausdruck kommt. Im Krebsgang erzählt er sowohl die schicksalshafte Geschichte
der Gustloff als auch den erinnernden Umgang mit dieser Geschichte in der Gegenwart. Grass signalisiert folgendermaßen seine Haltung als auch seinen methodischen Vorgang: „‚Warum erst jetzt?’ sagte jemand der nicht ich bin.’“19 Dies sind
die Worte mit denen er seine Novelle eröffnet. Kurz danach bietet der Erzähler –
ein Angehöriger der 68er-Generation – nicht weniger als vier Antworten auf diese
Frage. Alle sind fragmentarisch, zögernd, herumirrend und thematisieren als solche
eher eine gewisse Unfähigkeit, seinerseits die Geschichte dieses deutschen Leidens
zu konfrontieren. Paradox ist es darüber hinaus, dass dieser Paul Pokriefke, ein
Schmierenjournalist, und seine Mutter Tulla Pokriefke (die freche Göre Tulla
Pokriefke kennt man aus Grass’ Katz und Maus und Hundejahre) selbst Opfer waren, da er, wann sonst, am 30. Januar 1945 auf der Wilhelm Gustloff gerade im Augenblick des Untergangs geboren wurde.
Der Erzählvorgang besteht, schlicht gesagt, aus einer Generationsdebatte zwischen
Mutter, Sohn und Enkel Konny Pokriefke. Tulla liegt Paul seit Jahren in den Ohren, ihre Geschichte zu erzählen und dieses „Zeugnis“ an nachfolgende Generationen weiterzugeben. Ihre erste Wahl ist ihr Sohn, der als Alt-68er die Aversionen
dieser Generation gegen Familiengeschichten von Hunger, Grauen und Entbehrung
teilt. Außerdem ist er in einer Generation aufgewachsen, die für diese Geschichte
keine Verwendung hat. Von den sechziger bis in die neunziger Jahre war diese
nicht nur vergessen, sondern vom Trauma des Holocaust „weggedrängt,“ das nach
einer Phase der Verzögerung Anspruch auf politische Anerkennung und öffentliche
Erinnerung erhob.
Enttabuisierte Erinnerung? Deutsches Leiden im Zweiten Weltkrieg
99
Obwohl Grass durch seine Darstellung der Figur Paul „den blinden Fleck im moralischen Geschichtsbewusstsein“ der 68er-Generation hervorhebt, bleibt seine narrative Wahrnehmung des Ganzen differenziert, sogar widersprüchlich. Im fünften
Kapitel zum Beispiel bezieht sich der Erzähler auf die Stimme eines gewissen „Alten“, hinter dem sich niemand anders als Grass selbst verbirgt und Selbstkritik übt:
Eigentlich, sagte er [der Alte], wäre es die Aufgabe seiner Generation gewesen, dem Elend der Ostpreußischen Flüchtlinge Ausdruck zu geben: den winterlichen Trecks gen Westen, dem Tod in Schneewehen, dem Verrecken am
Straßenrand und in Eislöchern.....die Furcht vor russischer Rache über endlose Schneeflächen....Niemals, sagte er, hätte man über so viel Leid, nur weil
die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue in all den Jahren vordringlich gewesen sei, schweigen, das gemiedene Thema den Rechtsgestrickten überlassen dürfen. Dieses Versäumnis sei bodenlos.20
Hier spricht Grass für die Flakhelfer-Generation (Autoren der Jahrgänge 19261928) und nicht gegen die 68er – für die Generation von Grass, MartinWalser,
Sigfried Lenz und Günter de Bruyn, die damals selbst nicht über deutsches Leid
geschrieben haben. Kritisch ist Grass auch gegenüber denjenigen Erzählungen der
Leidenserfahrung der Deutschen, die den größeren Rahmen der Nazikriminalität
nicht irgendwie auch mitreflektieren: „Wenn man ausschließlich über die Vertreibung und die mit ihr verbundenen Verbrechen schreibt, dann kommt selbst bei bester Absicht etwas Schiefes raus. [...] deswegen müssen wir die Zusammenhänge
herstellen und die Folgegeschichte erzählen.“21
Was Grass gerade in seiner Novelle als poetisches Manifest vorschreibt bzw. vorschlägt, ist nichts weniger als ein Grundriss für eine deutsche Erinnerungskultur, in
welcher drei verschiedene Gedächtnisgenerationen sich gegenseitig anerkennen,
tolerieren, selbstkritisch mitreflektieren. Die diesbezügliche Frage in der gegenwärtigen Situation ist nicht, ob deutsches Leid tabuisiert oder nicht tabuisiert worden
ist oder wird, sondern wie dies dargestellt wird; welche Diskursivformen nötig sind,
um Gedächtniskonflikte aufzulösen.
Was das Problem der Kommunikation unter verschiedenen Generationen in einem
derart gereizten Diskursrahmen anbelangt, zeigt sich Aleida Assmann insofern hilfreich, als sie zwischen dem kollektiven und dem kulturellen Gedächtnis unterscheidet:
Mit der Engführung subjektiv historischer Erfahrungen in ein kollektives
Gruppengedächtnis geht eine normative Steigerung seiner Verbindlichkeit
einher, die zur Verfestigung (Ikonisierung, Mythisierung) von Vergangenheit
führt und für Formen politischer Instrumentalisierung in Anspruch genommen werden kann.... Auf der Ebene dieses Gedächtnisses lösen sich die
100
David Bathrick
Frontlinien zwischen Opfern und Tätern nicht auf. Anders gestalten sich die
Beziehungen auf der Ebene des kulturellen Gedächtnisses. Es stützt sich auf
das kulturelle Archiv, und das heißt auf eine Vielfalt medialer Präsentationen und künstlerischer Gestaltungen, die immer wieder neu gedeutet und
angeeignet werden müssen.22
Günter Grass’ Im Krebsgang wäre demnach eine künstlerische Gestaltung aus dem
„kulturellen Archiv,” nicht weil der Text für sich behauptet, jede der angesprochenen Probleme und Konflikte politisch korrekt aufzulösen bzw. in Lot zu bringen,
sondern weil er einen Generationsrahmen schafft, der sich immer wieder neu interpretieren und diskutieren lässt. Als diskursives Modell ermöglicht der von Assmann angebotene Begriff des Kulturgedächtnisses die Koexistenz von Erinnerungskulturen in einem öffentlichen Raum und Möglichkeit, sich immer wieder neu
mit den jeweiligen traumatischen Erben auseinanderzusetzen. Im Gegensatz zu einer „normativen Steigerung einer Verbindlichkeit, die zur Verfestigung der Vergangenheit führt,” finden wir in den beiden Romanen Am Beispiel meines Bruders
und Am Krebsgang – schon aufgrund ihrer offenen Erzählweise – eine verlockende
Herausforderung, diese Themen diskursiv weiter zu verfolgen.
4. Der Untergang der Gusloff
Abschließend möchte ich zwei deutsche Filme behandeln, die den Untergang der
Wilhelm Gustloff als Thema aufnahmen. Frank Wisbars immer noch sehenswerter
Film Nacht fiel über Gotenhafen war einer der großen Kinokassenschlager des Jahres 1959. Wisbar selber kehrte nach 17 Jahren Exil 1955 als amerikanischer Staatsbürger in die Bundesrepublik zurück. „Wenn ich schon in Deutschland arbeite,“
sagte er nach seiner Ankunft, „will ich meinem Gewissen folgen. Und das befiehlt
mir, Filme gegen den Krieg zu drehen.“23 Im Gegensatz zu den meisten Schiffuntergangsfilmen – von dem Untergang der Titanic gibt es meines Wissens allein 18
kinematische Darstellungen – erzählt Wisbar die Gustloffkatastrophe als die Kulmination einer langen, schweren Flucht aus entfernten Gebieten im Kontext der
Beziehungen Ost und West: von den 99 Minuten insgesamt entfallen nur acht Minuten auf das An-Bord-Kommen und die Versenkung der Gustloff. Die Schiffskatastrophe als Höhepunkt fasst die gesamte lange krisenhafte Handlung in einer Metapher zusammen, in der mehrere historische Dimensionen und Schauplätze des
Dritten Reichs kritisch und kohärent wiedergegeben werden. Hier wurde im Vordergrund deutsches Leid sensibel und detailliert in dem größeren Rahmen des
Wahnsinns des von Deutschen initiierten Zweiten Weltkriegs dargestellt.
Und hier gäbe es noch dazu Anlass, eine Frage zu stellen, die neuerdings von dem
Historiker Robert G. Moeller gestellt und mit einem entschiedenen Nein beantwortet wurde: „War die Geschichte der Gustloff tatsächlich chirurgisch aus dem deut-
Enttabuisierte Erinnerung? Deutsches Leiden im Zweiten Weltkrieg
101
schen Nachkriegsgedächtnis entfernt worden, um schließlich sechs Jahrzehnte später von Grass wieder freigelegt zu werden?”24 Sein Beweis für die Antwort auf die
Frage war Nacht fiel über Gotenhafen – ein Film, der sich damals sowohl in der
Presse als auch an der Kasse als ein Riesenerfolg auszeichnete. Als er Anfang 1960
in den Kinos erschien, erteilte der Rezensent in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Regisseur Wisbar uneingeschränktes Lob und hielt fest: „Niemand hat auf der
Leinwand auf so bestürzend realistische Weise die Atmosphäre von damals getroffen.”25 Die Jahre danach war Wisbars Film keineswegs völlig in Vergessenheit geraten. Vielmehr gelangte er später in gewissen zeitlichen Abständen im Fernsehen
der Bundesrepublik Deutschland wiederholt zur Ausstrahlung. Historisierung und
erzählerische Kohärenzen war auch das Ziel, wenn nicht das Ergebnis von Josef
Vilsmaiers zweiteiliger Megafernsehproduktion Die Gustloff, die 48 Jahre nach der
Premiere von Nacht fiel über Gothafen am 2. und 3. März 2008 im ZDF gesendet
wurde. Zugegeben: auf einer Ebene war Vismaiers Gustloff absolut erfolgreich.
Zwei Abende hintereinander, jeweils 8,45 Millionen Zuschauer, und in Konkurrenz
mit dem Besten, was das Deutsche Fernsehen anzubieten hatte. Zitat im Tagesspiegel: „Der Katastrophenfilm läuft dem Quotenbringer Tatort den Rang ab. Bei den
Kritikern kommt der TV-Film allerdings ganz schlecht weg.“26
Was die Kritiker bemängelten, waren weniger das Drehbuch, die Rollenbesetzung,
die „Special Effects” oder (mit Ausnahme von Spiegel) die politische Orientierung
als vor allem das fehlende Handwerk seitens der Regie. Die Herausforderung für
den Regisseur einer Schiffkatastrophe ist einfach die: der Vielfalt von unzähligen
kleinen Geschichten und Episoden einen Zusammenhang und eine Ordnung zu verleihen. Andreas Kilb beschreibt das Dilemma in der FAZ wie folgt: „Es sind ja
nicht die weltgeschichtlichen Prozesse, die uns an Schiffsuntergängen faszinieren,
es sind die Dramen im Unterdeck. Die Gustloff-Geschichte bietet sie zuhauf:
Flüchtlingstragödien, Soldatenschicksale, Familiensterben, Kinderleid; dazu die
letzten, absurden Zuckungen eines untergehenden, in Blut und Trümmern erstickenden Reiches. Das Boot dieses Films ist schon voll, bevor es überhaupt ablegt.“27
Dass die meisten Kritiker – wie Kilb – dieses Untergangs-Dokudrama weniger als
Naziretro betrachteten und mehr dem Genre Schiffskatastrophe à la Titanic zuordneten, sagt viel über den Strukturwandel innerhalb des medialen Erwartungshorizonts seit der Wende.28 Denn entstanden während der achtziger und neunziger Jahre binäre Fragestellungen über Tätertum oder Opfertum, Schuld oder Leiden immer
noch im Vordergrund der umstrittenen diskursiven Beurteilungen filmischer oder
literarischer Repräsentationen des Zweiten Weltkrieges, merkt man seit Ende der
neunziger Jahre eine Umpolung des derartigen Rezeptionsdiskurses. Zugegeben hat
Christian Buß in Der Spiegel schon mit dem Titel seiner Rezension „Tut-tut, hier
kommt der Opfer-Dampfer” klar machen wollen, dass dieses „schlichteste, schlud-
102
David Bathrick
rigste und scheußlichste Eventmovie seit langer Zeit [...] eine empörende These”
suggeriere, nämlich „da säuft ein Volk von Unschuldigen ab.”29 Symptomatisch
aber für die Buß-Rezension war – sie blieb in der Minderheit. Und sie blieb meines
Erachtens eine Minderheitsstimme, weil allmählich eine Änderung stattfindet in der
Art und Weise, wie im allgemeinen das Thema des deutschen Leides politisch und
auch moralisch angesehen und entsprechend künstlerisch dargestellt wird. In ihrem
Essay „The (In)Compatibility of Guilt and Suffering in German Memory” fragt
Aleida Assmann, ob die Berufung auf deutsches Leid notwendigerweise gleichgesetzt werden kann mit der Freisprechung (Entlastung) vom Verbrechen der Nazis
und beantwortet ihre eigene Frage wie folgt:
The logic [...] of the irreconcilable nature of guilt and suffering [...] leads to
a dead end. We cannot excise the experience of suffering from family memories just because they are politically incorrect. There is such a thing as a
human right to one’s own memories, which cannot be negated by taboos and
censorship.30
Die Logik [...] der Unvereinbarkeit von Schuld und Leid [...] führt uns in eine Sackgasse. Wir können nicht die Erfahrung des Leidens aus Familienerinnerungen herausschneiden, nur weil sie politisch inkorrekt sind. Es gibt
tatsächlich ein Menschenrecht auf eigene Erinnerungen, die nicht durch Tabu und Zensur negiert werden dürfen.
Die Tatsache, dass in Vilsmaiers Die Gustloff die überwiegende Zahl der Bösewichte bzw. Nazis bei dem Militär und nicht bei den Zivilisten zu finden waren,
heißt bei weitem nicht, dass der Film selber damit diese als Kategorie oder auch
historisch des Tätertums pauschal entlastet sähe. Es heißt nur, dass dieser big budget, big event, transnationale Schiffkatastrophenfilm gattungsmäßig und nicht primär ideologisch bedingt seine Gustloffstory von der Perspektive der Zivilisten aus
in die Welt setzte.
1
Vgl. Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NSVergangenheit, München 1999.
2
Vgl. Anne Fuchs, Mary Cosgrove, Georg Grote (Hg.), German Memory Contests. The Quest for
German Identity in Literature, Film and Discourse since 1990, London 2006.
3
Helmut Dubiel, Niemand ist frei von der Geschichte. Die Nationalsozialistische Herrschaft in den
Debatten des deutschen Bundestags, München 1999, S. 39.
4
Ebd., S. 40.
5
Robert G. Moeller, Germans as Victims? Thoughts on a Post-Cold War History of World War
II’s Legacies, in: History and Memory 17:1-2 / 2005, S. 151.
6
Uwe Timm, Am Beispiel meines Bruders, Köln 2003, S. 39; S. 41.
7
Harold Walser, Sabine Moller, Karoline Tschuggnall, „Opa war kein Nazi.“ Nationalsozialsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt am Main 2002, S. 21.
Enttabuisierte Erinnerung? Deutsches Leiden im Zweiten Weltkrieg
8
103
Vgl. Hermann Lübbe, Nationalsozialismus im politischen Bewusstsein der Gegenwart, In: Martin
Broszat, et. Al. (Hg.). Deutschlands Weg in die Diktatur, Berlin 1983, S. 329-349; bes. 334f. Mit
seiner Theorie des kommunikativen Beschweigens „entmoralisierte der Philosoph Lübbe den Begriff des Schweigens, [...] indem er es als ein notwendiges und produktives soziales Milieu charakterisierte, in dem sich die Transformation der Nachkriegsdeutschen in eine demokratische Gesellschaft vollzog.“ Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und
Geschichtspolitik. München 2006, S. 101.
9
Wulf Kansteiner, Losing the War, Winning the Memory Battle. The Legacy of Nazism, World
War II, and the Holocaust in the Federal Republic of Germany, in: Richard Ned Lebow, Wulf
Kansteiner, Claudio Fogu (Hg.), The Politics of Memory in Postwar Europe, Durham, NC2006, S.
102f.
10
Frank-Tagebuch: Im Hinterhaus, Der Spiegel /41, 10.10.1956.
11
Anne Frank, Das Tagebuch der Anne Frank. Übersetzt von Anneliese Schütz, Heidelberg 1950.
Im Jahre 1955 erschien eine Taschenbuchausgabe.
12
Peter Reichel, Erfundene Erinnerung. Weltkrieg und Judenmord im Film und Theater, München
2004, S. 145.
13
Peter Weiss, Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen, Frankfurt am Main 1965.
14
Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. A Report on the Banality of Evil, New York 1977,
S. 287.
15
P. Reichel, Erfundene Erinnerung, S. 251.
16
Peter Schneider, Deutsche als Opfer? Über ein Tabu der Nachkriegsgeneration, in: Lothar Kettenacher (Hg.), Ein Volk von Opfern? Die neue Debatte um den Bombenkrieg 1940-45, Berlin
2003, S. 160.
17
Heidemarie Uhl, in: Süddeutsche Zeitung, 29.Oktober 2003.
18
Günter Grass, Ich erinnere mich, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. Oktober 2000.
19
Günter Grass, Im Krebsgang. Eine Novelle, Göttingen 2002. S. 7.
20
Ebd., S. 99.
21
Günter Grass, Ich erinnere mich.
22
Aleida Assmann, Ute Frevert, Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart 1999. S. 51.
23
Fred Mauer, Nacht fiel über Gothafen, www.celluloid.de/film/kritique.
24
Robert M. Moeller, „Der Barde des Zweitenweltkriegs“ und der Zusammenbruch des „deutschen Ostens“: Frank Wisbar „Nacht fiel über Gotenhafen“. In: Mediale Mobilmachung III: Das
Kino der Bundesrepublik Deutschland als Kulturindustrie (1950-1962). München, S. 243.
25
Mit vollen Regiehänden, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. März 1960.
26
Mpo/dpa. Die Gustloff hat die Nase vorn, in: Tagespiegel, 3. März 2008.
27
Andreas Kilb, Schmacht fiel über Gotenhafen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. Februar
2008.
28
Vgl. auch die folgenden Rezensionen: Steffen Grimberg. Nennt eure Töchter Erika, in: Tageszeitung, 1. März 2008; Bernd Gäbler, „Gustloff – ein Filmgenre säuft ab“, in: Stern, 4. März 2008.
29
Christian Buß, Tut-tut, hier kommt der Opfer-Dampfer. Spiegel Online, 1. März 2008.
30
Aleida Assmann, On the (In)Compatibility of Guilt and Suffering in Memory, in: German Life
and Letters 59:2, April 2006, S. 196.
104
Helga Bories-Sawala
Un passé qui ne passe pas.
Täter, Opfer und Erinnerungskonflikte in Frankreich
1.
Frankreich hat ein Problem mit Vichy, soviel steht für den deutschen Blick auf das
Nachbarland fest. Die Grande Nation – ein Ausdruck, der fast nur im deutschen
Sprachgebrauch vorkommt – tut sich mit dem Eingeständnis schwer, dass sich das
Land mit dem Besatzer arrangiert, eingelassen, sich ihm in vorauseilendem Gehorsam angedient, eben kollaboriert hat. Die Mitschuld der Pétains, Quislinge, Musserts und Vlasovs lässt die Deutschen mit ihrer unbewältigten Vergangenheit nicht
allein; was entscheidend zur Langlebigkeit des Befunds beigetragen hat: von den
1970er Jahren, als der „Mythos der Résistance“ zu bröckeln begann, bis heute. Es
ist an der Zeit, einen genaueren Blick auf die „Vergangenheitsbewältigung à la
française“ zu werfen und, überspitzt formuliert, die Demontage des Mythos ihrerseits zu entmythifizieren....
Das Wort „Vergangenheitsbewältigung“, statt, wie es korrekter heißen müsste:
„Aufarbeitung der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit“ wird im folgenden
im Bewusstsein verwendet, da es sehr gut eben jene Illusion ausdrückt, dass es gelingen könnte, dieser Vergangenheit Herr zu werden. In Frankreich hält sich übrigens, im privaten Gespräch mit wohlmeinenden Franzosen, aber sogar auch bei
Historikern, wenn sie nicht mit der zeitgenössischen Geschichte der Bundesrepublik gut vertraut sind, ein Mythos, der sich ebenso zäh behauptet: Deutschland sei
Musterschüler bei der Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit. Und ob wir nicht
endlich, nachdem die Einheit Deutschland wieder zu einem „normalen“ Land gemacht habe, aus der Dauerpose des Kniefalls und der Selbstgeißelung aufstehen
wollten, um einen Schlussstrich zu ziehen? 1
Dabei bedarf es keiner langwierigen Recherchen, um festzustellen, dass die Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit kein Ruhmesblatt der Historikerzunft der jungen Bundesrepublik war: die ersten ernsthaften historischen Arbeiten stammen von
Exilanten oder Journalisten. 2 Und in der Öffentlichkeit hielten sich die Ideologeme
der Nazizeit, einschließlich des Antisemitismus und der Ablehnung des deutschen
Widerstands, hartnäckig. 3 Noch 1985 sorgte es für Aufregung, dass ein Bundespräsident das Kriegsende als „Befreiung“ bezeichnete, und wenig „Bußfertigkeit“
durchzog die politische Auseinandersetzung um die Wehrmachtssausstellung in
den späten 1990er Jahren, die den Mythos von der „sauberen“ Wehrmacht angriff,
fast die Regierungskoalition in Bremen gesprengt hätte und zu einer quasi gruppentherapeutischen Sitzung im Bundestag führte. 4 Die Geschichte des Ringens um die
106
Helga Bories-Sawala
Entschädigung von Opfern des Nationalsozialismus in der Nachkriegszeit, die alles
andere als freiwillig erfolgte, ist eine mehr als aufschlussreiche Lektüre, und die
intensive Debatte um die späte und bescheidene Entschädigung für Zwangsarbeit
fügte ihr um die Jahrtausendwende ein unrühmliches Kapitel hinzu: es ging dabei
viel weniger um die Opfer als um die Zögerlichkeit von Unternehmen, in einen
Fonds einzuzahlen, der sie doch vor Prozessen und Imageverlust im Ausland bewahren sollte. 5
Es kann also bei diesem Blick auf Frankreich nicht um Exkulpation oder einen
Wettbewerb über die bessere „Vergangenheitsbewältigung“ gehen. Schließlich gab
es in beiden Fällen eine offizielle Lesart und daneben andere, oppositionelle Sichtweisen, die insbesondere im Kontext der ideologischen Polarisierung des Kalten
Krieges zunächst wenig Chancen auf Gehör fanden. Wie zu zeigen sein wird, bedurfte es auch hier insbesondere des kritischen Blicks der Generation der Söhne
und Töchter, um einen Paradigmenwechsel zu bewirken.
Bei der folgenden Betrachtung werden die öffentliche bzw. veröffentlichte Meinung, sprich die Ereignisse und Debatten, die große Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben, im Zentrum stehen, insbesondere Skandale um Politiker und ihre
Vergangenheit, Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Kollaborateure und schließlich auch die Belange der Opfer. Bei der Darstellung der Wissenschaftsgeschichte
können nur einige herausragende Landmarken berücksichtigt werden, die das kollektive Gedächtnis nachhaltig geprägt haben, und leider müssen sowohl die quasi
offizielle Geschichtsschreibung, wie sie ja gerade für Frankreich gut an Schulbüchern und Lehrplänen ablesbar ist, als auch Filme und Literatur so gut wie völlig
ausgespart werden; sie wären jeweils einer eigenen Betrachtung wert. 6
Der Rahmen dieses Beitrags erlaubt es auch nicht, ausführlicher auf die zeitgeschichtlichen Kontexte einzugehen, die die Auseinandersetzung mit der VichyVergangenheit maßgeblich bestimmten: in der direkten Nachkriegszeit die Kolonialkriege in Indochina und Nordafrika, namentlich der Algerienkrieg, und im globalen Zusammenhang der Kalte Krieg. Diese Prozesse konfrontierten Frankreich mit
der Notwendigkeit, von einer traditionellen Großmacht zu einer mittleren Position
zu finden, in einem Spiel, das zwei Supermächte bestimmten. Die Option Frankreichs war dabei ein Balance-Akt zwischen dem Primat der Bewahrung nationaler
Unabhängigkeit und von Handlungsspielräumen nach beiden Seiten bei gleichzeitiger Verankerung im westlichen Lager. Solche Kraftlinien bestimmten natürlich das
Verhältnis zur eigenen Vergangenheit erheblich. Nicht zuletzt erzwang der OstWest-Gegensatz eine rasche „Aussöhnung“ mit dem westlichen Teil Deutschlands
innerhalb eines Prozesses der europäischen Einigung (West-)Europas, der zwar der
Staatsräson entsprach, aber nicht dem Empfinden weiter Teile der französischen
Gesellschaft. 7 Spuren einer eben nicht genügend aufgearbeiteten Vergangenheit
Un passé qui ne passe pas. Täter, Opfer und Erinnerungskonflikte in Frankreich
107
sind bis in die heutige Zeit bei jedem der großen und kleinen deutsch-französischen
„Missverständnisse“ zu spüren, sogar noch, wenn die Aussöhnung als Erfolgsgeschichte beschworen wird:
„Warum, so fragen unsere britischen Freunde, müssen Deutsche und Franzosen
denn immer so demonstrativ ihre Freundschaft betonen? Weder Churchill, noch
Thatcher noch Tony Blair haben jemals ihren deutschen Amtskollegen mit so überbordender Herzlichkeit umarmt. Warum also? Die Antwort ist unangenehm: Die
Briten brauchen das nicht. Sie haben kein Erinnerungsproblem mit dem Zweiten
Weltkrieg. Sie haben den nämlich gewonnen.“ 8
In diesem Zusammenhang ist auch interessant, dass unter französischen Schülern
die spontane Meinung weit verbreitet ist, Frankreich habe den Zweiten Weltkrieg
gewonnen. Seine Rolle als Besatzungsmacht nach 1945 lässt in Vergessenheit geraten, dass Frankreich Deutschland nach dem Überfall auf Polen 1939 den Krieg erklärt hatte (zu Hitlers Überraschung, nachdem die vorherigen Provokationen keine
Konsequenzen nach sich gezogen hatten), den Krieg dann aber nicht geführt hatte –
in der Erwartung, Hitler und Stalin würden sich gegenseitig den Garaus machen.
Dann kam der Blitzkrieg im Westen, die unerwartete und traumatisch schnelle Niederlage 1940, die anschließende Besatzung und die Installation des kollaborierenden Vichy-Regimes von Hitlers Gnaden. Befreit wurde das Land – ohne die Bedeutung der Résistance schmälern zu wollen – von außen, und die nachträgliche Aufnahme in den Kreis der Siegermächte ist sicher nicht so sehr den militärischen als
vielmehr den diplomatischen Meisterleistungen von Charles de Gaulle zu verdanken.
Im Folgenden sollen grob jeweils die dominierenden Linien in der Debatte der vergangenen 60 Jahre skizziert werden, wobei betont sei, dass es immer auch Gegenläufiges gab. Wenn man z.B. feststellen kann, dass in der unmittelbaren Nachkriegszeit in Frankreich der Holocaust kein Thema war, bedeutet das nicht, dass er
für niemanden ein Thema gewesen wäre, dass alle geschwiegen hätten oder dass
die Fakten nicht zugänglich gewesen wären. Das Thema war nur nicht in einer
Weise in der öffentlichen Meinung präsent, dass es die kollektive Wahrnehmung
geprägt hätte.
2. Blicke auf die französische „Vergangenheitsbewältigung“
Ende der 1980er Jahre legte Henry Rousso mit dem Syndrome de Vichy 9 die bisher
maßgebliche Darstellung des französischen Umgangs mit der eigenen Vergangenheit vor, die bis in die 1990er Jahre fortgeschrieben wurde. 10 In deutscher Sprache
gibt es leider nichts Vergleichbares. Das Buch von Jörg Altwegg über „Die langen
Schatten von Vichy“ 11 handelt entgegen dem viel versprechenden Titel nicht von
der Posterität Vichys, sondern es ist ein langer politischer Essay, leider ohne jeden
108
Helga Bories-Sawala
wissenschaftlichen Apparat, zur Intellektuellen-Debatte über Vichy und nicht zum
kollektiven Gedächtnis.
Zu einzelnen Aspekten, wie z.B. zum Barbie-Prozess, gibt es jedoch auf deutsch
und auf französisch eine Fülle von Einzeldarstellungen. Ich greife den immer noch
sehr lesenswerten Aufsatz von Claus Leggewie zum Thema „Frankreichs kollektives Gedächtnis und der Nationalsozialismus“ heraus, der während des parallelen
deutschen Kontextes, nämlich des Historikerstreits, erschien. Leggewie arbeitet
hier in aller Kürze, und mit mehr deutsch-französischen und internationalen Bezügen als das Buch von Rousso, die komplexen Prämissen der französischen „Vergangenheitsbewältigung“ heraus (zugleich Opfer wie Mit-Täter, Land des Widerstands wie des politischen Antisemitismus) und nennt wichtige Landmarken der
Aufarbeitung der Vergangenheit in Frankreich bis Mitte der 1980er Jahre, u.a. auch
den Resistentialismus, die Holocaust-Leugnung, die Opfer-Hierarchien. Sehr informativ ist die dort enthaltene Darstellung der historiographischen Debatten, z.B.
um die Natur des Vichy-Regimes (Faschismus oder konservative Diktatur), der
Streit über die Thesen Sternhells über Faschismus als genuin französische Erfindung und die Gegenthese von der französischen Immunität oder die Debatte über
die Handlungsspielräume Vichys gegenüber dem Besatzer. Wie das Buch von
Rousso müssten diese Arbeiten nun fortgeschrieben werden.
Durchaus noch aktuell sind Leggewies’ Bemerkungen zum deutschen Blick auf die
französische Historiographie, der ihr teils immer noch Blockdenken unterstellt und
das also bereits Mitte der 1980er Jahre deutlich „zerfallende Geschichts- und Nationalbewusstsein“ 12 gar nicht wahrgenommen hat. Was hier anlässlich des BarbieProzesses konstatiert wird, ließe sich leicht auf neuere Momente der französischen
„Vergangenheitsbewältigung“ anwenden. Die deutsche Presse habe darüber berichtet, „so als handele es sich hier um ein rein innerfranzösisches Schauerdrama, in
dem peinliche Enthüllungen über die angebliche Schwäche, die innere Zerrissenheit und die moralischen Desaster des Widerstands zu erwarten seien, die bislang
unentdeckten Denunzianten französischer Zunge schlaflose Nächte bereiten und die
Legenden und Lebenslügen selbst ernannter Résistance-Helden in der classe politique zu zerstören fähig sein sollten. Nichts davon ist wahr geworden. Deutsche Übererwartungen entpuppten sich als Überreaktionen, die eher mit hiesiger ‚Vergangenheitsbewältigung’, unterschwelligen oder ganz offenen Entschuldungs- und
Entsorgungsabsichten zu tun haben – und nebenbei auch mit einer guten Portion
enttäuschter Frankophilie.“ 13
Der Beitrag von Philippe Burrin in den Erinnerungsorten von Pierre Nora 14 erfüllt
zwar nur im letzten Teil den Anspruch, eine Geschichte zweiten Grades darüber zu
entwerfen, wie das Thema das Geschichtsbild der kollektiven Erinnerung geprägt
hat; der erste Teil verortet im Gegenteil Vichy in einer rückwärtigen Kontinuität
Un passé qui ne passe pas. Täter, Opfer und Erinnerungskonflikte in Frankreich
109
der französischen Geschichte. Die Nachkriegsgeschichte von Vichy wird in Anlehnung an Rousso entworfen, fügt aber einen interessanten Gedankengang hinzu, auf
den wir zurückkommen werden. Der Aufsatz erscheint und endet also ebenfalls
Anfang der 1990er Jahre.
Bis in die jüngste Zeit reichen dagegen die Darstellung von Mechthild Gilzmer über „Denkmäler als Medien der Erinnerungskultur“ 15 , ihre Genese und die konkreten politischen und ideologischen Begleitumstände ihrer Realisierung vom Kriegsende bis heute, und die Darstellung von Jean-Marc Dreyfus: „Ami, si tu tombes“. 16
Beide Bücher handeln von der Erinnerungskultur, wie sie sich in Mahnmalen und
Gedenkfeiern ausdrückt. Das Buch von Gilzmer beschränkt sich dabei nicht auf die
Kategorie der deportierten Widerstandskämpfer und enthält mehr theoretische und
kritische Reflektion, während das Werk von Dreyfus stärker andere Elemente der
Erinnerungsarbeit einbezieht, z.B. Memoirenliteratur und Filme, nationale Wettbewerbe, Gedenkfahrten an die Orte der Deportation und schließlich auch die Historiographie, aber ausschließlich mit Bezug auf die in Konzentrationslager Verschleppten. Beide zeichnen jenen bekannten Paradigmenwechsel nach: von der zunächst in der öffentlichen Wahrnehmung dominierenden Figur des kommunistischen oder gaullistischen Widerstandskämpfers durch das Erstarken einer spezifisch jüdischen Erinnerung hin zu einer tendenziellen Gleichsetzung von Deportation und Shoah.
Diese wenigen Beispiele mögen genügen, um deutlich zu machen, dass inzwischen
nicht nur die Geschichte Vichys selbst längst Gegenstand der Historiographie geworden ist 17 – was nicht bedeutet, dass nicht Bedarf für weitere Forschungen wäre –
, sondern dass auch die Geschichte der Nachkriegszeit zum Gegenstand geworden
ist, sprich, spätestens seit Beginn der 1990er Jahre auch die Aufarbeitung der Aufarbeitung begonnen hat.
Erst in allerjüngster Zeit kommt es dabei auch zu einer deutsch-französischen Zusammenarbeit, die sich allerdings bislang auf den Kreis der Spezialisten beschränkt. Für die Öffentlichkeit beider Länder, einschließlich der meisten Intellektuellen, gilt immer noch die geringe Wahrnehmung der gegenseitigen öffentlichen
Debatte, von manchen deutsch-französischen Milieus einmal abgesehen. Der deutsche und etwas stärker noch der französische Blick waren und sind zum Teil noch
bis heute national beschränkt. So sind weder der Eichmann-Prozess in Israel noch
der Bitburg-Kniefall Reagans noch die Waldheim-Affäre seinerzeit von der französischen Öffentlichkeit stark beachtet worden, von Juden und Kommunisten abgesehen.
Aber wie in Deutschland der Nationalsozialismus, ist für die französische Gesellschaft der Zweite Weltkrieg noch immer das bestimmende Raster, durch das andere
110
Helga Bories-Sawala
Ereignisse wahrgenommen werden. Er hat in dieser Hinsicht die Dreyfus-Affäre
abgelöst. So gut wie jede Konfliktsituation wird durch dieses Prisma betrachtet;
sogar bei der Kopftuchdebatte 1989 wimmelte es von Bezügen zu Vichy. „Munich
de l’école républicaine“ 18 – ein feiges Zurückweichen der republikanischen Schule
vor dem aggressiven Islamismus wie beim Münchener Abkommen, sagen die Befürworter eines Kopftuch-Verbots; „Vichy de l’intégration“19 erwidern die Gegner
und spielen auf die Ausgrenzungspolitik Vichys gegenüber Minderheiten an.
Und – lange vergessen – auch die Frühphase der deutschen Einheit war von großer
französischer Skepsis begleitet, und die Karikaturen, die in diesem Zusammenhang
in der Presse erschienen, bedienten sich häufig beim Zweiten Weltkrieg. 20
3. Opfer und Täter im ersten Nachkriegsjahrzehnt
Rousso unterscheidet in einer Art „Fieberkurve“ 21 die folgenden Etappen der französischen „Vergangenheitsbewältigung“: das erste Nachkriegsjahrzehnt (19441954) als die Phase der unmittelbaren Konfrontation mit den Folgen der Besatzung
und des Bürgerkrieges, der Befreiung, der „Säuberung“ und der Prozesse gegen
Kollaborateure, dann 1954-1971 die Verdrängung der Vichy-Zeit unter dem Zeichen der nationalen Versöhnung, der Einheit aller Franzosen, die Hochphase des
„Resistenzialismus“, bis schließlich Anfang der 1970er Jahre eine neue Generation
neue Fragen stellte und den Spiegel der Illusionen zerbrach. Danach wurde Vichy
zur Obsession, wobei die Frage der Mitschuld an der Shoah alle anderen Aspekte
überlagerte.
Die direkte Nachkriegszeit war in jeder Hinsicht bestimmt von den unmittelbaren
Folgen der Besatzung und dem Wiederaufbau des Landes. Nach und nach, und definitiv ab der deutschen Kapitulation im Mai 1945, kehrten, oft nach vielen weiteren Irrfahrten und Lageraufenthalten, die französischen Kriegsgefangenen, zivilen
Zwangsarbeiter und die wenigen überlebenden KZ-Häftlinge in ihre Heimat zurück, wo sie sich manchmal überzählig und nicht so willkommen fühlen, wie sie es
Un passé qui ne passe pas. Täter, Opfer und Erinnerungskonflikte in Frankreich
111
sich in der Höhle des Löwen ausgemalt hatten. Innerhalb der Gruppe der KZHäftlinge waren es vor allem die Résistants, denen das öffentliche Interesse galt,
viel weniger die wenigen überlebenden Juden. Sartre bemerkte dazu unmittelbar
nach Kriegsende:
Heute gelingt es denen, die nicht von den Deutschen deportiert oder ermordet
wurden, heimzukehren. Viele gehörten zu den ersten Widerstandskämpfern; andere haben einen Sohn, einen Neffen in der Armee Leclerc. Ganz Frankreich jubelt,
auf den Strassen verbrüdert man sich, die sozialen Kämpfe scheinen vorläufig
vergessen; die Zeitungen widmen da ganze Spalten den Kriegsgefangenen, den
Deportierten. Erwähnt man die Juden? Feiert man die Rückkehr der Überlebenden, gedenkt man einen Augenblick derer, die in den Gaskammern von Lublin
starben? Kein Wort. Keine Zeile in den Tageszeitungen. Denn man darf die Antisemiten nicht reizen. Mehr denn je braucht Frankreich die Einheit. Wohlmeinende
Journalisten sagen: „In ihrem eigenen Interesse darf man die Juden zur Zeit nicht
erwähnen.’ Manche unter ihnen billigen das und sagen: Je weniger man von uns
spricht, um so besser. 22
Die Résistance als Haltung wurde hoch geehrt, der tatsächliche politische Einfluss
der Widerstandskämpfer blieb allerdings gering. „Résistance sans Résistants“, ein
Widerstand ohne Widerstandskämpfer, befindet Rousso. 23 Tatsächlich setzte die
Résistance durchaus politisch nicht ihre Ziele durch, wenn man die Zukunftsvorstellungen des Conseil national de la Résistance zum Maßstab nimmt. Und auch
die dort beschworene Einheit der Hitlergegner war nicht von Dauer: schon 1947
verloren die kommunistischen Minister ihre Ämter.
Der Kalte Krieg betraf auch den Umgang mit den Opfern. Die Diskussionen und
Definitionen der verschiedenen Statusabgrenzungen unterschiedlicher Personengruppen, die auf Folgen des Zweiten Weltkriegs basieren – es gibt in Frankreich
zehn verschiedene juristische Kategorien in dieser Hierarchie –, ist in Europa einzigartig und eigentlich nur aus der beschriebenen politischen Ausgangslage im
Nachkriegsfrankreich zu verstehen, in der die Identifikation mit der Résistance sich
oft proportional zum Bedürfnis verhielt, Vichy zu verdrängen. Die erste Statusdefinition für die KZ-Häftlinge (Mai 1945) schloss die Häftlinge mit kriminellem Hintergrund aus und bezeichnete alle übrigen ohne Unterschied als „politische Deportierte“. Allerdings kamen nur Franzosen in den Genuss dieser Eingruppierung und
der damit verbundenen materiellen Vorteile. Die von französischem Boden aus verschleppten Ausländer waren bis 1981 davon ausgenommen, was angesichts der
Tatsache sehr schwer wiegt, dass von den KZ-Häftlingen mit der höchsten Todesrate, nämlich den 75.721 Juden, nur 24.500 einen französischen Pass hatten. Vichy
hatte gleich 1940 einer großen Gruppe von Neubürgern, darunter vielen Juden, die
französische Staatsangehörigkeit wieder aberkannt.
112
Helga Bories-Sawala
Das Gesetz von 1948 unterschied dann, auf Betreiben der bürgerlichen Parteien,
zwischen Résistance-Deportierten einerseits, die aufgrund von politischen Aktivitäten interniert oder ins KZ nach Deutschland gebracht worden waren (sozusagen ein
persönliches Verdienst daran hatten, zu Opfern zu werden), und andererseits der
Gruppe der aus politischen oder rassischen Gründen Verschleppten, die, abgesehen
von ihrer Zugehörigkeit zu einer verfolgten Gruppe, persönlich „nichts dafür konnten“, dass sie ins KZ gebracht wurden. Mit dieser zweiten, hierarchisch niedriger
eingestuften Kategorie müssen bis heute im Wesentlichen Kommunisten und Juden
vorlieb nehmen. In der unmittelbaren Nachkriegszeit war in der französischen Öffentlichkeit ein KZ-Häftling in erster Linie ein Widerstandskämpfer. Heute haben
sich die Verhältnisse praktisch ins Gegenteil verkehrt und sind durch die fast ausschließliche Assoziation KZ – Holocaust ersetzt worden.
Die Betonung der Résistance im Nachkriegsfrankreich hatte allerdings auch zur
Folge, dass mit den Gaullisten und den Kommunisten politische Kräfte in den Vordergrund rückten, die den Kalten Krieg der 1950er Jahre und seine Fronten nicht in
der in anderen westeuropäischen Ländern verbreiteten Form zur Innenpolitik werden ließen, und die auch beide weniger bereit waren, Frankreichs Interessen der
westlichen Hegemonialmacht USA unterzuordnen. Das bedeutet jedoch nicht, dass
der Kalte Krieg nicht auch in Frankreich gesellschaftliche Gruppen entlang dem
Ost-West-Gegensatz in ideologische Lager spaltete. Dafür sind die Verbände der
KZ-Überlebenden leider ein besonders deutliches Beispiel. Schon 1945/46 gab es
im Gegensatz zu den Kriegsgefangenen und den Zwangsarbeitern des Service du
Travail Obligatoire keinen einheitlichen Deportiertenverband, sondern mehrere
Organisationen, deren Entwicklung hier nicht dargestellt werden kann. Daraus entstanden drei Organisationen: die prokommunistisch orientierte FNDIRP (Fédération Nationale des Déportés et Internés Résistants et Patriotes), die den bürgerlichen
Parteien nahestehende FNDIR (Fédération Nationale des Déportés et Internés
Résistants, sie befürwortete die Hierarchisierung von 1948) und die 1950 aus einer
Abspaltung der FNDIRP hervorgegangene UNADIF.
Nur aus der Besonderheit der französischen Nachkriegsgeschichte heraus ist
schließlich zu erklären, wieso die Verbitterung beim Kampf um gesellschaftliche
Anerkennung über Jahrzehnte anhielt und die Verbände der KZ-Häftlinge einerseits
(hier besonders die FNDIR-UNADIF) und der Verband der ca. 700.000 ehemaligen
zivilen Zwangsarbeiter andererseits, die von Vichy zum Arbeitseinsatz nach
Deutschland requiriert worden waren, einen großen Anteil ihrer Aktivitäten einem
erbitterten Zwist bis vor die höchsten Gerichte gewidmet haben, der sie dem Interesse der Öffentlichkeit immer weiter entfremdet hat. 24 Erst im Oktober 2008 erkannte der französische Staat auch die requirierten Zwangsarbeiter als Opfer an,
eine sehr späte Genugtuung, die für viele von ihnen erst posthum erfolgte.
Un passé qui ne passe pas. Täter, Opfer und Erinnerungskonflikte in Frankreich
113
Was die Täter angeht, so wurden die Prozesse der Nachkriegszeit gegen Kollaborateure 25 im Wesentlichen auf den Tatbestand des Verrats nationaler Interessen und
der Feindbegünstigung gestützt. „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, also die
Mitverantwortung für die Judendeportation, kamen erst sehr viel später als Anklagegrund zum Zuge. Der greise Pétain wurde in einem vielbeachteten Prozess 1945
zum Tode verurteilt, später wurde die Strafe von de Gaulle in eine lebenslängliche
Verbannung auf die Ile d’Yeu umgewandelt, wo er am 23. Juli 1951 starb. Die ideologischen Parteigänger der Kollaboration wurden in aller Regel sehr viel schärfer zur Verantwortung gezogen als Wirtschaftskreise, die mit den Besatzern Geschäfte gemacht hatten. Ein Manifest von 60 Intellektuellen verlangte am Kriegsende die Verurteilung kollaborationistischer Schriftsteller und die gerechte Bestrafung der „Betrüger und Verräter“. Zu den Unterzeichnern gehörten so bekannte
Namen wie Aragon, Camus, Eluard, Leiris, Malraux, Martin du Gard, Mauriac,
Paulhan, Sartre, Valéry. Später plädierten einige für das „Recht auf Irrtum“ und
setzten sich für Gnadengesuche ein. Das aus der Résistance hervorgegangene
Schriftstellerkomitee verurteilte mehr als 100 Autoren. Die weniger prominenten
erhielten meist Publikationsverbot, das Todesurteil gegen Brasillach wurde vollstreckt, Drieu la Rochelle kam ihm durch Selbstmord zuvor, Céline gelang die
Flucht, er wurde 1951 begnadigt und gilt inzwischen in manchen Kreisen sogar
schon fast als rehabilitiert.
Die vorherrschende Einschätzung Pétains in dieser Zeit, die auch von gaullistischer
Seite gestützt wurde, nährte die Vorstellung, der Vichy-Staat einerseits und die
France Libre des General de Gaulle andererseits hätten zwei komplementäre Strategien, zwei „Sehnen am Bogen Frankreichs“ dargestellt, um das nationale Interesse Frankreichs in schwerer Zeit zu wahren. So vertrat Robert Aron in seiner Histoire de Vichy 1954 die These vom „Schwert“ de Gaulle und vom „Schild“ Pétain.
Während einige namhafte Kollaborateure und Exponenten des Regimes verurteilt
wurden, suchte man einen Weg, um die Masse der ehemaligen Pétain-Anhänger zu
integrieren, auch aus wahltaktischen Gesichtspunkten. Die alten Eliten wurden
durchaus nicht radikal ausgetauscht und insbesondere die zahlreichen Opportunisten aus der Vichy-Zeit arrangieren sich ihrerseits bereitwillig mit dem neuen Frankreich. Besser de Gaulle als eine neue Volksfront, mag ihre Devise gewesen sein.
Unterdessen strickten die Apologeten des Marschalls erfolgreich an seiner Legende. Die 1959 gegründete Association pour défendre la mémoire du maréchal Pétain
gibt es heute noch und auf der Ile d’Yeu, auf die er verbannt war, wird sein Andenken noch hoch gehalten. Ich selbst wurde 2001 Zeugin einer Prozession dieses Vereins, anlässlich des 50. Jahrestags seines Todes, unterstützt von fundamentalistischen Katholiken vom Festland, deren Pfarrer die Francisque auf der Soutane trugen, und von Reden am Grab des Marschalls, die, strikt am Rande der Legalität,
zwar den erfolgreichen General von 1916 in den Vordergrund stellten, aber auch
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Helga Bories-Sawala
die Werte „Travail – famille – patrie“ (die Devise des Vichy-Regimes) beschworen.
Zieht man die Bilanz der „Säuberung“ der direkten Nachkriegszeit, so wurden
Rousso zufolge 350.000 Franzosen wegen Kollaboration belangt und es gab 1.500
vollstreckte Todesurteile. 1945 verbüßten 40.000 Personen Gefängnisstrafen wegen
Kollaboration, 1947 reduzierte eine erste Amnestie die Zahl auf 13.000. Zu Beginn
der 1950er Jahre wandelte sich die Stimmung deutlich. Zwei umfassende Amnestie-Gesetze wurden 1951 und 1953 gegen die Stimmen der Linken verabschiedet,
in deren Folge 1958 noch 19 und schließlich 1964 kein Kollaborateur mehr einsaßen. 26
Besonders tiefe und bis heute nicht ganz vernarbte Gräben in der kollektiven Erinnerung hinterließ der Prozess um das Massaker von Oradour, der 1953 in Bordeaux
stattfand. 27 Am 10. Juni 1944 waren unter dem Vorwand der Vergeltung für Widerstandsakte 642 Einwohner des Dorfes Oradour von Angehörigen der auf dem
Weg in die Normandie durchziehenden SS-Division „Das Reich“ erschossen und
verbrannt worden. Einige der Hauptverantwortlichen fielen kurze Zeit darauf bei
der Abwehr der alliierten Landung. Unter den 21 Angeklagten, die neun Jahre später vor Gericht standen, waren 14 elsässische Franzosen, von denen 12 zwangsweise in SS-Uniformen gesteckt worden waren (so genannte „malgré-nous“). Das Urteil lautete auf Tod für die beiden deutschen Offiziere, Zwangsarbeit und Gefängnis
für die übrigen deutschen und französischen Beteiligten. Angesichts der Empörung
im Elsass wurde indes gleich darauf ein Amnestie-Gesetz erlassen und die Elsässer
kamen wieder frei. Seitdem hatte Oradour es abgelehnt, außer de Gaulle je wieder
Vertreter des französischen Staates zu empfangen. Erst Mitterrand besuchte 1982
Oradour, wobei der kommunistische Minister, der aus der Gegend stammte, nur
knapp verhindern konnte, dass der ganze Ort zum Angeln ging. 28
Ein weiterer denkwürdiger Prozess fand 1954 gegen Oberg, der 1942-1944 oberster
SS-Chef in Frankreich war, und seinen Stellvertreter Knochen statt, die Hauptverantwortlichen für die Repression der Résistance und die Judenverfolgung in Frankreich. Bemerkenswert ist, dass ihr französisches Pendant, René Bousquet, in diesem Prozess lediglich als Zeuge auftrat und erfolgreich die Bedeutung des Polizeipakts von 1942 mit der Schutzbehauptung herunterspielte, er habe dabei nach Möglichkeit französische Interessen gewahrt. Oberg und Knochen wurden zum Tode
verurteilt, 1958 begnadigt und 1962 auf dem Höhepunkt der deutsch-französischen
Wiederannäherung von de Gaulle freigelassen.
4. Der „Résistance-Mythos“ und seine Demontage
Die der Ost-West-Konfrontation und dem Primat der (west-)europäischen Integration geschuldete „Aussöhnung“ zwischen den beiden „Erbfeinden“ fällt nicht zufäl-
Un passé qui ne passe pas. Täter, Opfer und Erinnerungskonflikte in Frankreich
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lig in jene Hochphase des Resistenzialismus, oder auch des „Résistance-Mythos“,
als die die Jahre zwischen 1954 und 1971 gelten. Die Begriffe bedürfen der Erläuterung. Von „Résistancialisme“ sprachen ursprünglich die Gegner der Säuberungen, die mit der Befreiung einher gingen, und er besagt nicht etwa, es habe die
Résistance nicht gegeben. Im Bezug auf auf die 1950er/1960er Jahre meint er die
Überhöhung der Résistance als Erinnerungsobjekt und ihre Gleichsetzung mit der
Nation als Ganzes, vor allem von gaullistischer Seite. Angelegt war diese Sicht der
Dinge bereits in den de Gaulle-Reden von 1944, die postulierten, die Geschichte
Frankreichs werde in London und Algier geschrieben. Voll ausformuliert findet
sich das „gaullistische Résistance-Axiom“ 1964 in der Rede von Malraux anlässlich der Überführung der sterblichen Überreste von Jean Moulin ins Pantheon: „die
Résistance ist de Gaulle, de Gaulle ist Frankreich, also ist die Résistance Frankreich“. 29
Eine solche harmonisierende Sichtweise stellte ein mächtiges Identifikationsangebot für die eher ambivalente Masse der französischen Bevölkerung dar und führte
gleichzeitig zur Marginalisierung der Kollaboration des Vichy-Regimes und zum
Ausschluss aller divergierenden Gruppenerinnerungen aus dem kollektiven Gedächtnis der Nation: z.B. der Kriegsgefangenen, der Zwangsarbeiter, der Juden und
marginaler Gruppen von Verfolgten und Widerstandskämpfern, ja aller Zwischentöne, in der Hymne auf die französische Nation als einiges Volk im Widerstand.
Dennoch erschienen in dieser Zeit durchaus wertvolle Forschungsarbeiten, die noch
heute Bestand haben, z.B. im Rahmen des Comité d’Histoire de la Seconde Guerre
mondiale mit seinem Netz von Départements-Korrespondenten. Seit 1964 regt der
Concours national de la Résistance et de la Déportation Schüler zu eigenen Arbeiten an – eine Initiative, die unverkennbar dem „Résistance-Mythos“ entsprungen
ist, ihn aber nichtsdestotrotz überlebt und neue Formen gefunden hat.
In der Bilanz kann man festhalten, dass der „Résistance-Mythos“, der von Gaullisten und Kommunisten in einem „Wettstreit um die Deutungshoheit“ 30 gepflegt
wurde, sehr viel größere Chancen hatte, zwei Jahrzehnte lang zum herrschenden
Erinnerungsdiskurs zu werden, als der Pétain-Mythos der direkten Nachkriegzeit,
der nur in sehr marginaler Form fortexistiert. Bei Burrin erfährt der gaullistische
Resistenzialismus eine interessante Interpretation, die insbesondere den generationellen Bruch, der folgen sollte, über Rousso hinausgehend erklärt:
Er (de Gaulle) war von den gleichen Werten durchdrungen wie Pétain, als er
aus der Situation vom Sommer 1940 den gegenteiligen Schluss zog: Die
Größe und Ehre Frankreichs erforderte es aus seiner Sicht, eher den Krieg
weiter zu führen, als die moralische Wende der Nation herbeizuführen, die
auch er für unbedingt notwendig hielt, aber erst nach dem Sieg. De Gaulle
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teilte weder die Idee der Sühne durch Leiden, die Pétain pflegte, noch dessen
Verklärung der Scholle und Ignoranz des technischen Fortschritts, und ebenso wenig dessen autoritäre Doktrin. Für ihn war die Republik akzeptabel,
solange es eine starke Republik war. Aber ansonsten finden wir bei ihm die
gleiche Verabsolutierung der Nation, die gleiche Betonung der Erinnerung
als Quelle der Zukunft. Und mit seiner Interpretation des Kriegs und der Vichy-Regierung wollte de Gaulle just dies: mittels einer einheitlichen und
einheitsstiftenden Erinnerung die Nation stärken und einigen.31
Das „Zerbrechen des Spiegels“ in den 1970er Jahren 32 kann so als ein Zerbrechen
der ideologischen „Käseglocke“ des Gaullismus verstanden werden, die mit einer
neuen Generation möglich und durch die 68er-Bewegung auf die Tagesordnung
gesetzt wurde. Die Besatzungszeit und die Kollaboration waren nicht das Hauptanliegen der revoltierenden Studenten und Arbeiter, aber Bezüge dazu waren auf
Schritt und Tritt präsent: CRS=SS las man auf Wänden und Plakaten und mit dem
Slogan: „Wir sind alle deutsche Juden“ wurde gegen die Ausweisung von Daniel
Cohn-Bendit protestiert – die Gegenseite antwortete: „Cohn-Bendit nach Dachau“. 33 Und, wie überall in Europa, war 1968 natürlich auch ein Generationenkonflikt, das Aufbegehren der erwachsen gewordenen Nachkriegsgeneration gegen die
Lebenslügen der Eltern.
In der französischen Historiographie löste die 1973 erschienene Übersetzung der
Geschichte Vichys aus der Feder des amerikanischen Historikers Robert Paxton 34
eine folgenreiche Revolution aus, seither zerfällt die Geschichtsschreibung in ein
Zeitalter vor und nach Paxton. Seine Hauptthese stellte radikal die noch lange nach
Kriegsende salonfähige Annahme in Frage, das kollaborierende Vichy-Regime sei
gegenüber einer direkten militärischen Besatzung und Verwaltung durch einen
„Gauleiter“ das geringere Übel gewesen.
Zeitgleich mit der Revolution im Geschichtsbild der Wissenschaft entstand der
Film „Le Chagrin et la pitié“ von Marcel Ophüls, der eine ähnliche Wirkung im
breiten Publikum hätte hervorrufen können, wenn ihn das Staatsfernsehen ORTF
nicht zehn Jahre lang unter Verschluss gehalten hätte. Der Film, der bis 1981 nur in
einigen Programmkinos zu sehen war, spielt in Clermont-Ferrand, also in der Provinz und der unbesetzten Zone, und lieferte anhand vieler Zeitzeugeninterviews ein
ungeschöntes Bild vom Alltag der Vichy-Zeit. Der Skandal, den er auslöste, ist für
den heutigen Betrachter kaum nachzuvollziehen. Damals warf man dem Film im
Wesentlichen vor, Franzosen auch in ihrer Niedrigkeit und Feigheit zu zeigen. Er
setzte in der Tat deutliche Gegenakzente gegen die Stereotype des edlen Résistant –
es gibt auch Royalisten unter ihnen – und er zeigt, dass nicht alle Wege, die in den
Widerstand führten, hochpolitisch motiviert waren. Ebenso bezieht der Film Position gegen das landläufige Klischee vom Kollaborateur als „Abschaum der Mensch-
Un passé qui ne passe pas. Täter, Opfer und Erinnerungskonflikte in Frankreich
117
heit“ und lässt einige im Originalton ihrer – teils patriotischen – Überzeugungen zu
Wort kommen. Vor allem zeigte er den Durchschnittsfranzosen in einem gänzlich
unheroischen Licht und konfrontierte ihn mit Fragen, die der umfassende Schirm
des „Résistance-Mythos“ implizit für geklärt gehalten hatte, ohne sie je zu stellen.
Noch mehr als der Film selbst zeigte dann das Verbot die Brüchigkeit der offiziellen Résistance-Legende. Der Film „zerstöre die Mythen, die die Franzosen noch
bräuchten“, erklärte der Direktor des Staatsfernsehens, selbst ehemaliger Widerstandskämpfer, vor dem Kulturausschuss des Senats. 35 Erst nach dem Wahlsieg
Mitterrands von 1981 wurde er erstmals auch im Fernsehen gezeigt.
Gleichzeitig melden sich ab Mitte der 1970er Jahre andere dissidente Stimmen zu
Gehör: die „Kinder der Kollaboration“ mit schillernden Memoiren und Romanen 36
– eine Welle, die als „mode rétro“ als „neue Vergangenheitsbewältigung“ an den
alten Mythen kratzte und dabei auch gelegentlich einen unbekümmerten Umgang
mit der historischen Wirklichkeit pflegte. Insbesondere die moralische Beliebigkeit
eines Engagements als Collabo oder Résistant, wie sie der Spielfilm „Lacombe Lucien“ (Louis Malle / Patrick Modiano) behauptete, rief Proteste seitens der traditionellen Résistance-Verbände hervor, aber auch Empörung einer Gruppenerinnerung,
die – auch verstärkt durch die Ausstrahlung des Films „Holocaust“ –, gerade zu
einem eigenen Ausdruck fand und immer mehr ins öffentliche Interesse rückte: die
Überlebenden des Holocaust und die Generation ihrer herangewachsenen Kinder.
In diese Zeit fiel der erste Teil des Touvier-Skandals: die Begnadigung Touviers
durch Staatspräsident Pompidou 1971. Aus katholischem Milieu stammend, hatte
er sich dem rechtsradikalen Parti Social Français von de la Roque angeschlossen,
war überzeugter Anhänger der „Nationalen Revolution“ Pétains und Aktivist seiner
Frontkämpferlegion, dann der Miliz in Lyon. 1946 und 1947 zum Tode verurteilt,
war er mithilfe der “ecclesiatic connection”37 untergetaucht. Die katholische Kirche
hatte inzwischen mehrfach um seine Begnadigung ersucht, was von de Gaulle stets
abgelehnt, aber schließlich 1971 von Pompidou gewährt wurde. Die ursprüngliche
Strafe war ohnehin seit 1967 verjährt. Diese Begnadigung löst heftige öffentliche
Proteste aus, zumal gleichzeitig Klaus Barbie alias Klaus Altmann, der als SD-Chef
in Lyon das deutsche Pendant zu Touvier gewesen war, auf französisches Betreiben
in Bolivien verhaftet und nach Frankreich verbracht wurde.
5. Vichy als ständige Referenz
Mittlerweile haben wir mit dem Ende der 1970er und dem Anfang der 1980er Jahre
die Phase erreicht, die Rousso mit „Obsession“ charakterisiert. Die „dunklen Jahre“
Frankreichs (so der Titel eines 1993 erschienen wichtigen Sammelbandes) 38 waren
nun zu einer ständigen Referenz geworden und die öffentliche Wahrnehmung wurde von einer Reihe später Prozesse gegen Kollaborateure und politischer Skandale
in Atem gehalten. Ende 1978 erschien im Express ein Interview mit dem ehemali-
118
Helga Bories-Sawala
gen Kommissar für Judenfragen 1942-44, Darquier de Pellepoix, der keinerlei Reue
zeigte und den Holocaust als jüdische Erfindung bezeichnete. Er wurde wegen Rassenhetze angeklagt, starb aber 1980, noch bevor der Prozess stattfinden konnte. Die
Existenz der Gaskammern war, auch international, immer wieder in Zweifel gezogen worden. Aber neu war in den 1980er Jahren das öffentliche Gehör, das ein Robert Faurisson mit Leserbriefen an Le Monde fand 39 , und die Tatsache, dass solche
Thesen mit einer Doktorarbeit an der Universität Nantes 1985 akademisch sanktioniert werden konnten.
Beachtet und kritisch kommentiert wurden die Prozesse in Deutschland gegen die
SS-Offiziere Lischka, Hagen und Heinrichsohn, die maßgeblichen Anteil an der
Judenverfolgung in Frankreich hatten und die 1980 zu Strafen von 12, zehn und
sechs Jahren verurteilt wurden. In Frankreich wurde mit Jean Leguay zum ersten
Mal seit dem 1964 erlassenen Gesetz über die Unverjährbarkeit von Verbrechen
gegen die Menschlichkeit ein Franzose unter dieser Anklage vor Gericht gestellt.
Leguay war Delegierter des Polizeichefs Bousquet und verantwortlich für Judendeportationen aus beiden Zonen gewesen, darunter auch die Razzia der Pariser Radrennbahn Vel d’hiv’ 1942, und, wie Bousquet selbst, nach dem Krieg wegen seiner
(späten) Beteiligung an der Résistance nicht belangt worden. Sein Tod 1989 fiel
praktisch mit dem Schuldspruch zusammen. Der Fall Touvier wurde wieder aufgerollt, nachdem Serge Klarsfeld und andere Anklagen wegen Verbrechen gegen die
Menschlichkeit erhoben hatten. Das Kassationsgericht wurde angerufen, das den
Prozess aber zuließ. Touvier wurde 1989 verhaftet, 1992 zunächst freigesprochen,
1994 aber zu lebenslanger Haft verurteilt. Er starb 1996 im Gefängniskrankenhaus
von Fresnes.
Hatten die Amnestien der 1950er Jahre einen Prozess des Vergebens und Vergessens eingeleitet, so führen die Prozesse der 1980er Jahre nun zum Gegenteil: der
Blick schärfte sich. Bemerkenswert ist vor allem, dass die Beteiligung Vichys an
der „Endlösung“ der Judenfrage nun von niemandem mehr ernsthaft in Zweifel
gezogen wurde. Nicht diese Tatsache stellte den Kern des Skandals dar, sondern
die Prozesse um die Personen und die Wege, wie sie über Jahrzehnte hatten unbehelligt bleiben können. Auch die These vom guten Vichy des greisen Marschalls
und dem schlechten des Intriganten Pierre Laval hatte nun kaum noch Anhänger.
Die politische Situation Frankreichs in den 1970er und 1980er Jahren ist insgesamt
davon geprägt, dass die Gaullisten die Hegemonie im bürgerlichen Lager verloren
hatten, sowie, etwas später, die Kommunisten die ihre auf der Linken. Der Liberale
Valéry Giscard d’Estaing wurde 1974 Staatspräsident. Es war die Zeit der Linksunion, die zwar nicht zum Zuge kam, aber eine ernst zu nehmende Alternative darstellte. Schon der Vorgänger Giscards, der Gaullist Georges Pompidou, ein Mann
ohne bemerkenswerte Vergangenheit, war ungeschickt mit Vichy umgegangen und
Un passé qui ne passe pas. Täter, Opfer und Erinnerungskonflikte in Frankreich
119
hatte einerseits gewiss die Provokation unterschätzt, die seine Politik der Nachsicht
gegenüber Touvier für einen Teil der politischen Öffentlichkeit darstellte. Andererseits traf er auch den Nerv derjenigen Franzosen, die der Verehrung der Résistance
überdrüssig waren, als er die Begnadigung von Touvier auf einer Pressekonferenz
1972 damit rechtfertigte, dass nach 30 Jahren verheerender Konflikte, nämlich (sic)
des Zweiten Weltkriegs, der Besatzung, der Befreiung, der politischen Säuberungen, des Indochinakriegs und des Algerienkonflikts, dem anschließenden Exodus
der Franzosen aus Nordafrika, der Attentate der OAS und der Repression, das Land
endlich zur Ruhe kommen müsse. „Ist der Moment nicht gekommen, nun einen
Schleier darüber zu werfen, diese Zeiten zu vergessen, wo Franzosen sich nicht
miteinander vertrugen, sich stritten und sogar gegenseitig umbrachten?“ 40 Damit
traf er sehr genau die Befindlichkeit all jener, die keine Helden gewesen waren.
Wie Pompidou hatte sein Vorgänger Valéry Giscard d’Estaing selbst keine aktive
Rolle in Frankreichs dunklen Jahren gespielt, aber seine Familie war mit Vichynahen Milieus verbunden, die seine Kandidatur auch unterstützten. Seine Entscheidung, 1975 den 8. Mai als nationalen Feiertag abzuschaffen, führte zu Protesten
und sollte sich nicht durchsetzen. Auf Kritik stieß 1978 die Tatsache, dass er zum
11. November Blumen auf das Grab von Pétain legen ließ, wie übrigens schon vor
ihm de Gaulle (1968) und später Mitterrand. Von frappierender Gedankenlosigkeit,
wenn nicht Schlimmerem, zeugt der Lapsus seines Premierministers Raymond Barre 1980 über ein antisemitisches Attentat in der rue Copernic in Paris: dieses
schändliche Attentat, so erklärte er, sollte Juden treffen, die zur Synagoge wollten,
aber es traf unschuldige Franzosen, die bloß über die Straße gingen.
Sehr viel Medienaufmerksamkeit fand ab 1983 der Prozess gegen Klaus Barbie,
den ehemaligen Gestapo-Chef in Lyon, dem nachgesagt wurde, für tausende Morde, Deportationen und Festnahmen von Résistants verantwortlich zu sein. Barbie
war 1952 und 1954 wegen Kriegsverbrechen in Frankreich verurteilt worden, unter
dem Schutz amerikanischer Geheimdienste in Bolivien untergetaucht, dort von Beate Klarsfeld aufgespürt und schließlich 1983 nach Frankreich ausgeliefert worden.
Die Anklage lautete auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit, d.h. er stand nicht
wegen des mutmaßlichen Mordes an Jean Moulin vor Gericht, sondern musste sich
für den Tod von zahlreichen Zivilpersonen, Juden, Kindern etc. verantworten. Nach
Protesten der Résistance-Verbände erweiterte das Kassationsgericht den Tatbestandsbegriff, daraufhin musste die Ermittlung neu aufgenommen werden, und was
Gegenstand sein konnte und was nicht, wurde nach streng formalen, teilweise inhaltlich wenig plausiblen Kriterien festgelegt. Der Prozess dauerte sechs Wochen,
von Mai bis Juli 1987, während derer der Angeklagte sich weigerte zu erscheinen
und sich durch Vergès vertreten ließ, einen umstrittenen Anwalt, dessen Ansatz
darin bestand, mit dem Hinweis auf die Kolonialkriege und dort erfolgte Unmenschlichkeiten die Schuld Barbies zu relativieren. Es traten sehr viele Zeugen
120
Helga Bories-Sawala
auf, Opfer kamen zu Wort. Das Verfahren warf aber auch ein Licht auf französische Spitzel- und Denunziationstätigkeit.
Wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit kam es 1991 schließlich auch zur
Anklage gegen René Bousquet, den ehemaligen Generalsekretär der französischen
Polizei 1942-43, er wird 1993 noch vor dem Abschluss seines Prozesses ermordet.
Der von einem sehr großen Medieninteresse begleitete Prozess gegen Maurice Papon, während des Krieges Generalsekretär der Präfektur der Gironde und als solcher auch mit Verhaftung und Deportation von Juden befasst, richtete schließlich
das Interesse der Öffentlichkeit auch darauf, wie weit man es als ehemaliger hoher
Beamter im Frankreich der Fünften Republik hatte bringen können. Papon, der bei
der Befreiung in den Reihen der Résistance stand, war 1944 Präfekt des Départements Landes geworden und wurde Ende der 1950er Jahre Pariser Polizeipräfekt.
Als solcher trug er die politische Verantwortung für die Polizeiübergriffe gegen
Algerier in Paris während des Algerienkriegs. 1978 trat er als Finanzminister ins
Kabinett unter Giscard d’Estaing ein. 1983 kam es zu einer ersten Anklage wegen
seiner Vichy-Vergangenheit, die 1987 niedergeschlagen, dann mehrfach wiederaufgenommen wurde, bis er schließlich 1998 zu zehn Jahren Gefängnis für Mitwirkung an Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt, aber auf freien Fuß gesetzt wurde. Revisionsverfahren scheiterten 1999 und erneut 2004, ein Gnadengesuch wurde 2001 abgelehnt. Im April 2002 erklärte sich der französische Staat bereit, für die Hälfte der 720.000 EUR Entschädigung aufzukommen, weil Papon im
Amt gehandelt habe, für die andere Hälfte organisierte Papon seine Zahlungsunfähigkeit. Er erhielt Haftverschonung aus humanitären Gründen und 2003 vom
Staatsrat das Recht auf seine Rente wieder zugesprochen. Papon starb 2007 im Alter von 96 Jahren an Herzversagen.
Un passé qui ne passe pas. Täter, Opfer und Erinnerungskonflikte in Frankreich
121
Karrieren wie die seine nimmt die folgende Karikatur 41 aufs Korn:
1939: Frohgemut zieh ich in den Kampf gegen die bösen deutschen Invasoren (Anspielung auf die
drôle de guerre).
1940: Eilig bin ich zur Stelle, um dem Marschall beim Aufbau Frankreichs zu helfen und ihm meine Liebe zu erweisen.
1942: Ich helfe den deutschen Befreiern im Kampf gegen jüdisch-kommunistische Terroristen.
1944 Als Freiwilliger (der Miliz) ziehe ich in den Kampf gegen terroristische jüdische Horden.
1945: die Résistance braucht mich und ich helfe ihr, Frankreich von den schändlichen Kollaborateuren zu befreien – es lebe de Gaulle.
1947: man wählt mich zum Bürgermeister meiner Gemeinde und ich erhalte die Ehrenlegion für
Verdienste um die Résistance.
Eine gelungene Karriere!!
6. Frankreich und Vichy heute
Wie soll man also die „Fieberkurve“, die Rousso für die Zeit bis zu Beginn der
1990er Jahre entworfen hat, für die folgenden Jahrzehnte weiterzeichnen und wie
wäre das Verhältnis Frankreichs zu seiner dunklen Vergangenheit heute zu charakterisieren? Zunächst ist festzustellen, dass nach den großen öffentlichen Auseinandersetzungen der 1980er und 1990er Jahre das „Fieber“ allmählich, aber beständig
gesunken ist. Die Täter haben ein Alter erreicht, in dem weitere Prozesse gegen
122
Helga Bories-Sawala
Hauptverantwortliche unwahrscheinlich geworden sind. Die Themen, die seit den
1990er Jahren im Zentrum der Aufmerksamkeit standen, sind zwar noch in der
Presse zu finden, aber nicht mehr auf der ersten Seite. Es geht z. B. um Entschädigung für enteignete Juden, für Zwangsarbeit und um öffentliche Schuldeingeständnisse. Gelegentlich kommt es noch zu Gesten von bedeutender Symbolik. So erkennt Jacques Chirac am 16. Juni 1995, dem Jahrestag der Großrazzia gegen Pariser Juden, die politische Verantwortung Frankreichs für die Mitwirkung an der Judendeportation an – Mitterrand hatte sich dieser Erwartung am 50. Jahrestag 1992
noch mit der Argumentation entzogen, der Etat Français sei schuldig, nicht die
Republik, ganz in der Tradition de Gaulles, der Vichy immer als null und nichtig
bezeichnet hatte. Am 30.9.1997 erfolgte ein Reuebekenntnis der katholischen Bischöfe für die passive Haltung und das Schweigen der katholischen Amtskirche,
die ein Versagen darstelle.
Präsident Sarkozy, der „Omnipräsident“, wie er von manchen spöttisch genannt
wird, hat sich auch dieses Thema nicht entgehen lassen und mit zwei Vorschlägen
zumindest in Lehrerkreisen für Diskussion gesorgt. Seit dem Schuljahr 2008 wird
in allen französischen Schulen der Abschiedsbrief von Guy Môquet verlesen, eines
jungen kommunistischen Widerstandskämpfers, der 1941 als Geisel umgebracht
wurde. Und für die Grundschulen regte der Präsident an, die Schüler das Schicksal
je eines individuellen deportierten jüdischen Kindes genauer recherchieren zu lassen. Der Aufschrei aus dem Kreis der Pädagogen galt aber wohl weniger dem Inhalt dieser Vorschläge als der Einmischung von Staats wegen in ihre ureigensten
Angelegenheiten, nämlich der didaktisch angemessenen Vermittlung des Gegenstandes, und natürlich der Person, die die Vorschläge eingebracht hatte.
Fragen wir also abschließend, ob wir am Beginn einer neuen Phase der „Vergangenheitsbewältigung“ in Frankreich stehen und welche Indizien sich dafür finden.
Ein wichtiges und gerade für Frankreich, wo regelmäßig Zeitzeugen in Schulkassen
eingeladen worden sind, wesentliches Element ist das allmähliche Versiegen dieser
Möglichkeit – es sind jetzt nur noch wenige sehr hoch betagte Menschen, die sich
dieser Aufgabe stellen können. Mit dem Übergang von der direkten Vermittlung in
Formen des kulturellen Gedächtnisses stellt sich die Notwendigkeit, zu neuen Ausdrucksweisen zu finden. Seit kurzem entstehen Gedenkstätten an den Orten der ehemaligen Lager, wie Gurs, Rivelsaltes, Beaune-la-Rolande und Les Milles.
Ein zweites Element ist die spürbare Entkrampfung des deutsch-französischen Verhältnisses, wie es in der Beteiligung der deutschen Seite an Gedenkfeiern, auch z.B.
der alliierten Landung in der Normandie 2004 augenfällig wurde. 2005 wurde auf
dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Natzweiler-Struthof ein Europäisches Zentrum für Widerstand und Deportation eröffnet und auch die Feiern
zum 60. Jahrestag des Kriegsendes und der Befreiung vom Nationalsozialismus
Un passé qui ne passe pas. Täter, Opfer und Erinnerungskonflikte in Frankreich
123
wurden deutsch-französisch und europäisch begangen. Auch die französische Geschichtsschreibung hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten deutlich internationalisiert, insbesondere im deutsch-französischen Bereich.42 Allerdings gelangen die
Ergebnisse der Forschung nur noch selten ins Rampenlicht der Öffentlichkeit. Historiker können nun wieder ungestörter ihrer Arbeit nachgehen und, nachdem die
großen Fragen für einige Zeit entschieden sein dürften, werden nun die Details ausgeleuchtet. Die Tendenz zur Wahrnehmung von Zwischentönen, Grauzonen und
bisher marginalisierten Gruppen wächst im gleichen Maße, wie in der Gesellschaft
die Tabus weichen. Aber nur wenige, besonders medienwirksame Themen finden
späte öffentliche Aufmerksamkeit, wie die Kinder der Wehrmachtssoldaten in
Frankreich, die „enfants maudits“ 43 oder die geschorenen Frauen während der Befreiung. 44 Nach dem Elsässer Pierre Seel 45 , der wegen seiner Homosexualität ins
KZ deportiert worden war, wurde 2008 in Toulouse eine Straße benannt.
Auf Seiten der Opfer ist am Ende der 1990er Jahre die Shoah zum bestimmenden
Element der „dunklen Jahre“ geworden, die ihrerseits den Blick auf alle anderen
Opfer von Repression, Verschleppung, Zwangsarbeit verstellt. Von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet zog sich die Auseinandersetzung um die Hierarchie der
Opfer bis in die späten 1990er Jahre, in der Prozesse vor höchsten Gerichten ausgetragen wurden. Die zivilen Zwangsarbeiter wurden in Frankreich Ende 2008 zwar
symbolisch als Opfer anerkannt – vom Berliner Entschädigungsfonds bleiben sie
indes ausgeschlossen.
In der historischen Forschung, die sich verstärkt den ökonomischen Aspekten der
Kollaboration und der Sozialgeschichte der Vichy-Zeit, einschließlich von
Zwangsarbeit, sowie der Geschichte der individuellen und kollektiven Wahrnehmungen zugewandt hat, hat sich um die Jahrtausendwende ein Konsens herausgeschält, dem zufolge KZ-Haft weiterhin als der Gipfel eines bis zur Ausrottung reichenden menschenverachtenden Gesamtsystems von Zwangsarbeit und Deportation gesehen wird, aber Raum für die Wahrnehmung der übrigen Kategorien und
Gruppen entsteht, sowohl der sehr zahlreichen, wie Kriegsgefangene und Zivilarbeiter, die bisher ausgeblendet wurden, als auch der marginaleren Gruppen von
Opfern 46 . Es ist allerdings fraglich, ob dieser von der Fachwissenschaft vorbereitete
Paradigmenwechsel angesichts des sinkenden Medieninteresses noch Eingang in
die öffentliche Wahrnehmung finden wird. 47
1
Alfred Grosser spricht in La Croix vom 17.11.1999 von einer „Kultur des Negativgedächtnisses“
(meine Übersetzung).
2
Vgl. u.a. Nicolas Berg, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker: Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2004.
124
3
Helga Bories-Sawala
Vgl. Johannes Tuchel, „Feiglinge“ und „Verräter“, in: Die Zeit, 8. Januar 2009 über das verheerende Bild des Widerstands in der deutschen Nachkriegs-Öffentlichkeit. Bis heute gibt es zähen
Widerstand gegen die Einrichtung von Gedenkorten an Zwangsarbeit.
4
Vgl. Helga Bories-Sawala, Retours controversés sur une sale guerre: l’opinion publique allemande et la Wehrmachtsausstellung sur la guerre à l’est, in: Ministère de la défense (Hg.), Sorties
de guerre, Cahiers du Centre d’études d’histoire de la Guerre, N° 24, S. 105-122.
5
Vgl. Constantin Goschler, Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NSVerfolgte seit 1945, Göttingen 2005.
6
Vgl. zum Film: Suzanne Langlois, La Résistance dans le cinéma français, Paris 2001.
7
Vgl. auch das französische Nein zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft 1954, bei dem
sich die beiden hauptsächlichen aus dem Widerstand hervorgegangenen politischen Kräfte, Gaullisten und Kommunisten, im Parlament durchsetzten.
8
Dominique Dhombres, L’inconscient national, in: Le Monde, 22. Januar 2003 (meine Übersetzung).
9
Henri Rousso, Le syndrome de Vichy de 1944 à nos jours, Paris 1987 /1990.
10
Eric Conan, Henri Rousso Vichy, un passé qui ne passe pas, Paris 1996.
11
Jürg Altwegg, Die langen Schatten von Vichy. Frankreich, Deutschland und die Rückkehr des
Verdrängten, München 1998.
12
Claus Leggewie, Frankreichs kollektives Gedächtnis und der Nationalsozialismus, in: Dan Diner
(Hg.), Ist der Nationalsozialismus Geschichte, Frankfurt/Main 1987, S. 121-140.
13
Ebd., S. 122.
14
Philippe Burrin, Vichy, in: Pierre Nora (Hg.), Les Lieux de mémoire III, Les France, t.1: conflits
et partages, Paris 1992, S. 320-345.
15
Mechthild Gilzmer, Denkmäler als Medien der Erinnerungskultur in Frankreich seit 1944, München 2007.
16
Jean-Marc Dreyfus, Ami, si tu tombes. Les déportés résistants des camps au souvenir 19452005, Paris 2005.
17
Vgl. u.a. Jean-Pierre Azéma, De Munich à Libération 1938-1944, Paris 1972; Jean-Pierre Azéma, François Bédarida (Hg.), Vichy et les Français, Paris 1992; Yves Durand, Vichy, 1940-1944,
Paris 1972; Zeev Sternhell, Ni droite ni gauche. L’idéologie fasciste en France, Paris 1983; Pierre
Milza, Fascisme français. Passé et présent, Paris 1987; Jean-Pierre Azéma, François Bédarida
(Hg.), 1938-1948: Les années de tourmente, dictionnaire critique, Paris 1995.
18
Elisabeth Badinter, Régis Debray, Alain Finkielkraut, Elisabeth de Fontenay, Catherine Kintzler,
Profs, ne capitulons pas! In: Nouvel Observateur, 2. November 1989.
19
René Dumont, Gilles Perrault, Alain Touraine, in: Politis 9. November 1989.
20
Karikaturen aus Le Monde vom 11.12.1989 und 24.3.1990, vgl. auch Helga Bories-Sawala, Rolf
Sawala, Mitterrand: « Vous n’avez rien dit sur la frontière Oder-Neisse... – Kohl: Sur l’AlsaceLorraine non plus. » Die Frühphase der deutschen Einheit im Spiegel der französischen Pressekarikatur, in: Dokumente, August 1999, S. 284-291.
21
Henri Rousso, Le syndrome de Vichy de 1944 à nos jours, Paris 1987 /1990, S. 252.
22
Zitiert nach Jürg Altwegg, Die langen Schatten von Vichy. Frankreich, Deutschland und die
Rückkehr des Verdrängten, München 1998, S. 37.
23
Rousso, Op. cit., S. 44.
24
Vgl. Helga Bories-Sawala, « Ni traîtres, ni héros ». Die schwierige Erinnerung der requirierten
zivilen Zwangsarbeiter, in: Stefan Martens, Maurice Vaisse (Hg.), Frankreich und Deutschland im
Krieg (November 1942 – Herbst 1944). Okkupation, Kollaboration, Résistance, Bonn 2000,
S. 845-872.
25
Es gibt auch Prozesse gegen Widerstandskämpfer wegen gewaltsamer Übergriffe.
26
Rousso, Op.cit., S. 70.
27
Vgl. Pierre Barral, L’affaire d’Oradour, affrontement de deux mémoires, in: Mémoire de la Seconde guerre mondiale, Actes du Colloque de Metz 6-8 oct. 1983, Metz 1984, S. 243-252.
Un passé qui ne passe pas. Täter, Opfer und Erinnerungskonflikte in Frankreich
28
125
Was die beiden deutschen in Abwesenheit zum Tode Verurteilten angeht, so blieb Heinz Lammerding unbehelligt und verstarb1971 nach erfolgreicher Karriere als Düsseldorfer Bauunternehmer. Heinz Barth war in der DDR untergetaucht, wurde aufgespürt und dort 1983 vor Gericht gestellt, zu lebenslanger Haft verurteilt, dann aber nach der Wiedervereinigung in der Bundesrepublik aus gesundheitlichen Gründen aus der Haft entlassen. Er verlor 2002 seine Ansprüche auf
Kriegsversehrtenrente wieder, die ihm zunächst zugesprochen worden waren. Er starb 2007. Vgl:
Lea Rosch, Gunther Schwarber, Der letzte Tag von Oradour-sur-Glane, Göttingen 1988.
29
Rousso, op.cit., S. 109 (meine Übersetzung).
30
Gilzmer, op.cit., S. 86ff.
31
Philippe Burrin, Vichy, in: Pierre Nora (Hg.), Les Lieux de mémoire III, Les France, t.1: conflits
et partages, Paris 1992, S. 339 (meine Übersetzung).
32
Rousso, Op. cit., S. 118.
33
Ebd., S. 119.
34
Robert O. Paxton, La France de Vichy. Übersetzt von Claude Bertrand, Paris 1973.
35
Zitiert nach Rousso, op.cit., S. 131.
36
z.B. Marie Chaix, Les lauriers du lac de Constance, Paris 1974; Patrick Modiano, Ronde de nuit,
Paris 1969.
37
Der Ausdruck stammt vom Canard enchainé, zitiert nach Rousso, op.cit., S. 141.
38
Jean-Pierre Azéma, François Bédarida (Hg.), La France des années noires, 2 Bde, Paris 1993.
39
Die Leserbriefe erschienen am 29.12.1978, 16.1. und 21.2.1979 in Le Monde. Vgl. dazu Pierre
Vidal-Naquet, Die Schlächter der Erinnerung. Essays über den Revisionismus, Wien 2002.
40
Georges Pompidou, entretiens et discours 1968-1974, hier zitiert nach Rousso, op.cit., S. 147
(meine Übersetzung).
41
Karikatur von Christophe, in: Le Vasistas, N° 90/91, S. 38 (meine Übersetzung).
42
Forschungsergebnisse erscheinen in beiden Sprachen und Ländern, z.B. Serge Klarsfeld, VichyAuschwitz. Le rôle de Vichy dans la solution finale de la question juive en France, 2 Bde, Paris
1983; Vichy-Auschwitz. Die Zusammenarbeit der deutschen und französischen Behörden bei der
„Endlösung“ der Judenfrage in Frankreich (Schriften der Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte
des 20. Jahrhunderts; Bd. 9), Nördlingen 1989; Mechtild Gilzmer, Christine Levisse-Touzé, Stefan
Martens (Hg.), Les femmes dans la Résistance en France. Actes du colloque international de Berlin 8-10 oct. 2001, Paris 2003; Ahlrich Meyer (Hg.), Der Blick des Besatzers. Propagandaphotographie der Wehrmacht aus Marseille 1942-1944; Le regard de l’occupant. Marseille vue par des
correspondants de guerre allemands 1942-1944, préface de Serge Klarsfeld, Bremen 1999; Insa
Meinen, Wehrmacht und Prostitution im besetzten Frankreich, Bremen 2002; Wehrmacht et prostitution sous l’occupation (1940-1945) Paris 2006; Helga Bories-Sawala, Travailleurs forcés français en Allemagne 1940-1945; Zwangsarbeit von Franzosen in Deutschland 1940-1945,
(www.deuframat.de); Dies., Franzosen im „Reichseinsatz“. Deportation, Zwangsarbeit, Alltag.
Erfahrungen und Erinnerungen von Kriegsgefangenen und Zivilarbeitern 1995, 3 Bde, Frankfurt/Main u.a. 1996; Dans la gueule du loup. Les Français requis du travail en Allemagne. Lille,
erscheint 2009.
Arbeiten von Nachwuchswissenschaftlern entstehen in grenzüberschreitender Betreuung: z.B.
Peter Gaida, Camps de travail sous Vichy. Les „Groupes des Travailleurs Etrangers“ (GTE) en
France et en Afrique française du Nord pendant la Seconde Guerre mondiale, Diss. Bremen / Paris
I 2008; Patrice Arnaud, Les travailleurs civils français en Allemagne pendant la Seconde guerre
mondiale (1940-1945): travail, vie quotidienne, accommodement, résistance et répression, Diss.
Paris I 2006; Valentin Schneider, Les prisonniers de guerre allemands en basse Normandie (juin
1944-décembre 1948), master 2, Caen 2006; Jean-Luc Leleu, Soldats politiques en guerre: sociologie, organisation, rôles et comportements des formations de la Waffen-SS en considération particulière de leur présence en Europe de l‘Ouest, Diss. Caen 2005; Arnaud Boulligny, Les déportés
de France arrêtés en Europe nazie (hors la France de 1939), DEA, Caen 2004; Barbara Lambauer,
Otto Abetz et les Français ou l’envers de la collaboration, Paris 2001; Bernd Zielinski, Staatskol-
126
Helga Bories-Sawala
laboration. Vichy und der „Arbeitseinsatz“ für das Dritte Reich, Diss. Bremen 1995, Münster
1995.
43
Jean-Paul Picaper, Ludwig Norz: Enfants maudits, Paris 2004.
44
Fabrice Virgili, La France virile. Des femmes tondues à la libération Paris 2000.
45
Pierre Seel, Moi, Pierre Seel, déporté homosexuel, Paris 1994; Ich, Pierre Seel, deportiert und
vergessen, Köln 2002.
46
Das jahrzehntelang vom Interessenverband geforderte wissenschaftliche Kolloquium zur zivilen
Zwangsarbeit von Franzosen im Zweiten Weltkrieg fand im Dezember 2001 in Caen statt und
kann als historisch bezeichnet werden, vgl. Bernard Garnier, Jean Quellien (Hg.), La main
d’œuvre française exploitée par le IIIe Reich, Actes du Colloque international, Centre de Recherche d’Histoire Quantitative, Université de Caen, Mémorial de Caen, Ministère de la Défense, Office National des Anciens combattants, Caen, 13.-15.12.2001, Caen 2003. Im März 2008 fand an
gleicher Stelle eine Tagung zum Thema der Begrifflichkeit von „déporté“ und „déportation“ statt,
die explizit nicht nur KZ-Häftlinge einbezieht, und das Centre d’histoire de la Résistance et de la
déportation in Lyon widmet im Januar 2009 einen Studientag den Kriegsgefangenen – alle diese
Initiativen wären vor der Jahrtausendwende nicht denkbar gewesen.
47
Das unlängst erschienene deutsch-französische Geschichtsbuch, ein nicht hoch genug einzuschätzender Beitrag zur Überwindung national bornierter Geschichtsbilder, hat leider an dieser
Stelle die Gelegenheit ungenutzt gelassen, dem neuesten Stand der historischen Forschung im
Geschichtsunterricht Rechnung zu tragen. Vgl. Histoire / Geschichte: Europa und die Welt vom
Wiener Kongress bis 1945, L’Europe et le monde du congrès de Vienne à 1945, Klett / Nathan
2008.
Anja Mihr
Francos langer Schatten –
Aufarbeiten, Erinnern und Demokratie in Spanien
1. Opfer des Franquismus und die Transition zur Demokratie
Als Francisco Franco im November 1975 starb, hinterließ er eine 40jährige Herrschaftsgeschichte, geprägt von Gewalt, Willkür und Einschüchterung. Von 1936
bis 1939 überzog er Spanien mit einem Bürgerkrieg, der nicht weniger als 500.000
Opfer forderte. Sie waren gefallen oder durch Standgerichte verurteilt und willkürlich hingerichtet worden. Hinzu kamen abertausende Verschwundene. Nicht weniger Vertriebene, Exilanten und Flüchtlinge forderte das Regime. Eine juristische
Aufarbeitung, Prozesse oder Kriegsverbrechertribunale fanden bis heute nicht statt.
Im Gegenteil, nach dem Ende des Bürgerkriegs war die paramilitärische Polizeiherrschaft franquistischer Art mindestens für weitere 100.000 Opfer verantwortlich,
die Mehrzahl davon politische Gefangene sowie Opfer politisch motivierter Ermordungen und Racheakte. Ca. eine Million ermordete, vertriebene, verschwundene
und inhaftierte Menschen ist die bis heute geschätzte zahlenmäßige Bilanz des
Bürgerkrieges und der Diktatur. Im kollektiven Gedächtnis vieler Spanier blieb
somit die Erinnerung an eine Ära der systematischen Verfolgung und Vertreibung,
Parteien- und Versammlungsverbote, Unterdrückung von Frauen, täglichen Repressalien und letztlich die Rückführung eines ganzen Landes in mittelalterliche Agrarstrukturen, zunächst erzwungen vom spanischen Militär, später den paramilitärischen Einrichtungen und unterstützt von der katholischen Kirche.
Der franquistischen Herrschaft gegenüber stand zuerst noch der erbitterte Widerstand der Republikaner, die in der Mehrzahl Sozialisten und Kommunisten waren.
Sie stellten ebenfalls während des Bürgerkrieges eine durch Gewalt und Ermordungen tausender Franco-Anhänger traurige Gewaltbilanz auf. Zwar reichten deren
Zahlen kaum an die des Franco-Regimes heran, fußten aber ebenso auf Unrecht
und Willkür wie diejenigen der Franquisten. Für den Aufarbeitungs- und Versöhnungsprozess spielen sie daher eine wesentliche Rolle, aber nur langsam dringen
die Opferzahlen beider Seiten in die kollektive Erinnerungskultur des Landes ein.
Dies bremste und prägte den Demokratisierungsprozess in Spanien hingegen in
nicht unbedeutender Weise.
Während in den vierziger Jahren die Überlebenden der II. Spanischen Republik, in
ihrer Mehrzahl Kommunisten und Sozialisten, in Gefängnissen und Konzentrationslagern ihr Dasein fristeten, etablierte sich die Diktatur in Spanien. Mit Franco,
der die gewaltsame erzwungene Ordnung und den Frieden zur Staatsräson erhob,
kehrte eine Ruhe ein, die auf Propaganda, Terror und Angst basierte. In den sechzi-
128
Anja Mihr
ger Jahren formierte sich zunächst ein intellektueller und später ein studentischer
Widerstand gegen das Regime. Ende der sechziger Jahre erfuhr das franquistische
Regime erste gewaltsame Widerstände. Terrorattentate und Ermordungen von
Franquisten und Polizisten seitens der baskischen Untergrundorganisation ETA
(Baskenland und Freiheit) nahmen von diesem Zeitpunkt an ihren Lauf. Es war die
Zeit, als die katholische Kirche zum ersten Mal einen Rückblick auf ihre republikfeindliche Rolle im Bürgerkrieg wagte und öffentlich das harte Durchgreifen Francos gegenüber der Bevölkerung kritisierte. Doch die rückständische antidemokratische Politik Francos stellte Spanien bis 1975 ins Abseits der europäischen Nachkriegsentwicklung. Daran änderte die zögerliche Öffnung des Regimes
zum Tourismus und zur industriellen Entwicklung seit den sechziger Jahren nur
bedingt etwas. Die autoritäre Elite, bestehend aus Großgrundbesitzern, Kirchenvertretern und dem Militär, ließ nur begrenzt die nötigen wirtschaftlichen und sozialen
Reformen zu, die das Land dringend benötigte, um den Anschluss an den westlichen Entwicklungsstand zu erlangen. Somit war der Franquismus bis 1975 eine der
letzten Bastionen eines auf Faschismus aufbauenden autoritären Regimes des 20.
Jahrhunderts.
Der sich auf Personenkult stützende Militärgeneral aus Galizien vereinte seit 1939
letztlich alle Macht auf seine Person. Er war überzeugter Monarchist und Katholik,
beschwor die Traditionen und die Stärken Spaniens im Mittelalter, während der
Kolonialzeit und im Goldenen Zeitalter. Er war bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges ein Anhänger der faschistischen und nationalsozialistischen Bewegungen
Mussolinis und Hitlers, deren Ideologie und Herrschaftsmethoden er in den Franquismus überführte und damit letztlich die spanische Gesellschaft über vier Jahrzehnte hinaus spaltete. Geteilt war das Land in die so genannten regimetreuen
Franquisten und jene, die der nur wenige Jahre andauernden zweiten Spanischen
Republik (1931-1936) die Treue hielten. Zu letzteren gehörten in der Mehrzahl Sozialisten, Kommunisten, Republikaner oder Liberale. Die Einordnung der Bevölkerung in regimetreue Franquisten und feindliche Republikaner kennzeichnet seither
die Spaltung der Gesellschaft. In den Köpfen vieler Menschen kursiert (bis heute)
das Bild jener, die zu den „Verlierern“ (Republikanern) und jenen, die zu den „Gewinnern“ (Franquisten) des Bürgerkrieges von 1936 bis 1939 gehörten. Beide
Gruppen sind es, die die Erinnerungskonflikte Spaniens noch heute prägen und
damit jeweils „ihrer“ Seite ihren Erinnerungs-Stempel aufdrücken.
Die Aufarbeitung der autoritären Vergangenheit Spaniens lief nach dem Regimewechsel nur schleppend und bisweilen gar nicht voran. Indes, die republikanischen
„Verlierer“, die bei weitem die größte Anzahl der Opfer während und nach dem
Bürgerkrieg zu beklagen hatten, konnten sich nach Francos Tod zum ersten Mal auf
die Suche nach den damals Verschwundenen und Toten machen. Die Anhänger
Francos hingegen pflegten weiterhin ungehindert den Personenkult und das Erbe
Francos langer Schatten: Aufarbeiten, Erinnern und Demokratie in Spanien
129
Francos. Sie waren es, die bis 2007 zum jährlichen Todestag Francos am 20. November, im Valle des los Caidos (Tal der Gefallenen) bei Madrid, dem Diktator zu
Ehren und mit faschistischem Gruß aufmarschierten. Diese Aufmärsche wurden
erst 2008 gesetzlich verboten. Noch bis in die Gegenwart hinein tragen die Anhänger Francos Sorge dafür, dass dessen Statuen und Portraits in den Städten und Dörfern ein Teil der spanischen Erinnerungskultur bleiben konnten, und sie verhinderten bis 2007 jegliche Gesetze zur Erinnerungs- und Aufarbeitungspolitik einschließlich Reparationszahlungen an die Bürgerkriegs- und Diktaturopfer. Aber vor
allem trugen sie dazu bei, dass auch nach 1975 die Angst in der Bevölkerung vor
einem „zweiten Bruderkrieg“ bis weit in die achtziger Jahre hinein aufrecht erhalten wurde.
Paradoxerweise spaltete und einte diese Angst die Spanier gleichsam. Sie führte
nach dem Putsch der francotreuen Militärs und paramilitärischen Polizeieinheit, der
Guardia Civil, gegen die junge spanische Demokratie am 28. Februar 1981 dazu,
dass die wenigen Bürgerinitiativen, die 1975 mit der Aufarbeitung und Suche nach
den Opfern begonnen hatten, ihre Initiativen einstellten. Denn erste privat organisierte Ausgrabungen der Massengräber des Bürgerkrieges hatten bereits Ende der
siebziger Jahre stattgefunden. Deren Absicht war es, die Opfer zu zählen, sofern
möglich, diese zu benennen und ihnen eine würdevolle Bestattung zukommen zu
lassen.
Eine offizielle Entschuldigung, Anerkennung oder Aufarbeitung der Herrschaft
Francos war viele Jahre lang weder von den neuen demokratisch gewählten Regierungen noch den Anhängern Francos zu erwarten. An Reparationszahlungen, die
Einsetzung von Historikerkommissionen, öffentliche Debatten oder gar Anklagen
und Verurteilungen von Verantwortlichen war in den ersten Post-Franco-Jahren
nicht zu denken. 1 Es war die Zeit des Schweigens und der Amnestiegesetze, die
aber schon an sich ein indirektes Eingeständnis dafür waren, dass die Zeit Francos
eine Zeit des großen Unrechts gewesen war. Je mehr geschwiegen wurde, desto
offensichtlicher wurde, wie tief die Unrechtserfahrungen alle gesellschaftlichen
Schichten durchzogen hatte; und desto größer war die Angst, den mühsam errichteten und scheinbaren gesellschaftlichen Frieden durch einen konfrontativen Aufarbeitungsprozess zu beschädigen. Dies ging soweit, dass Repräsentanten der ehemals vertriebenen und verfolgten Parteien, zumeist Sozialisten und Kommunisten,
sowie Vertreter der wieder eingerichteten Autonomieregionen, insbesondere des
Baskenlandes und Kataloniens, in den allgemeinen Konsens einstimmten, dass die
Toten begraben und der Groll beigelegt seien. Hinzu kam, dass durch die Amnestieregelung des Königs von 1976/1977 alle politisch motivierten kriminellen Akte
dem allgemeinen Vergessen der gesellschaftspolitischen Zerwürfnisse der Vergangenheit anheim fielen. 2 Denn die Oppositionsmächte waren sich mit der Übergangsregierung unter dem ersten Ministerpräsidenten Spaniens, Adolfo Suarez –
130
Anja Mihr
einst Mitglied der franquistischen Richterschaft –, sowie dem jungen König Juan
Carlos, darin einig, dass ein friedlicher Übergang von der Diktatur zur Demokratie
nur unter Einbeziehung aller politischer Kräfte oder mit weitgehendem Verzicht
auf Anrühren der Vergangenheit vollzogen werden könnte.
Dennoch glaubten einige Offiziere der paramilitärischen Polizeigeschwader, der
Guardia Civil, die durch die demokratischen Reformen und die Einführung ziviler
Polizeistrukturen nach 1976 Handlungsspielräume bereits einbüßen mussten, dass
die Transición, also der Übergang von der Diktatur zur Demokratie, dem Land
mehr Chaos als Ordnung brachte. Demonstrationen und Streiks waren keine Seltenheit und schadeten dem wirtschaftlichen Aufschwung Spaniens. Das Volk
machte sich nach 40 Jahren Unterdrückung endlich Luft. So fanden vermehrt gewalttätige Demonstrationen statt, trotz der Amnestie für politische Gefangene, der
Wiederzulassung der kommunistischen Partei Spaniens und der Gewerkschaften,
der Rückkehr der Exilpolitiker sowie vieler gesellschaftlicher Reformen. Begleitet
von politischen Gewaltakten waren auch die Verabschiedung des „Gesetzes über
die politischen Reformen“ von 1976, die ersten freien Wahlen 1977 mit dem Sieg
der konservativen Übergangskoalition (UCD „Union de Centro Democratico“), das
Referendum über eine neue demokratische Verfassung von 1978 (mit immerhin 77
Prozent Wahlbeteiligung und 95 Prozent „Ja-Stimmen“) sowie die Diskussion um
regionale Dezentralisierung und Verabschiedung der Autonomiestatuten ab 1979.
Politisch motivierte Demonstrationen und Streiks forderten über 460 Todesopfer
auf der Straße und im Polizeigewahrsam. So kamen Ende der siebziger Jahre jährlich 150 Millionen Streikstunden gegenüber 14,5 Millionen Stunden 1975 zusammen, was dramatische Konsequenzen für die wirtschaftliche Entwicklung und damit auch demokratische Entwicklung hatte. Darüber hinaus schürten diese Unruhen
die Angst der Bevölkerung vor einer Rückkehr der Franquisten an die Macht. 3
Obgleich die Zustimmung zu den politischen Reformen und zur Demokratie in der
ersten Dekade nach Franco ungebrochen war, musste das Land sich erst neu finden
und die Machtkonstellationen neu definieren. Dabei sollte der Übergang langsam
und unter Einbeziehung möglichst vieler politischer Akteure und Parteien stattfinden. Was für die einen der Aufbruch in ein neues Zeitalter war, war für die anderen
eine (demokratische) Unordnung, die nach dem Willen der Guardia Civil am
28. Februar 1981 jäh ein Ende finden sollte. Doch der angestrebte Militärputsch
wurde vom König vereitelt, da dieser sich zur Demokratie bekannte. Er rief in einer
Fernsehansprache die Offiziere der Guardia Civil, die im Parlament spanische Abgeordnete als Geiseln hielten, in ihre Kasernen zurück. Sie wurden noch im selben
Jahr abgeurteilt. Damit hatte der König dem Demokratisierungsprozess einen wichtigen Dienst erwiesen.
Francos langer Schatten: Aufarbeiten, Erinnern und Demokratie in Spanien
131
Auch wenn die junge Demokratie vorerst gerettet war, so versetzte der gescheiterte
Putschversuch dem Aufarbeitungsprozess der 40jährigen Diktatur doch einen herben Rückschlag. Aus Angst vor weiteren Putschen und Repressalien durch die immer noch in hohen Ämtern fungierenden Franquisten verzichteten viele Spanier auf
eine öffentliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Privatinitiativen und
der Bau von Erinnerungsstätten für Opfer des Bürgerkrieges, wie die in Barranca in
der Region La Rioja im Jahr 1979 mit den geborgenen Überresten von über 400
Toten, blieben marginal. Ebenso erging es der im selben Jahr stattfindenden Einweihung der Gedenkstätte für die gefallenen Kommunisten in Pozos de Caudé in
Aragon, welche den Franquisten über die Zeit des Bürgerkrieges hinaus als Hinrichtungsstätte diente. Das Denkmal wurde zwar noch fertig gestellt, Nachahmer
gab es später aber kaum. Vielmehr trat die alte Angst vor einem neuen Bürgerkrieg
und einer Diktatur wieder hervor. In der Rückschau mag all dies unbegründet erscheinen, der 28. Februar 1981 jedoch ließ diese Angst unter der Bevölkerung wieder Realität und Alltag werden. Folgen waren ein Rückzug ins Private und eine
Mythenbildung, die einer sachlich oder gar historisch fundierten Auseinandersetzung mit der Vergangenheit die Türen verschlossen. Statt sachkundiger Recherchen, Aufarbeitung von Archivmaterialien oder der Suche nach Massengräbern und
Verschwundenen galt der inoffizielle „Pakt des Schweigens“ zwischen alter und
neuer Herrschaftselite, die die Aufarbeitung in unbestimmte Zukunft vertagte.
Die Verantwortungs- oder gar Schuldfrage, wer, wann, wo und wie, wohlgemerkt
auf beiden Seiten, welches Unrecht nach 1936 begangen hatte, wurde für viele
Jahrzehnte nicht gestellt. Verstärkt war die Rede von „Wunden in der Gesellschaft“, vom „unnötigen Aufrechnen“ der Untaten von Republikanern auf der einen
und denen der Franquisten auf der anderen Seite. Diese „Wunden“ sollten weder
durch öffentliche Debatten aufgerissen noch das „Aufrechnen“ von Opferzahlen
und grausamen Gewaltakten forciert werden.
Zur Politisierung der Erinnerungskonflikte während der Transitionsperiode führte
aber nicht allein die mangelnde Aufarbeitung von vergangenem Unrecht, dafür waren die Menschen viel zu sehr mit dem sozio-ökonomischen Überleben und der
politischen Neuausrichtung der Gegenwart beschäftigt. Dazu trug auch bei, dass bis
1982 eine staatliche Umverteilungspolitik kaum oder gar nicht stattfand und dass
der Dezentralisierungsprozess insbesondere aus Sicht der Katalanen und der Basken nur unzureichend vorangetrieben worden war. Hinzu kamen die zunehmenden
Anschläge auf Politiker und Funktionäre durch die baskische Terrororganisation
ETA. Diese hatte die Unabhängigkeit des Baskenlandes seit den sechziger Jahren
mit Gewalt und Terror eingefordert. Im Jahr des Putsches 1981 stieg auch die Zahl
der Entführungsfälle und Ermordungen prominenter Politiker durch die ETA. Der
politische Arm der Partei, Heri Batasuna, polarisierte oft stärker gegen Madrid.
Der Zentralismus Madrids war über Jahrzehnte das Feindbild baskischer Nationa-
132
Anja Mihr
listen. Aber auch nach der regionalen, administrativen und politischen Dezentralisierung akzeptierte weder Heri Batasuna noch die von 1980 bis 2009 regierende
Nationalistische Partei des Baskenlandes (PNV) die baskischen Autonomiestatuten
als ausreichend. 4 Mit dem „Recht auf Selbstbestimmung“ begründeten beide bis in
die jüngste Zeit hinein die propagierte Loslösung des Baskenlandes von Spanien.
Denn obgleich sie große Zugeständnisse seitens des spanischen Parlaments erhielten, wie etwa eine weitgehende Steuerautonomie, war der baskische Separatismus
propagandistisch und politisch gegen den einstmaligen Zentralstaat Spaniens gerichtet – ungeachtet der Tatsache, dass dieser spätestens seit 1979 so nicht mehr
existierte. Die Oppositionen der regionalen Nationalisten bremsten in erheblichem
Maße – verhinderten aber nicht – den Konsolidierungsprozess und damit auch das
Wachsen der Demokratie in Spanien. 5
Die ETA war und ist das terroristische und extremistische Spiegelbild der nationalistischen und auf Separatismus ausgerichteten baskischen Regionalpolitik. Durch
ihre Terrorakte und Einschüchterungen beeinflusst sie bis heute das Wahlverhalten
und Demokratieverständnis der baskischen Bevölkerung. In den Dörfern und ländlichen Regionen, wo jeder jeden kennt, gilt vielerorts, dass die regionalnationalistischen Parteien „traditionsgemäß“ sehr hohe Stimmenanteile bei den
Wahlen erzielen. Dies geschieht in einem nicht unerheblichen Maße, so wird vermutet, aufgrund von Opportunismus und Angst der eingeschüchterten Bevölkerung
vor Denunziation und Repressalien seitens der ETA. Kurz gefasst, nicht wenige
fürchten um Gesundheit und Leben, wenn sie nicht „nationalistisch“ wählen. Diese
Angst ist nicht unbegründet, denn allein bis 2009 gehen über 860 Terroropfer auf
das Konto der ETA, im Durchschnitt ein bis zwei Todesopfer pro Monat. Alle Versuche, die Organisation politisch in den Demokratisierungsprozess einzubinden,
scheiterten bislang. Die „demokratische Unfreiheit“, die separatistische Propaganda
und das Wahlverhalten in Teilen der Bevölkerung führen letztlich dazu, dass die
spanische demokratische Ordnung im Baskenland als nicht konsolidiert gelten
kann. Auch wenn diese Lücken den Demokratisierungs- und Konsolidierungsprozess Gesamtspaniens auf Dauer nicht behinderten, so beeinträchtigten sie ihn jedoch. Es kann argumentiert werden, dass Teile dieser einschüchternden nationalistischen Politik auf den lange Jahre nicht durchgeführten objektiven Aufarbeitungsprozess zurückzuführen sind. Dass diese im Baskenland verstärkt von der PNV
verhindert wurde, ist ein weiterer Grund dafür, dass der nationalistischen Mythenbildung, der einseitigen Darstellung der Basken als Opfer eines „zentralistischen
Spaniens“ und dem „natürlichen“ Streben der Basken nach Unabhängigkeit durch
das Beschweigen der Vergangenheit Tür und Tor geöffnet wurden.
Noch bis in die neunziger Jahre hinein gab es nur wenige Versuche, die auf eine
Aufarbeitung der Vergangenheit oder breite Debatte in der spanischen Gesellschaft
zielten. Die wenigen privaten Initiativen, den politischen Toten ihre Würde zurück
Francos langer Schatten: Aufarbeiten, Erinnern und Demokratie in Spanien
133
zu geben, änderten daran genauso wenig wie die symbolträchtige Rückführung von
Picassos bekanntestem Gemälde zum Bürgerkrieg, La Guernica, im Jahr 1981 von
New York nach Madrid. 6 Auch nach dem 1982 erstmalig erfolgten Wechsel einer
Regierung ohne Beteiligung der Franquisten wurde der Aufarbeitungsprozess nicht
forciert. Die Sozialistische Arbeiterpartei Spaniens, der PSOE, erhielt die absolute
Mehrheit und stellte fortan 14 Jahre lang eine Regierung, die wirtschaftliche Reformen und den Beitritt Spaniens zur NATO und die Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft (1986) herbeiführte. Obgleich die meisten sozialistischen Regierungsvertreter Töchter, Söhne oder Enkel von Opfern oder selbst Opfer des
Franco-Regimes waren, verzichteten sie auf eine offizielle Klage gegen die Verantwortlichen des Terrors. Ebenso wenig leiteten sie eine systematische Aufarbeitungs- und Erinnerungspolitik, Schulbuchreformen, Historikerkommissionen oder
Reparationszahlungen ein.
Im Großen und Ganzen hielten sich die einstigen Oppositionellen und fortan neuen
politischen Eliten an den Schweigenspakt. Sie machten – wenn überhaupt – nur
zögerlich und sehr vorsichtig Zugeständnisse an die Opfer und Überlebenden des
Unrechtsstaates. Zu sehr saß ihnen der Putschversuch von 1981 im Nacken, zu tief
war noch die Angst vor einem neuen Ausbruch gewaltsamer Auseinandersetzungen. In jedem Dorf und in jeder kleineren Stadt in Spanien weiß bis heute jeder, auf
wessen Seite die Familie der Großeltern oder Eltern stand. Es ist ortsbekannt, wo
ehemalige Franquisten wohnen und wer auf wessen Seite „gekämpft“ hat. Bei alltäglichen Auseinandersetzungen, Familienfehden oder Rechtsstreits kommen diese
Vorwürfe schnell ans Tageslicht. Bis heute spricht man aber öffentlich wenig darüber, auch wenn sich das in den letzten Jahren erheblich geändert hat. Weitgehend
sind Kritik an und Verzweiflung über das ungesühnte Unrecht der Vergangenheit
private Angelegenheit geblieben.
2. Konsolidierte Demokratie mit „Erinnerungslücken“
Die Ereignisse 1981 und 1982 waren ein tiefer Einschnitt in die politische Entwicklung Spaniens. Zuweilen wird von einer zweiten Transitionsphase ab 1982 gesprochen, die auch erste Versuche, eine offizielle Erinnerungskultur zu etablieren, beinhaltete. 7 Für die meisten Experten galt das neue demokratische System jedoch bereits seit 1982 als konsolidiert. Juan Linz und Alfred Stepan stellten fest, dass die
breite zivilgesellschaftliche Zustimmungsrate zur Demokratie von über 80 Prozent,
die Einhaltung der Verfassung, die notwendigen wirtschaftlichen und sozialen Reformen und letztlich auch der Wahlerfolg der PSOE unter Felipe Gonzales das neue
System bereits sieben Jahre nach Francos Tod konsolidiert haben. 8 Daran ändert
auch die geringe Wahlbeteiligung in den späten achtziger Jahren nichts, die eher
auf die Unzufriedenheit der jüngeren Generation mit der hohen Arbeitslosigkeit
zurückzuführen waren. Andere Beobachter attestieren eine Konsolidierung erst
Mitte der achtziger Jahre, nachdem umfassende Reformen des Justiz- und Militär-
134
Anja Mihr
apparates und damit faktisch eine Entmachtung der Franquisten stattgefunden haben. 9 Kneuer sieht erst 1986 eine Konsolidierung, nachdem die Dezentralisierung
weiter vorangebracht, die Mitgliedschaft in der NATO und der Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft vollzogen waren. 10
Allen Beobachtern gemein ist die Tatsache, dass die achtziger Jahre die eigentliche
Konsolidierungsphase waren und fortan behauptet werden kann, dass vor der
Rückkehr zum franquistischen autoritären System keine Gefahr mehr bestand.
Doch obgleich die formale Demokratie vollzogen war, eine lebendige, partizipative, auf zivilgesellschaftlichem Engagement beruhende war sie damit noch lange
nicht. Dazu war die Bevölkerung noch zu eingeschüchtert, zu passiv und von der
Kultur der Entpolitisierung im Franquismus geprägt. 11 Die gesellschaftliche Transformation und damit einhergehend die ersten Versuche einer offiziell und staatlich
unterstützten Erinnerungsarbeit begannen nur sehr zögerlich. Mit anderen Worten,
zehn Jahre vergingen bis zum Beginn einer gesellschaftlichen Aufarbeitung, die
sich nur langsam im Privaten, in der Literatur, im Film, im Theater und unter Zeitzeugen, nicht selten im Ausland und nur in Etappen langsam fortentwickelte. Auf
Fachtagungen und im engeren Expertenkreis trugen Historiker erste Fakten zusammen. An Zeitzeugen mangelte es nicht, zum Teil wurden ihre Berichte aufgezeichnet. Aber um diese öffentlich zu machen und damit eine breite gesellschaftliche Debatte einzuläuten, dafür reichte der Wille, die politische Unterstützung oder
der Mut nicht. Mit der gesetzlichen Regelung zur Entschädigung der Opfer politischer Repression im Bürgerkrieg gestand die sozialistische Regierung (nur) den
Angehörigen der Streit- und Sicherheitskräfte, die der II. Republik von 1931 bis zu
ihrer Auflösung 1939 offiziell gedient hatten, immerhin Pensionsansprüche zu.
Doch darin erschöpften sich bereits die staatlichen Anerkennungsmaßnahmen der
PSOE-Regierung. So hatte es die PSOE-Regierung auch 1986 zum 50. Jahrestag
des Bürgerkrieges nicht geschafft, öffentlich der Opfer beider Seiten zu gedenken.
Parallel dazu stieg die Zahl der Terrorakte durch die ETA. Die Separatismusforderungen, nicht nur im Baskenland, sondern auch in Katalonien, wallten wieder auf.
Die Regierung reagierte mit undemokratischen Mitteln. Sie rief eine Anti-TerrorEinheit (GAL) ins Leben, die außerhalb des demokratischen Rechtsstaats mit allen
Mitteln gegen die ETA kämpfte. Dem „schmutzigen Krieg“, wie es im Volksmund
hieß, dem zahlreiche angebliche ETA-Mitglieder zum Opfer fielen, wurde 1987
vorerst ein Ende gemacht. Die spanische Presse deckte die Einheit auf, es folgten
politische Skandale mit juristischen Konsequenzen.
Bemühungen privater Akteure, wenigstens eine offizielle Teil-Anerkennung der
Opfer des Bürgerkrieges durchzusetzen, schlugen zunächst fehl. Die mit politischen
Forderungen verbundenen privaten Exhumierungen und die Suche nach Massengräbern gingen im Fegefeuer politischer Skandale unter. Mit der Wahlniederlage
der PSOE 1996 und dem Wechsel zur konservativen Volkspartei, dem PP, erlitt die
Francos langer Schatten: Aufarbeiten, Erinnern und Demokratie in Spanien
135
kritische Auseinandersetzung mit der Franco-Ära erneut einen Rückschlag. Denn
im PP, der bis 2004 die Regierung stellte, formierten sich die letzten politischen
Erben des Franquismus. Wenn sie auch nicht die Propaganda Francos lautstark
wiederholten, so versuchten sie doch zu verhindern, dass es eine offizielle von der
Regierung getragene Aufarbeitung und damit Anerkennung von Verantwortlichkeiten gab.
Erst gegen Ende der neunziger Jahre gruppierte sich erneuter Widerstand gegen das
historische Vergessen und das Beschweigen der Vergangenheit. Der Druck kam
von Teilen der Zivilgesellschaft. Es waren Organisationen von Bürgern, die einerseits das Verlangen zum Ausdruck brachten, Überlebenden und zugleich Opfern
des Franco-Terrors Genugtuung zuteil werden zu lassen. Zum anderen trat die Generation der Enkel dieser Opfer hervor. Die Angst ihrer Eltern überwindend wollten sie nun endlich das Schicksal ihrer Großväter und Großmütter in den dreißiger
und vierziger Jahren aufklären. 1999 legten der PSOE gemeinsam mit den katalanischen und baskischen Nationalisten einen Gesetzentwurf vor, mit dem die Bürgerkriegsflüchtlinge geehrt werden und – sofern noch möglich – Entschädigungszahlungen erhalten sollten. In dem Entwurf war auch erstmalig von Verantwortlichkeit
und der Schuldfrage die Rede. Er wurde aber aufgrund fehlender Mehrheiten im
Parlament und mit dem Gegenvotum der Regierungspartei PP abgelehnt.
Der PP blieb zunächst bei der politischen Ablehnung solcher Initiativen und dem
Beschweigen der Vergangenheit. 2001 ging der PP sogar zum Gegenangriff über
und subventionierte großzügig die Nationalstiftung Francisco Franco, die das Gedenken Francos nach seinem Tod förderte. Sie hält bis heute ihr Archiv für wissenschaftliche oder journalistische Untersuchungen geschlossen. Damit entzieht sich
die Stiftung ihrer Verantwortung, die Geschichte Francos allen Spaniern und Interessierten offen zu legen. Für die Opfer von einst war dies ein erneuter Schlag, der
noch dadurch verstärkt wurde, dass im selben Jahr auf Betreiben der katholischen
Bischöfe und unterstützt von der PP der Vatikan wiederholt Priester und Nonnen,
die im Bürgerkrieg den Racheakten der Kommunisten und Republikaner zum Opfer fielen, selig sprach, ohne dabei die zahlenmäßig überlegenen Opfer auf republikanischer Seite zu erwähnen – von denen ein Großteil ebenfalls Katholiken waren.
Bislang gab es drei solcher Seligsprechungen des Vatikans für spanische Bürgerkriegsopfer, 1987 die erste und 2007, kurz bevor das Erinnerungsgesetz in Spanien
in Kraft trat, die dritte. Damit wurden weit über 1.000 Opfer, die den Franquismus
unterstützten, selig gesprochen, aber kein Opfer auf republikanischer Seite.
2000 schickte sich der Journalist Emilia Silva an, die sterblichen Überreste seines
im Bürgerkrieg verschollenen Großvaters aufzuspüren. Er publizierte einen Artikel
über sein Vorhaben und bat um Mithilfe von Zeitzeugen der damaligen Ereignisse.
Damit brachte er einen Stein ins Rollen, denn die Resonanz war überwältigend.
136
Anja Mihr
Neben Zeitzeugen baten auch Archäologen und Gerichtsmediziner ihre Mithilfe bei
der Suche nach Massengräbern und bei der Exhumierung von Toten an. Im selben
Jahr gründete er eine Nichtregierungsorganisation, die Asociación para la Recuperación de la Memoria Histórica (ARMH), die sich die Suche von Massengräbern
und die Exhumierung sterblicher Überreste von Opfern zur Aufgabe machte. Die
sich zunächst auf freiwillige Mitarbeit stützende und über ein Internetforum agierende Vereinigung erhielt zwar viel Resonanz, aber keine staatlichen Zuwendungen
– die aufgrund einer speziellen Steuergesetzgebung in Spanien durchaus erwartbar
gewesen wäre. Erst mit dem Regierungswechsel 2004 zu einer PSOE-geführten
Koalition erhielt die Organisation Anerkennung und Zuwendungen, um mit staatlichen Mitteln und unter staatlicher Aufsicht die Gräber des Bürgerkriegs aufzuspüren. Weit über 40 Gräber wurden seither geöffnet und über 600 Exhumierungen
durchgeführt. Die meisten dieser Gräber finden sich in den ländlichen Teilen Kastiliens und im Norden Spaniens. Die offizielle Unterstützung war ein Meilenstein in
der Anerkennungs- und Erinnerungspolitik Spaniens. Von ihr gingen die meisten
der darauf folgenden gesetzlichen und staatlichen Initiativen aus.
Das Jahr 2000 war zeitlich gesehen ein Wendepunkt sowohl in der Aufarbeitung
als auch in der Erinnerungspolitik Spaniens. 25 Jahre nach Francos Tod war damit
auch die magische Grenze von einer Generation durchbrochen. Diese war herangereift, als die Wunden nicht mehr frisch, die Erinnerungen aber noch zeitnah und die
Gemüter nur oberflächlich beruhigt waren. Eine selbstbewusste, gebildete junge
Generation war nach dem Ende des Franco-Regimes herangewachsen, die Fragen
zum Bürgerkrieg, zur Franco-Diktatur und sogar gegenüber dem ETA-Terror stellten, die bis dato im öffentlichen Raum nicht angesprochen werden konnten. Die
gespaltene Gesellschaft fand sich nach innen wieder, allerdings ohne Gefahr, dass
es zu nennenswerter Gewalt oder Racheakten kommen könnte. Häufig hatten gerade die Jüngeren, gleich, aus welchen Familien sie kamen, ein gemeinsames Interesse, Licht ins Dunkel der Franco-Diktatur zu bringen.
Wo der Wunsch nach Aufklärung und Veränderung herrscht, da herrscht auch Widerstand, der sich jedoch weiter abschwächte. Schon in den Jahren zuvor hatten
Bürgerinitiativen, legal oder illegal, Statuen von Franco abgerissen sowie Straßenund Ortsnamen eigenmächtig geändert. Als sie 2002 lautstark nach einem Gesetz
riefen, um von dato an alle Franco-Statuen von öffentlichen Plätzen, vor allem in
Madrid, zu entfernen, leistete der PP erneut heftigen Widerstand. Parallel zu diesen
Auseinandersetzungen stieg der Terror der ETA in Spanien wieder an. Die Forderungen nach einem unabhängigen Baskenland verstärkten sich. 2003 verbot die
Regierung die extremistische baskische Partei Heri Batasunas und schloss einige
nationalistisch ausgerichtete Zeitungen. Die internationale Öffentlichkeit und Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International empörten sich und warnten
vor unnötiger Zensur und Einschränkung der Meinungsfreiheit. Gleichzeitig forder-
Francos langer Schatten: Aufarbeiten, Erinnern und Demokratie in Spanien
137
ten sie ein Ende der Straflosigkeit von Verantwortlichen der Franco-Ära. Aufklärung und Verurteilung sollten rasch stattfinden.
Die Konfrontation schlug eine andere Richtung ein, als im März 2004 ein neuer
Regierungswechsel die PSOE an die Regierung brachte. Nach dem Terroranschlag
islamischer Fundamentalisten und Al-Quaida-Sympathisanten auf einen Vorortszug
in Madrid hatte der noch im Amt befindliche konservative Ministerpräsident José
María Aznar López die Schuld fälschlicherweise der ETA in die Schuhe geschoben. Er wollte damit weitere strengere Maßnahmen gegen die Separatistenorganisation rechtfertigen. Da sich diese Schuldzuweisung kurz vor den Parlamentswahlen
als falsch herausstellte, verlor der PP schnell das Vertrauen der Wähler und der
PSOE ging als Sieger aus der Wahl hervor.
Mit dem neuen Politikkurs änderte der PSOE auch schlagartig den Kurs zur Erinnerungspolitik. Der Wunsch nach Aufarbeitung der Vergangenheit fiel auf fruchtbaren Boden, denn die Menschen waren der Gewalt und des Terrors ebenso wie des
ewigen Schweigens über Unrecht und Mord überdrüssig. Verbände und Opfer der
ETA sowie die des islamischen Terrors suchten den Schulterschluss mit jenen, die
allgemein eine juristische Aufarbeitung von Unrecht forderten. Sie verlangten nicht
nur Aufklärung und Wahrheit, sondern auch die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Bereits kurz nach der Wahl 2004 ernannte die neue Regierung
unter Juan Rodriguez Zapatero die Vizeregierungschefin Maria Teresa Fernandez
de la Vega zur Bevollmächtigten einer Regierungskommission, der Comisión para
reparar la dignidad y restituir la memoria de las víctimas del franquismo (Kommission zur Wiederherstellung der Würde und Erinnerung der Opfer) mit dem Auftrag, ein Gesetz zur historischen Erinnerung zu entwerfen. Darin sollte es nicht nur
um Aufarbeitung, Gedenken und Erinnerungspolitik in Spanien gehen, sondern
auch um Entschädigungszahlungen, Rückerstattung des vom Franco-Regime beschlagnahmten Privateigentums, Pensionsansprüche und die lange überfällige Anordnung des Abbaus der Franco-Statuen auf öffentlichen Plätzen. 12
Im Zuge der politischen Auseinandersetzungen und um der Verabschiedung des
Gesetzes Rückendeckung zu geben, verurteilte 2006 das Europarlament auf Initiative ihres Präsidenten Josep Borrell, selbst Mitglied des PSOE und der Europäischen Sozialisten, das politische Unrecht und die Morde in Spanien von 1936 bis
1975. In seiner Ansprache forderte er die unverzügliche Aufklärung der Untaten. 13
Wenn seine Rede in Spanien auch keine breite Öffentlichkeit erhielt, von den Verbänden und Bürgerinitiativen in Spanien wurde sie doch wohlwollend aufgenommen und weitläufig zitiert.
Das Ley de la memoria histórica de Espana (Gesetz zur historischen Erinnerung
Spaniens, kurz: Erinnerungsgesetz) wurde 2006 verabschiedet und trat 2007 in
138
Anja Mihr
Kraft. Es verfügte den Abbau aller Franco-Statuen, die Schließung des Valle de los
Caidos als Wallfahrts- und Aufmarschstätte von Franquisten, die Öffnung des Bürgerkriegarchivs in Salamanca, Wiedergutmachungen, die Anerkennung der spanischen Staatsbürgerschaft für alle Nachkommen (Ley de los Nietos) der Widerstandskämpfer gegen Franco, sofern sie ins Ausland fliehen mussten, und die historische Aufarbeitung der Verschwundenen und Ermordeten des Bürgerkrieges. Allen Beteiligten war klar, dass dies nur der Anfang für weitere Gesetze und Maßnahmen zur Aufarbeitung mit strafrechtlichen Konsequenzen sein musste. Verbände und Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International sind seither nicht
müde geworden, die Aufkündigung des vom König 1977 erlassenen Amnestiegesetzes und damit auch der Straflosigkeit zu fordern.
Politische und juristische Konsequenzen folgten indes nur langsam. Denn will die
2008 im Amt bestätigte PSOE-Regierung nicht mit gleicher Willkür über die Menschen verfügen wie einst die Franquisten, so muss sie das Amnestiegesetz von 1977
respektieren und auf demokratischem Wege Gesetzesreformen anstreben, die eine
rechtsstaatliche Verurteilung von Verantwortlichen für Delikte vor 1975 ermöglichen. Dafür hat sie durchaus demokratische Mittel und politische Wege. Denn noch
vor ihrer Wiederwahl drohte die PSOE-Regierung den katholischen Kirchenvertretern damit, sie würden keine staatlichen Zuschüsse mehr erhalten, wenn sie weiterhin in und um ihre Kirchen herum den Franco-Kult pflegten. Die Regierung bezog
sich dabei darauf, dass an vielen Kirchenmauern bis dato nur die Namen der gefallenen Soldaten der Falange und nicht diejenigen der Republikaner stehen.
3. Aufarbeitungskonflikte in der Demokratie
„Francos langer Schatten“ manifestierte sich durch Selbstzensur, Rückzug ins Private, Angst vor einem neuen Bürgerkrieg. Zudem hat der anhaltende Terror seitens
der ETA nachhaltig die Erinnerungspolitik Spaniens geprägt. Ein umfassender
Wandel fand erst ab 2000 statt und wurde nach dem Regierungswechsel 2004 mit
dem Erinnerungsgesetz von 2007 manifestiert. Auch wenn heute kein Zweifel an
der Stärke und Selbsterhaltung der spanischen Demokratie gehegt werden kann und
ein Rückschritt zu einem autoritären Herrschaftsmodell kaum vorstellbar ist, so
fehlte ihr doch viele Jahre ein wesentliches Element einer gelungenen Stabilisierung: die offizielle Delegitimierung des Franco-Regimes.
Weder wurde bis vor kurzem die Schuldfrage gestellt noch wurden Verstrickungen
und Verantwortlichkeiten Einzelner zwischen 1936 und 1975 historisch oder juristisch systematisch aufgearbeitet. Diese „Sperrzonen des Erinnerns“, so Bernecker
und Brinkmann, können erst mit dem Gesetz zur historischen Erinnerung durchbrochen werden. 14 Ein Beitrag dazu ist, dass das Tal der Gefallenen und das dort befindliche Franco-Mausoleum nicht mehr für die jährlichen Aufmärsche der Fran-
Francos langer Schatten: Aufarbeiten, Erinnern und Demokratie in Spanien
139
quistischen Bewegung, der Falange, zur Verfügung stehen und stattdessen in eine
Gedenkstätte über den Bürgerkrieg und seine Folgen umgewandelt werden soll.
2008 forderte der Untersuchungsrichter Baltasar Garzón auf der Grundlage des Erinnerungsgesetzes die Überprüfung von über 110.000 Fällen politischer Morde und
Verschwundener bis 1975 durch die Provinzgerichte in den Autonomieregionen. Er
propagiert zudem offen die Aufhebung der Amnestiegesetze von 1977. Seine Forderung löste – wie zu erwarten war – heftigen Widerstand seitens einflussreicher
Konservativer und Franquisten aus. Im Mai 2009 ging der Fall vor das Oberste Gericht in Spanien, da Garzóns Forderungen über das eigentliche Erinnerungsgesetz
hinausgehen würden. Obgleich er Rückendeckung von den Opferverbänden, vor
allem der einflussreichen ARMH, für sein Vorgehen erhielt, zeigt dieser Vorgang,
dass die konservativen Kräfte alles daran legen, die noch ausstehenden Fragen nach
Verantwortlichkeit und Schuld juristisch nicht anzugehen oder derartige Prozesse
zumindest zeitlich zu verzögern. Dennoch ist in der Art und Weise ihres Vorgehens
ein qualitativer Sprung zu erkennen. Statt Einschüchterung und Stillschweigen zu
betreiben, bemühen sich alle Seiten um Einhaltung formaler demokratischer und
rechtsstaatlicher Wege.
Zweifellos ist die Klärung von Schuld-Fragen in jedem Aufarbeitungsprozess der
schwierigste und folgenreichste Schritt. Sie erfordert eine sorgfältige historische
und juristische Vorbereitung, bevor Anklagen erhoben werden können. Ihre Auswirkungen auf die gesellschaftliche Aussöhnung, die demokratische Kultur und den
gesellschaftlichen Frieden sind indes nicht zu unterschätzen. 15 Offen ist in Spanien,
wie in anderen Teilen der Welt auch, nach welchem Recht gesprochen und geurteilt
werden soll. Sollen Menschenrechtsstandards, die freilich erst mit der Allgemeinen
Erklärung der Menschenrechte von 1948, den Genfer Konventionen 1949 und den
Pakten und Konventionen in den Jahrzehnten danach formal verankert worden sind,
angewendet werden? Oder sollen ausschließlich die Rechtsprechung und die Gesetzgebung zur Zeit des Bürgerkrieges angewendet werden? Hier stellt sich zudem
die Frage, welche Gesetze angewendet werden sollen, da Franco die Republik samt
ihrer Verfassung 1936 de facto außer Kraft setzte. Wie soll mit den Urteilen der
Militärtribunale in den vierziger Jahren umgegangen werden und den abertausend
politischen Urteilen bis 1975? Spanien steht erst am Anfang dieser Debatten und
damit auch am Anfang der notwendigen juristischen Auseinandersetzung. Sie ist
Erfolg versprechend, denn die Proteste gegen Garzón und die aktive Einmischung
der Zivilgesellschaft zeigen, dass die Demokratie in Spanien heute stärker lebt als
noch vor 20 Jahren.
Mit Blick auf die fortlaufende Erforschung der Massengräber und der Öffnung historischer Archive sind die Erinnerungskonflikte der spanischen Gegenwart vor allem durch drei Streitfragen des Aufarbeitungs- und Versöhnungsprozesses geprägt:
140
Anja Mihr
–
–
–
Verantwortlichkeiten festlegen
Schuldfragen klären
die endgültige Delegitimierung des Franco-Regimes.
Es mag überraschen, dass diese wesentlichen Elemente, die eigentlich zu jeder
Transition von einem zum anderen politischen Systems gehören, erst 35 Jahre nach
dem Regimewechsel in Gang kommen. Sie erfordern einen hohen Grad an institutioneller Stabilität, Rechtsstaatlichkeit und politischer Streitkultur. Geht man davon
aus, dass Spanien nicht, wie zeitgenössische Transitionsstaaten, bereits in den ersten zehn Jahren nach Franco unter dem Druck einflussreicher Opferverbände stand,
auf Tribunale mit internationaler richterlicher Starbesetzung oder den Einfluss
transnationaler Nichtregierungsorganisationen zählen konnte –, so bedurfte es einer
ganzen Generation, um die Voraussetzungen für die nachhaltigste aller Formen der
Aufarbeitung gewährleistet waren, nämlich die juristische Verfolgung der Täter
und Verantwortlichen. Hinzu kamen freilich die schlechte wirtschaftliche Situation,
das niedrige Bildungsniveau und die noch instabilen demokratischen Strukturen
(Streikwellen bis 1979 und Putschversuch 1981) im ersten Jahrzehnt der PostFranco-Ära. Man mag darüber spekulieren, ob ohne die achtjährige Regierungszeit
der PP von 1996 bis 2004 der juristische Aufarbeitungsprozess schneller vorangegangen wäre. Die jüngsten Reaktionen gegen das Erinnerungsgesetz seitens der
konservativen Kräfte zeigen, dass das Abschwächen des Widerstandes gegen die
Aufarbeitung alter Eliten Zeit braucht, ungeachtet der Regierungsverhältnisse. Der
Fall Spanien zeigt darüber hinaus in aufschlussreicher Weise, dass Aufarbeitung
und Aussöhnung ein Prozess sind, kein Status Quo.
Hinzu kommt im Fall Spaniens, dass es nicht nur die Franco-Ära aufzuarbeiten hat,
sondern auch den (andauernden) Terror der ETA. Zumindest im Baskenland hat sie
es noch mit einer doppelt eingeschüchterten Zivilgesellschaft, mit antidemokratischem Denken und Verhaltensweisen zu tun. Damit eröffnet sich eine
weitere Konfliktlinie innerhalb der politischen Erinnerungskultur und der Demokratie Spaniens. Die Angehörigen der über 860 ETA-Terroropfer sehen sich häufig
konfrontiert mit den Angehörigen der über 500 Inhaftierten ETA-Terroristen, die
über das ganze Land verteilt sind und die nicht selten Opfer von Folter und Misshandlung, unfairen Gerichtsprozessen sowie der jeder Rechtsstaatlichkeit widersprechenden Anti-Terror-Einheit GAL in den achtziger Jahren ausgesetzt waren.
Angehörige beider Opfergruppen sind darum bemüht, die Opfer-Zahlen mit populistischen Mitteln aufzubauschen, ohne wirklich Ursachen und Verantwortlichkeiten zuzuordnen. Hier lässt sich eine Parallele zwischen den Mängeln der historischen und juristischen Aufarbeitung der Franco-Diktatur und deren fehlender Aufarbeitung des ETA-Terrors erkennen. Die polemische und häufig Fakten entbehrende Auseinandersetzung zwischen den Opfern der ETA und den inhaftierten Terroristen dauert an. Eine realistische Chance, diesen Teufelskreis aus undemokrati-
Francos langer Schatten: Aufarbeiten, Erinnern und Demokratie in Spanien
141
schen Traditionen, blutigen Konflikten, der Verdrehung historischer Fakten und
propagandistischen Parolen zu durchbrechen, eröffnete der überraschende Machtwechsel der Regionalregierung im Jahr 2009. Die vom PSOE geführte Regierung
im Baskenland krempelt die fast 30jährige nationalistische Erinnerungspolitik des
PNV um. Schulbuchreformen, historische Aufarbeitung und neue Sprachenregelungen sollen das baskische gesellschaftliche Bewusstsein dahingehend verändern,
dass der spanische Staat nicht mehr als Feind des Baskenlandes wahrgenommen,
sondern das Baskenland und mit ihm die „Baskische Nation“ als einer seiner Teile.
Die ETA bekundete daraufhin, dass sie ihre „politisch-bewaffnete Strategie überdenken“ wolle. 16
Ähnliche Konfliktlinien, wenn auch nicht so polarisierend wie im Baskenland, finden sich in Katalonien oder Galizien. Die einen befürwortete frühzeitig eine starke
Autonomieregelung und zeitweise sogar die Abspaltung von Spanien, die letztere
pflegt den Franco-Kult und damit den Zentralismus Spaniens. Beiderorts herrschen
unterschiedliche „Wahrheiten“ über die Franco-Diktatur.
Um der einseitigen, gleichzeitig gespaltenen beliebigen Erinnerung in Spanien entgegenzuwirken, bedarf es einer breiten gesellschaftlichen Debatte und eines Konsens. Nicht nur über Gesetze, sondern auch um Verantwortlichkeiten. Ohne einen
solchen umfassenden Konsens wird die spanische Zentralregierung stets ein – wenn
auch kontrollierbares – Legitimitätsdefizit aufweisen. Obgleich jede Regierung
damit überlebt habt, konnte sie das Vertrauen der Bürger (und Wähler) in die demokratischen Strukturen nicht gänzlich gewinnen. Aufarbeitungs- und Versöhnungsprozesse können die Wiedererlangung des zivilgesellschaftlichen Vertrauens
in politische Institutionen befördern, den Bürgern die Erfahrung vermittelt, dass in
einer Demokratie Unrecht öffentlich geahndet und Verantwortliche tatsächlich zur
Rechenschaft gezogen werden. 17 Für eine qualitativ starke Demokratie ist dies unabdingbar. 18 Das Beispiel Spaniens ab 2000 hat gezeigt, dass die Impulse zur Aufarbeitung zur „gemeinsamen“ Erinnerung aus der Bevölkerung kommen müssen,
damit sie nachhaltig sind. Die ersten Schritte sind getan und die politischen Weichen gestellt. Was nun noch aussteht, ist, dass die spanische Gerichtsbarkeit und
Rechtsstaatlichkeit den Forderungen sowohl der Opfer als auch der mutmaßlichen
Täter, Gerechtigkeit widerfahren lässt.
Abschließend lässt sich zusammenfassen, dass Erinnern in Spanien inzwischen „erlaubt“ ist, ohne dass der Einzelne Gefahr läuft privat oder beruflich Nachteile davonzutragen. Ebenso ist die Demokratie nicht nur etabliert, sondern auch konsolidiert und gesellschaftlich lebendig. Eine lebendige, gar gemeinschaftliche und alle
Facetten einbindende Erinnerungskultur als Kennzeichen einer qualitativ hochwertigen Demokratiekultur begann sich indes erst eine Generation nach Francos Tod
zu etablieren. Damit steht zur Debatte, ob es prinzipiell besser für ein Transitions-
142
Anja Mihr
regime ist, mit den großen Aufgaben der juristischen Aufarbeitung eine ganze Generation zu warten. Dafür spricht, dass damit Widerstände alter Eliten kontrollierbarer werden und Zeit für das Verheilen oder Vergessen der tiefsten Wunden gewonnen werden kann. Umgekehrt ist zu argumentierten, dass, indem der Pakt des
Schweigens erst 2004 aufgebrochen wurde, die Franquisten in den ersten Jahrzehnten nach dem Systemwandel die erinnerungspolitische Deutungshoheit behielten,
welche dazu beitrug, dass sich die demokratische Kultur und Zivilgesellschaft nur
zögerlich entwickeln konnte und 1981 sogar in Gefahr war zu kapitulieren.
Eine Delegitimierung des Franco-Regimes hat bis heute faktisch nicht stattgefunden. Dies hat zur Folge, dass radikale Separatismusbewegungen ebenso wie ein
übertriebener Nationalismus verschiedene Ebenen von Staat und Gesellschaft okkupieren konnten, die auch vor Terror und Gewalt nicht zurückschreckten. Ein
Misstrauen in die demokratischen und rechtsstaatlichen Institutionen und der Rückzug ins Private waren die Folge. Wären diese Tendenzen seit den neunziger Jahren
nicht aufgebrochen worden, hätte es sich für die weitere Entwicklung der Demokratie in Spanien als schädlich erweisen können. Dass es zu einem zivilgesellschaftlichen Aufbegehren und zur Verabschiedung des Erinnerungsgesetzes kam,
spricht indes für das Widererstarken der Demokratie in Spanien.
1
Anja Mihr, From Reconciliation to the Rule of Law and Democratization, in: Web Journal of
Current Legal Issues, No. 1, 2009, University of Newcastle, JCLI, http://webjcli.ncl.ac.uk/2009/issue1/mihr1.html.
2
Walther L. Bernecker, Sören Brinkmann, Kampf der Erinnerungen. Der Spanische Bürgerkrieg
in Politik und Gesellschaft 1936-2008, Nettersheim 2008, S. 243f.
3
Peer Schmidt (Hg.), Kleine Geschichte Spaniens, Stuttgart 2004, S. 479ff.
4
Dieter Nohlen, Andreas Hildebrand, Spanien, Wirtschaft – Gesellschaft, Politik. Ein Studienbuch, Wiesbaden 2005, S. 310ff.
5
Ulrike Liebert, Modelle demokratischer Konsolidierung. Parlamente und organisierte Interessen
in der Bundesrepublik Deutschland, Italien und Spanien 1948-1990, Opladen 1995, S. 194.
6
Guernica ist die baskische Stadt, die auf Francos Anforderung durch deutsche und italienische
Fliegerstaffeln 1937 komplett zerstört wurde.
7
Carme Molinero (Hg.), La Transición, treinta anos después de la dictatura a la instauración y
consolidación de la democracia. Barcelona 2006.
8
Liebert 1995, Op. cit.; Juan Linz, Alfred Stepan, Problems of Democratic Transition and
Consolidation. Southern Europe, South America and Post-Communist Europe, Baltimore, London
1996, S. 109.
9
Wolfgang Merkel, Systemtransformation. Eine Einführung in die Theorie und Empirie der
Transformationsforschung, Opladen 1999, S. 297.
10
Marianne Kneuer, Demokratisierung durch die EU. Süd- und Ostmitteleuropa im Vergleich.
2007, S. 219.
11
Richard Gunther, José Ramón Montero, Joan Botella, Democracy in Modern Spain, Yale University, 2004, S. 151.
12
Bernecker, Brinkmann 2008, Op. cit., S. 339ff.
13
Europaparlament, Erklärung des Präsidenten und Fraktionsvorsitzenden zum 4. Jahrestag des
Staatsstreichs durch Franco in Spanien, Straßburg, 4. Juli 2006: http://www.europarl.europa.eu/-
Francos langer Schatten: Aufarbeiten, Erinnern und Demokratie in Spanien
143
sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+CRE+20060704+ITEM-004+DOC+XML+V0//DE (letzter
Zugriff: Juli 2009).
14
Bernecker, Brinkmann 2008, Op. cit., S. 246.
15
David Bloomfield, Teresa Barnes, Luc Huyse (Hg.), Reconciliation after violent conflicts,
Stockholm 2005, S. 14.
16
Leo Wieland, Die spanische Flagge neben der baskischen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung,
13. Juni 2009, S. 6.
17
Martha Minow, Between Vengance and Forgiveness. Facing History after Genocide and Mass
Violence, Boston 1998.
18
Hans-Joachim Lauth, Die Qualität der Demokratie im interregionalen Vergleich – Probleme und
Entwicklungsperspektiven, in: Gert Pickel, Susanne Pickel (Hg.), Demokratisierung im internationalem Vergleich, Neue Erkenntnisse und Perspektiven, Wiesbaden 2006, S. 95-118.
144
Zdzisław Krasnodębski
Erinnerungskonflikte, Gespräch und Versöhnung
1. Konflikte besonderer Art
Wir leben in und mit Konflikten – unser politisches, berufliches und privates Leben
ist voll von ihnen. In spätmodernen Gesellschaften werden der Machtwille, der oft
euphemistisch als Führungsqualität bezeichnet wird, und die Durchsetzungsfähigkeit geschätzt, ja sie werden in Kursen trainiert. Aber wir mögen sie nicht – zumindest in öffentlichen Erklärungen – und versuchen, die Welt ohne sie zu denken.
Auch in den Sozialwissenschaften, trotz allem, was man von Max Weber über Gegensätze zwischen den Wertsphären gelernt hat, trotz den einstigen Bemühungen
der „Konfliktschule“ in der Soziologie, trotz der Postmoderne und trotz heutiger
Versuche, das Element des Agonalen in der Demokratie zu verstärken, dominiert
die Sehsucht nach Harmonie, nach endgültiger Versöhnung.
In der Zeit, als das Erbe des Marxismus noch nicht verschwunden war, war dies
anders. Damals war noch die Idee lebendig, dass erst durch verschärfte Gegensätze
und Klassenkämpfe, durch die Revolution der Zustand der endgültigen Ruhe und
des Friedens erreicht wird. Die Rechte mussten erkämpft werden, auch gewaltsam.
Mit dem Umbruch 1989 war die Epoche der Revolutionen endgültig zu Ende, so
scheint es jedenfalls. In unserer Zeit, in der ein vereinfachter Liberalismus den
Gemeinsinn prägt, setzen wir auf Dialog, Diskussion, und Gespräch, denen die
wunderbare Eigenschaft zugeschrieben wird, Konflikte aller Art zu schlichten. Man
muss nur den Kreis der Teilnehmer erweitern und den Dialog vertiefen. Wenn wir
es schaffen, ein geeintes Europas zu bauen, über globale Demokratie ganz zu
schweigen, werden nationale Gegensätze verschwinden. Kant wird auch in den internationalen Beziehungen über Hobbes siegen.
Noch ist es jedoch nicht soweit. Die Konflikte verschwinden nicht. Leider werden
sie oft militärisch ausgetragen. Sogar der in Europa angeblich völlig unvorstellbare
Krieg ist auf dem Balkan ausgebrochen und die europäischen Armeen, unter anderen auch die Bundeswehr, beteiligen sich an dem Krieg in Afghanistan. In diesen
Konflikten spielt, wie im Falle des Kosovo, oft die Geschichte eine große Rolle.
Aber Erinnerungskonflikte haben auch dann emotionalen Charakter, wenn sie zwischen Verbündeten, wie zwischen Polen und Deutschen, ausbrechen. Dies sind
Konflikte besonderer Art. Es handelt sich in diesem Fall anscheinend nicht um
Konflikte, die aus einem Gegensatz materieller Interessen resultieren. Es sind auch
nicht immer Wertekonflikte, weil man sich über Grundprinzipien und Grundwerte
weitgehend einig ist; es geht eher um deren Anwendung. Man streitet über die Ver-
146
Zdzisław Krasnodębski
gangenheit, ob und wie sie erinnert wird, wie sie erinnern werden soll, was eigentlich passiert ist und welche Bedeutung diese Ereignisse hatten.
Solche Konflikte können auf individueller Ebene ausgetragen werden, wenn wir
mit Lebenspartnern, Freunden oder Bekannten darüber streiten, was wir in unserem
eigenen Leben erfahren haben, wenn wir uns gemeinsam vergegenwärtigen, was
damals geschehen ist und feststellen, in wie unterschiedlicher Weise wir uns an das
Vergangene erinnern. Manchmal – aber eher selten – sind dies auch Erinnerungen
an vergangene Konflikte, an Streit, Kämpfe, Auseinandersetzungen mit dem Gesprächspartner, mit dem wir jetzt darüber streiten. Es ist klar, warum dies eher selten geschieht. Wenn wir die Beziehung erhalten möchten, müssen wir uns über
vergangene Konflikte hinwegsetzen, sie vergessen, verdrängen, neutralisieren.
Wenn dies nicht gelingt, trennen wir uns.
Der Erinnerungsstreit zwischen Kollektiven ist von anderer Natur. Oft wird er von
Menschen geführt, die gerade keine persönlichen Erfahrungen mit den umstrittenen
Ereignissen haben, an welche sie sich nicht erinnern können, weil sie sie gar nicht
selbst erlebt haben. Sie können sich höchstens daran erinnern, was man ihnen erzählt hat – in der Familie, in der Schule, durch die Medien und in Büchern. Sie führen den Erinnerungskonflikt stellvertretend aus. Manchmal handelt es sich um einen Streit über Fakten – darüber, was sich in der Vergangenheit ereignet hat und
was man jetzt zur Kenntnis nehmen sollte. Aber häufiger sind nicht die Fakten umstritten, sondern ihre moralische Bedeutung und die Konsequenzen, die daraus zu
ziehen sind. Erinnerungskonflikte setzen – wie jeder Konflikt – eine gewisse Nähe
voraus. Es gibt keine Erinnerungskonflikte zwischen Gruppen, die historisch nicht
in direktem Kontakt gestanden haben, auch wenn ihre heutigen Vorstellungen über
die Vergangenheit voneinander abweichen, und auch nicht zwischen Gruppen, die
sich gegenwärtig völlig ignorieren. Die Träger kollektiver Erinnerungskonflikte
müssen sich gegenseitig zur Kenntnis nehmen. Man muss auch den Mut haben, auf
einen solchen Konflikt einzugehen und auf der eigenen Vorstellung zu beharren,
besonders wenn die Kräfte nicht gleich verteilt sind. Konflikt setzt voraus, dass
sich die beiden Parteien zumindest moralisch gleichgestellt fühlen. In den meisten
dieser Fälle betreffen die kollektiven Erinnerungskonflikte vergangene Kämpfe und
Kriege, traumatische Erfahrungen, in denen Leid zugefügt oder erlitten wurde.
Heutzutage werden selten große Siege gefeiert und Monumente für sie errichtet. Ob
das bedeutet, dass Europa tatsächlich postheroisch geworden ist, darf aber bezweifelt werden. Es wird immer noch an militärische Taten erinnert, eine große Rolle
spielt zum Beispiel die Erinnerung an den Widerstand gegen die deutschen Besatzer während des Zweiten Weltkriegs. 1 Sicher ist Deutschland postheroisch geworden. Dies hängt mit der Tatsache zusammen, dass es die beiden Weltkriege nicht
Erinnerungskonflikte, Gespräch und Versöhnung
147
nur verloren hat, sondern sich auch durch die im Dritten Reich praktizierte Vernichtungspolitik moralisch diskreditiert hat.
Es wäre sicherlich falsch, deutsche Erinnerungspolitik als ein allgemeines Modell
zu betrachten und zu versuchen, es anderen aufzuerlegen. Dennoch trifft es zu, dass
Leid, besonders wenn es als nicht verschuldet gelten darf, immer stärker ins Zentrum der Geschichts- und Erinnerungspolitik rückt. In den gegenwärtigen Erinnerungskonflikten geht es daher häufig um Leid, darum, wer wem Leid zugefügt hat,
welche Verantwortung er dafür trägt usw. Der Aufruf zur Erinnerung an das Vergessene oder Verdrängte ist daher sehr oft mit dem Aufruf zu Reue, Sühne und
Wiedergutmachung verbunden. Nach wie vor werden dabei christliche Symbole
und Denkweisen sichtbar. Die Figur des gekreuzigten Christus war früher in vielen
Nationen Symbol des eigenen Leidens. 2 Aber auch im heutigen postchristlichen
Europa wird Leid immer noch als etwas gesehen, das einen moralischen Wert an
sich hat und eine Erlösung von der Schuld mit sich bringt.
2. Erinnerungspolitik in postkommunistischen Gesellschaften
Natürlich brechen Erinnerungskonflikte nicht nur zwischen Nationen oder Staaten
aus, sondern sie können auch Nationen oder Gesellschaften selbst spalten. Solche
inneren Konflikte sind häufig heftiger als die äußeren. In den postkommunistischen
Gesellschaften sind Erinnerungskonflikte stärker, zahlreicher und oft verwickelter
als in den Staaten Kerneuropas. Sie haben zwei Totalitarismen erlebt und der Zweite Weltkrieg wird erst seit kurzem öffentlich und aufrichtig aufgearbeitet. Die Konflikte, die diese Gesellschaften erschüttern, betreffen auch die jüngste Geschichte –
die Zeit der antikommunistischen Opposition, den Übergang zur Demokratie und
zum Kapitalismus seit 1989 und den nach 1989 gewählten Weg.
Deutschland stellt eine Ausnahme unter den Staaten des „alten Europa“ dar, weil es
nach der Wiedervereinigung dieses Dilemma teilt und daher zum Teil auch postkommunistisch ist. Aber die deutsche Gesellschaft ist viel weniger zerrissen als die
ostmitteleuropäischen. Fast alle Deutschen machten dieselbe Geschichte durch. Im
Dritten Reich waren diejenigen, die sich gegen das Regime aufgelehnt haben, nicht
besonders zahlreich. Danach setzte sich im öffentlichen Raum ein von den Alliierten auferlegtes Narrativ durch. Nur in der Privatsphäre überdauerten andere, offiziell entlegitimisierte Narrative. Die „Vergangenheitsbewältigung“ war zwar kein
leichter Prozess und führte zu großen Historiker-Debatten. Aber die Walser-BubisKontroverse scheint das Ende dieser Epoche zu markieren. Seitdem herrscht weitgehend ein Konsens, der in den ostmitteleuropäischen Gesellschaften nicht zu finden ist. Nicht zufällig hat zum Beispiel der Erinnerungskonflikt zwischen Polen
und Deutschen über die „Vertreibung“ in Polen einen anderen Stellenwert als in
Deutschland. Dies zu verstehen wäre der erste Schritt zu einer besseren Verständigung.
148
Zdzisław Krasnodębski
3. Versöhnung durch Gespräch
Wie kann man durch bessere Verständigung Erinnerungskonflikte beenden? Wie
kann man gar Versöhnung erreichen? Warum glauben wir, dass das über den Dialog, das Gespräch möglich sei? Warum meinen wir, dass es in solchen Situationen
besser sei, miteinander zu sprechen als gemeinsam zu schweigen?
Im echten Gespräch, so hören wir von Philosophen, werden eigene Vorurteile auf
die Probe gestellt. Es kommt zu einem „ins-Spiel-Bringen der Vorurteile“, wie
Hans-Georg Gadamer sagte. Es geht dabei aber nicht darum, „von sich selbst abzusehen“ und es ist auch nicht das Ziel, sich völlig mit dem Anderen zu identifizieren,
zur anderen Kultur zu konvertieren:
Solches Sichversetzen ist weder Einfühlung einer Individualität in eine andere, noch auch Unterwerfung des anderen unter die eigenen Maßstäbe, sondern bedeutet immer die Erhebung zu einer höheren Allgemeinheit, die nicht
nur die eigene Partikularität, sondern auch die des anderen überwindet. 3
Schon ein Gespräch, natürlich ein „eigentliches“, führt per se – scheint uns Gadamer zu sagen – zu einer Versöhnung. Im Verstehen selbst ist schon die Verständigung angelegt und Verständigung scheint mit Versöhnung identisch zu sein, die
durch die Aufhebung der Differenzen in einem allgemeineren Horizont erreicht
werden soll. Diese Auffassung scheint die Maxime „alles verstehen heißt alles verzeihen“ zu bestätigen – auch wenn Gadamer auf die Unmöglichkeit des „alles Verstehens“ hinweist. Diese Auffassung bestärkt auch Habermas in seiner Polemik mit
MacIntyre:
Jene Verschmelzung der Interpretationshorizonte, auf die nach Gadamer jeder Verständigungsprozeß abzielt, darf nicht unter die falsche Alternative,
sei es einer Assimilation „an uns“ oder einer Konversion „zu ihnen“ gebracht werden. Sie muss als eine durch Lernen gesteuerte Konvergenz „unserer“ und „ihrer“ Perspektive beschrieben werden – gleichviel, ob dabei
„sie“ oder „wir“ oder beide Seiten ihre bisher gültigen Praktiken der Rechtfertigung mehr oder weniger reformieren müssen. 4
Ein solches Modell liegt den gegenwärtigen Diskursen über Erinnerungskonflikte
und Versöhnung zugrunde. Man stellt z.B. nationale historische Narrative einander
als partikulär gegenüber. Am Ende einer solchen Konfrontation erwartet man eine
Verschmelzung der Horizonte zu einer umfassenderen Perspektive, die man heute
gerne eine europäische nennt. Unterschiedliche Narrative sollen sich zu einer europäischen Gesamterzählung verflechten lassen, in welcher sie ihren Platz finden und
von ihrem ausschließlichen Charakter befreit werden. Europa würde zu einer Totalinklusion aller Völker führen – natürlich nur derer, die als europäisch anerkannt
werden und die demnach etwas zu sagen haben, im Gegensatz zu den Roma. 5 Des-
Erinnerungskonflikte, Gespräch und Versöhnung
149
halb setzt man viel Hoffnung in gemeinsame Lehrbücher für Geschichte. Dem
deutsch-französischen Unterrichtsbuch soll bald ein deutsch-polnisches folgen. Die
deutsch-französische Verständigung dient als Modell für den Umgang Deutschlands mit Polen. Polen, so hörten wir früher sehr oft in den Reden deutscher Politiker, ist unser „Frankreich im Osten“. Am Ende dieses Prozesses wird vielleicht ein
gesamteuropäisches Lehrbuch für Geschichte für alle europäischen Kinder entstehen. Die Europäisierung würde die Europäer endlich und für die Ewigkeit versöhnen. Allerdings kann man sich kaum vorstellen, dass die Versöhnung der Deutschen mit Polen, die sich doch in ihrer Interpretation der Geschichte und ihrer Einstellung zu Europa sehr unterscheiden, dadurch erreicht werden kann.
Solche Modelle der Versöhnung durch Dialog – wie z.B. Gadamers Konzeption der
Horizontverschmelzung oder die Diskursethik von Habermas – wecken aber auch
Bedenken, weil sich aus ihnen eine homogenisierende, harmonisierende oder sogar
totalisierende Tendenz ablesen lässt. Umbrüche, Differenzen, Fremdheiten und unversöhnte Gegensätze sollen in einer höheren Allgemeinheit aufgehoben sein. Solche Horizontverschmelzung kann in gewissen Fällen geradezu zu einer gewaltsamen Prozedur werden. Sich in jemanden zu versetzen, wenn er nicht in das Gespräch eintreten will, wenn er keinen Wert auf ein Gespräch legt, ist wie eine Invasion. Da hebt jemand meine Partikularität auf, verschmilzt meinen Horizont mit
dem seinen, ohne mich zu fragen. Manchmal kann der Zwang zu einem Gespräch
sogar als unmoralisch erscheinen, besonders wenn es um die mögliche Versöhnung
zwischen Opfer und Täter geht. Dies brachte der Angehörige eines Opfers von Apartheid folgendermaßen zum Ausdruck:
Mir scheint, dass die Wahrheits- und Versöhnungskommission enorm viel
von Opfern verlangte. Sie verlangte von ihnen, mit anzusehen, wie Mörder
oder Folterer – oft beides zugleich – von Menschen, die sie geliebt hatten,
straflos blieben und ihr Recht auf jede Form legaler Gerechtigkeit aufzugeben [...]. Es gab mehrere Augenblicke in der Wahrheitskommission, wo
ich das Gefühl hatte, dass Opfer gleichsam moralisch erpresst wurden, auf
die Leute zuzugehen, die ihnen solches Leid angetan hatten, und es hat mich
geschmerzt, das mit ansehen zu müssen. 6
Warum sollen wir – oder die Völker – ein Gespräch oder gar ein „eigentliches Gespräch“, führen? Gehört es nicht zu den elementaren Formen menschlicher Freiheit,
Gesprächsangebote ablehnen zu können, zu sagen: „Mit ihm spreche ich nicht“,
„Mit ihm möchte ich nichts zu tun haben“ oder „Mit ihm lässt sich nicht sprechen“? In das Gespräch einzutreten, besonders in das, was Gadamer „eigentliches
Gespräch“ nennt, ist keine Notwendigkeit, sondern eine Möglichkeit, die wahrzunehmen bedeutet, den Anderen als Gesprächspartner anzuerkennen. Allerdings bieten sich den Menschen viele andere Möglichkeiten, mit anderen Menschen umzu-
150
Zdzisław Krasnodębski
gehen – sie zu ignorieren, zu bestrafen, mit ihnen zu verhandeln, zu feilschen, sie
zu betrügen, nicht zuletzt mit ihnen zu kämpfen und sie zu töten.
Hans-Georg Gadamer behauptet, dass wir immer schon im Gespräch seien, dass
wir in es hinein geraten: „Wir sagen zwar, dass wir ein Gespräch ‚führen‘, aber je
eigentlicher ein Gespräch, desto weniger liegt die Führung desselben in dem Willen
des einen oder anderen Partners. So ist das eigentliche Gespräch niemals das, das
wir führen wollen. Vielmehr ist es im Allgemeinen richtiger zu sagen, dass wir in
ein Gespräch geraten, wenn nicht gar, dass wir uns in ein Gespräch verwickeln.“ 7
Dies jedoch betrifft eigene kulturelle Überlieferung. Wann aber verwickeln wir uns
in einen Dialog der Kulturen oder der Nationen? Vielleicht nur dann, wenn wir etwas Gemeinsames erreichen möchten oder – paradoxerweise – nur dann, wenn
fremde Kulturen oder Nationen zum Problem oder gar zur Bedrohung werden. Die
Vernunft hat ihre Grenzen. Darauf verweisen auch Autoren wie Jürgen Habermas,
die dem Aufklärungsideal treu geblieben sind. Wie bekannt, führte er einen Unterschied zwischen moralischen und ethischen Diskursen ein:
Gerechtigkeitsfragen sind einer begründeten – im Sinne rationaler Akzeptabilität begründeten – Entscheidung zugänglich, weil sie sich aus einer ideal
entschränkten Perspektive auf das beziehen, was im gleichmäßigen Interesse
aller liegt. Demgegenüber lassen ‚ethische‘ Fragen im engeren Sinne eine
solche für moralische Beurteilung nicht zu, weil sie sich aus der Perspektive
der ersten Person auf das beziehen, was für mich oder für uns, ein bestimmtes Kollektiv, im ganzen und auf lange Sicht gesehen gut ist – auch wenn es
nicht gleichermaßen gut ist für alle. 8
In Erinnerungskonflikten tauchen auch Gerechtigkeitsfragen auf, sie sind jedoch
mit ethischen Fragen verflochten, die im Kontext der konkreten politischen Gemeinschaft verankert sind. Schon aus diesem Grunde muss man zweifeln, ob solche
Konflikte tatsächlich durch Aufhebung in eine allgemeine Position zu lösen sind.
Die „Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch“ muss, wenn sie vernünftig
bleiben möchte, ihre Beschränktheit akzeptieren.
4. Mehr als Gespräch
Die Gespräche, bei denen es um die Versöhnung geht, sind von einer besonderen
Art. Es ist etwas anderes, in „ein Gespräch“ mit einem klassischen Text einzutreten
– was den paradigmatischen Fall des Verstehens für Gadamer darstellt. Es ist auch
etwas anderes, als sich mit den Menschen anderer Kulturen oder Nationen (z.B. mit
dem Berufskollegen aus dem anderen Land) zu unterhalten, mit denen wir keine
traumatischen Erfahrungen teilen oder von denen uns traumatische Erfahrungen
trennen, die aber nicht zum Thema gemacht werden. Es reicht auch nicht aus, sie zu
besprechen, um sich zu versöhnen. Eine Versöhnung setzt Verzeihen voraus. Han-
Erinnerungskonflikte, Gespräch und Versöhnung
151
nah Arendt meinte, dass es die Unwiderruflichkeit des Getanen ist, die Akte des
Verzeihens im Bereich menschlichen Handelns unerlässlich macht. Nur auf diese
Weise lässt sich das annullieren, was eigentlich nicht zu annullieren ist: „Das
Heilmittel gegen die Unwiderruflichkeit – dagegen, dass man Getanes nicht rückgängig machen kann, obwohl man nicht wusste, und nicht wissen konnte, was man
tat – liegt in der menschlichen Fähigkeit zu verzeihen.“ 9 Das Verzeihen ermöglicht
einen neuen Anfang und ist daher die Bedingung unserer Freiheit:
Nur durch dieses dauernde gegenseitige Sich-Entlasten und Entbinden können Menschen, die mit der Mitgift der Freiheit auf die Welt kommen, auch in
der Welt frei bleiben, und nur in dem Maße, in dem sie gewillt sind, ihren
Sinn zu ändern und neu anzufangen, werden sie instand gesetzt, ein so ungeheueres und ungeheuer gefährliches Vermögen wie das der Freiheit und des
Beginnens einigermaßen zu handhaben. 10
Das Verzeihen verlangt aber in den meisten Fällen eine frühere Entschuldigung
seitens dessen, der das Unrecht begangen hat, und manchmal auch Buße, Sühne
und Wiedergutmachung. Hermann Lübbe schreibt: „Entschuldigungen, sofern sie
angenommen werden, heilen eine schuldhaft verletzte Beziehung.“ 11 Die Bereitschaft zum Verzeihen – gegenseitiges oder einseitiges, wenn das Unrecht nur von
einer Seite begangen wurde – muss also am Anfang stehen, obwohl viele der Gespräche, die zu Versöhnungsprozessen führen, davon handeln, die Schuldfrage zu
formulieren, das Unrecht zu identifizieren und es der anderen Seite bewusst zu machen.
Hannah Arendt zeigt in ihrem Werk, dass Verzeihen immer ein politischer Akt ist,
auch wenn das Verzeihen im Politischen niemals ernst genommen 12 und erst durch
das Christentum in diesem Bereich entdeckt wurde. „Was das Verzeihen innerhalb
des Bereichs menschlicher Angelegenheiten vermag, hat wohl Jesus von Nazareth
zuerst gesehen und entdeckt.“ 13 Mittlerweile wurde die Bitte um Verzeihung auch
in der Politik zu einer allgemein verbreiteten Praxis. Hermann Lübbe spricht über
eine „neue vergangenheitspolitische Zivilbußpraxis“. Die wohl bekannteste BußGeste ist Willy Brandts Kniefall in Warschau. Es ist jedoch charakteristisch, dass
diese Geste für die Deutschen wichtiger war als für die Polen. Der Ort, wo sie erfolgte, hatte für Brandt eine andere Bedeutung als für die Polen. Und man wusste
nicht, an wen diese Geste der Reue gerichtet war – an Juden, an Polen, an Warschau, an alle Opfer des Nationalsozialismus?
Ein weiteres Problem liegt darin, dass Kollektive – etwa Nationen – nur durch ihre
Vertreter, d.h. durch Repräsentanten einen Dialog führen können. Wie oft hören
wir gegenwärtig, man solle den Dialog mit Russland fortsetzen – dass bedeutet mit
Putin und Medvedev, nicht mit jedem Russen, nicht mit der russischen Opposition.
Lange hielt man in Deutschland den Dialog mit den polnischen Kommunisten für
152
Zdzisław Krasnodębski
den Dialog mit Polen, obwohl in Polen alle wussten, dass das Gespräch mit Jaruzelski nicht ein Gespräch mit Polen ist. Willy Brandt schien es nicht gewusst zu
haben, als er sich 1985 weigerte, sich mit Lech Wałęsa zu treffen.
Im Falle von Demokratien scheint es relativ klar, wer die Nation, das Volk politisch
repräsentiert: die demokratisch gewählten Vertreter. Schwieriger ist es schon zu
sagen, wer die Nation intellektuell oder kulturell vertritt. Diejenigen, die man dafür
hält, müssen es nicht unbedingt sein. Oft trifft man die Auswahl nach dem je eigenen Geschmack oder Bedürfnis – und nicht nach den Kriterien des Anderen. Oder
man schafft sich sogar einen Gesprächspartner. In Deutschland zum Beispiel galt
Andrzej Szczypiorski als Vertreter des neuen demokratischen Polen. Man findet,
dass einige Autoren wie z.B. Andrzej Stasiuk übersetzungswürdig sind, andere hingegen nicht. Man kann sich kaum vorstellen, dass man „Kinderszenen“ von
Jarosław Marek Rymkiewicz ins Deutsche übersetzt, obwohl das Buch die Deutschen betrifft und eine wichtige Deutung des Warschauer Aufstandes enthält. In
diesem deutsch-polnischen Dialog werden vor allem Themen beleuchtet, die die
deutsche Öffentlichkeit interessieren und deren Erwartungen erfüllen. Von einer
„Horizontverschmelzung“ kann man daher kaum sprechen, es sei denn von einer
selektiven mit dem eines auserwählten Partners.
Die heutige inflationäre Verbreitung des „neuen politischen Buß-Rituals“ rührt
nach Ansicht Lübbes von der „Refundamentalisierung“ öffentlicher Moral her.
Vielleicht kann man sie auch dadurch erklären, dass uns andere Möglichkeiten der
Schlichtung – wie die Heirat zwischen verfeindeten Sippen oder Staaten oder Duelle – abhanden gekommen sind. Die gegenwärtigen öffentlichen Verständigungsrituale, die sich vor den Augen eines möglichst breiten Publikums abspielen, haben
etwas mit dem medialen Zeitalter und einem Exhibitionismus der postmodernen
Kultur zu tun, denn „das Sich-an-die-Brust-Schlagen wegen einer schuldhaften
Vergangenheit passt bestens zu dem Alles-heraushängen-Lassen einer Kultur bekennender Berühmtheiten.“ 14 Es lassen sich zwar erhebliche Zweifel an einer solchen „Politik der Tränen“ anbringen. Es ist aber auch unbestreitbar, das diese Rituale, wie leer auch immer, eine durchaus positive Rolle spielen können. Sie sind
zweifellos um vieles besser als politische Hasstiraden. Man darf sie allerdings nicht
überschätzen. Denn es wäre eine Illusion zu glauben, es reiche zur Versöhnung,
dass die Politiker Händchen halten wie Mitterrand und Kohl 1984 in Verdun, sich
umarmen wie Kohl und Mazowiecki 1989 in Kreisau oder Putin und Tusk in Smolensk. Wenn diese Gesten wirksam sind, dann nur, weil sie ein Teil eines umfassenden politischen Prozesses sind, an dem breite gesellschaftliche Gruppen teilhaben.
Solche Versöhnungsrituale werfen die Frage auf, wer das Recht hat zu verzeihen
und wem die Pflicht (und das Recht) zufallen, sich zu entschuldigen. Es ist etwas
Erinnerungskonflikte, Gespräch und Versöhnung
153
anderes, sich für eigene Taten zu entschuldigen als für die Taten der anderen. Es ist
leichter, um Verzeihung in Namen der anderen zu bitten oder an die fremde Brust
zu schlagen als an die eigene:
Es scheint ein ehernes Gesetz politischer Entschuldigungen zu sein, dass
man sich sträubt, für seine eigenen Taten verantwortlich gemacht zu werden,
aber bereitwillig die Schuld anderer trägt, besonders dann, wenn das begangene Unrecht zeitlich weit zurückliegt. Macht diese Trennung von Entschuldigung und Verantwortung das ganze nicht zu einer Farce? 15
Hannah Arendt betonte, dass Verzeihen unerwartet kommt und sich nicht kalkulieren lässt: „Verzeihen ist die einzige Reaktion, auf die man nicht gefasst sein kann,
die unerwartet ist und die daher, wiewohl ein Reagieren, selber ein dem ursprünglichen Handeln ebenbürtiges Tun ist.“ 16 Wir können Verzeihen nicht erzwingen. Eine Entschuldigung braucht auch nicht angenommen zu werden. In heutigen Versöhnungsritualen wird das Verzeihen jedoch zur Pflicht gemacht. Man stellt es als
die einzige ethisch richtige Reaktion dar. Wo aber das Verzeihen zur Pflicht wird,
wird es zur leeren Formel:
Es gehört zu den elementarsten Gegebenheiten im Bereich der menschlichen
Angelegenheiten, dass wir außerstande sind zu verzeihen, wo uns nicht die
Wahl gelassen ist, uns auch anders zu verhalten und gegebenenfalls zu bestrafen und dass umgekehrt diejenigen Vorgänge, die sich als unbestrafbar
herausstellen, gemeinhin auch diejenigen sind, die wir außerstande sind zu
vergeben. 17
Versöhnung zwischen Personen, wenn sie ernst gemeint ist und halten soll, bedeutet, dass man von neuem anfängt, dass man sich auf die Vergangenheit nicht mehr
bezieht und man sie beiseitelässt. Es erscheint kaum möglich, eine solche Haltung
auf Kollektive und auf das kollektive Gedächtnis zu übertragen. Wenn sich Juden
mit Deutschen versöhnen, bedeutet das nicht, dass sie einfach das Vergangene beiseitelegen und nicht mehr über den Holocaust sprechen. Sie können sich auch nicht
scheiden lassen oder endgültig trennen. Auch Polen und Juden haben sich keineswegs endgültig verabschiedet, obwohl in Polen fast keine Juden mehr leben.
Für gewöhnlich bleibt das vergangene Leiden und das erlittene Unrecht eine konstitutive Erfahrung für eine politische Gemeinschaft. Jede neue Generation bezieht
ihre Perspektiven daraus. Die neuen Ereignisse werden in die Narrative der Vergangenheit einbezogen. Nur mit dem Vergehen von Zeit klingen Emotionen ab,
Erinnerungen verblassen und werden durch neue Ereignisse überdeckt. Zum Glück
wird die Wirkung der Geschichte schwächer – zumindest erscheint es uns so. Und
das bringt uns Befreiung. Letztendlich geht es darum, welche Schlüsse man hieraus
für die Zukunft zieht:
154
Zdzisław Krasnodębski
Die eigentliche Arbeit, wenn man verstört oder umgetrieben ist von vergangenen Ereignissen, wenn man sie bedauert, besteht darin, dass man sich bemüht zu verhindern, dass sie in der Gegenwart oder in der Zukunft passieren
[...]. Das Eingeständnis vergangener Verbrechen ist zweifellos wichtig. Aber
die Erinnerung an das Unrecht der Vergangenheit sollte nicht die Suche
nach einer gerechten Zukunft verdrängen. 18
Nur lässt sich die Zukunft nicht so sauber von der Vergangenheit trennen. Das, was
wir für gerechte Zukunft halten, hängt von den Verpflichtungen und Verfehlungen
in der Vergangenheit ab. Auch wenn es richtig ist, dass wir uns durch Erinnerung
nicht nur dessen bewusst werden, wer wir waren, sondern auch, wer wir nicht mehr
sind.
5. Identität
Wie wir sehen, spielt die Frage nach der Identität eine große Rolle in Erinnerungskonflikten. Das Problem dabei ist nicht so sehr, wer nun im Namen der anderen
sprechen darf, sondern vielmehr, wer der damals handelnde Akteur war, wie er bezeichnet werden soll und was das über die Gegenwart und die jetzt Lebenden aussagt. Wie Alasdair MacIntyre bemerkte:
Crucial to the polemical conversations therefore is how the different and
disagreeing participants understand the identity and continuity of those with
whom they speak, of how each stands in relation to his or her past and future
utterances in what he or she says or writes now. Underlying the conflicts of
polemical conversations are the rival participants’ presuppositions about
continuing personal identity though time. 19
Für die Erinnerungskontroversen, die mit Geschichte und kollektiven Identitäten zu
tun haben, gilt dies umso mehr. Hier ist die Identitätsfrage viel verwickelter als im
Gespräch zwischen Individuen, in welchem die Identitäten klarer abgegrenzt sind.
Die Menschen, die in der Vergangenheit gehandelt haben, können unterschiedlichen Kollektiven zugeschrieben und diese in unterschiedlicher Weise identifiziert
werden. Von der jeweiligen Bezeichnung hängt auch die Verantwortung oder Haftung derer ab, die sich in der Gegenwart als Mitglieder dieser Kollektive verstehen
oder als solche gesehen werden. Deshalb betreffen die Erinnerungskonflikte nicht
nur die Vergangenheit, sondern haben immer auch einen Gegenwartsbezug.
Es ist zum Beispiel nicht ohne Belang, ob wir über die Deutschen oder die Nazis
sprechen als diejenigen, die im besetzten Polen Verbrechen begangen haben. Beide
Bezeichnungen sind historisch richtig, haben aber durchaus andere Konnotationen
und Konsequenzen. Und wenn der Jedwabne-Fall so viel Aufmerksamkeit in
Deutschland genossen hat, dann handelte es sich doch nicht nur um ein rein histori-
Erinnerungskonflikte, Gespräch und Versöhnung
155
sches Interesse, sondern man meinte, dadurch etwas über Polen zu erfahren, und
zwar nicht begrenzt auf die damaligen Bewohner dieses kleinen Städtchens, sondern auch über Polen insgesamt, einschließlich der jetzt lebenden. Mehr noch: man
wollte damit indirekt auch etwas über sich selbst damals und heute erfahren.
Sehr oft werden solche Bezeichnungen so inkonsequent verwendet, dass man den
Eindruck gewinnt, es werde damit absichtlich jongliert. Als Beispiel kann ein bekanntes Buch von Norman Naimark über ethnische Säuberungen dienen: Während
in der Beschreibung der zwangsweisen Aussiedlung von Polen aus Pommern und
dem Warthegau und anderer Verbrechen fast ausschließlich von „Nazis“ die Rede
ist, werden die erzwungene Aussiedlung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg ohne Zögern als Werk „der Polen“ dargestellt. In diesem Sinne wird der
kommunistische Funktionär Aleksander Zawadzki, ein General und aller Wahrscheinlichkeit nach ein NKWD-Agent, der direkt nach dem Krieg die schlesische
Wojewodschaft leitete, als polnischer Nationalist dargestellt, was nicht zuletzt ihn
selbst wahrscheinlich sehr gewundert hätte. 20
Die Kontinuität eines kollektiven Subjektes wird als Voraussetzung von Versöhnung gesehen: „Entschuldigungspraxis setzt bei den interaktiv beteiligten Subjekten dieser Praxis temporale Identitätskontinuität [voraus].“ 21 Dies ist umso erstaunlicher, als in der Spätmoderne eine allgemeine Tendenz zur Individualisierung
herrscht. Wie ein Kritiker bemerkt:
Die ganze Nation als ein einzelnes Individuum zu behandeln und deshalb zu
glauben, dass jedes reale Individuum dieser Nation gleichermaßen schuldig
ist, wie jedes andere, heißt, die Art von logischem und moralischem Irrtum
zu begehen, der allen möglichen gesellschaftlichen Übeln wie zum Beispiel
dem Rassismus oder Sexismus zugrunde liegt. 22
Trotzdem scheint die Nation als Objekt der Schuldzurechnung unentbehrlich. Charakteristischerweise sprechen wir nicht von Erinnerungskonflikten und Versöhnung
zwischen Staaten, obwohl es Staaten sind, die Friedensverträge abschließen. Der
Staat ist kalt und hat angeblich nur Interessen, keine Emotionen. Wir versöhnen uns
auch nicht mit Nationalsozialisten oder Kommunisten, sondern mit Polen, Deutschen, Russen, Franzosen. Die Nationalsozialisten und – was im Westen Europas
weniger selbstverständlich ist – Kommunisten sollen wir dagegen eher bekämpfen
als uns mit ihnen zu versöhnen. Oder wie könnten wir mit ehemaligen Kommunisten und Nationalsozialisten eine Verständigung suchen? Zum Glück verschwinden
deren Anhänger auf mysteriöse Weise „danach“, nach dem Niedergang der verbrecherischen Regime, so gab es auch nach 1945 und 1989 kaum mehr Nazis bzw.
Kommunisten. 23 Dagegen haben wir nie (oder fast nie) mit ehemaligen Deutschen
oder ehemaligen Franzosen zu tun. Auch Gegner der Politik ihres Landes, für die
man sich später zu entschuldigen verpflichtet fühlt, bleiben Deutsche oder Franzo-
156
Zdzisław Krasnodębski
sen und tragen einen Teil der Verantwortung für die vergangenen kollektiven Entscheidungen, ähnlich wie die später geborenen.
Letztendlich handeln natürlich nur Individuen, und nur Individuen können sich erinnern. Gesellschaften, Nationen und Staaten existieren nur so lange, wie sie sich
durch individuelle Handlungen und Denkweisen reproduzieren können. Trotzdem
hilft bei solchen Erinnerungskonflikten kein radikaler Nominalismus. Wir lehnen
zwar heutzutage den Begriff der kollektiven Schuld ab, müssen aber die Kontinuität der Kollektive, besonders der Nationen, voraussetzen und annehmen, dass die
vergangenen Ereignisse etwas über die heutigen Angehörigen desselben Kollektivs
aussagen und ihre Verpflichtungen definieren. Trotz allem moralischen Sinn, den
wir der Versöhnung zwischen Nationen zuschreiben, ist diese zumeist ein politischer Vorgang und erfolgt nur dann, wenn sie im Interesse der Staaten liegt. Das
Streben nach der Versöhnung mit Israel und Frankreich – später auch mit Polen –
gehörte zur deutschen Staatsräson. Ohne diese Akte der „Versöhnung“ wären eine
„posttraumatische Normalität“ und „Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne“
unerreichbar geblieben. 24
6. Konstruierte Erinnerungen
Denn, wie unser Intellekt überhaupt sehr unvollkommen ist, so ist auch das
Gedächtnis: das Erlernte muss geübt, das Vergangene ruminirt werden,
wenn nicht Beides allmählich in den Abgrund der Vergessenheit versinken
soll. Nun aber pflegen wir nicht das Unbedeutende, auch meistens nicht das
Unangenehme zu ruminiren; was doch nöthig wäre, um es im Gedächtnis
aufzubewahren[...] das Ungenehme ruminiren wir nicht gern, am wenigsten
aber dann, wann es unsere Eitelkeit verwundet, welches sogar meistens der
Fall ist, weil wenige Leiden uns ganz ohne unsere Schuld getroffen haben.
Daher also wird ebenfalls viel Unangenehmes vergessen. 25
Im Gegensatz zu Schopenhauers Aphorismus erinnern wir uns gegenwärtig sogar
an äußerst Unangenehmes und insbesondere nicht selbst Verschuldetes. Wir sind
uns dessen bewusst geworden, dass Erinnerung Pflege verlangt. Sie wird durch gesellschaftliche, politische und mediale Maßnahmen lebendig erhalten, manchmal
auch erst hervorgebracht. Bekannt sind Fälle, in denen Menschen ihre Lebensgeschichte nachbessern, um sich an die neue Zeit anzupassen. Postkommunistische
Gesellschaften sind voll davon. 26 Vor einigen Jahren hat der Fall des Benjamin
Wilkomirski – eines Schweizers, der sich als jüdisches Kind ausgab, das den Holocaust erlebt hatte – die Öffentlichkeit erschüttert. Er publizierte seine angeblichen
Erinnerungen daran und das Buch wurde als literarisches Ereignis gefeiert. Es gibt
auch weniger bekannte Beispiele solcher erfundenen Biographien und falscher Erinnerungen. Vor kurzem hat die Dichterin und Feministin Meredith Maran in ihrem
Erinnerungskonflikte, Gespräch und Versöhnung
157
Buch My Lie: A True Story of False Memory gestanden, dass sie vor Jahren ihren
Vater wegen sexuellen Missbrauchs beschuldigte. Sie gab zu, unter Druck der damaligen kulturellen Trends „eine falsche Erinnerung“ gehabt und ihre Albträume
mit der Realität verwechselt zu haben. Es gebe Fälle von mehreren tausend Amerikanern, die ähnlichen trügerischen Erinnerungen in den 80ern und 90ern unterlagen. Maran erklärte in einem Interview:
“In the years leading up to that mass panic, I was working as a feminist
journalist, writing exposés of child sexual abuse, trying to convince the
world that incest was more than a one-in-a-million occurrence. In the process, I convinced myself that my father had molested me. After five years of
incest nightmares and incest workshops and incest therapy, I accused my father, estranging myself and my sons from him for the next eight years. In the
early 1990s the culture flipped, and so did I. Across the country, falsely accused fathers were suing their daughters’ incest therapists. Falsely accused
molesters were being freed from jail – and I realized that my accusation was
false. I was one of the lucky ones. My father was still alive, and he forgave
me.“ Erst jetzt hat sie ihre echte Erinnerung wieder gewonnen. 27
Sich daran zu erinnern, was dem Zeitgeist widerspricht, was als einzig legitime Erinnerung gilt, verlangt Zivilcourage. Die meisten Menschen passen sich den jeweils
herrschenden Tendenzen an. Man redigiert die eigenen Erinnerungen und die eigene Biographie entsprechend – gemäß den vorherrschenden Mustern. Auch darin
besteht die „Aufarbeitung“ der Vergangenheit. Das Unangenehme weil Unpassende
wird dagegen ausgelassen. So beginnen zum Beispiel die typischen Erzählungen
der Vertriebenen mit der Endphase des Zweiten Weltkrieges. Sie vergessen ihre
eigene Unterstützung für Hitlers Politik, die Zwangsarbeiter, die auf ihren Höfen
gearbeitet haben, die Rassenideologie, an die sie mal geglaubt haben, weil sie ihnen
die Zugehörigkeit zur Herrscherrasse versprach. Oder sie meinen, dies alles sei nur
eine belanglose Vorgeschichte, die mit ihrem späteren Schicksal nichts zu tun habe.
In Polen hat die ältere Generation mehrmals ihre Biographien umschreiben müssen.
Im Kommunismus schwieg man über die Mitgliedschaft in der Heimatarmee, nach
1989 über die Mitgliedschaft in der Partei.
Die individuelle Erinnerung kann nur einen kleinen Ausschnitt der Vergangenheit
erfassen. Auch die kollektive Erinnerung hat oft mit der realen Vergangenheit nicht
mehr viel zu tun. Sie ist Produkt der gesellschaftlichen Praktiken. Jede Kommunikation, jedes Gespräch ist durch Machtverhältnisse geprägt und wird von vorherrschenden Deutungsmustern beeinflusst. Jede Interpretation, die Sinnauslegung oder
Sinnkonstituierung haben durch ihre Selektivität eine Machtdimension. 28 Nur das
„eigentlichste aller eigentlichen“ Gespräche wäre vielleicht davon frei. Aber ein
solches Gespräch ist eine metaphysische Konstruktion. Auch im transnationalen
Dialog über die Erinnerungs- und Gedächtnispolitik spielt Macht eine große Rolle.
158
Zdzisław Krasnodębski
Erinnerungskonflikte münden zumeist nicht in eine Übereinstimmung der vormaligen Kontrahenten, sondern werden durch die Festlegung verpflichtender Deutungsmuster beendet. Sehr oft setzt sich eine Seite durch. Es kommt zur Kanonisierung der von dieser vertretenen Interpretation, die alle anderen als illegitim oder
suspekt ausschließt. Manchmal endet dies dadurch, dass die Erinnerung verblasst,
oder durch den Generationswechsel. Sie endet mit der Gleichgültigkeit. Die Zeit
heilt Wunden, die alten Konflikte werden vergessen, verlieren an Lebensbedeutsamkeit. Polen und die Türken, die sich im 17. Jahrhundert bekämpft haben, sind
jetzt perfekt versöhnt, weil sie sich kaum treffen, Deutsche und Türken haben dagegen erhebliche Verständigungsprobleme. 29 Die Aussöhnung zwischen Israel und
Deutschland wurde dadurch erleichtert, dass ihr keine gravierenden politischen und
wirtschaftlichen Interessen entgegenstanden.
Aus diesen Gründen kann es nicht Aufgabe des Intellektuellen oder des Wissenschaftlers sein, sich mit Erinnerungen zu begnügen. Er darf sie nicht ignorieren,
weil wir zu viele Fälle verdrängter Erinnerungen kennen. Er kann jedoch auch nicht
bei ihnen bleiben. Er muss sie einer kritischen Bewertung unterziehen und sich dabei auch bewusst sein, dass die dabei zugrunde gelegten Maßstäbe unzuverlässig
und partikulärer Natur sind. Auch sein Blick ist irgendwo verankert, es gibt keine
völlig entschränkte Perspektive, jedenfalls nicht in dieser Welt.
1
Siehe z.B. Pieter Lagrou, The Legacy of Nazi Occupation. Patriotic Memory and National Recovery in Western Europe, 1945-1965, Cambridge 2000.
2
Alan Davies, The Crucified Nation. A Motif in Modern Nationalism, Sussex 2008.
3
Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1975, S. 288.
4
Jürgen Habermas, Erläuterung zur Diskursethik, Frankfurt am Main 1991, S. 218.
5
Über sie kann man schon bei Husserl in seinem berühmten Wiener Vortrag aus dem Jahre 1935
nachlesen; wenn es um die geistige Gestalt Europas geht, „also Europa nicht geographisch, landkartenmäßig verstanden, als ob danach der Umkreis der hier territorial zusammenlebenden Menschen als europäisches Menschentum umgrenzt werden sollte“, zählen sie nicht dazu: „Im geistigen Sinn gehören offenbar die englischen Dominions, die Vereinigten Staaten usw. zu Europa,
nicht aber die Eskimos oder Indianer der Jahrmarktsmenagerien oder die Zigeuner, die dauernd in
Europa herumvagabundieren.“ Über Slawen hat Husserl sich nicht geäußert, man kann jedoch
Entsprechendes bei Kant, auf dem man heute sich so gerne beruft, finden.
6
Gillian Slovo in: Kenan Malik und andere, Es tut mir leid. Eine Debatte über die Mode des Entschuldigens, Merkur 699, Heft 7, Jahrgang 61, Juli 2007, S. 604-614, hier S. 613.
7
Wahrheit und Methode, Op. cit., S. 361.
8
Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt am Main 1996, S. 86.
9
Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, Zürich 1981, S. 231.
10
Vita activa, Op. cit., S. 235.
11
Hermann Lübbe, „Ich entschuldige mich“. Das neue politische Bußritual, Berlin: Siedler 2001,
Berlin S. 51
12
Vita activa, Op. cit., S 239.
13
Vita activa , Op. cit., S. 234.
14
So Kenan Malik in Kenan Malik und andere, S. 606
15
Malik in Kenan Malik und andere, S 610.
Erinnerungskonflikte, Gespräch und Versöhnung
16
159
Arendt, Vita activa, Op. cit., S. 235
Ebd., S. 236.
18
Greyling, in: Kenan Malik und andere, S. 613-614
19
Alasdair MacIntyre, Three Rival Versions of Moral Enquiry. Encyclopedia, Genealogy, and
Tradition, London 1990, S. 196
20
Norman M. Naimark, Fires of Hatred. Ethnic Cleansing in Twentieth-Century, Harvard 2001.
21
Hermann Lübbe, „Ich entschuldige mich“, Op. cit., S. 72.
22
Anthony Grayling in Kenan Malik und andere, S. 611.
23
Harald Welzer und seine Mitarbeiter haben festgestellt: „Verblüffenderweise scheint das Familiengedächtnis in der Lage zu sein, öffentliche Diskurse über den Holocaust oder über die Verbrechen der Wehrmacht in diese Alltagstheorie zu inkorporieren, deren Kern darin besteht, dass Deutsche und ‚Nazis‘ zwei völlig verschiedene Personengruppen waren, die nur im pragmatischen
Grenzfall in Deckung kamen: wenn etwa unser Zeitzeugen oder die Verwandten, über die sie berichten, in die Partei ‚eintreten mussten‘, für die Gestapo ‚arbeiten mussten‘, in den Krieg ‚gehen
mussten‘ oder der Verfolgung – und nur dieser – der jüdischer Bevölkerung ‚zusehen mussten‘.“
Harald Welzer, Sabine Möller und Karoline Tschuggnall, „Opa war kein Nazi.“ Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt am Main 2008, S. 205
24
Über die „posttraumatische Normalität“ schreibt Wilfried von Bredow, Die Außenpolitik der
Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung, Wiesbaden 2006. S. 104f und 243-247; zu
Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne vgl. Gregor Schöllgen, Der Auftritt. Deutschlands
Rückkehr auf die Weltbühne, Berlin 2004.
25
Arthur Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit, in: Werke, Bd IV, S. 311-483, hier S.
473f.
26
R. Breckner, D. Kalekin-Fishmann, I. Miethe (Hg.), Dilemmas of Collective and Individual
Memory in Eastern Europe: reflections on the Example of Poland, Biographies and the Division of
Europe, Opladen 2000, S. 253-267.
27
http://www.salon.com/books/memoirs/index.html?story=/books/int/2010/09/20/meredith_maran_my_lie_ interview
28
Ilja Srubar, Transdifferenz, Kulturhermeneutik und alltägliches Übersetzen: die soziologische
Perspektive, in: Jochen Dreher, Peter Stegmaier (Hg.), Zur Unüberwindbarkeit kultureller Differenzen, Bielefeld 2007, S. 43-63, hier S. 50.
29
Peter Sloterdijk vertritt die These, dass die als Muster für ganz Europa geltende deutschfranzösische Verständigung auf der beiderseitigen Gleichgültigkeit beruht; vgl. Theorie der Nachkriegszeiten. Frankfurt 2008.
17
160
III. Demokratie und Recht als Voraussetzung für Versöhnung
Walter Süß
Die Stasi-Unterlagen-Behörde in der Erinnerungslandschaft Deutschlands. Ein Beitrag zu Transitional Justice
1.
Der Publizist und Vordenker der Entspannungspolitik Peter Bender hat kurz vor
seinem Tod in einem Essay über „Erinnern und Vergessen“ starke Zweifel angemeldet, ob sich im Fall der DDR „tätige Erinnerung“ im Sinne einer staatlich geförderten und vorangetriebenen Auseinandersetzung mit der Diktaturgeschichte als
sinnvoll erwiesen hat – oder ob sie dem „Zusammenwachsen der Deutschen“ seit
1990 nicht eher geschadet hat, auch wegen der asymmetrischen Macht- und Interessenstrukturen von Alt- und Neubundesbürgern. 1 (Bender 2008). Er berief sich
dabei auf historische Erfahrungen, über die Christian Meier in einem Aufsatz reflektiert hat, der zweieinhalbtausend Jahre staatliche Konfliktgeschichte seit den
griechischen Poleis resumiert. 2 Dessen Quintessenz ist, dass es nach Kriegen und
stärker noch nach Bürgerkriegen eine kluge „welthistorische Regel“ gewesen sei,
von staatlicher Seite Vergessen zu verordnen, um Racheakte zu verhindern und ein
neuerliches Aufbrechen des Konfliktes zu vermeiden und um das politische Engagement auf die Probleme der Gegenwart und die Zukunft zu lenken. Selbstverständlich ist das eher selten gelungen und es wurde auch nicht immer so verfahren
– Meier erinnert an den Vertrag von Versailles. Die Regel gilt auch nicht immer:
Mit Blick auf den Holocaust und den Vernichtungskrieg gen Osten war nach einem
Jahrzehnt versuchten Vergessens reuiges Erinnern unumgänglich, damit Deutschland wieder als geachtetes Mitglied in die Völkergemeinschaft aufgenommen werden konnte. Doch gilt das auch für die DDR und für die spezielle deutsch-deutsche
Konstellation? Daran zweifelt auch er. Aber weder Meier noch Bender bestreiten,
dass historische Forschung notwendig ist und dass ein „Schlussstrich“ nicht staatlich verordnet werden kann – die individuellen und die gesellschaftlichen Erinnerungen haben ihre eigene Dynamik. Und Christian Meier selbst hat leise Zweifel
anklingen lassen, dann aber verworfen, ob angesichts des historischen Bedeutungszuwachses der Menschenrechte die Maxime, Vergangenes besser ruhen zu lassen,
nicht überholt sei.
In der Tat hat sich in den letzten drei Jahrzehnten in der westlichen Hemisphäre ein
Wandel im Umgang mit Menschenrechtsverletzungen durch gestürzte Diktaturen,
nach inner- und zwischenstaatlichen Konflikten vollzogen. Am deutlichsten erkennbar ist das am Entstehen eines – für die DDR irrelevanten – internationalen
Strafgerichtshofes für Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Es geht darum, sich
162
Walter Süß
anstelle einer Kultur der Straflosigkeit aktiv mit einer repressiven Vergangenheit
auseinanderzusetzen und zu versuchen, den Opfern massiver Menschenrechtsverletzungen gerecht zu werden. 3 Als übergreifender Begriff hat sich dafür in jüngerer
Zeit Transitional Justice durchgesetzt, der sowohl unterschiedliche Dimensionen
dieser Auseinandersetzung umschreibt als auch ein normatives Element enthält: Sie
wird als wesentlicher Beitrag für die Durchsetzung einer demokratischen politischen Kultur und für die Stabilisierung eines demokratischen Systems begriffen. 4
Für die Auseinandersetzung über das Erbe der kommunistischen Diktaturen standen deshalb nach 1990 bereits ein normatives Gerüst und bestimmte institutionelle
Erfahrungen zur Verfügung, wenngleich gerade auf diesem Feld jeder Fall anders
ist, weil der historische Kontext und die Form des Übergangs jeweils unterschiedlich waren und diese Faktoren Form und Verlauf der Transitional Justice mitbedingen. Und schließlich hat auch die Dynamik der postdiktatorischen Politik darauf
bedeutenden Einfluss. 5
Auch ist das Konzept selbst nicht frei von Widersprüchen. Das zeigt sich schon an
dem Begriff Transitional Justice: Ist das „Übergangsjustiz“ oder rechtliche Gestaltung eines Regimewechsels? Übergreifende Ziele sind Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Mit Rechtsstaatlichkeit verträgt sich Sonderjustiz nur schlecht, doch
ist es nicht eine besondere Situation, die ungewöhnliche Mittel verlangt? Weitere
Fragen knüpfen sich an: Es geht um Recht, aber auch um Gerechtigkeit – in welchem Verhältnis stehen beide? Auch ist ein elementarer Bestandteil dieser Konzeption das Streben nach Wahrheit über die Vergangenheit. Die Würde der Opfer soll
wiederhergestellt werden, indem, was ihnen angetan worden ist, benannt und öffentlich verurteilt wird. Ist die Form, die dafür in Deutschland gewählt worden ist,
geeignet? Nicht alle diese Fragen können im Folgenden erörtert werden, aber es
soll in einigen Punkten eine Annäherung versucht werden.
Es ging zuerst in der späten DDR, dann im vereinten Deutschland um folgende
Dimensionen: auf der rechtlichen Ebene vor allem um den Aufbau demokratischer
Institutionen, Strafverfolgung und die Rehabilitation von Opfern politischer Justiz. 6
Die historische Aufarbeitung umfasst die Aspekte, die in Transitional Justice unter
dem Begriff Wahrheit subsumiert werden. Sie dient sowohl dem Zweck, den Opfern staatlicher Repression gerecht zu werden, als auch dazu, die Augen zu öffnen
für die düsteren Seiten der DDR und damit zwangsläufig ihre nachträgliche Delegitimierung.
Der Aufsatz wird nicht alle diese Aspekte im Detail erörtern, sondern sich auf den
spezifischen Beitrag einer Institution beschränken: die Bundesbehörde für die Stasi-Unterlagen, ihre Vorgeschichte in der Übergangsperiode und ihre Prägung durch
die Probleme, die damals bereits sichtbar geworden sind.
Die Stasi-Unterlagen-Behörde in der Erinnerungslandschaft Deutschlands
163
2.
Will man die Existenz der Stasi-Unterlagen-Behörde verständlich machen, so muss
man zurückgehen in den Herbst 1989, als Hunderttausende von Bürgern der DDR
auf die Straße gingen, um das alte Regime loszuwerden. Angesichts dieser revolutionären Welle sind die Machtstrukturen in sich zusammengebrochen. Der Gewaltapparat – die „Volkspolizei“, die „Nationale Volksarmee“, vor allem aber das Ministerium für Staatssicherheit – war gelähmt. Nicht ganz allerdings: Ende November/Anfang Dezember 1989 signalisierten schwarze Rauchwolken über den Bezirksverwaltungen für Staatssicherheit in Erfurt, Dresden, Leipzig und anderen
Städten, dass deren hauptamtliche Mitarbeiter auf ihre Weise mit der „Bewältigung“ der Vergangenheit begonnen hatten. Daraufhin machten sich erzürnte Bürger
daran, die Gebäude zu blockieren und zu besetzen. Sie bemühten sich, die nicht
mehr funktionsfähige, aber schwer kalkulierbare Staatssicherheit endgültig lahm zu
legen und ihre Bestände zu sichern. Diese Entwicklung gipfelte in der Stürmung
der Stasi-Zentrale in der Berliner Normannenstraße, Mitte Januar 1990. 7
Es wäre allerdings verkürzt, wenn man dieses Geschehen auf einen Kampf David
gegen Goliath, Bürgerrechtler gegen Parteistaat und Geheimpolizei, verkürzen
würde. Gerade für den Umgang mit der Staatssicherheit und ihrer Hinterlassenschaft waren weitere Akteure von erheblicher Bedeutung. Die – nach Schätzung
der Staatssicherheit vom Mai 1989 8 – etwa 2.500 Bürgerrechtler standen bis zum
Spätsommer 1989 eher am Rande, sie wurden dann für wenige Monate zu Sprechern der aufbegehrenden Gesellschaft. Bereits seit Ende 1989 haben sie wieder
einen Bedeutungsverlust durchgemacht, bis sie bei den Volkskammerwahlen im
März 1990 erneut marginalisiert wurden. Ihre zeitweilige Durchsetzungskraft verdankten sie der Bürgerbewegung, das heißt der Mobilisierung hunderttausender
Bürger, die in diesen Monaten in Kultureinrichtungen, in Betrieben und anderen
Institutionen und auch in den Parteien ihrem wachsenden Unmut Luft gemacht haben und oft zum ersten Mal in ihrem Leben auf nicht-offizielle Demonstrationen
gegangen sind. Ihren Forderungen verliehen die Bürgerrechtler eine Stimme, allerdings nur so lange, wie es um den Sturz des alten Regimes ging. 9
Zu wichtigen Akteuren wurden in diesen Monaten auch die ehemaligen Blockparteien, die sich jahrzehntelang den Vorgaben der SED gebeugt hatten, nun aber die
Chance zur Emanzipation ergriffen. In dem Maße, wie sich die Wahrscheinlichkeit
abzeichnete, dass es zu freien Wahlen kommen werde, waren sie bestrebt, als eigenständige Kraft Profil zu gewinnen. Das Thema Staatssicherheit eignete sich dafür hervorragend, gerade weil Ministerpräsident Hans Modrow relativ lange an so
genannten Diensten als Symbol für die Eigenstaatlichkeit der DDR festhielt. Die
ehemaligen Blockparteien dagegen machten ab Jahresbeginn 1990 die ersatzlose
Auflösung des Staatssicherheitsdienstes zur Bedingung für ihren Verbleib in der
Übergangsregierung. Öffentlich ausgetragen wurde dieser Konflikt in der Volks-
164
Walter Süß
kammer, die dadurch eine ganz neue Lebendigkeit erhielt. Am 12. Januar schließlich kapitulierte Modrow, und von da an ging es nicht mehr um die Frage, ob die
Staatssicherheit aufgelöst werden sollte, sondern nur noch wie und mit welchen
Konsequenzen. 10
Dass sich Modrow zu diesem Zugeständnis gezwungen sah, war auch bedingt
durch den Zustand seiner eigenen Partei: Die SED befand sich im Zerfall. 11 Teile
der Parteibasis hatten rebelliert und nicht nur die alte Führung, sondern auch die
hierarchischen Strukturen hinweggefegt. Andere Genossinnen und Genossen verließen in Massen die Partei – bis zum Februar 1990 waren schon zwei Drittel der
zuvor 2,3 Millionen Mitglieder ausgetreten. Die Verbliebenen befanden sich in einem Zustand starker Verwirrung über Identität und Zukunftsperspektiven ihrer Organisation. Als sie sich – nun unter dem Namen PDS –, einigermaßen gefangen
hatten und wieder handlungsfähig wurden, hatten sich mittlerweile alle anderen
Parteien von ihnen endgültig distanziert – soweit in der Politik der Begriff „endgültig“ anwendbar ist. Jedenfalls war der gemeinsame Nenner der anderen Parteien,
der alten wie der neu gegründeten, dass sie nach den Wahlen mit „denen“ nicht
koalieren würden. Die PDS war an den Rand des politischen Systems gedrängt.
Ihre Möglichkeiten, auf die Gestaltung des Übergangs Einfluss zu nehmen, war
damit relativ gering. Das bekamen die ehemaligen Mitarbeiter der Staatssicherheit,
die zu etwa 84 Prozent der SED angehört hatten 12 , besonders stark zu spüren.
Noch vor der Volkskammer war der zentrale Runde Tisch das Forum, in dem die
ersten Weichen für den Übergang zu einer demokratischen Ordnung gestellt wurden. Dort saßen die Vertreter der Bürgerrechtsorganisationen jenen der alten Parteien gegenüber. Letztere hatten allerdings einen so schnellen Wandlungsprozess
durchgemacht, dass niemand mehr das alte Regime repräsentierte oder es gar verteidigte. Schon auf der ersten Sitzung dieses Gremiums, am 7. Dezember 1989,
wurde einstimmig beschlossen, dass die Staatssicherheit aufgelöst werden sollte.
Einstimmig heißt: auch mit den Stimmen der SED-Vertreter. Dieses Abstimmungsverhalten hat zum inneren moralischen Zerfall der Staatssicherheit wesentlich beigetragen.
Die treibende Kraft in der Stasi-Frage war die Bürgerrechtsbewegung, während die
Vertreter der alten Parteien einige Wochen gebraucht hatten, bis sie die Brisanz
dieses Themas erkannten. Den Bürgerrechtlern ging es ursprünglich vor allem darum, die Geheimpolizei zu zerschlagen, um jeden Versuch einer gewaltsamen Restauration unmöglich zu machen. Als die Auflösung beschlossen war, war der
nächste Schritt, diesen Prozess ziviler Kontrolle zu unterstellen. In diesem Bemühen und in dem zur gleichen Zeit gefällten Beschluss des Runden Tisches, dass auf
dem Gelände der Stasi-Zentrale eine „Forschungs- und Gedenkstätte zum Stalinismus“ eingerichtet werden sollte, 13 war die spätere Behörde embryonal angelegt.
Die Stasi-Unterlagen-Behörde in der Erinnerungslandschaft Deutschlands
165
Ursprünglich allerdings war es nur eine Handvoll Bürgerrechtler, die in Berlin die
Abwicklung eines Apparates mit immerhin 91.000 hauptamtlichen Mitarbeitern
überwachen sollte. Das Resultat konnte nur sein, dass sich die Staatssicherheit, den
politischen Vorgaben folgend und unter ziviler Anleitung, weitgehend selbst auflöste.
Die verschiedenen weiteren Schritte in der Institutionalisierung der StasiAufarbeitung sollen nicht nachgezeichnet werden. Wichtiger scheint, die Fragen zu
benennen, über die am zentralen Runden Tisch damals gestritten wurde, bei denen
zum erheblichen Teil aber auch überraschende Einigkeit bestand. Daran anknüpfend sollen die Antworten skizziert werden, die mit der Behörde darauf gefunden
wurden.
3.
Der Runde Tisch hat auf seiner letzten Sitzung, am 12. März 1990, einen Bericht
seiner Arbeitsgruppe Sicherheit über die Auflösung der Stasi entgegengenommen,
in dem die wichtigsten Punkte angesprochen worden sind. 14 Erstattet wurde der
Bericht von einem der drei zivilen Beauftragten für die Auflösung, die auf Vorschlag des Runden Tisches von der Regierung ernannt worden waren. Nach der
Zerschlagung des Stasi-Apparates war eine wichtige Frage gewesen, was mit ihrer
Hinterlassenschaft geschehen sollte. Ihre Waffen waren inzwischen an die Volkspolizei und die Nationale Volksarmee übergeben worden, die Immobilien an andere, meist kommunale Träger. Was aber sollte mit den ehemaligen Mitarbeitern geschehen? Und was mit den etwa 158 km Akten, in denen die Staatssicherheit ihre
Informationen und ihr Tun akribisch festgehalten hatte? Zuerst zu den Akten.
Dem Bericht lag eine Unterscheidung dieser Unterlagen zwischen Sachakten und
personenbezogenen Akten zugrunde. Das ist eine Unterscheidung, die etwa beim
Bundesarchiv gemacht wird und die bis heute bei Auseinandersetzungen um das
Stasi-Unterlagen-Gesetz eine Rolle spielt. Inzwischen ist bekannt, dass das für diesen Aktenfundus eine sehr problematische Unterscheidung ist, denn viele „Sachakten“ enthalten auch detaillierte Angaben zu Personen. 15
Nach Auffassung der Arbeitsgruppe Sicherheit sollten die Sachakten aufbewahrt
werden, um die Geschichte dieser Institution zu erforschen. Für den Umgang mit
den personenbezogenen Unterlagen wurde ein Drei-Stufen-Plan vorgeschlagen.
Der erste Schritt war die Zerstörung der elektronischen Datenträger mit personengebundenen Informationen, mit denen Aktenbestände erschlossen worden waren.
Das war, mit Zustimmung des Runden Tisches, bereits erfolgt. Der Grund für diese
Entscheidung war nicht so sehr die Sorge gewesen, dass die in Auflösung befindliche Stasi sich dieser Informationsträger bedienen könnte, als dass bundesdeutsche
Nachrichtendienste sonst schnellen Zugriff auf die Unterlagen bekommen würden.
166
Walter Süß
Diese Befürchtung sollte noch längere Zeit erheblichen politischen Konfliktstoff
bilden. Im Stasi-Unterlagen-Gesetz ist das Problem schließlich so gelöst worden,
dass bundesdeutsche Dienste nur Zugriff auf einen engen Kreis von Unterlagen
erhalten: auf Dienst- und Organisationspläne der Staatssicherheit und auf Unterlagen, die ihre eigenen Mitarbeiter betreffen (§§ 25, 26 StUG). Als zweiter Schritt
war geplant, die meisten „Personendateien“ (gemeint waren vermutlich die verschiedenen Karteisysteme) zu zerstören, mit Ausnahme der Grunddateien. Man
glaubte so, den Zugang zu diesen Informationen leichter kontrollierbar zu machen,
ohne dass das mit einem Informationsverlust verbunden gewesen wäre. Das war ein
Irrtum, der allerdings keine Folgen hatte, weil dieses Vorhaben nicht mehr umgesetzt wurde. Als dritter und abschließender Schritt wurde dem künftigen Parlament
„die Vernichtung aller Akten und Karteien mit personenbezogenen Daten“ empfohlen. Dieser Vorschlag erfolgte nach einer „Trendabstimmung“ in den Bürgerkomitees und war eine Position, die nicht alle teilten.
Diese Empfehlungen standen in einem gewissen Widerspruch zu anderen Vorhaben. So war man sich einig, dass die Akten für die Rehabilitierung der Opfer und
für die Aufklärung über die Geschichte des Unterdrückungsapparates und seiner
Verflechtung mit der SED genutzt werden sollten. Ebenso darüber, dass in den Akten nach Beweisen für Straftaten gesucht werden sollte, die bei der politischen Repression begangen worden waren und die nun geahndet werden müssten. Die Vorstellung war, man könne die weiterhin benötigten Unterlagen schon bei der Einlagerung der Bestände aussortieren. Das war angesichts der unglaublichen Masse, um
die es ging, vollkommen wirklichkeitsfremd.
Fragt man sich, wie es zu solchen Empfehlungen aus der Bürgerrechtsbewegung
kommen konnte, so mag eine begrenzte Rolle gespielt haben, dass der Vorsitzende
der primär für diesen Komplex zuständigen Arbeitsgruppe Sicherheit des Runden
Tisches, Ibrahim Böhme, ein langjähriger Inoffizieller Mitarbeiter war, was damals
selbstverständlich noch nicht bekannt war. Aber das allein greift als Erklärung gewiss zu kurz. Wichtiger war die Befürchtung, dass mit den Akten in die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen eingegriffen würde und damit auch künftig Missbrauch betrieben werden könnte.
Strittig war die Akteneinsicht der Betroffenen. Auf der einen Seite gab es die Forderung, dass jeder in „seine Akte“ Einblick haben müsste – so Heiko Lietz vom
Neuen Forum 16 . Auf der anderen Seite wurde von dem Berichterstatter am Runden
Tisch argumentiert:
Die Herausgabe der eigenen Akte wünschen jetzt viele. […] Es ist klar – das
Kennenlernen der eigenen Akte würde manches offen legen. Jeder wüsste,
wer ihn bespitzelte, wer über ihn ausgesagt hat. Ich meine aber, dass solch
Die Stasi-Unterlagen-Behörde in der Erinnerungslandschaft Deutschlands
167
eine Kenntnis das Verdächtigungsklima oder die Selbstjustiz nur noch mehr
fördern würde. Überschätze hier keiner seine menschliche Größe. 17
Zusammenfassend gesehen war in der damaligen Diskussion die Befürchtung vor
der Brisanz dieses Materials und seines Missbrauchs größer als das Verlangen nach
Erkenntnis der „Wahrheit“ über die Vergangenheit. Es sollte zwar über das Agieren
des Staatssicherheitsdienstes aufgeklärt werden, nicht zuletzt im Zusammenhang
mit der Einrichtung einer Forschungs- und Gedenkstätte, aber wichtiger schien, die
öffentliche Atmosphäre nicht weiter zu belasten. Das ist eine Argumentation, die
vergleichbar ist mit den eingangs referierten Bedenken von P. Bender und Ch.
Meier.
Dieses Motiv mag auch ein Grund dafür gewesen sein, dass man sich in dem Abschlussbericht Gedanken darüber machte, was mit den ehemaligen Mitarbeitern der
Staatssicherheit geschehen sollte. Während der Revolutionsmonate war auf vielen
Demonstrationen gefordert worden „Stasi in die Produktion!“ Das hatte sich allerdings als relativ schwierig erwiesen. Viele Belegschaften drohten mit Streik, wenn
entlassene Stasi-Mitarbeiter eingestellt werden sollten. Eine Atmosphäre gesellschaftlicher Ächtung verbreitete sich. Vor diesem Hintergrund ist es erklärlich,
dass in dem Bericht gemahnt wurde, „dem Einzelnen eine Chance zum Neuanfang“
zu lassen, und gefordert wurde, die ehemaligen Mitarbeiter sollten „resozialisiert“
und wieder in die Gesellschaft integriert werden – mit Ausnahme derjenigen, die
Kapitalverbrechen zu verantworten hatten. 18
Keinen hohen Stellenwert hatte ursprünglich die Enttarnung von Inoffiziellen Mitarbeitern der Staatssicherheit, der so genannten IMs. Am zentralen Runden Tisch
war von der neu gegründeten SPD der DDR gefordert worden, die Teilnehmer dieses Gremiums auf Verbindungen mit der Staatssicherheit zu überprüfen. Das wurde
von dem Wortführer der wichtigsten Bürgerrechtsorganisation, dem Neuen Forum,
mit den Worten zurückgewiesen: „[…] wir können ja nicht von diesem Tisch [aus]
hier zum Stasispitzeljagen aufrufen. Also, ich halte das wirklich für völlig widersinnig.“ 19 Damit war der Vorschlag vorerst erledigt. Auch im Abschlussbericht der
Arbeitsgruppe Sicherheit des zentralen Runden Tisches findet sich diese Forderung
nicht. Im Gegenteil, es wurde davor gewarnt. Letztlich wurde die Frage allerdings
offen gelassen, um dem künftigen Parlament nicht vorzugreifen. Mit einer Ausnahme: Die Mitglieder der neu gewählten Volkskammer sollten einer solchen Überprüfung unterzogen werden. Hier schlummerte, wie sich bald zeigen sollte, tatsächlich erhebliches Skandalisierungspotential.
Im Umfeld der Wahlen wurde bekannt, dass der Vorsitzende und Spitzenkandidat
des Demokratischen Aufbruch, Wolfgang Schnur, der Generalsekretär der CDU,
Martin Kirchner, und schließlich auch noch der Vorsitzende der SPD, Manfred „Ib-
168
Walter Süß
rahim“ Böhme, Inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit gewesen waren. Das
verlieh dem Thema neue Aktualität. Für den Übergangsprozess ebenso wichtig
war, dass eine unbekannte Anzahl von Stasi-Offizieren im besonderen Einsatz, so
genannte OibEs, weiterhin im öffentlichen Dienst, im Staatsapparat und in Unternehmen tätig waren. Dort hatten sie unter der Legende einer zivilen Anstellung den
Interessen der Geheimpolizei gedient. Als das im Juni 1990 bekannt wurde, vermuteten manche, es handle sich bei diesem konspirativen Einsickern in andere Bereiche um eine „Überlebenstaktik“ der Staatssicherheit, die den Umbruch vorhergesehen habe. 20 Obwohl sich das als falsch erwies, hat die Offenlegung der verborgenen Existenz dieser über 2.000 OibE einen erheblichen Einfluss auf die öffentliche
Meinung gehabt. Sie hat die Dringlichkeit unterstrichen, bei dem Aufbau demokratischer Verwaltungsstrukturen darauf zu achten, dass er nicht von Geheimdienstkadern konterkariert wurde.
In der Auseinandersetzung um die Enttarnung dieser OibEs kam es zu einer neuen
Konfliktkonstellation. Der zuständige Innenminister Peter-Michael Diestel von der
DSU weigerte sich, dem ihm unterstellten Staatlichen Komitee zur Auflösung des
ehemaligen Amtes für Nationale Sicherheit entsprechende Weisungen zu geben.
Sein Gegenspieler auf parlamentarischer Seite war der Vorsitzende des Sonderausschusses der Volkskammer „zur Kontrolle der Auflösung des MfS/AfNS“, Joachim
Gauck. Er forderte mit Nachdruck – und dank der Unterstützung durch das Parlament – letztlich auch mit Erfolg die Aufdeckung der Identität dieser Personen und
ihre Entlassung aus dem Öffentlichen Dienst. 21
4.
Der oben erwähnte Sonderausschuss bearbeitete noch eine zweite wichtige Aufgabe: Die Vorbereitung eines Gesetzes über den Umgang mit den Stasi-Unterlagen.
In diesem Gesetz, das schließlich im August 1990 verabschiedet worden ist, wurden die Fragen, die am Runden Tisch debattiert worden waren, aufgegriffen, aber
zum Teil anders entschieden. 22 Die Archive sollten einem Sonderbeauftragten in
Berlin und Beauftragten in den neuen Bundesländern, die erst noch gegründet werden mussten, unterstellt werden. Von einer Aktenvernichtung war nicht mehr die
Rede, aber von einer allgemeinen Aktenöffnung war man ebenso weit entfernt. Das
Gesetz war, wie das Juristen nennen: ein „Verbotsgesetz mit Erlaubnisvorbehalt“.
Die Akten waren „zum Schutz der Persönlichkeitsrechte des Bürgers […] grundsätzlich gesperrt“ (§ 9 Gesetz v. 24.8.1990). Davon gab es aber eine Reihe von
Ausnahmen:
– für „die politische, historische und juristische Aufarbeitung“ sollten sie, allerdings unter sehr restriktiven Bedingungen, genutzt werden, ebenso
– für Zwecke der Rehabilitierung und zur Vorbereitung von Strafverfahren, und
– zum Nachweis einer „offiziellen oder inoffiziellen Tätigkeit“ für das MfS, wobei
der Betroffene einer solchen Überprüfung zustimmen musste.
Die Stasi-Unterlagen-Behörde in der Erinnerungslandschaft Deutschlands
169
Am Runden Tisch war die Forderung erhoben worden, dass jeder in „seine“ Akte
Einblick erhalten sollte. Für diese Forderung haben sich in einer repräsentativen
Meinungsumfrage im April 1990 auch 86 Prozent der DDR-Bürger ausgesprochen. 23 Dem wurde nicht stattgegeben. Es würde allerdings jeder Auskunft über
den Inhalt der ihn betreffenden Akten erhalten (§ 11). Das sollte, außer in nachweislich dringlichen Fällen, jedoch erst „nach Ende der archivarischen Aufbereitung der Unterlagen mit personenbezogenen Daten“ gelten.
Es war bekanntlich die Zeit, in der der Einigungsvertrag über den Beitritt der DDR
zur Bundesrepublik ausgehandelt wurde. In diesem Zusammenhang kam es zu unerwartetem Widerstand. Als das Gesetz veröffentlicht war, traf in Ostberlin ein Telegramm aus dem Bonner Innenministerium ein, unterzeichnet von Abteilungsleiter
Eckhart Werthebach. Darin wurden grundsätzliche Einwände gegen das Gesetz
erhoben: Die Akten müssten zentral gelagert und verwaltet werden und sollten dem
Präsidenten des Bundesarchivs unterstellt werden. Außerdem sei eine „differenziertere Vernichtungregelung unbedingt erforderlich“. 24 Der Hintergrund war, dass
Wolfgang Schäuble als der zuständige Minister und – wie er heute sagt – auch
Bundeskanzler Kohl der Auffassung waren, am besten wäre es, die Stasi-Akten
unbesehen zu vernichten, um damit nicht die Zukunft des vereinten Deutschland zu
belasten. 25
Der Bonner Einspruch löste unter den Volkskammerabgeordneten erheblichen Protest aus. Man fühlte sich bevormundet. Fast einstimmig verlangte deshalb das
DDR-Parlament, dass ihr Gesetz zu den Stasi-Unterlagen Teil des Einigungsvertrages würde. Dann begannen auch noch etwa zwei Dutzend Bürgerrechtler in der
ehemaligen Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg einen Hungerstreik. Die Aktion
fand ein gewaltiges Medienecho. Daraufhin einigten sich beide Seiten auf einen
Kompromiss: Die Regelungen in dem DDR-Gesetz sollten in einem künftigen bundesdeutschen Gesetz „umfassend berücksichtigt“ werden. Bis zur Verabschiedung
dieses Gesetzes wurde das Archiv einem Sonderbeauftragten unterstellt, der vom
DDR-Ministerrat vorgeschlagen und von der Bundesregierung ernannt wurde. 26 Zu
diesem Sonderbeauftragten wurde sechs Wochen später Joachim Gauck gewählt.
In den zuvor erwähnten Punkten, die am Runden Tisch debattiert worden waren,
sind in dem Ende 1991 verabschiedeten Stasi-Unterlagen-Gesetz Regelungen getroffen worden, die zugleich den Beitrag dieser Behörde zur Umsetzung von Transitional Justice in der Bundesrepublik seit 1992 festlegen:
Wie schon im Volkskammer-Gesetz wurde als ein Gesetzeszweck definiert, „die
historische, politische und juristische Aufarbeitung […] zu gewährleisten und zu
fördern“ (§ 1 StUG). Darin sind die beiden zuvor genannten Grunddimensionen –
Recht und Wahrheit – enthalten.
170
Walter Süß
Grundlegend ist das Einsichtsrecht der Betroffenen, also derjenigen Personen, zu
denen die Staatssicherheit Informationen gesammelt hatte. Im VolkskammerGesetz war, wie erwähnt, nur ein Auskunftsrecht enthalten: Man sollte gegebenenfalls in zusammenfassender und referierender Form darüber informiert werden, was
über die eigene Person in den Akten zu finden war. Nun aber erhielt jeder die Möglichkeit, Einblick in „seine Akte“ zu erhalten. Verbunden wurde das sogar mit dem
Recht zu erfahren, welche inoffiziellen Mitarbeiter sich hinter den Decknamen
verbargen, die in den Akten genannt werden. Das war eine sehr viel weitergehende
Regelung, als in dem Volkskammer-Gesetz vorgesehen gewesen war.
5.
Diese Möglichkeit der Einsichtnahme stieß auf außerordentlich große Resonanz.
Im Vorfeld hatte man erwartet, dass am Anfang monatlich 20.000 Anträge auf persönliche Akteneinsicht gestellt werden würden, mit sinkender Tendenz. 27 Tatsächlich sind im ersten Jahr, 1992, über eine halbe Million solcher Anträge gestellt
worden. Die Antragszahlen sind im Laufe der Jahre zurückgegangen, aber noch im
Jahr 2008 waren es fast 90.000. Insgesamt wurden inzwischen 2,6 Millionen Anträge gestellt, 97 Prozent davon sind abgearbeitet. 28 Etwa zu jedem zweiten Antragsteller finden sich tatsächlich Unterlagen. Zuvor war am Runden Tisch und verschiedentlich auch später noch die Befürchtung geäußert worden, eine so umfassende Aufdeckung der Vergangenheit werde Mord und Totschlag auslösen. Das hat
sich nicht bewahrheitet.
Bei einer – allerdings nicht repräsentativen – Umfrage, die von der Behörde (1998)
unter Personen gemacht wurde, die ihre Akten eingesehen hatten, erklärten über
50 Prozent der Befragten, vorherrschend sei das Gefühl, zu einem bestimmten Lebensabschnitt Klarheit gewonnen zu haben (25,1 Prozent) und nun für sich die
Vergangenheit abschließen zu können (26,6 Prozent). 29 Nach einer anderen Umfrage war die vorherrschende Reaktion, dass der Kontakt zu dem betreffenden Denunzianten abgebrochen wurde. 30 Versuche, den Spitzel juristisch zur Verantwortung zu ziehen, scheiterten in den meisten Fällen wegen fehlender strafrechtlicher
Relevanz.
Sehr viel umfassender als im Volkskammer-Gesetz sind im Stasi-UnterlagenGesetz auch die Überprüfungsvorschriften geregelt. Ursprünglich konnten alle Angehörigen des Öffentlichen Dienstes, Abgeordnete, Partei- und Verbandsfunktionäre und einige andere Personengruppen (§ 20 Abs.1 Nr. 6 StUG) überprüft werden.
Dabei ist es die Aufgabe der Behörde, zu berichten, was in den Akten in dieser Beziehung zu finden ist, nicht aber selbst daraus Schlussfolgerungen zu ziehen. Das
heißt die Frage, ob ein ehemaliger hauptamtlicher oder inoffizieller Mitarbeiter der
Staatssicherheit als arbeitsrechtlich „zumutbar“ gilt und weiter zu beschäftigen ist,
muss die jeweilige Überprüfungskommission oder Personalstelle selbst treffen.
Die Stasi-Unterlagen-Behörde in der Erinnerungslandschaft Deutschlands
171
Diese Regelung sollte ursprünglich Ende des Jahres 2006 vollständig auslaufen.
Das hat seinerzeit zu einer heftigen politischen Debatte geführt, mit dem Ergebnis,
dass für einen relativ eng begrenzten Personenkreis (Regierungsmitglieder, Abgeordnete, leitende Beamte und einige andere) die Frist noch einmal auf Ende des
Jahres 2011 verlängert worden ist (§ 20 Abs. 6 u. 12 StUG i.d.F. vom 21.12.2006).
Insgesamt haben 2,1 Millionen solcher Überprüfungen stattgefunden. Seit 2007
sind die Zahlen sehr stark rückläufig und bewegen sich bei den Überprüfungen im
Öffentlichen Dienst im niedrigen dreistelligen Bereich.
Im Öffentlichen Dienst der östlichen Bundesländer kam es nach dem Beitritt zu
einem ganz erheblichen Personalabbau. Allein von 1989 bis 1992 ist ein Drittel der
etwa zwei Millionen Bediensteten ausgeschieden. 31 Das war zum einen dadurch
bedingt, dass die Staatsverwaltung in der DDR nach den nun gültigen bundesdeutschen Maßstäben überdimensioniert war, zum anderen hatte es selbstverständlich
auch politische Gründe: angestrebt wurde eine demokratisch verlässliche Verwaltung.
Die Mehrheit der Entlassungen oder Frühverrentungen war bereits vollzogen, als
1992/93 die Überprüfungen mit Hilfe von Stasi-Unterlagen begannen. Zuvor hatten
die Personalstellen versucht, die fachliche und die persönliche Eignung anhand anderer Unterlagen und in Gesprächen mit den Betreffenden zu klären, wenn nicht
einfach betriebsbedingte Kündigungen ausgesprochen wurden.
Auch nachdem die Auskünfte der Stasi-Unterlagen-Behörde im Personalbereich
eine wichtige Rolle zu spielen begonnen hatten, war die Aufdeckung einer Verbindung zur Staatssicherheit nicht identisch mit der Entlassung. Hinter dem Begriff
„IM“ können sich ja auch sehr unterschiedliche Aktivitäten verbergen: von langjähriger Spitzeltätigkeit bis zu einer kurzen, unter Druck eingegangenen Verpflichtung, nach der nur widerwillig Informationen geliefert wurden. Hinzu kam, dass
weder auf Bundesebene noch auf Landesebene klare und einheitliche Kriterien dafür definiert worden sind, wann eine Person als „unzumutbar“ für den Öffentlichen
Dienst zu gelten hat. Selbst innerhalb der einzelnen Landesregierungen gab es zwischen den verschiedenen Ministerien in dieser Beziehung erhebliche Unterschiede.
Im Laufe der Jahre wurde die Härte der Konsequenzen abgeschwächt, erstens weil
das Differenzierungsvermögen der Überprüfungskommission wuchs. 32 Zweitens
wegen eines inneren Widerspruchs des Überprüfungsverfahrens: Bei der Überprüfung ging es um Fehlverhalten vor 1990, die Personalkommissionen aber sollten
über die Eignung für die künftige Beschäftigung entscheiden. Dabei musste auch
die Frage beantwortet werden, ob sich der Betreffende auf seiner Stelle nach 1990
bewährt hatte. Es ist naheliegend, dass dies im Lauf der Jahre eine zunehmend gewichtige Rolle spielte. 33 Zudem wurde diese Tendenz durch die eher arbeitnehmer-
172
Walter Süß
freundlichen Arbeitsgerichte verstärkt, deren Urteile auf die Personalkommissionen
zurückwirkten.
Zu den Resultaten existieren keine Gesamtstatistiken, aber es gibt eine Expertise zu
den Überprüfungen in den östlichen Bundesländern für die 2. Enquetekommission
aus dem Jahr 1999. 34 Seither dürfte sich nicht mehr sehr viel geändert haben. Demnach galten sechs bis sieben Prozent aller überprüften Beschäftigten im Öffentlichen Dienst als belastet. Von ihnen wurden zwischen 30 und 50 Prozent entlassen
oder in den Vorruhestand versetzt. Der Entlassungsgrund war häufig gar nicht die
Tätigkeit für das MfS selbst, sondern dass bei der Einstellung auf entsprechende
Fragen eine solche Verbindung verschwiegen worden war. Das gilt als „Anstellungsbetrug“ unmittelbar vor Beginn der aktuellen Dienstzeit (damit wurde das zuvor erwähnte Dilemma umgangen), unabhängig davon, wie intensiv die Zusammenarbeit mit der Stasi tatsächlich gewesen ist, und schon für sich genommen als
ausreichender Beweis für fehlende Eignung auch in der Zukunft.
6.
Der Zweck dieser Überprüfungen ist, zum Aufbau einer demokratischen Verwaltung beizutragen. Wie wird das von der breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen?
Aufschluss bietet die „Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften“, die so genannte ALLBUS, in der die Befragten seit 1991 regelmäßig aufgefordert werden, ihre Meinung zu folgendem Statement abzugeben: „Man sollte endlich aufhören danach zu fragen, ob jemand […] für die Stasi gearbeitet hat oder
nicht.“ 35 In den östlichen Bundesländern (und ebenso in den westlichen) wurde
diese These im Jahr 1991 noch mehrheitlich abgelehnt (Zustimmung 1991 insgesamt 36,3 Prozent). Eine deutliche Mehrheit war also für solches „Fragen“, sprich:
für entsprechende Überprüfungen. Das hat sich binnen weniger Jahre geändert.
Schon Mitte der neunziger Jahre war die Mehrheit dagegen. Und im Jahr 2006, als
die Überprüfungen zum ganz überwiegenden Teil eingestellt worden sind, war diese Mehrheit auf 78 Prozent gewachsen. Wird allerdings etwas konkreter gefragt,
zum Beispiel, ob Politiker mit IM-Vergangenheit zurücktreten sollten, sieht es anders aus. So haben im Jahr 2008 in einer Forsa-Umfrage auf eine entsprechende
Frage in den östlichen Bundesländern 47 Prozent mit Ja geantwortet, aber ebenso
viele waren dagegen. In den westlichen Bundesländern war eine klare Mehrheit
(59 Prozent) für Rücktritt. 36 Trotz eines gewissen Überdrusses bleibt das Thema
also auf der Tagesordnung.
Am Runden Tisch hatte der Schutz der Persönlichkeitsrechte der Betroffenen bereits eine wichtige Rolle gespielt. Dieser Aufgabe wurde auch im Stasi-UnterlagenGesetz erhebliches Gewicht beigemessen. Das hat zu einer ganzen Reihe von Regelungen geführt, die die Antragsbearbeitung zu einem aufwändigen Unternehmen
machen. Die etwa 13 Arbeitsschritte sollen nicht im Einzelnen geschildert werden. 37 Es sei nur auf einen Punkt hingewiesen: Ehe eine Akte zur Einsichtnahme
Die Stasi-Unterlagen-Behörde in der Erinnerungslandschaft Deutschlands
173
vorlegt wird, muss in der Behörde ein Sachbearbeiter jede Seite lesen und daraufhin prüfen, ob die Einsicht rechtlich möglich ist oder ob damit in die Persönlichkeitsrechte einer anderen Person unzulässig eingegriffen würde. Gegebenenfalls
muss er Namen oder Sachverhalte schwärzen. Das ist der Hauptgrund für die langen Bearbeitungszeiten und ein wesentlicher Unterschied zur Verfahrensweise etwa im Bundesarchiv. Bei der Einsichtnahme in diese Akten handelt es sich wegen
ihres Zustandekommens um einen Eingriff in das informationelle Selbstbestimmungsrecht und damit in die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen. In dem Urteil
zum Verfahren Dr. Kohl gegen die Bundesrepublik Deutschland ist das erneut bekräftigt worden. 38 Deshalb ist eine gründliche Prüfung der Akten, die einem Antragsteller vorgelegt werden sollen, zwingend erforderlich – unabhängig davon, von
welcher Institution die Stasi-Akten aufbewahrt werden.
Schließlich noch zu einem Aspekt, der am Runden Tisch und auch noch in den
Monaten danach eine bedeutende Rolle gespielt hat, den man aber im StasiUnterlagen-Gesetz vergeblich sucht: An keiner Stelle ist von einer Vernichtung von
Akten die Rede. 39
Zu Beginn der Darstellung dieses Gesetzes wurde als ein Gesetzeszweck „die historische, politische und juristische Aufarbeitung“ genannt. Selbstverständlich ist die
Stasi-Unterlagen-Behörde auf diesen Feldern nur einer unter mehreren Akteuren.
Was die historische Aufarbeitung betrifft, so wird im Zusammenhang mit Institutionen der Transitional Justice in Deutschland manchmal auf die beiden EnqueteKommissionen des Deutschen Bundestages in den neunziger Jahren verwiesen und
sie werden mit „Wahrheitskommissionen“ gleichgesetzt. Das ist unzutreffend. Diese Kommissionen waren dominiert von sehr ausführlichen Anhörungen von Experten und Zeitzeugen, wie sie der Bundestag bei der Vorbereitung von Gesetzen häufig organisiert. Ungewöhnlich waren Länge und Aufwand. Aber es ging dabei nicht
um Aussöhnung, sondern um Aufklärung.
Die staatlich geförderte Forschung zur DDR, universitär und außeruniversitär, war
vor 1989 wenig entwickelt. 40 Das meiste, was es dennoch gab, wurde Anfang der
neunziger Jahre abgewickelt. Zugleich wurden jedoch neue Forschungsinstitutionen wie das Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam gegründet. Im aktuellen Zusammenhang ist aber vor allem auf die Stiftung zur Aufarbeitung der SEDDiktatur zu verweisen, deren Einrichtung eine direkte Folge der 2. EnqueteKommission war. 41 Sie fördert Forschungsprojekte und politische Bildung in diesem Bereich. Manches geschieht in Zusammenarbeit mit der Abteilung Bildung
und Forschung der Behörde. Bei einigen von der Stiftung geförderten Forschungsprojekten wird auch mit den Stasi-Akten gearbeitet.
174
Walter Süß
Damit ist der Hauptbeitrag der Gesamtbehörde zur geschichtswissenschaftlichen
Aufarbeitung angesprochen: die Recherche und Bereitstellung von Unterlagen.
Bisher wurden fast 11.000 Forschungsanträge bearbeitet. Dabei handelt es sich oft
auch um kleine Projekte, die von privaten Aufarbeitungsinitiativen, von Schülern,
Studenten und Freizeithistorikern bearbeitet werden.
Der eigene Forschungsbeitrag wird von der Abteilung Bildung und Forschung geliefert, in der ein Dutzend Wissenschaftler an Stasi-bezogenen Themen arbeitet. Es
geht dabei vorwiegend um Grundlagenforschung. So entsteht ein umfangreiches
Handbuch zur Institutionengeschichte des Staatssicherheitsdienstes in Einzellieferungen. Es wird eine Edition der Berichte der Stasi an die SED-Führung über vier
Jahrzehnte vorbereitet. Bearbeitet werden Projekte zur Westarbeit des MfS, zur
Geschichte der DDR-Opposition und zur Rolle der Staatssicherheit in den regionalen Machtstrukturen – um einige zu nennen. 42 Die Wissenschaftler, die in der Abteilung arbeiten, sind im Vergleich etwa zu Historikern, die von außen Anträge
stellen, in zweierlei Hinsicht privilegiert: Vor allem können sie in unerschlossenen
Beständen recherchieren und sie können Einsicht in die nicht-anonymisierten Akten nehmen. Der Hauptgrund dafür ist die Notwendigkeit, die Akteneinsicht mit der
Beachtung des Persönlichkeitsschutzes zu verbinden, was bedeutet, dass externen
Nutzern die Akten nicht uneingeschränkt zugänglich gemacht werden können. Damit die Rechtslage nicht zu einer völligen Blockade bestimmter Forschungsfelder
führt, ist es sinnvoll, dass wenigstens einige wissenschaftlich ausgewiesene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Behörde sich ihrer annehmen können. So ist in den
neunziger Jahren ein Forschungsvorhaben realisiert worden, in dem es um die Frage ging, ob sich die DDR-Staatssicherheit, ähnlich wie der sowjetische KGB, der
Psychiatrie bedient hat, um Dissidenten mundtot zu machen. Daraus ist eine Monographie hervorgegangen, die seither als das Standardwerk zum Thema gilt. 43 Derzeit wird ein Projekt auf Basis der Krankenakten des Stasi-Haftkrankenhauses in
Berlin realisiert, das aus rechtlichen Gründen kein Außenstehender bearbeiten
könnte.
Generell ist eine solche Konstellation selbstverständlich mit zwei Problemen verbunden: jenem der Konkurrenz und dem der Überprüfbarkeit. Hinsichtlich der wissenschaftlichen Konkurrenz wird das Problem dadurch gemildert, dass die Abteilung bei der Auswahl ihrer Forschungsthemen und Forschungsansätze auch darauf
zu achten hat, dass sie möglichst nicht in direkten Wettbewerb zu externen Wissenschaftlern tritt. Die Überprüfbarkeit der Forschungsergebnisse wird dadurch zu gewährleisten versucht, dass unerschlossene Akten, die im Forschungsprozess herangezogen werden, unmittelbar danach und meist noch vor der Veröffentlichung vom
Archiv erschlossen werden, so dass nun jeder – im Rahmen des rechtlich Möglichen – darin Einsicht nehmen kann.
Die Stasi-Unterlagen-Behörde in der Erinnerungslandschaft Deutschlands
175
Nun noch einige Worte zur rechtlichen Aufarbeitung. Im Kern geht es dabei um die
strafrechtliche Aufarbeitung, obwohl auch andere Aspekte hinzuzurechnen sind,
wie die Rehabilitierung unschuldig Verurteilter und die Entschädigung von Opfern
politischer Strafjustiz. In diesen Belangen hat die Stasi-Unterlagen-Behörde nur
eine Hilfsfunktion, die allerdings nicht unwesentlich ist. Aus diesem ganzen Bereich sind durch die Behörde etwa 460.000 Anträge bearbeitet worden, allein auf
dem Feld der Strafjustiz waren es 219.000 Anfragen. Wenn entsprechende Auskünfte erteilt sind, endet der Part der Behörde. Dennoch dazu einige Bemerkungen,
denn wenn über Recht und Gerechtigkeit raisonniert wird, dann meist in diesem
Zusammenhang. Ein Fehlen von Gerechtigkeit wird aus zwei gegensätzlichen Perspektiven beklagt. Einerseits gibt es die These, Recht statt Gerechtigkeit habe zu
„Täterschutz“ geführt. Andererseits wird von „Siegerjustiz“ geredet.
Was sind die Fakten? In einem größeren Forschungsprojekt unter der Leitung von
Klaus Marxen und Gerhard Werle an der Humboldt-Universität zu Berlin wurde
eine vollständige Bestandsaufnahme der strafrechtlichen Auseinandersetzung mit
DDR-Unrecht erarbeitet. 44 Demnach sind nach 1989 durch die Staatsanwaltschaften gegen etwa 100.000 Personen Ermittlungsverfahren in Sachen „DDR-Unrecht“
eröffnet worden. Zu einem Verfahren kam es in weniger als zwei Prozent der Fälle.
Diese niedrige Quote hatte neben dem Rückwirkungsverbot noch andere Gründe
wie das hohe Durchschnittsalter der Beklagten, ihr Gesundheitszustand usw. 45 Von
den 1.737 Fällen wurden knapp 1.400 in einem Hauptverfahren abgeschlossen, davon 56 Prozent mit einer Verurteilung, 24 Prozent mit einem Freispruch; in 20 Prozent der Fälle wurde das Verfahren eingestellt. 46
Die wichtigsten Deliktgruppen betrafen Gewalttaten an der Grenze, also die so genannten Mauerschützenprozesse, einschließlich der Prozesse gegen die Entscheidungsträger im SED-Politbüro und im Nationalen Sicherheitsrat der DDR. Danach
folgten nach der Häufigkeit Prozesse wegen Rechtsbeugung. Dabei ging es um
Verfahren und Urteile der DDR-Justiz, bei denen in politischen Strafsachen von
Staatsanwälten und Richtern Straftatbestände überdehnt und „grob ungerechte Strafen“ verhängt worden waren, womit – nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts 47 – „unerträgliche Menschenrechtsverletzungen“ begangen worden waren,
die durch das Rückwirkungsverbot nicht geschützt sind. Gerade bei diesen Verfahren war die Zuarbeit durch die Stasi-Unterlagen-Behörde von besonderer Bedeutung: Erstens aus dem einfachen Grund, dass die Gerichtsakten von der Staatssicherheit verwahrt worden sind, und zweitens weil in politischen Strafsachen das
Ministerium für Staatssicherheit manchmal im Hintergrund Regie führte, bis hin
zur Verfassung von „Drehbüchern“ für den Verfahrensverlauf, in denen die Urteile
wortwörtlich vorweggenommen wurden.
176
Walter Süß
Zwei weitere Deliktgruppen waren Wahlfälschung, wobei sich der Tatvorwurf nur
auf die Kommunalwahlen im Mai 1989 bezog; und Verfahren wegen Amtsmissbrauch und Korruption. Beide Deliktgruppen sind deshalb interessant, weil die
Strafverfolgung noch zu Zeiten der DDR begonnen hatte, zum Teil bereits im Dezember 1989.
Zu erwähnen sind noch die MfS-spezifischen Straftaten. Unter dieser Deliktgruppe
sind Straftaten erfasst wie Verletzungen des Telefon- und des Postgeheimnisses,
Hausfriedensbruch bei „konspirativen“ Wohnungsdurchsuchungen, Entführungen
aus der Bundesrepublik und aus Westberlin, Liquidierungsversuche und die Unterbringung von RAF-Mitgliedern in der DDR. Bei vielen dieser Tatbestände kamen
die Gerichte zu dem Ergebnis, dass aus zum Teil sehr komplizierten juristischen
Gründen keine Strafbarkeit nach bundesdeutschem Recht vorliegt. Gegen 211 Personen wurden Ermittlungsverfahren wegen MfS-spezifischer Straftaten (außer wegen Spionage) eingeleitet, aber nur gegen 133 Personen das Hauptverfahren eröffnet. Von ihnen wurden schließlich 69 Personen bzw. 53 Prozent verurteilt, die
knappe Hälfte zu Freiheitsstrafen. Nur in zwei Fällen, bei denen es um Mordversuch ging, wurde die Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt. 48 Der Chef der Staatssicherheit, Erich Mielke, ist bekanntlich nicht wegen einer Straftat aus DDR-Zeiten
verurteilt worden, sondern wegen zweier Morde im Jahr 1931. Das zur These von
der „Siegerjustiz“.
Gemessen an dem Unrechtsgehalt der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes ist das
Ergebnis insgesamt gesehen gewiss etwas mager. Das entscheidende Problem, vor
dem die Gerichte standen, ist der Grundsatz Nulla poena sine lege, das heißt: keine
Strafe ohne Gesetz. Eine Handlung kann nur dann verfolgt werden, wenn sie bereits zum Zeitpunkt der Tat strafrechtlich sanktioniert war, ein fundamentaler
rechtsstaatlicher Grundsatz. Im konkreten Fall bedeutet das, dass eine Tat bereits
seinerzeit in der DDR als Straftat gegolten haben muss, wenn sie durch die bundesdeutsche Justiz bestraft werden soll. Das nachzuweisen, hat sich in vielen Fällen als
unmöglich erwiesen.
7.
Zum Schluss soll noch kurz versucht werden, die Tätigkeit der Stasi-UnterlagenBehörde in einen etwas breiteren internationalen Kontext zu stellen. Die Einrichtung dieser Behörde hatte in anderen Staaten des ehemals sowjetischen Machtbereichs eine gewisse Vorbildfunktion – selbstverständlich mit Ausnahme von Russland. Zu nennen sind etwa das im Jahr 1998 gegründete Institut des Nationalen Gedenkens (IPN) in Polen, das Institut für Volksgedenken (UPN) in der Slowakei,
gegründet 2002, und das Institut zum Studium totalitärer Regime in Tschechien,
das im Jahr 2007 eingerichtet wurde. Sie alle haben Ähnlichkeiten mit der BStU:
Die Stasi-Unterlagen-Behörde in der Erinnerungslandschaft Deutschlands
177
Sie verwahren die Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes und informieren die Öffentlichkeit über deren Inhalte.
Dennoch gibt es einige gravierende Unterschiede: In Deutschland gab es durch die
Existenz zweier deutscher Staaten von vornherein eine besondere Situation, verglichen mit anderen Staaten des ehemals kommunistischen Machtbereichs. Die beiden
Grundthemen von Transitional Justice, Wahrheit und Recht, wurden durch ein drittes ergänzt: Elitenwechsel. Versuche dazu gab es auch in den anderen Staaten, man
denke nur an die Lustration in Tschechien. 49 Aber das Potential für einen umfassenden Personalwechsel war dort aus nahe liegenden Gründen sehr viel geringer.
Nirgendwo sonst wurde der Öffentliche Dienst bis auf die Ebene einfacher Angestellter und Arbeiter überprüft. Anderswo war es ein mehr oder weniger großer
Kreis der Inhaber von Leitungspositionen. 50 Und nur in Deutschland haben die alten Eliten allenfalls noch auf kommunaler Ebene eine gewisse Bedeutung, während
es in den postkommunistischen Staaten Ostmitteleuropas weiterhin scharfe Auseinandersetzungen zwischen alten und neuen Eliten auf fast allen Ebenen gibt.
In den anderen Aufarbeitungsbehörden sind Untersuchungsgegenstand und Bearbeitungszeitraum weiter gespannt: Sie ziehen die Jahre der deutschen Besatzung
und die damals herrschenden Regime mit ein, während die BStU sich auf die Jahre
der DDR, also 1949 bis 1989, beschränkt. Noch in anderer Hinsicht ist etwa der
Aufgabenbereich des polnischen IPN breiter definiert: Das IPN hat auch die Rechte
einer Staatsanwaltschaft, während die BStU in dieser Beziehung keinerlei Kompetenzen besitzt, sondern nur Zuarbeit leistet. 51
Auch die BStU ist nicht gänzlich unumstritten, aber die Stimmen im politischen
Raum, die eine ersatzlose Abwicklung der Behörde fordern, sind quer durch die
politischen Lager selten geworden. Es gibt Konsens, dass die Stasi-Akten in nicht
allzu ferner Zukunft in das Bundesarchiv eingegliedert werden. Aber gerade diejenigen, die diesen Schritt gerne etwas früher sehen würden, beteuern, dass sich an
den Aufgaben, die gegenwärtig von der BStU wahrgenommen werden, nichts ändern werde. In den zuvor genannten Staaten – Polen, Tschechien und der Slowakei
– gibt es dagegen immer wieder Forderungen von relevanten politischen Kräften,
mit der ganzen Geschichte Schluss zu machen. 52
Ein wesentlicher Unterschied (der vielleicht miterklärt, dass andere Institutionen
stärker umstritten sind) ist der hohe Stellenwert, den im deutschen StasiUnterlagen-Gesetz der Schutz von Persönlichkeitsrechten hat. Anderswo ist das
weniger restriktiv geregelt: In Polen konnte ein Journalist namens Wildstein im
IPN eine komplette Liste der Namen von Stasi-Mitarbeitern und ihren Opfern auf
eine Diskette kopieren, die anschließend im Internet veröffentlicht wurde. 53 Dabei
ist es – muss man hinzufügen – dem Betrachter dieser Liste unmöglich, festzustel-
178
Walter Süß
len, wer zu welcher Kategorie gehört. In Tschechien und der Slowakei haben die
betreffenden Institutionen Listen der inoffiziellen Mitarbeiter der Staatssicherheit
in das Internet gestellt, ohne Informationen zum Ausmaß der jeweiligen Kooperation. Dort bekommen Journalisten und Wissenschaftler die kompletten Akten über
die Opfer politischer Verfolgung vorgelegt, inklusive der privaten Details. Es ist
dann an ihnen, nur das zu veröffentlichen, was rechtlich statthaft ist. In der Bundesrepublik wäre solch eine Praxis nicht denkbar.
Es gab ursprünglich Zweifel von sehr ernst zu nehmenden Menschen, ob die Aktenöffnung sinnvoll und zu verantworten ist. Ob man den Blick nicht besser ganz
nach vorne hätten richten sollen. Wolfgang Schäuble wurde erwähnt, auf der anderen Seite hat Egon Bahr die gleiche Position vertreten. Jetzt allerdings ist die Aktenöffnung auch nach ihrer Auffassung unumkehrbar und darüber zu hadern bringt
nichts mehr. Statt die Debatte noch einmal aufzunehmen sei an dieser Stelle nur auf
ein Gegenbeispiel verwiesen, als eine Art kontrafaktischer Hypothese, die tatsächlich eingetreten ist: auf Russland. Wer sich fragt, ob ein gnädiges Beschweigen
nicht sinnvoller gewesen wäre, dem ist das Buch von Orlando Figes Die Flüsterer
zu empfehlen, besonders das letzte Kapitel über die Erinnerung in der nachstalinschen Zeit. 54 In der Sowjetunion – wie auch in der DDR – war die stalinistische
Repression strikt tabuisiert. In den letzten Gorbačev-Jahren wurde dieses Tabu gelockert, aber viele trauten dem noch nicht. Erst unter El’cin und mit dem Prozess
gegen die KPdSU schien das Ende kommunistischer Macht unumkehrbar. Die Opfer begannen zu sprechen. Da stellten Ehepaare gegen Ende eines langen gemeinsamen Lebens zu ihrer Überraschung plötzlich fest, dass sie beide als Kinder von
so genannten „Volksfeinden“ im Gulag aufgewachsen waren. Diejenigen aber, die
sie oder ihre Eltern damals denunziert hatten, zeigten oft auch 40, 50 Jahre später
keinerlei Einsicht, geschweige denn Reue. Die Demütigung setzte sich fort.
Mit dem Amtsantritt von Vladimir Putin war selbst diese vorsichtige Öffnung vorbei. Und wieder herrscht Schweigen, obwohl es zivilgesellschaftliche Initiativen
gibt, die eine bewundernswerte Arbeit leisten. Doch sie werden von der Politik und
von den Medien marginalisiert. Das ist ein in jeder Hinsicht aktuelles Problem: Die
Räume von „Memorial“ in St. Petersburg sind am 4. Dezember 2008 im Auftrag
der Staatsanwaltschaft unter einem mehr als zweifelhaften Vorwand durchsucht
worden, die Festplatten der Computer wurden mitgenommen. Auf ihnen sind die
Schicksale zehntausender Opfer stalinistischer Repression festgehalten. Orlando
Figes, der mit diesen Unterlagen gearbeitet hat, hat aus aktuellem Anlass in einem
Interview darauf verwiesen, dass es von den meisten Dateien Sicherungskopien
gibt. Das wüssten auch die Behörden. 55 Der Zweck ist ein anderer: Opfer und Zeitzeugen sollen eingeschüchtert werden, damit wieder Schweigen über die düsteren
Seiten der sowjetischen Geschichte herrscht. 56
Die Stasi-Unterlagen-Behörde in der Erinnerungslandschaft Deutschlands
179
Die Leiter von fünf Aufarbeitungsbehörden haben in einem Offenen Brief an Präsident Medvedev gegen diesen Einschüchterungsversuch protestiert und erklärt:
Die Wahrheit über die Vergangenheit zu suchen, das Gedenken an die Opfer
und die Verurteilung der Täter zu erreichen, sind nach unserer Überzeugung
Voraussetzungen für eine Gesellschaft, die sich der Freiheit, den Menschenrechten und der Toleranz verpflichtet fühlt. 57
Gewiss ist die massenmörderische stalinistische Sowjetunion nicht mit der poststalinistischen DDR gleichzusetzen. Aber auch in ihrem Fall gilt: Es ist ein hohes moralisches Gut, dass Unrecht offen benannt wird und die Opfer politischer Repression aufgeklärt werden über die Hintergründe dessen, was ihnen widerfahren ist.
Dass sie das Schweigen brechen können. Ihnen dabei zu helfen, ist die vornehmste
Aufgabe des Stasi-Unterlagen-Behörde.
1
Peter Bender, Erinnern und Vergessen. Deutsche Geschichte 1945 und 1989, in: Sinn und Form,
60, 5 / 2008, 5, S. 581-592.
2
Christian Meier, Das Verschwinden der Gegenwart. Über Geschichte und Politik. München
2004, S. 70-95.
3
Als Überblick und mit sehr viel älteren Beispielen Jon Elster, Die Akten schließen. Nach dem
Ende von Diktaturen. Bonn 2005.
4
Louis Bickford, Transitional Justice, in: The Encyclopedia of Genocide and Crimes against
Humanity, USA 2004, S. 1045-1047; http://liberiatrc.mnadvocates.org/sites/cc8c0ee4-1ad1-49b79c2a-0a632726e1c3/uploads/a.__Louis_Bickford_-_Transitional_Justice.pdf (letzter Zugriff:
4.6.2009).
5
Kieran Williams, Aleks Szczerbiak, Brigid Fowler, Explaining Lustration in Eastern Europe: A
Post-communist politics approach (SEI Working Paper No 62), University of Sussex 2003, S. 4.
6
Man könnte auch noch die Restitution von Eigentum dazu zählen, verbunden mit der Maxime
„Rückgabe vor Entschädigung“, aber dieser Punkt soll ausgeklammert werden.
7
Dazu ausführlich Walter Süß, Staatssicherheit am Ende. Warum es den Mächtigen nicht gelang,
1989 eine Revolution zu verhindern. Berlin 1999.
8
MfS [ZAIG]: Information Nr. 150/89 über beachtenswerte Aspekte des aktuellen Wirksamwerdens innerer feindlicher oppositioneller und anderer negativer Kräfte in personellen Zusammenschlüssen, o. D. (23.05.1989); BStU, MfS, BdL/Dok. 008936.
9
Karsten Timmer, Vom Aufbruch zum Umbruch. Die Bürgerbewegung in der DDR 1989.
Göttingen 2000. Detlef Pollack, Politischer Protest. Politisch alternative Gruppen in der DDR.
Opladen 2000.
10
Dazu ausführlich Walter Süß, Zentraler Runder Tisch und alte Parteien. In: Martin Gutzeit
(Hg.), Opposition und SED in der Friedlichen Revolution. 2010.
11
Dazu ausführlich Walter Süß, Der Untergang der Staatspartei. In: Klaus-Dietmar Henke (Hg.):
Revolution und Vereinigung 1989/90. Als in Deutschland die Realität die Phantasie überholte.
München 2009.
12
Jens Gieseke, Die hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit. Personalstruktur und
Lebenswelt 1950-1989/90. Berlin 2000, S. 423.
13
Bei fünf Enthaltungen einstimmig angenommener Beschluss auf Antrag der Grünen Partei vom
22.1.1989, in: Thaysen 2000, 2:524 f.
14
In: Thaysen 2000, 4:1113-1125.
180
15
Walter Süß
Zu den verschiedenen Aktenkategorien vgl. Roger Engelmann, Zu Struktur, Charakter und
Bedeutung der Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit (BF informiert; 1994/3). Berlin
1994.
16
In: Uwe Thaysen (Hg.), Der Zentrale Runde Tisch der DDR. Wortprotokoll und Dokumente (5
Bde). Wiesbaden 2000, 4:1120.
17
Werner Fischer am 12.3.1990, in: Thaysen 2000, Op. cit., 4:1117.
18
Ebd., S. 1119f.
19
Reinhart Schult in Thaysen 2000, Op. cit., 1:145.
20
Die erste Veröffentlichung, in der diese These aufgestellt wurde, stammte von Hans Schwenke:
Mielkes Befehl 6/86 und die Überlebensordnung des MfS, in: Neues Deutschland 9.6.1990, S. 6.
21
David Gill, Ulrich Schröter, Das Ministerium für Staatssicherheit. Anatomie des MielkeImperiums, Berlin 1991, S. 282f.
22
Gesetz über die Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Daten des ehemaligen
Ministeriums für Staatssicherheit / Amt für Nationale Sicherheit vom 24.8.1990, DDR-GBl. 1990,
S. 11419 ff., dok. in Klaus Stoltenberg, Stasi-Unterlagen-Gesetz. Kommentar. Baden-Baden 1992,
S. 479-482.
23
Vgl. „1 : 1 entzweit die Deutschen“, in: Der Spiegel, 23.4.1990, S. 100-103.
24
Dokumentiert in Gill, Schröter 1991, Op. cit., S. 287.
25
Vgl. „Schäuble wollte eigentlich Stasi-Unterlagen vernichten“, ddp 12.1.2009. In einer Anhörung der Enquetekommission am 4.11.1993 hat Helmut Kohl das relativ deutlich zum Ausdruck
gebracht: „Die Stasi-Akten sind insofern ein Ärgernis, das sage ich ganz offen, obwohl ich es, dem
Rechtsstaat verpflichtet, nicht sagen dürfte, weil sie heute die ganze Atmosphäre vergiften und
weil niemand genau weiß, was in dem Bericht Liebedienerei ist und was den Tatsachen entspricht.
So kommt ein ganz übler Geruch hoch. Wir müssen sehr aufpassen, daß er unser Leben heute nicht
vergiftet. Dies ist sozusagen meine Einlassung. Wenn ich völlig frei entscheiden könnte, wüsste
ich, was mit den Akten geschehen müsste. Wir haben keine Freude daran, und Historiker werden
später auch keine daran haben.“ In: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), Hg. vom Deutschen Bundestag, Baden-Baden 1995, Bd. V.1, S. 928.
26
Anlage zum Einigungsvertrag vom 18.9.1990, in: Die Verträge zur Einheit Deutschlands. München o. J., S. 73-75.
27
1. Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der
ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik,1993. 3. Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, 1997.
28
Aktuelle Zahlenangaben nach 9. Tätigkeitsbericht der Bundesbeauftragten für die Unterlagen
des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik – 2009. Berlin,
http://www.bstu.bund.de/cln_012/nn_714248/DE/Behoerde/Taetigkeitsbericht/9__taetigkeitsbericht__pdf,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/9_taetigkeitsbericht_pdf.pdf.
29
Roger Engelmann, Stasi-Aktenöffnung und kollektives Gedächtnis. Zum Aspekt der
persönlichen Akteneinsicht, unveröfftl. Ms. 2004.
30
Jörg Doll, Marc Damitz, Zur Bedeutung des wichtigsten inoffiziellen Mitarbeiters für die Bewältigung der Bespitzelung durch das Ministerium für Staatssicherheit der DDR, in: Ulrich Baumann, Helmut Kury (Hg.), Politisch motivierte Verfolgung: Opfer von SED-Unrecht, Freiburg
1998, S. 245-256.
31
Die Zahl der Erwerbstätigen im Staatsdienst (Körperschaften, Sozialversicherung) sank von 2,04
Millionen 1989 auf 1,489 Millionen 1991 und auf 1,364 Millionen 1992 bzw. um 33 Prozent; Ingrid Kurz-Scherf, Gunnar Winkler, Sozialreport 1994. Daten und Fakten zur sozialen Lage in den
neuen Bundesländern. Berlin 1994, S. 358.
32
Hans Hubertus von Roenne, Die Praxis der Entscheidung über die Übernahme von Personal in
den öffentlichen Dienst im Beitrittsgebiet während der Übergangsphase nach 1990 unter Berücksichtigung der Bereiche der Justiz, der Bildung sowie der Polizei am Beispiel der Landesverwal-
Die Stasi-Unterlagen-Behörde in der Erinnerungslandschaft Deutschlands
181
tungen in den neuen Ländern und in Berlin. In: Materialien der Enquete-Kommission
„Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit“, Bd. II,1, BadenBaden 1999, S. 544-649, hier S. 616, 620.
33
Christiane Wilke, The Shield, the Sword, and the Party. Vetting the East German Public Sector.
in: Alexander Mayer-Rieck, Pablo de Greiff (Hg.), Justice as Prevention. Vetting Public
Employees in Transitional Societies. New York 2007, S. 348-401.
34
Helmut Müller-Enbergs, Zum Umgang mit inoffiziellen Mitarbeitern – Gerechtigkeit im Rechtsstaat? In: Materialien der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im
Prozeß der deutschen Einheit“ Band IV,2 / Deutscher Bundestag (13. Wahlperiode). Baden-Baden
1999, S. 1335-1398.
35
Datenhandbuch ALLBUS, 1980-2006, ZA-Nr. 4241, Köln / Mannheim 2007, S. 114.
36
Forsa-Umfrage im Auftrag des „Stern“; in: Stern, 11.6.2008.
37
1. Tätigkeitsbericht 1993, Op. cit., S. 52; 3. Tätigkeitsbericht 1997, Op. cit., S. 14f.
38
BVerwG 3 C 41.03 – Urteil vom 23.6.2004.
39
In seiner ursprünglichen Fassung enthielt das Stasi-Unterlagen-Gesetz allerdings eine rudimentäre Vernichtungsregelung. Danach hätten Betroffene ab dem 1.1.1997 den Antrag stellen können,
die betreffenden Akten zu anonymisieren oder, wenn das nicht möglich war, zu vernichten. Der
einschlägige § 14 StUG wurde hinsichtlich des Stichtages zweimal geändert und durch das 5. Stasi-Unterlagen-Änderungsgesetz vom 2.9.2002 schließlich ganz aufgehoben (BGBl. I, S. 3446).
40
Jens Hüttmann, DDR-Geschichte und ihre Forscher. Akteure und Konjunkturen der
bundesdeutschen DDR-Forschung. Berlin 2008.
41
Näheres auf der Website der Stiftung: http://www.stiftung-aufarbeitung.de.
42
Genauere Angaben zu den Forschungsprojekten der Abteilung Bildung und Forschung in der
BStU sind auf der Website der Behörde zu finden: http://www.bstu.bund.de/cln_012/nn_714248/DE/Forschung/forschung__node.html__nnn=true.
43
Sonja Süß: Politisch mißbraucht? Psychiatrie und Staatssicherheit in der DDR. Berlin 1998
(Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes;
16).
44
Klaus Marxen, Gerhard Werle, Die strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Unrecht. Eine Bilanz.
Berlin 1999. Klaus Marxen, Gerhard Werle, Petra Schäfter, Die Strafverfolgung von DDRUnrecht. Fakten und Zahlen. Hrsg. von der Humboldt-Universität zu Berlin und der
Bundesstiftung Aufarbeitung. Berlin 2007.
45
Zu diesem und zum Folgenden vgl. Marxen/Werle/Schäfter 2007:54 f.
46
Genau 53,9 Prozent Urteile und zwei Prozent Verwarnungen mit Strafvorbehalt; Marxen, Werle,
Schäfter 2007, Op. cit., S. 39.
47
BVerfG, Beschluss vom 7.4.1998 – Az 2 BvR 2560/95.
48
Marxen, Werle, Schäfter 2007, Op. cit., S. 32, 41, 46.
49
Jan Pauer, Die Tschechische Republik: Bilanz der Transformation; in: Forum für osteuropäische
Ideen- und Zeitgeschichte, 9, 1 / 2005, S. 59-86, hier S. 73-77.
50
Natalia Letki, Lustration and Democratization in East-Central Europe, in: Europe-Asia Studies,
54, 4 / 2002, S. 529-552, hier S. 539.
51
Zum Vergleich des polnischen IPN (Institut des Nationalen Gedenkens) und der StasiUnterlagen-Behörde (BStU) Claudia Kleinert, Das schwere Erbe. Ein Vergleich der Aufarbeitung
der kommunistischen Vergangenheit in Polen und Deutschland mit Fokus auf die
Aufarbeitungsbehörden IPN und BStU. Diplomarbeit an der Universität Potsdam, Wirtschafts- und
Sozialwissenschaftliche Fakultät 2007 (unveröfftl. Manuskript).
52
Zu Polen vgl. Janina Paradowska, Aufarbeitung und Ranküne. Gründe und Abgründe der
Lustration in Polen, in: Osteuropa, 56, 11-12 / 2006, S. 205-218.
53
Paulina Gulińska-Jurgiel, Die „Spitzel-Liste“, die keine ist. Eine Bilanz der „Wildstein-Debatte“
in Polen, http://www.zeitgeschichte-online.de/zol/_rainbow/documents/pdf/zol_int/gulinska_wildstein.pdf (letzter Zugriff: 4. Juni 2009).
54
Orlando Figes, Die Flüsterer. Leben in Stalins Russland. Berlin 2008.
182
55
Walter Süß
Nach einem entsprechenden Urteil eines Petersburger Gerichts wurden die Festplatten Anfang
Mai 2009 zurückgegeben. Vgl. die Pressemitteilung von Memorial St. Petersburg vom 12.5.2009;
http://www.memorial.de/news/200905151242395290.htm (Aufruf 15.6.2009).
56
Vgl. Charles Clover: Stalin-era files raided in “war over memory”, in: Financial Times,
27.12.2008.
57
Pressemitteilung der BStU vom 21.1.2009, www.bstu.bund.de.
Gábor Halmai
Dealing with the Past in the Context of Post-totalitarian Societies in East
Central Europe
This chapter argues that post-transitional countries of East Central Europe have not
yet fully succeeded in the task of honestly and seriously working through the communist past, and that the way in which these countries are dealing with their past
has a detrimental impact on the process of democratic consolidation. The way how
East Central European countries have handled their past has thus undermined the
emergence and strengthening of the necessary preconditions for the consolidation
of democracy on the behavioural and attitudinal levels, such as trust in democratic
institutions. In this context, the importance of a generalised public disclosure of the
secret police files needs to be underlined. My main focus in this paper is the way of
dealing with the past, and the making of the constitution played in consolidating
democracy in the countries of East Central Europe. 1
1. Post-Communist Approaches to Transitional Justice
Transitional societies necessarily face the past in general, and the legacy of human
rights violations in the previous regime in particular. This paper contends that the
full consolidation of democracy can only be successfully completed if there is the
political will to tackle the necessary process of dealing with the undemocratic past.
What this process exactly is and what it aims at is best rendered by two German
words, for which no direct translations exist in English: Geschichtsaufarbeitung
and Vergangenheitsbewältigung.
The way of dealing with the past very much depends on the power relations at the
time the transition towards democracy starts. The most radical, revolutionary way
of transition is the violent overthrow or collapsing of the repressive regime; there is
then a clear victory of the new forces over the old order. Democracy can also arrive
at the initiative of reformers inside the forces of the past, or as a result of joint action by and the negotiated settlement between governing and opposition groups.
Samuel Huntington, studying thirty-five so-called third wave transitions that had
occurred or that appeared to be underway by the end of the 1980s, calls the overthrow ‘replacement’, and the two less radical types of transition, between which the
line is fuzzy, ‘transformation’ and ‘transplacement’. 2 The problem with this kind of
categorization starts when we try to put the different countries, representing unique
solutions of transition, into one of the categories. Evaluating the East Central European transitions, which are the subject of this study, Huntington for instance puts
Hungary into the category of transformation, while the events in Poland and
Czechoslovakia are characterized as transplacements. In his book “The Magic Lan-
184
Gabor Halmai
tern”, Timothy Garton Ash keeps alive the revolution of “89” that he witnessed in
Warsaw, Budapest, Berlin and Prague. He has coined the term “refolution” for the
events of Warsaw and Budapest, because they were in essence reforms from above
in response to the pressure for revolution from below, though he uses revolution
freely for what happened in Prague, Berlin, and Bucharest. 3 The changes in Hungary and Poland were not triggered by mass demonstrations like in Romania, in the
former GDR or in Czechoslovakia, and reforms of revolutionary importance disrupted the continuity of the previous regime's legitimacy without any impact on the
continuity of legality. Ralf Dahrendorf another Western observer, argues that “the
changes brought about by the events of 1989 were both extremely rapid and very
radical (which is one definition of revolutions), and at the end of the day, they led
to the delegitimation of the entire ruling class and the replacement of most of its
key members, as well as a constitutional transformation with far-reaching consequences”. 4
But for the purposes of our topic, the more important question is, how the differences in the type of transition affect efforts to deal with the past. Huntington gives
the following guidelines for democratizers dealing with authoritarian crimes: a) If
replacement (revolution) occurred and it is morally and politically desirable, prosecute the leaders of the authoritarian regime promptly (within one year coming into
power) while making clear that you will not prosecute middle- and lower-ranking
officials. b) If transformation or transplacement occurred, do not attempt to prosecute authoritarian officials for human rights violations, because the political costs
of such an effort will outweigh any moral gains. c) Recognize that on the issue of
„prosecute and punish vs. forgive and forget”, each alternative presents grave problems, and that the least unsatisfactory course may well be: do not prosecute, do not
punish, do not forgive, and above all, do not forget. 5 Similarly, Ruti Teitel argues
that trials „are well suited to the representation of historical events in controversy”
and are „needed in periods of radical flux”. 6 András Sajó observes that if Teitel is
right then perhaps there was no radical flux in East Central Europe, at least not
radical regarding the past. 7 But whatever legal choices of transitional justice a state
may or may not choose for dealing with the past, the overwhelming majority of
academics argue that in one form or in another a state is obliged to act, both under
domestic constitutional and international law. But there are of course also arguments against any kind of post-communist restitution and retribution. The most
radical one concludes that one should target everybody or nobody, and because it is
impossible to reach everybody nobody should be punished and nobody compensated. 8
The main reasons for defending a transitional justice policy by new democracies
are to provide recognition to victims as right bearers, on the one hand, and to foster
civic trust, on the other. 9 To formulate it differently, the new states must strive to
Dealing with the Past in the Context of Post-totalitarian Societies in East Central Europe
185
fulfil different obligations that it owes both to the victims of human rights violations and to the society. 10 These possible obligations are the following:
1. To do justice, that is to prosecute and punish the perpetrators of abuses when
those abuses can be determined to have been criminal in nature;
2. To grant victims the right to know the truth; this implies the ability to investigate any and all aspects of a violation that still remain shrouded in secrecy and
to disclose this truth to the victims of justice, to their relatives, and to the society as a whole;
3. To grant reparations to victims in a manner that recognizes their worth and
their dignity as human beings; monetary compensation in appropriate amounts
is certainly a part of this duty, but the obligation should also be conceived as
including non-monetary symbolic gestures that express recognition of the harm
done to them and an apology in the name of society;
4. States are obliged to see to it that those who have committed the crimes while
serving in any capacity in the armed or security forces of the state should not
be allowed to continue on the rolls of reconstituted, democratic lawenforcement or security-related bodies.
Not all of these four obligations are necessarily fulfilled in every regime transition.
As was suggested by Huntington, in cases of transformations and transplacements,
to prosecute is not well advised. The way how “justice” is defined depends wholly
on who holds effective political power. As Roger Errera put it: “Memory is the ultimate form of justice.” 11 In this sense truth-telling can be an alternative to prosecution and punishment. But there are also other legitimate grounds for failing to
prosecute. One of the legitimate reasons why a successor government may be unable to prosecute those responsible for human rights abuses during the tenure of the
prior regime is, if the security forces under the control of, or loyal to, the previous
regime may be so powerful that any attempt to prosecute them or their political allies could lead to events that endanger the transition. Another reason can be if the
state is facing insuperable practical difficulties that make it impossible to punish:
absence of evidence, a dysfunctional criminal justice system, economic crisis,
enormous amount of time to prepare. 12 Also disqualification as a penalty, which
can serve the means of decommunization is not a necessary element of the transition. Many academics argue that decommunization is based on the incoherent idea
of collective guilt, and not a process which a sovereign nation willingly inflicts
upon itself, but rather an elite power game. 13 With very few exceptions, in East
Central Europe ordinary citizens care more about personal security and day-to-day
survival; popular claims for revenge were very rarely to be heard.
But the new governments have answered these calls for purge, „lustration”, or at
least for information about those who had committed human rights violations very
186
Gabor Halmai
differently. Under pressure from former Eastern dissidents, the German government responded by opening the files and purging the past through public trials. The
Czechoslovak Republic, with perhaps the harshest approach at that time, required
nearly everyone to be checked against the records of the secret police and presumed
everybody guilty if listed there. Poland wrestled with the question and in the end
did not ask for it too loudly in public. Hungary has adopted the view that the best
way to deal with the past was to do better; in other words, for the new Hungarian
state, „living well is the best revenge”. 14
For fulfilling their obligations, the successor states found two ways to demonstrate
a clear break between the old regime and the new order: a) dealing with those who
participated in, or benefited from, the old regime; b) adhering to the new regimes’
pronounced commitments to principles of democracy and the rule of law. 15 The
first way is about the repressions of the past, while the second one is focusing on
the future. The traditional term of ‘transitional justice’ means the ways of dealing
with the past, but in this paper I’ll also include institutional reforms, namely constitutional ones, as future-oriented strategies of the transition.
I will concentrate on different approaches to dealing with the past, called by Timothy Garton Ash the “four ways to the truth”: a) legal procedures, court trials; b) vetting and lustration of public officials; c) truth and reconciliation commissions; d)
access to the files of the previous secret police. 16
This list of approaches is completed by many authors with a fifth way of dealing
with the past, namely the restitution of property or material compensation to victims. Although I won’t elaborate this approach further, it is clear that there is a
growing consensus in international law that the state is obligated to provide compensation to victims of egregious human rights abuses perpetrated by the government, and if the regime which committed the acts in question did not provide compensation, the obligation carries over to the successor government. 17
Since historical commissions of inquiry, which were set up in South Africa, Latin
America, and in some cases performed by international bodies, such as the truth
commission for El Salvador or the UN war crimes tribunal for Rwanda, have not
been used in East Central Europe, I won’t deal with this approach here. 18 But of
course, most of the functions of such commissions, that is establishing a full, official accounting and acknowledging of the past are also fulfilled if access to the files
of the previous regime is provided to the public.
2. Administrative Penalties: Vetting and Lustration
The different kinds of non-criminal administrative sanctions, the joint aim of which
is to purge from the public sector those who served the repressive regime, represent
Dealing with the Past in the Context of Post-totalitarian Societies in East Central Europe
187
a similarly great challenge to transitional democracies and the rule of law. The idea
behind these processes is the prevention of human rights abuses through reforms
for excluding from public institutions persons who lack integrity, or at least by informing the general public, especially the voters, about the past of those who run
for a public position. In the latter cases (milder forms of lustration), the only sanction is the publication of the data on the involvement of the public officials in one
of the repressive institutions, for instance the secret police of the previous regime.
Besides lustration, in former communist countries the processes to exclude abusive
or incompetent public employees in order to prevent the recurrence of human rights
abuses and to build fair and efficient public institutions is a general characteristic of
countries emerging from authoritarian regimes. Recent examples include UN vetting efforts in El Salvador, Bosnia and Herzegovina, Liberia and Haiti, but also the
„Debaathification” process in postwar Iraq. As the Secretary General’s Report on
The Rule of Law and Transitional Justice in Conflict and Postconflict Societies
puts it: “Vetting usually entails a formal process for the identification and the removal of individuals responsible for abuses, especially from police, prison services,
the army and the judiciary.” 19
But we cannot forget that there have been many transitions in which there has been
neither vetting nor lustration, not even for the most important rule of law institutions (e.g. Spain, Chile, Argentina, Guatemala, South Africa). Also in East Central
Europe, besides the more extensive cases vetting and lustration procedures as in the
Czech Republic and East Germany 20 , there have also been transitions with very
modest and sector-specific vetting as in Poland and Hungary. During the revolutionary changes in East Germany, as well as in Czechoslovakia after the 1989 Velvet Revolution vetting and lustration has to be taken as part of the broader politics
of decommunisation which targeted exactly the personal aspect of the whole process of postcommunist political and legal transformations. 21
The Czechoslovak lustration law, as formulated in Act No. 451/1991 of the Collection of the Laws, “determines some further conditions for holding specific offices
in state bodies and corporations of the Czech and Slovak Federal Republic, the
Czech Republic and the Slovak Republic” (commonly referred to as the ‘large lustration law’). 22 Act No. 279/1992 of the Collection of the Laws “on certain other
prerequisites for the exercise of certain offices filled by designation or appointment
of members of the Police of the Czech Republic and members of the Correction
Corps of the Czech Republic’ is commonly referred to as the ‘small lustration law’
because it only extended the lustration procedures to the police force and the prison
guards service. This is based on the idea that the postcommunist Czechoslovak society had to deal with its past and facilitate the process of decommunisation by legal and political means. The provisions specify a carefully selected list of top offices in the state administration which would be inaccessible to those individuals
188
Gabor Halmai
whose loyalty to the new regime could be justifiably questioned due to their political responsibilities and power exercised during the communist regime.
The law provides two lists of offices and activities to which it applies: the first list
contains offices requiring a lustration procedure before individuals could take them,
while the second list enumerates power positions held and activities taken during
the communist regime which disqualify candidates applying for the jobs listed in
the first list. Despite a wide range of public offices subjected to the lustration procedure, positions contested in the general democratic elections have not been affected by the law. Offices protected by the lustration law included: civil service,
senior administrative positions in all constitutional bodies, the army positions of a
colonel and higher, police force, intelligence service, the prosecution office, the
judiciary, notaries, state corporations or corporations in which the state is a majority shareholder, the national bank, state media and press agencies, university administrative positions of the head of academic departments and higher, and the
board of directors of the Academy of Sciences.
The disqualifying positions and activities during the former regime included: political offices and those within the repressive secret police, the state security and the
intelligence forces; and those linked to the collaboration with these forces. Political
disqualifying positions included Communist Party secretaries from the rank of district secretaries upwards, members of the executive boards of district Communist
Party committees upwards, members of the Communist Party Central Committee,
political propaganda secretaries of those committees, members of the Party militia,
members of the employment review committees after the communist coup in 1948
and the Warsaw Pact invasion in 1968, and graduates of the Communist Party
propaganda and security universities in the Soviet Union and Czechoslovakia. Exceptions were made for those party secretaries and members of the executive
boards of the party committees who held their positions between January 1, 1968,
and May 1, 1969, that is during the democratisation period of the ‘Prague spring
‘68’ that had been terminated by the invasion of the Warsaw Pact armies in August
1968.
Regarding the security, secret police and intelligence service positions, the following ones were enumerated by the law: senior officials of the security police from
the rank of departmental chiefs upwards, members of the intelligence service and
police members with a political agenda. Nevertheless, the law originally allowed
the Minister of Interior, Head of the Intelligence Service, and Head of the Police
Force to pardon those members of the former secret police whose dismissal would
cause ‘security concerns’.
Dealing with the Past in the Context of Post-totalitarian Societies in East Central Europe
189
The most controversial part of the law was the list of activities of citizens related to
the secret police. They involved the secret police collaborators of the following
kinds: agents, owners of conspiratorial flats or individuals renting them, informers,
political collaborators with the secret police, and other conscious collaborators such
as trustees and candidates for collaboration. This complicated structure corresponded to the system elaborated by the communist secret police. The main issue
was whether a person consciously collaborated with the police, for instance by
signing the confidential ‘agent’ cooperation, or was just a target of the secret police
activity and possibly non-intentional source of information gathered during police
interviews.
The Constitutional Court of the Czech and Slovak Federal Republic upheld the
law’s constitutionality in general and stated that the lustration in principle did not
violate the International Convention on Civil and Political Rights, the International
Convention on Economic, Social, and Political Rights, and the Discrimination
Convention (Employment and Occupation) of 1958. Furthermore, the Court declared unconstitutional and therefore void those sections of the law, which legislated specific powers to the Minister of Defence and the Minister of Interior to exempt individuals from the lustration procedure if it was in the interest of state security. According to the Court, these sections contradicted the principles of equality
and the due process of law guaranteeing that the same rules apply to those in the
same position. 23
The law did not affect Communist Party members in general and, among communists, targeted only the Party officials and the Party Militia members. Individuals
who ended up with the ‘positive lustration’ record stating that they had collaborated
with the secret police could still be active in politics because the statute did not apply to any office and position contested in the general election. However, the overwhelming majority of political parties introduced a self-regulatory policy demanding all candidates to submit the ‘negative lustration’ certificate before being listed
in the parliamentary election. The only parliamentary political party refusing to
internally apply lustration rules has been the Communist Party. The law thus created a situation in which members of Parliament and local councils could have a
secret police record while, for instance, heads of different university departments
had been subjected to the lustration procedure.
Lustrations also did not apply to the emerging private economy sector. Private
companies did not have access to the secret police files of its employees and therefore could not apply ‘private lustrations’. Regarding the procedure, an individual
has to apply for the lustration certificate at the Security Office of the Ministry of
Interior. Any person can apply for the certificate and the Ministry has a duty to issue it. The certificate is mandatory only for those holding or applying for jobs listed
190
Gabor Halmai
in the lustration law. An organisation can apply for lustration of its employee only
if her job is subject to the lustration law. In the case of the ‘positive lustration’ result, an applicant can submit an administrative complaint to the Ministry and, if the
original finding remains unchanged, file a civil suit against the Ministry demanding
the protection of ‘personal integrity’.
Available figures show that around five per cent of all lustration submissions resulted in ‘positive certificates’ disqualifying the applicant from his/her office in the
mid 1990s. The most recent figures indicate a decline in ‘positive lustration’ results
of the screening down to approximately two-three per cent of all applications received by the Ministry of Interior since the enactment of the lustration law in 1991.
The Ministry received between 6,000 and 8,000 lustration requests per year and the
total number of lustration certificates issues between 1991 and 2001 was 402,270. 24
Although the law had been originally enacted for a limited period of 5 years, it was
subsequently extended by Parliament several times and still is being enforced in the
Czech Republic. 25
The Polish lustration law adopted by the Polish Parliament in April 1997 26 formally became valid law in August 1997, but could not be enforced without the
creation of the V Department (Lustration Court) in the Warsaw Appellate Court in
December 1998. A Commissioner for the Public Interest was nominated by the
Chief Justice of the Supreme Court in October 1998 and formally took office on 1
January 1999.
The statute imposes a duty on people born before 11 May 1972, which means all
who were adults according to law before the transfer of power in 1989 took place,
who hold or are candidates of enumerated public positions in the state to make a
statement regarding their work or collaboration with secret services (organs of the
state security) between 1944 and 1990. The obligation of making a positive or
negative lustration statement is imposed on a broad category of people holding executive positions in the state or important positions in the state administration, including the President of the Republic, members of the parliament, senators, judges,
procurators, advocates, and people holding key positions in Polish Television (public), Polish Radio (public), the Polish Press Agency, and the Polish Information
Agency.
Lustration statements consist of parts A and B, as stated in the annex to the statute.
Part A is simply a declaration that a person did or did not work or collaborate with
organs of state security. Part B (not made public) includes details of work or collaboration in the case of a positive statement. Information of a positive statement is
published in the official gazette “Monitor Polski,” or in the case of the candidates
for the presidency and the lower or upper houses of parliament, in electoral proc-
Dealing with the Past in the Context of Post-totalitarian Societies in East Central Europe
191
lamations. That means that names of all who return positive declaration are published in the government gazette but without details of the type of collaboration. In
the case of candidates for seats in the Sejm and Senate and presidency, next to their
name on the electoral proclamation with the names of all candidates is mentioned
that they returned a positive lustration declaration. In that way those who declared
that they were members of the secret services or consciously collaborated with secret services can still be candidates to the office and the decision about their future
is left in the hands of the electorate. The Polish lustration law penalises only a lie
about collaboration with secret services, not the collaboration itself.
Verification of a negative lustration statement is done by the Commissioner for the
Public Interest. If there is suspicion of a lie in the lustration statement, the Commissioner for the Public Interest initiates a case before the Lustration Court. Court rulings confirming a lustration lie are made public. The legal effects of such court rulings are different depending on the position held by the person involved. MPs or
senators will lose their seat but they can start as candidates in the next election. In
the case of judges, an additional ruling of the disciplinary court is required.
In the years 1999-2004 about 27,000 people have filled out lustration declarations
and according to the Lustration Law all of these declarations are subject to the
Commissioner’s scrutiny. 278 persons declared work or collaboration with state
security organs. Their names were published in “Monitor Polski”. The Commissioner filed only 126 cases for the Lustration Court. By 30 April 2004, the Lustration Court made judgements in relation to 103 persons. Among those 103, in 52
cases the Court confirmed that the declaration was not true. 27
The Hungarian lustration law was adopted also after a long hesitation early in
1994, toward the end of the first elected government’s term of office, and similarly
to the Polish case included a compromise solution to the issue of the secret agents
of the previous regime’s police. The law set up panels of three judges whose job it
would be to go through the secret police files of all of those who currently held a
certain set of public offices (including the president, government ministers, members of parliament, constitutional judges, ordinary court judges, some journalists,
people who held high posts in state universities or state-owned companies, as well
as a specified list of other high government officials). Each of these people would
have to undergo background checks in which their files would be scrutinized to see
whether they had a lustratable role 28 in the ongoing operation of the previous surveillance state. If so, then the panel would notify the person of the evidence and
give him or her a chance to resign from public office. Only if the person chose to
stay on would the panel publicize the information. If the person contested the information found in the files, then prior to disclosure, he or she could appeal to a
court, which would then conduct a review of evidence in camera and make a
192
Gabor Halmai
judgement in the specific case. If the person accepted a judgement against him or
her and chose to resign, then the information would still remain secret.
After the law had already gone into effect and the review of the first set of members of parliament was already underway, the law was challenged by a petition to
the Hungarian Constitutional Court. The Court handed down its decision in December 1994 29 , in which parts of the 1994 law requiring "background checks on
individuals who hold key offices" were declared unconstitutional. In its decision
the Court outlined key principles of the rights of privacy of the individuals whose
pasts are revealed in the files as well as the rights of publicity for information of
public interest. The most important declaration of principle in the decision of the
Constitutional Court is the following: “The court declares that data and records on
individuals in positions of public authority and those who participate in political
life – including those responsible for developing public opinion as part of their job
– count as information of public interest under Article 61 of the Constitution if they
reveal that these persons at one time carried out activities contrary to the principles
of a constitutional state, or belonged to state organs that at one time pursued activities contrary to the same.” Article 61 of the Hungarian Constitution provides an
explicit right to access and disseminate information of public interest.
The lustration decision was delicate not only politically (since the lustration process
was already underway in a recently elected government where many of the top
leaders had held important positions in the state-party regime), 30 but also constitutionally, because it represented the clash of two constitutional principles: the rights
of informational self-determination of individuals (in this case, the spies) and the
rights of public access to legitimately public data by everyone (including those who
were spied on). Before the lustration case, both principles had been upheld in
strong form. The lustration case, however, pitted the two principles against each
other.
Taking the whole range of issues, from the constitutionality of the lustration process to the continued secrecy of the security apparatus files, the Constitutional Court
attempted to balance a range of interests. First, the Court held that the maintenance
of this vast store of secret records was incompatible with the maintenance of a state
under the rule of law, since such records would never have been constitutionally
compiled in the first place in a rule-of-law state. But the fact that the records now
existed posed other problems, including the freedom of access to information in the
files both by an interested public and by individuals whose names appeared in the
files either as subjects or as the agents. Disclosing the files to an interested public
also would mean disclosing information of great personal importance to the individuals mentioned. Since individuals have a personal right of self-determination
under the Hungarian Constitution, what is left of the claim of public freedom of
Dealing with the Past in the Context of Post-totalitarian Societies in East Central Europe
193
access to information in determining what can be disclosed from the security apparatus files?
To resolve these questions, the Court made an important distinction. It held that
public persons have a smaller sphere of personal privacy than other individuals in a
democratic state. As a result, more information about such public persons may be
disclosed from the security files than would be permitted in the case of persons not
holding influential positions, so conflicts between privacy and freedom of information should be resolved differently for the two classes of persons. With this, the
Court placed the problem back in the hands of the Parliament as a “political issue”,
with the instructions that the Parliament is free neither to destroy all the records nor
to maintain the absolute secrecy of them, since much of what they contain is information of public interest.
The Court also found that the Parliament had more remedial work to do on other
parts of the law before it could pass constitutional muster. The specific list of persons to be lustrated also needed to be changed because it was unconstitutionally
arbitrary. In particular, the Court found that the category of journalists who were
lustratable was both too broad – by including those who produced music and entertainment programs – and also too narrow – by excluding some clearly influential
journalists who worked for the private electronic media. Either all journalists, and
other public figures who have as part of their job influencing public opinion must
be lustrated or none may be, the Court held. Parliament could choose either course.
The Court did not, however, find the extention of the lustration process to journalists in the private media to be a violation either of the freedom of the press or a violation of the informational self-determination of journalists. Instead, all those who,
in the words of the 1994 law, “participate in the shaping of the public will” are acceptable candidates for lustration, as long as all those in the category are similarly
included. Extending lustration to officials of universities and colleges and to the top
executives of full or majority state-owned businesses was declared unconstitutional, however, since these persons “neither exercise authority nor participate in
public affairs”, according to the Court. A separate provision allowing members of
the clergy to be lustrated was struck down for procedural reasons because the procedures to be applied to the clergy did not include as many safeguards as those applied to others.
The decision of the Constitutional Court shows correctly that a lustration law can
have two goals, depending on the historical moment. At the beginning of the transition, full lustration might have served to mark the irreversability of the change and
the ritual cleaning of the society. But more than five years after the “rule-of-law
revolution”, the better constitutional goal may be found in specifying the circle of
freedom of information through a rule-of-law lustration. The behaviour and the past
194
Gabor Halmai
of those people who are now prominent in political public life are appropriate for
the public community to know. The lustration of the prominent representatives of
the state is constitutionally reasonable, but the publicity of the full agent's list is
not, the Constitutional Court argued.
The new lustration law, LXII/1996, which was approved by the parliament in July,
1996 specifies that only those public officials who have to take an oath before the
parliament or the president of the republic or who are elected by the parliament are
to be subjected to the lustration process. This takes care of the problem outlined by
the court of an excessive scope of lustratable officials. According to the amendment
ordinary court judges, public prosecutors, and majors are excluded from the lustration. After the change of government in 1998, the centre-right conservative governing parties in 2000 adopted Act XCIII, which extended significantly the list of
those who should go through lustration compared to the modification in 1996 and
the original law of 1994. The amendment extended the scope of vetting of the media beyond the level of editors, to “those, who have the effect to influence the political public opinion either directly or indirectly”, and was also applicable to commercial television, radio, newspapers and Internet news agencies. 31
Soon after the change of the government in 2002, it was disclosed that the that-time
Prime Minister Péter Medgyessy had served as a top secret officer of the former
III/II directorate (counterintelligence) of the communist-era Ministry of Interior.
The scandal showed that the legislation in force was inadequate to ensure the purity
of post-transition public life, since it concentrated exclusively on the domestic surveillance unit of the Hungarian secret police (former III/III directorate). But there
were other units also, that engaged in spying on Hungarians living abroad, or on
foreigners living in Hungary, or on those who served in the military, and those secret police units are not covered by the law, despite a public protest by a number of
leading figures insisting that the lustration law cover all spying activities. This
problem was subject of a complaint before the Constitutional Court, but it was rejected in 1999. Under the weight of intense press coverage of the Prime Minister’s
case and opposition pressure, in 2003 the government tabled an amendment of the
lustration law involving every former directorates, and also planned to extent the
lustration to the churches, by arguing if media representatives are liable for lustration, there is no constitutional reason why the leaders of churches are not. But finally the draft law was rejected by the parliament.
3. Access to the Files of the Secret Police
As the case of the Hungarian statutory regulation has shown, lustration was very
much treated together with the problem of the access to the files of the previous
regime’s secret police both by the victims and the general public. In the other countries the issues were regulated separately. Concerning the wideness of accessibilty
Dealing with the Past in the Context of Post-totalitarian Societies in East Central Europe
195
one can detect different models within the countries in East Central Europe. Poland, as well as the first Hungarian solution provided limited access to the victims.
The most important limit is the name of the spy, which in these models is not disclosed to the victims. The unified Germany, which was the very first country in the
history opening the state archives of the secret police, provided unlimited access to
the victims concerning the data on the agent as well, and to government agencies to
request background checks on their employees. The law enacted by the Hungarian
parliament in 2003 besides following the German way by providing access to victims on their spies also opened the files for the general public concerning the data
of public figures. But the widest access is provided by the similar statutory regulation of the Czech Republic and Slovakia, where – with the necessary protection of
third persons’ personal data – the secret police files are accessible for everyone.
The Hungarian Constitutional Court’s mentioned decision on the constitutionality
of the 1994 lustration law also ruled that the legislative attempts to deal with the
problem of the files were constitutionally incomplete because they failed to guarantee that the rights of privacy and informational self-determination of all citizens
would be maintained. Because the Parliament had not yet secured the right to informational self-determination, and first of all the right of people to see their own
files, the Court in its decision declared the Parliament to have created a situation of
unconstitutionality by omission. 32 The new law enacted in 1996 did create a “Historical Office”, responsible to take control of all of the secret police files and to
make them accessible to citizens who are mentioned in those files. Individuals are
eventually able to apply to this office in order to see their files, and such access
must be granted, as long as the privacy and informational self-determination of others is not compromised. The Historical Office's purpose is to put into effect the
prior decisions of the Constitutional Court.
As a consequence of the Hungarian Prime Minister’s mentioned scandal in December 2003 the parliament adopted the Act V of 2003, which established a new Public
Security Services’ History Archive, and brought together all the documents of all of
the security service directorates in this one location. The new law creates the opportunity to reveal the personal past of individuals in public office. Anyone can
request the files of those people who are currently in public office or had been in
public office. The category of public office is not well defined in the law but has
been taken to include anyone who serves (or served) in positions of executive
power or the media. Indeed, it can be interpreted very broadly. In the case of those
in public office, some very limited information found in the Archive about an individual’s relationship to any of the security service directorates (not just III/III) can
be published. Only after 2003 was it possible for individuals to request that the
identity of the agent (i.e., the real person behind the codename) be revealed.
196
Gabor Halmai
In May 2005 the Hungarian parliament passed an amendment to the Act V of 2003,
which intends to open all files of the former secret police, including the names of
the agents not holding any public office. Another provision of the enacted law entitles the Archive to make a lot of information public through its website without any
personal request. The President of the Republic before promulgation sent the law to
the Constitutional Court for preliminary review. In his application the President
used the argument of the Court in its 60/1994. AB decision, saying that only the
past of public officials represents a data of public interest, which can be published
even without the consent of the person, but to disclose information of ordinary
people not holding public office would violate their right to informational selfdetermination. The case is still pending before the Constitutional Court. In its
37/2005. AB decision the Constitutional Court using its previous arguments declared the law unconstitutional, which therefore did not enter into effect.
In Poland the issue of access was also discussed in 1997 in connection with the
lustration law, but finally the Sejm in December 1998 passed a separate Act on the
Institute of National Remembrance – Commission for the Prosecution of Crimes
against the Polish Nation. 33 The law regulates access of those persons about whom
the organs of the state security collected information between 1944 and 1989.
In 2007 the Polish Parliament adopted a new vetting act drafted by the conservative
Law and Justice (PiS) party, in a move that seems to take out a large number of
groups of professions from the vetting obligation without completely derailing the
ruling party’s anti-communist screening plans. 34 Compared to the vetting act of
1997, the latest lustration law sought to increase the number of people required to
submit a truthful vetting declaration before May 15, 2007. Failing to submit such
declarations would result in dismissal from certain positions or legal consequences
in case of submitting a false declaration. About 300,000 to 400,000 people in Poland would have to undergo a compulsory vetting process if the law was fully executed, according to the National Remembrance Institute. The opposition argued
that the law was vague and unclear, introducing dubious definitions of individuals
who would be required to submit statements on whether or not they collaborated
with the communist secret services before 1989.
In a legally complex ruling in mid-May Poland’s Constitutional Tribunal decided
to partially overthrow crucial parts of the act. The tribunal said the law violated a
number of articles of the constitution, but the lawmakers’ definition of a collaborator, which was one of the most disputed provisions of the new law, does not violate
Poland’s constitution provided that the collaborator was fully aware of their status
during the time of cooperation with the secret services. The Constitutional Tribunal
also ruled that the vetting of university professors, all journalists, executives of
publishing houses and rectors of state-run schools violated the constitution. The
Dealing with the Past in the Context of Post-totalitarian Societies in East Central Europe
197
tribunal ruled that it would not be legal for the National Remembrance Institute
(IPN) to publish lists of past communist collaborators, which was one of the goals
of the legislation. The tribunal also ruled that the bill’s annulment of the right to
file cassations to the Supreme Court in vetting cases violated the constitution.
Interestingly enough, Prime Minister Jarosław Kaczyński had earlier said that if the
Constitutional Tribunal overthrows the bill, his party would draft a law opening up
IPN archives completely in order to reveal all classified information on past communist collaborators.
In 1996, the Parliament of the Czech Republic enacted The Act of Public Access to
Files Connected to Activities of Former Secret Police. 35 The law originally granted
access only to persons potentially affected by secret police activities. Nevertheless,
the statute was amended in 2002, 36 so that the main registers of secret police collaborators could be made available to the general public. 37 According to the current
regulation, any adult person who is a citizen of the Czech Republic can file a request to access the secret police files and documents collected between February
25, 1948, and February 15, 1990.
The access, which is provided by the Ministry of Interior, therefore is not limited to
the person’s data and files. Nevertheless, the Ministry protects the constitutional
rights of personal integrity and privacy of other individuals who might be mentioned in the files demanded by the applicant. The Ministry therefore must make all
information possibly affecting those constitutional rights inaccessible to the applicant unless it is related to the activities of the secret police and its collaborators.
The applicant thus can access any details regarding the identity of secret police
agents but would not be able to see information related for instance to their marital
life or health problems. This shift of the state policy naturally resulted in a number
of legal cases in which individuals demanded their names to be removed from the
registers and moral reputation re-established. 38
In August 2002 the National Council of the Slovak Republic enacted the Act on
Disclosure of Documents Regarding the Activity of State Security Authorities in the
Period 1939-1989 and on Founding the Nation’s Memory Institute. 39 Besides the
procedure of diclosure of documents upon the request of victims and state institutions, the law also regulates the disclosure of data by the Institute ex officio. According to the law, subject to being disclosed and made public shall be preserved
and reconstituted documents, which were created as a result of the activity of the
State Security and other security authorities in the period from April 18, 1939 to
December 31, 1989. Excluded are only documents the diclosure of which might
harm the interest of the Republic in international terms, its security interests or lead
to a serious endangerment of a person’s life. In order to exclude a document being
198
Gabor Halmai
disclosed and made public, a proposal of the Slovak Information Service or the
Ministry of Defense is necessary, which was approved by an appointed committee
of the National Council.
4. Conclusions
Despite the introduction of rule of law and its institutions in some countries of East
Central Europe there is still no consensus on constitutional values among the political actors, some actors do not even fully respect these values, and there is no full
respect within the society, either. After almost two decades of the transition in these
post-totalitarian countries, the constitutions, the parliaments and the constitutional
courts, especially by deciding the most important issues of the transitional justice
(lustration, retroactive justice, compensation, access to the files of the former secrete police) could not achieve full consolidation of democratic values among the
members of societies.
The main reasons for this lack of full democratic consolidation are as follows:
1. The very content of the consensus at the time of the transition
a) Anti-communism of the coalition partners. After the disappearance of the
danger of Communist restoration, these coalitions split both in Poland and
Hungary.
b) Anti-communism does not necessarily mean commitments to democratic
values and human rights. In Poland and Hungary there was no real parliamentary democracy, only elements of a representative system before WWII
under Piłsudski and Horthy with strong nationalism and anti-semitism.
Also there has been no human rights culture in these two countries before
the transition.
2. Disappointments after the transition in 1989-1990
The lack of retributive justice against perpetrators of grave human rights violations
and decommunisation through a strong vetting procedure and the lack of restitution
of the confiscated properties, as well as the kind of Marshall-plan with the hope for
a speedy economic growth and better living standard, caused disappointments. The
sound of the losers of the transition caused populism, nationalism, anti-semitism,
anti-secularism, anti-Europeanism, and helped to the political actors using these
feelings.
The unsolved problems of dealing with the communist past weigh on and weaken
the new democracies in East Central Europe. The most telling example is Poland,
Dealing with the Past in the Context of Post-totalitarian Societies in East Central Europe
199
where the lustration programme introduced in 2007 by the Kaczyński government
has deeply divided the country. In 2002 the Hungarian citizens and in 2007 the
Bulgarians found out that the Prime Minister respectively the President they had
voted were former secret police agents. Even in the Czech Republic, where lustration has been most radical, the communist past is still not settled yet either, as the
controversies over the government’s decision to put all the secret police files on the
internet has shown. Nonetheless, however fragile these democracies are on the behavioural and attitudinal levels, it is unconceivable today that these countries will
fall back into semi-authoritarian systems: the European Union is a powerful guarantor to prevent this from happening.
1
East Central Europe is here used as including the Czech and Slovak Republics, Hungary, Poland
and until 1990 the German Democratic Republic.
2
See Samuel P. Huntington: The Third Wave: Democratization in the Late Twentieth Century,
University of Oklahoma Press 1991. pp. 124-125.
3
Timothy Garton Ash, The Magic Lantern: The Revolution of ’89 Witnessed in Warsaw, Budapest, Berlin and Prague, Random House 1990.
4
Ralf Dahrendorf: Reflections on the Revolution in Europe, Random House, 1990. p. 8.
5
Huntington Op. cit., p. 231.
6
See Ruti Teitel, Transitional Justice as Liberal Narrative, in: András Sajó (ed.), Out of and Into
Authoritarian Law, Kluwer Law International 2003. p. 6.
7
András Sajó, Erosion and Decline of the Rule of Law in Post-Communism: An Introduction, in:
SAJÓ (ed.), Op. cit., p. xix.
8
See Jon Elster On Doing What One Can: An Argument Against Post-Communist Restitution and
Retribution, East Eur. Const. Rev. Vol. 1, no. 2, summer 1992, pp. 15–17.
9
Pablo de Greiff: Vetting and Transitional Justice, in: Alexander Mayer-Rieckh, Pablo de Greiff
(eds), Justice As Prevention. Vetting Public Employees in Transitional Societies. Social Science
Research Council, New York 2007. p. 524.
10
See Juan E. Méndez, In Defense of Transitional Justice, in: A. James McAdams (ed.), Transitional Justice and Rule of Law in New Democracies, University of Notre Dame Press, 1997.
pp. 11-12.
11
See Roger Errera, Dilemmas of Justice, 1 East Eur. Const. Rev. 21,22, summer 1992.
12
See Paul van Zyl, Justice without Punishment: Guaranteeing Human Rights in transitional Societies, in: SAJÓ (ed.): Op. cit., pp. 54-60.
13
See Stephen Holmes: The End of Decommunization, East Eur. Const. Rev. Vol. 3, nos. 3-4,
summer/fall 1994, pp. 33-36.
14
See Gábor Halmai and Kim Lane Scheppele, Living Well Is the Best Revenge: The Hungarian
Approach to Judging the Past, in: A. James McAdams (ed.), Op. cit., pp. 155-184.
15
Neil J. Kritz, The Dilemmas of Transitional Justice, in: Kritz (ed.), Transitional Justice. How
Emerging Democracies Reckon with Former Regimes. Vol. I. General Considerations. US Institute of Peace Press, Washington, DC 1995. p. xix.
16
See Timothy Garton Ash, The Truth About Dictatorship, The New York Review of Books, February 19, 1998.
17
See for instance Kritz, Op. cit., pp. xxvi-xxvii.
18
Several variations of the truth commissions are covered at length in each of the three volumes of
Kritz (ed.), Transitional Justice.
19
UN Doc. S/2004/616, p. 17.
20
Since the German readers know the vetting process in the former GDR much better than myself,
instead of discussing it, I just refer to the study of Christiane Wilke: The Shield, the Sword, and
the Party: Vetting the East German Public Sector, in: Alexander Mayer-Rieckh, Pablo de Greiff
200
Gabor Halmai
(eds.), Justice As Prevention. Vetting Public Employees in Transitional Societies. Social Science
Research Council, New York 2007. pp. 348-400.
21
See Jiri Priban: Oppressors and Their Victims. The Czech Lustration Law and the Rule of Law,
in: Alexander Mayer-Rieckh, Pablo de Greiff (eds.): Justice As Prevention. Vetting Public Employees in Transitional Societies. Social Science Research Council, New York, 2007. pp. 308-346.
22
English translation is in Kritz (ed.), III Transitional Justice, pp. 312-321.
23
Decision of the Constitutional Court of the Czech and Slovak Federal Republic on the Screening
Law. November 26, 1992. English translation is in Kritz (ed.), III Transitional Justice, pp. 346365.
24
See Priban, Op. cit., p. 17.
25
Slovakia is an example of the opposite approach because, after the split of the Czech and Slovak
Federal Republic, Mečiar’s populist Movement for Democratic Slovakia and other parties of his
coalition government ignored the lustration law.
26
Uniform text Dziennik Ustaw, 1999, Nr 42, poz. 428.
27
See Adam Czarnota, The Politics of of the Lustration Law in Polnad, 1989-2006, in: Alexander
Mayer-Rieckh, Pablo de Greiff (eds.): Justice As Prevention. Vetting Public Employees in Transitional Societies. Social Science Research Council, New York 2007, pp. 222-258.
28
The law classified the following activities as lustratable: carrying out activities on behalf of state
security organs as an official agent or informer, obtaining data from state security agencies to assist in making decisions, or being members of the (fascist) Arrow Cross Party.
29
60/1994 (XII. 24) AB. See the English translation of the decision in Sólyom, Brunner, pp. 306315.
30
For example, the Prime Minister and the Speaker of the Parliament in the term 1994-98 were
both ministers before 1989, and they had standing under the legal regulations of the time as persons who regularly got informational briefings from the secret police.
31
See Elizabeth Barrett, Péter Hack, Ágnes Munkácsi, Lustration As Political Competition: Vetting in Hungary, in: Alexander Mayer-Rieckh and Pablo de Greiff (eds.), Justice As Prevention.
Vetting Public Employees in Transitional Societies. Social Science Research Council, New York
2007, pp. 180-220.
32
Since this is an unusal power of the Hungarian Court, it deserves a bit of explanation. The Court
can declare the Parliament to be in violation of the Constitution by failing to enact a law that it is
required by the Constitution or by a law to enact.
33
Journal of Laws, 19 December 1998.
34
See Timothy Garton Ash, On Lustration in Poland, in: The Guardian, May 24, 2007.
35
No. 140/1996 of the Collection of Laws of the Czech Republic.
36
See The Act No. 107/2002 of the Collection of Laws of the Czech Republic amending the Act
No. 140/1996.
37
These registers are available on www.mvcr.iol.cz.
38
One of the most publicised and high-profile cases has been the case of Jiřina Bohdalová – a top
celebrity actress. She filed a lawsuit against the Czech Ministry of Interior and demanded her
name to be removed from the register of secret police collaborators. The trial revealed how she
was psychologically tortured by secret police at the age of 28 in the 1950s but never agreed to
collaborate with it. In January 2004, the municipal court of Prague ruled that the actress has never
been a secret police collaborator, yet failed to oblige the Ministry of Interior to remove her name
from the register, although Bohdalová did not aspire to a political career or positions subject of the
lustration procedure. See Priban, Op. cit.
39
553/2002 Coll. Nation’s Memory Act. Amendments: 110/2003 Coll, and 610/2004 Coll.
Janna Wolff und Charlotte Bruun Thingholm
Lieber sterben als reden – Kriegsvergewaltigungen als Ursache für Erinnerungskonflikte am Beispiel Kosovo
“It has probably become more dangerous to be a woman
than to be a soldier in an armed conflict.” 1
1. Einleitung
Weder kriegerische Auseinandersetzungen noch Vergewaltigungen sind unerforschte gesellschaftliche Phänomene. Allerdings sind seit einigen Jahren neue Dynamiken im Zusammenhang mit der Kombination dieser beiden Erscheinungen zu
beobachten: Einerseits scheint das Ausmaß sexualisierter Gewalt im Zuge der so
genannten „Neuen Kriege“ stark zuzunehmen. 2 Andererseits wurde der strategische
Einsatz von Vergewaltigungen erst vor wenigen Jahren in die Liste der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ aufgenommen, explizit mit Völkermord in Verbindung gebracht und kann seitdem entsprechend international geahndet werden.
Welche Auswirkungen diese beiden Entwicklungen auf gesellschaftliche Erinnerungskonflikte sowie deren mögliche Aufarbeitung haben, soll im Folgenden vorsichtig skizziert werden. Vorsichtig deshalb, weil dies ein Ansatz voller Einschränkungen ist. Weder bilden die generellen Ursachen für Vergewaltigungen den Fokus, noch die Tatsache, dass durchaus auch Männer und Jungen Opfer von sexualisierter Gewalt sind. Auch werden in diesem Beitrag nicht alle Formen kriegerischer
Auseinandersetzungen abgedeckt und auch nicht alle Möglichkeiten der gesellschaftlichen Aufarbeitung diskutiert.
Einer der beiden Schwerpunkte liegt in diesem Beitrag auf dem Einsatz von Vergewaltigungen von Frauen und Mädchen als Kriegswaffe sowie den daraus resultierenden gesellschaftlichen Folgen. Entsprechend werden zunächst das Phänomen
der Kriegsvergewaltigung und die Entwicklung hin zu ihrer internationalen Anerkennung als Kriegsverbrechen skizziert, bevor die in diesem Zusammenhang zu
beobachtenden und zu erwartenden gesellschaftlichen Konflikte am konkreten
Fallbeispiel des Kosovo dargestellt werden.
Den zweiten Schwerpunkt bildet die Analyse der zurzeit gegebenen Möglichkeiten
und Grenzen einer – vor allem juristischen – Aufarbeitung sowie der Rolle, die insbesondere die Internationale Gemeinschaft in diesem Zusammenhang übernehmen
kann. Abschließend werden verschiedene Ansatzpunkte für weitergehende Forschungsarbeiten aufgezeigt.
202
Janna Wolff und Charlotte Bruun Thingholm
2. Vergewaltigung in Kriegszeiten
Sexualisierte Gewalt ist kein exklusives Phänomen kriegerischer Auseinandersetzungen, im Gegenteil. Auch in Friedenszeiten finden gewalttätige sexuelle Übergriffe statt, und der Tatbestand der Vergewaltigung erscheint teilweise sogar als
eines der am häufigsten registrierten Verbrechen westlicher, „zivilisierter“ Gesellschaften. 3 Die Definition von Vergewaltigung ist dabei nicht einheitlich und wurde
auch in nationalen Rechtsprechungen immer wieder begrifflich angepasst. 4 Bei der
Definition des Internationalen Strafgerichtshof (2002) wurde versucht, eine geschlechtsneutrale Formulierung mit einer umfassenden Einbeziehung aller möglichen Varianten und Umstände zu verbinden:
The perpetrator invaded the body of a person by conduct resulting in penetration, however slight, of any part of the body of the victim or of the perpetrator with a sexual organ, or of the anal or genital opening of the victim
with any object or any other part of the body.
The invasion was committed by force, or by threat of force or coercion, such
as that caused by fear of violence, duress, detention, psychological oppression or abuse of power, against such person or another person, or by taking
advantage of a coercive environment, or the invasion was committed against
a person incapable of giving genuine consent. (Art. 7 (1) (g)-1) 5
Die Ursachen für Vergewaltigungen wurden in den 1970er Jahren verstärkt aus
einer sozio-biologischen Perspektive erklärt. 6 Dies wird jedoch von der aktuellen
Geschlechterforschung inzwischen weitgehend abgelehnt. 7 Vielmehr gelten inzwischen gesellschaftlich geprägte Machtstrukturen und -verhältnisse als entscheidend,
aus denen heraus sich sexualisierte Aggressionen entwickeln. Dementsprechend
lautet eine herrschende Annahme, dass sowohl in Friedens- als auch in Kriegszeiten „Vergewaltigungen kein aggressiver Ausdruck von Sexualität, sondern ein sexualisierter Ausdruck von Aggression sind“. 8 Dabei ist auffällig, dass bereits bei
‚normalen’ Vergewaltigungen das Ausmaß der eingesetzten Gewalt oft über das
hinaus geht, was zur Erlangung des physischen Ziels notwendig wäre (ebd.). Bei
Kriegsvergewaltigungen steigert sich der Grad dieser Brutalität häufig. 9
Allerdings scheint sich die Funktion sexualisierter Gewalt in Abhängigkeit von
Friedens- oder Kriegszeiten deutlich zu wandeln. Während bei Vergewaltigungen
in Friedenszeiten die individuelle Macht über ein – mehr oder weniger als Individuum wahrgenommenes – Opfer im Mittelpunkt steht, symbolisiert der Missbrauch
‚feindlicher Frauen’ in Kriegszeiten primär die Demütigung des Feindes, “a stamp
of total conquest […] a castrating experience aiming to illustrate the impotence of
the enemy”. 10
Kriegsvergewaltigungen als Ursache für Erinnerungskonflikte am Beispiel Kosovo
203
Diese Vorstellung von der Frau als Objekt und Eigentum findet sich schon in den
klassischen Fällen von Frauenraub der griechischen und römischen Mythologie und
reicht bis zu den beiden Weltkriegen und den so genannten „Neuen Kriegen“ der
letzten Dekaden. Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass dieser Umgang mit Frauen
stets gut geheißen wurde. So existierten bereits seit dem europäischen Mittelalter
Vergewaltigungsverbote in Armeen. Allerdings wurden sie nur selten konsequent
angewandt. 11 Dabei galt die Sorge weniger den potenziellen Opfern als der eigenen
militärischen Leistungsfähigkeit, die zum Beispiel durch grassierende Geschlechtskrankheiten unter den Soldaten oder durch sinkende Disziplin innerhalb der Truppen negativ beeinflusst werden konnte. Anders ausgedrückt: Sobald sich Vergewaltigungen durch Soldaten aus militärischer Sicht als dysfunktional erwiesen, wurden
sie deutlich konsequenter sanktioniert. 12
Entsprechend der bereits genannten These, dass es sich bei Kriegsvergewaltigungen um einen „sexualisierten Ausdruck von Aggression“ handelt, überrascht es
nicht, dass sich das Ausmaß sexueller Übergriffe stets unabhängig von der „Verfügbarkeit von Frauen“ bzw. der Existenz von Kriegsbordellen 13 zeigte. 14 Ebenso
bemerkenswert ist die Beobachtung, dass sexualisierte Gewalttaten unabhängig von
der Nationalität der Täter ausgeübt wurden und werden, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. 15 Allerdings hatte die nationale Zugehörigkeit teilweise Auswirkungen auf den offiziellen Umgang mit den Folgen einer Vergewaltigung: In
Frankreich forderte zum Beispiel die katholische Kirche nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die durch Vergewaltigung geschwängerten Französinnen öffentlich
dazu auf, „die Kinder zur Erhaltung der französischen Kultur abzutreiben“. 16 In
Deutschland gab es eine ähnlich lautende Forderung zum Kriegsende – sofern es
sich bei den Tätern um sowjetische Soldaten handelte. Erfolgte die Vergewaltigung
durch Deutsche oder Westalliierte, sollten die Kinder ausgetragen werden. 17
Die nationale bzw. ethnische Zugehörigkeit der Opfer wiederum scheint einen Einfluss auf den Grad der angewandten sexuellen Gewalt zu haben. So gilt es zum
Beispiel als belegt, dass während des Zweiten Weltkriegs deutsche Soldaten in
Osteuropa deutlich aggressiver und organisierter vorgingen als in Frankreich. 18
Im Rahmen der Kriege in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erregten zwei
weitere Phänomene besondere Aufmerksamkeit. So wurde, erstens, durch die belegten Gruppenvergewaltigungen durch U.S.-Soldaten in Vietnam eine weitere
Funktion sexualisierter Gewalt sichtbar: die „der Gruppenbindung und Nivellierung
interner Hierarchien“ 19 sowie der Identitätsbildung einer Gruppe. 20 Allerdings ist
dies keine zwangsläufige Funktion von Gruppenvergewaltigungen, wie später die
Beobachtungen im ehemaligen Jugoslawien zeigen sollten. Hier wurden gerade
durch eine strikt festgelegte Reihenfolge der Täter bestehende Hierarchien bestätigt
und gestärkt. 21
204
Janna Wolff und Charlotte Bruun Thingholm
Die zweite Beobachtung bezieht sich auf das Ausmaß der angewandten Gewalt bei
einer Vergewaltigung. Während des Vietnamkriegs kam es offenbar derartig häufig
vor, dass U.S.-Soldaten ihre Opfer nach der Vergewaltigung töteten, dass hierfür
ein eigener Begriff erfunden wurde. Diese Täter wurden von ihren Kameraden als
„Doppelveteranen“ bezeichnet. 22
Es kann natürlich sein, dass diese Erscheinungen bereits früher auftraten. Allerdings fehlen bis heute eine umfassende Darstellung und Analyse der Geschichte
von Kriegsvergewaltigungen 23 , weswegen entsprechende Aussagen noch nicht umfassend wissenschaftlich belegt werden können. Die Ursachen für diese lückenhafte
Datenlage liegen einerseits im mangelnden Interesse an Aufklärung und Anerkennung, andererseits an dem vehementen Schweigen vieler Opfer und Täter.
Erst seit Anfang der 1990er Jahre kommt es zu einer regelrechten „Flut von Dokumentationen über sexualisierte Gewalt in Kriegen“. 24 Dies ist zu einem erheblichen
Teil der hartnäckigen Arbeit von Frauen-Organisationen und Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftlern zu verdanken, die diese Verbrechen öffentlich thematisieren.
Ein weiterer Grund könnte in dem neuartigen Umfang liegen, in dem systematische
und organisierte (Massen-)Vergewaltigungen in kriegerischen Konflikten eingesetzt werden. 25 Zumindest erscheinen beide Faktoren als ausschlaggebende Gründe
dafür, dass Vergewaltigung als Kriegsverbrechen und als Kriegswaffe inzwischen
international klassifiziert und anerkannt wurde.
3. Vergewaltigung als Kriegsverbrechen
Bei der juristischen Anerkennung von Vergewaltigungen als Kriegsverbrechen
handelt es sich um eine noch recht junge Entwicklung. Lange galten diese Taten als
“an inevitable consequence of war, necessary to boost soldiers’ morale”. 26
Zwar wurde bereits in dem Genfer Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen
in Kriegszeiten von 1949 der Schutz der Frauen vor sexualisierter Gewalt gefordert,
indem die „Frauen […] besonders vor jedem Angriff auf ihre Ehre und namentlich
vor Vergewaltigung, Nötigung zur Prostitution und jeder unzüchtigen Handlung
geschützt werden“ sollten (Art. 27), allerdings fehlte noch eine eindeutige Definition des Tatbestands. Unabhängig davon tauchte Vergewaltigung als Verbrechen
während der Internationalen Tribunale in Nürnberg und Tokio – trotz zahlreicher
Beweise 27 – nicht in der Liste der Straftatbestände auf und wurde entsprechend
auch nicht geahndet.
Sexualisierte Kriegsverbrechen des Zweiten Weltkriegs wurden erst auf Initiative
verschiedener asiatischer Frauengruppen Anfang der 1990er Jahre thematisiert.
Dies führte dazu, dass im Dezember 2000 das Women's International War Crimes
Tribunal on Japanese Sexual Slavery in Tokio tagte. 28 Gegenstand der Verhand-
Kriegsvergewaltigungen als Ursache für Erinnerungskonflikte am Beispiel Kosovo
205
lungen war die vom japanischen Militär erzwungene Prostitution und sexuelle Versklavung von ca. 200.000 jungen Frauen, die größtenteils aus Korea entführt und
teilweise während der letzten Kriegswochen von ihren Peinigern ermordet wurden.
Zwar verfügte dieses Tribunal über keine weitreichende Entscheidungsbefugnis; es
war jedoch das erste Mal, dass sich ein Kriegsverbrechertribunal ausschließlich mit
dieser Art von Verbrechen gegen die Menschlichkeit befasste. 29 Insofern spricht
Phelps von einem nicht zu unterschätzenden “moral victory”30 .
Die Berichte über die massenhaften sexualisierten Gewalttaten in Ruanda, der Demokratischen Republik Kongo und in Bosnien-Herzegowina Anfang der 1990er
Jahre trugen ebenfalls zu einer einschlägigen Sensibilisierung bei, und so begannen
sich auch die Vereinten Nationen (VN) mit dieser Thematik zu befassen. Seit 1994
wird „Gewalt gegen Frauen, ihre Ursachen und Folgen“ jährlich von einer VNSonderberichterstatterin dokumentiert. 31
Parallel wurden 1993 vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen der Internationale
Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (International Criminal Tribunal
for the former Yugoslavia, ICTY) und kurz darauf der für Ruanda (International
Criminal Tribunal for Rwanda, ICTR) eingesetzt. Von beiden Tribunalen wird
Vergewaltigung explizit als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt.
Im Gegensatz zu diesen beiden ad hoc Tribunalen der VN handelt es sich bei dem
seit 2002 in Den Haag operierenden Internationalen Strafgerichtshof (International
Criminal Court, ICC) um eine permanent angelegte Institution. Anders als das ICTY und das ICTR wurde er auch nicht vom Sicherheitsrat der VN ins Leben gerufen, sondern basiert ausschließlich auf einem Vertrag zwischen den Staaten, die das
Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs unterzeichnet haben. 32 In
diesem Statut sind die Gerichtsbarkeiten des ICC geregelt, die sich auf vier besonders schwere Verbrechen beschränken, unter anderem „Verbrechen gegen die
Menschlichkeit“, bei denen in Artikel 7 (g) sexualisierte Gewalt explizit genannt
wird:
Vergewaltigung, sexuelle Sklaverei, Nötigung zur Prostitution, erzwungene
Schwangerschaft, Zwangssterilisation oder jede andere Form sexueller Gewalt von vergleichbarer Schwere. 33
Der ICC kann ausschließlich Individuen strafrechtlich verfolgen und soll lediglich
dann tätig werden, wenn ein Staat entweder nicht willens oder nicht in der Lage ist,
dies zu leisten. Um tätig werden zu können, muss der betroffene Staat den ICC allerdings anerkannt haben.
Vor diesen verschiedenen Institutionen wurden bislang maßgebliche Präzedenzfälle
verhandelt:
206
Janna Wolff und Charlotte Bruun Thingholm
Jean Paul Akayesu war politisch verantwortlich für die ruandische Gemeinde Tapa,
als es dort 1994 zu zahlreichen Verbrechen an Angehörigen der ethnischen Gruppe
Tutsi kam. Nach seiner Festnahme 1996 wurde er in die Haftanstalt der Vereinten
Nationen in Arusha (Tansania) überstellt. Ursprünglich bezog sich die Anklage vor
dem ICTR ausschließlich auf Völkermord. Während des Verfahrens wurde Akayesu jedoch mehrfach von Zeugen auch der (Beihilfe zu) Vergewaltigung beschuldigt, so dass in der Folge eine neue Untersuchung eingeleitet wurde. Das Ergebnis
war die Verurteilung Akayesus zu lebenslanger Haft im September 1998 wegen
Völkermords sowie des Aufrufs zu und der Teilnahme an Verbrechen gegen die
Menschlichkeit, u.a. Vergewaltigungen. 34 Bemerkenswert an diesem Urteil ist, dass
hier erstmals die Verbindung von sexualisierter Gewalt und Völkermord juristisch
anerkannt wurde. 35
Im Rahmen des so genannten Foca-Prozesses 36 befasste sich der ICTY 1996 ausschließlich mit den Vergewaltigungen und der sexuellen Versklavung in BosnienHerzegowina und erhob „zum ersten Mal in der Geschichte des Völkerrechts Anklage wegen Vergewaltigung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. 37 Insgesamt mussten sich drei Angeklagte vor dem ICTY wegen aktiver Beteiligung an
Vergewaltigungen, Folter und sexueller Versklavung in so genannten rape camps
(siehe weiter unten) verantworten. Alle drei wurden 2001 zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. 38
Der Furundzija-Prozess 39 ist bemerkenswert, weil er sich ausschließlich mit einem
Verbrechen einer Person gegen eine andere befasste. Anto Furundzija wurde 1998
durch den ICTY wegen Mittäterschaft im Falle der Folter und Vergewaltigung zu
zehn Jahren Haft verurteilt. 40
Die Tatsache, dass Vergewaltigung als Instrument der Folter und der „ethnischen
Säuberung“ in das Völkerrecht mit aufgenommen wurde, verweist darauf, dass diese Form sexualisierter Gewalt nicht mehr als unvermeidliche Begleiterscheinung
kriegerischer Konflikte angesehen, sondern als ein Verbrechen anerkannt wird und
dementsprechend verfolgt werden kann. 41 In Bezug auf die generelle Aufarbeitung
dieser Kriegsverbrechen ist diese Entwicklung als ein großer Fortschritt zu bewerten. Allerdings bleibt in Hinblick auf die erfolgreiche Aufarbeitung dieser Verbrechen festzuhalten, dass in diesen Verfahren die Täter zwar individualisiert sind, die
Opfer jedoch größtenteils als ein Kollektiv wahrgenommen werden.
Grundsätzlich sehen sich die Ermittler/innen nach wie vor großen Herausforderungen ausgesetzt. Die vielleicht größte darunter ist das Schweigen der Überlebenden.
Dieses Schweigen hat verschiedene Gründe. Zu einem erheblichen Teil ist es kulturell begründet, das heißt, dass die Ängste vor einer Stigmatisierung und vor den zu
erwartenden gesellschaftlichen Folgen einer Aussage ausschlaggebend sind (siehe
Kriegsvergewaltigungen als Ursache für Erinnerungskonflikte am Beispiel Kosovo
207
weiter unten). Allerdings spielen auch strukturelle Probleme eine nicht zu unterschätzende Rolle: angefangen bei mangelnden Zugangsmöglichkeiten für Frauen
zu entsprechenden Institutionen aufgrund von Armut oder Analphabetisierung bis
hin zu einer “disturbing number of isolated and uneducated women [that] does not
know that rape is a crime”. 42
Trotz dieser bestehenden Schwierigkeiten – die sich übrigens keineswegs nur auf
einen bestimmten kulturell oder wirtschaftlich zu definierenden Teil der Erde eingrenzen lassen – bildet die Anerkennung von Vergewaltigung als Kriegsverbrechen
und als Instrument des Völkermords einen entscheidenden Durchbruch hin zu einer
Wertschätzung der Opfer und bietet neue Ansatzpunkte für eine gesellschaftliche
Aufarbeitung von Erinnerungen und gegebenenfalls Erinnerungskonflikten.
4. Vergewaltigung als strategische Kriegswaffe
Auf den Zusammenhang von kriegerischen Auseinandersetzungen und sexueller
Gewalt wurde oben bereits hingewiesen. Im Folgenden steht nun der strategische
Einsatz von Vergewaltigungen als Kriegswaffe im Mittelpunkt, wie er aus den
Konflikten in Ruanda und insbesondere auch aus den Gebieten des ehemaligen Jugoslawiens bekannt wurde. Der strategische Aspekt bezieht sich dabei auf den systematischen und teilweise hierarchisch organisierten Einsatz von Vergewaltigungen. 43
Während der Kriege in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo wurden mit – tatsächlichen sowie unterstellten – Massenvergewaltigungen von Beginn an folgende
strategische Ziele verfolgt 44 :
Angst und Vertreibung
Bereits Mitte der 1980er Jahre wurde in Belgrad eine “moral panic” 45 ausgelöst, als
gezielt das Gerücht massenhafter Vergewaltigungen serbischer Frauen durch Kosovo-Albaner medial verbreitet wurde. Tatsächlich bestätigte die Polizei eine einzelne Vergewaltigung einer Serbin durch einen Albaner, doch das durch diese Übertreibung ethnisch aufgeladene Misstrauen sowie die Angst vor Vergewaltigungen blieben bestehen. Gleichzeitig begann die mediale Verunglimpfung von Albanerinnen als “open-legged, stupid, uneducated women ready to have sex”. 46
Diese Vorfälle belegen die Instrumentalisierung der Frau als Symbol nationaler
Identität, die sich durch die nachfolgenden kriegerischen Konflikte hindurch ziehen
sollte und den Einsatz von Massenvergewaltigungen als Waffe und als Instrument
der „ethnischen Säuberung“ mitbestimmte. 47
Die Berichte über die (inzwischen eindeutig belegten) massenhaften Vergewaltigungen bosnischer Musliminnen in der Zeit 1992 bis 1993 verbreiteten sich schnell
und führten dazu, dass viele kosovarische Frauen schon zu Beginn der kriegeri-
208
Janna Wolff und Charlotte Bruun Thingholm
schen Auseinandersetzungen im Kosovo Ende der 1990er Jahre große Ängste vor
den Serben und ihren strategischen Vergewaltigungen hatten: “I wasn’t afraid of
the killing. I was afraid of the raping”. 48 Diese Ängste förderten die Fluchtbewegungen der Kosovo-Albaner/innen und hatten somit einen Effekt, der den Zielen
der „ethnischen Säuberung“ und Vertreibung entgegen kam. 49
Folter und Terror
In Bosnien-Herzegowina wurden Frauen gezielt vergewaltigt, um sie einzuschüchtern und um Informationen über die gegnerischen Gefechtsstellungen zu erhalten. 50
Auch aus dem Gebiet des Kosovo ist bekannt, dass die serbischen Autoritäten zu
Beginn des gewaltsamen Konfliktes 1998 sexualisierte Gewalt einsetzten, um von
kosovo-albanischen Frauen Informationen über den Aufenthalt ihrer Männer sowie
über deren Beteiligung an der Untergrundbewegung UÇK zu erpressen oder um sie
stellvertretend für ihre Männer „zu bestrafen“. 51 Entsprechend der Definition der
Konvention gegen Folter sind diese Taten eindeutig als Foltermaßnahmen zu begreifen. Folter ist demnach
jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder
seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, zum Beispiel um von ihr
oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen, um sie für
eine tatsächlich oder mutmaßlich von ihr oder einem Dritten begangene Tat
zu bestrafen oder um sie oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen
[…]. 52
Die zahlreich dokumentierten Fälle, in denen wahllos Frauen und Mädchen auf öffentlichen Plätzen oder vor den Augen ihrer Familienangehörigen vergewaltigt
wurden, sind eindeutig als eine Form des psychischen Terrors zu verstehen. Ebenso
wahllos erfolgten die anschließenden Tötungen, so dass auch hier die Opfer in einer
permanent unsicheren Situation gehalten wurden, wodurch die psychische Belastung deutlich erhöht wurde.
Die Traumatisierungen, die aus solchen Erfahrungen resultieren, sind nicht nur bei
den unmittelbaren Opfern, sondern auch bei den involvierten Freunden und Familienangehörigen der Opfer zu verzeichnen. 53
Völkermord bzw. „ethnische Säuberung“
Der Internationale Strafgerichtshof definiert den Tatbestand des Völkermords als
die „Handlungen, die in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische,
rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“. 54 Darunter fallen u.a. die gezielte Tötung von Mitgliedern der Gruppe; die physische und
psychische Schädigung von Gruppenmitgliedern sowie Maßnahmen, die „auf die
Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind“. 55 Diesem Typus von
Kriegsvergewaltigungen als Ursache für Erinnerungskonflikte am Beispiel Kosovo
209
Handlungen sind die Massenvergewaltigungen in Bosnien-Herzegowina und im
Kosovo eindeutig zuzuordnen.
Das Ausmaß an Zerstörung der kollektiven ethnischen Identität und Gemeinschaft 56 ist dabei im Zusammenhang mit den vorhandenen gesellschaftlichen Konzepten von Männern und Frauen zu sehen: Im ehemaligen Jugoslawien gilt zum
Beispiel der Mann bzw. dessen Samen als identitätsstiftend, so dass die ethnische
Zugehörigkeit des Mannes die des Kindes bestimmt. 57 Das bedeutet, dass das durch
eine Vergewaltigung gezeugte Kind automatisch der ethnischen Gruppe des Vergewaltigers zugeordnet wird. 58 Dies wiederum hat einerseits gravierende Auswirkungen auf die emotionale Beziehung zwischen Mutter und Kind 59 , sowie andererseits ausgeprägte Loyalitäts- und Identitätskonflikte des Kindes zur Folge.
Neben der somit durch Vergewaltigungen verfolgten Absicht, möglichst viele
„ethnically cleansed“ 60 Kinder zu zeugen 61 , existiert noch ein weiteres Ziel, das
sich zwar ebenfalls auf den Aspekt der Fortpflanzung bezieht, der erstgenannten
Absicht jedoch diametral gegenübersteht: die Zerstörung der Reproduktionsfähigkeit. 62 Das bedeutet, dass durch den gezielten Einsatz von Gewalt die Geschlechtsorgane der Frau absichtlich dermaßen verletzt werden, dass künftige Schwangerschaften unmöglich sind. Hierbei handelt es sich um eine langfristig angestrebte
Einflussnahme auf die demographische Entwicklung einer Ethnie.
5. Kriegsvergewaltigungen im Kosovo 63
Die Umstände, unter denen die während der kriegerischen Auseinandersetzungen
auf dem Gebiet des Kosovo 1998 und 1999 64 registrierten Vergewaltigungen stattfanden, lassen sich grob in drei Kategorien einteilen: (a) Vergewaltigungen zu
Hause, das heißt in den Wohnung bzw. dem Haus der Opfer, (b) Vergewaltigungen
auf der Flucht und (c) Vergewaltigungen in so genannten rape camps.
Bei den meisten durch Zeugenaussagen bestätigten Vergewaltigungen handelte es
sich um Gruppenvergewaltigungen (gang rapes), das heißt, dass mehr als ein Täter
beteiligt war, wobei die Zahlenskala nach oben offen ist. 65
Vergewaltigungen zu Hause
Zu Vergewaltigungen in den eigenen vier Wänden kam es meist im Zusammenhang mit der Eroberung des jeweiligen Dorfes durch serbische (Para-)Militärs.
Häufig wurden Männer und Frauen zunächst voneinander getrennt und um Geständnisse oder Geld erpresst, bevor dann willkürlich ausgewählte Frauen entweder
in den Wohnungen oder aber, wenn auch seltener, vor den Augen der Familienangehörigen und Dorfbewohner öffentlich vergewaltigt wurden. 66 In BosnienHerzegowina wie im Kosovo kam es teilweise zu anschließenden Tötungen:
210
Janna Wolff und Charlotte Bruun Thingholm
They took my sister-in-law into the front room, and they were hitting her and
telling her to shut up. The children were screaming [… but they …] did not
understand that they were raping her. After they raped my sister-in-law, they
put her in line with us and shot her. 67
Vergewaltigungen auf der Flucht
Kosovo-Albaner, zumeist Frauen, Kinder und ältere Menschen, flohen zunächst aus
Angst vor der Gewalt der Serben, ab 1999 jedoch auch vor den NATO-Angriffen. 68
Die Flüchtenden wurden häufig von serbischen Soldaten oder Polizisten gestoppt
und ebenfalls um Geld erpresst. Allerdings schützte die Herausgabe von Geld und
anderen Wertsachen nicht immer vor anschließenden Vergewaltigungen. Die Opfer
wurden dann entweder von der Gruppe getrennt und in (teilweise weiter entfernte)
Gebäude verschleppt, in denen sie dann über einen unbestimmten Zeitraum meist
von mehreren Tätern missbraucht wurden. Teilweise fanden die Vergewaltigungen
aber auch in unmittelbarer Nähe oder direkt vor den Augen der Flüchtenden statt:
He took her onto the asphalt road and raped her right there in front of everyone. Only one Serb raped her. The other Serb hit people with the butt of
his automatic weapon and said, ‘Silence, silence!’ We all averted our eyes. It
took three or four minutes. 69
I saw the women pulled by force into the Serb truck and while they were in
the truck we heard them screaming. [… They] were on the truck for one
hour. The women came off the truck like they were insane, like they had lost
their minds. They could not talk about anything. 70
Ähnliches geschah an Bahnhöfen oder Grenzübergängen, an denen Frauen und
Mädchen „sexuelle Dienste leisten“ mussten, um weiterreisen zu dürfen. 71
Vergewaltigungen in rape camps
Unter Camps sind öffentliche Gebäude oder auch Privatwohnungen zu verstehen,
in denen Gruppen von Frauen und Mädchen, egal welchen Alters 72 , für einen Zeitraum von einigen Tagen bis zu mehreren Monaten festgehalten und immer wieder,
meist von mehreren Männern, vergewaltigt wurden. Hierfür wurden sie einzeln
oder in kleinen Gruppen entweder in abgetrennte Räume geführt oder aber auch vor
den Augen der anderen missbraucht. Teilweise wurden sie zusätzlich gezwungen,
für die Täter zu putzen und zu kochen. „Kaffee kochen“ entwickelte sich in diesem
Zusammenhang zu einem Synonym für sexualisierte Gewalt. 73
Approximately 500 women from Cikatova e Vjeter were kept cleaning houses
and raped by Serbian men […]. Over 300 women and children were taken
into a mosque in Rrahovec municipality, and then two to three women were
removed every hour and raped by the military […]. 74
Kriegsvergewaltigungen als Ursache für Erinnerungskonflikte am Beispiel Kosovo
211
There are reports of women being kept for periods of two to three months; in
one case in western Kosovo a group of eleven women were forced to cook
and clean for military/para-militaries during two months of Serbia’s war
with NATO. In another case a young woman was kept locked in a café for
three months, drugged and continuously raped by Serbian men. 75
Allerdings war nicht nur die permanente Verfügbarkeit von Opfern das Ziel solcher
Camps. Vor allem aus Bosnien-Herzegowina ist bekannt, dass diese Camps auch
dazu dienten, Frauen und Mädchen bewusst zu schwängern und so lange gefangen
zu halten, bis eine Abtreibung nicht mehr möglich war. 76 Hatten die Frauen den
siebten oder höheren Schwangerschaftsmonat erreicht, wurden sie in Bussen zu
ihren Angehörigen oder in ihre Dörfer zurück transportiert, teilweise „mit zynischen Aufschriften über die zu gebärenden Kinder auf den Fahrzeugwänden“. 77
Die offenbar strategisch geplante Etablierung und Nutzung derartiger Camps verweisen laut Seifert auf “a new stage in the escalation of violence against women” 78
und untermauern die These, dass es sich bei diesem Konflikt primär um einen
„Krieg gegen die Zivilgesellschaft” 79 , und hier insbesondere gegen die Frauen handelte.
Gesellschaftliche Folgen
Unabhängig davon, in welchem Kulturkreis eine Vergewaltigung stattfindet, sind
die Folgen für die Opfer multidimensional und in ihrem gesamten Ausmaß nur
schwer zu erfassen. 80 Allgemein festzuhalten sind die nachhaltigen demographischen Folgewirkungen kriegerischer Gewaltexzesse: Nach Kriegsende war ein
Drittel der kosovarischen Gesellschaft unter 15 Jahre alt und das Verhältnis von
Männern und Frauen zwischen 20 und 50 Jahren betrug 86:100. 81
Im Einzelnen sind als Folgen der Kriegsvergewaltigungen erstens die physischen
Verletzungen 82 zu nennen, die zwar nicht zwangsläufig, aber doch sehr häufig festzustellen sind. In diesem Zusammenhang wurde bei Vergewaltigungen in BosnienHerzegowina von medizinischen Helfern beobachtet, dass bei den Opfern der „ersten Vergewaltigungswellen“ deutlich mehr Abwehrverletzungen zu erkennen waren. 83 Im Verlauf der Zeit nahmen diese Male massiv ab, weswegen der berichtende Arzt die These aufstellt, dass es sich unter den Frauen und Mädchen herumgesprochen hätte, dass eine passive Haltung die Überlebenschancen bei diesen Angriffen deutlich erhöhe. 84 Bei den Vergewaltigungsopfern im Kosovo wurden zusätzlich auffallend häufig massive Bisswunden festgestellt. 85 Insgesamt reicht das
Spektrum körperlicher Folgen von wieder verheilenden Wunden über Schwangerschaft und HIV-Infizierung bis hin zu Unfruchtbarkeit und bleibenden Narben und
Verstümmelungen. 86
212
Janna Wolff und Charlotte Bruun Thingholm
Auf der psychischen Ebene 87 ist ein entscheidender Aspekt, dass (Kriegs-)Vergewaltigungen sehr oft mit dem empfundenen Verlust der eigenen Identität bei
den Opfern einhergehen. 88 Diese Wahrnehmung kann nach dem Verbrechen durch
die Reaktionen des sozialen Umfelds, das durch religiöse, kulturelle und gesellschaftliche Normen geprägt ist 89 , noch maßgeblich verstärkt werden 90 : In der kosovo-albanischen Gesellschaft gilt in Friedens- wie in Kriegszeiten eine vergewaltigte Frau als unrein und entwürdigt, und es wird ihr häufig – wie durchaus auch
Vergewaltigungsopfern in westlich geprägten Gesellschaften – ein gewisser Grad
der „Mittäterschaft“ oder „eigene Schuld“ unterstellt. 91 Zusätzlich gilt nicht nur das
Opfer, sondern dessen gesamte Familie als entehrt. 92 Die Konsequenz ist, dass die
Frau von der eigenen Familie (sowie der des Ehemannes) verstoßen wird und der
Ehemann die Scheidung verlangen kann. 93 Sind eheliche Kinder vorhanden, so
verbleiben diese beim Ehemann. In der Folge findet sich die Frau gesellschaftlich
isoliert und ohne sozialen Schutz wieder, weswegen einigen Opfern (und auch Angehörigen) Selbstmord als eine angemessene Lösung erscheint: “[T]hen she would
wash the shame off with her blood, and then the family can restore their dignity”. 94
Neben den ohnehin schon vorhandenen Hemmungen, über das Geschehene zu
sprechen, führen diese zu erwartenden gesellschaftlichen Sanktionen dazu, dass
sich zahlreiche Frauen bemühen, das ihnen Widerfahrene möglichst vollständig zu
verschweigen. 95 Denn selbst wenn dieses Schweigen bzw. die damit verbundenen
Lügen von den Familienmitgliedern durchschaut werden, wenden sie doch zunächst die befürchteten Folgen ab:
She doesn’t dare tell that kind of story. I would ask for a divorce – even if I
had 20 children. [...] I don’t hate her, but the story is before my eyes. I feel
very cold toward her [… ]. 96
Auch wenn es Ausnahmen gibt 97 , so scheint das Schweigen in der kosovoalbanischen Nachkriegsgesellschaft das dominante Verhaltensmuster zu sein, unter
dem übrigens alle Beteiligten leiden: Frauen, Kinder und Männer. 98
Das Verschweigen von Erlebnissen, Ängsten und Unsicherheiten in Kombination
mit der Tatsache, dass Überlebende kriegerischer Auseinandersetzungen grundsätzlich – also unabhängig von einer Vergewaltigung – häufig massiv traumatisiert
sind 99 , führt zwangsläufig zu Spannungen. Verstärkend wirken die Veränderungen
der sozialen Rollen und gesellschaftlichen Strukturen während der Kriegszeit:
Nicht selten blieben Frauen als Hauptverantwortliche für Haushalt und Familie zurück, während sich die Männer vor den Angreifern versteckt halten mussten oder
gefangen und/oder getötet wurden. 100 Nach ihrer Rückkehr beanspruchten die
Männer dann wieder ihre klassische Position innerhalb der Familie, was zu Konflikten führte. Für die Bearbeitung dieser Konflikte griffen die Männer dann teilweise auf die Methoden zurück, die sich während der Kriegssituationen als erfolg-
Kriegsvergewaltigungen als Ursache für Erinnerungskonflikte am Beispiel Kosovo
213
reich erwiesen hatten: “[D]isillusioned men and frustrated soldiers attacked or
threatened their partners with guns, rifles, bombs, or military knives”. 101 Entsprechend kam es zu einem generellen Anstieg häuslicher und auch wieder sexualisierter Gewalt gegen Frauen. 102
Everyone in Mitrovica is more nervous. I am more nervous. I am more aggressive. There is no war but we do not have peace. 103
Zusammenfassend sind hinsichtlich der Spuren der Kriegsvergewaltigungen innerhalb des kollektiven Gedächtnisses auf dem Gebiet des Kosovo mindestens zwei
unterschiedliche Konfliktlinien zu erkennen: erstens zwischen Tätern und Opfern,
d.h. zwischen den unterschiedlichen ethnischen Gruppen. Zweitens aber auch innerhalb der ethnischen Gruppe der Kosovaren in den Familien- und Geschlechterbeziehungen zwischen Männern und Frauen. Diese Konflikte werden durch den
Staat nicht notwendigerweise vermittelt oder gelöst. Denn auch die staatlichen Institutionen sind durch die langjährige Diskriminierung der Kosovo-Albaner/innen
geprägt und ein Rechtstaat ist faktisch (noch) nicht existent. 104
Welche Möglichkeiten zur Verfügung stehen, dieses Konfliktpotenzial aufzulösen
bzw. zu reduzieren, welche davon genutzt werden können und inwieweit die Internationale Gemeinschaft hier bislang unterstützend tätig wurde, wird im folgenden
Abschnitt erörtert.
6. Umgang mit Erinnerungen
In einer unmittelbaren Post-Gewalt-Situation 105 wie zum Beispiel im Kosovo sind
die Erinnerungen an die verschiedensten, teilweise aneinander begangenen Verbrechen, Ungerechtigkeiten und Leiden noch frisch – und selten einheitlich. Es stellt
sich die Frage, wie mit der konflikthaften, gewalttätigen Vergangenheit sowie mit
den Tätern und Opfern umgegangen werden soll, damit sich friedliche, innergesellschaftliche Beziehungen neu entwickeln können. Werden die gegebenen Konflikte
nicht aufgearbeitet, führen sie früher oder später zwangsläufig zu neuerlichen Gewaltausbrüchen 106 und bilden somit einen ernsten Destabilisierungsfaktor für die
noch neuen politischen Folgesysteme. 107
Für diesen Prozess der Wiederannäherung, der gemeinsamen Aufarbeitung von
Konflikten und der gegenseitigen Anerkennung von Leid wird in der Wissenschaft
der Begriff reconciliation gebraucht. 108 Die präzise Definition dessen, was hierunter zu verstehen ist, stellt die wissenschaftliche Gemeinde zurzeit noch vor große
Herausforderungen. 109 Eine eindeutige Tendenz ist jedoch dahingehend festzustellen, reconciliation als einen Prozess und nicht als ein Ergebnis zu betrachten. 110 Im
Gegensatz zu den reaktiven Aktivitäten, die erfolgen, um Gewalt zu beenden, gilt
reconciliation diesem Verständnis nach als ein proaktiver Prozess 111 , “through
214
Janna Wolff und Charlotte Bruun Thingholm
which a society moves from a devided past to a shared future”. 112 Bloomfield weist
weiter darauf hin, dass es sich bei erfolgreicher reconciliation nicht nur um einen
sehr langwierigen Prozess handelt 113 , sondern um einen, der die gesamte betroffene
Gesellschaft berühren sollte. 114 Er umfasst also zahlreiche Aspekte und mögliche
Ansatzpunkte, die von dem Suchen, Erzählen und Anerkennen der Wahrheit (truth
telling) über öffentliche Entschuldigungen, verschiedene Formen des Täter-OpferAusgleichs, Reparationszahlungen bis hin zu staatlich institutionalisierter Rechtsprechung reichen.
In diesem Zusammenhang ist eines der unserer Auffassung nach zentralen Elemente, das es wieder zu etablieren gilt, Vertrauen. Vertrauen auf der zwischenmenschlichen Ebene bezieht sich sowohl auf die Beziehungen zwischen Familienmitgliedern als auch auf die Beziehungen zwischen den verschiedenen Ethnien, die weiterhin, wenn auch in deutlich verändertem Verhältnis, auf dem jeweiligen Gebiet
zusammenleben. Aber auch auf der institutionellen Ebene muss Vertrauen neu aufgebaut werden, das heißt zwischen dem Staat und seinen Bürgern bzw. Bürgerinnen. 115
Übertragen auf die Kriegsvergewaltigungen im Kosovo und deren Aufarbeitung
bedeutet dies, dass einerseits die Opfer von ihren Familien und ihrem Umfeld als
solche anerkannt werden müssen. Dies vollzieht sich primär auf der informellen
gesellschaftlichen Ebene. Andererseits spielt dabei aber auch das Vertrauen in
staatliche Institutionen eine entscheidende Rolle, etwa dass diese garantieren, dass
es zu keiner institutionellen Ungleichbehandlung aufgrund ethnischer oder geschlechtlicher Zugehörigkeiten kommt.
Möglichkeiten der Vertrauensbildung im Zusammenhang mit der Aufarbeitung von
Erinnerungen und Erinnerungskonflikten im Kosovo und mögliche Anknüpfungspunkte für die Internationale Gemeinschaft bieten insbesondere zwei der von
Bloomfield et al. identifizierten Mechanismen 116 von reconciliation, deren Wirksamkeit im Kontext des Kosovo im Folgenden näher betrachtet werden soll: Heilen
psychischer Wunden (healing) und Gerechtigkeit durch Rechtsprechung (justice).
Healing
„Heilen” wird hier definiert als “any strategy, process or activity that improves the
psychological health of individuals”. 117 Für den Erfolg dieser Heilungsprozesse
sind dabei drei Aspekte relevant: (1) die Kenntnis des jeweiligen Kontextes, (2) die
Einbeziehung lokaler Ressourcen und (3) die Verknüpfung von Heilungsprozessen
mit generellen Wiederaufbaumaßnahmen. 118
Die lokalen Frauenorganisationen, die unmittelbar um die Zeit der kriegerischen
Auseinandersetzungen entstanden und sich, teilweise mit unterschiedlichen
Schwerpunkten 119 , explizit der Unterstützung der psychologischen aber auch phy-
Kriegsvergewaltigungen als Ursache für Erinnerungskonflikte am Beispiel Kosovo
215
sischen Heilungsprozesse widmeten, erfüllten relativ ‚natürlich’ die ersten beiden
dieser Anforderungen. Bei ihren Arbeiten steht vor allem im Mittelpunkt, dass die
Überlebenden respektiert und ihre Erinnerungen geglaubt werden. 120
Für die internationalen Organisationen (EU, UN, internationale NGOs), die relativ
zeitnah nach dem Ende des militärischen NATO-Einsatzes in das Gebiet des Kosovo kamen, galt dieser Automatismus nicht. Bedauerlicher- und auch erstaunlicherweise wurde die Berücksichtigung dieser Aspekte, sprich die Erlangung genauerer
Kenntnisse des lokalen Kontextes sowie die Einbeziehung lokaler Ressourcen, von
der Mehrheit der Internationals scheinbar gar nicht angestrebt. 121 Auch eine Verbindung individueller Hilfsprojekte mit den generellen Wiederaufbaumaßnahmen
ist nicht erkennbar. Die Gründe hierfür sind wieder vielschichtig: Ein Punkt ist,
dass es dem VN- wie auch dem EU-Personal größtenteils an einschlägigen Erfahrungen im Umgang mit den Herausforderungen eines gesellschaftlich wie institutionell derartig zerstörten „Nachkriegsschauplatzes“ mangelte. 122 Allerdings spielen
auch strukturelle Gegebenheiten eine Rolle: Einerseits ist aufgrund der zeitlich stets
sehr begrenzten Einsatzzeit die Motivation des internationalen Personals, sich mit
dem jeweiligen lokalen Kontext intensiv auseinanderzusetzen, relativ gering. 123
Andererseits waren die Zusammensetzung und die Arbeitweise der Internationals
deutlich männlich dominiert.
Für den weiblichen Teil der kosovarischen Gesellschaft bedeutete dies, dass das
Potential von Frauen, die nach den Auseinandersetzungen auf der politischen und
auch gesellschaftlichen Ebene präsent waren 124 , weder genutzt noch berücksichtigt
wurde. 125 Als Folge dessen wurden offizielle Entscheidungen über die weiblichen
Bedürfnisse getroffen, d.h. “about what women need (or do not need) without any
reference to women themselves”. 126 Auch in der 17-köpfigen Übergangsregierung,
deren Mitglieder vom damaligen Sonderbeauftragten des Generalsekretärs der VNMission im Kosovo, Bernard Kouchner, ernannt wurden, befand sich keine einzige
Frau.
Auf diese Missstände hingewiesen, lautete eine Erklärung, dass die Situation im
Kosovo bereits kompliziert genug sei, “[…] ‘without having to think about representation of women as well’, and that women in leadership post conflict Kosovo
society would be ‘alien to local culture and tradition’”. 127 Obwohl zu einem gewissen Grad nachvollziehbar, belegen diese Aussagen deutliche Defizite in Bezug auf
die beiden oben eingeführten Voraussetzungen für healing: ein tieferes Verständnis
des aktuellen lokalen Kontextes sowie die Nutzung vorhandener Ressourcen, in
diesem Fall das Potential der Frauen.
Auch die Umsetzung der dritten Bedingung, einer Verknüpfung von Heilungsprozessen mit Wiederaufbaumaßnahmen, zum Beispiel durch die Unterstützung loka-
216
Janna Wolff und Charlotte Bruun Thingholm
ler NGOs durch die Internationals, verlief suboptimal. Zwar bemühte sich die Internationale Gemeinschaft, aus ihren diesbezüglichen Erfahrungen in BosnienHerzegowina Lehren für das Kosovo zu ziehen, und etablierte zur besseren finanziellen Unterstützung u.a der lokalen Frauenorganisationen eine DachOrganisation. Allerdings wurde auch hier der spezielle lokale Kontext nicht ausreichend berücksichtigt, was sich negativ auf die Effektivität auswirkte. 128
Die Erfahrungen, die kosovarische Frauen auf institutioneller Ebene mit der Internationalen Gemeinschaft machten, fasst Igbal Rugova, die Leiterin einer Dachorganisation (Motrat Qiriazi) für mehrere Frauen-Netzwerke wie folgt zusammen:
“The international community has marginalised us women in a way we never had
been before. We have never felt as pushed aside as we feel now”. 129 Eine Einschätzung, die vermutlich eher einen konfliktfördernden als konfliktaufarbeitenden Eindruck hinterlässt.
Eine diesbezüglich herausragende Ausnahme und ein Musterbeispiel des Zusammenspiels von internationalen Helfer/innen und lokalen Frauen bildet Medica
Mondiale 130 , eine deutsche Organisation, die inzwischen außer in BosnienHerzegowina, Kosovo und Albanien auch in Afghanistan und im Irak tätig ist und
die inzwischen ihre Einrichtungen in Bosnien (Medica Zenica) und im Kosovo
(Medica Kosova) in die lokale Eigenständigkeit übergeben hat. Die Arbeit war dabei von Beginn an „prinzipiell so angelegt, dass sie mittel- und langfristig von lokalen Projektpartnerinnen übernommen und eigenständig weitergeführt werden
kann“. 131
Justice
Heilen und Gerechtigkeit sind laut Bloomfield zwei zentrale Aspekte, die notwendig eng verknüpft sein müssen, weil sie jeweils für sich genommen für einen erfolgreichen reconciliation-Prozess nicht ausreichen: “[J]ustice is a vital requirement for healing wounds, making offenders accountable […]. But justice alone
does not produce full reconciliation”. 132
Dabei ist Gerechtigkeit ebenfalls ein mehrdimensionaler Prozess, der hier nicht in
Gänze diskutiert werden kann. Der Fokus bezieht sich im Folgenden vielmehr auf
Gerechtigkeit durch Rechtsprechung, verstanden als ein institutionalisierter, juristischer Mechanismus für einen erfolgreichen reconciliation-Prozess, nämlich begangenes Unrecht zu erkennen, anzuklagen und zu verurteilen: “Forgiveness that leaves perpetrators in their places of power and influence […] is not forgiveness; it is
impunity”. 133 Es versteht sich von selbst, dass reconciliation-Prozesse auch in dieser Form nicht ‚verordnet’ werden können: “[P]unishing each and every event is
clearly impossible in most situations”. 134
Kriegsvergewaltigungen als Ursache für Erinnerungskonflikte am Beispiel Kosovo
217
Staatliche Rechtsprechung kann auf mehreren Ebenen einen Beitrag zur Aufarbeitung von Erinnerungskonflikten leisten. Ein wichtiger Ansatzpunkt ist dabei, dass
Täter und Opfer in erster Linie als Individuen wahrgenommen werden und nicht als
Repräsentanten einer Ethnie. Des Weiteren bekommen sowohl die Angeklagten als
auch die Anklagenden vor einem ordentlichen Gericht die Möglichkeit, jeweils ihre
Version der Geschehnisse zu erzählen. Die Anerkennung von – in diesem Fall –
Überlebenden von Kriegsvergewaltigungen als Opfern vor Gericht steht außerdem
in einer positiven Wechselwirkung mit der gesellschaftlichen Wertschätzung dieser
Frauen und kann auch hier einen Beitrag zur gemeinsamen Aufarbeitung und
Wahrnehmung von Erinnerungskonflikten leisten.
Damit die rechtsstaatlichen Optionen genutzt werden können, bedarf es mehrerer
Vorbedingungen: Zum einen sollte die juristische Aufarbeitung relativ zeitnah beginnen, da sich Erinnerungen mit der Zeit wandeln können. Darüber hinaus sinkt in
dem Bestreben, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, auch die Bereitschaft als
Zeugin auszusagen. 135 Zum anderen müssen die entsprechenden rechtsstaatlichen
Institutionen überhaupt existieren. Dies war jedoch Ende 1999 auf dem Gebiet des
Kosovo nicht der Fall. 136 Der von den Vereinten Nationen zügig angestrebte (Wieder-)Aufbau entsprechender Institutionen erwies sich aus verschiedenen Gründen
als sehr herausfordernd. Ein zentraler Grund war (und ist) der unklare Status des
Kosovo. Wegen der diesbezüglich unterschiedlichen Auffassungen haben bislang
weder die Vereinten Nationen noch die Europäische Union das Kosovo als unabhängigen Staat anerkannt.137 Darüber hinaus ist auch innerhalb des Kosovo umstritten, welches Recht zugrunde gelegt werden soll. Entsprechend schwierig gestaltet
sich unter diesen Umständen der Aufbau von Recht und Rechtstaatlichkeit. 138 Doch
waren es nicht nur diese Uneinigkeiten, die den Aufbau verzögern. So scheiterte
zum Beispiel das Bemühen der Vereinten Nationen, ein System zu errichten, das
die ethnische Zusammensetzung des Kosovo widerspiegelt 139 , zunächst an den unzureichenden lokalen personellen Ressourcen. 140 Nicht zuletzt kam noch die materielle Knappheit insofern hinzu, als zum Beispiel nicht ausreichend Gefängnisse zur
Verfügung standen. 141 In einer solchen Situation droht ein „Rechtsvakuum“ 142 , das
sich negativ auf den weiteren Verlauf einer internationalen Mission auswirken
kann: Unabhängig von den jeweiligen Gründen führt eine von der Bevölkerung
wahrgenommene Handlungsunfähigkeit der Internationals zu einem erheblichen
Vertrauensverlust. 143
Angesichts einer derartigen Situation stellt sich die Frage, welche Möglichkeiten
den Internationals zur Verfügung stehen, um dem Vertrauensverlust der Bevölkerung zu begegnen und darüber hinaus einen Beitrag zum reconciliation-Prozess zu
leisten.
218
Janna Wolff und Charlotte Bruun Thingholm
Für die Internationalen Strafgerichtshöfe gilt zunächst, “[that] there is little empirical evidence that international tribunals have actually diffused social and political
tensions and led to reconciliation”. 144 Ihre Aufgabe liegt eindeutig in der konkreten
Strafverfolgung und Anklage. Dies ist zwar, wie weiter oben erläutert, bereits ein
wertvolles Signal, dass Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit tatsächlich bestraft werden sollen. Allerdings werden hierbei lokale Akteure nur sehr
begrenzt einbezogen 145 und für die Betroffenen bleibt es ein Prozess außerhalb des
eigenen Landes und der eigenen Gesellschaft.
Auf der nationalen Ebene sind sowohl das Zusammenspiel von internationalen und
lokalen Akteuren als auch der ausdrückliche Wille aller Beteiligten, derartige
Verbrechen zu verfolgen, von entscheidender Bedeutung. Beide Bedingungen waren nach dem Ende der kriegerischen Auseinandersetzungen im Kosovo nicht sehr
ausgeprägt. 146 Lokale Akteure wurden einerseits nur sehr begrenzt beim Aufbau
des neuen Systems berücksichtigt und nicht hinreichend ausgebildet. Andererseits
zeigten sich auch die Kosovo-Albaner äußerst skeptisch gegenüber den Absichten
der Internationals, sodass deren Einbeziehung den Aufbau von Vertrauen in die
neuen Institutionen eher beeinträchtigte als förderte. 147
Um die genannten Defizite auf beiden Ebenen zumindest teilweise zu beheben,
wurden in Ländern, in denen massive Verstöße gegen das Humanitäre Völkerrecht
begangen worden waren, so genannte hybrid courts (gemischt-internationale Strafgerichte) errichtet. 148 Kennzeichnend für diese „zweite Generation internationaler
Strafgerichtsbarkeit“ ist, „dass sowohl lokale Richter als auch Richter aus anderen
Ländern im Begehungsland Recht sprechen“. 149
Im Kosovo wurden im Jahr 2000 hybride Gerichte durch die UNMIK Regulation
2000/64 ins Leben gerufen, um den ICTY bei der Fülle der zu bearbeitenden Fälle
zu unterstützen. 150 Sie setzen sich aus drei Richtern zusammen (zwei internationalen und einem lokalen) und sind vor allem für die Bearbeitung von Kriegsverbrechen inklusive Völkermord zuständig. Bis 2009 wurden über zwei Dutzend Fälle
über diese so genannten 64-Panels abgewickelt. Zwar sind die positiven Effekte
auf die nationale Vertrauensbildung noch nicht belegt, allerdings scheint sich ein
leicht positiver Trend abzuzeichnen. 151 Da die Zusammensetzung dieser zeitlich
begrenzten Gerichte von Anfang an transnational konzipiert wurde und die ausdrückliche Bereitschaft zur Zusammenarbeit eine zentrale Bedingung ist, ist die
Abneigung gegen Vertreter der Internationals hier deutlich geringer als in den
permanenten lokalen Gerichten. Ein weiterer Vorteil der hybriden Gerichte ist, dass
sie in dem Land angesiedelt sind, in dem die Verbrechen begangen wurden, wodurch der Zugang für Zeugen und zu Tatorten erheblich erleichtert wird.
Kriegsvergewaltigungen als Ursache für Erinnerungskonflikte am Beispiel Kosovo
219
Zwar mangelt es momentan noch an gesicherten empirischen Untersuchungen, aber
es lässt sich vermuten, dass die hybrid courts einen positiven Effekt auf reconciliation-Prozesse haben können. 152
7. Ausblick
Es war eine Absicht des vorliegenden Beitrags, am Beispiel des Kosovo neuere
Entwicklungen und Formen des Umgangs mit Kriegsvergewaltigungen nachzuzeichnen. Ein weiteres Ziel war es, einen Zusammenhang von Kriegsvergewaltigungen mit gesellschaftlichen Erinnerungskonflikten herzustellen, um Ansatzpunkte für Möglichkeiten der Aufarbeitung und Versöhnung aufzuzeigen und zu erörtern, inwieweit diese auch seitens der Internationalen Gemeinschaft unterstützt und
gefördert werden können.
Es hat sich gezeigt, dass eine umfassende Analyse zu diesem Zeitpunkt noch nicht
möglich ist. Die Gründe hierfür liegen primär in noch fehlenden, einschlägigen
empirischen Untersuchungen. Die systematische Aufarbeitung und Bewertung wird
durch sprachliche Barrieren ebenso erschwert wie durch die Tatsache, dass über
(Kriegs-)Vergewaltigungen immer noch nicht offen geredet wird bzw. werden
kann. Ein Forschungsdesiderat wäre insbesondere eine Analyse der gesellschaftlichen Rückwirkungen der straf- und menschenrechtlichen Prozesse auf die kollektiven – ethnischen und geschlechtsspezifischen – Erinnerungen der Konfliktparteien.
Eine solche wäre zurzeit aufgrund der vergleichsweise kurzen Dauer der Tribunale
zwar noch eingeschränkt, aber längerfristig durchaus möglich und aufschlussreich.
Des Weiteren sollte nicht unerwähnt bleiben, dass durch den hier gewählten Fokus
auf sexualisierte Gewalt gegenüber Frauen und Mädchen andere Problembereiche
ausgeblendet wurden, die durchaus in denselben forschungsrelevanten Kontext einzuordnen sind: Hierunter fallen einerseits die sexualisierten Verbrechen an Männern und Jungen. 153 Andererseits fehlt aber auch noch ein analytischer Blick auf
die Täter und welche Auswirkungen ihre Taten auf ihr weiteres Leben haben bzw.
wie sie in reconciliation-Prozesse eingebunden werden (können).
1
Major General Patrick Cammaert, ehemaliger UN Peacekeeping Commander (zitiert in PLoS
Medicine (Hg.) 2009, Rape in war is common, devastating, and too often ignored, PLoS Med 6
(1), www.plosmedicine.org/article/info:doi/10.1371/journal.pmed.1000021 (letzter Zugriff: 3.4.2010,
hier S. 1.
2
„Neue Kriege“ zeichnen sich vor allem „dadurch aus, dass die Grenzen zwischen Krieg, organisiertem Verbrechen und massiven Menschenrechtsverletzungen verschwimmen“; G. Mischkowski,
Sexualisierte Gewalt im Krieg. Eine Chronik, in: Medica Mondiale / K. Griese, K. (Hg.),
Sexualisierte Kriegsgewalt und ihre Folgen, Frankfurt am Main 2006a, S. 15-55, hier S. 29f; M.
Kaldor, M, Neue und alte Kriege, Frankfurt am Main 2000; siehe auch Medica Mondiale 2009,
www.medicamondiale.org/ueber-uns/unsere-arbeitsweise (letzter Zugriff: 3.4.2010).
220
3
Janna Wolff und Charlotte Bruun Thingholm
R. Seifert, The Second Front. The Logic of Sexual Violence in Wars, in: Women’s Studies
International Forum, Vol. 19/1-2, S. 35-43, hier S. 41.
4
Einen Überblick über die Entwicklung allein im deutschsprachigen Raum bietet Chr. Künzel
(Hg.), Unzucht – Notzucht – Vergewaltigung: Definitionen und Deutungen sexueller Gewalt von
der Aufklärung bis heute, Campus Verlag, 2003.
5
Der Internationale Strafgerichtshof, Elements of Crime, ICC-ASP/1/3 (part II-B), Crime against
humanity of rape.
6
S. Brownmiller, Against our will: Men, women, and rape, New York 1975.
7
Mischkowski 2006a, Op. cit.
8
R. Seifert, Krieg und Vergewaltigung. Ansätze zu einer Analyse, in: A. Stiglmayer, (Hg.)
Massenvergewaltigung. Krieg gegen die Frauen, Freiburg 1993, S. 85-108, hier S. 86f.
9
D. Milillo, Rape as a Tactic of War. Social and Psychological Perspectives, in: Journal of
Women and Social Work, Vol. 21/2, 2006, S. 196-205, hier S. 198.
10
B. Diken, C. Laustsen (Hg.), Becoming Abject: Rape as a Weapon of War, in: Body & Society,
Vol. 11/1, 2005, S. 111-128, hier S. 118.
11
Mischkowski 2006a, Op. cit., S. 18ff.
12
Ebd.; Seifert 1993, Op. cit.
13
Diese „Verfügbarkeit“ entsteht häufig ebenfalls durch Androhung von Gewalt („Zwangsprostitution“).
14
Mischkowski 2006a, Op. cit., S. 23, Seifert 1993, Op. cit., S. 91.
15
So liegen zum Beispiel kaum Berichte über Vergewaltigungen durch die Briten im Zweiten
Weltkrieg (Mischkowski 2006a, S. 26) oder durch die Vietcong im Vietnamkrieg vor. Während
Seifert für letzteren Fall den buddhistischen Hintergrund als eine Erklärungsmöglichkeit vermutet
(Seifert 1993, S. 100), fehlen für ersteren bislang Erklärungsansätze. Grundsätzlich unterscheidet
Seifert „vergewaltigungsarme“ und „vergewaltigungslastige“ Gesellschaften. In den erstgenannten
besitzen entweder die Männer eine gesicherte Vormachtsstellung oder aber die Frauen einen „respektablen Status“. Zu den vergewaltigungslastigen Gesellschaften zählt Seifert „nahezu alle modernen Gesellschaften“ (ebd., S. 88ff).
16
R. Harris, The ‘Child of the Barbarian’: Rape, Race and Nationalism in France during the First
World War, in: Past and Present – a Journal of Historical Studies, Vol. 11, S. 170-206, hier S.
191f.
17
K. Poutrus, Ein fixiertes Trauma – Massenvergewaltigungen bei Kriegsende in Berlin, in: Feministische Studien Vol. 2, Weinheim 1995, S. 120-129, hier S. 124.
18
Mischkowski 2006a, Op. cit.
19
Ebd., S. 37.
20
U.a. Milillo 2006, Op. cit., S. 201.
21
Mischkowski 2006a, Op. cit., S. 42.
22
Ebd., S. 37; E. J. Wood, Variation in Sexual Violence during War, in: Politics & Society, Vol.
34/3, 2006, S. 307-341, hier S. 316.
23
Mischkowski 2006a, Op. cit.
24
Ebd., S. 16.
25
In den letzten Jahren wurden Massenvergewaltigungen registriert für Bangladesh, BosnienHerzegowina (ca. 60.000 Opfer), Burma, DR Kongo (ca. 500.000 Opfer seit 1991), Liberia, Ruanda (ca. 500.000 Opfer 1994), Osttimor, Sierra Leone und Somalia (PLoS 2009, Op. cit., Wood
2006).
26
R. Lehr-Lehnardt, One Small Step for Women: Female-Friendly Provisions in the Rome Statute
of the ICC, in: Brigham Young University Journal of Public Law, S. 317-340, hier S. 317.
27
A. Förster, Vergewaltigung im Krieg und seine Strafverfolgung durch den internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, 2005, www.sicetnon.org/content/soz/foerster_vergewaltigung_im_krieg.pdf (letzter Zugriff: 3.4.2010), hier S. 3; G. Mischkowski, Sexualisierte Kriegsgewalt –
Strafverfolgung und Wahrheitsfindung, in: Medica Mondiale, K. Griese (Hg.), Sexualisierte
Kriegsgewalt und ihre Folgen, Frankfurt am Main, 2006b, S. 95-114, hier S. 97.
Kriegsvergewaltigungen als Ursache für Erinnerungskonflikte am Beispiel Kosovo
28
221
N. Farwell, War Rape: New Conceptualizations and Responses, in: AFFILIA, Vol. 19, 2004, S.
389-403. A. Phelps, Gender-based War Crimes: Incidence and Effectiveness of International
Criminal Prosecution, in: William and Mary Journal of Women and the Law, Winter 2006, S. 499512.
29
Farwell 2004, Op. cit.; Phelps 2006, Op. cit.
30
Ebd., S. 514.
31
Weitere Informationen unter http://www.un.org/rights/dpi1772e.htm (letzter Zugriff am
3.4.2010), hier S. 3.
32
Das Römische Statut zur Errichtung des ICC wurde 1998 in Rom verabschiedet und bislang von
111 Staaten ratifiziert (Stand März 2010, http://www.icc-cpi.int/Menus/ASP/states+parties). Nicht
unterschrieben haben u.a. China, Indien, Israel, die Türkei, Russland, Pakistan und die USA.
33
Dokument A/CONF.183/9, download unter: www.icc-cpi.int/Menus/ICC/Legal+Texts+and+Tools (letzter Zugriff: 3.4.2010).
34
Weitere Informationen unter http://www.ictr.org/ENGLISH/cases/Akayesu/index.htm (letzter
Zugriff: 3.4.2010).
35
Farwell 2004, Op. cit., S. 391; Phelps 2006, Op. cit., S. 511.
36
Nach der bosnischen Stadt Foca benannt, weitere Informationen unter http://www.icty.org/sid/10166 (letzter Zugriff am 3.4.2010).
37
Förster 2005, Op. cit., S. 5f; Medica Mondiale, Damit die Welt es erfährt. Sexualisierte Gewalt
im Krieg vor Gericht. Der Foca-Prozess vor dem Internationalen Kriegstribunal zum ehemaligen
Jugoslawien, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Bonn 2002.
38
Weitere Informationen unter http://www.icty.org/x/cases/kunarac/cis/en/cis_kunarac_al_en.pdf
(letzter Zugriff: 3.4.2010).
39
Weitere Informationen unter http://www.icty.org/sid/7654 (letzter Zugriff: 3.4.2010).
40
Förster 2005, Op. cit., S. 7.
41
Förster 2005, Op. cit., 3; C. Zirpins, Vergewaltigung. Analyse eines Kriegsverbrechens, 1997,
www.uni-muenster.de/PeaCon/wuf/wf-97/9720307m.htm (letzter Zugriff: 3.4.2010).
42
C. Cochran, Transitional Justice: Responding to Victims of Wartime Sexual Violence in Africa,
in: Journal of International Policy Solutions, Vol. 9, 2008, S. 33-39, hier S. 35.
43
U.a. Farwell 2004, Op. cit., S. 393.
44
Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass besonders während des militärischen NATOEinsatzes auch Vergewaltigungsfälle von Serbinnen, Roma und Albanerinnen durch Albaner und
Mitglieder der UÇK registriert wurden (HRW – Human Rights Watch 2000: Federal Republic of
Yugoslavia. Kosovo: Rape as a Weapon of ‘Ethnic Cleansing’, www.hrw.org/legacy/reports/2000/fry/index.htm (letzter Zugriff: 3.4.2010), hier S. 4, für Bosnien-Herzegowina: A.
Stiglmayer, Vergewaltigung in Bosnien-Herzegowina, in: dies. (Hg.), Massenvergewaltigung.
Krieg gegen die Frauen, Freiburg 1993b, S. 113-218). Allerdings wurde hier kein strategisches,
organisiertes Vorgehen festgestellt.
45
V. Kesic, Muslim Women, Croatian Women, Serbian Women, Albanian Women, in Eurozine,
2003, http://www.eurozine.com/pdf/2003-05-09-kesic-en.pdf (letzter Zugriff: 3.4.2010), hier S. 4.
46
Ahmeti, zitiert in HRW 2000, Op. cit., S. 9.
47
U.a. Seifert 1993, Op. cit.
48
Vergewaltigungsopfer, zitiert in HRW 2000, S. 8.
49
U.a. Wood 2006, Op. cit.
50
H. Wullweber, Vergewaltigung als Waffe und das Kriegsvölkerrecht, in: Kritische Justiz, Nr.
26/2, 1993, S. 179-193.
51
Milillo 2006, Op. cit.; HRW 2000, Op. cit.
52
Art. 1 des „Übereinkommen vom 10. Dezember 1984 gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe“ der Generalversammlung der Vereinten
Nationen (deutsche Fassung unter http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Aussenpolitik/Themen/Menschenrechte/Download/_C3_9CbereinkommenGegenFolter.pdf, letzter Zugriff am
3.4.2010).
222
53
Janna Wolff und Charlotte Bruun Thingholm
D. Baro, Children witnessing atrocities against parents or caregivers, a human rights perspective,
in: Torture, Vol. 16/3, 2006, S. 190-210; Zirpins 1997, Op. cit., S. 5.
54
Statut des IStG, Art. 6.
55
Ebd.
56
U.a. Farwell 2004, Op. cit.; Seifert 1993, Op. cit.
57
U.a. Farwell 2004, Op. cit., S. 394f.
58
U.a. Diken, Laustsen 2005, Op. cit., S. 115.
59
Stiglmayer 1994, Op. cit., S. 131ff.
60
Farwell 2004, Op. cit., S. 395.
61
Kesic 2003, Op. cit., S. 3; J. Weise, Rape as a strategy of war: The sexual Assault of Kosovar
Albanian
Women
in
1999,
2002,
http://mailer.fsu.edu/~whmoore/garnetwhmoore/JillianWeise.pdf (letzter Zugriff: 3.4.2010), hier S. 11ff.
62
Farwell 2004, S. 396.
63
Einen eindringlichen Überblick über die entsprechenden Geschehnisse in Bosnien-Herzegowina
liefert u.a. Stiglmayer 1993b.
64
Ein umfassender, chronologischer Überblick über die Ursachen und den Verlauf dieser Auseinandersetzungen siehe u.a. Kramer, Džihić 2006, Op. cit.; W. Petritsch, R. Pichler, KosovoKosova. Der lange Weg zum Frieden, Klagenfurt/Celovec 2005; A. Stiglmayer, Der Krieg im
ehemaligen Jugoslawien, in: dies. (Hg.), Massenvergewaltigung. Krieg gegen die Frauen, Freiburg
1993a, S. 19-55.
65
Human Rights Watch dokumentiert Fälle, an denen bis zu zehn Männer gleichzeitig beteiligt
waren. HRW 2000, Op. cit.
66
Milillo 2006, Op. cit., S. 197; R. Wareham, No Safe Place: An Assessment on Violence against
Women in Kosovo, The United Nations Development Fund for Women, 2000, http://www.unifem.org/materials/item_detail.php?ProductID=74 (letzter Zugriff: 3.4.2010), S. 63f.
67
Zeugenbericht, zitiert in HRW 2000, Op. cit., S. 11.
68
HRW 2000, Op. cit.; Kesic 2003, Op. cit.
69
Zeugenbericht, zitiert in HRW 2000, Op. cit., S. 13.
70
Zeugenbericht, zitiert ebd., S. 12.
71
HRW 2000, Op. cit.
72
Dokumentiert sind Fälle von unter zehnjährigen Mädchen bis zu über 70jährigen Frauen (HRW
2000, Stiglmayer 1993b).
73
HRW 2000, Op. cit., S. 11.
74
Zeugenbericht, zitiert in Wareham 2000, Op. cit., 62.
75
Zeugenbericht, zitiert ebd., S. 64.
76
Diken, Laustsen 2005, Op. cit., S. 112; Stiglmayer 1994, Op. cit.
77
Seifert 1993, Op. cit., S. 92.
78
Seifert 1996, Op. cit., S. 35.
79
Stiglmayer 1993a, Op. cit., S. 16.
80
Ingeborg Joachim, Sexualisierte Kriegsgewalt und ihre Folgen, in: Medica Mondiale, K. Griese
(Hg.), Sexualisierte Kriegsgewalt und ihre Folgen, Frankfurt am Main, S. 56-93, hier S. 56.
81
J. M. Baker, H. Haug, Final Report: Independent Evaluation of the Kosovo Women’s Initiative,
UNHCR, Genf 2002, www.unifem.undp.org (letzter Zugriff: 3.4.2010), hier S. iv.
82
Einen deutlich detaillierteren Überblick liefert Joachim 2006: 64ff.
83
Stiglmayer 1993b, Op. cit.
84
Ebd.
85
HRW 2000, Op. cit., S. 10.
86
U.a. Farwell 2004, Op. cit., S. 398.
87
Auch hier siehe für eine umfassende Darstellung Joachim 2006: 67ff.
88
Joachim 2006, Op. cit., S. 58; Seifert 1993, Op. cit., S. 8.
89
Vgl. Joachim 2006, Op. cit., S. 58.
Kriegsvergewaltigungen als Ursache für Erinnerungskonflikte am Beispiel Kosovo
90
223
Einschlägige Analysen zu Geschlechtskonstruktionen im Zusammenhang mit Gewaltdynamiken
liefern C. Eifler, R. Seifert (Hg.), Gender Dynamics and Post-Conflict Reconstruction, Frankfurt
am Main 2009.
91
U.a. Milillo 2006, Op. cit., S. 199.
92
Ebd.
93
Weise 2002, Op. cit.
94
Vergewaltigungsopfer, zitiert in Weise 2002, Op. cit., S. 4f.
95
U.a. Seifert 1996, Op. cit..
96
Ehemann eines Vergewaltigungsopfers, zitiert in Weise 2002, Op. cit., S. 4.
97
Vgl. u.a. Kesic 2003, Op. cit.
98
Zirpins 1997, Op. cit., S. 5; I. Rizvanolli, L. Bean, N. Farnsworth, Kosovar Civil Society Report
to the United Nations On Violence against Women in Kosovo, 2005, http://www.stopvaw.org/Kosovo2.html (letzter Zugriff: 3.4.2010), hier S. 3.
99
Explizit für Kosovo: B. Lopes Cardozo, R. Kaiser, C. A. Gotway, F. Agani, Mental Health, Social Functioning, and Feelings of Hatred and Revenge of Kosovar Albanians one Year after the
War in Kosovo, in: Journal of Traumatic Stress, Vol. 16,/4, 2003, S. 351-360.
100
Baker, Haug 2002, Op. cit.
101
Kesic 2003, Op. cit., S. 2.
102
Farwell 2004, Op. cit., S. 394; Joachim 2006, Op. cit., S. 61; und Rizvanolli et al. 2005, Op.
cit., S. 1.
103
Frauenaktivistin, zitiert in Wareham 2000, Op. cit., S. 41.
104
J.-M. Arraiza, M. Moratti, Getting the Property Question Right: Legal Policy Dilemmas in
Post-Conflict Property Restitution in Kosovo (1999-2009), in: International Journal of Refugee
Law, Vol. 21/3, 2009, S. 421-452, hier S. 427; HRW 2000, Op. cit., S. 26.
105
Post-Gewalt bezieht sich auf den Umstand, dass nach einer kriegerischen Auseinandersetzung
die Gewalt zwar weitgehend eingedämmt ist, der Konflikt jedoch häufig noch nicht gelöst ist (D.
Bloomfield, On Good Terms: Clarifying Reconciliation, Berghof Report No. 14, 2006; J. P. Lederach, The Moral Imagination, Oxford University Press 2005).
106
David Bloomfield, Teresa Barnes, Luc Huyse (Hg.), Reconciliation after violent conflicts,
Stockholm 2003, S. 9.
107
U.a. U. Schneckener, S. Wolff (Hg.), Managing and Settling Ethnic Conflicts, New York 2004.
108
Die Begriffe reconciliation und Transitional Justice hängen sehr eng zusammen (vgl. u.a. S.
Buckley-Zistel, S., Transitional Justice als Weg zu Frieden und Sicherheit. Möglichkeiten und
Grenzen, SFB-Governance Working Paper Series, Nr. 15, 2008, DFG SFB 700, Berlin). Während
bei Transitional Justice der Aspekt reconciliation jedoch häufig als ein – mehr oder weniger
explizites – Ziel auftaucht, wird in diesem Beitrag justice als ein notwendiger Mechanismus des
reconciliation-Prozesses verstanden.
109
U.a. S. Gloppen, Reconciliation and Democratisation: Outlining the Research Field, Chr.
Michelsen Institut, Bergen, Norwegen, 2002; A. Mihr, From Reconciliation to the Rule of Law
and Democracy, Web Journal of Current Legal Issues, 2009, http://webjcli.ncl.ac.uk/2009/issue1/mihr1.html (letzter Zugriff: 3.4.2010); J. Quinn (Hg.), Reconciliation(s). Transitional justice in Postconflict Societies, McGill-Queens University Press 2009.
110
U.a. H. Assefa, The Meaning of Reconciliation, 2009, www.gppac.net/documents/pbp/part1/2_reconc.htm (letzter Zugriff: 3.4.2010); Bloomfield 2006, Op. cit., Lederach 2005, Op. cit.
111
Assefa 2009, Op. cit.
112
D. Bloomfield, T. Barnes, L. Huyse (Hg.), Reconciliation after Violent Conflict – A Handbook,
Stockholm 2003, Bloomfield 2006, Op. cit.
113
Die Folgen der physischen und psychischen Verletzungen können das gesamte Leben lang zu
spüren sein und sich durchaus auch noch auf die Folgegeneration auswirken (vgl. Joachim 2006,
Op. cit.).
114
Ebd., S. 8.
224
115
Janna Wolff und Charlotte Bruun Thingholm
Vgl. Auch S. Chesterman, Rough Justice: Establishing the Rule of Law in Post-Conflict Territories, in: Ohio State Journal on Dispute Resolution, Vol. 20, 2005, S. 69-98, hier S. 69.
116
Insgesamt benennt er vier Mechanismen: „healing the wounds of the survivors; some form of
retributive or restorative justice; historical accounting via truth-telling; and reparation of the material and psychological damage inflicted on the victims” (Bloomfield 2003: 23).
117
Bloomfield et al. 2003, Op. cit., S. 77.
118
Ebd., S. 80.
119
Vgl. u.a. C. Corrin, Gender Audit of Reconstruction Programmes in South Eastern Europe. The
Urgent Action Fund and the Women’s Commission for Refugee Women and Children, 2000,
www.urgentactionfund.org/assets/files/uaf-pubs/BG_Audit_Final.pdf (letzter Zugriff: 3.4.2010).
120
Farwell 2004, Op. cit., S. 399.
121
C. Corrin, Development Policy on Integration and re/construction in Kosova, in: Development
in Practice Vol. 13/2, 2003, S. 189-207; H. Kramer, V. Džihić, Die Kosovo Bilanz – Scheitert die
internationale Gemeinschaft?, Lit-Verlag 2006.
122
Chesterman 2005, Op. cit.; H. Strohmeyer, Making Multilateral Interventions Work: The U.N.
and the Creation of Transitional Justice Systems in Kosovo and East Timor, in: The Fletcher Forum of World Affairs Vol. 25/2, 2001, S. 107-128, hier S. 110.
123
Kramer, Džihić 2006, Op. cit.
124
Corrin 2000, Op. cit., S. 12.
125
U.a. L. Abdela, Kosovo – missed opportunities, lessons for the future, in: Development in Practice, Vol. 13/2, 2003, S. 208-216.
126
Corrin 2003, Op. cit., S. 202.
127
Abdela 2003, Op. cit., S. 211.
128
Corrin 2000, Op. cit.
129
Zitiert in Abdela 2003, Op. cit., S. 211f.
130
U.a. Farwell 2004, Op. cit., S. 399f.
131
Medica Mondiale 2010, Op. cit.
132
Bloomfield et al. 2003, Op. cit., S. 24.
133
J. E. Mendez, National Reconciliation, Transitional Justice, and the International Criminal
Court, in: Ethics & International Affairs, Vol. 15/1, 2001, S. 25-44, hier S. 33.
134
Ebd., S. 28.
135
Phelps 2006, Op. cit., S. 507.
136
U.a. Arraiza, Moratti 2009, Op. cit., S. 427.
137
Zurzeit haben 66 der 192 VN-Mitgliedstaaten die Souveränität des Kosovo anerkannt; von den
27 EU-Mitgliedstaaten sind es 22 (nicht anerkannt haben Griechenland, Rumänien, Slowakei,
Spanien und Zypern, Stand April 2010, http://kosova.org/).
138
U.a. Chesterman 2005, Op. cit., S. 80.
139
Strohmeyer 2001, Op. cit., S. 115.
140
Von den 756 Richtern und Staatsanwälten im Kosovo waren lediglich 30 Kosovo-Albaner
(Strohmeyer 2001, Op. cit., S. 114; Mendez 2009, Op. cit., S. 64).
141
P. K. Mendez, The new wave of Hybrid Tribunals: a sophisticated approach to enforcing
International Humanitarian Law or an idealistic solution with empty promises?, in: Criminal Law
Forum Vol. 20, 2009, S. 53-95, hier S. 64.
142
Strohmeyer 2001, Op. cit., S. 122.
143
Ebd.
144
Mendez 2009, Op. cit., S. 60.
145
Ebd.
146
U.a. Chesterman 2005, Op. cit., S. 84.
147
Mendez 2009, Op. cit., S. 76.
148
Hybrid courts existieren zurzeit in bzw. für Bosnien-Herzegowina, Kambodscha, Kosovo, Libanon, Ost-Timor, Sierra Leone.
Kriegsvergewaltigungen als Ursache für Erinnerungskonflikte am Beispiel Kosovo
149
225
W. Schomburg, Internationale Strafgerichtsbarkeit: Lektionen aus den UN-Tribunalen für das
frühere Jugoslawien und Ruanda, Gesellschaft für Außenpolitik, Vortrag vom 18.2.,
www.auslandskunde.de/volltext.php?id=124 (letzter Zugriff: 3.4.2010).
150
M. E. Hartmann, International Judges and Prosecutors in Kosovo. A New Model for PostConflict Peacekeeping, United States Institute of Peace, Special Report 112, 2003,
www.usip.org/files/resources/sr112.pdf (letzter Zugriff: 3.4.2010).
151
Mendez 2009, Op. cit., S. 76.
152
Es ist jedoch zu beachten, dass sich die jeweiligen hybrid courts teilweise erheblich voneinander unterscheiden, weswegen Generalisierungen nur bedingt möglich und anzustreben sind (Mendez 2009, Op. cit., S. 62).
153
R. C. Carpenter, Recognizing Gender-Based Violence Against Civilian Men and Boys in
Conflict Situations, in: Security Dialogue, Vol. 37/1, 2006, S. 83-103, setzt sich zum Beispiel mit
dieser Frage auseinander; dennoch erscheint dieser Ansatz noch deutlich unterrepräsentiert.
226
Ulrike Liebert
Perspektiven einer europäischen Erinnerungsgemeinschaft
1. Dilemma von Integration und Demokratie?
In seiner viel zitierten Diagnose eines Dilemmas von „Integration und Demokratie“
behandelte Peter Graf Kielmansegg die Frage, warum es „keine belastbare kollektive Identität der Europäer als Europäer“ gebe. Seine Antwort darauf: „Es sind
Kommunikations-, Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaften, in denen kollektive Identität sich herausbildet, sich stabilisiert, tradiert wird. Europa, auch das engere Westeuropa, ist keine Kommunikationsgemeinschaft, kaum eine Erinnerungsgemeinschaft und nur sehr begrenzt eine Erfahrungsgemeinschaft“. 1 Das „europäische Grunddatum“ sei eine „Pluralität der Kommunikations-, Erinnerungs- und Erfahrungsgemeinschaften“, das die Möglichkeit einer kollektiven politischen Identität der Europäer und, mehr noch, die Demokratiefähigkeit der EU einschränke.
Dies erkläre ihr Dilemma: „Die Europäische Union braucht demokratische Legitimität, aber sie ist nur in einem sehr begrenzten Maße „demokratiefähig“, daher
müsse sie ihre Legitimation wesentlich aus den Mitgliedsstaaten beziehen. 2
Im vorliegenden Zusammenhang soll geprüft werden, wieweit sich diese KrisenDiagnose in der Perspektive einer Europäischen Erinnerungsgemeinschaft wenden
läßt. Während Kielmansegg eine europäische Erinnerungsgemeinschaft als Voraussetzung für die Konstruktion einer europäischen Identität annimmt und letztere als
Legitimations-Ressource für eine demokratiefähige EU behauptet, steht hier der
umgekehrte Wirkungszusammenhang im Mittelpunkt: Inwiefern können demokratische Normen, Verfahren und Institutionen der EU auch einer kollektiven Identität
der Europäer dienen? Inwieweit fällt kollektiven Identitäten eine Rolle in der
Überwindung von Erinnerungskonflikten zu, und welche Form von Identität verspricht, perspektivisch gar eine europäische Erinnerungsgemeinschaft zu fördern?
Im Folgenden wird die neuere europäische Identitätsdebatte daraufhin untersucht,
welche Antworten sie auf diese Fragen nach den Grundlagen einer europäischen
Erinnerungsgemeinschaft bietet. 3 Mein Argument entwickle ich dabei in drei
Schritten: Zunächst zeige ich, dass sich in dieser Kontroverse über die Möglichkeiten einer europäischen Identität nicht nur skeptische, sondern auch optimistische
Positionen ausmachen lassen, und dass einige unter den letzteren einer demokratischen Ordnung Europas eine zentrale Rolle für die Entwicklung einer europäischen
Identität zuschreiben. Im zweiten Schritt suche ich dann den Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Modellen europäischer Identität und den Mustern und Dynamiken von Erinnerungskonflikten zu klären. Darauf stütze ich die These, dass
unter den verschiedenen Modellen europäischer Identität das Muster einer politi-
228
Ulrike Liebert
schen oder zivilen europäischen Einbettung nationaler Identitäten besonders aussichtsreich erscheint, zur Überwindung nationaler Erinnerungskonflikte in Europa
beizutragen. Diese These werde ich abschließend am Beispiel der Bundesrepublik
illustrieren.
2. Demokratische Normen als Grundlage einer kollektiven Identität Europas
Die öffentliche Debatte zur europäischen Identität kursiert um zwei Fragen, wie sie
bei Jürgen Habermas konzise auf den Punkt gebracht sind: „Ist die Entwicklung
einer europäischen Identität notwendig, und ist sie möglich?“ 4 Der Topos europäischer Identität ist von der öffentlichen Agenda kaum noch wegzudenken. „Europäische Identität“ ist allerorts Thema, sei es in Ansprachen, Erklärungen und Debatten
deutscher Regierungspolitiker 5 , auf wissenschaftlichen Konferenzen und Publikationen 6 , oder in den Titeln der Qualitätspresse. Viele Beiträge resultieren aus internationalen Zusammenhängen und sind in englischsprachigen Veröffentlichungen
zu finden. 7 Die Frage nach den Bedingungen ihrer Möglichkeit zielt auf die Voraussetzungen für eine europäische Identität, etwa politische Strategien, neue Institutionen, öffentliche Diskurse. Die Antworten auf diese Fragen lassen sich zwei
grundlegenden Positionen zuordnen, einer grundlegend keptischen sowie einer eher
optimistischen:
Die skeptische Position
Diese Position hält europäische Identität für weder notwendig noch möglich. Von
der Warte eines Europa souveräner Nationalstaaten aus erscheint europäische Identität unmöglich, weil ihr auf europäischer Ebene die Voraussetzungen fehlen, und
sie ist auch soweit unnötig, als die Legitimität der Herrschaftsausübung durch die
EU aus den demokratischen Mitgliedsstaaten abgeleitet wird. Dieses von Vertretern
des deutschen Staatsrechts wie von Anhängern der intergouvernementalen Paradigmas in der Politikwissenschaft gezeichnete Szenario gründet allerdings auf einer
Prämisse, welche in der postnationalen Konstellation nicht mehr als unverbrüchlich
gelten kann: der Einmauerung des Volkssouveräns – des demos – in den Grenzen
des Nationalstaats. Dieser am rechtshegelianischen Konstitutionalismus orientierten
Konzeption liegen, wie Hauke Brunkhorst gezeigt hat, drei binäre Dualismen
zugrunde, welche im Kontext von Denationalisierung und Globalisierung zunehmend erodieren: 1. eine unüberbrückbare Differenz zwischen Staat/Politik vs. Gesellschaft; 2. ein Staatsorganisationsrecht, das von den individuellen Rechten der
Bürger abgelöst ist, was zu einem unpolitischen und „besitzindividualistischen“
Verständnis von Rechten führt 8 ; 3. ein völkerrechtlicher Dualismus, demzufolge
„die Staatssouveränität zusammen mit der außenpolitischen Prärogativgewalt der
Exekutive von der auf Innenpolitik begrenzten Volkssouveränität abgetrennt“ wird;
dies „führt dazu, dass das internationale Recht der Staatssouveränität untergeordnet
und die Demokratie in die Grenzen des Nationalstaats eingemauert wird". 9
Perspektiven einer europäischen Erinnerungsgemeinschaft
229
Das optimistische Szenario
Wenn wir in der Frage nach einer europäischen Identität einer optimistischeren
Perspektive folgen, können wir davon ausgehen, dass europäische Identität sowohl
notwendig als auch möglich ist. Allerdings klaffen die Ansichten darüber, welcher
Typus europäischer Identität normativ begründbar und empirisch erwartbar sei,
einigermaßen auseinander. Dass eine europäische Identität möglich ist, in welchen
Formen, warum und unter welchen Bedingungen sie sich bereits entwickelt hat und
inwiefern sprachliche Kommunikation hierfür konstitutiv ist, hat Thomas Risse in
z.T. interdisziplinären und internationalen Forschungsprojekten empirisch fundiert
und theoretisch argumentiert nachgewiesen. 10 Risse schlägt eine Typologie europäischer Identitäten vor, die nicht nur für ländervergleichende empirische Untersuchungen, sondern auch für die Analyse nationaler Debatten zur europäischen Identität fruchtbar ist: Danach bilden sich in den Europäisierungsprozessen konkurrierende Typen europäischer Identitäten heraus: neben der nationalistischen Konzeption eines Europa der Nationalstaaten die Identität Europas als einer Wertegemeinschaft; als einem dritten Weg zwischen Kommunismus und Kapitalismus; als einem Teil des Westens; sowie das christliche Europa. 11 Als Bedingungen der Entwicklung einer breite Bevölkerungskreise umfassenden europäischen Identität wurden unterschiedliche Auslöser in Betracht gezogen, z.B. internationale militärische
Konflikte, globale Bedrohungen und neue soziale Ungleichheiten: Europaweite
Proteste gegen die Militärintervention der USA im Irak im Frühjahr 2003 verleiteten – trotz des gescheiterten Versuchs der EU, eine gemeinsame Front für den Frieden zu schmieden – Jürgen Habermas und Jacques Derrida, diese als Vorboten einer „Wiedergeburt Europas“ zu begrüßen. 12 Aber auch in den europäischen Sozialforen werden Anzeichen der Mobilisierung einer neuen, europaweiten sozialen und
Antiglobalisierungsbewegung gesehen. 13
Die Hoffnungen auf eine gesamteuropäische Identität erleben zweifellos immer
wieder herbe Niederlagen, sei es angesichts der Spaltung der „zivilen Weltmacht
Europa“ in der Frage der Beteiligung am Irak-Krieg ab 2003, oder beim Scheitern
der Verfassungsratifikation in Frankreich und den Niederlanden im Jahr 2005. In
der Tat lassen sich jedoch in der Praxis des europäischen Integrationsprozesses seit
den siebziger Jahren zunehmend Beispiele dafür finden, dass der politische Wille
von Eliten und zivilgesellschaftlichen Organisationen, eine europäische Identität zu
befördern, häufig zum Motor institutioneller Innovationen wurde. Zu den Mechanismen dieser Art gehören z.B. die Direktwahl des Europäischen Parlaments seit
1979 und dessen kontinuierliche Machtstärkung; die mit dem Maastrichter Vertrag
eingeführte Unionsbürgerschaft; die Charta der Grundrechte; die mit der Lissabonner Agenda formulierte Programmatik eines „sozialen Europa“; und schließlich der
Versuch, mittels erst eines Verfassungsvertrages und dann des Reformvertrages
von Lissabon die Union der 500 Millionen Bürger und 27 Staaten handlungsfähiger
und demokratischer zu machen. Ja, selbst die 2004-7 vollzogene „Rückkehr nach
230
Ulrike Liebert
Europa“ von zehn ostmitteleuropäischen neuen Demokratien wurde mit Bezug auf
das europäische Identitätsprojekt gerechtfertigt. Ein Bekenntnis der Staats- und Regierungschefs zu einer europäischen Identität verkörperte auch die „Berliner Erklärung“ anlässlich des 50. Jubiläums der EU im März 2007, welche die deutsche
Ratspräsidentschaft als diplomatisches Kunststück zustande brachte. Nicht zuletzt
ist zu vermuten, dass die 2009 eingeführte „Europäische Bürgerinitiative“ in der
Praxis eine transnationale zivilgesellschaftliche europäische Identität befördern
wird.
Die Frage „Welche Identität hat Europa?“ ist 50 Jahre nach Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft demnach virulenter denn je. Ihre Beantwortung ist
kontrovers: während die einen für eine kulturalistisch-homogenisierende Position
und eine wertebasierte kollektive europäische Identität plädieren, streiten die andern für pluralistisch-inklusive, diskursive Konstruktionen Europas14 und unterstreichen deren demokratische Grundlagen. Zwei der einflussreichsten konkurrierenden Konzeptionen für eine europäische Identität sind die einer „europäischen
Wertegemeinschaft“ einerseits und die eines „europäischen Verfassungspatriotismus“ andererseits. Während erstere mit dem Modell einer supranationalen Gemeinschaft korrespondiert, orientiert sich letztere am Modell einer deliberativen, kosmopolitisch-regionalen Ordnung Europas. Während jene eine auf Homogenität und
Gleichheit basierende Identitätskonzeption verfolgt, fußt diese auf einem vielschichtig-hierarchischen Konzept post-traditionaler, „multilayered identities“, „entangled identities“, oder „nested identities“ mit dem für diese konstitutiven Prinzip
der Anerkennung von Differenzen. 15 Während für das verfassungspolitischkulturelle Modell europäischer Identitätsentwicklung demokratische Konstitutionalisierungsprozesse von zentraler Bedeutung sind, streben die Verfechter einer kulturellen europäischen Identitätspolitik die Konstruktion einer europäischen Wertegemeinschaft an. 16 Beide Projekte sind sich einig in der Frage der Notwendigkeit
und Möglichkeit einer europäischen Kollektividentität, berufen sich aber auf unterschiedliche Traditionen und Selbstverständnisse der Moderne. Während ersteres
durch die „intersubjektivistische Umformung“ des klassischen Begriffs der Moderne dem europäischen Identitätsmodell einen sowohl selbstkritisch-reflexiven als
auch kontextuell situierten Vernunftbegriff zugrunde legt 17 , geht letzteres davon
aus, dass sich im Rückgriff auf die Antike universale Prinzipien und Normen für
die Identitätsbegründung Europas bestimmen ließen. 18
„Wertegemeinschaft Europa“
Das im Kontext der EU-Verfassungskrise wiederbelebte Projekt einer europäischen
Wertegemeinschaft knüpft nicht an universelle Prinzipien demokratischer Herrschaftsausübung, an „zivile Bürgerschaft“ oder „politische Zugehörigkeit“ an, sondern sucht überhistorische und kulturelle Anknüpfungspunkte für die Entwicklung
einer spezifischen europäischen Identität zu bestimmen. Zu diesem Projekt gehört
Perspektiven einer europäischen Erinnerungsgemeinschaft
231
die strategische Rückbesinnung auf kulturelle Werte, seien es die des „christlichen
Abendlandes“ oder die Prinzipien der Aufklärung, gelten diese doch als notwendige kulturelle Ressourcen einer handlungsfähigen EU. 19 Dabei geht es nicht so sehr
um die Erhaltung einer spezifisch europäischen, demokratischen und wohlfahrtsstaatlich begründeten Lebensform, sondern um allgemein westlich definierte, universale Bezugspunkte für Identität. Mehr noch, die Möglichkeit europäischer Identität gilt hier nicht als Funktion demokratischer Prozesse, sondern als Ergebnis der
Sozialisation durch europäische symbolische, Kultur- und Bildungspolitik. Denn
die Frage: Was hält Europa zusammen? wird mit dem Verweis auf eine „europäische Seele“ im Sinne eines normativen Wertekanons beantwortet. 20 Im Sinne solcher „spirituellen, religiösen und ethischen Dimensionen des erweiterten Europa“,
gilt es, die „intellektuellen Grundlagen der Union“ zu bestimmen. Ausgehend von
den Fragen „Wer sind wir? Aus welchen Wurzeln erwächst die geteilte Gewissheit,
zusammen zu gehören?“, werden Ziele und Werte auf ihre Belastbarkeit geprüft,
dabei aber ein europäisches Verfassungsprojekt verworfen. Denn weder der Staat
oder die EU, heißt es, könnten die Grundlagen schaffen, auf welchen eine demokratisch verfasste Einheit ruhe. Nicht die Verfassung könne europäische Identität ausbilden sondern „nur die bereits existierende Werte-Gemeinschaft“:
„Constitutional questions are also questions of values; but any attempt to
provide a constitution for a community assumes that the community already
exists. The constitution as such cannot provide that identity“. 21
„Politische Kohäsion“, d.h. eine „durch die Bande der Solidarität zusammen gehaltene Gemeinschaft“, gilt als notwendige Bedingung für eine politische Union; „Europas gemeinsame Kultur“ liefere eine hierfür „neue Quelle von Energie“, stelle
sich aber auch als „Aufgabe und Prozess“, denn die europäische Kultur müsse politisch effektiv gemacht werden. 22 Der bereits existierende „gemeinsame Europäische kulturelle Raum: eine Vielfalt an Traditionen, Idealen, Aspirationen, oft verflochten und in Spannung miteinander“ allein schaffe noch keine Einheit. Aber er
böte der Politik die Chance, durch „die Kraft der europäischen Kultur“ aus „Europa
ein geeinigtes politisches Ganzes zu machen“. 23
Dieses Projekt einer „Wertegemeinschaft Europa“ ist, so legt Julian Nida-Rümelin
vor (2007), angesichts der „gegenwärtigen Krise der europäischen Integration“ im
Sinne eines verbindlichen Fundaments für europäische Identität notwendig. Die
„Strategie, übergreifende Zielsetzungen nicht anzusprechen sondern Integration
pragmatisch voranzutreiben“ sei „endgültig gescheitert“, daher müsse nun „eine
Verständigung auf das normative Fundament der europäischen Integration“ erfolgen. Als deren Grundlagen bestimmt er ein auf gemeinsame ethische, juridische
und kooperative Normen gestütztes „Verständnis europäischer Staatlichkeit“; der
zu stiftende normativen Konsens lasse sich nicht aus einer Interessenperspektive,
sondern nur aus „öffentlichen Begründungsspielen“ ableiten. 24 Von dieser Warte
232
Ulrike Liebert
aus gründet sich die „normative Identität Europas“ auf drei Grundnormen: Autarkie
bzw. Freiheit; wissenschaftliche Rationalität, und Universalismus; Demokratie gehöre nicht dazu. 25 Geschichte und Kultur allein können Europa aber nicht wirklich
zur Einheit verhelfen. Es sei Aufgabe europapolitischer Führungseliten, ihren politischen Willen und Talent in „öffentlichen Begründungsspielen“ unter Beweis zu
stellen. Demgegenüber wenden manche Kritiker ein, wenn Europa in der globalen
Standortkonkurrenz die alte Karte der kulturellen Errungenschaften universeller
Werte zöge, instrumentalisiere es europäische Identität als eine Ressource europäischen Regierens. Die als Wirtschaftsunion gegründete und nun als Wertegemeinschaft umdefinierte EU, so andere Kritiker, entwickelte Züge, „die an nationalistische Inklusions- und Exklusionsdynamiken erinnerten und Gefahr liefe, „das neue
Sinnbedürfnis (...) die Pluralität europäischer Erfahrungs- und Erinnerungs(ge)schichten“ zu verdecken. 26 Wieder anderen gilt schließlich die Unterfütterung
des kulturellen Identitätsprojekts Europa mit der Nomenklatur einer universalistisch definierten westlichen Moderne als Teil der europäischen Malaise und nicht
als Strategie zu deren Überwindung. 27
Verfassungspatriotismus des kosmopolitischen Europa
Gegenüber dem frühesten „Dokument über die europäische Identität" von 1973 28
ist in der neueren europäischen Identitätsdebatte die Verbindung von Kosmopolitismus und Verfassungspatriotismus als Quantensprung zu werten. Dabei stellt das
kosmopolitische Identitäts-Projekt im Gegensatz zur „Ersten Moderne“ auf die
„Zweite“ oder „reflexive Moderne“ um. Es nimmt Abschied von „mononational“
konzipierter Identität und einer nach diesem Vorbild gedachten europäischen, „geteilten Kollektividentität der nationalstaatlichen Bürger Europas. Dagegen spricht
es sich für des „Typus der trans- und multinationalen europäischen Identität“ aus.
Von der Norm der „Homogenität“ wechselt es auf „Differenzen“ – und das heißt:
die Norm der Anerkennung des kulturell Anderen. Im Alltag europäischer Politik
rückt ein für die multiplen Interessen- und Identitäts-Differenzen in den gegenwärtigen Gesellschaften sensibles Projekt europäischer Identitätsstiftung Rechte und
Verfahren zur demokratischen Vermittlung von Differenzen in den Mittelpunkt.
Dieses Politikverständnis geht davon aus, dass politische Differenzen die Regel,
und diese nur durch demokratische Verfahren organisiert werden können: Menschen entscheiden immer wieder neu, Normen sind veränderlich, Religion und
Vernunft schließen sich gegenseitig aus. Die Auseinandersetzungen darüber aber
bilden den Kern der Demokratie an multiplen Orten, zu denen in Europa nicht zuletzt auch das Europäische Parlament gehört.
Das Modell des Verfassungspatriotismus wurde von Jürgen Habermas, an Dolf
Sternberger anknüpfend, zunächst als für Westdeutsche einzig vertretbare Form der
politischen Identifikation vorgeschlagen, und dann erst für die Europäische Union
ausformuliert. 29 Bei diesem Identitäts-Typus geht es keineswegs um eine unprob-
Perspektiven einer europäischen Erinnerungsgemeinschaft
233
lematische Rückkehr zu einem pränationalen und prämodernen Patriotismus sondern, im Gegenteil, um eine bewusste Bejahung politischer, demokratischkonstitutioneller Prinzipien. „Europäischer Verfassungspatriotismus“ wird hier als
eine Form der politischen Kultur gefasst, welche auf kollektiver Identifikation mit
der kontextspezifischen europäischen Form einer demokratischen Konstitutionalisierung beruht. Definiert durch ethische Prinzipien und demokratische Verfahren,
ist Verfassungspatriotismus das Korrelat einer (europäischen) Zivilbürgerschaft.
Eine verfassungspatriotisch induzierte europäische Identität wäre demnach geeignet, eine nachholende, inkrementale Demokratisierung der etablierten, funktionalen
EU-Entscheidungspraxen zumindest zu unterstützen, wenn nicht zu implementieren.
Im Rahmen der von ihm diagnostizierten „postnationalen Konstellation“ 30 sieht
Habermas europäische Identität als eine gegenüber der Globalisierung und Denationalisierung und zur Erhaltung der „spezifischen europäischen Lebensform“ unbedingt notwendige Ressource. Ohne diese sei die EU weder handlungs- noch legitimationsfähig, da sie ihren neuen Herausforderungen auf dem Wege zwischenstaatlichen Verhandelns oder bürokratisch-funktionaler Problemlösungsstrategien nicht
mehr genügen könne:
„A shifting of legitimation from the side of results to that of the codetermination of political programs that affect citizens of all member states
equally, though not necessarily in the same ways, will not be possible without the development of an awareness of shared belonging to a political
community that extends across national boundaries“. 31
Schließlich stehe die EU auch vor der Notwendigkeit, ihre Rolle in der Welt und
gegenüber den USA neu zu definieren. Um die gemeinsame europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu stärken, bedürfe es einer „pan-europäischen
demokratischen Meinungs- und Willensbildung“. In diesem Zusammenhang sei ein
verfassungspatriotischer – und daher kosmopolitisch–universalistisch angelegter –
Typus europäischer Identität für die demokratische Legitimationsfähigkeit eines
global handlungsfähigen Europa unabdingbar. Diese sei vor allem dann unerlässlich, wenn sich Europa weltbürgerliche Solidarität, Umverteilung, eine internationale Friedensordnung und Menschenrechte auf die Fahnen schreibe – und im Zweifelsfall auch gegen eine unilateral agierende, militärische Supermacht USA behaupten wolle.
Auch gegen dieses verfassungspolitische Projekt einer europäischen Identität wurden eine Reihe bedenkenswerter Einwände geltend gemacht. Kontrovers ist zunächst die Frage nach einem adäquaten Verfassungsmodell für die soziale Einbettung des Markt-Europa. Eine vom Staat entkoppelte Verfassung erscheint nur möglich, soweit die betroffenen Bevölkerungen die für gegenseitige Solidarität erfor-
234
Ulrike Liebert
derlichen Gemeinsamkeiten aufweisen, argumentiert Thomas Meyer. 32 Zudem
wandte Armin von Bogdandy ein, der an einen „Verfassungspatriotismus“ gekoppelte Begriff europäischer Identität sei „kryptonormativ“ und „daher gefährlich“:
Er komme „als soziologische Behauptung“ daher, impliziere „jedoch massive Erwartungen an die Persönlichkeit der Bürger“. Sollte sich ein „freiheitliches Gemeinwesen“, wie von Bogdandy fordert, nicht auf Identitäten, sondern auf das
langfristige Eigeninteresse der Bürger ausrichten? 33 Diese von Bogdandy vorgenommene Dichotomisierung von Interessen und Identitäten löst sich auf, wenn wir
das posttraditionale, de-zentrierende Identitätskonzept heranziehen, welches Habermas seinem Verständnis von „Verfassungspatriotismus“ zugrunde legt: Danach
erfolgt Identitätsbildung in Prozessen der Relativierung sozialer Normen und individueller Präferenzen und ihrer Vermittlung mit ethischen Prinzipien. 34
3. Europäische Identität als Mittler in nationalen Erinnerungskonflikten
Fraglos ist allerdings, dass der gemeinsame Markt die neuen Mitgliedsstaaten Osteuropas eroberte, bevor die wiedervereinigten Europäer kommunikative Formen
gefunden hätten, Erinnerungskonflikte oder Identitätsfragen zu erörtern. Hier soll
daher der Frage nachgegangen werden, inwieweit europäische Identität im Allgemeinen und welches Modell im Besonderen für die Lösung nationaler Erinnerungskonflikte geeignet erscheint. Wie oben gezeig wurde, laufen in der Kontroverse um die europäische Identität unterschiedlichste Identitätskonzeptionen zusammen. Von diesen, so die These hier, lässt eine jede unterschiedliche Wirkungen
hinsichtlich der Muster und Dynamiken europäischer Erinnerungskonflikte, und
damit auch für die Perspektiven einer europäischen Erinnerungsgemeinschaft, erkennen.
Explizit verknüpft Habermas sein Konzept einer zivilen, verfassungspatriotischen
Identität Europas mit historischen "Erfahrungen, Traditionen und Errungenschaften, die für europäische Bürger das Bewusstsein eines gemeinsam erlittenen und
gemeinsam zu gestaltenden politischen Schicksals stiften". 35 Der auf Individualismus, Rationalismus und Aktivismus gegründete "geistige Habitus", der für den
ganzen "Westen" gelte, finde im europäischen Kontext daher eine speziellere
Spielart. Als Beispiele für Differenzen zu den USA nennt Habermas die Einstellungen zur Todesstrafe, zum „liberalen“ oder aber staatlich moderierten Spiel der
Marktkräfte. Europa sei skeptischer gegenüber den Versprechungen des Fortschritts, denke sozialer, fühle empathischer mit den Schwachen und sei durch den
Holocaust besonders sensibilisiert (ebd.). Vor diesem Hintergrund könnten die Europäer eine zivile Identität, so Habermas, mittels einer demokratischen Konstitutionalisierung der EU entwickeln, welche „Solidarität zwischen Fremden“ ermögliche, aber die „Verfassung vom Staat entkopple“. 36 So rät Habermas etwa den EU
Regierungen ausdrücklich, die Bürger durch Referenda zu Einzelfragen direkt am
Prozess der Verfassungsgebung beteilige, sei es in der Frage der politischen Struk-
Perspektiven einer europäischen Erinnerungsgemeinschaft
235
tur der Gemeinschaft – welches Europa wollen wir? – oder in der Frage ihrer geographischen Identität – Welches sind die endgültigen Grenzen der EU?“ -, denn
beide lasse der Verfassungsvertrag von 2004 offen. 37
Im Folgenden sollen diese beiden konkurrierenden Varianten europäischer Identität
unter dem Gesichtspunkt ihrer Wirkungen für vergangenheitspolitische Konflikte
genauer beleuchtet werden, mit dem Ziel, ihre Potentiale herauszuarbeiten, zur
Versöhnung kollektiver Erinnerungskonflikte in Europa beizutragen. Die folgenden
Thesen fassen die zentralen Argumente zusammen.
Kulturalistische Irrwege
Unter den konkurrierenden europäischen Identitäts-Konzeptionen lässt die Variante
einer „Wertegemeinschaft Europa“ eher eine Verstärkung von Konflikten erwarten,
als eine „europäische Erinnerungsgemeinschaft“, tendiert sie doch dazu, nationale
Erinnerungskonflikte unter dem Mantel eines europäisch-kulturalistischen Konsenses zuzudecken. Nicht zuletzt riskiert eine solcherart kulturell legitimierte europäische Integrationspolitik auch, unzivile Formen und Dynamiken innereuropäischer
Konflikte zu unterschätzen.
„Doing Europe“
Dagegen lässt ein durch die Anerkennung demokratisch-rechtsstaatlicher Prinzipien
zusammengehaltenes pluralistisches Selbstbild der Europäer ein höheres Integrationspotential vermuten. Denn, so das hier entwickelte Argument, in dem Maße, in
dem sich die kollektiven Identitäten im sich erweiternden Europa vervielfältigen,
wird das „doing Europe“ zählen, das heißt das demokratische Aushandeln und
Praktizieren von Konflikten – und darunter auch und nicht zuletzt Erinnerungskonflikten – im Alltag europäischer Politik.
Reflexive Diskurse
Grundsätzlich können Konflikte um die Deutung und Bewertung von Zivilisationsbrüchen in der europäischen Zeitgeschichte dann ein konstruktives Potential entfalten, wenn sie die Reflexion als selbstverständlich erachteter nationaler Narrativen
im Lichte konträrer Sichtweisen ermöglichen. Solcherart dialogisch eingehegten,
reflexiven Diskurse können dazu beitragen, den harten, metaphysischen Kern von
Nationalstolz und exklusiver Formen nationaler Identität zu öffnen und durchlässiger machen.
Denationalisierung von Erinnerungskonflikten
Weiterhin können transnationale Formen kollektiver Identitäten 38 zur Denationalisierung von Erinnerungskonflikten und deren Europäisierung führen. Transnationale Identitätspolitik eröffnet somit Alternativen zur supranationalen Politik einer
Vergemeinschaftung nationaler Vergangenheitspolitiken „von oben“. Unter Ver-
236
Ulrike Liebert
zicht auf homogenisierende Diskurse reflektiert sie in grenzüberschreitenden öffentlichen Kommunikationen die differenzierten Opfer- und Tätererfahrungen aus
mehr oder weniger weit zurückliegenden Vergangenheiten. Transnationale europäische Erinnerungspolitik bezieht ihre Energie nicht aus einer homogenen sondern
heterogenen europäischen Identität.
Kosmopolitische Identitätsgrundlagen
Schließlich sollte sich Europa getreu des ihm zugeschriebenen kosmopolitischen
Selbstverständnisses nicht auf fest definierte Grenzen, sondern vor allem auf demokratische Verfahren, ethische und soziale Prinzipien verlassen. Damit grenzt es
sich gegenüber einer kulturell definierten europäischen Identitätspolitik entschieden
ab. Gegenüber Bezugspunkten wie „gemeinsame Abstammung“ oder „geteilte Kultur“ beruft sich ein verfassungspolitisches Identitätsprojekt stets auf die demokratische Willensbildung der europäischen Bürger. Diese von Habermas etablierte und
Jan-Werner Müller ideengeschichtlich und normativ ausgearbeitete Konzeption des
„Constitutional Patriotism“ verkörpert eine dem Kontext der Europäischen Union
entsprechende „neue Theorie von Bürgerschaft“. Diese koppelt „Zugehörigkeit“
nicht traditionell an Blut oder Glauben sondern stützt sie auf „ziviles Engagement“,
auf demokratische Entscheidungsverfahren, und insbesondere die Aneignung und
Kritik einer gemeinsamen Geschichte. Dies ist eine gegenwärtigen „kulturell vielfältigen Demokratien“ angemessene „schwache“ Form von Verfassungspatriotismus, deren Schwerpunkt mehr auf politischer Moralität und öffentlicher Rechtfertigungspflicht als auf gemeinsam geteilten kollektiver Erinnerungen der Mitglieder
liegt. Entsprechend hatte bereits Cathleen Kantner gegenüber der Behauptung der
Notwendigkeit einer „starken“ kulturellen Identität der Europäer eingewandt, dass
eine solche im Alltag der EU keineswegs eine unerlässliche Voraussetzung für legitimes Regieren sei. 39 Vielmehr sei es nur in „außergewöhnlichen Situationen“ und
in „ethisch sensiblen Politikfeldern“ zur Herstellung von Integration geboten, dass
EU Bürger sich diskursiv über „ein ethisches Selbstverständnis ihrer Lebensweise“
einigten. Daher plädierte auch Kantner dafür, die „kollektive Identität“ der EU als
„geteiltes ethisches Selbstverständnis“ zu konzipieren. Als Grundlage von Bürgerschaft und „ziviler Zugehörigkeit“ beruhte ein solcherart verstandener „Verfassungspatriotismus“ auf universalistischen Normen, die an die jeweiligen Verfassungskulturen angepasst sind, also einen „abstrakten“ Kosmopolitismus korrigieren. Nach dieser Auffassung ersetzt „politische Zugehörigkeit“ konventionelle Auffassungen von Volkssouveränität und eines „demos“, wie sie der liberale Nationalismus etablierte.
Inwieweit eine demokratische Neuordnung der EU tatsächlich zur Konstitution einer lernfähigen europäischen Zivilbürgerschaft beiträgt 40 , oder ob sie vielmehr
auch „unzivile“ Kräfte schüren würde, ist eine wichtige Frage. Als Hoffnungsträger
und argumentativer Ansatz zu ihrer Beantwortung liesse sich das von Ulrich Beck
Perspektiven einer europäischen Erinnerungsgemeinschaft
237
und Edgar Grande als Spezifikum Europas geltend gemachte „kosmopolitische
Moment“ heranziehen.
Danach sei „(…) die verfeinerte Wahrnehmung des kulturell Anderen – (…)
aus der totalen Erschöpfung verübter und erfahrener Grausamkeit entstanden, aus dem Nachdenken über und dem Gedenken an das unermessliche
Leiden und die unermessliche Schuld, die das nationalistisch-kriegerische
Europa über die Welt gebracht hat. Dies hat Europa nach den verinnerlichten Maßstäben der Selbstkritik sensibler gemacht, offener und zugleich unerbittlicher im Streit für eine unkriegerische, nachreligiöse Humanität“. 41
Damit „politische Zugehörigkeit“ als zentrale Bedingungen für demokratische Legitimität jenseits des Nationalstaates fungieren kann, bedarf sie über die politisch
oder zivil definierte „Zugehörigkeit“ der Bürger hinaus auch einer „Anerkennung
von Differenzen“, oder „des kulturell Anderen“, als eines kosmopolitischen Korrektivs.
4. Der Fall Deutschlands: Demokratie, europäische Identität und transnationale Erinnerungs- und Gedenkpolitik
Diese Thesen zur Rolle von demokratischen Normen und europäischen Identitäten
für die Dynamiken von Erinnerungskonflikten möchte ich am Fall der Bundesrepublik illustrieren. Denn dieses Beispiel führt vor Augen, wie eng die soziale Konstruktion europäischer Identitäten mit dem Ringen um das nationale Selbstverständnis verflochten ist. Wenn wir hier unter „europäischer Identität“ nicht eine
Gesamtheit individueller Identitäten der Europäer, sondern eine Form kollektiver
Identität verstehen – im Sinne der Repertoires an Symbolen und Bedeutungen, die
das Selbstverständnis der europäischen Gesellschaften artikulieren – dann spielen
nationale Debatten eine zentrale Rolle in der Konstitution europäischer Identität.
Zum einen wirken sie an der Fortschreibung des gesamteuropäischen IdentitätsLexikons mit, indem sie darin immer wieder neue, in nationalen Diskursen generierte Ideen, Symbole und Bedeutungen “europäischen Selbstverständnisses“ eintragen. Auch testen die nationalen Partikular-Öffentlichkeiten IdentitätsKonstruktionen aus der europäischen Ideenkiste auf ihre Kompatibilität mit ihren
nationalen Selbstverständnissen. Schließlich artikulieren und vermitteln nationale
Debatten auch transnationale Identitäts-Konflikte und befördern damit horizontale
Europäisierung. Somit kommt nationalen öffentlichen Debatten eine Schlüsselfunktion in der gesellschaftlichen Aufarbeitung der Vergangenheit und damit der Konstruktionen, Dekonstruktionen und Rekonstruktionen europäischer Identitäten zu.
Wenn historisch überall in Europa die Konstruktionen nationaler Identitäten immer
auch gesamteuropäische Bezüge hatten, so unterscheiden sich die IdentitätsMischungen, oder „entangled identities“ im Vergleich der Mitgliedsstaaten doch
erheblich. 42 Es ließe sich erwarten, dass sich in den verschiedenen nationalen Kon-
238
Ulrike Liebert
texten jeweils diejenigen – positiven oder negativen – Ideen zur europäischen Identität durchsetzen, welche das nationale Selbstverständnis am überzeugendsten mit
europäischen Bezugspunkten vermitteln. Am Beispiel des Falles Deutschlands soll
untersucht werden, wie nationales Selbstverständnis und europäische Identität diskursiv miteinander verknüpft sind.
Die Bundesrepublik Deutschland, als eines der sechs Gründungsmitglieder der Europäischen Wirtschaftgemeinschaft und seit 1990 bevölkerungsstärkstes Land der
EU, ist zu klein, um die EU zu dominieren, aber zu groß, um eine machtsymmetrisch ausbalancierte Föderation zuzulassen. Die 1949 als „semi-souveräner“ Staat
wiederbegründete und nach der Wiedervereinigung durch die Europäische Union
„gezähmte“ Bundesrepublik Deutschland pendelt entsprechend zwischen Europäisierung und Selbstbehauptung 43 . Hinsichtlich ihrer Einbindung in die EG/EU können sich deutsche Regierungen auf ein zunehmend weniger verlässliches Polster an
„permissivem Konsens“ in der deutschen Öffentlichkeit stützen. Denn die seit 1949
neu „erfundene“ postnationale deutsche Identität steht in einem dreidimensionalen
Spannungsfeld, erstens der Orientierung an bürgerschaftlicher ziviler Demokratie
gegenüber Obrigkeitsstaat und Untertanenkultur und der Anerkennung ethnischkultureller Differenzen im Rahmen einer Leitkultur; zweitens der Ausbildung einer
europäisierten Form deutscher nationaler Identität; und drittens eine Aeinandersetzung mit den Greueltaten und Leiden der nationalen Vergangenheit.
Posttotalitäre Demokratisierung
Als erster Leitfaden zieht sich durch die nationalen Debatten der Bundesrepublik
Deutschland die Demokratisierung des posttotalitären Selbstverständnisses, von der
demokratischen Umerziehung in der Nachkriegszeit zu den Perspektiven einer republikanischen Bürgergemeinschaft bzw. pluralistisch-demokratischen, multiethnischen Bürgergesellschaft nach 1989. Dafür war es unerlässlich, das Postulat
„Mehr Demokratie wagen“ zunächst der nationalen Frage Deutschlands voranzustellen und in das – innere und äußere – europäische Einigungswerk einzubringen.
Dafür gilt, dass der Übergang von einer – wie auch immer gearteten – totalitären
Herrschaft zur Demokratie, trotz aller Hürden, der Weg in die Bürgergesellschaft
(civil society) sein muss. Diese Position setzt sich von den früheren demokratieskeptischen Positionen in der Debatte zu den Chancen und Grenzen der Demokratie
in der alten und neuen Bundesrepublik wie in Europa ab. Während jenen der Gedanke der „Führerdemokratie“ mit der Unterscheidung von Führung und Geführten
immer noch als die beste Möglichkeit gilt, Demokratie zu praktizieren 44 , erinnern
politische Publizisten, Wissenschaftler und Politiker – von Dolf Sternberger bis
Jürgen Habermas, von Willy Brandt und Hans Koschnick bis zu Joschka Fischer –
daran, dass die Auffassung des Staates als einer Vielheit von Bürgern, der Begriff
eines aktiven Bürgersinns und einer dem Gemeinwohl verpflichteten Bürgerschaft
in Deutschland lange Zeit ein Novum waren. 45 Kontrovers blieb lange, ob auch der
Perspektiven einer europäischen Erinnerungsgemeinschaft
239
Aristotelische, oder exklusiv männlich konnotierte Staatsbegriff revisionsbedürftig
sei, und inwieweit der demokratische Staat nicht nur der Staat der Bürgerinnen und
Bürger, sondern auch der Vielheit der (gebliebenen) Zuwanderer, religiösen und
ethnischen Minderheiten sei.
Europäisierung nationaler Identität
Der zweite Strang in der Entwicklung des deutschen Selbstverständnisses galt der
Suche nach einer im europäischen Kontext europäisch und westlich neu zu bestimmenden nationalen Identität. Bundeskanzler Konrad Adenauer ging es mit seiner in seinen frühen Reden entwickelten Argumentationslinie 46 zunächst um die
Verantwortung Deutschlands für die Gestaltung Europas als eine der Triebfedern
des europäischen Einigungsprozesses. Im Unterschied zu der auf den Zusammenschluss westeuropäischer Demokratien zielenden Vision der Gründungsväter reichte das „Europa“ der kontinentaleuropäischen Regierungen – von Charles De Gaulle
über Willy Brandt bis zu Helmut Kohl – vor und nach dem Zusammenbruch des
kommunistischen Systems definitiv weiter, nämlich von den Azoren bis zum Ural:
es schloss Russland und die transkaukasischen Staaten mit ein. Die hiermit korrespondierende pan-europäische Identität baut auf gemeinsame Werte, insbesondere
auf friedliche Konfliktbewältigung, Freiheit und die Solidarität zwischen den Bürgern auf. Eine Neuauflage erleben die „nationalen Fragen“ in Ostmittel- und Osteuropa, sei es infolge der Wiedervereinigung Deutschlands, sei es aufgrund des Zerfalls der SU, der Tschechoslowakei und Yugoslawiens; diese Prozesse wecken
nicht nur neue nationale Gefühle und Hoffnungen sondern auch alte Ängste. Die
Frage „Nationalstaat, ja oder nein“, und „wenn ja, dann nach welchen Prinzipien“
drohten die politischen Klassen und Kultureliten zu polarisieren. Während Forderungen nach einer Rückkehr zur „nationalstaatlichen Normalität“ die Runde machten, geißelten andere einen neuen Nationalismus in Europa, der angeblich das alte
Wahnbild Nation mit seinen Mythen wieder erstehen ließ. Trotz aller Hitze der
(Wort)-Gefechte um das sich erneuernde Nationalbewusstsein, blieben nationalistischer Überschwang aus und dominierte die „professionelle Nüchternheit“ (Wehler)
der politischen Eliten. 47
Deutsche Schuld und Verantwortung
Der dritte Strang in der Entwicklung eines deutschen Nachkriegs-Selbstverständnisses umfasst schließlich die Auseinandersetzungen mit den Konsequenzen der
deutschen Niederlage und die Aufarbeitung von deutscher Schuld und Verantwortung. In der Geschichte der Bundesrepublik brach sich die öffentliche Auseinandersetzung zum Trauma der NS-Zeit mit Verzögerung und in Zyklen Bahn: Nach Jahren des Schweigens im Nachkriegsdeutschland, den Verjährungsdebatten in den
sechziger Jahren und den Studentenprotesten gegen das Vergessen in den Siebzigern wurde in den achtziger Jahren der Bundestag zu einem Forum ritueller Gedenkakte, vor allem durch Aufsehen erregende Reden von Bundespräsident von
240
Ulrike Liebert
Weizsäcker 48 . Aber auch außerhalb des staatlichen Rahmens entwickelten sich private und zivilgesellschaftliche Formen der Aufarbeitung unbequemer Erinnerungen, von schonungslosen Beschreibungen von Schandtaten, Schuld und Unrecht bis
zur Suche nach konkreten Ansatzpunkten der Verständigung, des Dialogs und des
Aufbaus von Vertrauen über die alten Gräben und Gräber hinweg. Über die Jahre
mündet sie in eine engagierte Friedenspolitik und Formen ziviler Konfliktbewältigung ein. An den Nahtstellen früherer oder aktueller Konflikte und Gewalttaten
werden diese zu Elementen der deutsch-polnischen Verständigung, der Entwicklung des deutsch-israelischen Dialogs, der zivilen Friedenssicherung auf dem Balkan, der deutsch-französischen Zusammenarbeit, und nicht zuletzt auch des Umgangs mit Rechtsradikalismus und Fremdenfeindlichkeit im vereinigten Deutschland.
Das Selbstverständnis des wiedervereinigten Deutschland im neuen Europa lässt
sich demnach als zunächst und allererst demokratisch, zweitens als „europäisiertdeutsch“ und drittens als mehr oder weniger selektiv und selbstkritisch in der Aneignung der nationalen Vergangenheit charakterisieren. Damit entstand ein über
den demokratischen Westen hinaus mit Gesamteuropa identifiziertes, gegen unzivile Anfeindungen relativ stabiles kollektives Selbstverständnis. Vor diesem Hintergrund ließe sich erwarten, dass das Aufbrechen alter oder neuer historischer Gedächtniskonflikte das Muster einer demokratischen europäischen Identität kaum
gefährden dürfte.
5. Fazit: Perspektiven einer europäischen Erinnerungsgemeinschaft
Dieser Beitrag ging von der Diagnose eines unausweichlichen DemokratieDilemmas im europäischen Integrationsprozess aus, um das ihr zugrunde liegende
Denkmodell in der Zukunftsperspektive des erweiterten Europa zu beleuchten. Anhand der Debatte über die Formen, Bedingungen und Konsequenzen einer europäischen Identität wurden die Argumente untersucht, die für einen umgekehrten Kausalzusammenhang sprechen: Erstens strukturieren unterschiedliche kollektive Identitätskonstruktionen den Umgang mit Erinnerungskonflikten auf verschiedene Weise selektiv; zweitens sind kollektive Identitäten wesentlich durch die politischgesellschaftliche Institutionenordnung geprägt. Aus beiden Argumenten lässt, drittens, die zukunftsorientierte (und empirisch überprüfbare) These ableiten, dass
transnationale und supranationale demokratisch-rechtsstaatliche Normen, Verfahren und Institutionen eine europäische politische Identität fördern und damit einen
Beitrag zur Versöhnung auch solcher nationaler Erinnerungskonflikte zu leisten
vermögen, welche dem europäischen Integrations- oder Erweiterungsprozess bislang entgegenstanden.
Perspektiven einer europäischen Erinnerungsgemeinschaft
241
Der hier behauptete Wirkungszusammenhang zwischen der Institutionalisierung
demokratischer Normen, der Europäisierung nationaler Identitäten und er Überwindung von Erinnerungskonflikten wurde zudem am Beispiel Deutschlands historisch illustriert. Auch in der Bundesrepublik konkurrieren unterschiedliche Konzepte einer deutsch-europäischen Identität: das Modell einer auf einem gemeinsamen
Wertekanon basierten geteilten Identität der Europäer sowie die Konzeption einer
im Wesentlichen durch die Anerkennung demokratisch-rechtsstaatlicher Prinzipien
zusammengehaltenen Identität der Europäer. In der Perspektive einer um die Bürger der postkommunistischen Staaten Ostmitteleuropas erweiterten europäischen
Erinnerungsgemeinschaft erscheint vor allem letztere von nicht zu überschätzender
Bedeutung.
Die These, dass die Aufarbeitung ethno-nationaler Erinnerungskonflikte durch eine
europäische politische Identität gefördert wird, wenn diese demokratischrechtsstaatlich definiert ist, müsste durch Rekonstruktion der Abfolge von Demokratisierungs-, Europäisierungs- und Vergangenheitsaufarbeitungsprozessen
auch in anderen EU-Mitglieds-, Kandidaten- oder Nachbarstaaten überprüft werden
können. Möglicherweise ist jedoch das Muster der Vergangenheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland nicht verallgemeinerbar, wie Zdzislaw Krasnodebski
vermutet. 49 Die Komplexitäten der nationalen Frage in Deutschland, dessen Nationalbewußtsein durch historische Traumata belastet ist, legten es für die Nachkriegsdeutschen besonders nahe, in einer neuen europäischen Identität (Ab)Lösung
und Distanz zu suchen – oder deren Fehlen vehement zu beklagen. Die Frage, welche Seele Europa habe, wie diese den Subjekt- und den Objektteil des europäischen
Selbst in Einklang bringen, und ob dieses die Kontinuität dieser Einheit trotz aller
Erweiterungen und neuer globaler Aufgaben Europas verbürgen könne, wird daher
hier besonders vehement diskutiert. Hier war und bleibt die Suche nach der kollektiven Identität Europas aktuell – trotz des parteienübergreifenden Konsenses in der
Unterstützung der EU und eines hohen (wenn auch abnehmenden) Niveaus an
„permissivem Konsens“ in der Öffentlichkeit. Von Konrad Adenauer über Willy
Brandt und Helmut Kohl bis Joschka Fischer und Angela Merkel hatte die europäische Einigung auf den deutschen Regierungs-Agenden gleichermaßen Priorität.
Dabei erlebte die Idee einer europäischen Identität immer wieder neue Metamorphosen, von der 1973 auf Willy Brandt zurückgehenden ersten Erklärung des Europäischen Rates und Jürgen Habermas’ Geburtshilfe für die Idee des europäischen
Verfassungspatriotismus, über das von Josef Ratzinger vertretene „Christliche Europa“ bis hin zum Versuch, „postkonstitutionelle“ kulturelle Werte Europas mit
einer Erklärung der Staats- und Regierungschefs zum 50. Jahrestag der EU im
März 2007 in die Geschichte einzuschreiben.
Die Verschränkungen der europäischen und deutschen Identitätsdebatten lassen
erkennen, dass transnationale Erinnerungskonflikte dann konstruktiv bearbeitet
242
Ulrike Liebert
werden können, wenn der Boden hierfür durch eine auf universale Normen und
demokratische Prinzipien gestützte, europäisierte nationale Identität bereitet ist. Ob
dies nicht nur auf Deutschland sondern auch auf andere Fälle zutrifft, sollten künftige vergleichende Untersuchungen zeigen.
1
Kielmansegg, Peter Graf (1996): Integration und Demokratie. In: Jachtenfuchs, Markus/KohlerKoch, Beate (Hrsg.): Europäische Integration. Opladen: Leske und Budrich: 47-71 (2 Aufl. 2003);
S.58.
2
Ebd.. 60-1.
3
Vglch. Assmann, Aleida 2005: Nation, Gedächtnis, Identität – Europa als Erinnerungsgemeinschaft? In: Doing, Simon/Tobias Meyer/Christiane Winkler (Hg.) (2005): Europäische
Identitäten – Eine europäische Identität? Baden-Baden: Nomos: 24-32; während Assmann einen
kulturwissenschaftlichen Ansatz verfolgt, geht es im vorliegenden Zusammenhang um eine sozialwissenschaftliche Analyse.
4
Habermas, Jürgen (2006): Is the development of a European identity necessary and is it possible?
In: The divided West. Polity Press: 67-82 (dtsch. 2004), S. 67ff.
5
So etwa Bundesaußenminister Steinmeier anlässlich des XI. Internationalen Thomas Mann Festivals: http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Infoservice/Presse/Reden/2007/070714-ThMann.html
[Zugegriffen am 27. März 2008], oder der deutsche Innenminister Wolfgang Schäuble: Deutsche
oder europäische Identität?:http://nzz.gbi.de/webcgi?START=A20&T_FORMAT =5&DOKM=131665_NZZ_0 [Zugegriffen am 23. März 2008].
6
Die multidisziplinäre Literatur zur europäischen Identität umfasst verfassungsrechtliche und
rechtssoziologische Beiträge; soziologisch und sozialpsychologisch angelegte Untersuchungen;
kultur- und diskurstheoretische Analysen; historische Analysen transnationaler Öffentlichkeiten
und Identitäten; kultur- und bildungssoziologische Forschungen; sprachwissenschaftliche Studien;
und nicht zuletzt auch eine zunehmende Zahl politikwissenschaftlicher Analysen.
7
Als Beispiele für internationale und interdisziplinäre Großforschungsprojekte zur europäischen
Identität und daraus hervorgegangene Publikationen seien hier genannt: Herrmann, Richard
K./Risse, Thomas/Brewer, Marilynn B. (Hrsg.) (2004): Transnational Identities. Becoming European in the EU. Lanham et al.: Rowman & Littlefield; Ichijo, Atsuko/Spohn, Willfried (2005):
Entangled Identities. Nations and Europe. Aldershot: Ashgate; Eder, Klaus/Spohn, Willfried
(Hrsg.) (2005): Collective Memory And European Identity: The Effects of Integration and
Enlargement. Aldershot: Ashgate Publishing.
8
Dem konstitutionalistischen Verständnis nach gelten Rechte und Gesetze als „politisch neutralisierte Zäune, die Übergriffe gesellschaftlicher Mächte auf die Politik ebenso unmöglich machen
sollen wie außergesetzliche Eingriffe der Staatsgewalt in die privaten Angelegenheiten seiner Bürger“, siehe Brunkhorst, Hauke (2007): Die Verfassung als Verkörperung kommunikativer Macht.
Zu Hannah Arendts komplexer Theorie der Macht. In: Internationale Zeitschrift für Philosophie. 1:
28 – 51, S. 40.
9
Brunkhorst 2007 (s.o. fn 8), S.40f.
10
Hermann/Brewer/Risse 2004 (siehe fn 6).
11
Risse, Thomas (2001): A European Identity? Europeanization and the Evolution of Nation-State
Identities. In: Transforming Europe. In: Cowles, Maria/Caporaso, James A./Risse, Thomas (2001):
Transforming Europe? Europeanisation and Domestic Change. Ithaca, NY: Cornell University
Press: 198-216.
12
Habermas, Jürgen/Derrida, Jacques: Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas. FAZ 31. 5.
2003, abrufbar unter: http://www.cuci.nl/~bergstr6/Die%20Wiedergeburt%20Europas%20J.Habermas%20FAZ20030531.pdf [Zugegriffen am 19. März 2008]
13
Della Porta, Donatella (2007): The Global Justice Movement: Cross-National and Transnational
Perspectives. Boulder: Paradigm Publishers.
Perspektiven einer europäischen Erinnerungsgemeinschaft
14
243
Puntscher Riekmann, Sonja/Wodak, Ruth (2003): „Europe for All“ – diskursive Konstruktionen
europäischer Identitäten. In: Mokre, Monika/Weiss, Gilbert/Bauböck, Rainer (Hrsg.): Europas
Identitäten. Mythen, Konflikte, Konstruktionen. Frankfurt/New York: Campus Verlag: 283-303.
15
Dieser analytisch-konzeptionellen Debatte kann an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden; siehe Eriksen, Erik O./Fossum, John E. (Hrsg.) (2007): How to Reconstitute Democracy in
Europe? In: Proceedings from the RECON Opening Conference. RECON Report No 3, ARENA
Report 8/07, Oslo, September 2007: 7-47.
16
Biedenkopf, Kurt (2006): United in Diversity: What Holds Europe Together? In: Michalski,
Krzysztof (Hrsg.) (2006): What holds Europe together? Budapest, New York: Central European
University Press: 13-29; Michalski, Krzysztof (Hrsg.) (2006): What holds Europe together?
Budapest, New York: Central European University Press.
17
Habermas, Jürgen (1998): Die postnationale Konstellation. Politische Essays. Frankfurt a.M.:
Suhrkamp, S. 195.
18
Nida-Rümelin, Julian (2007): Europäische Identität? – Das normative Fundament des europäischen Einigungsprozesses. In: Nida-Rümelin, Julian/Weidenfeld, Werner (Hrsg.) (2007):
Europäische Identität: Voraussetzungen und Strategien. Baden-Baden: Nomos.
19
Michalski 2006 (s.o. fn 14); Nida-Rümelin, Julian/Weidenfeld, Werner (Hrsg.) (2007):
Europäische Identität: Voraussetzungen und Strategien. Baden-Baden: Nomos.
20
Biedenkopf et al. 2006 (s.o. fn14); Nida-Rümelin/Nida-Rümelin 2007 (s.o. fn 17).
21
Biedenkopf 2006 (s.o. fn 14), S.15.
22
Ebd.. S. 95-97.
23
Ebd. S.102; 98. Um dieses Ziel zu erreichen, hebt Biedenkopf drei Bedingungen hervor: Die
Entwicklung einer Zivilgesellschaft in Europa müsse gefördert werden; europäische Politik bedürfe zweitens einer „überzeugenden und transparenten politischen (und nicht bürokratischen) Führung“ (S. 99); und schließlich müssten die europäischen Religionen aufgrund der „gemeinschaftsförderlichen Macht des religiösen Glaubens“, eine größere Rolle in der Öffentlichkeit spielen
(ders., S. 101).
24
Nida-Rümelin 2007 (s. fn 16), S.31-37.
25
Ebd., S.42.
26
Frevert, Ute (2006): Does Europe Need a Cultural Identity? Ten Critical Remarks. In: Michalski,
Krzysztof (Hrsg.) (2006): What holds Europe together? Budapest, New York: Central European
University Press: 121 – 126; Feichtinger und Csáky 2007 (s.o. fn17).
27
Beck/Grande 2004: 15.
28
Das Kopenhagener Dokument zog erstmals eine Verbindung zwischen außenpolitischer Rolle
Europas, europäischer Identität und demokratischen Verfassungsprinzipien, indem darin die neun
Außenminister den Willen der EG zum Ausdruck brachten, „die Grundsätze der repräsentativen
Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der sozialen Gerechtigkeit, die das Ziel des wirtschaftlichen
Fortschritts ist, sowie die Achtung der Menschenrechte als die Grundelemente der europäischen
Identität“ zu wahren und zugleich eine aktive Rolle in der Weltpolitik zu spielen; siehe Haftendorn, Helga (2005): Transformation und Stabilität - Willy Brandt und die deutsche Außenpolitik.
In: Horst Möller/Maurice Vaisse (Hrsg.): Willy Brandt und Frankreich. Oldenburg:
Wissenschaftsverlag: 1-22.
29
Habermas, Jürgen (1990): Die nachholende Revolution. Frankfurt a.M.: Suhrkamp; Müller, JanWerner (2007): Constitutional Patriotism. Princeton: Princeton University Press; Haltern, Ulrich
(2002): Europäische Verfassung und europäische Identität. In: Elm, Ralf (Hrsg.): Europäische
Identität. Paradigmen und Methodenfragen. Baden-Baden: Nomos: 239-290.
30
Habermas 1998 (s.o. fn15).
31
Habermas 2006 (s.o. fn 3), S.70.
32
Meyer, Thomas (2007): Die Stärkung der sozialen Dimension: Auf dem Weg zu einer politischen Identität der EU. In: Nida-Rümelin, Julian/Weidenfeld, Werner (Hrsg.) (2007): Europäische
Identität: Voraussetzungen und Strategien. Baden-Baden: Nomos.
244
33
Ulrike Liebert
Dies solle reichen: „Ein Verfassungsrecht ex parte civium sollte auf das demokratische, rechtsstaatliche und effiziente Operieren der Politik abzielen und nicht nach der Identität und damit der
Seele des Bürgers greifen“; siehe Bogdandy, Armin von (2004b): Europäische Verfassung und
europäische Identität. In: Juristenzeitung 59.2: 53-61.
34
Danach werden bzw. sollten individuelle und kollektive Identitäten in komplexen Gesellschaften
mit ihren verschiedenen Sphären von Werten nicht mehr unkritisch über die Internalisierung religiöser oder nationalistischer Imperative geformt, ein unproblematischer Bezug zu einem quasiheiligen Objekt, einschließlich dem Vaterland, sei daher nicht länger verfügbar. In der entzauberten Welt entwickelten Individuen vielmehr das, was Habermas, nach dem psychologischen Modell
von Lawrence Kohlberg, „post-konventionelle Identitäten“ nennt: Demnach würden Identitäten in
dem Maße dezentriert, in dem Individuen im Licht umfassenderer moralischer Erwägungen relativierten, was sie selber wollten und was andere von ihnen erwarteten; Müller 2007 (s.o. fn 27), S.27.
35
Habermas, Jürgen (2001): Why Europe needs a Constitution? In: New Left Review 11.
September-Oktober. Hinsichtlich der von Habermas immer wieder aufgeworfenen zeitdiagnostischen Frage „Aus Katastrophen lernen“, plädiert Christian Joerges gegenüber der geschichtsvergessenen Handhabung des Post-Laeken Verfassungsprojekts für die Durcharbeitung „bitterer
Erfahrungen“ als Voraussetzung einer „gereinigten Europäischen Identität“; siehe Joerges, Christian/Mahlmann, Matthias/Preuß, Ulrich (2008): „Schmerzliche Erfahrungen der Vergangenheit“ und
der Prozess der Konstitutionalisierung Europas. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften.
36
Habermas 2006 (s.o. fn3), S.78-9.
37
Ebd.., S. 71.
38
Eder, Klaus (2005): Remembering National Memories Together: The Formation of a Transnational Identity in Europe. In: Eder, Klaus/Spohn, Willfried (Hrsg.): Collective Memory And
European Identity: The Effects of Integration and Enlargement. Aldershot: Ashgate Publishing:
197-220.
39
Kantner, Cathleen (2006): Collective Identity as Shared Ethical Self-Understanding: The Case of
the Emerging European Identity. In: European Journal of Social Theory. 9.4: 501-523.
40
Frevert, Ute (2005): Europäische Zivilgesellschaften: Inhärente Spannungen und historische
Lernprozesse. In: Doing, Simon/Tobias Meyer/Christiane Winkler (Hrsg.) (2005): Europäische
Identitäten – Eine europäische Identität? Baden-Baden: Nomos: 167-183. Ruzza, Carlo: Identifying uncivil society in Europe: towards a ‚new politics of the enemy’?; in Liebert, Ulrike, Trenz,
Hans-Jörg (2010): The New Politics of European Civil Society. Routledge; Liebert, Ulrike (2010):
Exit, voice or loyalty: The new politics of European civil society; ebd.
41
Beck, Ulrich/Grande, Edgar (2004): Kosmopolitisches Europa: Gesellschaft und Politik in der
Zweiten Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp (2. Auflage), S.159.
42
Die bislang einzige, alte und neue EU-Mitgliedsstaaten in historischer Perspektive vergleichende
Analyse dieser national-europäisch „entangled identities“ findet sich in Eder & Spohn 2005. Dem
ähnelt auch das, was Thomas Risse als „Marmorkuchen“ versteht, nämlich dass die verschiedenen
Komponenten der individuellen Identität nicht anhand verschiedener Ebenen differenziert werden
können. Anders als Wilfried Loth, der von der „Mehrschichtigkeit der Identitätsbildung in Europa“, d.h. nationaler, regionaler and europäischer Identitäten ausgeht (Loth, Wilfried (2002b): Die
Mehrschichtigkeit der Identitätsbildung in Europa. Nationale, regionale and europäische Identität
im Wandel. In: Elm, Ralf (Hrsg.): Europäische Identität. Paradigmen und Methodenfragen. BadenBaden: Nomos), nimmt Risse an, dass sich die deutschen und europäischen Komponenten immer
gegenseitig beeinflussen, mischen und ineinander übergehen (Risse 2005: 296; Risse 2004: 251–2).
43
Kohler-Koch, Beate/Knodt, Michèle (Hrsg.) (2000): Deutschland zwischen Europäisierung und
Selbstbehauptung. Frankfurt am Main: Campus (1. Aufl.).
44
So bekundete Theodor Eschenburg, Chronist der vier deutschen Regime des 20. Jahrhunderts,
ihn habe „Brandts Parole „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ in der Regierungserklärung von
1969 …geradezu erschreckt“, während Helmut Schmidt ihm deswegen imponierte, weil „er der
einzige unter den Kanzlern der Nachkriegszeit war, der gegen den Zeitgeist regiert hat“; s.
Perspektiven einer europäischen Erinnerungsgemeinschaft
245
Eschenburg, Theodor (2000): Letzten Endes meine ich doch. Erinnerungen 1933 – 1999. Berlin:
Siedler Verlag, S.230; 240/1.
45
Sternberger, Dolf (1995): Ich wünschte ein Bürger zu sein. Frankfurt am Main: Bibliothek
Suhrkamp.
46
In seiner Berner Rede vom 23. März 1949 trat Konrad Adenauer erstmals für den Zusammenschluss der westeuropäischen Länder zur Rettung Europas ein: „Kaum ein Gedanke ist in Deutschland zur Zeit so populär wie der des Europa-Zusammenschlusses“ (Adenauer, Konrad (1965):
Erinnerungen 1945-1953. Stuttgart: dva (6. Aufl. 1987), S.190.
47
Liebert, Ulrike (1991): Kein neuer deutscher Nationalismus? Vereinigungsdebatte und
Nationalbewußtsein auf dem „Durchmarsch“ zur deutschen Einheit. In: Liebert, Ulrike/Merkel,
Wolfgang (Hrsg.): Die Politik zur deutschen Einheit. Probleme - Strategien – Kontroversen. Opladen: Leske + Budrich: 51-94.
48
Die umfassendste Analyse der Auseinandersetzungen des Deutschen Bundestages mit der nationalsozialistischen Herrschaft über vier Jahrzehnte hinweg findet sich bei Helmut Dubiel (1999),
„Niemand ist frei von der Geschichte“; München: Carl Hanser Verlag.
49
Vgl. den Beitrag von Krasnodebski, Zdzislaw: Erinnerungskonflikte, Gespräch und Versöhnung,
s.o., in diesem Band.