trends - Dr. Claudia Schulz
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TRENDS DIE RHEINPFALZ AM SONNTAG SEITE 16 30. JANUAR 2011 Wie, Herrenstiefel – jetzt?! Aber unbedingt! Erstens ist Winterschlussverkauf. Ein schmuckes Schnäppchen wird also allemal noch drin sein. Zweitens ist es eh noch ein paar Wochen lang kalt. Und drittens darf es ruhig noch länger kalt bleiben, wenn man so etwas Schönes wie Stiefel tragen kann! Von Thomas Huber A YEAH, YEAH, YEAH! Eigentlich kein Stiefel, sondern eine Stiefelette: Chelsea Boots schätzten schon die Beatbands der 60er Jahre. Sie können elegant sein, obwohl auch Austin Powers welche getragen haben soll. Man sieht sie heute sogar unter feinsten Business-Anzügen hervorlugen. Vor allem aber sind sie eins: Sehr praktisch! Diese hier sind von Zeha Berlin: www.zeha-shop.de ls ich die Stiefel sah, musste ich sie haben. Und als ich sie anhatte, war alles ganz einfach. Sie wurden bei einer großen schwedischen Bekleidungskette feilgeboten. Sie waren von billiger Machart, aber sie sahen einfach rattenscharf aus: anthrazitfarben, der Fuß nicht zu derb, aber auch nicht zu zierlich und aus Kunstleder, der Schaft textil, die Schnürung auf den oberen vier Reihen von Ösen gehalten. Es war Liebe auf den ersten Blick. Nach vier Monaten im Fast-Dauereinsatz waren sie kaputtgelatscht. Ein Schuh, dessen Schaft oberhalb des Knöchels endet, ist am Herrenbein meist als Funktionskleidung im weiteren Sinne zu verstehen. Der Männerstiefel muss was leisten. Musste er schon immer. Seine Karriere begann er schon vor über 10.000 Jahren. „Seit der erste Jäger einem Hasen, Kaninchen oder was sonst so zu fangen war das Fell über die Ohren gezogen hat, hat er dieses auch genutzt“, weiß Dr. Rosita Nenno vom Deutschen Schuhmuseum in Offenbach. Aus simplen Lappen, die mit Pflanzenfasern um Fuß und Bein gebunden wurden, wurden mit der Zeit Schuhe und eben auch Stiefel. Später trugen die Römer aus Riemen gefertigtes Schuhwerk, das ob seiner Luftigkeit ebensogut Sandale wie wegen der Schafthöhe Stiefel war. Mit der Herausbildung technischer Feinheiten beim Reiten bekamen die Männer richtige Absätze, um sich besser in den Steigbügeln halten zu können. Anfang des 19. Jahrhunderts gerieten die Herrenstiefel dann auf den absteigenden Ast und zogen sich in die Nischen zurück: Reiterei, Militär. Funktionskleidung eben. Der Männerstiefel muss was leisten. Er ist immer Funktionskleidung im weitesten Sinne. ARBEITER Ja, es gibt ihn: Den ganz normalen Herrenstiefel. Man wird in diesem Segment wieder etwas mutiger, aber auch dieses schöne Exemplar verweist im Design noch auf den gewöhnlichen Arbeitsschuh. Im Preis übrigens nicht, für den würde man eine Handwerker-Komplettgarderobe bekommen. Noch ein Grund, ihn über der Hose zu tragen. sonst lohnt es sich ja nicht. Von Moma bei www.zalando.de KRASS Dieser Entwurf ist in der Tat ein radikaler. Aber nicht jeder, der Springerstiefel trägt, hegt anrüchiges Gedankengut. Manche fühlen sich einfach wohl darin; vor allem hohe Schäfte, in diesem Fall mit 20-Loch-Schnürung, sind sozusagen das Korsett des kleinen Mannes ... sieht unter einer langen schwarzen Hose gar nicht übel aus. Dieses Exemplar ist von New Rock: www.newrock-online.de Heutzutage ist der Herrenstiefel mal mehr, mal weniger präsent. In diesen zu Ende gehenden Wintertagen sollte der Gentleman, folgt man den tonangebenden Kollektionen, seine Füße holzfäller- und bergsteigermäßig rustikal verhüllen – und dazu stehen: „Stiefel über der Hose tragen“, kommandierte das Männermagazin GQ schon im Herbst. Wirklich schöne Modelle ohne allzu deutliche Anspielungen auf einen wie auch immer gearteten Zweck sind leider nicht nur selten, sondern meist auch teuer. Neidvoll blickt der stiefelbewusste Herr in die Fülle, die den Damen angeboten wird. Das trägt der Tatsache Rechnung, dass es nun mal insgesamt weniger Modelle für ihn gibt, weiß Dr. Claudia Schulz vom Deutschen Schuhinstitut (DSI): „Es liegt im Herrenbereich sicher daran, dass nur wenige, meist sehr hochwertig ausgerichtete Hersteller überhaupt Stiefel anbieten.“ Zudem stellt diese Sorte Schuh höhere Ansprüche an Material und Hersteller. Man braucht mehr, und wenn das Obermaterial Leder ist, sind größere fehlerfreie Stücke nötig. Beim DSI hat man zumindest registriert, dass Herrenstiefel wieder kommen. „Insbesondere Chelsea- und Schnürboots sind gefragt“, sagt Schulz. Bei beiden handelt es sich eher um Stiefeletten, also wörtlich Stiefelchen. Eine genaue Definition für diese Verniedlichung gibt es nicht, und die Hersteller bezeichnen ihre Produkte mal als Stiefel, mal als Stiefelette oder als „Boot“ – also einfach das englische Wort für Stiefel. Wie‘s ihnen gerade passt. Im Schuhmuseum handhabt man es pragmatisch: „Alles bis zum Knöchel ist ein Schuh, sofern er einen geschlossenen Schaft hat“, sagt Rosita Nenno. Schon mal gut zu wissen. „Vom Knöchel bis zur Wadenmitte haben wir es mit Stiefeletten zu tun. Alles darüber Hinausgehende ist ein Stiefel.“ Na also, geht doch. Manch ein Stiefelfreund flüchtet, entsprechende Schuhgröße vorausgesetzt, gar in die Damenabteilung. Der erwähnte Chelsea Boot ist also eine Stiefelette mit einem StretchStreifen an der Seite. Erfunden von britischen Schuhmachern in den 1830er Jahren, trugen ihn schon die Beatles in einer Variante mit sehr scharfen Spitzen und höheren Absätzen, und die stilbewusste Jugendkultur der Mods, existierend schon seit den frühen 60ern, ist darin sozusagen alt geworden. Die Mods trugen meist Anzüge und bedeckten so den Schaft dezent mit der Hose. In den 70ern war dann Polen offen: Jeans und Stiefel wurden gesellschaftsfähig, und auf den Straßen sah man Desert-Boots und Cowboystiefel. Punks und Skinheads adoptierten den aus dem Militär kommenden Springerstiefel, den später auch die Gothics anzogen. Auch derbe Arbeits- und Motorradstiefel, „Engineer Boots“ genannt, blieben ebenso wie Cowboystiefel in Nischen hängen. Letztere zu tragen, hat heute nicht mehr so sehr einen rebellischen als vielmehr einen prätentiösen Beigeschmack: „Im Wilden Westen habe ich nichts dagegen“, urteilt Schulz trocken. „Ansonsten lieber nein.“ Rosita Nenno räumt ein: „Es ist schwieriger, in der Mode zu rebellieren, weil alles schon mal da war und heute fast alles erlaubt ist.“ Dieses „fast“ ist allerdings entscheidend. Denn zwischen zurückhaltenden Designs und solchen, für die schnell das Antikompliment „gewagt“ gefunden ist, gibt es nicht viel. Manch ein Stiefelfreund flüchtet, sofern er eine passend kleine Schuhgröße aufzuweisen hat, gar in die Damenabteilung, wie man im Internet nachlesen kann. Und das ist doch schon – genau: gewagt. Immerhin: Claudia Schulz weiß zu berichten, „dass zum kommenden Winter der Anteil an Stiefeletten und auch Stiefeln bei Herrenschuhanbietern stark ausgebaut wird.“ Auf einer Messe hat sie gerade viele Modelle mit ausgefallenen Details entdeckt. „Topseller sind Lammfellboots und Schnürstiefeletten, die lässig offen getragen und in die die Hosen unordentlich hineingesteckt werden.“ Lammfellboots. Nun ja. Wie gesagt: Er muss eben was leisten, der Männerstiefel. Nur schön sein – schwierig. YEE-HAW! Die Meinungen über Cowboystiefel sind zugegebenermaßen geteilt. Bei Modeexperten stoßen sie derzeit mehrheitlich auf Ungnade. Bei Orthopäden wahrscheinlich auch. Und was sagt der Cowboy dazu? „Wayne interessiert‘s?“ – Eben. Gibt‘s z.B. bei „World of Western“: www.western.de NOCH KRASSER Ein bisschen radikaler geht‘s immer. Der Besitzer dieses Schuhs ist in der Regel ein Gentleman, der so lange Schwarz trägt, bis es was Dunkleres gibt. Er beweist überdies: Es gibt Männer, die sich plateauhoch auf die Straße trauen. Wenn sie sich trauen. Auch hier hat New Rock zugeschlagen: www.newrock-online.de fotos: zeha berlin, world of western, all you need tonight, zalando, new rock (2) HOCH DAS BEIN Ob das ein Witz sein soll? Selbstverständlich. Allerdings: Diesen Schuh gibt es bis Größe 46. Und wer die 70er hauptsächlich aus alten Musikvideos kennt, der weiß, dass solche Schuhe wirklich einmal von Männern getragen wurden. Die Idee, heute damit auf die Straße zu gehen, ist ein bisschen wie Kommunismus: verlockend, aber nicht praktikabel. Wer sich trotzdem als Trendsetter versuchen möchte, bekommt ihn z.B. bei www.allyouneedtonight.de Möge der Schaft mit Dir sein! RSG_16