Strukturanalyse des Landkreises Helmstedt
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Strukturanalyse des Landkreises Helmstedt
I Strukturanalyse Landkreis Helmstedt im Auftrag des Landkreises Helmstedt 1992-1994 Band 1: Textfassung Herausgeber: Landkreis Helmstedt Südertor 6 38350 Helmstedt ( 0 5 3 51 ) 121-0 Verfasser: Diplom-Sozialökonom Klaus Kunz und Diplom-Geograph Jörg Pohl unter Mitarbeit von Annette Litzenberg und Karin Pape Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die des Nachdrucks, der fotomechanischen oder tontechnischen Wiedergabe und der Übersetzung. Ohne schriftliche Zustimmung des Landkreises Helmstedt ist es auch nicht gestattet, aus diesem urheberrechtlich geschützten Werk einzelne Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder mittels aller Verfahren wie Speicherung, und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder Platten und andere Medien zu verbreiten und zu vervielfältigen. Ausgenommen sind die im § 53 UrhG genannten Sonderfälle. I II Vorwort des Herausgebers Die vorliegende „Strukturanalyse Landkreis Helmstedt“ ist im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme des Arbeitsamtes Helmstedt in zweijähriger Arbeit entstanden. Die beiden Autoren, Diplom - Sozialökonom Klaus Kunz und Diplom - Geograph Jörg Pohl wurden bei ihrer Tätigkeit von Annette Litzenberg und Karin Pape unterstützt und vom Amt für Wirtschaftsförderung, Fremdenverkehr und Statistik des Landkreises betreut. Die entscheidende Herausforderung an das Team war, einerseits die Vergangenheit des Landkreises aufzuarbeiten, dabei grundlegende Strukturen erkennbar zu machen, aber andererseits auch die Phase nach der Grenzöffnung kritisch zu begleiten und nach Möglichkeit eine Vorausschau der weiteren Entwicklung zu betreiben. Dabei sollte es nicht nur um eine Deskription von vergangenen und aktuellen Entwicklungen gehen, sondern auf Basis ihrer weitreichenden Kenntnisse über soziale und wirtschaftliche Zusammenhänge, über einzelne Vorgänge und über das Zusammenspiel der Kräfte im Landkreis Helmstedt und darüber hinaus sollten die Autoren auch Defizite und daraus abgeleitet Handlungsmöglichkeiten für den Landkreis Helmstedt aufzeigen. Hilfreich war bei der Erstellung der Analyse, daß der Landkreis Helmstedt auch zur Lenkungsgruppe der bereits ein Jahr zuvor veröffentlichten Analysen des Niedersächsischen Instituts für Wirtschaftsforschung ( NIW ) und der ISA Consult Hamburg zählten, was einen fruchtbaren Dialog und Informationsaustausch ermöglichte. Alle Analysen zusammen stellen den Landkreis Helmstedt in seiner ganzen Vielfalt , aber auch mit all seinen Strukturproblemen , deren Ursachen zeitlich zum Teil sehr weit zurückliegen, dar. Ein Kernproblem des Landkreises ist seine doppelte Abhängigkeit vom Bergbau (Braunkohle) und vom Straßenfahrzeugbau (Automobilproduktion in Wolfsburg). Daneben brachte der Wegfall der Zonengrenze dem Landkreis nicht nur Chancen und neue, gute Nachbarn als Partner, sondern zugleich auch eine Zunahme der Standortkonkurrenz an der Nahtstelle zweier Bundesländer, verstärkt durch ein erhebliches Förderungsgefälle zugunsten des Landes Sachsen - Anhalt. Die „Strukturanalyse Landkreis Helmstedt“ greift in zwei Bänden diese Problematik auf: Band 1, die Textfassung, hat als Schwerpunkte u. a. eine Darstellung der wirtschaftlichen Gesamtsituation des Landkreises und dabei unter Auswertung aller zugänglichen Daten, Presseveröffentlichungen und sonstigen Materialien eine genaue Betrachtung des Automobilbaues in Wolfsburg. Wichtige Inhalte sind ferner die Befragung zur Wirtschaftsförderung im Landkreis und eine Befragung von Politik und Verwaltung im Gebiet der DEUREGIO Ostfalen e.V., dem grenzübergreifend wirkenden Verein, dem neben dem Landkreis Helmstedt auch der Börde- und Ohrekreis aus Sachsen - Anhalt angehören. Band 2 bietet schließlich eine Zusammenstellung aller Daten, Statistiken und Übersichten, die zur Anfertigung des Gesamtwerkes erforderlich waren. Der Dank gilt allen Institutionen, Verwaltungen und Personen, die das Zustandekommen der Strukturanalyse durch Anregungen, Gespräche und/oder die Bereitstellung von Daten, Informationen oder sonstigem Material ermöglichten. Obwohl die Zeit sehr schnellebig ist und das Manuskript bereits im Sommer 1994 abgeschlossen wurde, enthält die Analyse viele Hinweise, die dem interessierten Leser als Handreichung, auch über aktuelle Entscheidungen hinaus, weiterhelfen können. III Zu den aktuellen Entwicklungen zählt, daß inzwischen Teile des Landkreises als Ziel - 2 - Gebiet der Europäischen Union ( EU ) anerkannt wurden und auch Aufnahme in die Gemeinschaftsinitiative Rechar, eine Initiative für alle Kohlestandorte in der EU, fanden. Diese Aufnahme ist nicht zuletzt den Analysten zu verdanken, die im Rahmen ihrer Tätigkeiten diese Fördermöglichkeiten für den Landkreis Helmstedt erarbeiteten. Für den Landkreis Helmstedt bietet das die Chance, mit den Fördermitteln der EU und unter Berücksichtigung der Ergebnisse der unterschiedlichen Analysen, ganz pragmatisch eine Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen im Landkreis herzustellen. gez. Reilemann ( Landrat ) gez. Kilian ( Oberkreisdirektor ) -1- Band I: Strukturanalyse 1. 1.1 1.1.1 1.1.2 1.2 1.2.1 1.2.2 1.3. 1.3.1 1.3.2 1.3.3 1.3.4 1.4 Der Landkreis Helmstedt Die geographische Abgrenzung des Landkreises Flächengröße und angrenzende Gebiete Zentrale Orte und zentralörtliche Zuweisungen Der Naturraum Die Vegetation Klima Ein geschichtlicher Abriß des Landkreises Helmstedt Kaiser Lothar von Süpplingenburg Salz und Kohle Die Academia Julia Die (ehemalige) Universitätsbibliothek zu Helmstedt Ein Abriß der politischen und territorialen Entwicklung des Landkreises Helmstedt Der Landkreis und die Gebietsreform 1972-1974 Die Grenze und ihre Wirkung auf den Landkreis Helmstedt Die Gründe für eine Zonenrandförderung Die verschiedenen Zonenrandförderprogramme Zonenrandförderung nach der ROG Zonenrandförderung nach dem Zonerandfördergesetz Zonenrandförderung nach der GRW Die ehemalige Zonenrandförderung im Beihilferecht der EG Die Zonenrandförderung in der Kritik Förderoptionen des Zonenrandes Aktuelle wirtschaftliche Rahmenbedingungen im ehemaligen Zonenrandgebiet 1.5 1.5.1 1.5.2 1.5.2.1 1.5.2.2 1.5.2.3 1.5.2.4 1.5.3 1.5.4 1.5.5 Seite 11 11 11 11 12 15 15 16 17 18 19 20 21 22 23 23 24 25 25 25 26 26 29 29 2. Die Bundesrepublik vor der demographischen Wende Bevölkerungsrelevante Vorgänge u.a. im Landkreis Helmstedt 31 33 3. 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.2.1 3.1.2.2 3.1.3 44 3.1.4. 3.1.5 3.1.5.1 3.1.5.2 3.1.5.3 3.1.6 Wirtschaftliche Entwicklung im Landkreis Helmstedt Wirtschaftsstruktur und Strukturwandel Einleitung und Untersuchungsmethoden Historischer Rückblick der Wirtschaftsentwicklung Bewertung und Konsequenzen bisheriger Wirtschaftsförderung Zukünftige Förderprioritäten Entwicklungsverlauf der Arbeitstätten und der Industriedichte 35 35 35 36 41 43 Entwicklungsverlauf der Bruttowertschöpfung Wirtschaftsstruktur im Landkreis Helmstedt Sachgüterproduktion und Dienstleistungsbereiche im Detail Automobilzulieferverflechtungen Die BKB AG und das Braunkohlerestaufkommen Unternehmensorientierter Dienstleistungsbereich Ansätze einer neuen Marktorientierung für die DTA Eigenständigkeit ansässiger Unternehmen Technischer Fortschritt und Landkreisentwicklung Stadtumlandentwicklung von Helmstedt Grenzöffnung - wirtschaftliche Entwicklung und Strukturwandel im Wirtschaftsraum Landkreis Helmstedt Handel und Handwerk Ökonomische Indikatoren Zusammenfassung 46 50 53 59 62 66 68 70 72 73 3.1.7 3.1.7.1 3.1.7.2 3.1.8 3.1.9 3.1.10 75 78 80 81 -1- -2- 3.1.11 3.2 Szenario Ursachen, regionale Auswirkungen der wirtschaflichen Krise und Perspektiven der VW AG, unter Einbeziehung der Automobilzulieferer 3.2.1 Einleitung 3.2.2 Personalabbauplanungen 3.2.3 Wertschöpfung der VW AG 3.2.4 Golf Parallelproduktion und Standortpräferenz 3.2.5 Marktperspektiven und Qualitätsprobleme Marktanteile in den USA 3.2.6 Rentabilitätsproblematik 3.2.7 Betriebsrats- und Gewerkschaftspolitik 3.2.8 Managerqualitäten 3.2.9 Automobilzulieferer am Anfang des (erzwungenen) Anpassungsprozesses 3.2.10 Lean production - Anspruch und Wirklichkeit 3.2.11 Flächennutzung für die Automobilindustrie ? 3.2.11.1 Beurteilung und Konsequenzen 3.2.11.2 Alternativlösungsansatz 3.2.11.3 Prioritätensetzung an die kommunale Gewerbeflächenplanung 3.2.11.4 Überregionale Handlungsempfehlungen 3.2.11.5 Arbeitsplatzbeschaffung durch ein Projekt „Industriepark” 3.2.11.5.1 Positive Betrachtung 3.2.11.5.2 Negative Betrachtung 3.2.11.5.3 Beurteilung unter strukturpolitischen Gesichtspunkten 3.2.12 Zusammenfassung 3.2.13 Szenarien 3.3 Arbeitsmarkt 3.3.1 Pendler 3.3.1.1 Einleitung 3.3.1.2 Definition 3.3.1.3 Auspendler Berufsauspendlerorientierungen 3.3.1.4 Einpendler 3.3.1.5 Interkommunale Pendlerverflechtungen 3.3.1.6 Entfernungsdistanzen 3.3.1.7 Ökonomische Ursachen 3.3.1.8 Ost-West-Verkehr und Handlungsansätze 3.3.1.9 Zusammenfassung 3.3.1.10 Szenario 3.3.2 Arbeitsangebot 3.3.2.1 Gesamtbeschäftigtenentwicklung 3.3.2.2 Erwerbsbeteiligung 3.3.2.3 Bildungsangebot 3.3.3 Erwerbslosenentwicklung 3.3.3.1 Einleitung 3.3.3.2 Strukturen des Arbeitslosenbestandes 3.3.3.3 Unterschiedliche Aspekte der Arbeitslosenstatistik 3.3.3.4 Ausmaß und Entwicklung der Arbeitslosigkeit Längerfristiger Entwicklungsverlauf 3.3.3.5 Arbeitsmarktauswirkungen der Grenzöffnung 3.3.3.6 Arbeitsbeschaffungs- und berufliche Fortbildungsmaßnahmen 3.3.3.7 Dynamik der Arbeitsplatzentwicklung 3.3.3.8 Regionale Arbeitslosigkeit unter Berücksichtigung konjunktureller und 85 85 85 87 98 100 103 109 110 120 122 131 139 144 151 154 155 159 159 159 160 160 165 168 169 169 169 170 170 171 171 173 174 175 176 179 179 180 180 181 183 185 185 186 187 190 192 194 197 198 -3- 3.3.3.9 3.3.3.10 3.3.3.10.1 3.3.3.10.2 4. 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7 4.8 5. 5.1 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4 5.3 5.3.1 5.3.2 5.4 5.5 6. 6.1 6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7 6.8 6.8.1 6.8.2 6.8.3 7. 7.1 7.2 7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.2.4 7.2.5 7.2.6 7.3 struktureller Aspekte Handlungsansätze Szenario: Dauerarbeitslosigkeit! Alternativszenario: Zukünftige Arbeitszeitgestaltung 200 205 206 206 207 Ein Exkurs in die Selbstverwaltungsgarantie der Kommunen und die Auswirkungen der aktuellen kommunalen Finanzsituation Die kommunale Finanzsituation des Landkreises Helmstedt Steueraufkommen und -einnahmen Die Gewerbesteuerhebesätze Die Gewerbesteueraufbringungskraft Der Gemeindeanteil an der Einkommenssteuer Die Steuereinnahmekraft Die Ausgabensituation Der Schuldenstand 208 209 210 211 211 211 211 212 213 Die Flächennutzung im Landkreis Helmstedt Einleitung Die tatsächliche Flächennutzung im regionalen Vergleich und unter Berücksichtigung bestimmter Flächennutzungskategorien Gebäude- und Freiflächen Betriebsflächen Erholungsflächen Verkehrsflächen Die ökologisch relevanten Flächennutzungen im Landkreis Landwirtschafts- und Waldflächen Wasserflächen Flächen anderer Nutzung Die geplante Nutzung der Bodenflächen 215 215 215 215 216 216 217 217 217 218 219 219 Die Gewerbeflächensituation im Landkreis Helmstedt 220 Die Gewerbeflächensituation im regionalen Überblick 220 Die Gewerbeflächen im Landkreis Helmstedt 220 Größen und Verfügbarkeiten der (geplanten) Gewerbegebiete im Landkreis Helmstedt 221 Die Situation im Einzelnen 221 Exemplarische Darstellung d. Bandbreite einzelner Gewerbeflächenmerkmale 223 Flächen der BKB 224 Der VW-Flächenbedarf 224 Grundsteuern und Gewerbesteuern 225 Preise für Gewerbeflächen 226 Gewerbeflächenmanagement 226 Gewerbliche Brachflächen 228 Weitere Hinderungsgründe für die Wiedernutzung von gewerblichen Brachflächen 230 Die Brachflächen im Landkreis Helmstedt 230 Vorschläge für ein Instrumentarium zur Wiedernutzbarmachung von gewerblichen Brachflächen 231 Verkehr Mobilität Das Straßennetz des Landkreises Die Autobahnen Das Verkehrsmengen und -aufkommen auf der A 2 Die Bundesstraßen im Kreisgebiet Weitere wichtige Umgehungsstraßen im Landkreis Helmstedt Regional bedeutsame Landesstraßen Kreisübergreifende Straßenverbindungen in Richtung Sachsen-Anhalt Der ÖPNV 232 232 233 233 235 236 237 237 237 239 -4- 7.3.1 7.3.2 241 7.4 7.4.1 7.4.2 7.4.3 7.5 7.6 7.7 7.7.1 7.7.2 7.8 8. 8.1 8.2 8.2.1 8.2.2 8.3 8.4 8.5 8.6 8.7 8.8 8.8.1 8.8.2 8.9 8.10 8.10.1 8.10.2 8.10.3 8.10.4 8.11 8.12 8.12.1 8.12.2 8.12.3 9. 9.1 9.1.1 9.1.2 9.1.3 9.1.4 9.1.5 9.1.5.1 9.1.5.2 9.1.5.3 9.1.5.4 9.2 9.3 9.4 9.5 Die Busverbindungen im Landkreis Helmstedt Die Möglichkeiten, von der Schiene auf den Bus umzusteigen 240 Der Schienenverkehr Der ökologisch-ökonomische Aspekt des Schienenverkehrs Die Anbindung des Hauptbahnhofes Helmstedt an einige ausgesuchte wichtige überregionale Zentren Die DB-Problemstrecke 312 Die Finanzierung des ÖPNV Der schienengebundene Güterverkehr Der Schiffsverkehr Das Wasserstraßenprojekt 17 von Hannover nach Berlin Die ökologische und ökonomische Dimension des Wasserstraßenverkehrs Der Luftverkehr 242 243 Wohnen und Wohnungsmarkt im Landkreis Helmstedt Einleitung Die Alterszusammensetzung der Bevölkerung im regionalen Vergleich und die für etwaige Wohnansiedlungsstrategien relevanten Altersgruppen Die Altersgruppe der 20-45-Jährigen Die Altersgruppe der älteren Menschen (ab 60 Jahren) Der Wohnungsmangel im Landkreis Helmstedt Der Wohngebäudebestand im regionalen Vergleich Der Gebäude- und Wohnungsbestand im Landkreis Helmstedt Die Zunahme von Wohnungen Verschiedene Gründe für Baulücken und Leerstände Anteil der Eigentümer- und Mietwohnungen an bewohnten Wohnungen Die Preise für Wohnen im Landkreis Helmstedt Baulandpreise Die Miet- und Pachtzinsen Wohnbaulandreserven im Landkreis Helmstedt Hindernisse im Wohnungsbau und deren etwaige Beseitigungsmöglichkeiten Baulandknappheit: Gründe und mögliche Überwindung Die Hofheimer Konzeption Deregulierung der Baubestimmungen Externe Faktoren Wohnen im Alter Beispiele für ein modernes Verständnis des altersgerechten Wohnens Der Aspekt des Freizeitwohnens Das Problempotential des Freizeitwohnens Träger- und Entwicklungsgesellschaften Ausblicke für den Landkreis Helmstedt im Bereich des Freizeitwohnens Der Fremdenverkehr im Landkreis Helmstedt Die äußeren Faktoren der Entwicklung des Kurz- und Urlaubsreiseverkehrs Die bestehende wirtschaftliche Situation Der demographische Aspekt und der Wertewandel Die Einkommensverteilung Die Freizeitentwicklung Weitere Entwicklungsperspektiven und -trends Das Zielfeld Städtetourismus und Geschäftsreiseverkehr Das Zielfeld Seminare, Tagungen und Schulungen Das Zielfeld Gesundheit Das Zielfeld Natur und Landschaft Die Bedeutung des Fremdenverkehrs für Niedersachsen Touristisch relevante Standortfaktoren des Landkreises Helmstedt Touristische Entwicklungsorganisationen im Landkreis Helmstedt Weitere Überlegungen zu einer übergeordneten Organisationsstruktur im niedersächsischen Fremdenverkehr Die sozioökonomische Bedeutung des Fremdenverkehrs im Landkreis Helmstedt 244 244 245 246 246 247 247 248 249 249 249 250 250 251 252 252 253 256 257 257 258 259 259 261 263 265 266 266 268 269 270 271 273 274 277 277 277 278 280 281 283 283 283 284 285 285 286 286 289 289 -5- 9.5.1 9.5.2 9.5.3 9.5.4 9.6 9.7 9.7.1 9.7.2 9.8 9.8.1 9.8.2 9.8.3 9.8.4 9.8.5 9.8.6 9.8.7 9.8.8 9.9 9.10 9.11 9.12 10. 10.1 10.1.1 10.1.2 10.2 10.2.1 10.2.2 10.2.3 10.2.4 10.2.5 10.2.6 10.2.6.1 10.2.6.2 10.2.6.3 10.2.6.4 10.3 10.4 10.4.1 10.4.2 321 10.4.3 10.5 10.6 10.7 10.8 10.9 10.9.1 10.9.2 Unmittelbar und mittelbar vom Fremdenverkehr ausgehende wirtschaftliche Wirkungen Die durch den Fremdenverkehr bewirkten Umsätze Die Ausflugsnachfrage Der Tagesgeschäftsverkehr Der Aspekt der „Zwischenstops“ Die Wertschöpfung aus der touristischen Nachfrage Beschäftigung Vollzeitbeschäftigte in Beherbergungsbetrieben je Bett Nebenerwerbsbeschäftigte Ferienzentren Was sind Ferienzentren der 2. Generation? Betriebskonzepte der Ferienparks Freizeitangebote der Ferienparks Zielgruppen Standorttypen und -präferenzen Ökologische Auswirkungen von Ferienzentren Ökonomische Auswirkungen eines Center-Parks Bezug zum Landkreis Helmstedt Chancen und Begrenzungen der Fremdenverkehrsentwicklung im Landkreis Helmstedt Perspektiven Die Förderleitlinien des Landes Niedersachsen Förderprogramme der Europäischen Union Der Bereich Fremdenverkehr in den Berufsbildungsprogrammen und -maßnahmen der Europäischen Union 291 292 293 295 295 296 296 297 297 297 298 299 300 300 301 301 303 303 304 306 306 307 310 Landwirtschaft im Landkreis Helmstedt Der ländliche Raum und die mit ihm verbundene Problematik Kennzeichnung des ländlichen Raums im Landkreis Helmstedt Die Verbindungen des ländlichen Raums zu den städtischen Bereichen und mögliche Kooperationsformen Die gewerbliche Situation in den ländlichen Samtgemeinden des Landkreises Helmstedt Samtgemeinde Grasleben Samtgemeinde Heeseberg Samtgemeinde Nord-Elm Samtgemeinde Velpke Die Wirkung der Grenzöffnung auf die Situation der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten der ehemaligen „Grenzgemeinden“ Die interne und externe Mobilität der Bevölkerung in den Samtgemeinden Samtgemeinde Grasleben Samtgemeinde Heeseberg Samtgemeinde Nord-Elm Samtgemeinde Velpke Die Bevölkerung in den Samtgemeinden des Landkreises Helmstedt Benachteiligte Bevölkerungsgruppen in den ländlichen Gemeinden Bildungsangebote in den ländlich strukturierten Gebieten des Landkreises Helmstedt Schulen und sonstige Bildungseinrichtungen Das Vereinsleben 312 312 312 Die Bundeslehranstalt Burg Warberg e. V. Die landwirtschaftliche Nutzfläche im Landkreis Helmstedt Die Verteilung der Böden und Bodenzahlen Faktoren und Folgen des landwirtschaftlichen Strukturwandels Betriebsstrukturen im Wandel Die Beschäftigten in der Landwirtschaft im Landkreis Helmstedt Das Einkommen aus landwirtschaftlicher Tätigkeit Der Aspekt der Einkommenskombination Der Landwirt als Freizeitwirt 322 322 323 324 325 325 326 327 328 314 315 315 316 316 317 318 319 319 319 319 319 320 320 321 321 -6- 10.10 10.10.1 10.10.2 10.14 10.15 Nutzung leerstehender landwirtschaftlicher Gebäude Die Rolle der Beratung Der bauplanungsrechtliche Aspekt der Umwidmung bisher landwirtschaftlich genutzter Gebäude Die Rolle des Denkmalschutzes Perspektiven des ländlichen Raumes und dazugehörige Forschungsfelder Erforschung des angewandten Instrumentariums Das endogene Potential - die Gemeinde als Keimzelle der Entwicklung Der Aspekt der nachwachsenden Rohstoffe Pflanzen, die zu den nachwachsenden Rohstoffen gehören Nutzungen nachwachsender Rohstoffe in der Industrie Die Produktlinie Zucker Die Produktlinie Stärke Die Produktlinie pflanzliche Öle und Fette Die Produktlinie Holz/Zellulose Die Produktlinie Pflanzenfasern Die Produktlinie Heil- und Gewürzpflanzen Die energetische Nutzung von Biomasse Die Wärmegewinnung aus Biomasse Hinweise für Antragsteller Kritische Momente im Bereich der nachwachsenden Rohstoffe 332 334 336 337 338 339 339 341 341 342 342 342 343 343 344 344 345 345 11. 11.1 11.1.1 11.1.2 Die Forstwirtschaft im Landkreis Helmstedt Förderprogramme im Forstbereich Erstaufforstungen Sonderregelungen 347 349 349 349 12. 12.1 12.2 12.3 12.4 12.4.1 12.4.2 12.4.3 12.4.4 12.4.5 12.4.6 12.4.7 12.4.8 12.4.9 Die kommunale Wirtschaftsförderung Aufgaben der Wirtschaftsförderung Wirtschaftsfördergesellschaft oder Amt für Wirtschaftsförderung? Die Einbindung der Wirtschaftsförderung im Gefüge der Verwaltung Eine kritische Betrachtung der Möglichkeiten der Wirtschaftsförderung Zuschüsse Darlehen Bürgschaften Steuerliche Vergünstigungen Bereitstellung von Grundstücken Erlaß oder Stundung des Erbbauzinses Freistellung von Erschließungsbeiträgen Kommunale Abgaben Errichtung von Fabrik- und Gewerbehallen, Gewerbehöfen und Gewerbeparks Vergabe von öffentlichen Aufträgen Eine kritische Betrachtung der Wirtschaftförderung Wichtige Standortfaktoren in Branchen des Dienstleistungssektors Grundstück und Grundstücksgröße Mitarbeiter Repräsentation Fühlungsvorteile Zentralität Verkehrsinfrastuktur Absatz- und Kundenorientierung Eine speziellere Branchenbetrachtung Vorschlag zur Orientierung der Wirtschaftsförderung in Bezug auf den Dienstleistungssektor Die Wirtschaftsförderung und ihre Möglichkeit als EU - Beratungsstelle für ansässige Unternehmen und Kommunen 351 352 353 354 355 355 356 356 356 357 357 358 358 10.10.3 10.11 10.11.1 10.11.2 10.11.3 10.12 10.12.1 10.12.2 10.12.3 10.12.4 10.12.5 10.12.6 10.13 12.4.10 12.5 12.6 12.6.1 12.6.2 12.6.3 12.6.4 12.6.5 12.6.6 12.6.7 12.7 12.8 12.9 13. 13.1 Auswertung der Befragung der Wirtschaftsförderer im Landkreis Helmstedt Struktur und Organisation der kommunalen Wirtschaftsförderung im 328 330 358 359 359 361 361 361 361 361 362 362 362 362 364 365 366 366 -7- 13.2 13.3 13.4 13.5 13.5.1 13.5.2 13.5.3 13.5.4 13.6 13.6.1 13.6.2 13.7 13.7.1 13.7.2 13.7.3 13.7.4 13.7.5 13.7.6 13.8 13.8.1 13.8.2 13.8.3 13.8.4 379 13.8.5 13.8.6 13.8.7 13.8.8 13.9. 13.10 13.11 13.11.1 13.11.2 13.12 13.12.1 13.12.2 13.12.3 13.12.4 14. 14.1 14.2 14.3 14.4 14.5 14.5.1 14.5.2 14.5.3 14.5.4 14.5.5 14.6 14.7 14.8 Befragungsauswertung 366 Ziele und Arbeitsschwerpunkte 367 Bedeutung der Hauptaufgabenbereiche der kommunalen Wirtschaftsförderung im Landkreis Helmstedt 367 „Wieviel Prozent Ihres Arbeitsaufwands verwenden Sie für Tätigkeiten zur..“ 368 Informationsschwerpunkte 368 „Auf welche Informationen greifen Sie im Rahmen Ihrer Funktionserfüllung zurück?” 368 „Auf welche Informationsmedien greifen Sie zurück?” 369 „Wie gehen Sie vor, um die für die Wirtschaftsförderung relevanten Informationen auf den neuesten Stand zu bringen?” 369 Wünschenswerte Aufbereitung von Datensammlungen 370 Personal- und Finanzsituation 370 Personalsituation 370 Haushaltsmittel 370 Aktions- und Tätigkeitsumfang 371 Analysetätigkeiten 371 Vorkehrungen für optimale Entwicklungsvoraussetzungen 372 Beratungs- und Vermittlungstätigkeiten 373 Koordinations- und Betreuungstätigkeiten 374 Informations- und Akquisitionstätigkeiten 375 Tätigkeiten der Erfolgskontrolle 375 Auswirkungen bisheriger Wirtschaftsförderungsaktivitäten 376 Wirtschaftsstruktur und -entwicklung 377 Arbeitsmarkt und Erwerbstätigkeit 377 Einkommen und Lebensstandard 378 Bevölkerungsstruktur und -entwicklung Technische Infrastruktur Soziale Infrastruktur Finanz- und Leistungskraft der Kommune Natur und Umwelt Ausgesprochene Hemmnisfaktoren in der Wirtschaftsförderung Interkommunale Zusammenarbeit Zusammenarbeitsbereiche Entwicklungsleitbilder „Welches Entwicklungsleitbild haben Sie für Ihre Kommune?” „Welches Entwicklungsleitbild haben Sie für Ihren Landkreis?” Verbesserungswünsche Wünschenswerte Standortbedingungen Wünschenswerte Standortverbesserungen Wünschenswerte Arbeitsmarktbedingungen Wünschenswerte Dienstleistungen 380 381 381 382 383 387 387 388 388 388 389 389 389 389 389 Die DEUREGIO Ostfalen e. V. Der geschichtliche Aspekt der DEUREGIO Ostfalen e. V: Externe Gründungsvoraussetzungen des Vereins Die Potentiale des Vereins Die Strukturen des Vereins Die Region Ostfalen und einige wichtige sozialökonomische Indikatoren dieser Region Allgemeine Situation der sachsen-anhaltinischen Mitglieder Die Bevölkerung der DEUREGIO Ostfalen Die Kaufkraft in den Landkreisen der DEUREGIO Ostfalen Die Arbeitslosenquoten in der DEUREGIO Ostfalen Gewerbeanmeldungen und Gewerbeabmeldungen Gewerbeflächen in der DEUREGIO Ostfalen Wohnbauflächen und mögliche Anzahl der Wohneinheiten Der Fremdenverkehr in der DEUREGIO Ostfalen Die Beherbergungskapazitäten in den Landkreisen der DEUREGIO Ostfalen 391 391 391 392 393 395 395 396 397 398 399 399 401 401 402 -8- 14.9 14.9.1 14.9.2 14.9.3 14.9.4 14.9.5 14.9.6 14.10 Aktuelle Projekte und unterstützende bzw. fördernde Tätigkeiten Qualitätssiegel DEUREGIO-LOGO Printmedium Museumsbahn von Helmstedt nach Haldensleben Ostfalen-Akademie Sonstige Projekte und Aktionen Kritische Momente für die DEUREGIO Ostfalen e. V. 15. 414 414 15.9 Auswertung der Befragung der Entscheidungsträger und Entscheidungsträgerinnen in der DEUREGIO Ostfalen Frage 1: „Wie sollte/könnte der Wirtschaftsraum DEUREGIO Ihrer Meinung nach in Zukunft aussehen?” Frage 2: „Stellen Sie bitte vor dem Hintergrund dieser Zielvorstellungen dar, wie sich der zukünftige Wirtschafts- und Lebensraum im Moment für Sie darstellt” Frage 3: „Wirtschaftsraum DEUREGIO Ostfalen als Produkt” Frage 4: „Wie läßt sich der Wirtschafts- und Lebensraum gegenüber anderen in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt abgrenzen?” Frage 5: „Wie läßt er sich gegenüber anderen Wirtschaftsräumen in der Bundesrepublik Deutschland abgrenzen?” Spezieller Teil: Handlungsfelder 1 . Handlungsbereich: Seit vier Jahren Grenzöffnung und die damit verbundenen Möglichkeiten 2. Handlungsbereich: Regionales Image 3. Handlungsbereich: Attraktivität der Region 4. Handlungsbereich: EU-Binnenmarkt 5. Handlungsbereich: Grenzübergreifende Kooperation in Fremdenverkehr, Wirtschaft und Natur 6. Handlungsbereich: Arbeitsmarkt „Sehen Sie weitere Handlungsfelder?” „Suchen Sie drei nach ihrer Meinung besonders wichtige Handlungsfelder aus” Der Verein als Partner und Moderator 16. 16.1 16.2 16.2.1 16.2.2 16.3 16.3.1 16.3.2 16.3.3 16.3.4 16.3.5 16.3.6 16.3.7 16.3.8 16.4 16.5 16.5.1 16.5.2 16.5.3 16.6 16.6.1 16.6.2 16.6.3 16.6.4 16.6.5 16.7 Die Europäische Gemeinschaft bzw. Europäische Union Die mittelfristige Finanzplanung der EU Deutschlands Stelle und Rolle in der EU Die Entwicklungsziele für die alten Bundesländer Die Entwicklungsziele für die neuen Bundesländer Die Kommunen im europäischen Binnenmarkt Der Aspekt der kommunalen Selbstverwaltung Das öffentliche Auftragswesen Der Aspekt Kultur Der Aspekt kommunales Wahlrecht für EU-Ausländer Der Aspekt Wirtschaftsförderung Der Aspekt kommunale Steuern Das Subsidiaritätsprinzip Fazit für die Kommunen im Landkreis Helmstedt Die Strukturfonds Die Fonds in der Einzeldarstellung Europäischer Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) Europäischer Sozialfonds (ESF) Europäischer Ausrichtungs- und Garantiefonds (EAGFL-Ausrichtung) Die Zielgebiete und ihre Differenzierungen Ziel 1 Ziel 2 Ziel 3 Ziel 4 Ziel 5 Das Förderungsverfahren 424 425 426 427 427 428 428 428 429 429 430 430 431 431 433 434 434 434 436 437 437 437 438 438 438 439 15.1 15.2 15.3 15.4 15.5 15.6 15.6.1 15.6.2 15.6.3 15.6.4 15.6.5 15.6.6 15.7 15.8 404 404 406 406 406 407 408 409 411 411 412 413 414 415 416 417 419 419 420 421 422 422 -9- 16.8 Ziel-2-Abgrenzung 440 17. 17.1 Strategische Überlegungen zur neuen wirtschaftsgeografischen Lage Veränderte Rahmenbedingungen Konsequenzen bisheriger Ergebnisse Entwicklungspotentiale durch die Ost-West Wirtschaftsachse Perspektiven durch die DEUREGIO Ostfalen e.V. Mögliche Umsetzungsstrategien Szenario: Entwicklungsperspektive DEUREGIO Ostfalen Einflußfaktoren des strukturellen Wandels Überregionale ökonomische Aspekte Innovationsmöglichkeiten und Herausforderungen an die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung des Landkreises Erster Maßnahmeschritt Zweiter Maßnahmeschritt Dritter Maßnahmeschritt Innovative Wirtschaftsförderungsvisionen 443 443 446 448 450 451 455 456 459 Anhang Bevölkerungsprognosen Offene und geschlossene Immobilienfonds EU-Programme Zur Begrifflichkeit der Region Partnerschaftsarbeit Förderungsmaßnahmen des Bundes in den alten Bundesländern für mittelständische Unternehmen, Freie Berufe und Existenzgründungen Befragung der Wirtschaftsförderer Befragung der Entscheidungsträger und Entscheidungsträgerinnen der DEUREGIO Ostfalen e. V. Unternehmensbefragung im Landkreis Helmstedt Zum Begriff der Infrastruktur Die einzelbetriebliche Förderung im Überblick 482 482 490 492 497 501 17.2 17.3 17.3.1 17.3.2 17.4 17.5 17.6 17.6.1 17.6.2 17.6.3 17.6.4 I II III IV V VI VII VIII IX X XI Literaturverzeichnis Band II: Tabellen und Statistiken Tabellenverzeichnis Tabellen 463 463 466 469 481 503 513 528 532 543 546 550 - 10 - Verfasserverzeichnis Kapitel 1. Der Landkreis Helmstedt Jörg Pohl Kapitel 2. Die Bundesrepublik vor der demographischen Wende Jörg Pohl Kapitel 3. Wirtschaftliche Entwicklung im Landkreis Helmstedt Klaus Kunz Kapitel 4. Ein Exkurs in die Selbstverwaltung der Kommunen und die Auswirkung der aktuellen kommunalen Finanzsituation Jörg Pohl Kapitel 5. Die Flächennutzung Jörg Pohl Kapitel 6. Die Gewerbeflächen Jörg Pohl Kapitel 7. Verkehr Jörg Pohl Kapitel 8. Wohnen und Wohnungsmarkt im Landkreis Helmstedt Jörg Pohl Kapitel 9. Der Fremdenverkehr im Landkreis Helmstedt Jörg Pohl Kapitel 10 Landwirtschaft im Landkreis Helmstedt Jörg Pohl Kapitel 11. Die Forstwirtschaft im Landkreis Helmstedt Jörg Pohl Kapitel 12. Die kommunale Wirtschaftsförderung als Selbstverwaltungsangelegenheit der Gemeinden Jörg Pohl Auswertung der Befragung der Wirtschaftsförderer im Landkreis Helmstedt Jörg Pohl Kapitel 14 Die DEUREGIO-Ostfalen e.V. Jörg Pohl Kapitel 15: Auswertung der Befragung der Entscheidungsträger und Entscheidungsträgerinnen in der DEUREGIO-Ostfalen Jörg Pohl Kapitel 16 Die Europäische Gemeinschaft bzw. Europäische Union Jörg Pohl Kapitel 17 Strategische Überlegungen zur neuen wirtschaftsgeographischen Lage Klaus Kunz Kapitel 13. - 11 - 1. Der Landkreis Helmstedt 1.1 Die geographische Abgrenzung des Landkreises In seinen äußeren geographischen Grenzen wird der Landkreis Helmstedt durch die Meridiane 10°36' und 11°5' ö. L. und durch die Breitenkreise 52°3' und 52°14' n. Br. begrenzt. Die Kreisstadt Helmstedt liegt bei 11° ö.L. und 52°14’ n.Br.. Die Grenzen des Landkreises sind nur zum Teil an naturräumliche Vorgaben angepaßt. Einen wirklichen Grenzsaum findet man aber im Süden des Landkreises im Bereich des Großen Bruchs. Bereits im frühen Mittelalter trennte er als sehr sumpfige und moorige Niederung den "Derlingau" im Norden vom "Harzgau" im Süden, später dann war er Grenze zum Halberstädtischen und Preußischen und in jüngster Zeit (bis 1989) zur DDR. Heute ist ein Teil des Großen Bruch lediglich eine innerstaatliche Landesgrenze und - das sei hier bereits vorweggenommen - zum Leidwesen des Landkreises Helmstedt, eine oftmals krasse Fördergrenze in einem wiedervereinten Deutschland. Eine weitere natürliche Grenzvorgabe bildet der Elm im Südwesten des Landkreises, der hier die Landkreise Wolfenbüttel und Helmstedt voneinander trennt. Im Norden sind der Vorsfelder Bereich und die Allerniederung natürliche Abgrenzungsbereiche. 1.1.1 Flächengröße und angrenzende Gebiete Der Landkreis Helmstedt umfaßt eine Fläche von ca. 674 km². Im Norden grenzt er an den Landkreis Gifhorn, im Nordwesten an die kreisfreie Stadt Wolfsburg. Im Westen zum Landkreis Helmstedt schließt der Landkreis Wolfenbüttel und die kreisfreie Stadt Braunschweig an, während im Südwesten der Landkreis Wolfenbüttel und im Süden der sachsen-anhaltinische Landkreis Halberstadt liegt. Östlich an den Helmstedter Landkreis schließen sich die sachsen-anhaltinischen Landkreise Oschersleben, Haldensleben und Klötze an, die nach der 1994 stattfindenden sachsenanhaltinischen Gebietsreform andere Zugehörigkeiten und Bezeichnungen erhalten werde. Der Kreis Klötze wird zum Großteil dem Landkreis Westmark zugeordnet, der Landkreis Haldensleben dem Ohrekreis, der Landkreis Oschersleben dem Bördekreis. 1.1.2 Zentrale Orte und zentralörtliche Funktionszuweisung Zum Kreisgebiet gehören die Gemeinden Büddenstedt und Lehre sowie die Samtgemeinden Grasleben, Heeseberg, Nord-Elm und Velpke. Außerdem gehören die gemeindefreien Gebiete der Städte Helmstedt, Königslutter und Schöningen dazu. Dem Mittelzentrum Helmstedt sind neben den beiden Städten Königslutter und Schöningen die Einheits- und Samtgemeinden zugeordnet. In Teilbereichen übernehmen die Städte Königslutter und Schöningen aufgrund ihrer Einzelhandelsund anderen Dienstleistungsausstattungen zentralörtliche Bedeutung. Sie stellen deshalb auch Grund-zentren dar. Der Wirkungs- und Verflechtungsbereich des Mittelzentrums Helmstedt wird im Norden und Westen des Landkreises vom Mittelzentrum Wolfsburg und dem Oberzentrum Braunschweig bestimmt, während nach Magdeburg erst eine teilweise Orientierung erfolgt, was sich aber im Lauf der nächsten Jahre bestimmt zugunsten einer stärkeren und engeren Bindung an die sachsenanhaltinische Stadt ändern wird. Sind die Gemeinde Lehre und die Stadt Königslutter stark nach Braunschweig hin orientiert, ist die Samtgemeinde Velpke z.B. als Wohnstandort nach Wolfsburg hin ausgerichtet. Königslutter als zweitgrößte Stadt des Landkreises Helmstedt hat kaum Verflechtungen in östliche Richtung und ist stark auf die Stadt Braunschweig „eingestellt“. Das im Norden an den Landkreis Helmstedt angrenzende Mittelzentrum Wolfsburg erfüllt im Ordnungsraum Braunschweig oberzentrale Funktion. - 12 - Die Siedlungsflächen im Landkreis zeigen unterschiedlichen Charakter. Während die Städte, aber auch die Industriegemeinden Büddenstedt und Grasleben durch mehr oder minder reine Wohn- und Gewerbegebiete sowie rundliche Industriebebauung gekennzeichnet sind, gibt es eine große Anzahl von kleineren Ortschaften, wo noch dörfliche Strukturen mit zum großen Teil intakten Bauerngehöften prägend sind. Landschaftsprägend sind desweiteren die großen Tagebaue, die dazugehörigen Kraftwerksanlagen sowie diverse Sand- und Tonabbaue. 1.2 Der Naturraum Der Landkreis Helmstedt hat dank seiner relativ langen N-S-Erstreckung Anteil an verschiedenen Landschaftselementen. Das Gebiet des Landkreises reicht von den Ausläufern des bergigen Harzvorlandes mit seinen weiten und fruchtbaren lößbedeckten Talungen bis in das weniger fruchtbare, ehemals von Gletschern bedeckte, heute von Geestböden eingenommene nördliche Flachland der Ausläufer der Lüneburger Heide. Zwei große Landschaftseinheiten, das Ostfälische Hügelland und das Weser-Aller-Flachland sind im Landkreis Helmstedt landschaftsbestimmend. Das Ostbraunschweigische Hügelland als Untereinheit des Ostfälischen Hügellandes reicht vom Großen Bruch bis an die Grenze des Hasenwinkels und umfaßt den Lappwald, die Helmstedter Mulde, den Elm, das Jerxheimer Hügelland und das Große Bruch selbst. Das Weser-Aller-Flachland schließt sich im Norden an und in den Grenzen des Landkreises Helmstedt gehören Teile des Ostbraunschweigischen Flachlandes und des Drömlings dazu. Sie unterscheiden sich im wesentlichen durch unterschiedliche Grundwasserverhältnisse, Bodenarten, Höhenlage und Landnutzungsweisen (Der Landkreis Helmstedt, 1958). Das Große Bruch als Teilstück des saaleeiszeitlichen Elbe-Urstromtals wies einst aufgrund der rückstauenden Vorflutverhältnisse (geringes Gefälle zum Flüßchen Bode) einen hohen Grundwasserstand auf, was insgesamt zur Ausbildung einer weiten Moorlandschaft führte, die für lange Zeit nur auf Knüppeldämmen zu passieren war. Bereits im 16. Jahrhundert ließ Herzog Heinrich Julius einen Schiffgraben anlegen, wohl auch um die Weser mit der Elbe zu verbinden, also eine originär „wirtschaftsförderliche Angelegenheit”. Zu den wichtigsten der oben genannten Knüppeldämme gehörten der Horndamm bei Hessen am Fallstein, der Neue Damm bei Neuwegersleben, der Damm bei Oschersleben und der Kiebitzkamm, auf dem die alte Heerstraße von Helmstedt nach Halberstadt verlief. Auch die im 19. Jahrhundert für die industrielle Entwicklung Deutschlands so wichtige Eisenbahnverbindung über Jerxheim mußte auf festen Dämmen errichtet werden. Erst in den 60ziger Jahren dieses Jahrhunderts wurden durch umfangreiche Entwässerungsmaßnahmen die Feuchtwiesen und Moorbereiche in Ackerland umgewandelt. Im regionalen Raumordnungsprogramm des Landkreises Helmstedt (1991) ist ein Teil dieses Landschaftsbereiches dahingehend ausgewiesen worden, daß durch landschaftsgestalterische und ökologische Maßnahmen eine ökologische Aufwertung dieses Landschaftsbereiches erreicht werden soll. Im nachbarlichen Wulferstedt, Landkreis Oschersleben, ist eine Initiative in Form eines Vereins gegründet worden, die sich der naturnahen Nutzung des in diesem Bereich noch erhaltenen Feuchtgebiets des Großen Bruch beschäftigt (z.B. durch Propagierung und Projektierung einer extensiven Weidenhaltung von Fleischrindern). Durch die Grenzziehung bedingt wurde hier die moorige Situation erhalten, während ja auf niedersächsischer Seite durch die Meliorationsmaßnahmen ein intensiv genutztes Ackerland entstand. Das Jerxheimer Hügelland besteht aus dem östlichen Teil der Schöppenstedter Börde, einschließlich des Heesebergs als deren südliche Begrenzung und höchsten Erhebung des Jerxheimer Hügellandes. Da der Heeseberg aus Buntsandstein aufgebaut ist und im Bereich der Hauptrogensteinbank ausstreicht, finden sich dort viele ehemalige Steinbrüche. Einst wurde hier der Rogenstein, ein stark sandiger Kalkstein als Baustoff gewonnen. Ein paar Bemerkungen zu der Börde, an der der Landkreis Helmstedt in geringem Umfang teil hat. Landwirtschaftlich gesehen ist die Börde aus dem Grund wichtig, da sich hier die landwirtschaftlich hoch geschätzten Schwarzerden finden, die entsprechend intensiv ausgenutzt werden können. - 13 - Die Bezeichnung „Börde“ wird aus dem mitteldeutschen „boren“, dem heutigen niederdeutschen „bören“ oder hochdeutschen „gebühren“ beziehungsweise „heben“ abgeleitet. So bezeichnet das Wort Börde also ursprünglich nichts anderes als einen Bezirk, in dem etwas gehoben wird oder aus dem einem anderen etwas „gebührt“. Auch heute werden noch Steuern, Gebühren erhoben. Die Börde war ursprünglich also ein Landschaftsbereich, in der in irgendeiner Weise ein Zins, Gebühren oder ähnliches erhoben wurden. Börde ist demnach ein Rechtsbegriff für einen Zins- und Verwaltungsbezirk, der sich allmählich seit dem Mittelalter in einen geographischen Begriff verwandelt hat. Da die Böden der Börde außergewöhnlich fruchtbar sind, ist die Bezeichnung Börde heute gleichzeitig ein Qualitäts- und Gütezeichen (Volksstimme, Oschersleber Ausgabe vom 31.8.93, Wie aus „Borde“ die Börde wurde). Die Topographie des Elm wird vom langen Elmrücken beherrscht, der sich mit einer Höhe von 300m ü. NN. aus der ihn umgebenden landwirtschaftlichen Nutzfläche erhebt und absetzt. Geologisch stellt der Elm einen Breitsattel dar. Er gehört wie Asse, Lappwald und Flechtinger Höhenzug im benachbarten Sachsen-Anhalt zu den herzynisch gerichteten Bergrücken mit einer NW-SO-verlaufenden Streichrichtung der Scheitelkämme. In der Folge der seit der Jura-/Kreidezeit (vor ca. 135 Millionen Jahren) wirksamen Bruchschollentektonik entstand in Verbindung mit der Halokinetik, also der Bewegung des Salzes als Folge von Entlastungserscheinungen in den Deckgebirgen, die Emporhebung des schildförmigen Bergzuges des Elm. Die Hänge dieses Breitsattels sind durch viele Täler gegliedert, die nur in ihren unteren Bereichen Wasser führen. Botanisch gesehen ist der Elm ein Hochwaldgebiet, das von der Rotbuchenformation bestimmt wird, die in zahlreichen Fällen die ehemaligen Steinbrüche, Kies-, Sand- und Tongruben sowie die durch subterrane Auslaugungen entstandenen Erdfälle überlagert. Die Lößbedeckung ist nur schleierhaft vorhanden. Die Böden sind gekennzeichnet durch flachgründige Rendzinen und Braunerden. Die Erdfälle sind Ergebnis eines subterranen (unterirdischen) Geschehens. Unter dem Trochitenkalk (oberer Muschelkalk - der Elm gilt im übrigen als größter Seelilien (Trochiten)friedhof der Welt) folgen im Liegenden Tone, Mergel und Gipse des Mittleren Muschelkalks. Der Gips wird durch die Sickerwässer ausgelaugt, wodurch unterirdische Hohlräume entstehen, die je nach Größe infolge des Nachbrechens des Hangenden an der Erdoberfläche als flache Schüsseln oder gar als steilwandige Erdfälle in Erscheinung treten. Klimatisch hat der Elm durch seine Höhenlage eine wetterbeeinflussende Stauwirkung. Die höchsten Niederschläge im Landkreis fallen im Elm. Das niederfallende Wasser wird aber sehr schnell vom klüftigen Kalkstein des oberen Muschelkalks aufgenommen und unterirdisch weitergeleitet, um an vielen verschiedenen Stellen in Karstquellen wieder zutage zu treten. Letztere sind ein Bestandteil der sehenswerten Naturereignisse im Landkreis Helmstedt, vor allem in der unmittelbaren Nähe zur Stadt Königslutter aber auch an anderen Orten am Elm. Der Kalkstein des Elm wurde in der Vergangenheit als begehrter Baustoff gewonnen (z.B. für den Bau des Kaiserdoms zu Königslutter) und er wird auch heute noch, wenn auch in geringerem Umfang gewonnen. Der Kalk wurde auch zur Zementfabrikation bei Hoiersdorf in der Nähe der Stadt Schöningen abgebaut. Der Elm spielt als grüne Lunge zusammen mit dem Lappwald eine besondere Rolle im Landkreis Helmstedt. Beide liefern u.a. wertvolle Bau- und Tischlereihölzer und dienen desweiteren ebenso als Wasserschutzgebiete. Auch als Naherholungsgebiete sind sie touristische Attraktionen im Landkreis Helmstedt. Die Wälder des Elm und Lappwald weisen, wie auch andere Wälder in Deutschland und den angrenzenden Staaten streckenweise erhebliche Waldschäden auf, was sich in absehbarer Zeit wohl auch sehr negativ auf die Qualität unseres Grundwassers auswirken könnte. Zwischen Elm und Lappwald erstreckt sich die Helmstedter Mulde, die durch den Barneberger Rücken (Untere Buntsandstein) geologisch in einen westlichen und einen östlichen Teil (zwei geologische Spezialmulden, die westliche „Lößmulde“ und die östliche „Sandmulde“) getrennt wird. Die Helmstedter Mulde ist geomorphologisch in ein größeres Lößgebiet im Südosten und ein kleineres Sandgebiet im Nordwesten zu unterteilen . Sie erstreckt sich in derselben Richtung (NWSO) wie die sie begrenzenden Höhenzüge. Alle im Kreisgebiet verlaufenden Höhenzüge, wie der Elm, Eitz, Elz, Dorm und Lappwald verlaufen in dieser herzynischen Streichrichtung. - 14 - Im Bereich der Lößmulde, wo sich auf den Lößunterlagen teilweise Schwarzerden bilden konnten, wird folglich intensiver Anbau von Weizen und Zuckerrüben betrieben. Die landwirtschaftliche Nutzfläche wird gelegentlich durch Waldstücke unterbrochen (z.B. Eitz, Elz, Schieren). Im Südosten der Mulde finden sich auch die die wirtschaftliche Geschichte des Landkreises so bedeutend kennzeichnenden Braunkohletagebaue. Die Braunkohle entstand in den Muldenstrukturen, die sich durch die Aufwölbungen des Salzdomes im Mittelrücken, der an der Oberfläche im Dorm, Elz und Eitz sichtbar wird, bildeten, wobei die Flözbildung nicht immer gleichmäßig vonstatten ging und die Kohle durch die Nähe der Salzdome hohe Salzkonzentrationen aufweist. Die Helmstedter Braunkohlenmulde enthält zwei übereinanderlegende Flöze von ca. 6-27m (Treue-Flöz) bzw. 8-13m (Victoria-Flöz) Mächtigkeit, die durch 20 bis 30m mächtige Glaukonitsande voneinander getrennt sind. Die Kohlebildungszeit liegt im Eozän, in dem ein subtropisches Klima vorherrschte. Das Eozän ist ein Unterabschnitt des Tertiärs, welches von ca. 65 Mill. bis 2 Mill. Jahren v. h. dauerte. Im Nordosten schließt sich an die Helmstedter Mulde die Lappwaldscholle an, die Teil des Ostbraunschweigischen Flachlandes ist. Das Gebiet des Lappwaldes ist ebenfalls aus einer Zechsteinaufwölbung entstanden und wird von einem Eichen-Hainbuchenwald bestanden. Geologisch ist der Bereich des Lappwaldes eine Mulde, in der die geologisch jungen Schichten des oberen Keuper und des Jura erhalten geblieben sind, so daß sich in diesem Gebiet leicht auswaschbare Sandstein- und Keuperverwitterungsböden finden. Die relativ häufigen Eichenmischwaldformationen weisen ebenfalls auf den "sauren" geologischen Unterbau hin. Nördlich der A2 befindet sich der Hasenwinkel, von dem aus sich in nördlicher Richtung immer flacher werdende Rücken mit kleinen Kuppen finden. Östlich davon liegt das Lehrder Wohld, wo sich seit dem Mittelalter bis heute die Waldnutzung erhalten hat. Wurden die auf den meist schweren und feuchten Böden fußenden Wälder im Mittelalter noch dem Hudewald zugerechnet, werden die Eichen-Hainbuchenmischwälder heute rein forstwirtschaftlich genutzt, spielen aber auch als Naherholungsbereich für die Stadt Braunschweig eine wichtige Rolle. Nördlich des Hasenwinkel wird das Land wieder flacher und ausgedehnte Ackerflächen kennzeichnen das Landschaftsbild. Im Bereich der Velpker Platte sind die Schichten des Keuper und Muschelkalk nur wenig herausgehoben. Im südwestlichen Teil dieses Bereichs finden sich diese überlagernde Geschieblehme der Saale-Eiszeit mit fruchtbaren Böden, während in tiefer gelegenen Teilen längs der Allerniederung ehemalige Schmelzwassersande und Kiesablagerungen nur mittlere landwirtschaftliche Ertragslagen zulassen. Waldreichere Gebiete finden sich erst wieder auf der Velpker Platte, wo viele ehemalige, heute mit Wasser vollgelaufene Steinbrüche dem Landschaftsschutzgebiet "Velpker Schweiz" einen besonderen landschaftlichen Reiz und Ausflugswert verleihen. Der sich an die Velpker Platte anschließende Drömling als Teil des Weser-Aller-Flachlandes zeichnet sich durch den Wechsel von Feuchtwiesen, Überschwemmungsbereichen, Niedermooren, Laubmischwäldern und Bruchwäldern aus, die ausschließlich auf quartären Ablagerungen fußen. Durch den hohen Wasserstand und anmoorige Böden erfolgt bis heute eine extensive landwirtschaftliche Nutzung. Der Drömling hat als Rast- und Brutgebiet eine hervorzuhebende Bedeutung für die Vogelwelt. Dem wurde mit einigen Abstrichen durch die Ausweisung des Naturschutzgebietes "AllerAuenwald" (ca. 95 ha Größe) Rechnung getragen. Zu den Gewässern im Landkreis Helmstedt ist zu sagen, daß die Fließgewässer zum überwiegenden Teil naturfern bis extrem naturfern einzustufen sind. Laut der „Ökologischen Bestandserfassung des Landkreises Helmstedt“ (1986) sind nur 7% der erfaßten Gewässer als natürlich oder naturnah einzustufen. Auwälder oder kleinerflächige Gehölze sind nur an weniger als 10% der Fließstrecken zu finden. Sie finden sich vor allem im Nordkreis (Schunter, Lappwald, Velpke) aber auch südlich von Schöningen (hier Bruchwald). Natürliche Stillgewässer sind nur in Form einiger Erdfälle im Elm und Dorm vorhanden. Die meist im Norden vorkommenden Stillgewässer sind verfüllte Steinbrüche und mit über 2/3 der Fälle als naturfern zu bewerten. Moore finden sich im LSG „Mittlere Schunter“. - 15 - 1.2.1 Vegetation Dank der klimatischen Grenzlage des Landkreises Helmstedt (schon wieder eine Grenze!) zwischen einem wärmer oder kälter getönten kontinentalen und einem maritim-feuchten Klima ist nicht nur ein vielgestaltiges Bodenmosaik im Landkreis anzufinden, sondern auch eine, wenn auch von der stark industriell ausgerichteten Landbewirtschaftung zurückgedrängte, vielfältige Flora. Neben den weitverbreiteten mitteleuropäischen Spezies finden sich baltische aber auch atlantische Arten im Landkreis Helmstedt. Von der Gesamtfläche von ca. 674 km² sind ca. 25% Waldfläche, wobei die Wälder im Elm, dem Lappwald, Dorm und Elz, sowie die Wälder um Lehre, die Velpker Schweiz und die Staatsforsten bei Danndorf und Bahrdorf im Regionalen Raumordnungsprogramm für den Landkreis Helmstedt (1991) eine besondere Erholungsfunktion zugewiesen bekamen. Der Landkreis hat an zwei verschiedenen forstlichen Bezirken Anteil: einmal dem ostbraunschweigischen Flachland und zum anderen dem ostbraunschweigischen Hügelland. Im erstgenannten Wuchsbezirk, auf hauptsächlich eiszeitlichen Geschiebelehmen und tongründigen Böden, dominiert die Stieleiche in Gesellschaft mit Hainbuche, Linde und Rotbuche. Aber auch Traubeneichen in Gesellschaft mit Hainbuche , Linde und Rotbuche sind häufig anzutreffen. Im zweiten Wuchsbezirk findet sich eine typische Klimaxvegetation der Kalk- und Lößböden, nämlich die Eichen-Buchenmischwaldformation. Je nach Standortverhältnissen finden sich hier neben den dominierenden Rotbuchen Edellaubhölzer wie Linde, Bergahorn, Esche und Ulme. Diverse Wildobstarten sind auf einem Gutteil der Fläche relativ häufig anzutreffen. An den besonders trockenen und landwirtschaftlich allenfalls extensiv genutzten Hanglagen des Heesebergs finden sich sehr seltene Pflanzenformationen des Steppen- und Halbtrockenrasens. Aus diesem Grund wurde dort auch ein geschütztes Trockenrasenbiotop ausgewiesen. Nördlich von Königslutter fließt die Schunter in einer breiten Senke, an deren Rand sich ein sehenswertes Naturschutzgebiet mit selten gewordenen Sumpfpflanzengesellschaften (Rieseberger Moor) befindet. Insgesamt kann aber behauptet werden, daß auch im Landkreis Helmstedt, bedingt durch die intensive Landbewirtschaftung, eine starke Artenverarmung zu verzeichnen ist. Intakte, artenreiche Waldränder sind relativ selten. 1.2.2 Klima Im Landkreis Helmstedt mit Höhen zwischen 56 - 310 m ü. NN. überlagern sich, wie bereits oben gesagt, ozeanische und kontinentale Klimaeinflüsse, wobei die kontinentale Ausprägung für das Wettergeschehen im Landkreis Helmstedt kennzeichnend ist. Der Jahresgang der Temperatur weist erhebliche Schwankungen auf, der Jahresgang der Niederschläge läßt ein Sommermaximum erkennen, so daß eine kontinentale Ausprägung konstatiert werden darf. Im Jahresablauf werden die größten Windgeschwindigkeiten in der Regel in den Winter- und Frühjahrsmonaten (Dezember - Februar) erreicht, wenn die Luftdruckgegensätze zwischen der kalten Polarluft im Norden und der warmen Luft über dem Atlantik besonders stark sind. Entsprechend der Lage des Landkreises im Westwindgürtel herrschen Winde aus südwestlichen bis nordwestlichen Richtungen vor, wobei eine jahreszeitliche Verschiebung auftreten kann. Liegt im Frühling und in den frühen Sommermonaten Juni, Juli und August das Maximum der Winde auf der nordwestlichen Richtung, was sich als Folge der typischen Aprilwetterlagen mit den Kaltlufteinbrüchen aus dem Nordmeerbereich ergibt, herrschen im Herbst und Winter SW-Winde vor. Mit Frost muß von Anfang Oktober bis Mitte Mai gerechnet werden. - 16 - Die Hauptniederschlagszeit liegt zwischen Anfang Mai bis Ende August, da die Sommerniederschläge wegen ihrer konvektiven Entstehung ergiebiger sind als die advektiven Winterniederschläge. Die Niederschlagsmaxima liegen im Juli und August, die -minima im Februar und März. Die jährliche Niederschlagsverteilung weist Helmstedt dem Binnenlandstypus (Sommerregentypus) zu. Im langjährigen Mittel liegen die Niederschläge bei 600 mm/a, die mittlere Jahrestemperatur bei 8.4° C. Die Schwankungsbreite der Niederschläge liegt zwischen 360 - 800 mm, wobei der Elm und der Lappwald mit ihrer durch die Höhe bedingten Stauwirkungen auf den Luftstrom relativ höhere Niederschläge aufweisen. Die höchsten Niederschläge im Landkreis fallen im Elm mit nahezu 800 mm/a. 1.3 Ein geschichtlicher Abriß des Landkreises Helmstedt Der Landkreis Helmstedt gehört zu einer außergewöhnlich geschichtsträchtigen Landschaft. Schon von frühester Zeit an waren die lößhaltigen Bördeböden bevorzugte Gunst- und somit Siedlungsstandorte und so finden sich Zeugnisse aus mehreren Jahrtausenden Zivilisationsgeschichte im Landkreis Helmstedt. Im südlichen Bereich des Landkreises Helmstedt finden sich auf den sehr fruchtbaren glazigenen Lößböden Besiedlungsreste aus der Zeit 5000-3000 v. Chr.. Bei dem Ort Esbeck bei Schöningen wurde z. B. eine linienbandkeramische Siedlung ausgegraben, die eindeutig in das Altneolithikum datiert werden konnte. Neueste Ausgrabungsfunde im Braunkohlentagebau lassen die Vermutung zu, daß Siedlungen im Raum Helmstedt bereits im Altpaläolithikum (also älter als 200.000 Jahre) bestanden haben müssen (n. frdl. mündl. Mitteilung der Museumsleiterin des Heimat- und Zonengrenzmuseums Helmstedt, 1994). Es ist also seit dieser Zeit mit zumindest saisonalen Siedlungen auf den fruchtbaren Bördeböden zu rechnen, wofür auch die Lübbensteine und viele andere Großstein-Monumente nicht nur im Landkreis Helmstedt, sondern auch in den benachbarten sachsen-anhaltinischen Landkreisen sprechen. Der Bereich um Helmstedt ist im 8. Jahrhundert n. Chr. ein heftig umstrittenes Gebiet zwischen Franken und Sachsen. 748 wird auf einem Feldzug Pippins des Jüngeren gegen seinen Halbbruder Grifo, die Siedlung Schöningen "Scahaningi" als erster Ortsnamen im Braunschweigischen erwähnt. 952 n.Chr. wird die Stadt Helmstedt in einer Urkunde Kaiser Ottos I. erstmalig erwähnt. Die damalige Grenze zwischen den Sachsen im Westen und den Slawen im Osten verlief teilweise entlang der Schunter. Hier finden sich auch Überreste einiger Befestigungsanlagen, die damals zum Schutz vor Übergriffen der aus dem Osten immer wieder angreifenden Slawen errichtet wurden. Im 12. Jahrhundert erhält Helmstedt das Stadtrecht, die zusammen mit der Stadt Königslutter (Stadtrecht um 1400 bis 1409) und Schöningen (Stadtrecht 1. Hälfte 14 Jh.) entlang der damals existierenden Handelsstraßen (heutige B1 und alte Ohrumer Straße als Teilstück des „Hellweges“) wichtige Marktflecken darstellten. Um 1000 n.Chr. sind regelmäßig stattfindende Märkte entlang der neu angelegten Straße von Köln über Braunschweig, Königslutter nach Magdeburg dokumentiert. Wichtige Handelsgüter der Städte und Klostergüter im Landkreis Helmstedt waren in dieser Zeit Tuche, Bier und Getreide, im Falle Königslutters und Schöningens Bausteine und Siedesalze. In der Stadt Schöningen wurde bereits 938 n.Chr. Salz gewonnen, wobei das Nutzungsrecht zu dieser Zeit bei den Klöstern und den von braunschweigischen Herzögen mit der Salzgrafenschaft betrauten Lehensherrn lag. Ursprünglich wird es wohl Eigentum des Königs gewesen sein. Die Klöster sind in dieser Zeit sozusagen Träger des Fortschritts und Bewahrer der Traditionen. Unter ihrem Dach werden weit über Grafschaftsund Stammesgrenzen hinausreichende freundschaftliche, wirtschaftliche und oft auch politische Verbindungen gepflegt. Sie sind zudem für alle jene eine Zuflucht, die in der Landwirtschaft und dem gerade im Aufbau befindlichen Städtehandwerk (11. Jh.) keine Arbeit und damit Unterhalt finden konnten. Wie auch heute bestand der Aufnahmeritus darin, alles, was man besitzt, dem Kloster zu übergeben. Nur wer verzichtet kann glücklich werden. Verzicht auf Selbstbestimmung, - 17 - Eigentum und Fortpflanzung, dafür aber ein relativ sicheres Leben. Ansonsten zwang der Krieg die Menschen zum Verzicht. Der im Elm gewonne Kalkstein wurde u.a. für das Grabmahl Heinrichs des Löwen im Dom zu Braunschweig, dem Roland in Bremen, im 16. und 17. Jahrhundert für das Gewandhaus in Braunschweig und die Hauptkirche in Wolfenbüttel verwandt. Nicht zu vergessen ist natürlich der Kaiserdom zu Königslutter selbst. Leider ist der Elm-Kalkstein als Baustoff in Vergessenheit geraten und durch künstliche Baustoffe vom Markt verdrängt worden. Um 1030 finden sich silberne „Denare“ mit der Umschrift des Ludger (Liudierus) als Zahlungsmittel in Helmstedt, was auf den sich ausweitenden Handel der Stadt und den Erfolg des Marktgeschehens hinweist. 1.3.1 Kaiser Lothar von Süpplingenburg Lothar von Süpplingenburg wurde wahrscheinlich um 1075 geboren und verstarb 1137. Beigesetzt wurde er im Kaiserdom zu Königslutter. Kaiser Lothar lebte in einer Zeit, in der der technische Fortschritt zu gewaltigen sozio-kulturellen Änderungen und Unruhen in der damaligen Gesellschaft führte. So beschleunigten technische Innovationen wie der Wendepflug und Windmühlen das wirtschaftliche Wachstum, gegründete Universitäten potenzierten das Wissen und forschten auf neuen Wegen (z. B. in Bologna: 1119, hier insbesondere die medizinische Fakultät). Von den 82 Urkunden des Königs und Kaisers Lothar (n. F. J. Böhme) betreffen 70 Klosterangelegenheiten: Siftungsbestätigungen, Schenkungen, Güteraustausch, Freiheitsbriefe, Schutzbriefe. 7 gewähren Privilegien für Städte und Kaufleute. Da wurde der Schiffszoll auf der Elbe herabgesetzt, den Quedlinburgern das gleiche Recht eingeräumt wie den Kaufleuten von Magdeburg und Goslar, den Bürgern von Dusiburg erlaubt, Steine für den Eigenbedarf im herzoglichen Wald zu brechen und den Straßburgern das Recht erteilt, daß keiner auswärts vor Gericht zu erscheinen brauche. Sein einziges Gesetz verbietet die Zerstückelung oder den Verkauf von Lehen (Kruggel 1983). Kaiser Lothar war demnach ein umfassend denkender Pragmatiker, der sich seiner Verantwortung für das Allgemeinwohl sehr bewußt war und alles in seinen Kräften liegende tat, um zugleich absichern und innovatorisch tätig zu sein. Er ist somit einer der ersten und berühmtesten dokumentarisch belegten Wirtschaftsförderer der Region Helmstedt. 1426 tritt die Stadt Helmstedt dem Städtebund der Hanse bei, wobei sich das wirtschaftliche Leben dank eines gesunden Branchenmixes von Handel und Handwerk gut entwickelte. Dadurch löste sich auch das städtische Handwerk von der bisher alleinigen Abtsherrschaft und es kam auch hier zur Gründung der Gilden. Die gestaltende politische und wirtschaftliche Macht der Gilden klang im Zeitalter des Absolutismus wieder aus. Um die Macht des Landesherrn zu sichern, bedurfte es verstärkter wirtschaftlicher Anstrengungen. Es galt damals wie auch heute, einkommenssichernde Ausfuhrüberschüsse im Außenhandel zu erreichen. Im Zuge dieser Vorgehensweise mußte natürlich die Unabhängigkeit der Wirtschaft erreicht werden. Im Kreisgebiet entstanden in damaliger Zeit z. B. ausgedehnte Maulbeerplantagen (in Königslutter sind über einen längeren Zeitraum Maulbeerplantagen und Seidenproduktion dokumentiert), Tabakfelder und große Torfabbaue. Die Bodenschätze Braunkohle und Salz wurden ebenfalls verstärkt abgebaut und vor allem die Salzgewinnung ermöglichte sichere Gewinne. 1.3.2 Salz und Kohle Es sind vor allem die Kohle und das Salz, die bei der Industrialisierung des Landkreises Helmstedt eine bedeutende Rolle gespielt haben. Für die Salzgewinnung sind Übertragungsrechte durch Bischof Reinhard auf das neue Kloster St. Laurentius im Jahre 1120 urkundlich belegt. In der Stadt Schöningen, die ihr Stadtrecht im 14. Jahrhundert erhalten hatte, wurde bereits seit dem 8. Jahrhundert Salz gewonnen und es ist daher stark zu vermuten, daß es mindestens seit dieser Zeit größere Siedlungen gegeben haben muß und die Salzgewinnung eine ständige Zunahme der - 18 - Bevölkerung und der Beschäftigtenzahl erlaubte. Außerdem gehörte damals wie heute eine diesem wirtschaftlichen Hauptzweig zuarbeitende Infrastruktur dazu, so daß sich wohl relativ schnell eine arbeistteilige und vielfältige Wirtschaftsstruktur ergeben haben dürfte. Bis zur Erfindung von Maschinen für den Salzabbau im 18. und 19. Jahrhundert wurde das Salz mit primitiven und vergleichsweise uneffektiven Methoden gewonnen. Im Jahre 1845 war der technische Fortschritt so weit gediehen, daß eine Sohle aus 600 m Tiefe gewonnen werden konnte und die Erweiterung mit Siedepfannen ermöglichte in der Saline Schöningen eine Jahresproduktion von 100.000 Zentnern. Der Ausbau der Bahnlinie von Schöningen nach Magdeburg brachte eine deutliche Steigerung des Gewinns der Saline und bis etwa 1910 war die Saline in Schöningen zu einem modernen Betrieb mit 150 Beschäftigten ausgebaut worden. Im Jahre 1970 wurde die Saline "Neuhall" geschlossen. Sie hatte zuletzt eine jährliche Ausbeute von 100.000 Tonnen Siedesalz verzeichnet. Im Landkreis wird heute nach wie vor in der Gemeinde Grasleben Salz gewonnen. Neben der Salzgewinnung spielt der Kohlebergbau seit dem 18. Jahrhundert eine bedeutende Rolle im Landkreis Helmstedt. Der Braunkohleabbau bei Helmstedt geht auf das Jahr 1725 zurück. Die ersten Schürfrechte wurden 1794 an den ehemaligen Theologiestudenten Johann Friedrich Koch vergeben. Am 26.1.1873 wurden die BKB mit einem Stammkapital von 1,6 Milliarden Talern gegründet. Zu einem Preis von 2 Millionen Talern wurden die damals noch im Tiefbau bewirtschafteten Gruben Treue bei Schöningen, Trendelbusch zwischen Schöningen und Helmstedt sowie Prinz Wilhelm bei Helmstedt gekauft. 1886 wurde die erste Brikettfabrik errichtet (Treue I). Neben dieser Brikettfabrikation kamen die Standorte Viktoria, Harbke und Fürst Bismarck hinzu, die eine Monatsproduktion von 2.500 to aufwiesen. Im Jahr 1900 übersteigt die Kohleförderung den Wert von 100.000 to pro Jahr zum ersten Mal. 1905 wird die Überland-Zentrale Helmstedt AG gegründet. Ab dem 10.1.1906 wird der Helmstedter Raum mit elektrischer Energie versorgt. Die Lieferung im ersten Geschäftsjahr 1906-1907 beläuft sich auf 700.000 kWh. 1909 wird das Kraftwerk Harbke errichtet und 1925 wird mit der Stillegung des Südschachtes auf Prinz Wilhelm der letzte Zeuge des Tiefbaues geschlossen. 1935 bis 1936 wurde im neu errichteten Schwelwerk Offleben Mittelöl, Leichtöl, Teer und Phenolerzeugnisse gewonnen. Nach dem Krieg und insbesondere nach der endgültigen Schließung der Grenze am 26.5.1952 gehen alle Gruben auf ehemals preußischem Gebiet (Tagebau Wulfersdorf, Teile des Tagebaus Viktoria) sowie die Brikettfabrik Bismarck und das Kraftwerk Harbke verloren. Die BKB-AG verliert dadurch 62% der gewinnbaren Kohlevorräte und der Bilanzwert aller verlorenen Vermögensteile, nebst eingesetzter Geräte und Anlagen beträgt am Tage der Währungsreform 42,5 Millionen DM. 1952 bis 1954 wird für das verloren gegangene Kraftwerk Harbke das Werk Offleben errichtet. 1967 wird das Schwelwerk Offleben geschlossen. 1974 wird die BKB-AG nach Stillegung der Brikettfabrik Treue zum reinen Stromproduzenten. 1980 wird das Kraftwerk Buschhaus errichtet, das nach Inbetriebnahme 1985 noch in die überregionalen Schlagzeilen gerät, woraufhin die BKBAG 1987 eine moderne Rauchgasentschwefelungsanlage einrichten läßt, die es dem Werk mit einem neuen technischen Trennungsverfahren erlaubt, immerhin 5% des Schwefels zu produzieren, den die deutsche Chemische Industrie nachfragt. 1991 wird der Tagebau Alversdorf aufgegeben. 1993 wurde das Kraftwerk Offleben vom Netz genommen, da die Abgaswerte nicht mehr den neuesten Richtlinien entsprachen. Sollte der Aufschluß bei der Gemeinde Emmerstedt nicht stattfinden, so ist bis etwa zum Jahre 2015 mit dem Auslaufen des Braunkohlebergbaus im Landkreis Helmstedt zu rechnen (n. frdl. Auskunft des Öffentlichkeitsbüros der BKB-AG, 1993 und von Herrn Hausmann, ehem. Prokurist der BKB-AG, 1992). Zurück zur Geschichte: Das Jahr 1945 brachte mit dem Ende und dem Sieg der Aliierten Streitkräfte über das nationalsozialistische Regime auch die innerdeutsche Trennung, die zu diesem Zeitpunkt noch relativ unvollkommen war. Die Grenze, die sich in ihrem weitestgehenden Verlauf im übrigen am Grenzverlauf zwischen Preußen und Braunschweig orientierte, schloß sich erst 1952 in einem Maße, daß es für die Menschen gefährlich wurde, sie zu passieren. Nach und nach wurde sie so ausgebaut, daß sie zum Schluß nur noch der Todesstreifen genannt wurde. In der Folge dieser - 19 - hermetischen Abriegelung mußten viele Unternehmungen ihren Betrieb einstellen, denn es fehlten ihnen die Marktzugangsmöglichkeiten in den Raum Magdeburg. Trotzdem verstanden es Unternehmer, Banken und die Verwaltung, das Kreisgebiet, das in eine sehr ungünstige Randlage geraten war, mit der Hilfe von Landes- und Bundesmitteln zu einem industriellen und relativ prosperierenden Standort auszubauen, wobei die BKB-AG neben der Verwaltung des Landkreises Helmstedt zum größten Arbeitgeber wurden. Viele Flüchtlinge und Kriegsheimkehrer fanden in dieser Zeit in Helmstedt zunächst eine sichere Bleibe und es kam im Zuge des Bevölkerungszuwachses zu ausgedehnten Wohnungsneubauten und vielen Unternehmensgründungen. Im November 1989 wurde die Deutschland trennende Grenze wieder geöffnet. Der Landkreis Helmstedt war nach über 40 Jahren wieder in eine zentrale Lage in Deutschland gerückt. Es gab im Rahmen der Grenzöffnung im Landkreis Helmstedt, vor allem in den grenznahen Gemeinden ein großes spontanes Volksfest, das über Tage andauerte und als ein Ereignis besonderer geschichtlicher Qualität in die Annalen eingehen wird. 1.3.3 Die Academia Julia - Aliis inserviendo Consumor - Im Dienste anderer verzehre ich mich Diese Spruchweisheit von Herzog Julius, Herzog zu Braunschweig und Lüneburg, weist bereits darauf hin, welchen Weitblick und welch eingehendes wirtschaftlich-kulturelles Fortschrittsverständnis dieser Mann gehabt haben muß. 1576 wird von Herzog Julius die Universität zu Helmstedt begründet (eine sehr gute wirtschaftsförderliche Vorgehensweise), die lange Zeit die einzige in Niedersachsen blieb und die bedeutendste evangelische Hochschule im damaligen Reich darstellte. Ihr guter Ruf zog viele berühmte Gelehrtenpersönlichkeiten an. Um nur ein paar Namen zu nennen: J. Caselius (Schüler des Melanchthon), G. Calixt, G. Bruno, L. Heister, G. C. Beireis u.v.m.. Die Universität sollte insgesamt knapp 233 Jahre bestehen und es haben in diesem Zeitraum 60 Theologen, 76 Juristen, 46 Mediziner und 96 Philosophen und Philologen dort gelehrt. Bis zum Jahre 1635 hatten sich bereits 15.000 Studenten eingeschrieben(!). Von den 18 deutschen Universitäten stand die Universität Helmstedt von der Bedeutung hinter Leipzig und Wittenberg an 3. Stelle. Der gute Ruf Helmstedts verminderte sich aber als die 1734 gegründete Universität Göttingen mehr und mehr Einfluß gewann und deshalb das Interesse der Studenten und des Lehrkörpers auf sich zog, was zu deutlichen Einschreibungsrückgängen an der Universität Helmstedt führte und infolge dessen zu einer sukzessiven Abwanderung der klugen Köpfe. Im Jahr 1810 wurden auf Erlaß des Königs Jerome Bonaparte die Universitäten Helmstedt und Rinteln geschlossen. Der Grund war relativ ersichtlich. Zuletzt war die Helmstedter Universität kaum noch attraktiv für die Studenten und Lehrenden und es waren nur noch eine Handvoll ordentlicher Studenten eingeschrieben. 1985 wurde in den Gebäuden des Juleums die "Deutsche Technische Akademie" eingerichtet, die 1992 an eine Schweizer Holding veräußert worden ist. Der Arbeitsschwerpunkt liegt in der praxisorientierten Weiterbildung auf naturwissenschaftlich-technischen Gebieten für Fach- und Führungskräfte der Chemischen Industrie, des Maschinenbaus, der Elektrotechnik und des Automobilbaus vorwiegend des In- und Auslands. Hauptarbeitsbereich ist dabei das Meßwesen, die Normung, das Prüfwesen und die Qualitätssicherung sowie die Abwicklung ebensolcher Projekte in Entwicklungsländern. 1.3.4 Die (ehemalige) Universitätsbibliothek zu Helmstedt - 20 - Leider wurden viele der sehr wertvollen Bücher in die Bibliothek nach Wolfenbüttel verbracht. Trotzdem befinden sich in der ehemaligen Universitätsbibliothek in Helmstedt noch viele außergewöhnliche Stücke, die von besonderer überregionaler, ja sogar internationaler Bedeutung sind, wie sich unschwer aus der Besucherliste der Bibliothek entnehmen läßt. Die Universitätsbibliothek Helmstedt ist weit davon entfernt, lediglich musealen Charakter zu haben. Leider ist das vielen Entscheidungsträgern im Landkreis Helmstedt nicht bewußt und so wird der ehemalige Lesesaal für repräsentative Zwecke ausgenutzt und die bibliophilen Schätze fristen nur ein Randdasein. In der UB Helmstedt werden in regelmäßig stattfindenden Seminaren für BibliothekarsAusbildungsgruppen die Einmaligkeiten und Seltenheiten vorgestellt. Viele internationale Forscher, die sich zu Studienzwecken in der ehemaligen Universitätsbibiothek aufhalten, können sich mit Hilfe des ehrenamtlich tätigen Bibiothekars Herrn Volkmann (dem hier zugleich gedankt sei für seine außergewöhnliche Hilfsbereitschaft) in die wertvollen Urkunden und Bücher einarbeiten. Es kann hier aufgrund des Umfangs des vorhandenen Buchbestandes nur ein exemplarischer Ausschnitt gegeben werden. Handschriften, Noten: 1. Brevarium Romanum, frühes 13. Jahrhundert (ca. 1230), Handschrift auf Ziegenpergament; 2. Deutsches Evangelienbuch, frühes 15. Jahrhundert, Handschrift auf Ziegenpergament; 3. Musae Sioniae, 7. Teil von Michael PRAETORIUS, 1611; 4. Der Psalter Davids von Cornelius BECKER und Heinrich SCHÜTZ, 1676 Bibeln, Inkunabeln, Frühdrucke 1. Biblia integra von 1491 2. Der Sachsenspiegel (1528), auffs newe gedruckt und anderweit mit vleisse corrigiret von EIKE von REPGOW; die Besonderheit dieser Ausgabe sind die Urteile des Magdeburger SchöffenStuhls; Bücher aus dem Zeitalter der Reformation 1. Martin LUTHER, Die Heubtartikel des Christlichen Glaubens/ Wider den Babst/ und der Hellen Pforten zu erhalten..., Wittenberg 1545 2. Philipp MELANCHTHON, Corpus Doctrinae Christianae, Wittenberg 1561 Unikate: 1. Petrus de CRESCENTIIS, Von dem nutz der ding die in äckern gebuwt werde. Vom nutz der bawleüt. Von der natur, aller gewächsz, früchten: thye eren, und alles des der mensch geleben oder in dienstlicher übung haben soll, Straßburg, 1518 2. BUFFONS Naturgeschichte der Vögel; dieser und die anderen Bände enthalten handkolorierte Stiche aller beschriebenen Vögel 3. Reinhold ERASMUS, Gründlicher und Warer Bericht vom Feldmessen/ Sampt allem /was dem anhengig..., Desgleichen: vom Mar(k)scheiden kurzer und gründlicher unterrricht, 1574, dieses Buch ist eine Rarität in Deutschland, lediglich in Freiberg/Sachsen gibt es noch ein weiteres Exemplar. Die UB Helmstedt ist nicht nur für Historiker und Bibliothekare von besonderer Bedeutung. Man sehe sich nur die Vorlesungsverzeichnisse der Universität an und siehe auf die Namen der Lehrenden und man erhält einen Eindruck von der einstigen Bedeutung dieser Universität. Menschen wie G. Bruno, L. Heister , H. Meibom, G. C. Beireis u. v. a. weisen darauf hin, weshalb sich so viele internationale Forscher heute mit der Helmstedter Wissenschaftsgeschichte - 21 - beschäftigen. So ist die UB Helmstedt zu einem wichtigen Zentrum für Forschungen zur Geschichte der Pharmazie und Botanik geworden, da sich in ihrer Obhut zwei wertvolle HERBARIEN des Prof. L. HEISTER (1683-1758) in 98 Bänden und der Professoren und Apothekerfamilie LICHTENSTEIN in 238 Kästen befindet. Um nur einen kleinen Überblick über den Internationalismus zu geben, den die Helmstedter Universitätsbibliothek anlockt, seien hier Forschungsarbeiten aus Rußland, Polen, Schweden, USA, Rumänien, Österreich, Israel angedeutet. 1.4 Ein Abriß der politischen und territorialen Entwicklung des Landkreises Helmstedt Der Landkreis Helmstedt hatte in seinen ehemaligen Umgrenzungen bis zum Jahre 1750 86 Orte, die zu 8 verschiedenen Ämtern, einem fürstlichen Gericht, 5 Klostergerichten, 8 adlige Gerichten und 3 Stadtgerichten gehörten. In dieser alt-braunschweigischen Verwaltung waren die „Ämter“ eine Zwischenstufe zwischen Staat und Gemeinde, die als untere Instanz für Verwaltung und Justiz eine bestimmte Anzahl von Gemeinden umfaßten. Um 1750 wurden die Ämter von der braunschweigischen Regierung zusammengefaßt und neu gestaltet, indem fortan ein Oberamtmann oder Oberhauptmann den vier neu gegründeten Bezirken vorstand. Neben dem Amtmann trat als dessen Angestellter der Justitiarius als Rechtspfleger auf. Aus dem Justitiarius wird im 18. Jahrhundert ein fürstlicher Beamter. Hier ist bereits eine Trennung von Verwaltung und Rechtspflege erkennbar. In der napoleonischen Zeit, also ab 1807, als Braunschweig zum Königreich Westfalen gehörte, wurden über die alten Landes- und Herrschaftsgrenzen hinweg, neue geographische, nicht historisch bestimmte Neugliederungen nach Departments, Distrikten und Kantonen vorgenommen, wobei die Stadt Helmstedt zur Destrikthauptstadt erklärt wurde. Nach 1814 wurden in Anlehnung an die westfälischen Kantone Kreisgerichte gebildet, an deren Spitze juristisch gebildete Amtsleute standen. Durch die Justizreform von 1823/35 wurde die Trennung von Justiz und Verwaltung auch auf Amtsebene angebahnt. In Helmstedt wurde ein Distriktgericht eingerichtet, dem die Kriminaljustiz und die Aufsicht über Kreisgerichte unterlag. Den Kreisgerichten unterstand die niedere Gerichtsbarkeit, weshalb sie auch in Kreisämter umbenannt wurden. Es wird hier also zuerst über die Justiz und dieser folgend auch über die Verwaltung die spätere Kreisgliederung vorweggenommen. Nach dem Umsturz von 1830, der die bestehenden Machtverhältnisse nicht grundlegend veränderte und folglich auch keine durchgreifende rechtliche Neuordnung bewirkte, erfolgte eine wirkliche Verwaltungsreform, die unter nicht einfachen Umständen in Braunschweig ausgearbeitet worden war. Ab dem 6.10.1832 hatte der Landkreis Helmstedt den Umfang, den er, bis auf die Exklave von Calvörde, welche später dem Landkreis Haldensleben zugeordnet wurde, bis zur Gemeinde- und Verwaltungsreform von 1972 und 1974 behielt. Als erster Kreisdirektor des Kreises Helmstedt nahm 1832 Justizamtmann Eisfeldt zu Vorsfelde seine Arbeit auf. Die Kreisdirektoren unterstanden dem Ministerium, ihnen selbst waren alle Beamten und Behörden in ihrem Bezirk unterstellt. Die Ämter wurden für geraume Zeit noch als Selbstverwaltungskörperschaften weitergeführt, bis ihnen 1849 mit der konsequenten Trennung von Justiz und Verwaltung alle gerichtlichen Aufgaben entzogen wurden. 1850 bereits wurden die bei den Ämtern verbliebenen Verwaltungsaufgaben auf die Kreisdirektorien übertragen und Amtsgerichte eingerichtet. Trotzdem war das Mitbestimmungsrecht immer noch vom 3-Klassen-Wahlrecht bestimmt, in dem das Stimmgewicht von der Höhe der Steuerzahlungen abhängig war. 1870 wurden dann die Kommunalverbände, Zusammenschlüsse der kreisangehörigen Gemeinden, mit einer von den Stadtund Gemeindeparlamenten gewählten Kreisversammlung und einem vom Kreisdirektor gewählten Kreisausschuß für die laufenden Geschäfte, gebildet. Seit 1919 war der Freistaat Braunschweig auf höchster Ebene eine parlamentarische Demokratie, die seit 1922 mit einer entsprechenden Verfassung ausgerüstet war. Die Kreisordnung von 1925 brachte den braunschweigischen Kreisen das Recht, alle Aufgaben, deren Übernahme nach - 22 - Auffassung des Kreistages im Interesse des Landkreises zweckmäßig erschien, wahrzunehmen, vorausgesetzt es bestanden keine übergeordneten gesetzlichen Regelungen. Ab 1930 begann die Schlußphase der Weimarer Republik in Braunschweig. Die Nationalsozialisten hatten zu dieser Zeit nur 9 Sitze im Landtag. 1932 fand die letzte ordentliche Plenarsitzung des Braunschweigischen Landtags statt. 1933 fiel durch das erste Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich die Beschlußfunktion der Vertretungskörperschaften der kommunalen Selbstverwaltung, die lediglich das Recht auf Anhörung behielten. Durch die nationalsozialistische Diktatur wurden die zäh errungenen Mitbestimmungsrechte sehr stark eingeschränkt bzw. völlig abgeschafft und dem zentralisierten Führerprinzip untergeordnet. Nach dem verheerenden Zweiten Weltkrieg wurde dann der Amtsbezirk Calvörde in die sovietische Besatzungszone einbezogen und späterhin dem Landkreis Haldensleben zugeordnet. Seit 1946 sind die Gemeinden wie auch die Kreise als Selbstverwaltungskörperschaften neben dem Staat selbstständige Einheiten, die nur noch im Auftrage tätig werden können. Der Landkreis Helmstedt und die Gebietsreform 1972-74 Die Gebietsreform war eine politische Entscheidung mit dem Ziel, organisatorisch sinnvolle Verwaltungseinheiten zu schaffen und so selbst den kleinen und kleinsten Gemeinden das Wissen und den Sachverstand qualifizierter Verwaltungsexperten zur Verfügung zu stellen. Die seit 1832 gültigen Grenzen des Landkreises wurden im Jahre 1972 aufgehoben. Der Gutachterausschuß hatte eine Kreisfläche von 1068 km2 vorgeschlagen, die etwa 156.000 Menschen beheimaten sollte. Dieser Vorschlag hätte nach Meinung des Gutachterausschusses dazu beigetragen, "den Wirtschaftsraum Helmstedt stärker nach Norden und Nordwesten hin zu entwickeln; der im Raum Wolfsburg vorherrschenden Monostruktur würden hierdurch wirtschaftliche Schwerpunkte entgegengesetzt werden, was für den Gesamtraum nur förderlich sein wird." (Gutachten der Sachverständigenkommission für die Verwaltungs- und Gebietsreform, 1969). Trotz des Vorschlags in dem Gutachten der Sachverständigenkommission für die Verwaltungs- und Gebietsreform vom März 1969 wurden aus dem Kreis Helmstedt die Stadt Vorsfelde sowie die Gemeinden Ahnebeck, Bergfeld, Brechtorf, Eisschott, Hoitlingen, Neuhaus, Parsau, Rühen, Tiddische, und Wendschott herausgelöst. Dem Kreis entstanden dadurch erhebliche finanzielle Mindereinnahmen, die nicht ausgeglichen werden konnten. Deshalb sorgte diese Umstrukturierung für ernsthafte kritische Auseinandersetzungen und Unruhe im Landkreis sowie auf der Regierungsbezirksebene. Am 11.2.1974 wurde der Gebiets- und Einwohnerstand des Landkreises noch einmal geändert, dieses Mal jedoch mit für den Landkreis positivem Ausgang. Ab dem 1.3.1974 wurden aus dem Landkreis Braunschweig die Gemeinde Lehre und aus dem Landkreis Gifhorn die Gemeinden Ahmstorf, Beienrode, Klein Steimke, Ochsendorf, Rennau, Rhode, Rottorf und Uhry in den Landkreis Helmstedt eingegliedert, also dem Vorschlag der Gutachterkommission zumindest zum Teil gefolgt. Die Fläche nahm von 552 km² (erste Version von 1972) auf ca. 674 km², die Einwohnerzahlen von 95.774 auf 105.286 zu. In diesen Abgrenzungen existiert der Landkreis Helmstedt bis zum heutigen Tage. 1.5 Die Grenze und ihre Wirkung auf den Landkreis Helmstedt Die Ostgrenze der Bundesrepublik Deutschland ist eine Folge des Zusammenbruchs des nationalsozialistischen Regimes, das sich vor allem dadurch auszeichnete, daß es Menschen anderer Gesinnung, Hautfarbe und Religion verachtete und die ganze Welt in den Zweiten Weltkrieg verwickelte, der zu millionenfachem Leid führte und zudem Deutschland in zwei Hälften spaltete. - 23 - Die Zonengrenze entstand in den Kriegsgeschehnissen aufgrund militärisch strategischer Vorgehensweisen und erst nach 1945, in den beginnenden Zeiten des Kalten Krieges (also politisch induziert), verhärtete sie sich zu einer unüberwindlichen Mauer. Das volksdemokratische Regierungssystem der ehemaligen DDR gedachte, sich gegen die pluralistisch-parlamentarische und mit den Amerikanern verbündete Bundesrepublik schützen zu müssen, indem sie einen "Eisernen Vorhang" errichten ließ. Damit wurde diese Grenze zu einem Sinnbild zweier gegensätzlicher politischer Systeme. Die Grenzziehung hat zu einer nahezu unvergleichlichen Situation geführt. Eisenbahnlinien und Autostraßen, Berge, Täler und Flüsse, dicht besiedelte Industriestandorte, land- und forstwirtschaftlich genutzte Flächen, Erholungsflächen und Bergbaugebiete - wie im Falle des Landkreises Helmstedt - wurden mit einem "Todesstreifen" versehen, damit niemand die Eigenentwicklung des letztlich so erfolglosen pseudosozialistischen Gefüges stören konnte. Auf beiden Seiten der insgesamt knapp 2150 km langen Grenze wurde das gewachsene Beziehungsgeflecht von mehreren Millionen Menschen zerschnitten und für über 40 Jahre rigide auseinandergehalten. In der Region Braunschweig gab es die ersten Bemühungen und nachhaltigen Initiativen zur Ingangsetzung einer langfristigen Zonenrandförderungspolitik. In dieser Region galt rückblickend auf alle Fälle die Formulierung, daß eine einst blühende Wirtschaft, die auf persönlichem, kulturellem, wirtschaftlichem, verkehrs- und verwaltungsmäßigem Bereich nach Mitteldeutschland in Jahrhunderten gewachsen waren, durch die Demarkationslinie unterbrochen wurden. Zwar wurde der verkehrsmäßige Fluß aufgrund der Entschließung der drei Westlichen Besatzungsmächte wiederhergestellt, die Demarkationslinie zum sovietischen Sektor stellte jedoch nach wie vor eine Handels- und Austauschbarriere dar (Henk, 1985). Um dieses Abgeschnittensein zu mildern, wurde die Zonenrandförderung ins Leben gerufen, zuerst wohl mit dem Gedanken, daß sich die bestehende Situation in absehbarer Zeit abmildern werde und Deutschland dann wieder vereinigt worden wäre. Mit aus diesem Grund wurden z. B. die "Grenzabfertigungsanlagen" in Marienborn zuerst aus Holz errichtet. Damit wollte man zeigen, daß es sich dabei lediglich um eine vorübergehende Einrichtung handelte (s. a. Ausstellung im Zonengrenzmuseum in der Stadt Helmstedt). Das erwies sich leider als Trugschluß - statt offener wurde die Grenze auf der Seite der DDR bis 1989 mit militärischer Präzision immer undurchlässiger gestaltet. 1.5.1 Die Gründe für eine Zonenrandförderung Viele Autoren, die sich mit dem Thema Zonengrenze beschäftigt haben (s.a. Berg, 1989), sehen vor allem folgende Aspekte als besonders ausschlaggebend für die Verschlechterung des Lebensraumes Zonengrenzgebiet an: - Lahmlegung früherer Verkehrsverbindungen, die weiträumige Umwege erforderlich machen, - Verlust von Absatzgebieten, - Verlust von Bezugsquellen, - Kostensteigerungen durch Verschlechterung der Standortlage, - Standort als Hemmnis bei der Auftragsvergabe, - Abwerbungs- und Abwanderungsgefahr bei Betrieben und Menschen. Die allgemeine sozio-ökonomische Verschlechterung erzeugte im Raum Braunschweig einen wirtschaftlichen Konzentrationsprozeß, der im übrigen aber nicht nur im Zonenrandgebiet stattfand. So stellt auch Henk (1985) fest: „Die Schwundprozesse vollzogen sich zumeist unabhängig vom Verlust der Marktverflechtungen mit dem mitteldeutschen Raum.“ - 24 - In der „überkommenen“ Wirtschaftsstruktur der Region Braunschweig standen die Konserven-, Zucker- und Mühlenwirtschaft im Mittelpunkt. Trotz der Zonenrandförderung blieben nur wenige Betriebe übrig und der Konzentrationsprozeß ergriff auch die Molkereien und Ziegeleien im ländlichen Raum, die dort nach und nach verschwanden. Man wollte das Zonenrandgebiet eigentlich zu einer Art Schaufenster ausgestalten, um dem politischen Gegner Wohlstand und Kraft zu demonstrieren. „Der Konzentrationsprozeß erwies sich als die stärkere Kraft gegenüber der Realisierung des gewerblichen "Schaufensters nach Osten" mit öffentlichen Anreizmitteln“ (Henk, 1985). Ein gewichtiger Grund für den relativ intensiven Strukturenwandel ist in den verlorenen und abgeschnittenen Kommunikationsstrukturen (z.B. den Verkehrsverbindungen) zu sehen, infolgedessen ein Abdriften der Zonenrandgebiete in die wirtschaftliche und kulturelle Bedeutungslosigkeit stattfand. 1.5.2 Die verschiedenen Zonenrandförderprogramme Am 2.7.1953 wurde mit Beschluß vom Deutschen Bundestag die 40-km-Zone als Förderregion festgelegt (Henk, 1985). Dabei kamen verschiedene Instrumente zum Einsatz. Dies sind vor allem die Landesmittel, die dem Fremdenverkehrsgewerbe, dem Handwerk und dem sonstigen Kleingewerbe für Investitionen zur Verfügung gestellt werden sollten, um die Leistungsfähigkeit der Betriebe zu verbessern. Bundesmittel wurden vor allem dann gewährt, wenn aufgrund der Kredithöhe der Antrag aus Landesmitteln nicht befriedigt werden konnte. Sie sollten vor allem der Schaffung sowie der Festigung gewerblicher Dauerarbeitsplätze in Industrie, Handwerk und Fremdenverkehrsgewerbe dienen. Daneben gab es sogenannte „Sonstige Maßnahmen“, wie - Investitionszuschüsse von bis 15, 20 und 25% der Investitionskosten für Vorhaben in Schwerpunktorten; - Zinszuschüsse; - Frachthilfen; - Sonderabschreibungen; - Halbierung der Beförderungssteuer; - Bevorzugung bei der Vergabe öffentlicher Aufträge; - steuerfreie Investitionszulagen von 10% der Anschaffungs- und Herstellungskosten bei Neuansiedlung und Betriebserweiterungen von Produktionsbetrieben sowie 7,5% der Kosten für grundlegende Rationalisierungen und Umstellungen 1.5.2.1 Zonenrandförderung nach dem ROG Seit 1965 mit Verabschiedung des ROG wurde die Förderung des Zonenrandgebiets zu einer vordringlichen Aufgabe des raumordnungspolitischen Handelns des Bundes. Hier wurde konstatiert, daß die Leistungskraft des Zonenrandgebietes "bevorzugt" zu stärken sei; es sollten desweiteren Strukturen geschaffen werden, die denen im gesamten Bundesgebiet "mindestens gleichwertig" sind und es sollten vordringlich Bildungs-, Kultur-, Verkehrs-, Versorgungs- und Verwaltungseinrichtungen geschaffen werden. Das Zonenrandgebiet ist aber keine räumliche Struktur und auch kein eigener Wirtschaftsraum, sondern ausschließlich eine politische Schöpfung. Die Förderung dieses Gebiets ist somit auch eine rein politische, vor allem eben eine deutschlandpolitische Entscheidung gewesen, deren Ziel es war, die Grenze in Deutschland zu überwinden (Berg, 1989). Nach dem Regionalen - 25 - Raumordnungsprogramm (1975) gehörte Helmstedt als Schwerpunktort zum Schwerpunktgebiet Braunschweig. 1.5.2.2. Zonenrandförderung nach dem Zonenrandförderungsgesetz (ZRFG) Das seit 1971 gültige ZRFG verfolgte eine umfassende Verbesserung der Verhältnisse im Grenzgebiet zur DDR und zur damaligen CSFR. Vor allem staatliche Leistungen, wie regionale Wirtschaftsfördermaßnahmen über steuerliche und verkehrspolitische Maßnahmen, aber auch das Wohnungswesen, soziale Einrichtungen bis hin zur Bildung und Kultur sollten zu einer Verbesserung der Lebensbedingungen im Zonenrandgebiet führen. Es ergaben sich aus diesem Gesetz aber keine unmittelbaren Rechtsansprüche. Dieses Gesetz hatte vor allem für die Behörden und sonstigen staatlichen Einrichtungen des Bundes besondere Wirkung. Vor allem auf dem Verkehrssektor galt es, einen großen Nachholbedarf zu bewältigen (eine detaillierte juristische Bearbeitung dieses Sachverhaltes findet sich u. a. bei Berg, 1989). 1.5.2.3 Zonenrandförderung nach dem GRW Seit 1970 trat das Gesetz zur Verbesserung der regionalen Wirtschaft (GRW) in Kraft, das mehrmals geändert wurde, auch um es den aktuellen Bedingungen besser anpassen zu können. Es bestand auf alle Fälle kein Rechtsanspruch, doch das Gesetz hatte allein das Zonenrandgebiet als Förderungsgebiet anerkannt, während für anderen Gebiete jeweils eine besondere Festlegung durch den Planungsausschuß erforderlich war, die sich nach konkreten wirtschaftlichen Bedürfigkeitskriterien richtete. Die Stadt Helmstedt sowie die Samtgemeinden Heeseberg und Nord-Elm gehörten zu den Schwerpunktorten nach der GA. Übriggeblieben waren lediglich die Stadt Schöningen und die Gemeinde Büddenstedt, wobei hier aber durchaus die Frage gestellt werden kann, an welche wirtschaftlichen Potentiale hier angeknüpft werden kann. Außer dem Bergbau und dem Energiesektor sind hier keine nennenswerten Potentiale vorhanden (NIW, 1993). In der Konzentration von Subventionszuweisungen stand der Schwerpunktort Helmstedt an dritter Stelle im Bezirk Braunschweig. Die Förderung bestehender und neuer Unternehmen hielt sich hier annähernd die Waage. Dabei stand der Ort zahlenmäßig an zweiter Stelle im Ansiedlungserfolg (zumindest bis 1970; Henk, 1985). Es bleibt abzuwarten, wieviele Unternehmen sich in den nächsten Jahren u. a. aus dem Grund des Wegfalls dieser Förderoptionen aus dem Landkreis Helmstedt zurückziehen werden. Es muß hier auch direkt die Frage gestellt werden, wie mit den Standorten in Anbetracht des Wegfalls der Förderoptionen entlang der ehemaligen Zonengrenze umgegangen werden soll. Es kann nicht die alleinige Aufgabe der Gebietskörperschaften sein, den Wegfall der Grenze durch ausschließlich eigene Vorgehensweisen zu kompensieren. Da ist eindeutig sowohl das Land als auch der Bund gefordert, denn nach wie vor gelten die Gesetze der gleichen Lebensqualitäten für alle Bewohner in allen Teilen der Bundesrepublik Deutschland. Die spezielle Fördersituation und die Nähe des Landkreises Helmstedt zu den hochgeförderten Kommunen in Sachsen-Anhalt fällt zusammen mit der Streichung von Förderoptionen für infrastrukturelle Ausstattungen, Bildungsmaßnahmen und einer prekären Haushaltslage der Kommunen auf der westlichen Seite der ehemaligen Grenze. 1.5.2.4 Die ehemalige Zonenrandförderung im Beihilferecht der EG Da die EG lediglich an einem unbeeinträchtigten Handel interessiert ist, interessieren sie auch nur die Wirkungen der von den Nationalstaaten verfügten Interventionsmaßnahmen zugunsten rückständiger Wirtschaftsräume. Nationale Subventionen werden nur dann akzeptiert, wenn sie transparent, minimal, zweckdienlich und befristet sind. Danach muß ihre Höhe in Prozenten der zu fördernden Investition ausdrückbar sein; sie dürfen nicht höher sein als dies der Förderungszweck gerade verlangt; die zu fördernde Maßnahme muß bestimmt und der Kommission vorher mitgeteilt worden sein; schließlich müssen Subventionen tatsächlich der Umstrukturierung dienen und dürfen nicht die Weiterführung unrentabler Produktionen begünstigen (Berg, 1989). - 26 - Die EG-Kommission überprüft dabei lediglich nur solche staatlichen Beihilfen, die bestimmte Unternehmen oder Produktionszweige begünstigen. Von der Überprüfung nicht betroffen sind alle staatlichen Hilfen für Gebietskörperschaften, Vereine, Privatpersonen, die ideellen Zwecken dienen (wie z. B. Kultur, Freizeit, Sport, Gesundheit) und alle Beihilfen und Maßnahmen, die außerhalb von Unternehmen auf den Ausbau der Infrastruktur (Straßen, Brücken, Schulen, Bahnen etc.) ausgerichtet sind. Zur Beurteilung der Verein- oder Unvereinbarkeit von Beihilfen zieht die EG-Kommission Indikatoren wie die Arbeitslosenquote und die Bruttowertschöpfung sowie die soziale Lage heran. Dazu werden bestimmte Schwellenwerte festgelegt, die dann als Richtschnur bei der Entscheidungsfindung dienen. Da die Situation im Zonenrandgebiet politisch bedingt war und aufrecht erhalten wurde, war hier von vornherein jede wirtschaftliche Betätigung aufgrund des Fehlens natürlicher Leistungsfaktoren (also politisch unbeeinflußter wirtschaftlicher Tätigkeiten) künstlich außer Kraft gesetzt. Dieses ist aber ein wesentlicher Grund dafür, daß die EG die gewährten staatlichen Beihilfen in Frage stellt, denn es kam de facto dadurch zu einer Verzerrung des Wettbewerbs im Gemeinsamen Markt. Auf der anderen Seite wies und weist das (ehemalige) Zonenrandgebiet als einzige Region in Europa den Standortvorteil einer unmittelbaren Nahtstelle zu den RGW-Ländern auf. Nirgends sonst bestanden und bestehen so viele verschiedene natürliche, menschliche, technische und wirtschaftliche Verbindungslinien zum Osten wie entlang der ehemaligen Zonengrenze. Deshalb beanstandete die EG die staatlichen Beihilferegelungen auch nicht vollständig , da der Ausbau der Brückenstellung einen kontinuierlichen Strukturwandel erlaubte und eine erhöhte Durchlässigkeit der Grenze auf den verschiedensten Gebieten die Kostennachteile der Wirtschaft im ehemaligen Zonenerandbereich stark verringerte. Erst so konnten die Voraussetzungen geschaffen werden, um die eigentlichen Ziele der EG zu erreichen - Festigung von Frieden und Freiheit für die Bürger und Bürgerinnen im Beitrittsgebiet. Heute ist das ehemalige Zonenrandgebiet, in dem auch der Landkreis Helmstedt liegt, relativ gefährdet, da nach den Einwanderungsgewinnen nun, Anfang 1994, bereits erste Abwanderungserscheinungen von Bevölkerung und Unternehmen zu diagnostizieren sind. Es sieht sogar so aus, als wäre der ehemals konstatierte große Standortvorteil der mittigen Lage gar nicht so groß. Das wirtschaftsförderliche Konzept einer Brücken- und Schaufensterfunktion gehört der Vergangenheit an und es steht mehr denn je zuvor eine umfassende Bestandspflege im Vordergrund der wirtschaftsförderlichen Aktivitäten. 1.5.3 Die Zonenrandförderung in der Kritik Aus Sicht der EU stellt grundsätzlich jede staatliche, insbesondere sektorale Beihilfe in einem gemeinsamen Markt eine Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs dar. Deshalb werden diesbezüglich gewährte Beihilfen auch kritisch überprüft. Bei der Subventionsvergabe gilt schlechthin das Prinzip: der Staat bzw. die Europäische Union hat nichts zu „verschenken”. Deshalb sind Subventionen an Auflagen gebunden. Subventionen können zu einer schweren Beeinträchtigung des Wirtschaftslebens führen, die u. U. bis zu einer Aushöhlung der unternehmerischen Freiheiten reichen kann. Jede harte Eigenleistung des Einen könnte durch die staatliche Leistung und Förderung (also Subventionierung) des Anderen ausgeglichen bzw. nichtig werden. Solche wettbewerbsverzerrenden Vorgänge sind im Rahmen eines Gemeinsamen Europäische Marktes nicht akzeptabel. Eine besondere Schwierigkeit der Subventionsvergabe besteht in der Erfolgskontrolle der gewährten Subventionen. Der Staat ist rechtlich verpflichtet, die gewährten Subventionen möglichst optimal einzusetzen, denn er greift damit in die Grundrechte der Steuerzahler und Konkurrenten ein. Deshalb sind die Auflagen und somit die Zweckvorgaben für zu gewährende Subventionen spezifisch zu gestalten. - 27 - Betrachtet man z.B. den Einsatz von Bundesmitteln im Zeitraum bis 1970 so ist offensichtlich, daß der Landkreis Helmstedt zu einem der Schwerpunktgebiete in der Braunschweiger Region gehörte. Helmstedt gehörte zu den Bundesausbauorten und befand sich deshalb auch an der Spitze der Dotationsskala bezüglich der Bundesmittel (Henk, 1985). Es wurden hier eine Reihe von Neugründungen und diverse Erhaltungsprojekte gefördert. Geht man von der Dichte der geförderten Betriebe aus, so lag der Schwerpunkt der Förderungen auf der Fremdenverkehrswirtschaft. Nach dem Subventionsvolumen nahm der Fahrzeugbau den ersten Platz ein (zumindest bis 1970). Die vergebenen staatlichen Mittel haben bei der Bildung baulicher Anlagenvermögensteile maximal ein Fünftel ausgemacht und haben somit ein Bauvolumen von ca. drei Viertel Milliarden DM geschaffen. Da mit baulichen Investitionen auch Anlageninvestitionen verbunden waren, sind durch die Förderungsmaßnahmen wahrscheinlich „milliardenschwere“ Investitionen ausgelöst worden. Außerdem verursachen finanzielle öffentliche Aktionen Multiplikatorwirkungen in den zwischen abhängigen Wirtschaftsbereichen und ziehen sogenannte Komplementärinvestitionen nach sich, die ihrer Größe und Höhe nach durch den Autor dargestellt werden konnten. Henk (1985) weist darauf hin, daß „..in der überwiegenden Zahl aller Fälle... die öffentlichen Mittel der Spitzenfinanzierung gewerblicher Vorhaben dienten. Das Anreizmittel der staatlichen Kredithilfe in Ermangelung ausreichenden Eigen- bzw. Bankkapitals nahm bei der Ausführung betrieblicher Projekte (zumindest in der Region Braunschweig, Anm. d. Autors) den ersten Platz ein. Das geht aus der nachweisbaren Tatsache hervor, daß es sich bei den meisten Förderfällen um Baufinanzierungen gehandelt hatte. Die Analyse dieser konkreten Subventionszuweisungen widerlegt eindeutig die Behauptungen zahlreicher Theoretiker, die öffentlichen Zuweisungen hätten ausschließlich den Charakter des Mitnahmeeffektes bei der Standortwahl im Zonenrandgebiet gehabt. Für Verlagerer in das Zonenrandgebiet spielten selbstverständlich die zusätzlichen Vergünstigungen, wie z. B. die Inanspruchnahme der Sonderabschreibungen auf das Anlagenvermögen eine erhebliche Rolle. Bei einigen Großprojekten war der Zwang der Inanspruchnahme öffentlicher Mittel weniger gravierend, hier ging es ausschließlich um das Arbeitsplatzangebot.“ Viele dieser Unternehmen haben überlebt, andere sind trotz der Kreditzuweisungen bankrott gegangen, vor allem wenn sie nicht den Wachstumsbranchen (hier im Zeitraum bis 1985) zuzurechnen waren. Der Faktor Boden als Ansiedlungslockmittel hat in der Region Braunschweig eine besondere Rolle gespielt. So standen auch im Landkreis Helmstedt diverse Standorte z. T. mit erschlossenem Gelände und vorhandenen Baulichkeiten zur Umnutzung zur Verfügung. Hierzu zählten nach Henk (1985) z.B. Anlagen der ehemaligen Wehrmacht (z. B. Marienborn, Heidwinkel), Gebäude des aufgelassenen Bergbaus (z. B. BKB-Werkstätten), im Zuge des Konzentrationsprozesses stillgelegte Fabriken u. ä.. Der Faktor Boden hatte auch bei der Nutzung als Erholungsraum einen besonderen Anreiz für die Ansiedlung bzw. die Wiederbelebung von Pensionshäusern, Ferienparks und einigen Hotels aus (z.B. Ferienparks Elm (Räbke), Mariental, Neueröffnung des Königshofes, Wiedereröffnung des Quellenhofes). Im Bereich des Faktors Arbeit galt es aufgrund der industriellen Monostrukturierung in der Region Braunschweig die Schaffung von Erwerbsalternativen zu gestalten. In den Kreditvergaberichtlinien hieß es deshalb, daß mit den Bundesmitteln vorrangig Projekte gefördert werden sollten, durch die neue gewerbliche Arbeitsplätze geschaffen werden konnten. In einer zweiten Phase der Belebung des Erwerbslebens durch Schaffung neuer Arbeitsplätze wurde verstärktes Gewicht auf die fachliche Weiterbildung in der gewerblichen Wirtschaft gelegt. In der dritten Phase bis 1970 wurden dann vor allem Umschulungsaktivitäten eingeleitet, um die starken Freisetzungen im Bergbau abzufangen und diesen Erwerbstätigen eine neue Orientierung zu bieten. Im Landkreis Helmstedt setzte der Bergbau nur relativ langsam Arbeitskräfte frei und die freiwerdenden Arbeitskräfte konnten vorwiegend zur VW-AG überwechseln. Heute, wo es ebenfalls wieder einen vermehrten Abbau von Arbeitskräften im Bergbau aufzufangen gilt, ist das nur noch bedingt möglich, wenn nicht sogar ausgeschlossen, da die VW-AG ebenfalls verstärkt Arbeitsplätze freisetzt. - 28 - Henk (1985) spricht bereits davon, daß der Ausgleich im Bereich der Bergbauschwerpunktorte Helmstedt und Schöningen nur teilweise erfolgreich gewesen ist. Trotzdem ist im Bezirk Braunschweig ein Übergewicht an sogenannten "footloose-Gründungen" zu verzeichnen, was zu neuen Betriebsagglomerationen geführt hat. Diese haben einen erheblichen Anteil an der notwendigen Diversifikation von Ausgleichsindustrien gegenüber den krisenanfälligen Monostrukturen bewirkt und müssen deshalb auch als besonderer Erfolg des Bundesmitteleinsatzes gewertet werden (Henk, 1985). Bezüglich dieser staatlichen Förderungen wird immer wieder das Gießkannenprinzip angeführt. Im ehemaligen Zonenrandbereich ist insgesamt festzustellen, daß sich der Mitteleinsatz stark auf die zentralen Orte konzentriert hat. Dieses Schwerpunktprinzip sieht seinen Ursprung übrigens im Zentrale-Orte-System von Christaller. Nichtsdestotrotz war ein eindeutiger flächenmäßiger Streueffekt zu beobachten. der Konzentrationsprozeß aber vollzog sich fast automatisch und sachgemäß folgerichtig in den zentralen Orten, da dort das mittelständische Gewerbe schon rein zahlenmäßig stärker vertreten war als im Ländlichen Raum. Im ländlichen Umfeld konnten sich mit Hilfe der Subventionen Handwerker und sonstige Gewerbetreibende entfalten, die nicht an die unmittelbare Kundennähe gebunden waren. Hierzu gehörten vor allem Zimmerer, Dachdecker und sonstige Baugewerbe, da sie einen relativ hohen Flächenbedarf für ihre Bauhöfe haben und folglich der Faktor Boden und sein Preis für sie stark zum Tragen kommt. Damit wurde doch zu einem bemerkenswerten Teil den Verödungsprozessen im ländlichen Umfeld vorgebeugt. Leider ist im Nachhinein festzustellen, daß in den grenznahen Orten wie Schöningen und Helmstedt, trotz einer erheblichen Verdichtung der Fördermittel durch Erhaltungs- und Ansiedlungssubventionen, die wirtschaftliche Besserstellung dieser Randkommunen (eine sehr wichtige Zielvariable im Rahmen der sogenannten „Schaufensterfunktion“) dennoch nicht erreicht bzw. erhalten werden konnte. Die Betriebsschließungen übertrafen die Neuansiedlungen teilweise um mehr als das Doppelte. Dieser wirtschaftliche Verödungsprozeß spiegelte sich auch in dem starken Bevölkerungsrückgang dieser grenznahen Kommunen wider. Insofern stellt die Grenzöffnung von 1989 wirklich eine neue wirtschaftliche Chance dar, denn nun ist der mitteldeutsche Absatzmarkt wieder vorhanden und die Marktferne zum EU-Markt ist ebenfalls nicht mehr gegeben, da Helmstedt jetzt "mitten 'drin" liegt. Die allgemeine Abhängigkeit von der Monostruktur des VW-Werkes und vom Bergbau ist aber eindeutig noch vorhanden und macht vor allem zur Zeit der verstärkten rezessiven Konzentrationsprozesse (1992/1994) besondere Schwierigkeiten im Landkreis Helmstedt. 1.5.4 Förderoptionen des Zonenrandes Bei der Förderung des Zonenrandes mußte stets ein starkes Konfliktpotential bewältigt werden. Auf der einen Seite galt es, die Verhärtung bzw. Konservierung überkommener industrieller Strukturen aufzuweichen, auf der anderen Seite die eindeutigen wirtschaftlichen, kommunikationstechnologischen und kulturellen Benachteiligungen des Grenzraumes abzumildern. Bei der Förderung bestand immer die Möglichkeit, daß sich die überkommenen Strukturen länger erhielten, als das für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung von Vorteil war. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von einer Zementierung der Strukturen, die meist ein Hinausschieben der sozio-ökonomischen Probleme auf die nächsten Generationen zur Folge haben. Für das Zonenrandgebiet wurde bis 1987 ein Förderhöchstsatz von 25% gewährt, der sich in der Regel aus einer mit Rechtsanspruch versehenen 10%-igen Investitionszulage und einem zu versteuernden Investitionszuschuß von 15% aus Mitteln der Gemeinschaftsaufgabe zusammensetzte. Dazu wurden nach §3 ZRFG Sonderabschreibungen gewährt. Ab 1988 betrug der maximale Förderhöchstsatz 23% zuzüglich der Steuerabschreibungsmöglichkeiten. Ab Ende 1989 wurden die Fördermittel nur noch aus den Mitteln der Gemeinschaftsaufgabe finanziert, auf die kein Rechtsanspruch bestand und die vollständig steuerpflichtig waren. - 29 - Als in den letzten zehn Jahren der industrielle Strukturwandel heftig zu wirken begann, wurden bevorzugt Standorte gefördert, die eindeutig begünstigt waren. Das hatte zur Folge, daß sich viele die Standorte entlang der Zonengrenze immer deutlicher verschlechterten. Die EU hatte zudem aufgrund zunehmender regionalpolitischer Aktivitäten die Einheitlichkeit des Zonenrandgebiets als Fördergebiet bereits sehr früh in Frage gestellt und für sich die Kompetenz in Anspruch genommen, in jedem Einzelfall zu prüfen, ob eine wirtschaftliche Benachteiligung einer konkreten Arbeitsmarktregion durch die Teilung Deutschlands besteht (Berg, 1989). Berg weist in derselben Veröffentlichung bereits darauf hin, daß der Binnenmarkt die Problemsituation des Zonenrandgebiets noch deutlich verschärfen würde. Dann fiel die Grenze und es wird bereits verhandelt, inwiefern die angrenzenden Länder an der Ostgrenze Deutschlands in den Binnenmarkt integriert werden können. Von 1988 bis 1990 sind im Landkreis Helmstedt 23 Vorhaben mit einem Investitionsvolumen von über 88 Mio. DM mit Zuschüssen aus der Gemeinschaftsaufgabe in Höhe von etwas über 9 Mio. DM gefördert worden. Bis 1991 wurden noch einmal 2 Infrastrukturmaßnahmen und 8 gewerbliche Vorhaben mit einem Investitionsvolumen von über 13 Mio. DM gefördert, wobei sich der GAZuschuß auf über 3 Mio. DM in 3 Jahren belief. 1.5.5 Aktuelle wirtschaftsförderliche Rahmenbedingungen im ehemaligen Zonenrandgebiet Nachdem nun die Grenze seit vier Jahren offen ist, gibt es aus der Sicht der Bundesregierung und der EU keine sachliche Veranlassung mehr, die Zonenrandbegünstigungen aufrecht zu erhalten, und das obwohl sich die wirtschaftliche Situation nach einem sehr kurzen und außergewöhnlichen Aufblühen insbesondere im Handel, in der ehemaligen Zonenrandlage eher verschlechtert als verbessert hat. Das Wegfallen ehemaliger finanzieller Anreizmittel für ansiedlungswillige Unternehmen ist wahrscheinlich auch der Hauptgrund für die diesbezügliche Inattraktivität des Landkreises Helmstedt, der zudem in unmittelbarer Nähe zu einem der von der EU höchstgeförderten Bereiche (alle neuen Bundesländer, also auch Sachsen-Anhalt) liegt. Mitte 1993 einigten sich die Kommission der EG und der Bund darauf, daß die neuen Bundesländer mit ihrer vollen Fläche als Fördergebiet ausgewiesen werden, die Fördergebiete in den alten Ländern dagegen zu reduzieren seien. Im Regierungsbezirk Braunschweig wurden aufgrund dessen 15% des Fördergebietes, gemessen an der Einwohnerzahl, aus der Förderung herausgenommen. Im Landkreis Helmstedt verblieben deshalb lediglich die Stadt Schöningen und die Gemeinde Büddenstedt mit nahezu 19.000 Einwohnern in der Förderung der Gemeinschaftsaufgabe. 38.000 Einwohner des Landkreises wurden aus der GA-Förderung herausgenommen. Bis 1996 verbleibt von der ehemaligen Zonenrandförderung lediglich die steuerbegünstigte Investitionsrücklage (Abschreibungssatz: 50% bei beweglichen und unbeweglichen Wirtschaftsgütern des Anlagevermögens). Das bereits mehrmals angesprochene hohe Fördergefälle bei der Investitionsförderung im privaten gewerblichen Bereich kann zu gar nicht anderen Folgen führen, als sie den Wirtschaftsförderern der Region schmerzhaft jeden Tag bewußt werden; potentielle Investoren ziehen verstärkt ins Nachbarland Sachsen-Anhalt. Hier sind 23% Normalförderung bei Betriebserrichtung und 12% Kumulierungsmöglichkeiten vorhanden; desweiteren sind bezüglich des Förderkriterium "überregionaler Absatz" schon bei Überschreiten der 30-km-Zone Fördermittel beantragbar. Weiterhin können in Sachsen-Anhalt Beratungsleistungen, Studien und Gutachten im Zusammenhang mit der betrieblichen Einrichtung gefördert werden und ein Arbeitsplatz gilt ab 40 TDM als hochwertig und es kann diesbezüglich eine Zusatzförderung beantragt werden (NIW, 1993). 1996 wird auf alle Fälle die klassische Zonenrandförderung im Rahmen der GRW auslaufen, was Förderungseckwerte von 12 bis zu 18% Zuschuß bedeutet hat. 1994 läuft zudem noch das spezielle kulturelle Zonenrandförderprogramm aus. Als ein gewisser Ausgleich für den Wegfall aus der GRW wurde von Landesseite her der Landkreis Helmstedt als Zielgebiet für die EU-Förderung vorgeschlagen. Von Seiten des Amtes für Wirtschaftsförderung des Landkreises Helmstedt wurde in der Folge die Ausweisung eines Teilgebietes des Landkreises Helmstedt (genauer die Städte Schöningen und Helmstedt, die - 30 - Gemeinden Büddenstedt, Räbke und Wolsdorf (Samtgemeinde Nord-Elm) sowie die Gemeinden Twieflingen und Söllingen (Samtgemeinde Heeseberg)) als Zielorte der Ziel 2-Förderung der EU beantragt. Hier können durch eine enge interkommunale Zusammenarbeit durchaus Chancen entwickelt werden, die insgesamt die Rahmenbedingungen für die weitere sozio-ökonomische Entwicklung positiv beeinflussen können (Braunschweiger Zeitung, Helmstedter Teil v. 1.2.1994, Verhandlungserfolg für den Landkreis - außer Schöningen und Büddenstedt auch die Stadt Helmstedt dabei). - 31 - 2. Die Bundesrepublik vor der demographischen Wende In der Bundesrepublik wird insgesamt, wie auch in den anderen Industrienationen, in absehbarer Zeit ein durchgreifender demographischer Wandel stattfinden, der nachhaltige Wirkungen in den Gesellschaften zeitigen wird. Entscheidend ist der langandauernde Geburtenrückgang und vor allem die massive Abnahme kinderreicher Familien. Das bedeutet für die Bundesrepublik, daß in wenigen Jahrzehnten bereits ein über 40%-iger Anteil der Bevölkerung mehr als 60 Jahre alt sein wird(!). Ohne Zuwanderungen aus dem Ausland wird die inländische Bevölkerung um knapp ein Drittel sinken. Nach einer Modellrechnung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung ( DIW ) benötigt die Bundesrepublik allein zur Erhaltung ihrer Wirtschaftsfkraft bis zum Jahr 2008 eine jährliche Zuwanderung von 300.000 Facharbeiter/innen. Wegen der verstärkt einsetzenden Überalterung der Deutschen wäre danach eine Zuwanderung von jährlich einer Million(!) Menschen notwendig. Bis zum Jahr 2015 ergäbe dies gegenüber dem bisherigen Ist-Zustand von 6 Millionen ungefähr 12 Millionen weitere Einwanderer. Unter Berücksichtigung der bislang üblichen Rückwanderungsquote von Ausländern (nahezu 50%!) würde damit der Anteil der Ausländer an der erwerbstätigen Bevölkerung von derzeit 7,1% bei weitem noch immer nicht die heutige Quote der Schweiz von 18,3% (ohne Saisonarbeiter) erreichen (Die Zeit v. 4.2.1994, Abschied vom völkischen Wahn). Diesen Zusammenhang sollten sich vor allem einmal die glühenden Nationalisten in unserem Land vergegenwärtigen. Deutschland ist als ein internationaler Handelspartner auf ausländisches Knowhow und ausländische Arbeitskraft angewiesen, um so "kräftig" zu bleiben, wie es ist. Statt den Nationalismus mit entwicklungs- und menschenfeindlichen Parolen anzuheizen, sollte man sich besser daran beteiligen, den bestehenden Problemen des raschen Wandels und des Kampfes um Arbeitsplätze und Wohnraum mit konstruktiven Konzeptionen entgegenzutreten. Nach Annahmen der siebten koordinierten Vorausberechnung (Prämissen: Konstanz Geburtenziffern von 1989 in der Zukunft, steigende Lebenserwartung und Zuwanderungsüberschuß von vorwiegend deutschstämmigen Aussiedlern, der sich nach dem 2000 auf ca. 50.000-60.000 pro Jahr einpendeln könnte) gilt folgende Altersstruktur als wahrscheinlich: der ein Jahr sehr - die Zahl der Kinder und Jugendlichen nimmt weiter ab. Waren es 1988 noch 17,2 Millionen oder 21,8% der Bevölkerung, wird im Jahr 2030 ihre Zahl auf 12 Millionen oder 17,2% zurückgegangen sein; - die Zahl der Erwerbstätigen wird in den nächsten Jahren ihren Höhepunkt erreichen und dann langsam abnehmen. Ab dem Jahr 2020 wird mit einer beschleunigten Abnahme der Erwerbsstätigen Deutschen gerechnet. Im Jahre 2030 läge dann die Zahl der Erwerbstätigen im Alter zwischen 35 und 60 Jahren bei 33 Millionen Menschen. Das wäre eine Abnahme von ca. 73% (!) gegenüber dem heutigen Stand; - die Zahl der Älteren (über 60 Jahre) ist seit den 80er Jahren stabil und wird bis zum Jahr 2030 auf 24,3 Millionen ansteigen. Ihr Anteil wird bei insgesamt abnehmender Bevölkerung auf 35% zunehmen. Sind nun die immer wieder zu hörenden Warnrufe bezüglich einer ”Vergreisung” unserer Gesellschaft nur Unkenrufe oder sind sie ernst zu nehmen und was könnte diese Vergreisung bedeuten? Es muß dabei zuerst einmal etwas weiter ausgeholt werden. Es ist festzustellen, daß - in armen Gesellschaften die Kinder die Alten ernähren, in reichen Gesellschaften dagegen die Alten die Kinder und Enkel finanzieren; - 32 - - die Bundesrepublik eine reiche Gesellschaft ist, in der das reale Sozialprodukt von 1955 auf 1988 um das Fünffache gestiegen ist; - die Alten in der überwiegenden Mehrheit geistig und körperlich aktive und kreative Menschen sind, die ein Bildungs- und Qualifikationsniveau aufweisen, das im internationalen Vergleich als herausragend bewertet werden kann; - die älteren Mitbürger mittelbar und bereits heute erkennbar zu einem der größten Arbeitgeber in Deutschland werden. Die Alten der Jetztzeit und der Zukunft werden sich aufgrund bestimmter Merkmale von denen der Vergangenheit abheben: - sie verfügen über ein höheres Bildungs- und Qualifikationsniveau, - eine bessere Gesundheit, - sie verfügen über höhere Einkommen - und sie werden wohl relativ mobil sein. Die absehbare demographische Wende wird nicht nur an unsere Gesellschaft völlig neue Anforderungen stellen, sondern sie wird auch Auslöser für neuartige Wanderungsbewegungen innerhalb Europas sein und damit zur kulturellen und nationalen Neubestimmung von Identitäten führen. Unsere Gesellschaft steht in einer qualitativen Umstrukturierungsphase und die stattfindenden sozio-kulturellen Neuorientierungen werden vehemente sozio-politische Änderungen zeitigen. Momentan zeichnet sich ein Trend ab, daß alte Menschen in unserer Gesellschaft es mehr und mehr verstehen, welche Kraft und Bedeutung sie als gesellschaftliche Gruppe im Gesamtgefüge haben. Sie beginnen, sich als Gruppe politisch zu artikulieren und wenden sich verstärkt gegen die gesellschaftsinterne "Abschiebung" der Alten aus Beruf oder Familie. Diese "Abschiebungspraxis" ist weder individuell noch gemeinschaftlich gesehen ein wünschenswerter, geschweige denn ein akzeptabler Zustand. Selbst wissenschaftlich ist eindeutig belegt, daß alte Menschen nicht weniger Aufmerksamkeit, Urteilsvermögen oder Verantwortungsbewußtsein haben als junge Menschen. Es läßt aufgrund des körperlichen Verfalls lediglich irgendwann die physische Belastbarkeit, Flexibilität, Kraft und Beweglichkeit nach. Aber die alten Menschen haben eine Vielzahl von Lebenserfahrungen, die sie teilweise zu großer Weisheit führt. Wie sieht es mit der Integration der Alten in den Wirtschaftsprozeß aus? Die Wirtschaft fährt zur Zeit verstärkt einen "jungendzentrierenden" Kurs. Es gibt nur noch wenige Facharbeiter zwischen 55 und 65 Jahren. Die Alten nehmen desweiteren im Schnitt weniger oft an Weiterbildungen teil und immer häufiger werden Frühverrentungen ausgesprochen bzw. auch angenommen. Es ist also deutlich zu erkennen, daß die Alten im Wirtschaftsbereich "abgeschoben" werden. Das ist bei dem technischen Stand unserer Gesellschaft völlig unverständlich, denn man müßte in der Lage sein, die Arbeitsplätze altersgerechter zu gestalten bzw. rechtzeitig über Ausund Weiterbildungen das Wissens- und Erfahrungsreservoir der Alten sinnvoller anzusprechen und für alle nutzbar zu machen. Der demographische Wandel ist nicht aufzuhalten, es sei denn man ginge von einer stark erhöhten Einwanderung aus anderen europäischen Staaten aus. Die Unternehmen, die Parteien, die Gewerkschaften u.v.m. müssen sich also voraussichtlich darauf einstellen, daß viele Aufgaben in unserer gesellschaftlichen Produktion zukünftig in zunehmendem Maße von älteren Menschen erledigt werden müssen(!). Vordringliche Ziele sollten also eine Orientierung an dieser Arbeitnehmergruppe und die Umgestaltung der vorhandenen Arbeitsplätze sein, so daß ältere Arbeitnehmer/innen ohne verstärkte Verschleißerscheinungen und bei gleichzeitiger Wahrung der vom Markt geforderten Qualität und Intensität der Bearbeitung am Arbeitsleben teilnehmen können. Die sich deutlich abzeichnenden Tendenzen des "Zweiten Arbeitsmarktes" sollten nicht negiert, sondern verstärkt - 33 - wissenschaftlich bearbeitet werden, damit die Interessengruppen im Umdenk- und Umlenkprozeß, der unabdingbar notwendig ist, eine gemeinsame Informationsbasis bekommen. Durch den anstehenden demographischen Wandel werden sich auch Änderungen in der Nachfrage ergeben, die sich voraussichtlich vor allem im personengebundenen Dienstleistungsbereich stark positiv bemerkbar machen werden. Da in der Bundesrepublik allgemein eine starke Unterbelegung in den Dienstleistungsbranchen und insbesondere in den personengebunden Dienstleistungen zu verzeichnen ist, bietet sich hier ein weites Feld der Innovation und ökonomischen "Nischengestaltung". Diese Perspektive sollte vor allem in der kommunalen Wirtschaftsförderung ausgenutzt werden. Im Landkreis Helmstedt gibt es in diesem Bereich ein zukunftsträchtiges Betätigungsfeld. Eine vorbereitende und zuarbeitende alten- und familiengerechten Wohnstrategie ist für die Entscheidungsträger und Entscheidungsträgerinnen des Landkreises Helmstedt kein unbekanntes Arbeitsfeld. Deshalb könnte man durchaus empfehlen, diesen Teil des sozioökonomischen Geflechts noch stärker auszubauen. Das in Helmstedt eingerichtete Altenbüro ist da wahrscheinlich erst der Anfang. Es wird nicht mehr lange dauern und das gesamte öffentliche und private Angebot muß sich auf Menschen in der sogenannten dritten Lebensphase einstellen. Doch nicht nur die Leistungsangebote, sondern auch die Problemlösungsstrategien müssen, wie in vielen anderen Bereichen, radikal und umfassend geändert werden, und zwar in Richtung - man hört es immer wieder - einer zeitlichen, fachressortund institutionsübergreifenden Vernetzung aller Planungs- und Handlungsebenen. Gefragt ist eine ganzheitliche Bearbeitung und Bewältigung der anstehenden Problemgefüge (Frankfurter Rundschau v. 22.4.1993, Die demographische Zeitenwende erfordert eine radikal neue Politik). Bevölkerungsrelevante Vorgänge u. a. im Landkreis Helmstedt In der niedersächsischen Bevölkerung sind in den letzten 12 Jahren erhebliche Alterstrukturverschiebungen eingetreten. So gab es im Vergleich zu 1981 - ca. 16% mehr Kinder unter 6 Jahren, - ca. 29% weniger 6 bis unter 18-Jährige, - ca. 5% weniger 18 bis 25-Jährige, - ca. 14% mehr 25 bis 65-Jährige und - ca. 4% mehr Ältere (65 Jahre und älter) (s. a. Tab. II. 1). Aus dieser Tabelle wird ersichtlich, daß in allen angegebenen Kategorien vor allem die Altersgruppe der 6 bis unter 18-Jährigen in diesem Zeitraum die stärksten Einbrüche zu verzeichnen hatte. Erweitert man diese Altersgruppe um die Gruppe der zwischen 18 bis zu 25Jährigen, wird die demographische Lücke deutlicher erkennbar. Die stärksten Abnahmen sind in den städtischen Kreisen erkennbar. Dagegen ist in den städtisch-ländlichen Kreisen, wozu auch der Landkreis Helmstedt gezählt werden kann, der Zuwachs der unter 6-Jährigen zwischen 1981 und 1991 am größten (19,8%). Das dürfte u.a. ein Ergebnis der "Stadtflucht" sein, die in den letzten 10-15 Jahren auch zu einer Neuordnung des kommunalen Finanzausgleichs und diversen verwaltungstechnischen Neustrukturierungen geführt hat (Stichwort: Eingemeindungen). Vergleicht man Tab. II. 2 mit Tab. II. 3 wird erkennbar, daß der Landkreis Helmstedt einen starken demographischen Altersüberhang hat. In der Gruppe der über 65 jährigen lag er sowohl über dem niedersächsischen als auch dem bundesdeutschen Gesamtdurchschnitt. Vor allem in den Städten Schöningen (20,6%) und Helmstedt (20,4%) sind auch im regionalen Vergleich außergewöhnlich hohe Anteile in dieser Altersgruppe vorhanden. Auch der Anteil der 55-65-Jährigen (12,6%) liegt über dem niedersächsischen und bundesdeutschen Gesamtdurchschnitt. Innerhalb des Landkreises sind hier die Stadt Schöningen (14,0%) und die Gemeinde Büddenstedt (15,7%) Spitzenreiter. In der Altersgruppe der 35-45 jährigen sind im Landkreis in der Stadt Schöningen (12,5%), der Samtgemeinde Heeseberg (12,3%) und der Gemeinde Büddenstedt (11,7%) vergleichsweise geringe Anteilswerte zu verzeichnen. Diese Altersgruppe ist sozio-ökonomisch und sozio-kulturell von großer Wichtigkeit, denn in ihr befinden sich für gewöhnlich große Teile der Kulturträger und - 34 - "Arrivierten". Im regionalen Vergleich ist der hohe Anteil dieser Altersgruppe im Landkreis Gifhorn auffallend. Mit 14.3% setzt er sich selbst im bundesdeutschen Schnitt deutlich ab. Anhand der Anteilshöhen dieser Altersgruppe sind im Landkreis Helmstedt "Gunsträume" zu erkennen. Wie zu erwarten sind die Stadt Königslutter (14,0%), die Gemeinde Lehre (14,4%) und die Samtgemeinde Velpke bevorzugte Standorte dieser Altersgruppe, was sich eindeutig aus der Nähe zu den Arbeitsmärkten Braunschweig und Wolfsburg erklären läßt. In der Altersgruppe der 25-35 jährigen führt der Landkreis Gifhorn ebenfalls den regionalen Vergleich an und der Landkreis Helmstedt liegt in dieser Altersgruppe deutlich unter dem niedersächsischen und bundesdeutschen Gesamtdurchschnitt, wobei wiederum die Gemeinde Lehre und die Samtgemeinde Velpke die höchsten Anteile aufweisen. Hier fällt auch die Gemeinde Büddenstedt "positiv" auf, da sie einen relativ hohen Anteil in dieser Bevölkerungsgruppe aufweist. In der Altersgruppe der unter 25-Jährigen weisen im Landkreis die Stadt Königslutter, die Samtgemeinden Heeseberg und Nord-Elm sowie die Gemeinde Lehre relativ hohe Anteile auf, die z.T. sogar über dem Bundesdurchschnitt liegen. Die Stadt Schöningen ist in diesem Bereich das "Sorgenkind", da sie die niedrigsten Werte in dieser Altersgruppe aufweist. Die Stadt Schöningen weist auch nach Tab. II. 4 im Zeitraum von 1980-1988 den höchsten Wanderungssaldo auf, hat dafür nach der Grenzöffnung aber auch einen hohen Zuwanderungswert aufzuweisen, der im Landkreisvergleich jedoch nur einen mittleren Platz einnimmt. Im Zeitraum von 1980-1988 haben bezüglich des Wanderungssaldos die Stadt Königslutter , die Samtgemeinden Grasleben und Velpke sowie die Gemeinde Lehre insgesamt gesehen positive Wanderungsgewinne zu verzeichnen, die anderen Kommunen hatten dagegen geringe bis relativ eindeutige Wanderungsverluste zu verzeichnen. Vor allem die Stadt Schöningen und die Gemeinde Büddenstedt haben starke Fortzüge in Kauf nehmen müssen. Nach der Grenzöffnung im Zeitraum von 1989-1991 haben alle Kommunen des Landkreises positive Wanderungssalden aufzuweisen. Insbesondere die Stadt Schöningen, vor allem aber die Samtgemeinde Grasleben haben immense Zuwächse erfahren, die wesentlich über dem niedersächsischen Schnitt liegen. Die Samtgemeinde Heeseberg hat ebenfalls hohe Zuwanderungsgewinne in diesem Zeitraum erfahren. Betrachtet man Tab. II. 5, so wird noch einmal offensichtlich, wo genau die demographischen Probleme des Landkreises Helmstedt liegen. In dieser Tabelle sind die Wanderungen nach Altersjahren aufgeführt und man erkennt sofort, daß vor allem die junge Generation bis 1988 zu den stärksten Abwanderungsgruppen gehörte. Nach der Grenzöffnung sind vor allem in den Hauptgruppen der Erwerbstätigen hohe Zuwächse zu verzeichnen gewesen. Auffallend sind hierbei die hohen Werte der unter 18 jährigen und der 20-30 jährigen. Den Entscheidungsträgern in Wirtschaft, Kultur und Verwaltung des Landkreis könnte man aus dieser Sachlage heraus empfehlen, sich stark um diesen Zuwanderungsüberschuß, wahrscheinlich zu einem wesentlichen Teil aus dem nahen Sachsen-Anhalt, zu kümmern und "Bestandspflege" zu betreiben und für dieses Zuwanderungspotential Arbeitsplätze zu schaffen und zu sichern. Denn betrachtet man Tab. II. 6 wird klar, daß trotz der hohen Zuwanderungsgewinne ein negativer Wanderungssaldo bei den Erwerbspersonen vorliegt, und das auch, wenn man den speziellen Zeitabschnitt 1989-1991 betrachtet. Der Negativtrend bei den Erwerbspersonen zeichnet sich seit 1985 durchgehend bis zum Jahr 1991 ab. Ebenso deutlich ist der Zuzug von Nichterwerbspersonen zumindest seit 1989 relativ stark. Er scheint sich bereits 1991 aber wieder abzuschwächen. In der Ausländergruppe sind dagegen Steigerungen zu verzeichnen. In dieser Gruppe ist ein positives Wanderungssaldo bei den Erwerbspersonen zu verzeichnen. Für die Wirtschaftsförderung sind diese demographischen Daten insofern von Interesse, als sie die Problemstandorte des Landkreises Helmstedt noch einmal deutlich aufzeigen. Desweiteren ist es von Bedeutung, welche Altersgruppen ”problematisch” sind. Sie sind erkannt und so sollte sich die Wirtschaftsförderung stark darum bemühen und mithelfen, den Standort für diese Altersguppen qualitativ zu ändern. Dazu kann auch gehören, daß insbesondere Existenzgründerprogramme, die auf junge Unternehmer und Unternehmerinnen zugeschnitten sind zur Anwendung gebracht werden. Der Dienstleistungsbereich ist für junge Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen sehr attraktiv und es besteht im Landkreis diesbezüglich noch eine Ausbauchance. - 35 - 3. Wirtschaftliche Entwicklung im Landkreis Helmstedt 3.1 Wirtschaftsstruktur und Strukturwandel 3.1.1 Einleitung Der Landkreis Helmstedt ist ein integrierter Bestandteil der Region Südostniedersachsen, der außerdem die Städte Braunschweig, Salzgitter und Wolfsburg sowie die Landkreise Gifhorn, Goslar, Peine und Wolfenbüttel umfaßt. Diese Region ist ein industriell geprägter Verdichtungsraum mit einem Anteil an der Landesfläche Niedersachsens von weniger als 10 v. H., bei einem Anteil an der Bruttowertschöpfung von ca. 19 v. H. Im Mittelpunkt der Region Südostniedersachsen steht die Industrieverdichtung von Wolfsburg, Braunschweig, Peine und Salzgitter, die zugleich zweitgrößter Agglomerationsraum von Niedersachsen ist und für den Landkreis Helmstedt eine starke sozialökomonische Orientierung auf das Mittelzentrum Wolfsburg mit oberzentraler Teilfunktion und das Oberzentrum Braunschweig aufweist. Besonders im Hinblick auf die Aussagekraft dieser regionalen Strukturanalyse erscheint es erforderlich, im folgenden die spezifischen Strukturmerkmale dieses Teilraumes „Landkreis Helmstedt“ der Region Südostniedersachsen zu erfassen. Grundüberlegung für die Auseinandersetzung mit regionalen Wirtschaftsstrukturen ist die Annahme räumlicher Ungleichgewichte in der Entwicklung. Seit Anfang der 70er, 80er und 90er Jahre vollzogen sich tiefgreifende Einbrüche in der ökonomischen Entwicklung und auf dem Arbeitsmarkt der gesamten Bundesrepublik. Diese Entwicklungstendenzen führten zu starken Disparitäten zwischen den einzelnen Landkreisen der Regionen, die sowohl von Aufschwung als auch Rezessionsphasen geprägt waren und eine in sich veränderte Reihenfolge von regionalen Gewinnern als „Aufsteiger“ und regionalen Verlierern als „Absteiger“ zur Folge hatten. Im Gliederungsteil "Arbeitsmarkt" wird diese Thematik aufgegriffen und vertieft. Im Rahmen dieser Analyse sollen die Ursachen der regionalen Entwicklungsunterschiede untersucht werden, deren Bestimmungsgründe komplex sind und nicht allein von den divergierenden Branchenstrukturen her abgeleitet werden können. Auch für die Wirtschaft im Landkreis Helmstedt stellt sich unter anderem die Frage des Wettbewerbs mit den Niedriglohnländern und der Produktionsverlagerung durch die Wende in Osteuropa. Es ist deshalb nicht ausgeschlossen, daß dadurch die Industrie in der gesamten Bundesrepublik Deutschland mit direkten Auswirkungen auch für den Landkreis Helmstedt auf eine (noch) schmalere Basis zusammenschmilzt. Auf Grund dessen wird diese Problematik im folgenden punktuell mit berücksichtigt. Auch wird beispielhaft darauf hingewiesen, daß der durch die Veränderungen in Osteuropa bei uns ausgelöste, beziehungsweise verstärkte Strukturwandel nicht nur als "Bedrohung" angesehen werden muß. Untersuchungsmethoden Der Aufgabenstellung entsprechend wurde die Auswertung sekundär - statistischer Daten erforderlich. Hierzu lieferten das Arbeitsamt Helmstedt, das niedersächsische Landesverwaltungsamt für Statistik, das niedersächsische Institut für Wirtschaftsforschung und die Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung aufgrund der Vielzahl an Veröffentlichungen umfangreich gegliedertes Material. Desweiteren waren Gespräche mit Angehörigen von Fachbehörden, Institutionen und Unternehmen erforderlich und hilfreich. Ein erster Schritt zur Vergleichbarkeit wirtschaftlicher Entwicklung wurde mit der Systematisierung der Daten vorgenommen. Die Gliederung in Wirtschaftsabteilungen erlaubt es, für die einzelnen Branchen Zeitreihen mit Betriebs- und Beschäftigtenzahlen aufzustellen. Die nach einheitlichen Kriterien geordneten Merkmale bilden die Grundlage für interregionale Vergleiche, eine Indizierung ermöglicht zudem die Gegenüberstellung mit einem Basisjahr. - 36 - Die Daten gewinnen besonders dann an Aussagekraft, wenn sie miteinander verknüpft werden. Indizes und Kennziffern bieten in ihren Abweichungen zu Entwicklungen auf Bundes- bzw. Landesebene oder zu anderen Landkreisen eine Möglichkeit, die Wirtschaftsstruktur in ihrem Wandel zu beurteilen. Außerdem wurde durch eine Feinuntergliederung der verschiedenen Wirtschaftsabteilungen und Wirtschaftszweige im Landkreis vorhandene Branchen aufgelistet, um so Hinweise auf fehlenden bzw. zusätzlichen Bedarf an Produktionsmöglichkeiten und Dienstleistungs-angeboten zu geben. Desweiteren ist darauf hinzuweisen, daß weitgehend eine interdisziplinäre Form inhaltlicher Aufarbeitung erfolgen wird. Nur wer globale Teilzusammenhänge und Erklärungsansätze einordnen kann, ist annähernd in der Lage, die daraus resultierenden Problemstellungen und Handlungsableitungen auch auf die regionale Ebene zu übertragen und gegebenenfalls (sofern es die Rahmenbedingungen ermöglichen) umzusetzen. 3.1.2 Historischer Rückblick der Wirtschaftsentwicklung Wer als Gebietseinheit zukünftig in wirtschaftlichen Entwicklungsverläufen eine günstige Ausgangsposition schaffen will, kommt nicht daran vorbei, sich mit der Gegenwart eingehend auseinanderzusetzen. Dies erfordert wiederum, die Wirtschaftsabläufe der Vergangenheit zu analysieren. Die negativen Auswirkungen der Grenzziehung im Jahre 1945 bewirkten, daß die Herausbildung historisch gewachsener und stabiler Binnenkreisläufe abrupt unterbrochen wurde und der Landkreis Helmstedt nicht nur Randgebiet eine Staates, sondern auch der Europäischen Gemeinschaft wurde. Die ansässigen Unternehmen waren daher gezwungen, sich neu zu orientieren und neue Märkte zu erschließen. Im Erfasssungszeitraum 1960 bis 1964 war die rückläufige Bevölkerungsentwicklung im Landkreis Anlaß für verstärkte Initiativen zur Bestandspflege in vorhandenen Unternehmen und die Ansiedlung neuer Betriebe anzustreben. „Dabei spielte die Tatsache eine Rolle, daß Befragungen innerhalb der Kreisberufsschule das Ergebnis erbrachte, daß viele Berufsschüler und Berufsschülerinnen angaben, sie strebten einen Arbeitsplatz in westlicher gelegenen Gebieten an, weil sie dort ein reichhaltigeres Angebot an Arbeitsplätzen vorfänden.“1 Diese Wirtschaftsinitiative bewirkte, daß 10 neue Betriebe mit insgesamt 1.077 neuen Arbeitsplätzen im Landkreis entstanden. Die Randlage an der ehemaligen innerdeutschen Grenze erschwerte dies, zumal innerhalb der Bundesrepublik finanzstärkere Länder wie z. B. NordrheinWestfalen für die Zwecke der regionalen Wirtschaftsförderung unvergleichlich mehr Landesmittel einsetzen konnten als das finanzschwächere Niedersachsen. Der Erfassungszeitraum 1964 bis 1968 brachte die erste tiefergehende Rezession der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte, welche für den Landkreis Helmstedt einen erheblichen Beschäftigtenrückgang zur Folge hatte. Das drückte sich vor allem in einer Arbeitslosenquote aus, die erheblich über den Durchschnittswerten im gesamten Bundesgebiet lag. Der kontinuierliche Beschäftigtenanstieg der Braunschweigischen Kohlebergwerke AG2 wurde 1967 erstmals gestoppt und es wurde erkennbar, daß die bevorstehende Umstrukturierung des größten im Landkreis ansässigen Unternehmens in absehbarer Zeit zu einem wesentlichen Rückgang der Arbeitsplätze führen würde. Im Frühjahr 1968 wurde die Absicht bekannt, daß die Saline Schöningen mit etwa 200 Arbeitsplätzen in den folgenden zwei Jahren geschlossen werden soll. Dieser Beschäfti1 2 Siehe: Landkreis Helmstedt. Verwaltungsbericht 1960 bis 1964. Seite 69. Anmerkung: Braunschweigische Kohlen-Bergwerke AG im folgenden BKB AG genannt. - 37 - gungseinbruch führte zur Institutionalisierung eines "Wirtschaftsförderungsbeirates", der sich am 18.05.1967 konstituierte und die aktuellen Probleme der Wirtschaftsförderung aufarbeitete. Es wurde auf regionaler Ebene eine "Wirtschaftsförderungsgesellschaft" angestrebt, deren Gründung nicht vollzogen werden konnte, weil die beteiligten Großstädte in Südostniedersachsen dagegen ihr Veto einlegten. Die geplante Gründung dieser Wirtschaftsförderungs GmbH für den Bereich Südostniedersachsen wurde vom Landkreis durch einen Beschluß in der Kreistagssitzung am 21.06.1967 aktiv unterstützt.3 Die Stadt Helmstedt wurde zum Bundesausbauort erklärt und zählte damit zu den zehn Städten in der Bundesrepublik, die für industrielle Investitionen Zuschüsse von 25 Prozent erhielten. In dem Erfassungszeitraum konnten 11 Betriebsneugründungen und 9 Betriebserweiterungen (2 davon außerhalb der jetzigen Kreisgrenze) vorgenommen werden. Flankiert durch erhebliche Wirtschaftsförderungsprogramme besaß der Landkreis Helmstedt als Produktionsstandort besonders für Zweigbetriebe in den 60er Jahren mit dem vorhandenen un- und angelernten Arbeitskräftereservoir einige Standortvorteile. Wegen dieser starken Ausrichtung auf einfache Fertigungstätigkeiten im verarbeitenden Gewerbe erhielten die Distribution und höherwertige Dienstleistungen aber kaum Impulse. Im Erfassungszeitraum 1968 bis 1972 führte der konjunkturelle Aufschwung zunächst in den Jahren 1968 und 1969 zu einer verstärkten Investitionsfreudigkeit der Industrie, die aber in den folgenden Jahren zunehmend stagnierte. Dabei bestätigte sich die Erkenntnis, daß sich ein konjunktureller Rückgang in wirtschaftlich schwächeren Gebieten verstärkt auswirkte. So wurden die strukturellen Probleme des Landkreises durch den konjunkturellen Aufschwung zwar zunächst verdeckt, traten jedoch in der Folgezeit in zunehmendem Maße zutage und führten zu einer Reihe von Stillegungen namhafter Betriebe, vor allem im Helmstedter Südkreis: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. Norddeutsche Salinen GmbH, Saline Schöningen, Schöninger Kleiderfabrik R. Bull & Co., Schöningen, Schöninger Maschinenfabrik Bruschke & Co., Schöningen, Decofaltglas Bierbrauer & Co. KG, Schöningen, Nordzement AG, Werk Hoiersdorf, Helmstedter Dachsteinwerke Artur Stegmann KG, Graaff & Co., Süpplingen, Braunschweig-Schöninger Eisenbahn. Die Zahl der Betriebsstillegungen seit 1965 stieg auf 34. Außerdem war ein weiterer Rückgang der Belegschaft der BKB AG im Rahmen der Umstrukturierung dieses größten Wirtschaftsunternehmens im Kreisgebiet zu verzeichnen. Seit Anfang der 50er Jahre hatte sich die Anzahl der Beschäftigten der BKB AG bis 1987 um über 54 Prozent reduziert.4 Als Reaktion auf diese für den Landkreis ungünstige Entwicklung wurde eine überregionale Anzeigenkampagne durch eine professionelle Werbeagentur geschaltet, die in überregionalen Tageszeitungen und einschlägigen Wirtschaftsblättern, unterstützt durch die Industrie- und Handelskammer, zu beachtlichen Betriebsneugründungen führte: - Prakma Maschinen GmbH., Büddenstedt, - Wennerscheid KG., Transformatorenfabrik, Schöningen, - Modisch-Aktuell, Schöningen (das Unternehmen wurde später von der Firma Alois Heinze übernommen), - Richard Weber, Stahlbau GmbH, Schöningen, - Roto-Werke, Zweigwerk Schöningen, - Sengewald KG., Kunststoffabrik, Süpplingen, - Menzel, Likörfabrik, Königslutter, 3 4 Siehe: Landkreis Helmstedt. Verwaltungsbericht 1964 bis 1968. Seite 75. Siehe: Becher, G. Regionale Strukturprobleme und ihre Folgen: Das Beispiel Südostniedersachsen, Wirtschaftsstrukturprobleme in Südostniedersachsen. Band 2. Braunschweig 1987. Seite 117. - 38 - - Lenox KG., Jersey-Produktionsgesellschaft mbH., Helmstedt, - Allerglas, Grasleben, - Metro-Funk (Kabel Union) Schöningen. Diese quantitativen Teilerfolge ließen bisher unberücksichtigt, daß es sich hierbei mehrheitlich um angeworbene Unternehmen handelte, die den damaligen spezifischen Standortvorteilen des Landkreises von tendenziell niedrigen Löhnen und mobilen Arbeitsplätzen Rechnung trugen. Es erscheint offensichtlich, daß die Wirtschaftsförderung im Landkreis mit diesem spezifischen Anreizsystem auch in ihren überregionalen Werbeaktionen suggestiv operierte. Insbesondere durch die erfolgreiche Initiative zur Ansiedlung der Firma Phönix AG in Büddenstedt konnte zunächst eine arbeitsmarktpolitische Teilstabilisierung erreicht werden. An die Standortwahl Helmstedt des Zweigwerkes der Siemens-AG wurden Erwartungen geknüpft, die von einer erheblichen Stabilisierung der heimischen Wirtschaftskraft ausgingen. Die Tatsache, daß der Landkreis Helmstedt zu den wenigen Landkreisen in Niedersachsen gehörte, in denen bereits im Zeitraum von 1961 bis 1970 die Zahl der Beschäftigten um 7,2 v. H. rückläufig gewesen ist, verdeutlicht das strukturschwache Gefüge trotz erheblicher Fördermittelzuschüsse. Für den Zeitraum bis 1972 ist es durch allgemeine Wirtschaftsförderungsmaßnahmen gelungen, daß die aufgrund von Betriebsstillegungen verlorengegangenen Arbeitsplätze annähernd durch Betriebsneuansiedlungen kompensiert werden konnten. Mit Inkrafttreten des "Investitionszulagengesetzes" vom 18.08.1969, dem Gesetz über die „Gemeinschaftsaufgaben zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ vom 6.10.1969 und dem „Zonenrandförderungsgesetz“ vom 05.08.1971, waren die Voraussetzungen geschaffen, eine zunehmende Konzentration der Wirtschaftsförderung auf entwicklungsfähige Schwerpunktbereiche anzustreben. Das „Regionale Aktionsprogramm Niedersächsisches Zonenrandgebiet“ verschaffte den Städten Helmstedt und Schöningen eine erhöhte Förderungspräferenz von 25 Prozent. Maßnahmeziel dieser Zusatzförderung war die Konzentration auf lokale Ballungszentren, von denen die Wirtschaftskraft des ganzen Landkreises partizipieren sollte. Das Regionale Aktionsprogramm „Niedersächsisches Zonenrandgebiet“ umfaßte insgesamt ein Investitionsvolumen von 190.199.939,00 DM. Davon entfielen auf den Landkreis Helmstedt Investitionszuschüsse von 19.621.756,00 DM.5 Außerdem trat am 01.01.1971 das Gesetz über „Grunderwerbssteuerbefreiung bei Maßnahmen zur Verbesserung der Wirtschaftsstruktur“ in Kraft. Mit diesem "Förderungsmaßnahmebündel" war der Landkreis Helmstedt zum höchsten Fördergebiet in Niedersachsen aufgestiegen. Was den wirtschaftspolitischen Effekt dieser Fördermöglichkeiten anbetrifft, konnten die entwickelten Maßnahmen zur beabsichtigten Stabilisierung und Stärkung der Wirtschaftskraft nicht beitragen. Beschleunigt durch die zweite Rezession Anfang der 70er Jahre, stellten im Erfassungszeitraum 1972 bis 1976 folgende Betriebe einen Konkursantrag: - Eisengießerei Helmstedt GmbH, Helmstedt, Kammgarnspinnerei Ludwig Hampe, Helmstedt, R. Lüddecke, Maschinenbau, Helmstedt, Helmstedter Kartonagefabrik, Helmstedt, Hubert Frühauf, Bekleidungsfabrik, Helmstedt, Alois Heinze, Bekleidungsfabrik, Schöningen, Roto-Werke GmbH, Zweigwerk Schöningen, Prakma Maschinenfabrik GmbH, Büddenstedt, Wattefabrik Ideal GmbH, Zuckerfabrik Watenstedt AG. 5 Siehe: Landkreis Helmstedt. Verwaltungsbericht 1968 bis 1972, Seite 59. - 39 - Bemühungen um neue Betriebsansiedlungen, die im Dezember 1972 und im Oktober/November 1974 durchgeführte Anzeigenserien einer Werbeagentur über das Industriegebiet Helmstedt und Schöningen, blieben diesmal ohne Resonanz. Infolge der ausgebliebenen Investitionsneigungen im Landkreis Helmstedt konnten konkrete Verhandlungen über Neuansiedlungen aufgrund dieser Anzeigenserie nicht geführt werden. Trotz der ökonomischen Rezession und der oben genannten Firmenzusammenbrüche erreichte die Antragsberatung auf Gewährung von öffentlichen Mitteln aus diversen "Finanztöpfen" im Amt für Wirtschaftsförderung eine Hochkonjunktur: Von 1972 bis 1976 wurden 27 Anträge auf Erteilung einer Bescheinigung nach dem Investitionszulagengesetz bearbeitet, die ein Gesamtinvestitionsvolumen von ca. 42 Millionen umfaßten. Außerdem wurde zu 33 Anträgen der gewerblichen Wirtschaft und kommunaler Behörden auf Befreiung von der Grunderwerbssteuer Stellung genommen und 2 Anträge auf Kapitalisierung der Frachthilfe mit einem Investitionsvolumen von insgesamt ca. 6 Mio. DM befürwortet. Im Rahmen der „Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ erhielten gewerbliche Produktionsbetriebe und das Fremdenverkehrsgewerbe außerdem Zuschüsse in Höhe von 261.700 DM. Weitere Finanzmittel wurden im Herbst 1974 in dem Sonderprogramm zur regionalen und lokalen Abstützung der Beschäftigung bereitgestellt. Im Herbst 1975 wurden im Rahmen des Sonderprogrammes zur Stärkung von Bau- und anderen Investitionen dem Landkreis Helmstedt 14 Vorhaben mit einem Gesamtinvestitionsvolumen in Höhe von 7.028.000,00 DM zur Stellungnahme vorgelegt.6 Entscheidend für die heutige Beurteilung der ökonomischen Entwicklungstendenz war die Branchenstruktur in den 70er und 80er Jahren: Sie war mehrheitlich geprägt von einem hohen Anteil von Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes, die bereits damals zu den relativ schrumpfenden Wirtschaftsbereichen gehörten. Diese Investitions- und Subventionsbeispiele ließen sich beliebig fortsetzen und sie zeigen exemplarisch auf, daß ihr Maßnahmeziel einer ökonomischen Konsolidierung im Landkreis trotz erheblicher Förderpräferenzen und hoch eingesetzter Finanzmittel nicht erreicht werden konnte. Die Finanzierungshilfen konnten noch nicht einmal bewirken, daß die negativen Folgewirkungen von konjunkturellen Rückschlägen abgemildert wurden. Anpassungsstrategien und der Versuch von Potentialzuwächsen für periphere, strukturschwache Räume nahmen aber auch überregional seit 1973/74 erheblich und kontinuierlich ab.7 1980 fanden noch zwei überdurchschnittliche Kapitalanlageninvestitionen im Landkreis Helmstedt statt: Der mit überregionaler Resonanz verfolgte Ausbau des Braunkohlekraftwerkes Buschhaus und die betriebliche Umstrukturierung des Zweigwerkes der Phönix AG in Reinsdorf zu einer reinen Kunststoffteileproduktion.8 Im Erfassungszeitraum von 1981 bis 1986 wurden nach heutigen Maßstäben noch erhebliche öffentliche Finanzierungsbeihilfen an die gewerbliche Wirtschaft im Rahmen der regionalen Wirtschaftsförderung im Landkreis Helmstedt gewährt. Es wurden beispielsweise 17 Anträge von Investitionszulagen von 10% der Investitionskosten mit zusätzlichen Finanzierungsbeihilfen gefördert: "Sie umfaßten ein Investitionsvolumen von 66.764.000,00 DM. Für weitere Erweiterungs- und Rationalisierungsvorhaben wurden sowohl Bescheinigungen nach § 2 des Investitionszulagengesetzes erteilt als auch Zuschüsse in Höhe von 6.108.200,00 DM gewährt. Außerdem wurden 14 Anträge auf Erteilung einer Bescheinigung nach § 2 des 6 7 8 Siehe: Ebenda, Seite 25/26. Siehe: Windelberg, J. Innovationsorientierte Regionalpolitik zur Entwicklung strukturschwacher Peripherräume. In: Informationen zur Raumentwicklung. Heft 1/2. Bonn 1984. Seite 63. Siehe: Lompe,u.a., Regionale Bedeutung und Perspektiven der Automobilindustrie.Düsseldorf 1991. Seite 95. - 40 - Investitionszulagengesetzes bearbeitet, deren Investitionssumme 40.530.340,00 DM betrug. (Zahlenangaben ohne die Stadt Helmstedt)." 9 Parallel dazu verschlechterten sich die ökonomischen Rahmendaten Anfang der 80er Jahre und führten zur 3. Rezession, in deren Verlauf auch das reale Bruttosozialprodukt schrumpfte. Die oben aufgeführten regionalen Wirtschaftsförderungsmaßnahmen waren trotz hoher Förderbeträge nicht in der Lage, durch ein gezieltes antizyklisches Verhalten effektive Gegensteuerungsmaßnahmen einzuleiten, die diese konjunkturelle Talfahrt reduzieren oder auch in Ansätzen aufhalten konnten. Die Bestandspflege ansässiger Unternehmen schlug gerade in dieser Zeitphase weitgehend fehl. „tiefe Narben“ für die Wirtschaftsstruktur des Landkreises hinterließen folgende Konkursverfahren: Die Firmen Siemens-AG, Roto-Werke GmbH, Poroton-Werk GmbH & Co.KG, Klinkerwerk Hintzen und Alois Heinze.10 Nur mit einer äußerst aufwendigen öffentlichen Hilfe konnten die Firmen Amino GmbH und die Norddeutsche Zuckerraffinerie GmbH, die in Frellstedt Zuckerrübenmelasse entzuckern bzw. Flüssigzucker herstellen in ihrem Fortbestand gesichert werden. Durch den Einbau einer Entzuckerungsanlage, die weitgehend automatisiert ist und mit weit weniger Energie betrieben wird, konnte ein Teil der Arbeitsplätze erhalten werden. Erhebliche Investitionen in den Folgejahren schafften die Grundlage, daß sich das Unternehmen, das aus der sogenannten "Restschlempe" mit Hilfe neuer Trenntechnologien Aminosäuren gewinnt, sich wieder allmählich konsolidieren konnte. Rückblickend betrachtet, konnten von dem durchaus kapitalkräftigen Förderungsprogrammen im Erfassungszeitraum 1981 bis 1986 nur zwei Unternehmen bis zur Gegenwart eine ununterbrochene prospirierende Wirtschaftswicklung tätigen: Die Meisterbäckerei Steinecke GmbH & Co. KG in Mariental und das Park-Hotel Königshof in Königslutter. Die Wirtschaftsförderung des Landkreises versuchte, im Erfassungszeitraum von 1986 bis 1991 weiterhin eine Bestandspflege ansässiger Unternehmen zu erreichen. Das in diesem Zeitraum investierte Mittelvolumen für Erweiterungsund Rationalisierungsmaßnahmen betrug für 24 Vorhaben zwecks Zulagen und Zuschüsse in einer Gesamthöhe von 12.779.211,30 DM. 11 Im produzierenden Gewerbe konnten nur Teilbereiche des Konsumgütersektors (Ernährungsgewerbe und Kunststoff/Gummi) insbesondere in den 80er Jahren eine relativ kontinuierliche Aufwärtsentwicklung vollziehen. Die pragmatische Ausrichtung der Wirtschaftsförderung im Landkreis Helmstedt auf die Ansiedlung von Unternehmen im unteren Arbeitnehmerqualifikationsreservoir (bei einem Verzicht auf finanzielle Anreize in technologieorientierten Bereichen) förderte diese Entwicklung maßgeblich. In einem nicht zu unterschätzenden Ausmaß wirkte sich das überdurchschnittliche Lohn- und Gehaltsniveau der BKB AG und der VW AG ebenfalls negativ auf die gesamten Neuansiedlungsinitiativen der Wirtschaftsförderung aus. Es ist zu vermuten, daß die BKB AG und die VW AG ihrerseits in der Vergangenheit eine offensichtlich starke Tendenz zur monostrukturellen Ausrichtung des Landkreises indirekt förderten, um ihre arbeitsmarktpolitische Monopolstellung zu erhalten. Die Gewerbefläche, die direkt vom Landkreis Helmstedt aufgekauft wurde und erfolgreich vermarktet werden sollte, kann aufgrund hinreichend bekannter Gründe in absehbarer Zeit nur teilweise bebaut werden. 9 10 11 Landkreis Helmstedt. Verwaltungsbericht 1981-1986. Seite 153. Siehe: Landkreis Helmstedt. Verwaltungsbericht 1981-1986. Seite 152/153. Siehe: Landkreis Helmstedt. Verwaltungsbericht 1986-1991. Seite 167. - 41 - Die 1989 erworbene Fläche von 52.000 Quadratmetern für 800.000 DM bei Lehre-Wendhausen, unmittelbar neben der Autobahn A2, ist altlastgeschädigt.12 Es soll in diesem Zusammenhang nur auf die Bündelung von Verwaltungsfachkräften auf anhängige Verfahren und dem wirtschaftlichen und politischen Flurschaden hingewiesen werden, mit dem sich der Landkreis Helmstedt diesbezüglich weiter auseinandersetzen muß. Allein die Sanierung der Fläche sollte nach einem ersten Sachverständigengutachten rund vier Millionen Mark, nach einem zweiten Gutachten aber "nur" noch Kosten zwischen 400.000 und 1,7 Millionen Mark verursachen. 13 3.1.2.1 Bewertung und Konsequenzen bisheriger Wirtschaftsförderung Neben der wirtschaftlichen Wiederaufbauphase in den alten Bundesländern hat sich parallel eine Verfestigung des Standortsystems an Arbeitsstätten herausgebildet, die rückblickend betrachtet, in der Gesamtbilanz für den Landkreis Helmstedt äußerst negativ verlief. Diese herauskristallisierte Standortsstruktur läßt sich im nachhinein nur äußerst aufwendig korrigieren und nur allmählich durch Gewichtsverschiebung zu wettbewerbsfähigen Branchen verändern. Die kommunale Wirtschaftsförderung auf Landkreisebene ist nur begrenzt wirksam gewesen und verlor zunehmend an Effektivität. Die hohe Förderrate konnte keine entsprechend günstige Entwicklung bewirken und der tendenzielle Arbeitsplatzrückgang konnte nicht aufgehalten werden. Rekapituliert man die in der Vergangenheit stattgefundene Wirtschaftsentwicklung, stellt man außerdem fest, daß die Abhängigkeit des Landkreises von nur zwei "Monopolunternehmen", der BKB AG und der außerhalb der Kreisgrenze in Wolfsburg ansässigen VW AG, statt kleiner zu werden, noch gewachsen ist. Als die Signalfertigungsanlagen aus dem Helmstedter Zweigwerk der Siemens AG nach Braunschweig (ebenfalls Signalfertigungsanlagenbau) ausgelagert wurden, ist ein "Standorthoffnungsträger" aus dem Landkreis gegangen. Dieses Beispiel verdeutlicht zugleich wie eine "verlängerte Werkbank" praxisbezogen funktioniert. Dieser Verlust ist insofern von hoher Tragweite, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Produktion von Leit- und Sicherungstechnik der Siemens AG im Zweigwerk Braunschweig stark prosperiert und sogar zweistellige Zuwachsraten verzeichnet. Der Standort Braunschweig ist im Siemens-Konzernbereich Verkehrstechnik (zu dem noch die Standorte Berlin und Erlangen - leider nicht mehr Helmstedt - gehören) weltweit für die gesamte Leit- und Sicherungstechnik des schienengebundenen Verkehrs zuständig und mit Abstand größter Hersteller in der Welt.14 Die dem Landkreis zufließenden Mittel für Wirtschaftsförderung sind in der Regel nach dem „Gießkannenprinzip“ verteilt worden. Nach Ablaufen der Förderprogramme hat häufig auch eine Verlagerung der Produktionsstätten in andere Regionen stattgefunden. Da ein zu attestierendes Defizit an Wirtschaftsförderungskonzepten vorlag, hat der seit Anfang der 80er Jahre eingesetzte technologische Strukturwandel die Unterschiede zu den Verdich-tungsräumen, aber im besonderen auch zu anderen Landkreisen, eher noch vergrößert als vermindert. Diese spezifische Standortproblematik beschreibt H. Legler, als Verfasser der "Entwicklungsperspektiven des Wirtschaftsraums Helmstedt", treffend mit folgender Formulierung: „In den meisten Fällen war Helmstedt ein Standort für Zugvögel. Man nahm die Unternehmen, die kamen, 12 13 14 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 04.08.1992. Siehe: Ebenda, 04.08.1992. Siehe: Braunschweiger Zeitung v. 17.09.1993. - 42 - man konnte nicht wählerisch sein und war froh, wenn jemand kam. Eine wesentlich andere Perspektive hat die Region auch heute nicht.“15 Auch die Dominanz des Mittelzentrums Wolfsburg als Automobilstandort von internationaler Bedeutung beeinträchtigte die hiesige wirtschaftliche Entwicklung um Ansiedlungs-bemühungen aufgrund des überdurchschnittlich hohen Haustarifvertrages der VW AG. Nach großzügiger Bewilligung von Investitionszuschüssen, zum Beispiel aus Mitteln der Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur (GA), die rückblickend zu keiner wesentlichen Verbesserung der Wirtschaftsstruktur des Landkreises geführt haben, wäre man durchaus besser beraten gewesen, wenn aus dem gleichen „Fördertopf“ Finanzmittel verstärkt zur "Schaffung hochwertiger Arbeitsplätze" und zur „Schaffung zusätzlicher Dauerarbeitsplätze“ zielorientiert eingesetzt worden wären. Die intensiven Förderprogramme konnten die Standortschwächen durch den beabsichtigten Ausgleich von Nachteilen langfristig gesehen in keiner Weise ausgleichen. Die Wirkung der bisher entwickelten und eingesetzten Instrumente der kommunalen (aber auch regionalen) Wirtschaftsförderungsstrategien haben systematisch nachgelassen und ihre Erfolge sind entsprechend begrenzt gewesen. Eine der Ursachen heutiger Firmenzusammenbrüche ist rückwirkend betrachtet die einseitige Orientierung auf den „Niedriglohnsstandort Landkreis Helmstedt“ (in Dauerarbeitsverträgen mit 12 % unterhalb der Bundesdurchschnitts) als ehemaliger wesentlicher Standortvorteil des Landkreises im Wettbewerb mit anderen Landkreisen und Regionen. Aus dieser verfehlten (pragmatischen) Ansiedlungspolitik der Vergangenheit resultieren heutige Probleme für die Zukunft, weil eine funktionale Umstrukturierungsstrategie aus dem bestehenden Unternehmensbestand heraus beim nicht Vorhandensein technologieintensiver Sektoren und aufgrund veralteter Produktionstechnologien äußerst problematisch erscheint. Den Wirtschaftstheoretikern, welche primär von den "Selbstheilungskräften des Marktes" ausgehen, kann in diesem Zusammenhang geantwortet werden, daß sich rückblickend der Markt entschieden hat; in der Regel allerdings für benachbarte Landkreise und Regionen. Angesichts der sich auch weiterhin abzeichnenden ökonomischen Veränderungen in der Wirtschaftsstruktur und der anhaltenden konjunkturelle Situation, wird es für das Mittelzentrum Helmstedt und den gesamten Landkreis erheblich schwerer, dringend benötigte Neuansiedlungen zu fördern und gegebenenfalls Erweiterungsmaßnahmen bestehender Unternehmen finanziell zu unterstützen. Der historische Rückblick über die prinzipiell nicht zufriedenstellend verlaufene Wirtschaftsentwicklung zeigt in seiner Konsequenz, auch unter Berücksichtigung heutiger Spar-maßnahmen, auf, daß „mit dem Ende selbstverständlich erscheinender Wachstumsraten und dem Auftreten verstärkter Probleme wirtschaftlichen Strukturwandels auch bisher praktizierte Förderungsstrategien kritischer zu betrachten sind. Ansiedlungsbemühungen, Gewährung finanzieller Anreize und Infrastrukturausbau lösen keinesfalls mit der erhofften Automatik die Probleme ländlicher, aber auch im Strukturwandel befindlicher altindustrialisierter Gebiete.“ 16 3.1.2.2 Zukünftige Förderprioritäten 15 Siehe: Legler, H. u.a. Landkreis Helmstedt: Wirtschaftsstruktur und Perspektiven bis 2005, Nieders. Institut Wirtschaftsforschung e.V. Hannover 1993. Seiten 74/75. 16 Ertel, R. Entwicklungslinien in der Diskussion zur regionalen Wirtschaftsförderung. In: Tätigkeitsbericht Niedersächsisches Institut für Wirtschaftsforschung, e. V. Hannover 1985. Seite 13. für - 43 - Der ab 1992 drastische Einschnitt bei der Förderung der regionalen Infrastruktur, der eine Mittelkürzung im Bereich der Gemeinschaftsaufgabe zur Folge hat, wurde vom niedersächsischen Wirtschaftsminister kritisiert. 17 Im August 1993 wurde der Landkreis Helmstedt von der Bezirksregierung und dem Ministerium für Wirtschaft, Technologie und Verkehr in Kenntnis gesetzt, daß ab 01. Januar 1994 die Stadt Helmstedt, die Samtgemeinden Heeseberg und Nord-Elm, aus der Förderung der Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur herausfallen. Dies bedeutet, daß die Stadt Helmstedt und die beiden aufgeführten Samtgemeinden ihren Status als Schwerpunktorte für Investitionskostenzuschüsse verlieren. Der Planungsausschuß für regionale Wirtschaftsstruktur, dem sowohl der Bund als auch die Länder angehören, hatte auf Verlangen der EG-Kommision eine Reduzierung des Fördergebietes zu Ungunsten des Landkreises vorgenommen. Der Wegfall der Möglichkeit bis zu 18% bei Neuinvestitionen gefördert zu bekommen, hatte unter anderem zur Folge, daß zwischen dem Landkreis Helmstedt und den angrenzenden Gebieten in Sachsen-Anhalt ein hohes Fördergefälle entstand. In Folge der deutschen Vereinigung gibt es die bisherige Fördersonderleistungen für den Landkreis Helmstedt im niedersächsischen Grenzland als ehemaliges Zonenrandgebiet nicht mehr. Förderpolitisch ergibt sich daraus die Konsequenz, daß diese speziellen Grenzlandhilfen im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe keine Grundlage mehr haben. Damit fällt der Landkreis Helmstedt aus der bisherigen Sondergebietsfördergebietskulisse heraus. Lediglich die Stadt Schöningen und die Gemeinde Büddenstedt können aufgrund ihrer besonderen Verflechtungen mit dem Braunkohletagebau der BKB AG auch weiterhin finanzielle Mittel aus dieser „Gemeinschaftsaufgabe“ erhalten. Die „Förderungskulisse“ verschob sich somit gravierend: Hatte rückblickend der Landkreis Helmstedt innerhalb Niedersachsens zeitweise mit die höchste Förderpräferenz, so verlagerte sie sich heute jenseits der Landesgrenze nach Sachsen-Anhalt, mit dem langfristigen Ziel gleichwertige Lebensbedingungen im neuen Bundesland herzustellen. In Anbetracht der umstrittenen europäischen Strukturfonds und ihrer regionalen Bedeutung erscheint es angemessen, im folgenden die im Brüsseler Fachjargon als „Ziel-1-Gebiete“ bezeichneten Problemregionen kurz zu definieren: Diese Regionen erwirtschaften in der EG ein Bruttoinlandprodukt pro Kopf, das 75% des EG-Durchschnitts nicht übersteigt. Die neuen Bundesländer sind aus dieser Perspektive betrachtet der mit Abstand ärmste Teil der Gemeinschaft: Ostdeutschland erreicht lediglich 40% des Mittelwertes, selbst das EG-“Armenhaus“ Irland kommt auf rund 60%. Interpretiert man diese Zahlenwerte mit der Feststellung, daß der deutsche Osten mit Andalusien oder Kalabrien gleichzustellen ist, verdeutlicht dies zugleich, daß die Bundesrepublik Deutschland vom einstigen Nettozahler der EG zum Hilfsempfänger degradiert wurde: Drei Viertel der Fördermittel, die für Ziel - 1 - Gebiete in Frage kommen, waren bereits vorab den vier ärmsten EGMitgliedsstaaten Irland, Portugal, Spanien und Griechenland zugesprochen worden. Gerungen wurden um den Restbetrag von insgesamt 68 Milliarden Mark, der bis 1999 zu vergeben ist: Auf ihn fixiert sich nicht nur die deutsche Delegation (für die neuen Bundesländer), sondern auch Großbritannien (für Nordirland), Italien (für das Mezzogirno) und Frankreich (für seine ÜberseeDepartments). Fachleute bezweifeln im übrigen die Wirkung dieser Subventionspolitik und verweisen diesbezüglich auf Erfahrungswerte aus Irland: Finanzmittel aus dem EFRE-Topf (Europäischer Fonds für regionale Entwicklung) flossen etwa in Straßenbauprojekte, von dem vor allem die städtische Verdichtungsregion Dublin profitierte. Deshalb ist es nicht auszuschließen, daß in den sachsen-anhaltinischen Landkreisen der DEUREGIO Ostfalen identische Entwicklungen ablaufen, in der das dominierende Oberzentrum Magdeburg von der Ziel-1-Förderung hauptsächlich profitieren könnte. 17 Siehe: Hannoversche Allgemeine Zeitung v. 23.11.1992. - 44 - Die Strukturschwächen im Landkreis Helmstedt werden auch weiterhin erhebliche Anstrengungen zu ihrer Überwindung und zur Ausschöpfung zukünftiger Entwicklungsmöglichkeiten im Rahmen des Zusammenwachsens erfordern. Die Einflüsse des EU-Binnenmarktes und die daraus resultierende Konsequenz der Schwerpunktsetzung im Strukturaufbau in den neuen Bundesländern verändern und erschweren die notwendigen Anpassungsprozesse für den Landkreis Helmstedt zusätzlich. Aus diesen Gründen ist zu erwarten, daß das bestehende Fördergefälle sowohl zu einer zusätzlichen Erschwerung von dringend benötigten Neuansiedlungen von Unternehmen führen wird, als auch die Tendenz zu Abwanderungserwägungen etablierter Unternehmen im Landkreis ins Nachbarbundesland Sachsen-Anhalt verstärken kann. Mit Entschiedenheit soll aber auch darauf hingewiesen werden, daß trotz des Fördergefälles diesseits der Landesgrenze zukunftsorientierte Impulse durch die neuen Aktivitäten der DEUREGIO Ostfalen entstehen können, die sich längerfristig aus dem gemeinsamen europäischen Binnenmarkt gerade für die zentral gelegenen ehemaligen Grenzräume zwischen den Agglomerationen Braunschweig, Wolfsburg und Magdeburg positiv einstellen können. Auf diese neuen Entwicklungschancen sollten sich zukünftige Aktivitäten der Wirtschaftsförderung konzentrieren, die es in der neuen landesgrenzenübergreifenden Region im beiderseitigen Interesse regional voll zu nutzen gilt. 3.1.3 Entwicklungsverlauf der Arbeitsstätten und der Industriedichte Mit dem Stichtag 25. Mai 1987 fand im bundesweit eine Arbeitsstättenzählung statt. Nach den Erhebungen der Jahre 1950, 1961 und 1970 war dies die vierte „totale Erfassung“ aller nichtlandwirtschaftlichen Arbeitsstätten nach dem 2. Weltkrieg. Wiederum wurde die Arbeitsstättenzählung zusammen mit einer Volks-, Berufs-, Wohnungs- und Gebäudezählung durchgeführt, sie war also Bestandteil der „Volkszählung“ von 1987. Arbeitsstättenzählungen geben als Bestandsaufnahme einen Gesamtüberblick über den nichtlandwirtschaftlichen Bereich der gewerblichen Wirtschaft sowie über die Organisationen ohne Erwerbszweck, Gebietskörperschaften und Sozialversicherungen. Die Arbeitsstättenzählung 1987 läßt einen nahezu uneingeschränkten Vergleich mit den Ergebnissen der vorherigen Erhebung von 1970 zu. Abgesehen von den starken Strukturveränderungen und der dazwischen liegenden Gebiets- und Verwaltungsreform, die einen langfristigen Vergleich über einen Zeitraum von 17 Jahren immer einschränken, gab es keine wesentlichen methodischen, wirtschaftsystematischen oder regionalen Beeinträchtigungen. Diese detaillierte Datenanalyse gibt die wirtschaftsstrukturelle Spezialisierung vor Ort wieder und eignet sich ebenfalls zur Darstellung eines langfristigen Entwicklungsprozesses und daraus resultierender Strukturveränderungen seit Anfang der 70er Jahre. Insgesamt läßt sich im Beobachtungszeitraum 1970/1987 (siehe Tabelle III. 4.1.3) ein langfristiger Schrumpfungsprozeß der Arbeitsstätten (mit der Folge der bereits angesprochenen negativen Beschäftigtenentwicklung) erkennen: Stadt Helmstedt: Stadt Königslutter: Stadt Schöningen: Samtgemeinde Grasleben: Samtgemeinde Heeseberg: Samtgemeinde Nord-Elm: Samtgemeinde Velpke: Gemeinde Büddenstedt Gemeinde Lehre: 18 minus minus minus minus minus minus minus minus minus 22,7 Prozent 22,2 Prozent 31,7 Prozent 39,5 Prozent 47,1 Prozent 30,4 Prozent 16,4 Prozent 36,2 Prozent 23,8 Prozent Siehe: Niedersächsisches Landesamt für Statistik. Hannover 1989. 18 - 45 - Eine differenzierte Auflistung der Arbeitsstättenentwicklung ist aus der Tabelle III 2.4 ersichtlich. Um die Positionen und Positionsveränderungen des Landkreises Helmstedt in Relation zu vergleichbaren Landkreisen zu bestimmen, werden im folgenden die Landkreise Gifhorn, Wolfenbüttel und Peine soweit als möglich zum Datenvergleich herangezogen. Soweit der Aussagewert von Bedeutung ist, werden zur Positionsbestimmung weitergehende regionale, auch überregionale Vergleiche zu den übrigen Verdichtungsräumen des Bundesgebietes und der Bundesrepublik insgesamt (alte Länder) als Vergleichswerte herangezogen. Neben der Beschäftigungsentwicklung definiert der Begriff „Industriedichte“ das Verhältnis der industriellen Arbeitsplätze zur Bevölkerungszahl. Das heißt, er gibt die Zahl der Beschäftigten je 1.000 Einwohner an. Dadurch werden Gebietseinheiten mit unterschiedlicher Bevölkerungszahl im Hinblick auf ihre Ausstattung mit industriellen Arbeitsplätzen miteinander vergleichbar. Es läßt sich in Folge dessen erkennen, ob eine Gebietseinheit stärker oder schwächer industrialisiert ist als eine vergleichbar andere. Auch unter Berücksichtigung des Bemessungszeitraumes bis 1992 hielt die negative Entwicklungstendenz an. Es häuften sich die Arbeitsplatzverluste vom 30.06.1980 bis zum 30.06.1992 im Bergbau und verarbeitenden Gewerbe des Landkreises Helmstedt auf minus 17,1 Prozent an. Als Vergleichswert gehörten die Landkreise Peine (minus 19,8 Prozent) und Goslar (minus 15,6 Prozent) mit ebenfalls überdurchschnittlichen Arbeitsplatzverlusten (Niedersachsen insgesamt minus 5,4 Prozent) dazu.19 Die Industriedichte sank im identischen Zeitraum im Landkreis Helmstedt um minus 18,7 Prozent. Vergleichswerte: Landkreis Peine minus 22,5, Goslar minus 10,7 Prozent, Wolfenbüttel minus 4,2 Prozent zu Niedersachsen insgesamt mit minus 8,9 Prozent.20 Insgesamt läßt sich im Beobachtungszeitraum von 1970 bis 1992 feststellen, daß ein tendenzieller Schrumpfungsprozeß vor allem im Zuge der Rezessionsphase 1974/75 und deren Nachwirkungen mit einem bis dahin in der Nachkriegsentwicklung noch nicht stattgefundenen Abbau von Arbeitsplätzen in der gesamten Bundesrepublik Deutschland stattfand. Der Beschäftigtenrückgang im Landkreis Helmstedt ist nicht nur auf die Randlage zur früheren innerdeutschen Grenze zurückzuführen. Selbst Landkreise in unmittelbarer Randlage zur früheren innerdeutschen Grenze konnten im Beobachtungszeitraum von 1980 bis 1992 (Grenzöffnung September 1989) in Niedersachsen Arbeitsplatzgewinne verbuchen. Dazu zählten die Landkreise LüchowDannenberg (plus 22,8 Prozent), Uelzen (plus 1,4 Prozent) und Gifhorn (plus 5,5 Prozent. Negative Veränderungsraten bis Ende 1989 verbuchten die Landkreise Helmstedt (minus 17,1 Prozent) und Goslar (minus 15,6 Prozent).21 Es kristallisiert sich heraus, daß die ökonomische Entwicklung des Landkreises Helmstedt, insbesondere von 1980 bis 1992, nur bedingt auf die extreme Randlage in der Bundesrepublik und der Europäischen Union bis September 1989 zurückzuführen ist. 3.1.4 Entwicklungsverlauf der Bruttowertschöpfung „Die Bruttowertschöpfung22 gilt auf kleinräumiger Ebene als einzig verfügbarer Indikator für die wirtschaftliche Leistungskraft. Es kann aus statistischen Gründen eine Berechnung der Kreisergebnisse nicht direkt erfolgen, sondern muß mit Hilfe von Schlüsselverfahren vorgenommen werden. Dabei stellen Landkreise zugleich die unterste Ebene der räumlichen Gliederung dar. Insgesamt muß neben dieser Schlüsselung für die Interpretation der Daten vor allem berücksichtigt werden, daß damit nicht die realen Steigerungswerte der BWS angegeben werden, sondern nur die 19 Siehe: Statistische Monatshefte Niedersachsen. Niedersächsisches Landesamt für Statistik. Hannover 1993 235. 20 Siehe: Ebenda, Seite 235. 21 Siehe: Statistische Monatshefte Niedersachsen, Niedersächsisches Landesamt für Statistik. Hannover 1993 239. 22 Anmerkung: Bruttowertschöpfung im folgenden BWS genannt. Seite Seite - 46 - unbereinigten Ergebnisse zu jeweiligen Marktpreisen vorliegen. Für einen Vergleich unter diesen Bedingungen ist der Indikator jedoch dazu geeignet, anhand von Veränderungsraten die Wachstumsunterschiede zwischen den Regionen, wie auch innerhalb der Regionen zu verdeutlichen.“23 Die Entwicklungstendenzen der BWS sind nicht nur primäre Indikatoren der zusammenfassenden wirtschaftlichen Leistungskraft einer Region, sondern reflektieren ebenfalls das regionale Arbeitsplatzangebot, das auch für die Beurteilung der jeweiligen regionalen Erwerbschancen oder auch Erwerbsrisiken mit entscheidend ist.24 Für die Untersuchungseinheit Landkreis Helmstedt und den übrigen Untersuchungsraum liegen regionalisierte Daten erst ab 1970 vor. Wie aus der Tabelle III. 3 ersichtlich, konnte in der ersten Hälfte der 70er Jahre der Landkreis Helmstedt im BWS-Anteil aufgrund des Ausbaues der Braunkohleförderung der BKB sogar ein überdurchschnittliches Wachstum von 72,5 Prozent (Bundesdurchschnitt 66,9 Prozent) erreichen. Im Zeitraum von 1976 bis 1980 ist trotz überdurchschnittlicher Wachstumsraten im produzierenden Bereich besonders in den Landkreisen Helmstedt (minus 8,6 Prozent) und Peine (minus 3,1 Prozent) eine Stagnation eingetreten. Der Bundestrend von +13,9 Prozent wurde in Wolfsburg aufgrund der prosperierenden Automobilindustrie deutlich mit +46,2 Prozent übertroffen. Von dieser Entwicklung konnte ebenfalls der Landkreis Gifhorn mit +19,6 Prozent profitieren. Die Entwicklungstendenz wäre unproblematisch, wenn das schrumpfende produzierende- und verarbeitende Gewerbe vom Wachstum im Dienstleistungsbereich zumindest hätte ausgeglichen werden können. Die Veränderungen für den Zeitraum von 1980 bis 1986 zeigen folgende Entwicklungstendenzen der BWS insgesamt pro Einwohner auf: Der Abstand im Landkreis Helmstedt reduzierte sich von 73 % (Südostniedersachsen 98 Prozent) auf 67 % (Südostniedersachsen 102 %).25 Von erheblichen Aussagewert sind die Veränderungen der BWS zu Marktpreisen von 1980 bis 1988 (siehe Tabelle III. 3.1), insgesamt in Prozent: Der Landkreis Helmstedt verzeichnete danach im Raumvergleich die geringste Steigerungsrate von nur 19,0 %, während die Landkreise Gifhorn 40,2 %, Wolfenbüttel 34,5 %, Peine 23,5 %, die Städte Wolfsburg 62,5 %, Braunschweig 36,0 %, Niedersachsen insgesamt 39,4 % und die alten Bundesländer insgesamt 43,8 % aufweisen.26 Die innerregionalen Entwicklungsabweichungen mit Wachstumsverlusten, insbesondere in den Landkreisen Helmstedt und Peine (im Landkreis Peine spiegelt sich hauptsächlich die Umstrukturierung in der Stahlindustrie zu lasten des Standortes Peine wider), zeigen außerdem die starke Konzentration auf die strukturbestimmenden Wirtschaftszentren Wolfsburg und Braunschweig auf. Von 1980 bis 1988 verläuft das Wachstum des BWS in Südostniedersachsen zum Bundesentwicklungstrend unterdurchschnittlich. Wachstumszentren bleiben die kreisfreien Städte Braunschweig und Wolfsburg. Die Landkreise liegen fast alle deutlich unter dem Bundesdurchschnitt, wobei speziell Helmstedt von 73 Prozent (1980) auf 67 Prozent (1986) überdurchschnittliche Verluste hinnehmen mußte. Die „bereinigte“ BWS zu Marktpreisen auf je 1000 Einwohner, ebenfalls von 1980 bis 1988, (siehe Tabelle III. 3.1.2), ergeben folgende Zahlenwerte in Prozent: Hierbei liegt der Landkreis Helmstedt im identischen Raumvergleich mit 62% erheblich günstiger. Selbst der Landkreis Gifhorn ist aufgrund der niedrigeren Einwohnerdichte insbesondere des Nordkreises mit 54% unter diesem Zahlenwert, während die Landkreise Wolfenbüttel 54% und Peine 61% und die Städte Wolfsburg 23 Lompe, K., u.a. Regionale Bedeutung und Perspektiven der Automobilindustrie, Düsseldorf 1991. Seiten 42/43. 24 Siehe: Die Entwicklung in den Regionen des Bundesgebietes. In: Die Städte in den 80er Jahren, J. Friedrichs (Hrsg.). Opladen 1985. Seite 214 ff. 25 Siehe: Lompe, K., u.a., Ebenda, Seite 45. 26 Siehe: Niedersächsisches Institut für Wirtschaftsforschung e. V. Hannover 26.04.1993. - 47 - mit dem Spitzenwert von 217%, Braunschweig 113%, Niedersachsen mit 85% und die alten Bundesländer insgesamt 100% aufweisen. Die Spitzenstellung der Städte wird hierbei der Agglomeration zugeschrieben und obwohl sich die Steigerung aus Helmstedter Perspektive mit erfreulichen 62% niederschlägt, bleiben die Abstände zum Land Niedersachsen mit 85% und zum Bund mit bereinigten 100% Prozent jedoch deutlich bestehen.27 Aktualisierte Daten im Zehnjahresvergleich zwischen 1980 und 1990 ermittelte das Niedersächsische Landesamt für Statistik auf Basis der BWS zu Marktpreisen als zentraler Indikator für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Landkreises oder Region. Hierbei sind als Ergänzung zu den vorherigen Zeitraumvergleichen die Jahre 1989 und 1990 mit berücksichtigt worden. Danach hat sich die BWS in Südostniedersachsen weiterhin sehr unterschiedlich weiterentwickelt: Am stärksten war das Wachstum im Landkreis Gifhorn (plus 61,2%) und in Salzgitter (plus 60,2%). Es folgen die Städte Wolfsburg (plus 54%), Braunschweig (plus 50%), Landkreis Wolfenbüttel (plus 47%), Landkreis Peine (plus 40,5%), der seinen erwähnten Umstrukturierungsprozeß von der Stahlindustrie zu den Dienstleistungen erfolgreich fortsetzt und der Landkreis Goslar (plus 36%). Regionales Schlußlicht unter Zugrundelegung dieser aktualisierten Daten der letztendlichen Summe aller produzierten Güter und Leitungen (abzüglich der Vorleistungen durch Zulieferungen) ist wiederum der Landkreis Helmstedt, in dem es nur einen Zuwachs von rund 8% gab. Diese Zahlenwerte ergeben einen weiteren Indikator für die Annahme eines innerregionalen Gefälles innerhalb Südostniedersachsens, zwischen dem als "Schlußlicht" aufgeführten Landkreises Helmstedt im Südosten mit 8% und dem Spitzenwert von 61,2% des Landkreises Gifhorn im Norden. Unter Zugrundelegung dieses Zehnjahresvergleiches (1980 bis 1990) der BWS zu Marktpreisen, kann von einem regionalen Gewinner mit erhöhtem Aufwärtstrend (Landkreis Gifhorn) und einem regionalen Verlierer mit deutlichen Abwärtstrend (Landkreis Helmstedt) gesprochen werden Die Garanten des Erfolges basieren im Landkreis Gifhorn auf folgenden Faktoren: Eine zielstrebige Wohnungspolitik unter Ausnutzung auch extensiver Förderungsmöglichkeiten insbesondere in der Stadt Gifhorn, eine günstige infrastrukturelle Anbindung zu den Städten Wolfsburg und Braunschweig, die Erschließung der direkten Verbindungsstraße K114 (Nordtangente) zwischen der Stadt Gifhorn und der VW Wache West, die rechtzeitige und systematische Ausweisung von Gewerbe- und Industrieflächen sowie in Teilbereichen „weiche“ Standortfaktoren, wie Wohnumfeldmaßnahmen, Freizeit- und Erholungsmöglichkeiten. Schwachpunkte in der wirtschaftlichen Entwicklung des Landkreises Gifhorn sind im (bisherigen) Fehlen eines gezielten Wirtschaftsförderungskonzeptes zu konstatieren, das in der Konsequenz dazu führte, daß sich eine überwiegende Orientierung auf die Automobil-zulieferindustrie einstellte und deshalb auch mit einem mittelfristigen Einbrechen dieses Aufwärtstrends zu rechnen ist. Auch die ökonomische Konsolidierung des Landkreises Peine sollte hierbei nicht unberücksichtigt bleiben: Nach einer erfolgreichen Wiederverwertung von Industriebrache in einem zweiten „Unternehmenspark“ mit 25.000 Quadratmeter Gesamtfläche entstand in der Stadt Peine nach dreijähriger Projektphase eine zusätzliche Gewerbefläche, die durch eine umfassende Begrünung aufgewertet wurde. Auf dem Gelände siedelten sich bereits elf Firmen an, deren Spektrum vom Meßgerätehersteller bis hin zur Teutloff-Schule reicht. Die erste ebenfalls erfolgreiche Gewerbefläche wurde bereits 1989 eröffnet. Die zweite Projektphase (Unternehmenspark II) verursachte Kosten von rund 33 Millionen DM, die zur Hälfte die Stadt Peine trug, zur anderen Hälfte aus Mitteln des Landes Niedersachsen und der Europäischen Gemeinschaft finanziert wurde. Der Landkreis Peine liegt im wirtschaftsgeographischen Spannungsfeld zwischen den Oberzentren Hannover und Braunschweig. Die industrielle Wirtschafts- und Arbeitsmarktstruktur ist zurückblickend wesentlich durch die Entwicklung der ehemals dominierenden Eisen- und 27 Siehe: Niedersächsisches Institut für Wirtschaftsforschung e. V. Hannover 26.04.1993. - 48 - Stahlerzeugung bestimmt worden. Der Konjunktureinbruch zu Beginn der 80er Jahre führte zu starken Arbeitsplatzverlusten in diesen strukturprägenden Bereichen. Die Gebietskörperschaften der Region haben in den letzten 10 Jahren versucht, einen wirtschaftlichen Wandel bzw. eine wirtschaftliche Umstrukturierung zu unterstützen. Allerdings können aufgrund des verschiedenartigen Strukturgefüges zwischen den Landkreisen Helmstedt und Peine Vergleichsmerkmale nur äußerst bedingt herangezogen werden. Peine als industrieller Kern eines historisch gewachsenen Verdichtungsgebietes der stagnierenden Eisen- und Stahlindustrie hat mit Helmstedt nur die Wirtschaftsachse BAB - A2 gemeinsam. Aber auch hier besteht für Peine als integrierter Bestandteil der Industrieachse in Südostniedersachsen und der kurzen Entfernungsdistanz zu Hannover eine wesentlich günstigere Ausgangsposition. In absoluten Zahlen der Wertschöpfung in Südostniedersachsen sieht die „Rangfolge“ von 1980 bis 1990 folgendermaßen aus: Es führt die Großstadt Braunschweig mit 10,3 Milliarden DM vor Wolfsburg mit 7,8 Milliarden DM. Am Ende liegen die Landkreise Gifhorn mit 2,6 Milliarden DM, Wolfenbüttel mit 2,3 Milliarden DM und Helmstedt mit 1,9 Milliarden DM. Auf Basis dieses Zehnjahresvergleiches ist überregional festzustellen, daß Südostniedersachsen einen Industrieanteil innerhalb der BWS zu Marktpreisen von insgesamt 20,2% (Großraum Hannover 16,8%), im Dienstleistungsbereich hingegen nur einen Anteil von 14,9% (Großraum Hannover 23,6%) erreicht. Die Tabellenanalysen veranschaulichen aber auch deutlich, daß die gesamte Region Südostniedersachsen schon seit Beginn der 70er bis in die 80er Jahre im Vergleich zum übrigen Bundesgebiet insbesondere Süddeutschland - nur unterdurchschnittliche wirtschaftliche Leistungen zu erbringen vermochte. Das BWS-Gesamtprodukt je Einwohner bleibt im Durchschnitt deutlich unter dem Bundesdurchschnitt. Ursachen der für die ab Mitte der 70er Jahre tendenziell ungünstigere Entwicklung der BWS im Landkreis Helmstedt gegenüber die im Raumvergleich herangezogenen Beispiele sind zum einen die zunehmenden Disparitäten zwischen den Teilräumen, die sich auch innerhalb Südostniedersachsens aufgrund der unterschiedlichen Entwicklungen der Branchenstrukturen herauskristallisierten. Zum anderen leiten sich daraus unterschiedliche Entwicklungstendenzen der Erwerbsstrukturen und der Bevölkerungsentwicklung ab. Die auf den Landkreis Helmstedt bezogenen Auswirkungen auf die ungünstigere Altersstruktur der Bevölkerung und die damit wiederum verbundene relative Entleerung insbesondere des Südkreises, bei gleichzeitigem Wachstum im Norden Südostniedersachsens zugunsten des Landkreises Gifhorn kann deshalb aus der Sichtweise eines räumlichen Erklärungsansatzes als regionales „Südost-Nord-Gefälle“ bezeichnet werden. Ein weiterer entwicklungshemmender Faktor für den Südkreis ist die allmähliche Erschöpfung des großflächigen Braunkohlenabbaues in einer letztendlich weitgehend „ausgeräumten Landschaft“. Die Erschöpfung und mangelnde Konkurrenzfähigkeit von Bodenvorkommen wie dem Braunkohleabbau als Basis der industriellen Entwicklung im Südkreis, bedeutet auch die Gefahr eines weiteren Absinkens der zentralörtlichen Bedeutung des Grundzentrums Stadt Schöningen, der Gemeinde Büddenstedt sowie der Samtgemeinde Heeseberg. Berücksichtigt man die unmittelbaren Auswirkungen der Grenzziehung auf die Wirtschaftsstruktur im Landkreis Helmstedt, so haben sich die veränderten Rahmen-bedingungen vor allem auf den Südkreis, besonders negativ ausgewirkt: Von 1945 bis 1952 lag „der geographische Schwerpunkt der Industrie in der Südhälfte des Landkreises Helmstedt. Von 30 Betrieben mit 49 und mehr Mitarbeitern lagen 25 in der Südhälfte ...“28 Der Landkreis Helmstedt gehört - das deutete sich bereits seit Mitte der 70er Jahre durch einschneidende Veränderungsrate der BWS an - im besonderen Maße mit zu den Verlierern Strukturwandels. Zeitweilige konjunkturelle Wachstumsschübe (primär durch Automobilindustrie und ihre regionale Sogwirkung) konnten diese negative Trendentwicklung teilweise verdecken. 28 Siehe: Mund, K. Der Landkreis Helmstedt als Grenzgebiet 1945 - 1952. Fachbereich für Philosophie und Sozialwissenschaften der TU Braunschweig. Braunschweig 1993. Seite 114. die des die nur - 49 - Die aus Datenvergleichen tendenziell positive Entwicklung im Landkreis Gifhorn resultiert hauptsächlich aus dem Muster regionaler Entwicklungen, wonach die größten Wohn- und Beschäftigungsentwicklungen in den Umlandgemeinden der Zentren zu finden sind. Die gegenüber dem Landkreis Helmstedt günstigeren infrastrukturellen Bedingungen verschafften dem Landkreis Gifhorn diesbezüglich erhebliche Vorteile. Von der ökonomischen Prosperität des VW Stammwerkes in Wolfsburg konnte insbesondere in den 70er und 80er Jahren (sieht man von Rezessionsunterbrechungen ab) der Landkreis Gifhorn hauptsächlich seinen Entwicklungsvorsprung ableiten, der auf den Landkreis Helmstedt bezogen, in seiner vollen Bandbreite nur die zu Wolfsburg peripheren Gemeinden Lehre und Velpke erfaßte. Der negative Entwicklungsverlauf der BWS verdeutlicht für den Landkreis Helmstedt eine Abkopplung von der dynamischen Entwicklung im Bundesgebiet (alte Bundesländer) und in Südostniedersachsen, wobei sich dabei die Monostruktur, die geringe Branchendichte und die Technologiedefizite auswirken. 3.1.5 Wirtschaftsstruktur im Landkreis Helmstedt Die Grundlage der Wirtschaftsstruktur im Landkreis Helmstedt ist die Branchenanalyse auf Basis von Statistiken des Arbeitsamtes Helmstedt. Das tiefgegliederte Datenmaterial des Arbeitsamtes vom „Stichmonat“ März 1993 wird üblicherweise nicht veröffentlicht. Die Tiefe der Gliederung hat bei der Bestimmung der Branchenstruktur gegenüber anderen Veröffentlichungen den Vorteil, daß hierbei alle Betriebe (ab 10 Beschäftigten) jeder Größenordnung berücksichtigt werden. Die „Rohdaten“ des Arbeitsamtes wurden nach Wirtschaftsbereichen innerhalb des primären-, sekundären- und tertiären Sektors, Anzahl der Betriebe und Beschäftigten, nach Ort und Namen gegliedert und übersichtlich systematisiert. Trotz dieser tiefgreifenden Branchenanalyse muß realitätsbezogen darauf hingewiesen werden, daß der Gesamtbeschäftigtenstand sowohl die Beamten und Selbstständigen sowie alle Personengruppen mit geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen, die nicht der Sozialversicherungspflicht unterliegen, nicht erfaßt. Die wirtschaftliche Basis des Landkreises stellt der sekundäre Sektor dar. Insbesondere die in ihrer Bedeutung stark abnehmende BKB stellt den noch größten Anteil der Beschäftigten. Neben dem Braunkohletagebau stellt das Nahrungs- und Genußmittelgewerbe mit zusammen 28 Unternehmen und insgesamt 1.729 Beschäftigten eine weitere wirtschaftliche Basis dar. Ihnen folgt die Industriegüterproduktion mit 23 Unternehmen und insgesamt 1.654 Beschäftigten folgt bereits das Baugewerbe (Bauhaupt- und Ausbaugewerbe) mit 44 Unternehmen und insgesamt 1.418 Beschäftigten. Danach folgen die Verbrauchs-güterproduktion (15 Unternehmen mit 646 Beschäftigten), die Grundstoff- und Güterproduktion (9 Unternehmen mit 515 Beschäftigten) und das verarbeitenden Gewerbe (16 Unternehmen mit 366 Beschäftigten). Im direkten Vergleich der Gesamtbeschäftigtenanzahl des sekundären mit dem tertiären Sektor ab 10 Beschäftigten überwiegt die Sachgüterproduktion mit 9.398 gegenüber 7.821 im Dienstleistungsbereich. „In einer marktwirtschaftlichen Ordnung werden dabei Gewicht und Wachstum der einzelnen Sektoren durch Entscheidungen von Unternehmen und Haushalten bestimmt“.29 Sowohl die Erwerbstätigenzahlen der beiden Volkszählungen von 1970 und 1987 als auch die Zahlen der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten nach Wirtschaftsabteilungen spiegeln wider, daß auch der Landkreis Helmstedt dem allgemeinen Trend einer Tertiarisierung, d. h. dem Strukturwandel vom primären über den sekundären hin zum tertiären Sektor unterliegt, verbunden 29 Willms, M. Strukturpolitik. In: Vahlens Kompendium der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, Band München 1992. Seite 373. 2. - 50 - mit Verlusten in der Land- und Forstwirtschaft, im Bergbau, im produzierenden bzw. verarbeitenden Gewerbe und mit Ausnahme des Handels, mit tendenziellem Zuwachs im gesamten sonstigen Dienstleistungsbereich, der aber in seiner Entwicklungstendenz hinter dem Landes- und Bundestrend aber deutlich zurückliegt, (vgl. Tabellen III. 2.3 und III. 2.3.1). So hat beispielsweise in der dienstleistungsbegünstigten Kreisstadt Helmstedt (Landkreisverwaltung, Stadtverwaltung, Arbeitsamt und Kreiskrankenhaus) zwischen 1970 und 1987 eine Erhöhung des Dienstleistungsbereiches um 11,0 Prozent stattgefunden. Im gleichen Zeitraum jedoch expandierte dieser Bereich im Land Niedersachsen mit 35,6 Prozent und in der gesamten Bundesrepublik (alte Länder) mit 41,8 Prozent.30 Die absoluten Zahlen der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in der Stadt Helmstedt im Dienstleistungsbereich konnte sich auch weiterhin von 1987 (3.494), 1988 (3.513), 1989 (3.583), 1990 (3.729) und 1991 (3.869) nur unwesentlich verändern.31 In absoluten Zahlen zusammengefaßt veränderte sich die Gesamtanzahl aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten auf Landkreisebene im produzierenden Gewerbe zum Vergleich im Dienstleistungsbereich ohne Handel und Verkehr (in Klammern) 1987: 1988: 1989: 1990: 1991: 10.055 9.940 9.950 10.269 11.192 (6.585), (6.634), (6.702), (7.076), (7.447). 32 Es bestätigt sich somit, daß der gesamte Dienstleistungssektor eine relativ geringe Gewichtung in der Gesamtbeschäftigtenstruktur aufweist. Das produzierende Gewerbe stellt in seiner Gesamtheit den Hauptwirtschaftzweig im Landkreis dar. Insbesondere die Sektoren Energie/Bergbau, Maschinen- und Straßenfahrzeugbau, Elektrotechnik, Steine/Erden, Holz/Papier/Druck und auch das Baugewerbe sind im Betrachtungszeitraum von 1980 bis 1989 in ihrer Entwicklung in keiner Weise begünstigt worden und unterlagen einem zumeist stark ausgeprägten Schrumpfungsprozeß. Der Konsumgüter-, Nahrungs- und Genußmittelsektor hingegen konnte im identischen Zeitraum ökonomisch prosperieren und mit positiven Beschäftigungseffekten aufwarten. Aus der Interpretation der Tabellen (III. 2.8 bis III. 2.8.3) können zunächst Betriebsgrößen nach Beschäftigtenanzahl und in einer anschließenden eingehenden Betrachtung daraus die Spezialisierungsstruktur der Landkreiswirtschaft abgeleitet werden. Im produzierenden Gewerbe führt die BKB AG mit 2.422 Beschäftigten (Anfang 1994 nur noch 1.970), zusammen mit ihrem Tochterunternehmen Überland-Zentrale Helmtstedt (ÜZH) mit 313 Beschäftigten die Betriebsgrößenordnung an. Hinter einem Vakuum folgen zwei mittelgroß produzierende Unternehmen: Der Automobilzulieferer Phönix-AG aus dem Ortsteil Reinsdorf der Gemeinde Büddenstedt mit 754 Beschäftigten und die im Nahrungsmittelgewerbe ansässige Meisterbäckerei Steinecke aus dem Ortsteil Mariental der Gemeinde Grasleben mit 614 Beschäftigten. Es folgen in einem deutlichen Abstand zwei Unternehmen mit jeweils knapp über 200 Beschäftigten: Die Polstermöbelfabrik Franz Link und Sohn GmbH aus Helmstedt mit 237 Beschäftigten und die im Genußmittelgewerbe ansässige Zigarren- und Zigarillofabrikation Arnold André aus Königslutter mit ebenfalls 237 Beschäftigten. Die Größenklasse zwischen 100 und 208 Beschäftigten ist durch folgende Landkreisunternehmen besetzt: 30 31 32 Quellen: Statistisches Bundesamt und Niedersächsisches Landesamt für Statistik. Hannover 1992. Quelle: Niedersächsisches Institut für Wirtschaftsforschung e. V. Hannover 1993. Quelle: Niedersächsisches Institut für Wirtschaftsforschung e. V. Hannover 1993. - 51 - Salzbergbau Kali und Salz GmbH, Grasleben, 208 Beschäftigte, Anlagebaufirma Ahrens und Bode, Schöningen, 199 Beschäftige, Gummiwerk Allerthal-Werke AG, Grasleben, 188 Beschäftigte, Zuckernährmittelfirma Amino GmbH, Frellstedt, 181 Beschäftigte, Tiefbaufirma Otto Rohr, Helmstedt, 180 Beschäftigte, Zucker AG, Uelzen-Braunschweig, Königslutter, 153 Beschäftigte, Textilfabrik Solida aus Helmstedt, 135 Beschäftigte, und die Saatzuchtfirma Strube, Heeseberg, Ortsteil Söllingen mit 120 Beschäftigten. Die Spezialisierungsstruktur der Wirtschaft im Landkreis ist primär geprägt vom Tagebergbau/Energie, Ernährungs- Kunststoff- und Textilindustrie, dem Baugewerbe und zugeordneten Bereichen wie Steine/Erden, dem öffentlichen Dienst, Sozial- und Gesundheits-sektor und den persönlichen Dienstleistungsbereichen. Bei der Kurzinterpretation ist diesbezüglich hervorzuheben, daß eine relativ hohe Ausrichtung auf rohstoffintensive Produktionsweisen, ein insgesamtes Defizit an überregionaler Verflechtung (Ausnahmen beispielsweise Phönix-AG, Meisterbäckerei Steinecke, Weber und Seeländer und Kali und Salz), wachstumsschwächere Branchen mit zum Teil Technologiedefiziten und wenig Knowhow und in der Regel mit ungünstigen Wettbewerbspositionen anzutreffen sind. In Gesamtüberblick ist hierbei besonders auffällig, daß der technologieorientierte Sektor wie beispielsweise Elektrotechnik und Maschinenbau nur äußerst schwach vertreten ist. Im Wirtschaftssektor der Investitionsgüterproduktion befinden sich in dem Wirtschaftszweig Maschinen- und Anlagebau anzahlmäßig geringe, in ihrer spezifischen Bedeutung aber einige kleine Unternehmensgrößen, die teilweise erfolgreich operieren, zum Teil überregional verflochten sind, sowie größtenteils über innovative Elemente verfügen und sich im Markt bisher erfolgreich behaupten konnten und durchaus ausbaufähig sind. Dazu zählen im einzelnen das erwähnte Unternehmen Ahrens und Bode aus Schöningen (Anlagenbau für Transportfahrzeuge und der Reinigungstechnik), sowie die Unternehmen Weber aus Velpke (spezialisiert in der Steuerungstechnik für Aufzugsbau und sonstige Steuerungskomponenten) mit 59 Beschäftigten, Peter Zeilfelder Pumpenfabrik GmbH aus Helmstedt (Pumpen- und Maschinenfabrik) mit 23 Beschäftigten, Till GmbH und Co. KG aus Helmstedt (Hydraulik- und Steuerungskomponeten) mit 96 Beschäftigten und Weber und Seeländer (Seifenmaschinenanlagenbau) aus Helmstedt mit 95 Beschäftigten. Das Ingenieurbüro Spitzer GmbH aus Schöningen mit 30 Mitarbeitern (Steuerungstechnik) und die Hensel Datentechnik GmbH aus Helmstedt sind zwei weitere innovationsorientierte Unternehmen im Landkreis. Diese in der Tendenz technologieorientierten Unternehmen sind in ihrer Gesamtheit aber zu gering, überdurchschnittlich klein und es liegen fast keine Kooperationen in Richtung Forschungsaktivitäten vor. Der Wirtschaftssektor „Nahrungs- und Genußmittelgewerbe“ stellt im Vergleich zu anderen unmittelbar angrenzenden Landkreisen hier eine ausgeprägtere Verdichtung dar. Dazu zählen im einzelnen neben den erwähnten Unternehmen Arnold André, Meisterbäckerei Steinecke, Zucker AG Uelzen-Braunschweig, Amino GmbH und Strube (Wirtschaftssektor allgemeine Landwirtschaft), ab 50 Beschäftigten die Unternehmen Dieter Bruns aus Frellstedt (Bäckerei) mit 52 Beschäftigten, Hermann Danehl GmbH und Co. KG aus Süpplingen (Schlachterei und Fleischverarbeitung) mit 57 Beschäftigten und die Norddeutsche Zuckerfabrik GmbH aus Frellstedt mit 55 Beschäftigten. Gewicht und Wachstum der einzelnen Wirtschaftssektoren sind primär unter Zugrundelegung der ausgearbeiteten Tabellen in der Gesamtbeurteilung von Indikatoren geprägt, in der die Unternehmensdichte und die Gesamtbeschäftigtenanzahl insgesamt als zu niedrig einzustufen sind. Die Ziffer 7 der Tabelle III. 2.3.2 verdeutlicht die Entwicklungstendenz im sekundären Sektor von 1985 bis 1989 und ermöglicht Rückschlüsse auf die Dynamik der Sachgüterproduktion. Hierbei - 52 - schneidet der Landkreis im Vergleichsraumbezug mit -0,2 Prozent am ungünstigsten ab. Der Landesdurchschnitt in Niedersachsen beträgt hierbei +3,9 Prozent und aufgrund der zunehmenden Tertiarisierungstendenz kommen die alten Bundesländer insgesamt auf einen Durchschnitt von +2,9 Prozent. Bevor aber die Strukturschwächen und deren erforderliche Anpassungsprozesse näher definiert werden, sollte relativierend darauf hingewiesen werden, daß im Bundesland Niedersachsen und insbesondere in peripheren Gebieten im Vergleich zu den meisten alten Bundesländern traditionell wirtschaftliche Gegebenheiten bestehen, die nahezu von identischen Ausgangsbedingungen geprägt sind. „Dazu gehört das traditionell hohe Gewicht der Land- und Forstwirtschaft, sowie der Fischerei einschließlich der ihr nachgeordneten Nahrungsmittelindustrie, die relativ starke Präsenz von Wirtschaftszweigen, die zu den Verlierern im Strukturwandel zählen, die hohe Konjunkturempfindlichkeit der Wirtschaft, die niedrige Arbeits- und Kapitalproduktivität sowie die geringere Forschungs- und Entwicklungsintensität in der Industrie , die unzureichende Investitionstätigkeit der Unternehmen bis weit in die 80er Jahre hinein und die schwache Finanzkraft der öffentlichen Hände (Land und Kommunen).“ 33 Obwohl diese Strukturschwächen in Niedersachsen in den letzten Jahren reduziert werden konnten, sind sie nicht überwunden und global gesehen sind diese aufgelisteten Negativindikatoren außerhalb von Verdichtungszentren sowohl vielerorts in ganz Niedersachsen als auch im Landkreis Helmstedt vorhanden. 3.1.5.1 Sachgüterproduktion und Dienstleistungsbereiche im Detail Im folgenden soll auf Basis der analysierten Informationshintergründe, eine Vertiefung und Bewertung erfolgen, in der Abweichungen und Besonderheiten des wirtschaftlichen Entwicklungsprozesses im Landkreis aufgelistet und aktuelle Problemfelder skizziert werden können. Das bundesrepublikanische Wirtschaftsgefüge ist unter zunehmenden Preiswettbewerb geraten. Die politische Öffnung Ost- und Südeuropas beschleunigt diesen radikalen Prozeß der Produktionsverlagerung nicht mehr konkurrenzfähiger heimischer Produkte. Dies geschieht auch im Landkreis Helmstedt, wo das Zerbrechen alter Produktionsstrukturen durch die momentane Rezession beschleunigt wird, die das dünne Fundament der regionalen wirtschaftlichen Entwicklung weiter auseinanderbrechen läßt. Zu den Verlierern dieses rasanten Strukturwandels zählen in erster Linie Hersteller einfacher Konsum- und Investitionsgüter: Die seit 1989 in Helmstedt ansässige Firma Reika-Technik GmbH z. B. produzierte als Subunternehmen (Zulieferer für die Zulieferindustrie) für die Kabelmetallwerke in Rheinshagen Kunststoffkomponenten für die Auto- und Elektroindustrie. 1990 wurden etwa 180 Mitarbeiter/innen beschäftigt. Nach dem Personalabbau in mehreren Schüben, 1991 und 1992, sind bis zum gestellten Konkursantrag noch ca. 98 beschäftigt gewesen. „Die IG-Metall vermutet, daß die Produktion in Billiglohnländer nach Osteuropa verlagert wurde.“34 Davon betroffen sind vorwiegend ältere Mitarbeiter/innen bei einem hohen Frauenanteil, die angesichts fehlender Vermittlungsaussichten eine düstere soziale Perspektive vor sich haben.35 Die Samtgemeinde Nord-Elm konnte sich der Rezessionsauswirkung auf die Automobilindustrie ebenfalls nicht entziehen. Die negativste Variante einer ganzen Werksschließung der Frellstedter Firma Naue KG zeichnete sich im Dezember 1992 ab. Der Automobilzulieferer zum US-Konzern 33 34 35 Raumordnungsbericht Niedersachsen 1992. Hannover 1993. Seite 20. Braunschweiger Zeitung, Helmstedter Ausgabe, 27.04.1993. Siehe: Braunschweiger Zeitung, Helmstedter Ausgabe, 29.04.1993. Kommentar [P8-01]: Seite: 45 Anmerkung: Die in Frellstedt ansässige Firma "Naue" KG" mit 206 Beschäftigte, die ebenfalls von einem Konkursantrag betroffen wurde, ist bereits im Abschnitt ..... erwähnt worden. - 53 - „Johnson Control“ gehörend, verlagerte die Fertigung von Frellstedt nach Großbritannien und Slowenien. 36 Der Aufforderung von Belegschaft, Politikern und Verwaltung an die Geschäftsleitung der Firma Naue, über Alternativen zur Betriebsschließung zu verhandeln, blieben ergebnislos.37 Eine zu dieser Thematik einberufenen Sondersitzung des Wirtschaftsausschusses mit der Zielvorstellung, den „Abbau des Firmenstandortes mit allen zur Verfügung stehenden Kräften zu verhindern“, konnte die Schließung nicht verhindern.38 Am 05.11.1992 wurde der Betriebsrat von der Geschäftsleitung verspätet informiert, daß die Stillegung des Werkes bevorstehe und damit 125 Arbeitnehmer/innen ihren Arbeitsplatz verlieren.39 In der erwähnten außerordentlichen Wirtschaftsausschußsitzung wurde u.a. betont, daß es auch um die gesamte wirtschaftliche Situation im Landkreis Helmstedt gehe, in der die Firma Naue nicht der einzige Volkswagen-Zulieferer sei, bei dem es ernste Probleme gebe.40) Auch die Traditionsfirma „Helmstedter Spinnerei GmbH“ mit ca. 249 Beschäftigten, zuletzt im Besitz der französischen Firma Phildar, meldete im Januar 1993 Konkurs an. Die Schließung der Firma ist mit der stark rückläufigen Nachfrage nach Handstrickgarn, dem alleinigen Produkt des Betriebes, begründet worden.41 Die Entscheidung über die Betriebsschließung kam für Geschäftsführung und Mitarbeiter gleichermaßen unerwartet. Der Maschinenpark ist auf einem technologisch hohen Stand unter voller Kapazitätsauslastung im Schichtsystem gefahren worden.42 Vor allem Frauenarbeitsplätze sind von der Betriebsstillegung betroffen. Anhand der Firmenzusammenbrüche wird nochmals ersichtlich, daß Standorte der ländlichen und peripheren Räume in der Branchenstruktur vorwiegend mit Fertigungsfunktionen belegt sind. Trotz zum Teil erheblicher Subventionen geraten diese Firmen unter ganz besonderen Rationalisierungsund schließlich Verlagerungsdruck, insbesondere, wenn es sich um einfachere und standardisierte Tätigkeiten handelt, die mit wenig qualifizierten Mitarbeiter/innen gefahren werden. Diese im sekundären Sektor der Sachgüterproduktion feststellbaren Schrumpfungsprozesse verliefen nicht immer spektakulär: In den Firmen Naue KG, Reika Technik GmbH und Helmstedter Spinnerei GmbH vollzogen sich entsprechend des Kostendruckes identische Beschäftigungsreduzierungsmaßnahmen. Die Schließungsrate an Arbeitsplätzen war am Ende der vollzogenen Konkurse nicht mehr so hoch, weil ein großer Anteil dieser Arbeitsplätze schon in den Vorjahren im Schrumpfungsprozeß verlorengingen. Die eingetretenen Konkurse verdeutlichen auch, daß eine Vielzahl ansässiger Unternehmen im Landkreis als „Konjunkturpuffer“ und „verlängerte Werkbänke“ fungieren, die bei anhaltender konjunktureller Talfahrt in starke Bedrängnis geraten. „Auf der kommunalen Ebene schlagen sich diese Entwicklungen in unterschiedlichen Schrumpfungs- und Wachstumsprozessen und unsicheren zukünftigen Entwicklungsaussichten nieder. Bestehende Produktionsstandorte sind gefährdet, Anforderungen an Standorte und Flächen verändern sich. Die Gemeinden finden sich dabei in der Regel in der Rolle des Opfers, ihre Möglichkeiten zur aktiven Einflußnahme - soweit überhaupt vorhanden - sind sehr begrenzt.“43 Aus dem Anteil der Betriebe und sozialversicherungspflichtig Beschäftigten nach Wirtschaftsabteilungen geht außerdem hervor, daß die Investitionsgüterproduktion im verarbeitenden Gewerbe fast ausschließlich reinen Fertigungsfunktionen entspricht. Vor allem ist die ansonsten tendenziell zunehmende Tertiarisierung innerhalb des sekundären Sektors kaum 36 Siehe: Braunschweiger Zeitung, Helmstedter Ausgabe, 06.11.1992. Siehe: dto. 14.11.1992. 38 Siehe: Helmstedter Blitz, 09.12.1992. 39 Siehe: Helmstedter Blitz, 18.11.1992. 40 Braunschweiger Zeitung, Helmstedter Ausgabe, 28.11.1992. 41 Siehe: Braunschweiger Zeitung, Helmstedter Ausgabe, 17.02.1993. 42 Siehe: Braunschweiger Zeitung, Helmstedter Ausgabe, 21.01.1993. 43 Kahnert, R. Rahmenbedingungen kommunaler Gewerbepolitik. In: Informationen zur Raumentwicklung, Seite 277. 37 5/88. - 54 - vertreten und die an sich qualitativeren Dienstleistungsfunktionen im tertiären Sektor des Landkreis (ohne Berücksichtigung von gesellschaftsbezogenen Dienstleistungen) sind stark unterrepräsentiert. Das Konsumgüter- und Nahrungs- und Genußmittelgewerbe konnten sich nicht zuletzt durch die Öffnung der innerdeutschen Grenze stabilisieren und in dieser zeitlich befristeten Wachstumsdynamik der Einheitskonjunktur bis zum Rezessionsausbruch positiv entwickeln. Die übrigen Wirtschaftszweige im produzierenden Gewerbe konnten mit dem Konsumgüter-, Nahrungsund Genußmittelsektor nicht mithalten und mußten systematisch abbauen. Trotz des tendenziellen Rückganges im produzierenden Gewerbe ist dieser mit zur Zeit annähernd 10.000 sozialversicherungs-pflichtigen Beschäftigten noch relativ stark vertreten. Die Industriestruktur ist fast ausschließlich von Produktionsbetrieben geprägt, die einfache und standardisierte Produkte ohne hochwertige Produktionsdienste anbieten und so als typische Zulieferer auftreten. Im sekundären Sektor der Sachgüterproduktion führt mit abnehmender Tendenz im Beschäftigungsniveau der Braunkohlentagebau, danach folgen in der Gesamtanzahl der Beschäftigten die Ernährungsindustrie, das Bauhauptgewerbe, die Kunststoffverarbeitung, der Straßenfahrzeugbau (inkl. Reparaturen), das Ausbaugewerbe, der Maschinenbau, die Holzverarbeitung, Energie und Wasser, Textil, Steine/Erden und an letzter Stelle der Kalibergbau. Die Standortkonzentration des produzierenden Gewerbes beträgt in Büddenstedt 28%, gefolgt von Helmstedt mit 25%, Königslutter mit 13 % und Schöningen mit 11%. Die Anzahl von Betrieben im technologieorientierten Bereich ist äußerst gering. Der unterdurchschnittliche technologische Standard der produzierten Produkte läßt mehrheitlich nur eine vom Umsatzvolumen geringfügige binnenwirtschaftliche Orientierung oder die Teilezulieferung vom Zweig- zum Hauptwerk außerhalb der Kreisgrenze zu. Die bestehende, schwach ausgeprägte Branchenstruktur erzeugt keinen „Synergieeffekt“, d.h., daß Verflechtungen zwischen den Betrieben kaum bestehen. Realistisch gesehen, ist weder eine Innovationsdynamik noch ein Veränderungspotential für zukünftig günstige ökonomische Entwicklungen aus dem bestehenden Bestand heraus abzuleiten. Die erforderliche „Modernität“ der industriellen Struktur ist nicht ausgeprägt. Der allgemein hohe Bestand von überwiegend niedriger Produktivität und fehlender Modernität innerhalb der Sachgüterproduktion ist mit der Tendenz eines strukturellen Gefährdungspotentials klassischer Produktionsbereiche verbunden. Das verarbeitende Gewerbe weist einen niedrigen Anteil von Arbeitskräften im technischen Bereich und in der Verwaltung auf, bei gleichzeitig höherem Anteil von Beschäftigten im jeweiligen Fertigungsbereich derselben Betriebe. Das bundesdurchschnittliche Branchenniveau von ca. 21% höherqualifizierten Beschäftigten wird im Landkreis (ausgenommen BKB AG und öffentlicher Dienst) mit unter 10% deutlich unterschritten. Die Auslagerungen von Konstruktionstätigkeiten und der zentralen Verwaltung im gewerblichen Bereich aus den hier angesiedelten Zweigwerken sind als Ursache für diesen „Ausdünnungsprozeß“ höherwertiger Tätigkeiten aus dem Landkreis anzusehen. Die heimische Wirtschaftsstruktur bietet in der Tendenz ein unterdurchschnittliches Arbeitskräfteangebot von zumeist un- und angelernten Tätigkeiten. Wenig berufliche Spitzenqualifizierung wird von der ansässigen Wirtschaft abgefordert. Außer der BKB AG überwiegt in Folge dessen der Leichtlohnbereich mit relativ sinkender Tendenz zu anderen Landkreisen. Die durchschnittliche Lohn- und Gehaltssumme je Industriebeschäftigten im produzierenden Gewerbe liegt in Folge dessen mit einem monatlichen Durchschnittsbruttoverdienst (Stand: 30.06.1989) von 3.611,00 DM im Vergleich zum Landkreis Gifhorn 4.625,00 DM, Landkreis Peine 3.558,00 DM Landkreis Wolfenbüttel 3.862,00 DM, Stadt Wolfsburg 4.625,00 DM regional am zweitniedrigsten. Die alten Bundesländer kommen hierbei insgesamt auf einen Durchschnittwert von 4.213,00 DM, während die Bundesländer Bayern mit - 55 - 3.902,00 DM und Baden-Württemberg mit 4.598,00 DM die höchsten Länderdurchschnittswerte einnehmen.44 In der Gesamtsumme des Landkreises Helmstedt ist die überdurchschnittliche Lohn- und Gehaltssumme der BKB AG enthalten, ohne die der bereits niedrige Durchschnittswert extrem nach unten sinken würde. Aus diesem Zusammenhang ist bereits ersichtlich, daß das durchschnittliche Lohn- und Gehaltsniveau einen engen Zusammenhang mit der Produktivität besitzt und darauf verwiesen wird, daß der Landkreis eine negative Arbeitsplatzdisparität aufweist. Im Nahrungs- und Genußmittelgewerbe fällt die im Ortsteil Mariental der Samtgemeinde Grasleben ansässige Meisterbäckerei Steinecke mit ca. 614 Beschäftigten positiv auf, die eine überregionale Verflechtung aufweist. Aus arbeitsmarktpolitischer Sichtweise trägt dieser Bestand von größtenteils Frauenarbeitsplätzen mit dazu bei, Erwerbstätigkeiten für diese Zielgruppe anzubieten. Die Zigarrenfabrik Arnold André aus Königslutter mit ca. 230 zumeist Arbeitnehmerinnen stellt als Traditionsunternehmen Zigarren und Zigarillos her. Das Unternehmen operiert in seinem spezifischen Marktsegment überregional erfolgreich und Standorterweiterungspläne mit einer Erhöhung der Beschäftigungsanzahl erscheint für die zukünftige Geschäftsentwicklung nicht ausgeschlossen zu sein. Die am 30.06.1989 überdurchschnittliche Quote von 12.9% beim Anteil der sozialversicherungspflichtigen Teilzeitarbeit gegenüber dem Bundeswert (alte Bundesländer) von 8,5% und Niedersachsen von 9,8% (siehe Ziffer 9 der Tabelle III. 4) in der Arbeitsplatzstruktur kann unterschiedlich interpretiert werden: Einerseits ist die Teilzeitarbeit mit einem hohen Frauenanteil als Indikator für moderne Strukturbedingungen und Flexibilität anzusehen, das die Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsarbeit ermöglicht. Andererseits als Indikator eines lokalen unterdurchschnittlichen Lohnund Gehaltsniveaus, wo Doppelarbeit aus existentiellen Gründen erforderlich wird, um die relativ hohen Lebenshaltungskosten (insbesondere bei Einzelverdienern) zu finanzieren. Der zuletzt genannte Indikator kann unter Bezugnahme der monatlichen Lohn- und Gehaltssumme je Indurstriebeschäftigten im produzierenden Gewerbe (Betriebe mit mehr als 20 Beschäftigte) und der Entwicklung der monatlichen Lohn- und Gehaltssumme von 1985 bis 1989 im Vergleich aufgrund der Ziffer 11 aus der Tabelle III. 4 angenommen werden. Es kann vermutet werden, daß im Nahrungs- und Genußmittelwirtschaftszweig geringere Lohnkosten und im Durchschnitt weitaus höhere Frauen- und Teilzeitbeschäftigungsanteile anzutreffen sind als beispielsweise in der metallverarbeitenden Industrie. Andererseits belegt das im Dienstleistungsbereich eingegliederte Bank- und Versicherungsgewerbe ein hohes Niveau an Gehaltskosten, mit einem hohen oder zumindest durchschnittlichen Ausmaß an Frauen- und Teilzeitbeschäftigung. Bezüglich des Frauenbeschäftigungsanteils in den Wirtschaftszweigen kann insgesamt davon ausgegangen werden, daß geradezu Unternehmen in den obersten Größenklassen durchschnittlich hohe Frauenanteile mit niedrigen Lohnkosten beschäftigten. Von einer qualitativen Beschäftigungsentwicklung ist der Landkreis (bisher) weitgehend abgekoppelt. Altindustrielle Außenstände als verlängerte Werkbänke und Konjunkturpuffer haben sich teilweise als Zweigwerke im Landkreis angesiedelt, um auf unterdurchschnittlichem Produktionsniveau industrietechnische Fertigungsprodukte von Teilefertigungen vorzuproduzieren. Zu den erwarteten weiteren Rationalisierungsmaßnahmen kommt die latente Tendenz zur Auslagerung weiterer Fertigungsbereiche und ganzer Unternehmen hinzu. Die Öffnung in Osteuropa hat zudem die Konkurrenz in den Wirtschaftssektoren des Landkreises, insbesondere bei Textil- und Bekleidung und der Automobilzulieferindustrie, extrem verschärft. 44 Siehe: Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung. Materialien zur Raumentwicklung, 47. Bonn 1992. Seite 156 ff. Heft - 56 - Die sich überwiegend in Privatbesitz befindlichen Allerthal-Werke aus Grasleben, die technische Gummiwaren herstellen, verzeichneten bis zum Konjunktureinbruch September 1992 eine befriedigende Auslastung der Produktion. Im letzten Quartal sank dann der Auftragseingang deutlich und das Unternehmen hat Preiserhöhungen nicht entsprechend den Kostensteigerungen durchsetzen können. Die Umsatzrückgänge werden zu einer Anpassung der Belegschaft führen.45 Die ebenfalls im Privatbesitz und in überregionaler Verflechtungen erfolgreich operierende Seifenmaschinenanlagenfabrik "Weber und Seeländer" aus Helmstedt konnte unlängst ihr 100 jähriges Jubiläum feiern. Der Umsatz betrug 1992 mit ca. 100 Mitarbeitern rund 25 Millionen DM. 46 Dieses expandierende Unternehmen als Ausnahmebeispiel produziert pro Jahr vier bis fünf komplette Seifenfabriken für weltweite Abnehmer. Eine Hochleistungspresse am Ende einer „Seifenstraße“ kann bis zu 25000 Stück Seife in einer Stunde produzieren. 1992 konnten zusätzliche Großaufträge, unter anderem aus der Ukraine, den Jahresumsatz nochmals deutlich nach oben drücken. In der Nahrungsmittelindustrie war im Landkreis Helmstedt die Sparte der Zuckerindustrie stark vertreten: Zu nennen wären hier die Norddeutsche Zuckerrafinerie in Frellstedt, sowie die Zuckerfabriken in Groß Twülpstedt, Königslutter und Söllingen. 47 Bis jetzt übriggeblieben sind nur zwei Standorte: Königslutter und Frellstedt. Die Zucker AG Uelzen-Braunschweig, nach eigenen Angaben viertgrößter deutscher Zuckererzeuger,48 übernahm die Zuckerfabrik Königslutter-Twülpstedt AG. Die international schwierige Absatzsituation wird den Strukturwandel in der deutschen Zuckerindustrie weiter beeinflussen.49 Von den neun Werken in Westdeutschland, die sich im Besitz der Zucker AG UelzenBraunschweig befinden, dürften noch zwei bis drei geschlossen werden.50 Aber auch eine Fusion mit dem Zuckerverbund Nord AG ist mittelfristig nicht ausgeschlossen.51 Im Gegensatz zur Situation in den anderen landwirtschaftlichen Produktionsbereichen ist der Zuckerrübenanbau für die Landwirtschaft die letzte sichere Ertragsbasis, obwohl auch in diesem Sektor langfristig über die EU-Agrarpolitik Eingriffe zu befürchten sind. Der Investionsaufwand der Zucker AG Uelzen-Braunschweig von rund 300 Millionen DM für die Zuckerfabrik Güstrow in Sachen-Anhalt52 verdeutlicht zukünftige Standortpräferenzen, die sich bei Standortkonsolidierungen für oder gegen bestehende Werke in Westdeutschland, in der Konsequenz auch als eine Bestandsgefährdung der im Landkreis verbliebenen Zuckerrübenfabriken in Königslutter und Frellstedt negativ auswirken könnten. Die Verhandlungen zu einer Fusion zwischen dem Zuckerverbund Nord AG (ZVN) in Braunschweig und der Zucker-AG Uelzen-Braunschweig, in Uelzen, sind weit fortgeschritten. „Eine Fusion böte außerdem die Möglichkeit, ein weiteres Werk zu schließen.“53 In der Stadt Helmstedt kommen die Dienstleistungsbereiche Landkreisverwaltung und Kreiskrankenhaus mit jeweils 603 und 627 Beschäftigten zusammen hinter der BKB AG bereits auf den zweiten Platz in der Gesamtbeschäftigungsstatistik. 45 46 47 48 49 50 51 52 53 Siehe: Handelsblatt, 23.06.1993. Siehe: Braunschweiger Zeitung, Helmstedter Ausgabe, 12.08.1993. Siehe auch: Mund, K. Der Landkreis Helmstedt als Grenzgebiet ..., Ebenda, Seite 114. Siehe: Handelsblatt, 17.09.1992. Siehe: Handelsblatt, 09.10.1992. Siehe: Handelsblatt, 07.07.1992. Siehe: Das Landvolk. 01.10.1992. Siehe: Das Landvolk. 01,10.1992. Siehe: Handelsblatt. 07.07.1993. - 57 - Hervorzuheben für Helmstedt ist ferner das Arbeitsamt Helmstedt mit 224 Beschäftigten im Hauptamt des Arbeitsamtsbezirkes Helmstedt, zu dem auch die Dienststellen Gifhorn und Wolfsburg zählen, und in Königslutter das Landeskrankenhaus mit 670 Beschäftigten. Im Dienstleistungssektor stellt einen weiteren relativ ausgeprägten Bereich das Gast- und Beherbungsgewerbe dar. Die Expansionsmöglichkeiten von haushaltsorientierten Dienstleistungen und öffentlichen Einrichtungen werden sich, bedingt durch die Engpässe der kommunalen Haushalte, kaum weiterentwickeln. Für die Gesamtentwicklung der Wirtschaftsstruktur kann aus diesem Grund dem Fremdenverkehr nur eine Ergänzungsstrategie zugesprochen werden, in der es um die Fragestellung gehen könnte, welche zielgruppenorientierte Fremdenverkehrsvermarktung anvisiert werden sollte. Insgesamt stellt sich auch die Frage, inwieweit eine erfolgreiche Bestandspflege ansässiger Unternehmen aussehen könnte, die aufgrund ihres allgemeinen niedrigen technologischen Entwicklungsstandes überwiegend als Zweigwerke vor Ort operieren und durch die momentane Rezession akut gefährdet sind, (im Hauptamt Helmstedt waren im Januar 1994 10 Betriebe von Kurzarbeit betroffen). In wachsenden Wirtschaftssektoren (z.B. Chemie, Straßenfahrzeugbau, Textil- und Baugewerbe) wächst die Tendenz, daß diverse Unternehmen mit der wirtschaftlichen Entwicklung (Strukturwandel) nicht Schritt halten können. Wie können diese Unternehmen die Rezession und den beschleunigten Strukturwandel überstehen? Erhaltungssubventionen wären aufgrund der geringen Branchendichte zwar eine Ausnahmeerscheinung, aber gegebenenfalls vor Ort zu prüfen! Es kommt hinzu, daß in einigen Fällen eine Substanzerhaltung und Revitalisierung volkswirtschaftlich kaum sinnvoll erscheint. Es besteht die Gefahr, daß in einigen technologieorientierten Unternehmen der Innovations- und Qualitätsvorsprung nicht mehr ausreichen könnte, um anstehende Herausforderungen zukünftig zu meistern. Dringend erforderliche Arbeitsplätze, die aus Betriebsneugründungen hervorgehen sollten, steht zunächst einmal die Befürchtung gegenüber, daß weitere Betriebe schrumpfen oder vielleicht gänzlich schließen. Die beschleunigte Intensität des ökonomischen Strukturwandels hat den Landkreis Helmstedt voll erfaßt! 3.1.5.2 Automobilzulieferverflechtungen Nachdem die beiden Zulieferer Reika Technik GmbH und Naue KG dem Strukturwandel in der Automobilindustrie zum Opfer fielen (siehe Kapitel 3.1.5.1), zählen zur Investitionsgüterproduktion im Wirtschaftszweig Kunststoffverarbeitung die beiden Automobilzulieferer Phönix AG in Büddenstedt mit ca. 754 Beschäftigten und die Hellac GmbH in Helmstedt mit ca. 113 Beschäftigten. Das Zweigwerk Reinsdorf der in Hamburg ansässigen Phönix AG ist zweitgrößtes Unternehmen im produzierenden Gewerbe und zugleich zweitgrößte Firma an sozialversicherungspflichtig Beschäftigten außerhalb des Dienstleistungsbereiches im Landkreis Helmstedt. Zur Produktionspalette gehören Kunststoffteile aus Polyurethan (PU) und Spritzguß auf EPPFertigungstechnologie. Das letztere sind energieabsorbierende Schäume, die in den Pkws hauptsächlich für Seitenaufprallschutz und in den Spoilern verwendet werden. Die PVC Stoßstangen werden inklusive Lackierung für die Automobilindustrie produziert. - 58 - Kapitalintensive Maschinenanlageninvestitionen wie die vollautomatische Spritzgießfertigung, Spritzgußmaschinen verschiedener Größen, elektronisch geregelte Schaummaschinen und die Beflämmroboterfertigung, stehen für technologisches Know-how. Die Kunststoffeinzelkomponenten werden bereits in Modulbauweise/Komponentenfertigung produziert und montiert. Das Phönix Zweigwerk im Reinsdorf hat sich auf diesen Entwicklungstrend frühzeitig eingestellt und ist ein kompetenter Zulieferer für die Automobilindustrie von anbaufertigen Kunststoffmodulen. Im September 1992 verdichteten sich Gerüchte, wonach das Zweigwerk Reinsdorf der Firma Phönix geschlossen werden sollte, was aufgrund einer offiziellen Stellungnahme dementiert wurde.54 Ob dieser Bericht als strukturelle Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen oder bereits als eine akute Bestandsgefährdung interpretiert werden muß, dazu sollen folgende Hintergrundinformationen zur augenblicklichen Situation beitragen, um diesbezüglich Chancen, Perspektiven und Strategien auszuloten. Die von Kurzarbeit betroffenen Mitarbeiter/innen können die seit Ende 1992 installierte 4.000 Tonnen schwere Spritzgußmaschinenanlage, die zur Herstellung von energieabsorbierenden Schaum für Autotüren als Aufprallschutz benötigt wird, als Standortinvestition begrüßen.55 Der Standort Helmstedt stellt trotz räumlicher Enfernungsdistanz zu den Geschäftspartnern Mercedes-Benz, Audi, BMW, Porsche oder Volvo in Holland keinen Hinderungsgrund, um flexibel an sie zu liefern. Der "Just-in-time" Abruf kann innerhalb 22 Stunden erfolgen. Die Struktur der erwähnten Abnehmerkette innerhalb der Automobilbranche ist diversifiziert, so das die Auftrags- und Kostenkalkulation etwas flexibler gestaltet werden kann. Die Spannbreite des Auftragsbestandes verläuft (Stand 12/93) von 2% bei VW bis 45% bei Mercedes-Benz. Trotzdem ist der Einkaufsdruck der konzentrierten Automobilkonzere auch auf den Zulieferer in Reinsdorf hoch. Der Automobilzulieferer konnte an den Preissteigerungen der Automobilhersteller ebenfalls nicht partizipieren und sieht sich teilweise gezwungen, diverse Aufträge mit betriebswirtschaftlicher Negativkalkulation anzunehmen, um im Markt zu bleiben. Die überproportional hohe Lagerhaltung in Reinsdorf an fertigen und abrufbereiten Stoßstangen verdeutlicht die Just-in-time Praxis der Monopolabnehmer bezüglich dem Abwälzen von Lagerhaltungskosten.56 Eine in Erwägung gezogene Produktdiversifikation außerhalb der Automobilbranche erscheint unrentabel, weil erst ein zu erzielender Mengeneinsatz Rendite verschafft. Die „Entschlackung“ der Produktionsstukturen erscheint in Reinsdorf bereits bis zur Maximumgrenze ausgeschöpft zu sein. Die verbliebenen 720 Beschäftigten (Stand: 11/93) arbeiten im Dreischichtsystem, größtenteils auf Akkord- und Prämienbasis. Eine Qualifizierungsoffensive der zumeist nur angelernten Arbeitstätigkeiten ergibt sich nach Einschätzung der Werksleitung aufgrund der Anforderungsmerkmale in den Verarbeitungstätigkeiten nicht. Die Ankündigung der Phönix AG für 1994 in ihrem Reinsdorfer Zweigwerk keine Auszubildenden mehr aufzunehmen, kann zumindest theoretisch als allmähliche Standortauslagerungstendenz interpretiert werden. Auszubildende nicht zu übernehmen und zukünftig nicht mehr auszubilden, heißt, auf Potentiale zu verzichten. Personalanpassungen an veränderte Auftragslagen wurden bisher nicht über betriebsbedingte Kündigungen, sondern über das Nichtersetzen der Fluktuationsrate, der Nichtverlängerung von Zeitarbeitsverträgen und der Kurzarbeit erreicht. 54 Siehe: Braunschweiger Zeitung, Helmstedter Ausgabe, 01.09.1992. Dto. 56 Anmerkung: Das Kapitel III. .2.10 "lean production - Anspruch und Wirklichkeit", verdeutlicht die der Kostenabwälzung der Automobilindustrie auf die Zulieferer. 55 Problematik - 59 - Die Ankündigung der Geschäftsleitung der Phönix AG, trotz starkem Umsatzrückgang und hoher Verluste für 1993 auf Konzernebene ein ausgeglichenes Ergebnis anzustreben, deuten an, daß sozialverträgliche Lösungen einvernehmlich mit dem Betriebsrat zu erzielen, weitaus schwieriger werden. 57 „Der Hersteller ist von der katastrophalen Entwicklung in der Automobilindustrie weiterhin stark betroffen. Das Unternehmen (Phönix AG) verzeichnete (bundesweit) in den ersten fünf Monaten des laufenden Geschäftsjahres gegenüber dem gleichen Vorjahreszeitraum einen Umsatzrückgang von 23%.“ 58 Die Befürchtungen, so äußerte Betriebsratsvorsitzender U. Schräder, betreffen für Reinsdorf die Jahre 1994/1995, welches für die heutige Marktsituation jedoch nicht ungewöhnlich ist.59 Problematisch war, das Anschlußaufträge für demnächst auslaufende Arbeit auch Ende 1993 noch nicht vorlagen: „In den vergangenen vier Jahren konnte aufgrund permanenter Rationalisierungen ein positives Betriebsergebnis erwirtschaftet werden (...). Sollte 1994 für die beendeten Aufträge nichts folgen, dann müsse man sich von Leuten trennen.“ 60 Ab April 1994 werden 170 betriebsbedingte Kündigungen wirksam, weil erhoffte Anschlußaufträge von BMW, Daimler-Benz und Porsche ausgeblieben sind. Erst ab 1996 würden neue Aufträge vorliegen.61 Absichtserklärungen von Werksleitung und Politikern, auf Aufträge von VW aus Wolfsburg zu spekulieren, ist aufgrund des Umstrukturierungsprozesses in der VW AG (der die gesamte industrielle Infrastruktur aller Teilehersteller in der Bundesrepublik existentiell gefährdet), als nicht erfolgversprechend zu bewerten. 62 Die unverklausulierte Absichtserklärung vom VW Vorstandsvorsitzenden F. Piëch, die bisherige Anzahl von 1.500 Zulieferer für VW auf 100 zu reduzieren, zeigt die Strategie einer ökonomischen Konsolidierung hauptsächlich auf Kosten der Automobilzulieferer deutlich auf. Insbesondere die Kunststoffherstellerbetriebe geraten als Automobilzulieferer in der jetzigen Zeitphase unter besonders starken Preisdruck der Automobilproduzenten. 63 Die Tendenz bei der Phönix AG ist dahingehend, daß Produktlinien, die aufgrund des Kostendruckes eine Rentabilitätsgefährdung verursachen, ins europäische Ausland verlagert werden. Einige Produktgruppen für die Automobilindustrie werden demnächst in der CSFR und in der Türkei gefertigt.64 Die Internationalisierung des Einkaufs der Automobilkonzerne wird den Standort Reinsdorf vermutlich weiter schwächen und es ist davon auszugehen, daß nachhaltige Kostenvorteile oder bewußte Dumpingpreise europäischer Zulieferkonkurrenten im gleichen Marktsegment zu erheblichen Verlusten führen können. Die spezifischen Probleme des Zweigwerkes Phönix in Reinsdorf sind in einem engen Zusammenhang mit der sich verschärfenden Konkurrenzsituation auf dem nationalen und internationalen Zuliefermarkt zu sehen. Einiges deutet darauf hin, daß sich die Konkurrenzsituation des überregional operierenden Zweigwerkes (insbesondere nach Süddeutschland) durch den Standort im Landkreis Helmstedt verschlechterte, was auf eine nachlassende Wettbewerbsfähigkeit 57 58 59 60 61 62 63 64 Siehe: Handelsblatt, 18./19.06.1993. Handelsblatt, 18./19.06.1993. Siehe: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 28.05.1993. Werksleiter H. Lehmann. In: Braunschweiger Zeitung, Helmstedter Ausgabe 15.12.1993. Siehe: Helmstedter Blitz, 26.01.1994. Siehe: Braunschweiger Zeitung, Helmstedter Ausgabe, 15.12.1993. Siehe: Die Welt, 09.07.1993 und Braunschweiger Zeitung, 10.07.1993. Siehe: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.11.1992 und Handelsblatt, 23.11.1992. - 60 - hinweist. Die doch kritische Zukunftsbeurteilung reflektiert letztendlich die ungünstige Standortbeurteilung. Diese Aspekte lassen insgesamt vermuten, daß dieses Produktionswerk auch zukünftig mit überdurchschnittlichen Entwicklungsproblemen zu rechnen hat. Auch dieses zweitgrößte Unternehmen im verarbeitenden Gewerbe weist zur übrigen Landkreiswirtschaft geringe Verflechtungsbeziehungen auf. Die Verlagerung der Automobilstrukturprobleme auf die Zulieferer, wobei die Automobilkonzerne ihre „Marktmacht eindeutig zu unverhältnismäßigem Druck auf ihre Lieferanten mißbrauchen,“65 läßt in der Konsequenz die Annahme weiteren Personalabbaues im Zweigwerk Reinsdorf der Phönix AG, sowie einer anscheinend nicht unkritischen Ertragssituation der Firma Hellac GmbH zu, weil diese nicht den Status eines Komponentenfertigers einnimmt, und fast ausschließlich für die VW AG produziert. Dem Zweigwerk der Phönix AG scheint nur wirkungsvoll geholfen, wenn neben der problematisch gewordenen Kunststoffsparte ein zweites Komponentenfertigungsstandbein (im Idealzustand unabhängig von der Automobilbranche) in Reinsdorf aufgebaut werden könnte. Voraussetzungen hierfür wären unter anderem aber auch die einvernehmliche Zustimmung der Konzernmutter, sowie die Anhebung des vermuteten geringen Qualifikationsniveaus der vorwiegend un- und angelernten Mitarbeiter/innen. Die Helmstedter Firmen Siebenaller (Abnehmer VW AG) und in einem ebenfalls geringeren Mengenvolumen die Firma Lieder GmbH, Maschinenbauerzeugnisse mit 28 Mitarbeiter/innen, sind weitere Automobilzulieferbetriebe. Die Firma Lieder erreichte eine erfolgreiche Anpassung an veränderte Abnehmerbedingungen: Vom Automobilabnehmer Mercedes-Benz konnte eine rechtzeitige Umstrukturierung zum neuen Vertragspartner AEG in der Sparte Haushaltsgeräte aufgebaut werden. Sekundäre Verflechtungsbeziehungen zur Automobilindustrie ergeben sich im Dienstleisungsbereich: Zu nennen ist hierbei der Hotel-Park Königshof in Königslutter, wo u.a. auch VW-Lehrgänge und Konferenzen abgehalten werden, sowie das im Besitz der VW AG befindliche Haus Rhode, im Ortsteil Rhode, der Stadt Königslutter. 3.1.5.3 Die BKB AG und das Braunkohlerestaufkommen Neben der einfachen Investitionsgüterindustrie sind ebenfalls die energie- und rohstoffintensive Produktion, sowie umweltbelastende Produktionszweige die Verlierer des beschleunigten Strukturwandels. Für das regionale Monopolunternehmen BKB AG ist hierbei anmerkenswert, daß die Grenzöffnung den Braunkohlevorrat der Eignerin Preussen-Elektra deutlich erhöhte und daß das Überangebot an der ökologisch bedenklichen und wirtschaftlich unter starker Konkurrenz zu anderen Energieträgern stehenden Braunkohle etwaige Erweiterungspläne in Richtung Emmerstedt unwahrscheinlich macht. Außerdem besteht die Gefahr, daß Energieanbieter aus Osteuropa mit nicht vorhandenen Umweltauflagen und Dumpingpreisen in der Preisangebotsstruktur das BKBBraunkohlerestaufkommen (inklusive der Vorräte unter Emmerstedt) gänzlich aus den Markt werfen können. Die Preussen-Elektra AG (zur Energieunternehmensgruppe VEBA gehörend), besitzt eine 99,9 Prozent Mehrheitsbeteiligung an der BKB AG in Helmstedt.66 Die VEBA investierte nach eigenen Angaben im ersten Quartal 1993 912 Millionen DM. Den Schwerpunkt dieser Investitionen im Strombereich bildeten die Vorhaben zum Bau von Braunkohlekraftwerken in Schkopau und Kirchmöser in den neuen Bundesländern.67 65 66 67 Handelsblatt, 15.04.1993, Seite 15. Siehe: Preussen-Elektra Unternehmensprofil S. 30, Herausgeber Preussen Elektra Aktiengesellschaft Treschowstraße 5, 3000 Hannover 91. Siehe: Hannoversche Allgemeine Zeitung 28.05.1993. - 61 - Diesbezüglich sind mittelfristig folgende Entwicklungsprognosen denkbar: - Ein überregionales Energieüberangebot und die Möglichkeiten von weiträumigen Energievernetzungen machen letztendlich die verbliebenen Tagebaukapazitäten der BKB AG überflüssig. - Der Landkreis Helmstedt hätte auf diesen (möglichen) Entscheidungsablauf keine politischen Einflußmöglichkeiten mehr, da das eigentliche Entscheidungsgremium (VEBAEnergiekonzern) außerhalb des Landkreises ist und auf die im Landkreis spezifischen Strukturproblemen keine Rücksichtnahme nehmen müßte. - Es ist zu vermuten, daß das Management der Preußen Elektra AG in energiepolitischen Dimensionen strategisch plant und handelt, welche das Restbraunkohleaufkommen der BKB AG völlig unberücksichtigt läßt. - Es ist bereits mittelfristig denkbar, daß die Eignerin Preussen Elektra AG ihr Tochterunternehmen BKB AG aus dem Handelsregister streichen könnte und die anvisierte Sparte Entsorgung mit neuen Unternehmen weiter ausbaut. In den alten Bundesländern spielt die Braunkohle mit einem Gesamtanteil von 8 Prozent nur eine untergeordnete Rolle. Hier liegen Heizöl (43 Prozent) und Erdgas (33 Prozent) eindeutig in der Spitzenstellung.68 Dieser Entwicklungstrend ist auch für die Zukunft prägend: Die Zahl der Beschäftigten wird in der Energieversorgung und im Bergbau (einschließlich Tagebau), im Vergleich von 1991 zu 2010 nach „Prognos“-Schätzungen um minus 19 Prozent, bzw. minus 62 Prozent weiter schrumpfen.69 In Anlehnung an dieses Prognos - Gutachten erstellte das niedersächsische Wirtschafts-ministerium eine Studie, nach der der Anteil der Braunkohle um 58,4% bis zum Jahr 2005 gegenüber 1989 in Niedersachsen weiter sinken wird.70 Zur Sicherung des Wirtschaftsstandortes Niedersachsen zählt sicherlich auch die vorrangige Aufgabe einer umweltverträglichen, kostengünstigen und zukunftsorientierten Energiever-sorgung. Der Energieträger Braunkohle kann unter Zugrundelegung dieser Faktoren für das Bundesland Niedersachsen als altindustrielle Hinterlassenschaft und als umweltbelastender Produktionszweig zum Verlierer des beschleunigten Strukturwandels eingestuft werden. Bereits zum Jahresende 1993 wurden mit der Stillegung zweier Blöcke des Kraftwerkes in Offleben weitere rund 400 Arbeitsplätze in der BKB AG sozialverträglich abgebaut.71 Bereits im Raumplanungsgutachten Südostniedersachsen von 1965 ist vorausschauend vom allmählichen Erschöpfen der Braunkohlevorräte die Rede, womit sich in der „mittleren planerischen Zukunft“ diesbezüglich die Frage des Arbeitsplatzersatzes stellt.72 Diese vorausschauende arbeitsmarktpolitische Prognose ist bezüglich ihrer Relevanz anscheinend nicht in dem erforderlichen Maße einer Priorität berücksichtigt worden. Die Beschäftigungsentwicklung im Bergbau und im verarbeitenden Gewerbe veränderte sich im Landkreis Helmstedt (Vergleichsdaten Süd-Ost-Niedersachsen insgesamt in Klammern) von 1978 bis 1982 minus 7,9 Prozent (minus 2,5 Prozent), von 1982 bis 1986 minus 6,9 Prozent (minus 1,3 Prozent), 1986 bis 1989 minus 6,0 Prozent (minus 3,6 Prozent) und insgesamt von 1978 bis 1989 minus 19,4 Prozent (minus 7,2 Prozent).73 68 69 70 71 72 73 Siehe: "Globus", Nr. 1525. In: Süddeutsche Zeitung, 25.11.1993. Siehe: Prognos-Gutachten, Basel 1992, In: Der Spiegel, Nr. 36, 06.09.1993, Seite 37. Siehe: Niedersächsisches Ministerium für Wirtschaft, Technologie und Verkehr. Für eine kernenergiefreie Elektrizitätsversorgung in Niedersachsen. Hannover 1993. Seite 96. Siehe: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 08.07.1993. Siehe: Raumplanungsgutachten. Hannover 1965, Teil IIa, Monographie, Seite 3. Siehe: Lompe, K., Rehfeld, D. Regionale Bedeutung und Perspektiven der Automobilproduktion. Seite 92. - 62 - Die Endphase des für den Landkreis historischen Braunkohletagebaues wird sozialverträglich durchgeführt, in dem ein schrumpfungsbedingter Bestand an Restarbeitsplätzen unaufhaltsam weiter abgebaut wird. Als Ausnahmefall innerhalb der alten Bundesländer ist das erhebliche Braunkohlevorkommen in rheinischen Revier, das zusammen mit der Braunkohleverstromung in den neuen Bundesländern rund 30% der öffentlichen Stromerzeugung ausmacht, anzusehen. Unter Zugrundelegung dieser gewaltigen Kapazitäten und einer Steigerung der Wirkungsgrade konnten zur Zeit wettbewerbsfähige Preise erreicht werden, die die Braunkohle im wiedervereinigten Deutschland zu einem wichtigen heimischen Energieträger hochkatapultierten.74 Diese optimistische Prognose ist allerdings abhängig von der internationalen Preispolitik und von der Wirtschaftlichkeitskalkulation des Braunkohlemengenvorkommens, welche das Restaufkommen unter Helmstedt hierbei völlig unberücksichtigt läßt. Das Angebot an reichlich vorhandenen Braunkohlemeilern und Gruben ist in den neuen Bundesländern bedeutend höher als die dortige Nachfrage: Je mehr die ostdeutsche Industrie und damit der Strom- und Wärmebedarf schrumpfen, desto mehr sinken Umsätze und kurzfristige Ertragsaussichten. Außerdem werden zwei Steinkohlekraftwerke mit zusammen 3000 MW in Rostock und Stendal gebaut, welche Konkurrenz und Absatzbremse für die dortige Braunkohleförderung bedeuten.75 Auch aus den neuen Bundesländern bekommt die Braunkohle zunehmend Konkurrenz von alternativer Stromgewinnung: Beispielsweise wurde in Sachsen ein Windpark mit einer Gesamtleistung von einem Megawatt in Betrieb genommen, von dem ca. 300 Haushalte einer Gemeinde mit Strom versorgt werden. Auch die Wasserkraft erlebt eine Renaissance: Diese Energieform hat in Sachsen mit seinen 70 Talsperren eine alte Tradition. 1929 zählte man mehr als 3500 kleine Anlagen, von denen 1989 gerade einmal 147 übriggeblieben waren. Jetzt sollen acht stillgelegte Mühlen und Sägewerke wieder in Funktion gesetzt werden und quasi nebenbei Elektrizität für Wohngebiete und kleine Gemeinden liefern.76 Würde diese Energie aus Braunkohlebriketts erzeugt, müßte die Atmosphäre pro Jahr 7900 Tonnen mehr Kohlendioxid verkraften.77 Man erkennt, daß die Braunkohle auch in Ostdeutschland allmählich aber kontinuierlich, neben Öl und Erdgas, auch durch alternative Formen Konkurrenz bekommt. Die Möglichkeit, das Überangebot an ostdeutschen Braunkohlestrom Richtung Westen zu leiten, wird zur Zeit noch „erfolgreich“ blockiert: „Zu teuer, zu unrentabel, technisch aufwendig und kurzfristig nicht zu machen, wiegelt das RWE ab, das selbst Energie durch die ganze Republik schickt. Das heiße Eisen will niemand anpacken - ginge doch bei sinkendem Stromverbrauch jede Lieferung aus dem Osten zu Lasten heimischer Kraftwerke und Kohlengruben.“78 Die Förderung von Braunkohle sank in den neuen Bundesländern 1993 von 300 Millionen Jahrestonnen auf fast ein Drittel, während im Abbaugebiet Rheinland die Braunkohleförderung mit rund 100 Millionen praktisch konstant blieb.79 Im Hinblick auf die Braunkohlegruben in der Lausitz und in Sachsen (die im übrigen keine finanzielle Förderung durch den Staat oder Stromkunden braucht), ist in Bezug auf eine 74 75 76 77 78 79 Siehe: Blick durch Wirtschaft und Umwelt, Zeitschrift für Ressourcenmanagment und strategische Planung. März 93, Nürnberg 1993, Seite 21 ff. Siehe: Frankfurter Rundschau, 30. 10.1993, Seite 11. Siehe: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 09.10.1993. Ebenda. Frankfurter Rundschau, 30.10.1993, Seite 11. Siehe: Frankfurter Rundschau, 30.10.1993, Seite 11. - 63 - gesamtdeutsche Energiepolitik grundsätzlich kein Handlungsbedarf für eine Aufschließung von Emmerstedt abzuleiten. Erschwerend für die Gesamtperspektive des Energieträgers Braunkohle kommt hinzu, daß die gegenwärtige Wettbewerbsfähigkeit deutscher Braunkohlenverstromung gegenüber anderen Stromerzeugungsalternativen durch die in der Diskussion befindliche EU-weite CO²/Ernergiesteuer bedroht ist. Außerdem hat die Bundesregierung 1992 beim Umweltgipfel in Rio zugesagt, den für den Treibhauseffekt verantwortlichen CO²- Ausstoß bis zum Jahr 2005 um mindestens 25% gegenüber dem Wert von 1987 zu senken.80 Importsteinkohle ist der Preisparameter, an dem sich die Braunkohle permanent messen lassen muß! Die Importsteinkohle ist im Vergleich zur Braunkohle extrem kostengünstiger. Das ungünstigere Abraumkohleverhältnis unter Emmerstedt, sowie dessen niedrigen Wirkungsgrad würde zu Kostensteigerungen führen, die aus betriebswirtschaftlicher Sichtweise kaum vertretbar wären. Daß die wesentlich günstigere Importsteinkohle (gegenüber der Emmerstedter) angeblich einen politischen Energieunsicherheitsfaktor darstellen soll („ ...die Energiegewinnung mit der Emmerstedter Braunkohle sicherer zu kalkulieren ist, als ein Projekt, das in hohem Maße auf dem Preis der Importsteinkohle basiert“) 81, erscheint unter nüchterner Abwägung der Faktoren kaum nachvollziehbar. Die strategische Vorgehensweise einiger Akteure zielt auf eine defensive Sanierungsstrategie zur Verlängerung der Bestandserhaltung mit staatlichen Erhaltungssubventionen ab. Die IG Bergbau und Energie setzte hierbei unter anderem ihr traditionelles Instrument einer Regionalkonferenz mit der Zielvorstellung ein, politische Mehrheiten für die Aufschließung der Emmerstedter Braunkohle zu erwirken. Die in diese Diskussion mit eingebrachten Einflußgrößen können auch von der unbestrittenen Notwendigkeit des dringend benötigten Strukturwandels ablenken. Eine aufschiebende Wirkung des für den Landkreis existentiellen Strukturwandels durch die Aufschließung Emmerstedts beinhaltet die Gefahr, von den innovativen Elementen zukünftig gänzlich abgekoppelt zu werden. Unter Abwägung nüchterner Aspekte sollte das Ablaufen des "Braunkohlezeitalters" akzeptiert werden, von dem der Landkreis über ein Jahrhundert als ökonomische Basis profitierte. Im Spannungsfeld zwischen Ökonomie und Ökologie sollte eine realitisch vorausschauende Abwägung zwischen einigen zeitlich befristeten hundert Arbeitsplätzen (die unter arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunkten nur eine aufschiebende strukturkonservierende Wirkung hätten) und den Folgewirkungen, insbesondere umweltpolitische Langzeitfaktoren erfolgen. Der Ergiebigkeitseffekt neuer Arbeitsplätze dürfte sich in engen Grenzen halten, weil aufgrund vorhandener Infrastruktur der BKB AG wenig vor- und nachgelagerte Arbeitsplätze neu entstehen würden. Umweltprobleme und die Überschneidung von Maßnahmezielen (z. B. weiche Standort-faktoren, Fremdenverkehr, Umweltverträglichkeitsprüfung und erforderliche Ausgleichs-maßnahmen) sind Stichworte, die zur diesbezüglichen Grundsatzfrage führen: Gibt es in Bevölkerung, Wirtschaft und Politik überhaupt eine Akzeptanz und letztendlich politische Mehrheiten für dieses Projekt? Schon aus dem Aspekt einer zunehmenden Sensibilisierung der Bevölkerung für ökologische Themen erscheint dies mehr als fraglich. 80 81 Siehe: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 09.10.1993. ISA Consult. Entwicklungsperspektiven des Raumes Helmstedt, Ergebnisbericht. Hamburg 12/1993, Seite 15. - 64 - Der anvisierte Braunkohletagebau Emmerstedt hat unter ökonomischen, ökologischen und strukturpolitischen Gesichtspunkten wenig Realisierungschancen. Die Erschöpfung des Südkreises auf großflächigen Braunkohletagebau in einer letztendlich weitgehend ausgeräumten Landschaft zeigt im nachhinein die mangelnde Konkurrenzfähigkeit und Entwicklungshemmnisse von Bodenvorkommen exemplarisch auf. Die Braunkohle ist in der Gegenwart und insbesondere in der Zukunft keine Basis einer industriellen Entwicklung. Die regionalspezifische Aufgabenorientierung von Wirtschaft und Politik sollte sein, ein tragfähiges Konzept zu entwickeln, das die soliden finanziellen Rücklagen der BKB AG im Landkreis Helmstedt verbleiben läßt, z. B. durch neue ausbaufähige Sparten im Bereich der Umwelttechnologie, aber auch verstärkt und zielorientiert nach weiteren Marktnischen Ausschau hält, die ebenfalls zukunftsfixiert sind und einen Grundkonsens im Landkreis beinhalten. Die Einbindung der BKB AG in komplexe Konzernstrukturen könnte vor Ort etwaige Entscheidungen aufgrund der dafür notwendigen Koordinationsabsstimmungen erschweren. Es deuten sich vor Ort bereits Probleme und Zielkonflikte mit der Sanierung der Braunkohleindustriebrache verstärkt an. Bei allem Wohlwollen bezüglich der notwendigen Bestrebungen der BKB AG, neue Tätigkeitsfelder im Landkreis aufzubauen, sind neben den anvisierten bereits nicht unkritischen Projekten eines Kompostierwerkes und der Bauschuttaufbereitungsanlage, die weiteren Planungsabsichten einer Altreifenverbrennung sowie der Deponierung von Asbestzement und Asbestabfall 82 zu kritisieren, die sich im Hinblick auf den notwendigen ökonomischen Strukturwandel als kontraproduktiv erweisen könnten. Die überregionale Akzeptanz industrieller Altstandorte für Neuansiedlungen hängt davon ab, daß sie nicht der typischen „Industriekulisse“ entsprechen und vor allem, daß Verwerterunter-nehmen nicht das Bild bestimmen. Wer über ein derartiges breit gefächertes Potential wie die BKB AG, im Verbund mit der Preußen Elektra und der VEBA AG verfügt, sollte für die Landkreisentwicklung in neue Wege und zukunftsorientierte Produktbereiche investieren, die durch Innovationstätigkeiten, gerade im Forschungs- und Entwicklungssektor neuer Umwelttechnologien, dem Energieunternehmen angemessene Möglichkeiten verschaffen, den notwendigen Wandel der bisherigen Wirtschaftsstruktur im Landkreis konstruktiv und vorausschauend mitzugestalten. 3.1.6 Unternehmensorientierter Dienstleistungsbereich Die unternehmensbezogenen Dienstleistungszweige (Rechts- und Wirtschaftsberatung, Technische Beratung und Planung, Werbung und Ausstellungswesen) verzeichnen bundesweit (neben den Organisationen ohne Erwerbscharakter) das stärkste Beschäftigungswachstum, wobei sicherlich durch die Auslagerung diverser Funktionen aus den Produktionsunternehmen, dieser Trend allgemein beschleunigt wurde. Die unternehmensbezogenen Dienstleistungen konzentrieren sich dabei insbesondere in Zentren hochverdichteter Standorte. Erwartungsgemäß sind daher in teils ländlich geprägten Räumen mit Verdichtungsansätzen (wie im Landkreis Helmstedt) diese Dienstleister insgesamt unterrepräsentiert. Trotzdem besteht eine gewisse Erwartungshaltung im Hinblick auf den unternehmensbezogenen Dienstleistungsbereich, da ein Vorhandensein dieser „Betriebs-infrastruktur“ gleichzeitig als wichtiger Indikator für etwaige Standortentscheidungen innovativer Unternehmen zu bewerten ist. Insbesondere deshalb soll im folgenden auf die einzelnen Sparten der unternehmensbezogenen Dienstleistungen im Landkreis näher eingegangen werden: 82 Siehe: Braunschweiger Zeitung, Helmstedter Ausgabe, 09.03.1994. - 65 - Die aus der Tabelle III. 2.7 ersichtliche Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten nach Wirtschaftsbereichen, aus der u. a. hervorgeht, daß die vorwiegend wirtschaftsbezogenen Dienstleistungen mit insgesamt 1.535 angegeben werden, überlappt sich mit Berufsgruppen aus dem vorwiegend gesellschaftsbezogenen Dienstleistungsbereich. Hierzu zählen die Mitarbeiter/innen aus Kinder-, Ledigen-, Alters- und Tagesheimen. Aufgrund einer ungenügenden Klassifizierung konnte eine statistische Trennung nur ansatzweise vorgenommen werden. Es überwiegen hierbei die Wirtschaftsuntergruppen Kredit- und Finanzierungsinstitute (Banken) mit 896, die Architektur-, Ingenieurbüros, Laboratorien und ähnliche Einrichtungen, mit den erwähnten Heimen, mit zusammen 871 sozialversicherungs-pflichtig Beschäftigten. Die statistische bereinigte Gesamtanzahl aller vorwiegend auf den Wirtschaftskreislauf bezogenen, marktwirtschaftlich orientierten Dienstleistungen ergeben insgesamt bei Betrieben ab 10 bis 49 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten eine Betriebsanzahl von 18 mit 425 Beschäftigten und bei Betrieben ab 50 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten eine Betriebsanzahl von 2 mit 222 Beschäftigten. Das sind insgesamt 20 Betriebe mit 647 Beschäftigten. Analysiert man davon die Wirtschaftsunterabteilungen, kristallisieren sich (ab 50 Beschäftigten) ausschließlich Banken und (ab 10 bis 49 Beschäftigten) die Zweige Banken, Rechtsanwälte und Steuerberater heraus. Hervorzuheben ist die Deutsche Technische Akademie 83 mit 48 Beschäftigten und zwei Ingenieurbüros (eines für Steuerungstechnik) in Schöningen mit 30 und in Königslutter mit 10 Beschäftigten. Innovative Dienstleistungsunternehmen, die mitunter weniger als 10 Beschäftigten haben, bleiben hierbei unberücksichtigt. Im Raumvergleich der Landkreise lag Helmstedt 1991 mit 498 (davon 269 Stadt Helmstedt) sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im unternehmensbezogenen Dienstleistungsbereich an letzter Stelle, gefolgt von Peine (1107), Gifhorn (1145) und Wolfenbüttel (1434), (siehe Tabelle III. 2.4.7). Es kristallisiert sich heraus, daß der Landkreis Helmstedt aufgrund seines teils ländlich geprägten Strukturgefüges (wie erwähnt) erwartungsgemäß eine geringe unternehmens-orientierte Dienstleistungstiefe aufzuweisen hat. Trotzdem muß erwähnt werden, daß dieser wichtige „Baustein“ im Gefüge der Wirtschaftsstruktur des Landkreises unterrepräsentiert ist. Zu wirtschaftsbezogenen Dienstleistungen gehören auch zwei Zeitarbeitsfirmen, die auf Rechtsbasis des Arbeitsnehmerüberlassungsgesetzes in Helmstedt operieren und zusammen insgesamt ca. 83 Mitarbeiter zur Koordinierung dieser Aufgabenstellung beschäftigen. Dies ist ein Indikator für ein vorhandenes und stark ausgeprägtes Arbeitnehmerreservoir, das nicht in festen Arbeitsvertragsverhältnissen steht und tendenziell Un- und Angelerntentätigkeiten zeitlich befristet verrichtet. „Nach Untersuchungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) verdienen Elektriker, die bei einer Verleihfirma beschäftigt sind, 41 % weniger, Schweißer 25 % und Ingenieure 25% weniger als ihre festangestellten Berufskollegen.“84 Zusammenfassend ist hervorzuheben: Wenn es beispielsweise um Ansiedlungsabwägungen höherwertiger Industrieproduktionen geht, gehören neben Infrastrukturabwägungen und sozialdemografischen Faktoren auch das Technologiepotential zum Standortprofil eines Landkreises dazu. Der unternehmensorientierte Dienstleistungsbereich darf hierbei quasi als „Bindeglied“ für technologieintensive Industriezweige nicht fehlen. Ein hierbei zu attestierendes Defizit im Landkreis ist zugleich ein „Hemmnisfaktor“ zukünftiger Entwicklungstendenzen. 83 84 Anmerkung: Deutsche Technische Akademie im folgenden DTA genannt. IG Metall. Zeitung der Industriegewerksschaft Metall, 06.08.1993, Nr. 16, Seite 9. - 66 - Zu den Rahmenbedingungen innovativer unternehmensorientierter Dienstleistungsbereiche zählen auch die sogenannten „weichen“ Standortfaktoren wie Wohnumfeldqualitäten, kulturelles Klima. Hoch-, Fachhochschulanbindungen und Landkreisimage. Ein nicht unerheblicher Teil der „Ausstrahlung“ ist davon abhängig, ob der Landkreis seinerseits Wohnmöglichkeiten, Freizeit- und Erholungsmöglichkeiten und auch Erweiterungsmög-lichkeiten für Unternehmen bereitstellen kann. Zusammenfassend kann hierzu ergänzt werden, daß der unternehmensbezogene Dienstleistungsbereich in seiner Gesamtheit zukünftig eine Entstehung derjenigen Unternehmensfunktionen bewirken müßte, die der eigentlichen Produktion vor - (z.B. forschungsund entwicklungsintensive Betriebe) und nachgelagert sind (z.B. Marketing). Das weitgehende Fehlen dieser Unternehmensfunktionen bewirkt eine Abkoppelung von innovationsorientierten Entwicklungsansätzen. Ansätze einer neuen Marktorientierung für die DTA Weil die erwähnte DTA im Landkreis eine Ausnahmeposition einnimmt (das einzige Unternehmen für den Bereich Wissenschaft und Forschung), soll im folgenden auf dessen spezifische Situation und mögliche Entwicklungstendenz eingegangen werden. Die DTA bildet in- und ausländische Fachkräfte in den Bereichen Meß- und Prüfwesen, Normung und Qualitätssicherung in praxisnahen Kursen weiter, darunter auch Stipendiaten aus Entwicklungsländern. 1991 wurden insgesamt rund 150 Kurse mit 2.000 Teilnehmern veranstaltet, davon kamen 25 Prozent aus dem Ausland (aus 47 Ländern). Darüber hinaus orientiert sich das Leistungsspektrum der DTA zukünftig an folgenden Schwerpunkten: Dem Aufbau von Qualitätsmanagementsystemen, Qualitätssicherungssysteme für Labore, Motivations- und Kostensenkungsprogramme; im Bereich Dienstleistungen die Überwachung/ Prüfung der firmeneigenen Prüfmittel und -methoden oder auch im Bereich Zertifizierung für Prüfpersonal oder ganze Qualitätsmanagementsysteme. Zielvorstellung dieses Konzeptes ist ein nationales Zentrum für die Qualitätssicherung. Doch diverse Strategien erweisen sich in der Umsetzung als problematisch und auf dem Weg dahin ist das bestehende Rentabiliätsdefizit eine schwere Hürde. Nachdem Verhandlungen über die Eingliederung der DTA in die Fachhochschule BraunschweigWolfenbüttel und dem TÜV-Hannover ergebnislos verliefen, veräußerte das Land Niedersachsen seinen 90-%-Anteil an der DTA an die deutsche Tochter des internationalen Konzerns Societe Generale de Surveillance (SGS), mit Geschäftssitz in Genf (Schweiz).85 Die Wirtschaftlichkeitskalkulation der DTA war ein Zuschußgeschäft: Pro Jahr mußte die Landesregierung zwischen 1,5 und 2 Millionen Mark aufbringen, um das DTA-Geschäftsergebnis auszugleichen. Insgesamt wurden seit 1985 in die DTA rund 14 Millionen Mark investiert.86 Die deutsche Tochter der SGS Holding mit Sitz in Genf zahlte einen Kaufpreis von nur einer Millionen Mark und gab dafür als Gegenleistung eine auf nur zwei Jahre befristete Beschäftigungsgarantie bis März 1995 für die unter 50 angegebene Mitarbeiteranzahl. Eine mittelfristige Bestandsgarantie über die zwei Jahre hinaus muß als kritisch bewertet werden, da die neue Eignerin prinzipiell wirtschaftlich orientiert handelt und Weiterbildungsmaßnahmen auf Stipendiatenbasis Verlustrechnungen zur Folge haben. Dies ist Kernproblem der DTA: „Nach einer Anschubfinanzierung habe sie sich selbst tragen sollen, sei aber im Bereich der roten Zahlen geblieben.“ 87 85 86 87 Siehe: Braunschweiger Zeitung, Helmstedter Ausgabe, 15.07.1992. Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 23.06.1992. Wirtschaftsminister P. Fischer, In: Helmstedter Blitz, 29.12.1993. - 67 - Es besteht die Gefahr, daß sich der im Umsatzvolumen bisher größte Geschäftspartner, die VW AG, einerseits aus Kostengründen, andererseits aufgrund der geplanten VW-Entwicklungsfertigungstätte in Nordspanien als Auftraggeber weitgehend zurückziehen könnte. Ein weiterer Aspekt einer Bestandsgefährdung für die DTA besteht darin, daß die Drittländer nicht mehr an die technologischen Normen der Europäischen Union gebunden sind.88 Es ist nicht ausgeschlossen, daß flankierende Hilfen in Form von Bürgschaften und Kooperationen weiterhin nötig sein werden, um den Bestand der DTA abzusichern.89 Die folgenden Möglichkeiten sollen neue Marktsegmentierungen für die DTA skizzieren: Die gezielte Spezialisierung auf die Technologieberatung und den Technologietransfer wären für die DTA attraktive Tätigkeitsfelder. Ein maßgeblicher Teil dieser Aufgabenbereiche entfällt auf Prüfaufträge, die nicht gesetzlich vorgeschrieben sind. Diese "freiwilligen" Prüfungen werden von kleinen und mittleren Unternehmen erteilt, die damit nicht nur Qualitätsnachweise gegenüber ihren Auftraggebern erbringen, sondern mit den Prüfergebnissen auch das Know-how der Materialprüfung in ihre Produkte einfließen lassen. Eine langfristige Perspektive für die DTA kann nur gesehen werden, wenn Möglichkeiten stärker in Angriff genommen werden, bisherige Geschäftsfelder der qualitativ hochwertigen Serviceleistungen, speziell in den Bereichen Meßtechnik, Prüf- und Normwesen und der Qualitätssicherung mit neuen Kooperationspartnern konsequent weiter auszubauen. Zur Bestandsfestigung der DTA könnte ebenfalls beitragen, wenn ansiedlungsinteressierte Unternehmen einen Branchenbezug zur DTA aufweisen würden. Eine regionale Forschungsverflechtung zur Fachhochschule Braunschweig/Salzgitter wäre dahingehend erstrebenswert, die DTA zu einem Fachbereich dieser Fachhochschule auszubauen. Der neue, noch nicht erschlossene osteuropäische Markt wäre für die Serviceleistungen der DTA ein weiterer Anknüpfungspunkt, sowie die Möglichkeit, sich auf die Sektoren Abfall- und Energietechnik der im Umstrukturierungsprozeß befindlichen BKB AG zu konzentrieren. Auch für die erforderlichen beruflichen Qualifizierungsmaßnahmen wäre die DTA ein geeigneter Kooperationspartner, insofern die Angebotsstruktur auf den Bedarf abgestimmt wird und wettbewerbsfähige Angebotspreise offeriert würden. Die aufgezeigten Problemfelder der DTA verdeutlichen aber auch, daß diese Institution zur Zeit weder als Träger, noch als Kooperationspartner für eine im Landkreis benötigte Qualifizierungsoffensive in Frage kommen kann. Hieraus ist eine weitere Ausbaumöglichkeit für das Unternehmen abzuleiten, indem die DTA ihrerseits Voraussetzungen für ein regionales und überregionales Ausbildungsangebot (z.B. in der Sparte Umwelt) eröffnet, um in der Trägerlandschaft als innovativer Ansprechpartner zur Verfügung zu stehen. Der Veränderungs- und Anpassungsprozeß von einer behüteten Existenz im Schutze einer Landesbürgschaft zur rentabilitätsorientierten Marktwirtschaft ist für die DTA noch nicht überwunden. 3.1.7 Eigenständigkeit ansässiger Unternehmen Ein weiterer Ansatzpunkt für die Entwicklung eines Landkreises ist, wenn ein Wirtschaftsraum eigenständige und unabhängige Unternehmen aufweisen kann oder im Idealfall über Unternehmens- und Konzernzentralen verfügt. Ungünstiger bewertet wird, wenn im Landkreis 88 89 Siehe: Braunschweiger Zeitung, Helmstedter Ausgabe, 10.07.1993. Siehe: Helmstedter Blitz, 02.02.1994. - 68 - ansässige Betriebe als Zweigwerke oder konzerngebundene Unternehmen in hohem Maße von außen gesteuert werden. An dem Helmstedter Traditionsunternehmen BKB AG hält die Preussen Elektra eine 99,9 prozentige Mehrheitsbeteiligung, mit Geschäftssitz in Hannover. Die Preussen Elektra ist wiederum in der VEBA AG eingegliedert. Die in Büddenstedt ansässige Phönix AG ist Bestandteil der Phönix AG mit Geschäftssitz in Hamburg. Die Hellac (Helmstedter Lack- und Chemische Fabrik GmbH), gehört der Höchst AG in Frankfurt am Main. Die in Grasleben ansässige Kali und Salz AG ist dem BASF Konzern angegliedert. Die Zuckerfabrik Königslutter-Twülpstedt AG ist im Firmenbesitz der Zucker AG Uelzen-Braunschweig. Die SGS Société Générale de Surveilance mit Firmensitz in Genf (Schweiz) ist seit 1992 mit 90 Prozent an der DTA in Helmstedt mehrheitsbeteiligt. Trotzdem diese Auflistung keinen Anspruch auf Vollwertigkeit beansprucht, wird bereits ersichtlich, daß die beschäftigungsintensivsten Betriebe in ihren Entscheidungsprozessen von außerhalb des Landkreises gesteuert werden. Folgende Einschränkungen können aus diesem Sachverhalt geschlossen werden: - Grundlegende unternehmerische Entscheidungen, von denen die Landkreispolitik direkt betroffen sein kann, werden an Standorten außerhalb der Region getroffen. - In den Konzernstrukturen eingebundenen Betrieben oder Zweigwerken existiert mitunter verschärfter Wettbewerb zwischen den konkurrierenden Standorten. ein Der negative Trend auf dem Arbeitsmarkt, daß Stammpersonal durch Arbeitnehmer mit Zeitverträgen, Leih- und Werkvertragsarbeitnehmer ersetzt wird, ist in Zweigwerken ausgeprägter als in konzernintegrierten Unternehmen. Wenn in einem Zweigwerk ein niedriges Lohnniveau dominiert, ist die Bestandserhaltung des Standortes langfristig gefährdet. - Die Entscheidung für oder gegen den Ausbau eines bestimmten Werkes ist dabei von lokaler Ebene kaum beeinflußbar. Informationen über die Firmenstrategie sind der Politik und Verwaltung nur schwer zugänglich. - Ein Ausnahmefall liegt vor, wenn Erweiterungsabsichten am Standort von der Geschäftsleitung geäußert werden und hinsichtlich der verfügbaren Flächenreserven ein aktives kommunales Handeln erforderlich wird. - Dieser Ausnahmefall ist aber nicht der Regelfall. Deshalb kommt es bei der Übernahme von Betrieben in die organisatorische und technologische Einbindung in Konzernstrukturen erfahrungsgemäß zu einer Bereinigung der betrieblichen Funktionen. Die „Tertiarisierungshöhe“ wird in Zweigwerken des sekundären Sektors meistens abgebaut, was eine Ausdünnung dispositiver Funktionen zur Folge hat. Da die Kontrollinstanzen der Unternehmen diesbezüglich nicht mit, sondern ohne Einwirkungsmöglichkeiten des Landkreises über "ihn" letztendlich auch entscheiden, sind Standorte als Zweigwerke, deren Produkte auch in anderen Werken gefertigt werden können, als höchst gefährdet einzustufen. Es kann festgestellt werden, daß hierbei die Entscheidung über Produktionsverlagerungen und Standortzusammenlegungen (siehe Negativbeispiele anhand der Firmen Naue KG, Reika Technik GmbH und der Helmstedter Spinnerei GmbH; Tabelle III. 2.8.4) auf lokaler Ebene nicht beeinflußbar waren. Die Kritiker einer Ansiedlungskonzentration von Zweigwerken wurden durch diese 1992 und 1993 hervorgerufenen Konkurse prinzipiell bestätigt. - 69 - Daß über drei Viertel aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im sekundären Wirtschaftssektor der Landkreiswirtschaft in Zweigwerken, beispielsweise in konzernangehörigen Unternehmen beschäftigt sind, unterstreicht die Problematik der Uneigenständigkeit ansässiger Unternehmen in der Wirtschaftsstruktur. Rückblickend führte die „negative Zweigwerktradition“ im Landkreis Helmstedt insbesondere in der 82er Rezession zu reihenhaften Betriebszusammenbrüchen: Die ehemalige Roto Werke GmbH wurde als Zweigwerk der Pelikan-Informationstechnik GmbH in den Konkurs hineingerissen. Die Verlagerung der Fernkopiererproduktion von Braunschweig nach Berlin leitete die endgültige Schließung des Zweigwerkes der Siemens AG in Helmstedt ein. Vor dieser Produktionsumgestaltung wurden im Siemens Zweigwerk Helmstedt Signalfertigungsanlagen durch Aufträge der Bundesbahn gefertigt, die ebenfalls nach Braunschweig ausgelagert wurden. Außerdem stellte das Zweigwerk Alois Heinze den Betrieb ein.90 Von der weiteren Globalisierung der Märkte, inbesondere durch Einbeziehung des „begehrten Standorts Osteuropa“, sind in erster Linie solche heimischen Standorte betroffen, deren Betriebe vorwiegend als Zweigwerke oder konzerngebundene Unternehmen von außerhalb gesteuert werden. So erhöhte sich der Kapitalfluß in Richtung Osteuropa von 446 Millionen Dollar (1989) auf 4550 Millionen Dollar (1990) für Direktinvestitionen in der ehemaligen Tschechoslowakei, in Ungarn, Polen und Slowenien.91 Die Gründe scheinen klar: Die Lohn- und Lohnnebenkosten liegen in den „teuersten“ osteuropäischen Ländern nur bei einem Zehntel dessen, was tariflich in der Bundesrepublik Deutschland bezahlt wird. Die Arbeitnehmer/innen sind in der Regel auch noch gut ausgebildet. Für die in der Regel bestehenden Abhängigkeiten dominierender Unternehmen im wirtschaftlichen Landkreisgefüge Helmstedts ergeben sich für zukünftige Entwickungstendenzen folgende Risikofaktoren: Mit der ökonomischen Öffnung der Außengrenzen und der Realisierung des EUBinnenmarktes wird sich der ex- und interne Wettbewerb von Branchen auch zwischen Standorten und Regionen radikal verschärfen. Die dabei wachstums- und strukturschwächeren Branchen sind überwiegend in benachteiligten peripheren Regionen angesiedelt und werden auch weiterhin mit beschleunigter Intensität Reduzierungsmaßnahmen hinnehmen müssen, die eine Bestandsgefährdung der Restgröße beinhalten können. Insbesondere der südostasiatische- und mit Abstand der erwähnte osteuropäische Wachstums-markt wird durch die erzwungene stärkere Öffnung der EU-Außengrenzen den Kostendruck auf die industrielle Kernproduktion extrem erhöhen. Von dieser Globalisierung der Weltmarktstruktur ist der heimische Wirtschaftsraum potentiell gefährdet. Diese veränderten Rahmenbedingungen bewirken in erster Linie eine Auslagerungstendenz weiterer Firmen, die als Zweigwerke „ferngesteuert“ sind und eine standardisierte Prodkuktionspalette aufweisen. Eine koordinierte Gegensteuerung erscheint kaum erfolgversprechend. Weil in der Tendenz unternehmerische Konzentrationsprozesse und Konzernstrukturen zunehmen, die sich zu immer größeren Wirtschaftseinheiten entwickeln und deren Produktionsstätten weltweit operieren, wird die regionale Wirtschaftsentwicklung erheblich fremdbestimmt. Diese wohl zutreffenden Argumente sind aus volkswirtschaftlicher Sichtweise insofern relativierbar, weil den dortigen im Aufbau befindlichen Volkswirtschaften in Osteuropa auch die politische Chance gegeben werden muß, sich ökonomisch zu entwickeln. Anderenfalls würde dort aus der ökonomischen eine politische Instabilität größerer Dimension entstehen, die auf die gesamte Europäische Union eine äußerst negative Rückwirkung hätte. 90 91 Siehe: Landkreis Helmstedt. Verwaltungsbericht 1981 bis 1986. Seite 152. Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 28.07.1993 und Süddeutsche Zeitung, 30.07.1993. - 70 - 3.1.7.1 Technischer Fortschritt und Landkreisentwicklung Der niedersächsische Wirtschaftsminister P. Fischer hielt sich im September 1993 mit Unternehmern aus Niedersachsen in der Tschechischen Republik auf. „Innerhalb Deutschlands hat Niedersachsen die führende Rolle in der Kooperation mit den Tschechen übernommen. 688 Millionen DM sind von Januar 1990 bis März 1993 von Niedersachsen aus in den Nachbarstaat Deutschlands investiert worden.“ 92 Ziel der Informationsreise sollte es sein, auch kleinen und mittleren Unternehmen aus Niedersachsen Investitionen in der Tschechischen Republik zu ermöglichen. Um Investitionen weiterer Firmen abzusichern, hat das Wirtschaftsministerium ein 250 Mio. DM Programm aufgelegt. Das Land gibt dabei Bürgschaften zur Finanzierung von Beteiligungen etwa in der Tschechischen Republik. 93 Auf Basis des technischen Fortschritts vollzog sich in anderen Regionen Niedersachsens eine ökonomische Entwicklung (z.B. Großraum Hannover, Braunschweig oder Oldenburg) die nicht nur eine Antriebskraft des Strukturwandels der Wirtschaft einleitete, sondern ebenso zu durch technischen Fortschritt verursachte ökonomische Transformationsprozessen führte, die dort zu intraregionalen, interregionalen und anhand des Beispiels auch zu internationaler Verlagerung wirtschaftlicher Aktivitäten aus den jeweiligen Standorten heraus führten. Die Voraussetzungen zu einer erfolgversprechenden Partizipation heimischer Unternehmen an diesem Entwicklunsprozeß sind grundsätzlich nicht gegeben. Der fehlende technische Fortschritt, sowie der geringe Technologiebestand bei ausgebliebener oder abgekoppelter Technologieintensität bewirken insgesamt, daß bereits im regionalen Vergleich kaum wettbewerbsfähige Produkte, weder in Spitzentechnologie, noch in den Gebrauchstechnologien im Landkreis entwickelt oder hergestellt werden, die eine wettbewerbsfähige Vermarktung hervorrufen. Dieses Beispiel verdeutlicht zum einen, daß heimische Unternehmen spürbar höherwertige Produkte aufweisen müßten, um neue Märkte zu erschließen und zum anderen, daß nur in überregionaler Verflechtung und durch internationale Arbeitsteilung sich der Wirtschaftsstandort Landkreis Helmstedt langfristig erfolgreich sichern läßt. Nimmt man die „Produktzyklus-Hypothese“ als Vergleichsmaßstab hinzu, nach der sich neue Produkte und neue Branchen in vier Phasen aufgliedern: 1. Entwicklungs- und Einführungsphase 2. Wachstumsphase 3. Reifephase 4. Schrumpfungsphase 94 so sind die Zukunftsaussichten von Unternehmen, die vorrangig „ältere“ Güter in stagnierenden Branchen produzieren, als äußerst problematisch einzustufen. Bereits ab 1967 vollzog sich in der BKB das Ende der Reife- in die Schrumpfungsphase und die Westeuropäische Automobilindustrie vollzog diesen identischen ökonomischen Transformationsprozeß 1992/93. Das gilt ebenso für die meisten Wirtschaftszweige im produzierenden Gewerbe der Sachgüterproduktion des Landkreises, die in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung stagnierenden und einen Bedeutungsverlust erleiden. Ein anderer Aspekt ist die Standortdauer und Verlagerung entsprechender Branchen. In Folge dessen verschieben sich die Standortzyklen von Produkten aus dem Zentrum in die Peripherie. 92 93 94 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 03.09.1993. Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 03.09.1993. Siehe, Schätzl, L. Wirtschaftsgeographie 1, Theorie, 4. Auflage. Paderborn/München 1992. S. 193. - 71 - Beispielhaft für die Landkreisentwicklung kann diesbezüglich herangezogen werden, daß es sich, rückwirkend betrachtet, z.B. im Ansiedlungszeitraum 1968 bis 1982, offensichtlich größtenteils um Unternehmen handelte, die aufgrund der überwiegend einfacheren Güterherstellung damals bereits aus dem intraregionalen Produktionszentrumsstandort zur interregionalen Peripherie in den Landkreis Helmstedt ver- oder ausgelagert wurden. Die erwähnte Förderpräferenz und die ebenfalls analysierte Praxis von tendenziell niedrigen Löhnen und mobilen Arbeitsplätzen förderten diese Entwicklung erheblich. Heute in der Gegenwart vollzieht sich im Ablaufmuster der Produktionsstandortzyklen die letzte Etappe, in der eine Verlagerungsgefahr und -praxis gerade dieser Betriebe zur internationalen Dezentralisierung der Produktion erfolgt. Dabei verlagern sich in der Regel nicht ganze Unternehmen, sondern ihre Betriebsteile. Im Zentrum bleiben Geschäftsleitung, Forschung- und Entwicklungsinvestitionen, das übrige Innovationspotential und qualifizierte Arbeitskräfte. In die Peripherie verlagern sich Betriebsteile, die von einer zunehmenden Standardisierung des Herstellungsverfahrens gekennzeichnet sind und dem sich verschärfenden Qualitäts- und Preiswettbewerb unterliegen. Veränderte Standortanforderungen - anhand der praktischen Beispiele „Reika-Technik GmbH“, „Helmstedter-Spinnerei GmbH“ und „Naue KG“ verdeutlicht - bewirkten nach der funktionalen Standortsspaltung oder Zweigbetriebsgründungen der 60er, 70er und 80er Jahre, die letzte Phase der Abwanderung in die neuen Niedriglohnländer außerhalb nationaler Grenzen. Die Bewältigung der zukünftigen Herausforderungen an den Landkreis dürften ohne eine enge Kooperation und Bündelung aller Kräfte kaum möglich sein. Es muß hiermit wiederholt werden, daß die beschleunigte Intensität des ökonomischen Strukturwandels den Landkreis Helmstedt voll erfaßt hat. 3.1.7.2 Stadtumlandentwicklung von Helmstedt Seit mehreren Generationen wachsen die größeren Städte über ihre Grenzen hinaus, bilden mit Umlandgemeinden ein geschossenes Siedlungsgebiet und lassen in weiteren Gemeinden die Siedlungsdichte beachtlich steigen. Der Einzugsbereich von Städten dehnt sich tendenziell vor allem durch die Umlandwanderungen mehr und mehr über die Stadtgrenzen in ihr unmittelbares Umland aus. Bevölkerungsentwicklung, Industrie- und Dienstleistungsdichte verlagern sich ebenfalls aus der Kern- in die neuen Randzonen. Diese „Stadt-Umland-Entwicklungstendenzen“ ließen Verdichtungsräume (z. B. Großraum Hannover) entstehen. Auch die Stadt Wolfsburg konnte durch die Gebiets- und Verwaltungsreform von 1972 eine beschleunigte Stadt-Umland-Entwicklung vollziehen. So wurde die Stadt Fallersleben aus dem Landkreis Gifhorn ausgegliedert und zum Stadtteil von Wolfsburg erklärt. Eine identische Veränderung erfolgte im Ostteil des Stadtgebietes, wo die Stadt Vorsfelde aus dem Gefüge des Landkreises Helmstedt ausgegliedert und ebenfalls der Stadt Wolfsburg als Stadtteil zugeführt wurde. Eine grundsätzlich nachvollziehbare raumordnungspolitische Entscheidung, die den veränderten Bedingungen Rechnung trug. Auf die Stadt Helmstedt bezogen, ergibt sich hieraus jedoch ein Problem und zugleich ein weiterer Erklärungsansatz für die festgestellten ökonomischen Entwicklungsdiskrepanzen, weil ein vergleichbarer räumlicher Entwicklungsvorgang in Helmstedt nicht stattfand. Das Defizit in der Stadtumlandentwicklung von Helmstedt wäre unter Umständen nicht so gravierend, wenn die „historisch verpaßte Chance“ einer beabsichtigten Großansiedlung der VW Transporterfertigung (Standort: Hannover, Stadtteil Stöckheim) Mitte der 50er Jahre zwischen Helmstedt und Emmerstedt eingetreten wäre. Vermutlich ist dieses bedeutende - 72 - Investitionsvorhaben aufgrund eines Einspruches der BKB AG nicht zustande gekommen, welche diesbezüglich Schürfrechte geltend machen konnte. 95 Dieses Managerverhalten war in den 50er bis 60er Jahren typisch, wobei auch in anderen Regionen Ansiedelungskonkurrenten von den vor Ort operierenden Unternehmen daran erfolgreich gehindert wurden, sich niederzulassen. Die entwicklungshemmende deutsch-deutsche Grenze bis September 1989 ist die Hauptursache dafür, daß die traditionelle Industrieachse innerhalb der Region Südostniedersachsen von Wolfsburg im Norden über Braunschweig und Peine sich nach Osten Richtung Helmstedt nicht entwickeln konnte. Die Industriealisierungsschwerpunkte der Nachkriegsentwicklungsphase haben das industrielle Entwicklungsband der Ost-West-Achse unterbrochen und neue zentralörtliche Wirtschaftsräume entstehen lassen. In Folge dessen sind fünf von sieben Städten Südostniedersachsens über ihre ursprünglichen Verwaltungsgrenzen hinausgewachsen. Zu den Ausnahmen gehört die Stadt Helmstedt.96 Ganz Niedersachsen ist von Verdichtungen unterschiedlichster Größe durchsetzt. Die Gliederung zwischen Kernstädten und Ergänzungsgebieten kann in drei Zonen aufgeteilt werden: - hochverdichtetes Zentrum - Zentrum/Nebenzentrum - übriges Kerngebiet „Kleine Mittelstadtregionen“ wie die Kreisstadt Helmstedt mit Mittelzentrumfunktion überhaupt als Agglomeration zu betrachten, erscheint zweifelhaft. Auch die hierbei als zusätzliche Bemessungsgrenze herangezogene „Einwohener-Arbeitsplatz-Dichte“ (EAD), in der ein räumlicher Zusammenhang zwischen Einwohner und Arbeitsplatzdichte hergestellt wird, sollte nicht unvoreingenommen verwandt werden. Trotzdem kann unter Berücksichtigung der problematisch erscheinenden äußeren Abgrenzung und inneren Gliederung von Verdichtungsgebieten dieser methodischen Agglomertionstheorie als Ergebnis aufgeführt werden, daß die Stadt Helmstedt bei der durchschnittlichen EinwohnerArbeitsplatz-Dichte (hier als mittlere Kleinstadtregion), im Jahresvergleich 1970 und 1987, die Gesamtsumme von 0,6% einnimmt. Vergleichswerte hierzu zeigen im direkten Raumvergleich eine Bandbreite von 0,5% bis 1,4% auf.97 3.1.8 Grenzöffnung - wirtschaftliche Entwicklung und Strukturwandel im Landkreis Helmstedt Wirtschaftsraum Bevor der ökonomische Prosperitätsschub durch die Öffnung der innerdeutschen Grenze dargestellt wird, soll auf die in der Vergangenheit entwicklungshemmende Charakteristik der Gemeinden an der innerdeutschen Ostgrenze in Niedersachsen im Vergleich zu Nordhorn an der Westgrenze eingegangen werden. Helmstedt als größte niedersächsische Stadt an der ehemaligen geschlossenen Ostgrenze im Vergleich zu Nordhorn an der offenen Westgrenze zu den Niederlanden zeigten exemplarisch gegenläufige Entwicklungen: 95 Informationen aus einem persönlichen Hintergrundgespräch mit dem Zeitzeugen Herrn Werner Wulf †. Siehe: Raumplanungsgutachten Südostniedersachsen, die großen Städte im Planungsraum Südostniedersachsen, Teil II a, Hannover 1965, Seite 4. 97 Siehe: Schneppe, F. Agglomerationen 1970 und 1987, Abgrenzung und Gliederung. In: Nieders. Landesamt für Statistik, Statistisches Monatsheft 10. Hannover 1992. Seite 314 ff. 96 - 73 - „Während die Beschäftigtenanzahl Nordhorns um 2,7 % auf 17.242 wuchs, nahm diejenige Helmstedts im gleichen Zeitraum (von 1981 bis 1989, jeweils am 30.06.) um 6,8% auf 10.369 ab.“ 98 Beide Städte sind von gravierenden Strukturkrisen geprägt: Helmstedt von dem Braunkohlebergbau und Nordhorn von der Textilindustrie. Die Grenzlage von Nordhorn wirkte sich durch die engen wirtschaftlichen und politischen Kooperationen und Verflechtungen positiv aus, während hinter Helmstedt die Grenzziehung zweier rivalisierender Weltsysteme lag. Insofern begünstigte die Grenzlage Nordhorns einen dortigen positiven Struktureffekt, während die Grenzlage Helmstedts ein eindeutiger Standortnachteil darstellte. Auch die Bevölkerungszahl, Zusammensetzung und Entwicklung ist ein Spiegelbild der ökonomischen Situation. Der Landkreis ist bis September 1989 von einer ausgeprochenen ungünstigen Bevölkerungsentwicklung geprägt gewesen (siehe Tabellen III. 2.5.4 und III. 2.5.4.1) und verzeichnete in den 80er Jahren eines der höchsten Geburtendefizite in Niedersachsen. Vor dem Hintergrund einschneidender Veränderungen durch die Öffnung der innerdeutschen Grenze und der fortschreitenden ökonomischen Integration Europas mit Auswirkungen auf den beschleunigten Strukturwandel in der Bundesrepublik Deutschland, sollen im folgenden die wirtschaftlichen Auswirkungen der Grenzöffnung auf den Landkreis Helmstedt dargestellt werden. Zunächst geht es um die Fragestellung, ob sich die analysierten eher ungünstigen Entwicklungsperspektiven der 70er und 80er Jahre durch die veränderten Bedingungen seit September 1989 im Zuge der Wiedervereinigung für die ökonomische Landkreisentwicklung nachhaltig verbessert und gegebenenfalls langfristig positiv ausgewirkt haben? „Nur wenn die Kapazitäten selbst erhöht werden, scheint es sinnvoll, von Wachstum auszugehen.“99 Durch das in der Tat eingetretene Wirtschaftswachstum konnte bei den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zum 30.06. eines Jahres für 1991 der Beschäftigtenstand von 1981 wieder übertroffen werden. Bei der Veränderungsrate für 1990 im überregionalen Vergleich zu 1991 konnte der Landkreis Helmstedt von allen 38 niedersächsischen Landkreisen, im Vergleich zu den 4 Regierungsbezirken, zum Land und zum Bund mit 8,7 Prozent die höchste positive Veränderungsrate aufgrund der deutschen Einheit erzielen. Durch die Einheit Deutschlands wurde die heimische Wirtschaft begünstigt, weil die räumliche Nähe zu den neuen Absatzmärkten durch die expansiven Nachfrageimpulse aus Sachsen-Anhalt besonders dem Landkreis Helmstedt zugute kamen: Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte im Landkreis Helmstedt im produzierenden Gewerbe, Stand jeweils am 30.06. 1990 10.269 1991 1.192 1992 11.291 Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte im Landkreis Helmstedt in der Energiewirtschaft, Bergbau und verarbeitenden Gewerbe, Stand jeweils 30.06. 98 1990 1991 1992 8.845 9.602 9.598 Siehe: Statistische Monatshefte 10/1992. Niedersächsisches Landesamt für Statistik. Hannover 1992, Seite 324. Siehe: Pätzold, J. Stabilisierungspolitik, Grundlagen der nachfrage- und angebotsorientierten Wirtschaftspolitik. Bern/Stuttgart 1991. Seite 38. 99 - 74 - Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte im Landkreis Helmstedt im verarbeitenden Gewerbe, Stand jeweils 30.06. 1990 1991 1992 5.675 6.449 6.491 Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte im Landkreis Helmstedt im Dienstleistungssektor, Stand jeweils 30.06. 1990 10.320 1991 11.186 1992 11.688 (Datenquellen jeweils Niedersächsisches Institut für Wirtschaftsforschung e.V. ,Regional-bericht 1989/ 90/ 91 und vom 30.06.1992, Hannover 1992 und 1993). Die Folgewirkung einer Konsolidierung bei der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung bewirkte (trotz angespannter Wohnsituation) auch eine Stabilisierung der Bevölkerungsentwicklung des Landkreises Helmstedt. Seit der Volkszählung vom 13.03.1950 bis zum niedrigsten Wert im Jahre 1986 von 96.011 Einwohnern, ist die Bevölkerungsentwicklung durch einen permanenten Rückgang gekennzeichnet gewesen, der insbesondere durch Geburtendefizite und vor allem Wanderungsverluste hervorgerufen wurde. Die neue allmähliche Aufwärtstendenz verdeutlichen folgende Zahlenwerte: Anstieg von 98.541 Landkreisbewohnern (1989) auf 100.184 (1990), wobei der Stand von 100.247 (1978) nicht ganz erreicht wurde, (siehe: Tabelle III. 2.5.3). „Als Auswirkungen der Herstellung der deutschen Einheit auf die Geschäftslage registrierten die Betriebe aller Branchen im Zonenrandgebiet bereits aufgrund der innerdeutschen Grenzöffnung eine kräftige Wachstumsdynamik. In besonderem Maße profitierten hiervon die konsumnahen Bereiche des Nahrungs- und Genußmittelgewerbes sowie des Handels. Jeweils über 80 Prozent der Betriebe dieser Branchen konnten eine leichte oder gar starke Verbesserung ihrer Geschäftslage feststellen.“100 Mit der Öffnung der innerdeutschen Grenze hat sich für den Dienstleistungssektor die wirtschaftliche Ertragssituation noch nachhaltiger verbessert als für das produzierende Gewerbe. Gerade der Handel konnte vom Einheitsboom beachtlich profitieren. Insbesondere die Kaufkraftbindung des Mittelzentrums Helmstedt hat davon eindeutig profitiert. Handel und Handwerk des Landkreises Helmstedt erhielten ihren ursprünglichen Wirtschaftsraum zurück. Kaufkraftrückgänge durch die stagnierende ökonomische Entwicklung, aber auch der forcierte Ausbau der Dienstleistungsinfrastruktur in Sachsen-Anhalt haben den unerwarteten Höhenflug im nachhinein deutlich reduziert. Infolgedessen hat die Nachfrage aus dem neuen Bundesnachbarland Sachsen-Anhalt auch unter dem Eindruck enormer Struktur- und Arbeitsmarktprobleme vor Ort bereits wieder erheblich an Schubkraft verloren. Auch westdeutsche Konsumgüterproduzenten haben eigene Filialen und Produktionsstätten in den neuen Bundesländern übernommen bzw. aufbauen lassen, von denen zum Teil wachsende Konkurrenz auf die alten Bundesländer ausgeht. Außerdem ist zu berücksichtigen, daß die Faszination westlicher Markensegmente und Werbungsmechanismen in den neuen Bundesländern immer mehr verblassen. Nach der ersten großen Bedarfswelle normalisieren sich die Verhältnisse zunehmend und die Konsumgewohnheiten gleichen sich zwischen den neuen- und alten Bundesländern an.101 100 Offner, M. Das Zonenrandgebiet nach der deutschen Einigung. Studien des Forschungsinstituts für Wirtschaftspolitik an der Universität Mainz, Mainz 1991, Seite 252. 101 Siehe: Handelsblatt, 22.07.1992. - 75 - Durch die ökonomische Landkreisentwicklung hat sich das Wirtschaftswachstum zunächst insgesamt stark beschleunigt, aber auch verschoben. Besonders günstig waren aufgrund des Nachfrageschubs aus Sachsen-Anhalt die Wirkungen auf den Einzel- und Großhandel, die Kreditinstitute und Versicherungen. Im sekundären Sektor profitierte in erster Linie die konsumgüterproduzierenden Industriezweige und deren Zulieferer, zum Beispiel das Ernährungsgewerbe, die Bauwirtschaft und die von der Baunachfrage abhängigen Zulieferindustrien. Seit Öffnung der innerdeutschen Grenze und des allmählich aber kontinuierlich verlaufenden ökonomischen Integrationsprozesses zwischen Niedersachsen und Sachsen-Anhalt erhielt auch das produzierende Gewerbe im Landkreis Helmstedt eine vorübergehende Schubkraft, die kurzfristig eine überdurchschnittliche Dynamik aufwies. Das in der Tat eingetretene Wirtschaftswachstum ist als quantitatives Wachstum zu definieren und hat in Folge dessen keinen wirtschaftlichen Strukturwandel herbeigeführt. Auch ein ansatzweiser Erneuerungsprozeß der Wirtschaft ist im Landkreis Helmstedt ausgeblieben. Diese aufschiebende Wirkung brachte für die ökonomische Landkreisentwicklung einen kurzfristigen und spürbaren Boom. Die Wiedervereinigungskonjunktur begünstigte auch wettbewerbschwache Industrien im Landkreis Helmstedt und im übrigen in ganz Niedersachsen, was beim bisherigen Muster des technologischen Strukturwandels mit seiner Innovations- und Qualifikationsneuorientierung nur eine „Atempause“ bewirkte. Trotz des zwischenzeitlichen Anstieges sozialversicherungspflichtig Beschäftigter konnte der hohe Arbeitslosensockel nicht reduziert werden. Nach der Vereinigungskonjunktur kristallisierte sich das vorherige Muster einer stagnierenden Branchenstruktur in einer insgesamt ungünstigeren Wettbewerbspostion wieder verstärkt heraus. Es ist auf Grund dessen davon auszugehen, daß der Stand sozialversicherungspflichtig Beschäftigter von 1992 durch steigende Arbeitsplatzverluste in der mittelfristigen Entwicklung nicht wieder erreichbar sein wird. Bezüglich der Bevölkerungsentwicklung, die rückblickend bis zur Grenzöffnung von einer ungünstigen Wanderungsbilanz geprägt war (siehe Tabellen III. 2.5 bis III. 2.5.2), wird die zukünftige Entwicklung wieder einen negativen Wanderungssaldo aufweisen, der auch den dringend benötigten innovativen Strukturwandel zusätzlich erschweren wird. Die vorliegenden Ergebnisse der Bevölkerungsfortschreibung zum 30.06.1993 weisen für Niedersachsen einen deutlichen Bevölkerungsanstieg im ersten Halbjahr 1993 aus. Ein Blick auf die regionale Bevölkerungsentwicklung zeigt jedoch, daß in den drei Landkreisen Helmstedt, Goslar und Osterode (alle an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze), eine stagnierende Bevölkerungsentwicklung eingetreten ist.102 Handel und Handwerk Auch das Handwerk in den alten Bundesländern profitierte insgesamt von der Vereinigung der beiden deutschen Staaten: Der neue ostdeutsche Absatzmarkt trug mit dazu bei, daß der reale Umsatz um 6,2 Prozent gesteigert werden konnte.103 Von der Öffnung der innerdeutschen Grenze konnten im Handel die Unterhaltungselektronik im unteren bis mittleren Preissegment und die Automobilhändler am meisten profitieren. Das Handwerk konnte durch den Nachfrageschub insbesondere in den Bereichen Elektroinstallationen, Heizungs- und Sanitärgewerbe und Dachdeckerei seine Position überdurchschnittlich ausbauen. 1992 wurden im Landkreis Helmstedt 25 vollhandwerkliche Betriebe neu eingetragen, denen 48 Löschungen gegenüberstanden. Daraus ergibt sich insgesamt eine Bestandsverringerung um 23 102 Siehe: 103 Siehe: Niedersächsisches Landesamt für Statistik, Statistische Monatshefte. Hannover 2/1994. Seite 61. Hannoversche Allgemeine Zeitung, 28.07.1992. - 76 - Betriebe.104 Insgesamt wurden jeweils am 31.12. des Jahres 1991 539 und 1992 516 vollhandwerkliche Betriebe im Landkreis Helmstedt gezählt.105 Die Spezialisierungsstruktur des Handwerks zielt auf persönliche Dienstleistungen und hat insgesamt eine relativ niedrige Dichte aufzuweisen, die jedoch an der gesamten Wirtschaftsdichte des Landkreises gemessen, einen Mittelwert aufweist. Im dritten Quartal des Jahres 1992 verzeichnete der Handel in der Region eine deutliche Verschlechterung des Geschäftsklimas. Der IHK-Konjunkturindikator für den Einzelhandel sank von minus 9 im Vorquartal auf minus 25 im dritten Quartal 1992.106 Insbesondere Helmstedt wird für eine längere Übergangszeit als Einkaufsstadt insbesondere für die Landkreise der DEUREGIO Ostfalen attraktiv sein. Der Einzelhandel wird vor allem im Bereich preisgünstiger Angebote profitieren, in der längerfristig eine verstärkte Nachfrage nach längerlebigen Gütern der mittleren Preisklasse zu erwarten ist. Zu den Trends im Konsumbereich ist bezüglich der Kaufgewohnheiten in Ost- und Westdeutschland zu beachten, daß „die Verbraucher in West- und Ostdeutschland offensichtlich auch angesichts des Konjunkturtiefs 1993 immer enger zusammenrücken. So verhalten sich die Konsumenten in beiden Teilen Deutschlands zunehmend ähnlicher. Dies gilt von der Geldanlage bis zum Kauf von Lebensmitteln. Ein Zusammenwachsen der Verbraucherwünsche aus den alten und neuen Bundesländern erfolgt in den einzelnen Branchen allerdings in unterschiedlichem Tempo. Zu diesen Ergebnissen kommt eine Verbraucheranalyse des Bauer Verlags, Hamburg, sowie der Axel Springer AG, Hamburg/Berlin.“107 Mittelfristig werden sich Handel und Handwerk darauf einstellen müssen, daß sich Bau- und Verbrauchermarktbereiche von westdeutschen Unternehmen verstärkt im sachsen-anhaltinischen Raum ansiedeln werden, die aufgrund der dortigen begrenzt vorhandenen realen Kaufkraftmöglichkeiten auch verstärkt um Käufer aus Niedersachsen werben. Dies hätte auch unmittelbare Auswirkungen auf das Nachfrageverhalten im Landkreis Helmstedt. Das Handwerk operiert (fast ausschließlich) innerhalb des Landkreises. Filialen oder Kooperationen außerhalb des Landkreises sind die Ausnahme. Lediglich in wenigen Helmstedter Unternehmungen hat sich nach dem Abflachen des Einheitsboomes die Erkenntnis durchgesetzt, daß die neue Nachfragekaufkraft aus Sachsen-Anhalt langfristig angebotsorientiert nur vor Ort gehalten werden kann. Die Entwicklung der innerstädtischen Bereiche von Helmstedt, Königslutter und Schöningen, die ja trotz Fortschritte durchweg sanierungsbedürftig sind, sollten durch eine ausreichende Revitalisierung alter Bausubstanzen und kultureller Baudenkmäler eine Urbanisierung herstellen, die ein symbiotisches Verhältnis zwischen Warenhäusern, Textilhäusern, Boutiquen und dem Facheinzelhandel fördern. Diese Strategie erscheint schon deshalb vorausschauend und notwendig, um einem weiteren Abdriften der Kaufkraft zu den Stadträndern (beispielsweise Elbe-, Flora- und Saalepark) erfolgreich entgegenzuwirken. Daß sich der gesamte Dienstleistungssektor zum bisherigen Volumen überhaupt entwickeln konnte, ist ein Indiz dafür, in welch hohem Maße die Einkommens- und Kaufkraftbindung der VW AG und mit Abstand der BKB AG dazu beigetragen hat. Die Hauptschubkraft des heimischen Handels und Handwerk resultiert hauptsächlich aus dem hohen Lohn- und Gehaltsniveau der VW AG. Der tendenzielle Personalabbau im VW-Werk in Wolfsburg und der weiter anhaltende Bedeutungsverlust der BKB AG wird sich auch auf die Konsumnachfrage im Landkreis Helmstedt verstärkt auswirken. 104 Siehe: Handwerkskammer Braunschweig, Jahresbericht 1992. Seite 10. Ebenda, Seite 10. 106 Siehe: Braunschweiger Zeitung, Helmstedter Ausgabe, 20.10.1992. 107 Handelsblatt, 07.07.1993. 105 Siehe: - 77 - Anknüpfend am bestätigten Wirtschaftstrend, daß sich ein konjunktureller Rückgang in wirtschaftlich schwächeren Gebieten besonders verstärkt auswirkt, ist diesbezüglich davon auszugehen, daß der bereits eingetretene Umsatzrückgang im Handel und Handwerk sich nachhaltig auf Umsatz, Rendite und letztlich auch Arbeitsplätze negativ auswirken wird. Die Wirtschafts- und Steuerkraft des Landkreises wird beispielsweise durch die permanente Reduzierung des Auspendleranteils ins Wolfsburger VW-Werk und die mit der Vier-Tage-Woche verbundenen weiteren Einkommensreduzierung bei VW ab 01.01.1994 an Kaufkraft gravierende Verluste verkraften müssen. Insbesondere der Handel und das Handwerk werden ein reduziertes Umsatzvolumen haben. Beispielsweise sind die Geschäfte in der Helmstedter Karutz-Markt-Passage zur Zeit nur zu 65% ausgelastet und die Finanzierungsprobleme des Schuldners C. Karutz KG veranlaßten die Gläubigerbank einen Zwangsverwalter einzusetzen.108 Die dynamische Entwicklungstendenz der EG bewirkt insbesondere für den heimischen Handel und das Handwerk Risiken und Chancen zugleich. Typisch mittelständisch strukturierte Bereiche werden unter zunehmenden Anpassungsdruck geraten und unter den Bedingungen veränderter Wirtschaftsbeziehungen überregionale Verflechtungen (eventuell mit Kooperationspartnern) verstärkt aufbauen müssen. Wer nicht über das Kapital oder „Know-how“ verfügt, gerät in erhöhter Gefahr, den Anschluß an veränderte Bedingungen des Marktes zu verlieren. Hierbei wären Perspektiven durch einen gezielten Kapazitätsausbau zu sehen, in der parallel zur überwiegenden Nahabsatzorientierung eine regionale Verflechtung mit Marktspezialisierung auf höherwertige Handwerksleistungen aufzubauen ist. Eine diesbezügliche Gewerbeflächenbereitstellung für Unternehmen mit Erweiterungsabsichten sollte vorausschauend zur Verbesserung der kommunalen Wirtschaftsstruktur rechtzeitig in Angriff genommen werden. Diese Maßnahmen verlangen eine intensive Beratung und Betreuung der ansässigen Betriebe und eine kontinuierliche Begleitung dieser Entwicklungsprozesse. 3.1.9 Ökonomische Indikatoren Die tendenzielle Landflucht aus den Gemeinden hinterläßt verfallene Höfe. Der Restbestand von landwirtschaftlicher Erwerbstätigkeit führt mit unter zu der Situation, daß Tätigkeiten und Arbeitsabläufe sehr oft an wenigen, nicht selten sogar nur an einer einzigen Person hängen. Eine negative Beeinträchtigung des Standortprofiles Stadt Helmstedt wird durch das Atommüllendlager Morsleben bei Helmstedt gesehen. Erhebliche sicherheitstechnische Einwände gegen den Weiterbetrieb des Atommüllendlagers Morsleben, insbesondere der Gefahrenverdacht jenseits der genehmigten Betriebsphase, also nach dem 30.06. des Jahres 2000 und das Gefährdungspotential einer vermuteten schleichenden Trinkwasserverseuchung, beinhalten unkalkulierbare Gefährdungen der Wohn- und Arbeitsbevölkerung. Als nicht vorteilhaft wird bewertet, daß der Landkreis Helmstedt über keine „Wasserstraße“ verfügt. Nördlich vorbei außerhalb des Landkreisterritoriums durchläuft der ca. 280 km lange Mittellandkanal zwischen Hannover und Berlin Wirtschaftsräume, in denen ein Viertel aller niedersächsischen Industriestandorte plaziert ist und in Sachsen-Anhalt steigt mit dem Ausbau dieses Kanals auch die Zahl ihrer Anrainer. Bis zum Jahr 2002 wird diese Schiffahrtsstraße vertieft und auf 42 Meter verbreitert werden. Bis zum Jahr 2000 wird nicht nur der Güterverkehr zwischen Ost und West auf das Achtfache steigen, sondern der Verkehr auf den Binnenwasserstraßen wird eine Renaissance erleben und um 85 Prozent zunehmen.109 (Siehe auch: Anmerkung110) 108 Siehe: Braunschweiger Zeitung, Helmstedter Ausgabe, 18.02. 1994. Hannoversche Allgemeine Zeitung, 02.07.1993. 110 Anmerkung: Der Mittellandkanal verbindet als zentraler Teil die Stromgebiete Rhein-Weser-Elbe-Oder. Er stellt die Verbindung der beiden deutschen Seehäfen her. Er besitzt damit eine große nationale und europäische Bedeu109 Siehe: - 78 - Die Fahrplanänderungen der Deutschen Bundesbahn ab Sommer 1992 bewirkten für die Stadt Helmstedt, daß die Intercity Haltestelle fortan gestrichen wurde. Als wirtschaftliche Benachteiligung wird empfunden, daß Helmstedt über keine eigene Tageszeitung verfügt, lediglich der redaktionelle Lokalteil der „Helmstedter Nachrichten“, als Beilage in der "Braunschweiger Zeitung", erscheint in Anbetracht der eigenständigen Ausgaben „Wolfsburger Nachrichten“ und „Salzgitter Zeitung“ (alle Braunschweiger Zeitungsverlage) als lokale Benachteiligung. Ein ausgewiesenes Mittelzentrum, daß seine Bestimmungsfunktion als solches prinzipiell erfüllt (siehe z. B. im Abschnitt Pendleranalyse), müßte den Mittelzentren Wolfsburg und Salzgitter in der redaktionellen Präsenz und Priorität diesbezüglich gleichgesetzt werden. Wenn von einem „Negativimage“ des Landkreises gesprochen werden kann, so sind dessen Ursachen vermutlich durch das Braunkohlerevier und das Kraftwerk Buschhaus, insbesondere durch die zunächst nicht vorhandene Rauchgasentschwefelung, überregional begünstigt. Ein weiterer vermuteter Negativindikator bestand durch den überregional bekannten Grenzkontrollpunkt Helmstedt/Marienborn. Der Landkreis ist daher mit Assoziationen belegt, die mit der Deutschen Teilung und die damit verbundenen Wartezeiten und anderen Unannehmlichkeiten verbunden waren. Folgende Anhaltspunkte können als positiv herausgestellt werden: Die (noch) attraktivere Infrastruktur, vor allem im Wohnbereich, zu den Nachbarlandkreisen Sachsen-Anhalts. Die in Teilbereichen durchaus vorhandene ländliche Lage, insbesondere der Elm und Lappwald, bildet für das Fremdenverkehrsgewerbe eine solide Ausgangsbasis ihrer erfolgreichen Aktivitäten. Als ländlicher Raum mit Verdichtungsansätzen bietet der Landkreis für diejenigen Bevölkerungsgruppen, welche nicht innerhalb urbaner Agglomerationen leben möchten, weitgehend zufriedenstellende bis gute Standortqualitäten. Insofern kann diese Plazierung zwischen den dominierenden Produktions- und Dienstleisungszentren von Wolfsburg, Braunschweig und (zukünftig) Magdeburg als günstig bewertet werden. Von einem „Erdrückungssyndrom“ dieser umliegenden Ober- und dem Mittelzentrum auf den Landkreis kann nicht die Rede sein, insofern die Qualitäten dieser zentralen Plazierung erkannt und anhand einer konzeptionellen Strategie die hier analysierten Defizite kontinuierlich abgebaut werden. Die räumlich direkte Anbindung zur europäischen Ost-West-Wirtschaftsachse als zukünftig wohl bedeutendstes europäisches Entwicklungsband eröffnet dem Landkreis langfristig noch ungeahnte Entwicklungsmöglichkeiten. 3.1.10 Zusammenfassung Erklärungsansätze zur ökonomischen Problemstellung des Landkreises sind auch vor dem Hintergrund gesamtwirtschaftlicher Entwicklungen von Deutschland, Norddeutschland, Niedersachsen und Südostniedersachsen zu sehen. Hieraus kann eine insgesamt problematische Ausgangslage für die traditionell strukturschwächeren Teilräume abgeleitet werden, insbesondere in ländlich peripheren Landkreisen mit Verdichtungsansätzen wie im Landkreis Helmstedt. tung, die mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten gestiegen ist. Der Ausbau des Kanals dient dem Gütertransport mit dem wirtschaftlichsten, energiesparsamsten, umweltfreundlichsten und sichersten Verkehrsträger. In Niedersachsen liegt ein Viertel der Industriebetriebe und die Hälfte aller Arbeitsplätze der Industrie an diesem Kanal (Strom, Eisen, Stahl, Zement, Dünger, Baustoffe, Brennstoffe, Getreide). Momentan werden jährlich 16 Mio t. Güter umgeschlagen, und man rechnet mit 33 Mio. to. im Jahr 2000. - 79 - Die wirtschaftsstukturellen Gegebenheiten in der Landkreisentwicklung sind vorwiegend von einer starken Präsenz von Wirtschaftszweigen gekennzeichnet, die zu den „Verlierern“ im Strukturwandel zählen: Insbesondere im Bergbau, im verarbeitenden Gewerbe (Kunststoff- und Gummiverarbeitung, Automobilzulieferer, Textilindustrie und Baugewerbe), sowie im Dienstleistungsbereich (haushalts- und gesellschaftsbezogene Dienstleistungen), sind für die zukünftige Entwicklung eher ungünstige Beschäftigungsmöglichkeiten zu erwarten. Die hohe Konjunkturempfindlichkeit der Gesamtwirtschaft, die niedrige Arbeits- und Kapitalproduktivität, die hohe „Fernsteuerung“ von außen auf die heimischen Zweigwerknieder-lassungen, sowie die äußerst geringe Forschungs- und Entwicklungsintensität, die unzureichende Investitionstätigkeit der Unternehmen und die unter extremen Strukturanpassungsprozeß im Straßenfahrzeugbau nebst zugeordneter Zulieferbranchen stehende Automobilindustrie, lassen in ihrer Gesamtheit auch für die Zukunft eine negative konjunkturelle und strukturelle wirtschaftliche Entwicklung prognostizieren. Zusammenfassend ist eine geringe Branchendichte im Landkreis Helmstedt zu verzeichnen. Problematisch sind die in erster Linie wachstumsschwachen Branchen, in denen die Unternehmensstruktur auf überwiegend produzierende Funktionen (Montagebetriebe) ausgerichtet ist, die kurzfristig hinsichtlich der Qualität der Arbeitsplätze eher eine weitere Vertiefung der Landkreisdiskrepanzen auslösen und mittelfristig vermutlich auch nicht konkurrenz- und überlebensfähig sind, weil mehrheitlich - international nicht wettbewerbsfähige Zweigwerksbasis anbieten; Produkte, teilweise Vormontagetätigkeit auf - einige Betriebe als „verlängerte Werkbänke und Konjunkturpuffer“ fungieren; - „Muttergesellschaften“ in der Regel außerhalb des Landkreises angesiedelt sind; - Defizite im tertiären Sektor, insbesondere im wirtschaftsorientierten Dienstleistungsbereich aufweisen; - eine nur ungenügende Wirtschaftsdiversifizierung und zu geringen Verflechtungstendenzen von ansässigen Unternehmen vorweisen und - eine schwach ausgeprägte Entwicklung der Wirtschaftssektoren mit jeweils äußerst wachstumsstagnierender Strukturen, (Ausnahmen: Komsumgüter-, Nahrungs- und Genußmittelsektor) im Wirtschaftsgefüge besitzen. In der Bruttowertschöpfung fällt der Landkreis Helmstedt ab der zweiten Hälfte der 70er Jahre zunehmend zurück und muß in den Untersuchungszeitabschnitten 1980/86 überdurchschnittliche Verluste und von 1980/88 unter Zugrundelegung der Marktpreise die geringste Steigerungsrate im aufgeführten Raumvergleich verbuchen. Diese negative Entwicklungstendenz setzte sich im Zehnjahresvergleich von 1980 bis 1990 weiterhin fort, wo der Landkreis Helmstedt als regionales „Schlußlicht“ innerhalb Südostniedersachsen den letzten Platz einnimmt. Es kristallisierte sich heraus, daß die ökonomische Entwicklung des Landkreises, insbesondere von 1980 bis 1992, nur bedingt auf die extreme Randlage in der Bundesrepublik und der Europäischen Gemeinschaft bis September 1989 zurückzuführen ist. Interpretiert man die negativen Entwicklungsverläufe der Gesamtbeschäftigtenanzahl und der niedrigen Industriedichte und unterstellt man einen Zusammenhang von Produktivität und unterdurchschnittlichen Lohn- bzw. Gehaltsniveau, dann weisen diese Indikatoren eindeutig auf eine Arbeitsplatzdisparität zu Ungunsten der Wirtschaftsstruktur im Landkreis Helmstedt hin, (siehe auch Ziffer 11 und 12 aus der Tabelle III. 4). - 80 - Insgesamt kann aus der Interpretation von Tabellen, Analysen und Befragungsergebnissen davon ausgegangen werden, daß die im Landkreis Helmstedt angesiedelten Unternehmen zumeist am unteren Ende der Produktivitäts- und Qualitätsskala angesiedelt sind. Das Entwicklungsdefizit des Wirtschaftsraumes Landkreis Helmstedt beruht daher weitgehend auf die zu geringe Bestandsdichte, der Wachstumsschwäche und des niedrigen technologischen Entwicklungsstandards der heimischen Wirtschaft. Der ökonomischen Landkreisentwicklung können zwei weitere Aspekte hinzugeführt werden: Die attestierte geringe Branchendichte zementiert die traditionelle Problematik eines „ZentrumPeripherie-Gefälles“ zwischen dem ökonomisch strukturbestimmenden Kernen Wolfsburg (mit abnehmender Tendenz) und Braunschweig ( mit aufsteigender Tendenz), und den Nachbarlandkreisen (Gifhorn und Wolfenbüttel) gegenüber dem ausgesprochen struktur-schwachen Landkreis Helmstedt. Die Abhängigkeit der ökonomischen Landkreisentwicklung von nur zwei „Monopol-unternehmen“ (BKB AG und VW AG) ist anstatt kleiner, noch größer geworden. Ein ökonomisches Kompensationsinstrumentarium zum Bedeutungsverlust der BKB AG und des einschneidenenden Personalabbaus in der VW AG steht nicht zur Verfügung. Der noch größte Arbeitgeber im Landkreis Helmstedt - die BKB AG - zeigt (außer bei der Energieversorgung) exemplarisch die zu geringe Verflechtungstendenz in der Regional-wirtschaft auf. Weder aus betriebswirtschaftlicher, volkswirtschaftlicher und strukturpolitischer Sichtweise ergeben sich objektivierende Gründe für eine Aufschließung des Braunkohlerestaufkommens unter Emmerstedt. Das Absinken der zentralörtlichen Stellung der Stadt Schöningen und übriger Gemeinden im gesamten Südkreis des Landkreises Helmstedt ist hauptsächlich auf die Erschöpfung des monostrukturierten, großflächigen Braunkohleabbaues als Basis der industriellen Entwicklung zurückzuführen. Die heutige mangelnde Konkurrenzfähigkeit der Restbraunkohle in einer letztendlich „ausgeräumten Landschaft“ stellt für den gesamten Südkreis einen entwicklungshemmenden Faktor dar, der zugleich ein Erklärungsansatz für das innerregionale „Nord-Südost-Gefälle“ in Südostniedersachsen darstellt. Die diesbezüglich relative Entleerung, ungünstigere Alterstruktur und äußerst geringe Branchendichte im Südkreis kontrastiert deutlich zum Nordteil Südostniedersachsens, wo bedingt durch die (zurückliegende) ökonomische Prosperität des VW Standortes in Wolfsburg direkt umliegende Gemeinden und in seiner Gesamtheit der Landkreis Gifhorn besonders begünstigt wurden. Durch den Wegfall der innerdeutschen Grenze sind zwar langfristig beurteilt qualitativ neue Chancen und Entwicklungsperspektiven für die Landkreisentwicklung gegeben. Kurzfristig vermochte die spürbare Aufwärtsentwicklung aber nur vorübergehend sein, welche die strukturellen Probleme dieser Gegend verdecken, jedoch nicht lösen konnten. Die großräumige Problemlage der Braunkohleförderung ist insgesamt als altindustriell zu klassifizieren und geht ihrer endgültigen Schließungsphase entgegen. Ferner zeigen die neuen Produktions- und Organisationskonzepte in der VW AG ihre ersten personalpolitischen Wirkungen. Das Wirtschaftgefüge im Landkreis wird auch in Zukunft überdurchschnittliche Strukturanpassungen vor allem in den Branchen der verbliebenen industriellen Restbasis verkraften müssen. - 81 - Der Wirtschaftsraum Landkreis Helmstedt kann auch als Ausgleichgebiet, quasi als flankierender Bestandteil für das am Wertschöpfungszuwachs orientierte Mittelzentrum Wolfsburg und das Oberzentrum Braunschweig eingeordnet werden. Diese Untersuchung weist auf die mangelnde Wirksamkeit von Wirtschaftsför-derungsmaßnahmen in der Vergangenheit hin, obwohl die Hauptprobleme nur in begrenzter Weise auf regionaler Ebene lösbar waren. Trotzdem sind die bestehenden Handlungsspielräume zum Beispiel einer „vorausschauenden Wirtschaftsförderungs-konzeption“ offensichtlich nicht genutzt worden. Nach Ablauf der Fördermittelzuschüsse, die nach dem „Gießkannenprinzip“ verteilt wurden, hat in der Regel auch eine Verlagerung der Produktionsstätten in andere Regionen stattgefunden. Die Förderpräferenzen bewirkten rückblickend betrachtet keine Initialzündung sondern primär Mitnahmeeffekte. Unter Zugrundelegung der Indikatoren einer schwach ausgeprägten wirtschaftlichen Gesamtdynamik im Landkreis und eines Strukturwandels in der Automobilbranche und des übrigen produzierenden Gewerbes, konnten sich die Impulse durch die Einheitskonjunktur für Wirtschaft und Beschäftigung auch nur als vorübergehend und kurzfristig erweisen. Die Rezession zieht „sparsamere Bürger“ nach sich: Vier-Tage-Woche bei VW, weniger öffentliche Aufträge und ein dichter werdendes Händler- und Handwerksnetz in Sachsen-Anhalt minimieren das hiesige Umsatzvolumen. Handel und Handwerk werden die Rezession sicherlich überstehen, vermutlich auf niedrigerem Niveau. Etwaige Potentialfaktoren, auf der Grundlage von vorhandenen effizienten Teilwirtschaftsstrukturen oder einer gezielte Engpaßbeseitigung von diesbezüglichen Fehlentwicklungen, sind aufgrund der analysierten geringen ökonomischen Substanz von den Umsetzungsmöglichkeiten und der Effizienz her als relativ gering einzuschätzen, zumal produktionsnahe, an der wirtschaftlichen Prosperität orientierte Dienstleistungen kaum angesiedelt sind. Der Standort von primär „verlängerten Werkbänken“ gerät schon deshalb in Gefahr, weil sich diese durch die Wirtschaftsöffnung Osteuropas in der Tendenz dorthin verlagern. Die bisherigen Ergebnisse reichen zu der Feststellung, daß der Landkreis Helmstedt Gefahr läuft, die aus der veränderten Situation der Deutschen Einheit resultierenden Anpassungsschwierigkeiten nur bruchstückhaft bzw. ansatzweise zu lösen und für die Zukunft den Anschluß an vergleichbare sozialökonomische Bedingungen (im direkten Vergleich zu anderen Landkreisen) endgültig zu verlieren. In Folge des wirtschaftlichen Zusammenbruchs in den neuen Bundesländern und der momentan anhaltenden tiefen Rezession in den alten Bundesländern, muß mit einer weiteren Abnahme der industriellen Arbeit im Landkreis Helmstedt insgesamt gerechnet werden. Der Landkreis Helmstedt zeigt exemplarisch auf, daß sich die Probleme von traditionell strukturschwächeren Räumen tendenziell eher vergrößern, statt sich dem notwendigen Ausgleich anzunähern. Die Annahme einer räumlichen Ungleichgewichtigkeit ist aufgrund der ökonomischen Teiluntersuchung anhand der aufgezeigten Indikatoren und Analysen bestätigt worden. Das ökonomische Gefüge des Landkreises Helmstedt ist in seiner Gesamtheit als strukturschwach einzustufen und es kann unterstellt werden, daß hemmende Faktoren in Form einer Landkreistypenbedingten funktionalen Unterentwicklung existieren. Die funktionale Arbeitsteilung in der Wirtschaftsstruktur ist vorwiegend dadurch geprägt, daß sich in den Unternehmenszentralen die Forschungs- und Entwicklungsaktivität konzentrieren, während die Fertigungsaktivitäten in die ländlich-peripheren Räume, beispielsweise in den Landkreis Helmstedt, ausgelagert wurden. Die zunehmende Internationalisierung der Wirtschaftszweige beeinträchtigt in erster Linie diese produktionstechnischen Randgebiete. - 82 - Die analysierten Strukturentwicklungsdefizite in der Wirtschaft im Landkreis können allein durch die Kräfte des freien Marktes nicht behoben werden. Das enorme Ausmaß des erforderlichen Strukturwandels erfordert eine überregionale Koordination durch die „öffentliche Hand“ und erscheint ausschließlich auf Basis marktwirtschaftlicher Einzelmaßnahmen auch in Ansätzen nicht lösbar zu sein. Die aufgezeigten ökonomischen Disparitäten lassen anscheinend nur eine Möglichkeit zu, nämlich den Strukturwandel beschleunigt einzuleiten. Der für den Landkreis Helmstedt existentiell notwendige ökonomische Strukturwandel kann in Folge dessen aber nur gelingen, wenn die hiesige Wirtschaft und die Gebietskörperschaften von der niedersächsischen Landesregierung auch die Verbindlichkeit bekommen, daß sie schwerpunktmäßig und zielorientiert Unterstützungen und Förderungen erhalten, die den Landkreis insgesamt attraktiver und unabhängiger von der Automobilindustrie in seinem zukünftigen Entwicklungsverlauf gestalten. Das Amt für Wirtschaftsförderung sollte in Koordination mit den Städten und Gemeinden im Landkreis unkonventionelle und flexible Strategien entwickeln, die darauf abzielen, eine ausreichende Basis für den notwendigen Strukturwandel herbeizuführen, (siehe Kapitel 17.6) der aus eigener Kraft und ohne Koordinierungsgrundlage nicht bewältigt werden kann. 3.1.11 Szenario Bewältigung des regionalen Strukturwandels Die kurzfristigen Wachstumsimpulse, die bedingt mit der Öffnung der innerdeutschen Grenze zustande kamen, überdeckten und verschoben den langfristig sektoralen Strukturwandel, insbesondere im Landkreis Helmstedt. Bereits ab Mitte 1992 setzte auch hier wieder die gleiche Grundtendenz des prägenden Musters einer stagnierenden Wirtschaftsentwicklung ein und es ist davon auszugehen, daß die entwicklungsschwache Industriestruktur und gering ausgeprägte Industriedichte durch eine zukünftig ungünstige ökonomische Entwicklung geprägt sein wird. Es ist zu befürchten, daß Standorte, die agglomerationsbezogen ungünstiger liegen und aufgrund ihrer peripheren Lage erhebliche Strukturschwächen aufweisen, von den zunehmenden ökonomischen Verflechtungen äußerst gering profitieren werden. Um so mehr werden zukünftige Entwicklungsmöglichkeiten entscheidend davon abhängen, ob eigene regionale Mobilitätsfaktoren zur erfolgreichen Bewältigung des ökonomischen Strukturwandels eingeleitet werden können, die sowohl in der Lage sind, die erforderlichen technologischen Potentiale aufzubauen und zu stabilisieren, als auch die anvisierte Innovationskraft langfristig für die wirtschaftliche Landkreisentwicklung abzusichern. 3.2 Ursachen, regionale Auswirkungen der wirtschaflichen Krise und Perspektiven der VW -AG, unter Einbeziehung der Automobilzulieferer 3.2.1 Einleitung Rezession, allmähliche Marktsättigungsgrenzen, globale Umweltbelastungen und Chaos im tagtäglichen Verkehr auf verstopften Straßen führen dazu, daß die Anzahl der zugelassenen Pkws in den Industrieländern kaum noch zunimmt. Die Hersteller kämpfen im wesentlichen nur noch um die Verschiebung der Marktanteile, wobei neuerdings sogar der Gerichtssaal strategisch genutzt wird (siehe Rechtsstreit zwischen A. Opel AG und VW AG), um Marktchancen der Konkurrenten zu minimieren. - 83 - Für die deutsche Automobilindustrie und insbesondere die Volkswagen AG111 sieht es dabei besonders negativ aus, weil zum Absatzeinbruch die Strukturkrise hinzugekommen ist. Es erscheint nicht ausgeschlossen, daß die Prognose vom Verband der Automobilindustrie112 Realität werden könnte, die nochmals einen Verlust von 90.000 Arbeitsplätzen in der deutschen Automobilindustrie befürchtet.113 Bereits 1992 hat die gesamte Automobilindustrie in der Bundesrepublik Deutschland einschließlich der Zulieferer die Belegschaft um 40.000 auf 733.000 Beschäftigte reduziert.114 Die Hauptursache der Rentabilitätsproblematik ist nicht das hohe Lohnniveau, sondern die Haltung der Automobilmanager, die es offensichtlich verpaßten, in der Erfolgsphase die Strukturweichen für die Zukunft auf Grundlage von Innovationen und den Gesetzmäßigkeiten der internationalen Konkurrenz zu stellen. Konzepte aus den 50er, 60er und 70er Jahren haben keine Chance mehr, insbesondere gegen die japanische Industrie, die erforderliche Wettbewerbsfähigkeit zu erreichen. Global geht es dabei auch um den Industriestandort Bundesrepublik Deutschland und als Teileinheit betrachtet um die Zukunft der Wirtschaftsregion Südostniedersachsen. Der deutliche Umbruchprozeß industrieller Arbeit verdeutlicht gleichzeitig, daß das Produkt Kraftfahrzeug im Grunde genommen den Höhepunkt seines „Lebenszyklus“ (s.o. 3.1.7.19 in hiesigen Breitengraden erreicht hat und sich bereits in der Schrumpfungsphase befindet, ja sich sogar unter Zugrundelegung der Teilbetrachtung einer Nettobeschäftigungsentwicklung deutlich in Richtung Teilschließungsphase bewegt. Das Untersuchungsinteresse an der VW AG in Wolfsburg basiert aufgrund einer deutlichen Abhängigkeit des Landkreises Helmstedt sowie der ganzen Region Südostniedersachsen von der Entwicklung dieses zentralen VW - Werkes. Das Werk in Wolfsburg mit Marken- und Konzernvorstand der VW AG ist mit über 47.700 Beschäftigten (Stand Ende 1993) der weltweit größte Produktionsstandort in der Automobilindustrie. Die ausgeprägte und einseitige Pendlerbewegung (arbeitstäglich 9300 (1991) und 8.756 (1992) Berufsauspendler115) aus dem Landkreis Helmstedt ins Wolfsburger VW Zweigwerk, als größter Arbeitgeber außerhalb der Kreisgrenze, zeigt die besonders abhängige interregionale Verflechtung exemplarisch auf. Mit dem Käfer der einst die ganze Welt eroberte und lief und lief (das historische Orginalzitat hieß: und läuft und läuft ...) entstand eine Legende. Mit dem Nachfolger Golf (der statusneutral und damit schichtübergreifend aller Käufergruppen erfaßt und einer ganzen Autoklasse den Namen gab) wurde die Erfolgsgeschichte fortgeschrieben. Doch jetzt scheint die Marke VW in Turbulenzen geraten zu sein. Produktionsabsatz und Verkaufszahlen, von denen sich auch VW Manager blenden ließen, könnten tatsächlich bis zum Herbst 1992 kaum besser sein. Dennoch brachte der Autoverkauf der VW AG selbst im Rekordjahr 1992 den Verlust von mehr als einer Milliarde Mark ein. Nach acht Jahren ungebrochenen Wachstums in der Automobilindustrie setzt ab Herbst 1992 ein Abschwung ein, der sich auch in den nächsten Jahren vermutlich fortsetzten wird. Internationale Konkurrenz, eine verschlechterte Absatzlage sowie eine zunehmend konzerninterne Standortkonkurrenz bewirken für Wolfsburg, als Konzerngeschäftssitz, eine Neubewertung der Standortproblematik, deren Auswirkungen auch den Landkreis Helmstedt direkt betreffen. Der aktuelle Konjunktureinbruch in der Automobilindustrie machte tiefgreifende Strukturprobleme in der VW AG sichtbar, die man seit Jahren vor sich hergeschoben hatte. Wachsende Überkapazitäten und ruinöse Preiskämpfe, ungelöste Verkehrs- und Umweltprobleme: Der 111 Anmerkung: Volkswagen AG im folgenden VW AG genannt. Anmerkung: Verband der Automobilindustrie im folgenden VDA genannt. 113 Siehe: Frankfurter Rundschau, 26.08.1993. 114 Siehe: Handelsblatt, 02.07.1993. 115 Siehe: VW interne Personalstatistik, Einzugsbereich Werk Wolfsburg, 31.12.1991 und 31.12.1992. 112 - 84 - renditeschwache Automobilkonzern in der Verschwendung von Organisation und Management förderte Beschäftigungsprobleme und neue Standortkonkurrenz herauf. Da sich die Rezession in der Automobilindustrie ohne Zeitverzögerung auf die Zulieferindustrie übertrug und aufgrund der Verringerung der Fertigungstiefe die Zulieferindustrie durch ein größeres Fertigungsvolumen einen höheren Bedeutungsumfang erhält, werden im folgenden auch die direkten Auswirkungen dieser veränderten Produktionsstrukturen auf die Region Südostniedersachsen und deren mögliche Konsequenzen auf den Landkreis Helmstedt untersucht. Es wäre inkonsequent, die bereits vor Jahren prognostizierte Strukturkrise in der Automobilindustrie zu ignorieren. Die tiefgreifenden arbeitsmarkt- und strukturpolitischen Veränderungen werden auch den Landkreis Helmstedt nachhaltig beeinflussen. Ursachen und Hintergründe, deren beschäftigungs- und regionalpolitische Auswirkungen, werden systematisch im folgenden analysiert. 3.2.2 Personalabbauplanungen Nach einem Personalabbau Mitte der 70er Jahre konnte durch eine günstige Nachfrage-entwicklung (speziell des Absatzbooms durch Golf, Jetta bzw. Vento und Polo) wieder der Gesamtbeschäftigungsstand von Anfang der 70er Jahre erreicht werden. Zur vorläufigen Stabilisierung des Beschäftigungsstandes trug auch der Ausbau werksübergreifender Aufgaben (Forschung und Entwicklung, Controlling, Vertrieb, Rechnungswesen, Marketing und Kundendienst) im gewerblichen Bereich bei. Aufgrund konjunktureller und struktureller Anfällligkeiten der Automobilbranche konnte diese Entwicklung einer vorübergehend relativen Personalkonstanz keine individuelle Arbeitsplatzsicherheit garantieren. Die durch eine Automobilmonostruktur gekennzeichnete krisenanfällige Region umliegender Städte und Landkreise in Südostniedersachsen, ist permanent von überdurchschnittlich hoher Konjunkturanfälligkeit der Automobilindustrie (inklusive Zulieferindustrie) geprägt. Personalpolitische Anpassungsmaßnahmen während der Rezessionsphase 1974/75 bewirkten eine höhere Abwanderungsquote vornehmlich qualifizierter und jüngerer Arbeitsmarkt-kräftegruppen, die sich in den Wanderungsbilanzen und der Altersstruktur Südostniedersachsens auswirkten.116 Im folgenden soll auf diesen Teilzusammenhang näher eingegangen werden: Durch das Personalplanungsinstrument der „Aufhebungsverträge“ sind während der Rezessionsphase 1974/75 bei VW betriebliche Anpassungsmöglichkeiten bei überschüssigem Arbeitsvolumen umgesetzt worden. Die Aufhebungsverträge dienten der Durchsetzung spezifischer Selektionsinteressen beim gezielten Personalabbau. Strategisch sollte die sogenannte "Randbelegschaft" mit eher weniger Qualifikationsniveau abgebaut werden. Statt dessen machten von den befristeten Aufhebungsverträgen größtenteils die qualifizierteren Arbeitsmarktgruppen der "Stammbelegschaft" Gebrauch.117 Deren Abwanderung in vornehmlich industriell prosperierende Regionen führte in seiner Gesamtheit mit zu einer negativen Bevölkerungsentwicklung: Die Bevölkerung nahm von 1970 bis 1987 in Südostniedersachsen um 4,2% ab, im Landkreis Helmstedt dagegen war ein Rückgang von 9,5% zu verzeichnen.118 116 Siehe: Schultz-Wild, R. Betriebliche Beschäftigungspolitik in der Krise. Frankfurt/New York 1978. Seite 56ff. Siehe: Schultz-Wild, R. Ebenda, Seite 62ff. 118 Siehe: Lompe, K., Rehfeld, D., u.a. Regionale Bedeutung und Perspektiven der Automobilindustrie, Düsseldorf 1991. Seite 31. 117 - 85 - Gründe für diese negative Bevölkerungsentwicklung „spiegeln die extreme Randlage der Region mit hohen Abwanderungsquoten wegen geringer Erwerbsmöglichkeiten besonders bei Menschen im erwerbsfähigen Alter wider.“119 Dadurch wird die Abhängigkeit umliegender Kommunen auch von Managerentscheidungen exemplarisch sichtbar. Jüngere und durchschnittlich höherwertig ausgebildete Arbeitnehmer mit Kernqualifikationen (Facharbeiter, Angestellte) waren deutlich flexibler als un- und angelernte Arbeitskräfte. Diese Fluktuationen trugen außerdem dazu bei, daß sich in den betroffenen umliegenden Landkreisen Erwerbstätige mit überdurchschnittlichen „Randqualifikationen“ und einer ungünstigen Altersstruktur ohne wesentliche Suburbanisierungsimpulse gerade in ländlichen Räumen in mittlerer Entfernungsdistanz zum VW Zweigwerk Wolfsburg, wie z.B. in dem im Südosten liegenden Landkreis Helmstedt, konzentrieren. Die Bevölkerungsentwicklung der Städte, Einheits- und Samtgemeinden im Landkreis Helmstedt verzeichnete von 1971 bis 1985 einen negativen Wanderungssaldo.120 Die Strukturschwäche des Landkreises kann insofern nicht nur bedingt durch die Randlage des ehemaligen Grenzgebietes, sondern auch durch die Automobilmonostruktur und dem nicht Vorhandensein alternativer Wachstumsbranchen gedeutet werden. Andererseits konnten Arbeitnehmer/innen in den 80er Jahren durch zeitlich befristete Einstellungsschübe bei VW (die aufgrund von Nachfragespitzen in Boomphasen auftraten) eine relative Teilentlastung des regionalen Arbeitsmarktes bewirken. So konnten massive Entlassungen in den Bereichen Optik, Unterhaltungselektronik, der feinmechanischen Industrie und in der Verpackungsindustrie Südostniedersachsens noch zum Teil durch die Automobilindustrie aufgefangen werden, die einen Teil der entlassenen Arbeitnehmer/innen übernahm. In Südostniedersachsen weisen Bevölkerungsentwicklungen und Erwerbsstrukturen auf eine primäre Abhängigkeit von der Automobilindustrie hin. Abwanderungen und höhere Bevölkerungsrückgänge im Vergleich zum Bundesdurchschnitt durch den Teilverlust des mehrheitlichen dynamischen Bevölkerungspotentials zeigen die negativen Seiten dieser einseitig bedingten wirtschaftlichen Gesamtsituation. Eine Auflockerung dieser krisenanfälligen Monostruktur konnte nie erreicht werden. 1974/75 ging es primär um die Fragestellung, ob es sich um einen vorübergehenden konjunkturellen Einbruch handelte, oder ob ein struktureller Veränderungsprozeß in Gang gekommen war, durch den das Gewicht dieses Industriezweigs in der Volkswirtschaft gemindert würde.121 Die Konjunkturkrise konnte durch eine neue und zeitgemäße Modellpolitik (der „Käfer“ war nicht mehr konkurrenzfähig) erfolgreich überwunden werden. Das gelang der VW AG allerdings nur durch das bei Fusionen (Audi und NSU) hinzugewonnene „Know-how“. VW war in den 70er und in der ersten Hälfte der 80er Jahren nicht in der Lage, trotz der mit hohem finanziellen Aufwand konzipierten und personalintensiven „Forschung und Entwicklung“, selbständig ein konkurrenzfähiges Produkt auf den Markt zu bringen. Das Arbeitsplatzstabilisierende Erfolgsmodell „Golf“ basierte auf Audi/NSU-Ingenieurleistungen, der „Passat“ war ein „Audi 80“ Schrägheckmodell und der „Polo“ ein „Audi 50“ Parallelmodell. Der zuvor auf dem Markt eingeführte „K-70“, für den 1970 in Salzgitter ein neues Zweigwerk gebaut wurde, (erster wassergekühlter Motor von VW mit Vorderradantrieb) stammte von NSU. 119 Lompe, K., Rehfeld, D., u.a. Ebenda. Siehe: Landkreis Helmstedt. Regionales Raumordnungsprogramm 1987. Seite 74 ff. 121 Siehe: Schultz-Wild, R. Ebenda, Seite 190. 120 - 86 - Die zukünftigen Entwicklungstrends im Automobilbau mit ihren tiefgreifenden Konsequenzen wurden mit fachweltweiter Resonanz exemplarisch von „Massachusetts Institute of technology“ untersucht.122 Die tiefgreifenden Veränderungen werden als „die zweite Revolution in der Automobilindustrie“ definiert. Ein „Schock für die deutschen Automobilhersteller“, kommentiert die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ und der „Spiegel“ kommt zum alarmierenden Ergebnis: „Die herkömmliche Massenfertigung hat kaum noch Zukunft.“ Die Fertigungstiefe wird durch das Konzept einer lean production in die Zulieferindustrie ausgelagert, die sich in umliegende Regionen auf just-in-time Basis niederlassen. Rückblickend überdeckte die unerwartet positive Branchenkonjunktur der 80er Jahre die Tatsache, daß ab 1985 bereits wieder strukturelle Abbautendenzen auf der Ebene der betrieblichen Arbeitsorganisation bei VW wirksam wurden.123 Während 1975 hauptsächlich Arbeitskräftegruppen mit geringen spezifischen Qualifikationen gefährdet waren, ihren Arbeitsplatz zu verlieren,124 ist die betriebliche Beschäftigungspolitik der Gegenwart von dem Erscheinungsbild geprägt, daß auch Facharbeiter und besonders kaufmännische und technische Angestellte von Arbeitslosigkeit im gleichen Ausmaß betroffen sind. So werden beispielsweise bei der geplanten Auslagerung von komplexen Produktionsbereichen Bereichs- oder Unterabteilungsleiter genauso betroffen sein wie un- und angelernte Mitarbeiter/innen. Auch die im industriellen Kernbereich verbleibenden Produktionsbereiche werden von einschneidenden Reduzierungen der Hierarchieebenen betroffen sein. „Insgesamt beschäftigt VW rund 1000 Führungskräfte, davon rund 100 Bereichsleiter, etwa 250 Hauptabteilungsleiter und rund 650 Abteilungsleiter. Schätzungen laufen darauf hinaus, daß etwa 20 Prozent dieser Stellen künftig wegfallen.“125 Im Zeitalter des „Lean-Management“ werden in Folge dessen sogar oberste Hierarchiestufen vom Personalabbau nicht verschont. Innerhalb eines Zeitrahmens von 5 Jahren beabsichtigt der neue VW Vorstandsvorsitzende F. Piëch, die bei VW bis zu acht existierenden Hierarchieebenen bis auf drei abzubauen: - „Oberer Führungskreis“: Vorstand und Bereichsleiter. - „Führungskreis“: Haupt- und Abteilungsleiter. - „erweiterter Führungskreis“: Unterabteilungsleiter, Abteilungsleiter und Meister.126 Nach Vorstandsplänen sollen die Fertigungs- und Dienstleistungstiefen drastisch gesenkt, die Fertigungszeiten gekürzt, die Betriebsnutzungszeiten auf drei Schichten ausgedehnt, außerdem die Lagervorräte abgebaut und die Teilevielfalt pro Motor und Auto verringert werden.127 Diese Maßnahmeschritte verdeutlichen das damit verbundene erhebliche Freisetzungspotential von direkt betroffenen VW Mitarbeiter/innen. 122 Siehe: Womack, James P., u.a., Die zweite Revolution in der Automobilindustrie. Campus Verlag. 1992. S. 24ff. 123 Siehe: Lompe, K., .Rehfeld, D. Ebenda, Seite 126. 124 Siehe: Schultz-Wild, R. Ebenda, Seite 61. 125 Siehe: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 15.07.1993. 126 Siehe: Wolfsburger Allgmeine Zeitung, 03.04.1993. 127 Siehe: Manager-Magazin, Nr. 4, 1992, Seite 42. Frankfurt - 87 - „Allein im Werk Wolfsburg sollen 15.800 Stellen verschwinden, die Arbeitsproduktivität (je theoretischer Fertigungseinheit) soll um 61 Prozent, die Kostenproduktivität (je theoretischer Fertigungseinheit) soll um 26 Prozent steigen.“128 Auf dem Weg dahin soll die Fertigungsproduktivität im Wolfsburger VW-Werk für 1994 um 25 Prozent gesteigert werden.129 Diese radikale Minimierung der Kostenstrukturen ist unter der Annahme eines Absatzbooms konzipiert. Anders formuliert: Wenn die Absatz- und Ertragsziele durch eine Verschlechterung der Rahmenbedingungen (Konjunktureinbruch) verfehlt werden, droht ein personalpolitischer Absturz mit tiefgreifenden Folgen für die gesamte Region Südostniedersachsen. Auch die zeitweise beabsichtigte vorzeitige Streichung der bis Ende 1994 auslaufenden und bei VW bewährten „58er-Regelung“, einer vorzeitigen Verrentung, würde den sozialverträglichen Sozialabbau erheblich erschweren. Der Spielraum des Management, die Anzahl der Beschäftigten sozialverträglich zu verringern, wird sich durch den Wegfall der „58er-Regelung“ allein auf das Instrument der Fluktuationsrate beschränken.130 Der vom VW Management zunächst beabsichtigte Personalabbau in den inländischen Werken in einer Größenordnung von offiziell 12.500 Beschäftigten bis 1994 „sei ohne die 58er Regelung nicht realisierbar“131 meinte VW Gesamtbetriebsratsvorsitzender K. Volkert und fügte hinzu: „Wenn dieses sozialverträgliche und geräuschlose Möglichkeit des Personalabbaus (seit 1974 sind rund 45.000 Beschäftigte vorzeitig ausgeschieden) nicht mehr läuft, müssen wir Ausschau halten, wie wir die Arbeitsplätze sichern können.“132 Seit Anfang 1991 ist die VW Belegschaft in den inländischen VW Werken bis Juli 1992 um 4.000 Arbeitsplätze reduziert worden, davon allein um 1.500 im Werk Wolfsburg, wo (Stand 7/92) 59.000 beschäftigt waren. „Und das ging in erster Linie dank der 58er-Regelung ohne Entlassungen oder soziale Härten....“133 Spätestens 1995 wird eine flächendeckende Altersregelung nach bisherigen Muster für VW nicht mehr finanzierbar, weil die Finanzierungszuschüsse durch die Rentenund Arbeitslosenversicherung entfallen und die vollen Kosten auf die VW AG übertragen werden. Ob die Altersregelung auch 1994 zu attraktiven Konditionen für die Betroffenen durchgeführt werden kann, ist noch nicht entschieden. Das Wegfallen dieses wesentlichen Personalplanungsinstrumentes wirft für die Standorte- und Beschäftigungssicherung neue und veränderte Problemstellungen auf. Der beabsichtigte Personalabbau in einer Größenordnung von 12.500 bis 1994 für alle inländischen VW Werke in Niedersachsen stellte nur eine offizielle „Richtgröße“ dar. Der zeitliche Bemessungsraum ist ursprünglich von 1995/96 auf 1994 verkürzt worden. Die tatsächliche Anzahl wird weit höher anzusetzen sein, (intern 12.500 plus x) und ca. 50 Prozent dieser Personalabbauzahlen betreffen das Wolfsburger VW Werk direkt. Sofern es die konjunkturelle Situation zuläßt, sollte die Personalabbauplaung „sozialverträglich“, unter weiterer Hinzuziehung der bewährten 58er-Regelung und durch das Instrument der Aufhebungsverträge umgesetzt werden. Auch der Landkreis Helmstedt muß sich diesbezüglich darauf einstellen, daß durch Aufhebungsverträge verstärkt jüngere Arbeitnehmer in der hiesigen Arbeitslosenstatistik auftauchen werden. 128 Siehe: Manager-Magazin, a. a. O. Seite 42. Siehe: Wolfsburger Kurier, 05.12.1993. 130 Siehe: Braunschweiger Zeitung, 07.07.1992. 131 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 07.07.1992. 132 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 07.07.1992. 133 Siehe: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 07.07.1992. 129 - 88 - Auch die normale Fluktuationsrate ist für das Management eine weitere Möglichkeit, den Personalabbau ohne zusätzliche Maßnahmen zu gestalten. Selbst wenn alle Personalabbaustrategien „sozialverträglich“ (ohne Massenentlassungen) durchgeführt werden können, sind damit weder die allgemeinen ökonomischen Probleme der Volkswirtschaft (Konjunkturkrise), noch die spezifischen Strukturprobleme von VW gelöst, deren Schwierigkeiten durch hohe Verkaufszahlen bis Ende 1992 überdeckt wurden. Der überstrapazierte Begriff „sozialverträglich“ heißt „im gegenseitigen Einvernehmen mit den Betroffenen“ und deutet darauf hin, eine Personalpolitik zu praktizieren, die ohne offizielle Massenentlassungen (betriebsbedingte Kündigungen) auskommen soll. Alternativ werden Instrumente wie die erwähnte vorzeitige Verrentung, das Nichtersetzen der durchschnittlichen Fluktuationsrate und Aufhebungsverträge angewendet. Gleichwohl sind die praktischen Auswirkungen auf die Region Südostniedersachsen (unter Berücksichtigung der Automobilmonotruktur und dem nicht Vorhandensein von Alternativarbeitsplätzen) in ihren Folgewirkungen annähernd gleichbedeutend mit Massenentlassungen. Die diversen „Ausscheidungsvereinbarungen“ können auch als geräuschlose Form einer konsequenten Personalabbaupolitik interpretiert werden, durch die das Markenimage nach außen nicht beeinträchtigt wird. In diesem Zusammenhang erscheint es erwähnenswert, daß das renommierte Niedersächsische Landesamt für Statistik in ihrer veröffentlichten Tabelle über „Veränderungen der tätigen Personen im verarbeitenden Gewerbe und der Industriedichte vom 30.06.1992“134 ihre differenzierte Stadtund Landkreisentwicklungsstatistiken speziell für Wolfsburg und Emden nicht veröffentlichen durfte, weil „besondere Entwicklungsabläufe einzelner Betriebe L das Geheimhaltungsverbot einer Veröffentlichung im Wege standen.“ 135 So mußten die Zahlenwerte für Wolfsburg mit dem Nachbarlandkeis Gifhorn und für Emden entsprechend dem angrenzenden Landkreis Aurich entnommen werden. Einen hierbei unterstellten Abwägungsprozeß zwischen dem allgemeinen Informationsbedürfnis der niedersächsischen Bevölkerung und der besonderen Öffentlichkeitspolitik der VW AG ist hierbei offensichtlich zu Gunsten von Volkswagen entschieden worden. Bereits 1993 sind im VW Zweigwerk Wolfsburg mindestens 3.500 Aufhebungsverträge abgeschlossen worden und bei weiteren ca. 1500 Arbeitnehmer/innen wurde die Kündigung ausgesprochen. Dieser kontinuierliche Personalabbau wird nur „scheibchenweise“ veröffentlicht und erfaßt bereits auch Arbeitskräftegruppen, die nicht nur über eine Altersregelung die VW AG verlassen. Obwohl das Instrument „Aufhebungsverträge“ bisher von den Mitarbeiter/innen gut angenommen wurden, wird es sich allmählich verbrauchen. Diese Arbeitsmarktzielgruppe setzt sich aus jüngeren Arbeitnehmern zusammen, die mobil und flexibel sind und zum Teil Weiterbildungsmaßnahmen anvisieren, desweiteren aus Ehepartnern, die beispielsweise finanziell als Zweitverdiener abgesichert sind,136 aber auch vorwiegend aus Arbeitnehmer/innen, die aus der bereits ausgelagerten „Kabelstrangfertigung“ kamen und von der innerbetrieblichen Möglichkeit einer angebotenen Umsetzung keinen Gebrauch machten. Im Zuge der permanenten Kosteneinsparungsstrategien durch die VW AG ist bereits ein genereller Auftragsstopp für „Fremdfirmen“, die vornehmlich im Dienstleistungsbereich für die VW AG in Wolfsburg tätig waren, veranlaßt worden. Das verschafft zunächst den VW-eigenen Facharbeiterabteilungen (z.B. Elekroinstandhaltung) „Luft“, die ebenfalls durch das Nichtersetzen von Fluktuationen bei gleichem Arbeitsvolumen stark abgebaut und gegen die „Fremdfirmen“ quasi ausgespielt wurden. 134 Siehe: Niedersächsisches Landesamt für Statistik. Statisches Monatshefte, Niedersachsen. Nr. 6/93, Seiten 233 und 235. 135 Statisches Monatshefte, Ebenda, Hannover, Nr. 6/93, Seiten 233 und 235. 136 Siehe: Sudholt, B. Zur aktuellen Situation bei VW. In: Wolfsburger Kurier, 24.10.1993. - 89 - Im Sog der VW Strukturkrise brechen weitere Vertragsfirmen, die für die VW AG tätig sind, reihenweise zusammen: Personalabbau, Kurzarbeit und Entlassungen sind der Regelfall. Beispielsweise beantragte die Firma Velte Electrik aus Sandkamp mit 170 Arbeitnehmern einen Konkursantrag. Seit 1957 montierte, installierte und wartete diese Spezialfirma im Auftrag der VW AG Transferstraßen, Pressen und Datentechnik.137 Die IVM aus Fallersleben zählte 1992 über 300 Arbeitnehmer, im Januar 1994 gab es dort nur noch rund 160 Stellen, die seit 15 Monaten von Kurzarbeit begleitet sind. Ebenfalls von Kurzarbeit betroffen ist das Ingenieurbüro Fleischbauer. Von einst 65 Arbeitnehmern sind nur 25 übriggeblieben.138 Kurzfristig bis Ende 1994 werden schätzungsweise über 1.500 weitere Arbeitsplätze, die vornehmlich im Dienstleistungsbereich für die VW AG tätig sind, verloren gehen. Das äußerst wichtige arbeitsmarktpolitische Instrument der Kurzarbeit (um Entlassungen zu vermeiden) soll in seiner Bedeutung keinesfalls relativiert oder heruntergespielt werden. Doch die Häufigkeit der beantragten und genehmigten Kurzarbeit deutet gleichzeitig auf einen Gebrauch als Lohn- und Gehaltskosteneinsparungsinstrument für das VW Management hin. Da die maximale Bezugsdauer von Kurzarbeitergeld von 18 auf 24 Monate vom Bundesarbeitsministerium bis Ende 1994 ausgedehnt wurde,139 ist davon auszugehen, das die VW AG dieses Instrumentarium entsprechend intensiv ausnutzen wird. Außerdem ist zu erwarten, daß neben dem permanenten Personalabbau parallel arbeitsmarktpolitische Flexibiliesierungs-instrumente eingebaut und plaziert werden (befristete Arbeitsverträge, Umstrukturierung von Dienstleistungsund Produktionsbereiche in eigenständige Tochterunternehmungen, Veräußerungen von Abteilungen oder Bereiche an Zulieferunternehmen, spätere Fremdfirmenerweiterungen auf dem Werksgelände, etc.) die ein größeres Arbeitsplatzvolumen aus dem Stamm- in die Randarbeitsplätze (Bedarfsarbeitsplätze) abdrängen. Da die Rezession nach jetzigen Prognosen bis Ende 1994/Anfang 1995 anhält und die damit verbundenen Erwartungen für den PKW-Absatzmarkt nochmals nach unten korrigiert werden müssen, legte der Vorstand der VW AG dem Gesamtbetriebsrat eine weitere „Szenario-Planung“ vor, in der der bisher vereinbarte Mitarbeiterabbau von offiziell 12.500 bis Ende 1994 erweitert wird.140 Wie verlautet, sei nun geplant, das die Belegschaft der sechs inländischen VW - Werke bis Ende 1994 von zur Zeit 114.000 auf 100.000 weiter reduziert werde.141 „Man durchlebe derzeit eine der schwierigsten Perioden in der Geschichte von VW (...), schnell und kurzfristig müßten Kostensenkungen erreicht werden und dies sei auch der Grund, warum J.I. Lopez in den Vorstand berufen worden ist.“142 Die sozialökomonischen Folgen dieser Umstrukturierung werden jedoch verheerende Auswirkungen haben: So bestätigte F. Piëch in einem Gespräch, daß allein bei den niedersächsischen Zulieferern mindestens 20.000 Arbeitsplätze abgebaut werden.143 Vergegenwärtigt man sich, daß 1986 in den sechs inländischen Werken der VW AG noch 130.000 Arbeitnehmer/innen (in Wolfsburg über 65.000) arbeiteten, waren es im Oktober 1993 bereits 112.000, bis zum Jahresende 1993 reduzierte sich der Personalbestand auf 104.000 (Wolfsburg 47.700)144 137 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 05.01.1994. Ebenda. 139 Siehe: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 21.08.1993. 140 Siehe: Frankfurter Rundschau, 11.06.1993 und Presseagentur Reuters, 10.06.1993. 141 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 12.06.1993. 142 Volkert, K. Anläßlich einer VW-Betriebsversammlung,In: Wolfsburger-Kurier, 19.09.1993. 143 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 11.08.1993. 144 Siehe: Wolfsburger Kurier, 24.10.1993. 138 - 90 - Man erkennt, daß das vorrangige Ziel der neuen Arbeitsorganisation in der VW AG die Produktivitätssteigerung ist, deren Gestaltungsformen sich unmittelbar auf eine radikale Personalreduzierung auswirken. Es ist ferner davon auszugehen, daß die Produktivität schneller als das zukünftige Marktvolumen ansteigen wird. Deshalb wird auch der Personalbedarf in der VW AG deutlich weiter sinken. Wobei der Vorstand der VW AG bis Ende 1993 die "Zielgröße" von 100.000 Mitarbeiter/innen mit dem Betriebsrat „einvernehmlich“ anvisiert. Wie diese „magische Zahl“ sozialverträglich erreicht werden kann, war auch vom Gesamtbetriebsrat der VW AG nicht eindeutig beantwortbar.145 Die Differenz von minus 30.000 Arbeitsplätzen ab 1986 bis Ende 1993 in den sechs inländischen Werken verdeutlicht praktisch praktizierte Massenentlassungen in der VW AG. Es muß davon ausgegangen werden, daß die anvisierte (Zwischen) Zielgröße von 100.000 spürbar weiter unterschritten wird. Inwieweit die Massenentlassungen unterhalb dieser 100.000 „Marke“ kontinuierlich, scheibchenweise und indirekt (beispielsweise sozialverträglich) weiterhin durchgeführt wird, ist abhängig von der konjunkturellen Entwicklung, des Erfolges einer Gesamtkostenreduzierung und der Kreativität der „Sozialpartner“. Um auf die Automobilstrukturkrise flexibel reagieren zu können, sind arbeitsmarktpolitsche Alternativen dringend gefragt. Ohne eine Verkürzung der Arbeitszeit auf eine Vier-Tage-Woche beabsichtigte der Vorstand der VW AG für 1994 und 1995 rund 30.000 Mitarbeiter zu entlassen. Darüber wurde der Betriebsrat und die Belegschaft in den sechs inländischen Werken Ende Oktober 1993 informiert. Der Betriebsrat reagierte sehr verhalten auf diese Pläne.146 Für den VW Standort Wolfsburg ergeben sich folgende Zahlen: Die Mitarbeiter in der Produktion müßten aus Sichtweise des Vorstandes von 36.393 auf 21.329 (minus 41%) reduziert werden,147 sofern die vom Vorstand der VW AG alternative Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich ab Januar 1994 nicht erfolgen würde. Einen derartigen beabsichtigten „Kahlschlag“ von insgesamt 52,05 Prozent Gesamtbeschäftigtenabbau bis Ende 1995 im VW Werk Wolfsburg verlangt dringend nach „sozialverträglichen“ Konzepten. Vergegenwärtigt man sich den reduzierten Auspendleranteil aus dem Landkreis Helmstedt ins Wolfsburger VW Werk (siehe Einleitung), ist unter Berücksichtigung obiger Personalabbauprognosen bis 31.12.1995 mit einer weiteren (theoretischen) Reduzierung des Gesamtauspendleranteils bis auf die Untergrenze von ca. 5.300 auszugehen. Ohne Einigung der Tarifvertragsparteien auf eine Verkürzung der Arbeitszeit würden die Massenentlassungen wahrscheinlich greifen. Wesentlicher Baustein dieses Arbeitgeberarbeitszeitmodells ist dabei die Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf vier Tage bei fünf Fabriköffnungstagen. Die Zahl der Wochenarbeitsstunden würde damit von bisher 36 auf 28,8 sinken. Nach den Vorstellungen des Vorstandes der VW AG sollen die Löhne und Gehälter im gleichen Umfang gekürzt werden, also um 20 Prozent. „Vor die knallharte Alternative gestellt, ob VW Tausende von Arbeitsplätzen abbaut oder einen intelligenteren Weg einschlägt, hat die Gewerkschaft IG-Metall und der VW Gesamtbetriebsrat keine andere Wahl.“148 Bei dieser Form der Arbeitszeitverkürzung geht es um die zentrale Fragestellung, „wie macht man sie und zu wessen Lasten macht man sie.“149 145 Siehe: Uhl, H.-J. In: Wolfsburger Kurier, 24.10.1993. Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 28.10.1993. 147 Siehe: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 29.10.1993. 148 Siehe: Frankfurter Rundschau, 29.10.1993. 146 - 91 - Für den Betriebsrat stellte der Vorsitzende des Gesamt- und Konzernbetriebsrates K. Volkert fest, „daß das so nicht mit uns zu machen ist“. Ein Lohnausgleich „Null“ sei nicht für alle Beschäftigtengruppen hinnehmbar.150 Unter Abwägung unterschiedlicher Faktoren ist die Umverteilung von Arbeit aus Sichtweise der direkt Betroffenen weitaus günstiger als Arbeitslosigkeit. Durch die Initiative der VW AG ist die Möglichkeit einer Flexibilisierung der Arbeitzeitgestaltung eingeführt worden, nach der die Wirtschaft lautstark verlangt. Schon die Auflockerung der Diskussion um Arbeitszeitverkürzung zeigt, daß dieser Vorstoß etwas zur Entzerrung der ideologischen Auseinandersetzung zwischen Gesamtmetall und IG-Metall bewirken könnte. Die von „Gesamtmetall“ initiierte Strategie von Arbeitszeitverlängerungen ist durch den VW Vorstand (der aufgrund des Haustarifvertrages nicht Mitglied im Arbeitgeberverband ist), mit dem Modell „Arbeitszeitverkürzung gegen Arbeitslosigkeit ohne vollen Lohnausgleich“ um ein akzeptables Alternativmodell erweitert worden. Die Verhandlungskommision der VW AG und die Tarifkommission der IG-Metall vereinbarten am 24.11.1993 für die sechs deutschen Volkswagen Werke vom 01. Januar 1994 an die Vier-TageWoche mit 28,8 Arbeitsstunden, zunächst befristet auf zwei Jahre. Die VW AG kann so nach eigenen Angaben 18 Prozent der Personalkosten einsparen und verpflichtet sich, in dieser Zeit keinen Beschäftigten aus betrieblichen Gründen zu entlassen.151 Die Schnelligkeit mit welcher der Abschluß von den Tarifparteien vollzogen wurde, läßt ahnen, daß beide Seiten ein hohes Interesse daran hatten, kurz und bündig Tatsachen zu schaffen. Das Teilzeitmodell mit verkürzter Wochenarbeitszeit ohne vollen Lohnausgleich ist eine intelligente Antwort auf die momentane Konjunkturkrise, in der weniger Aufträge mit weniger Arbeitszeit ausgeglichen wird. Das gegenwärtige Kernproblem einer Strukturkrise ist damit aber nicht zu lösen. Der Zwang zum Handeln ergab sich auch aus der Situation, weil nach den Frühpensionierungen auch das Instrument der Kurzarbeit (nach Arbeitsförderungsgesetz längstens 2 Jahre) in den Werken bis zur Jahreswende 1994/95 ausgelaufen wäre.152 Diese „Novembervereinbarung“ brachte für die betroffenen Arbeitnehmer und ihre Interessenvertretung eine dringend benötigte Atempause, zumindest für zwei Jahre. Allerdings ist in dem neuen Vertragswerk kein Personalbestand festgeschrieben. Die VW AG hat zwar für die kommenden zwei Jahre auf die Möglichkeit zu betriebsbedingten Kündigungen verzichtet, wobei aber andere Formen von Personalabbau zwischenzeitlich nicht ausgeschlossen sind. 4 Tage Arbeitszeit unter Beibehaltung der 5 Fabriköffnungstage (insofern der Markt es hergibt) verdeutlichen das zukünftig anstehende weitere Rationalisierungs-einsparungspotential. Wenn die VW AG z.B. einzelne Fahrzeugkomponenten nicht mehr selbst herstellen wird, sondern von Zulieferer bezieht, wird das eine nochmals geringere Kapazitätsauslastung im VW-Werk Wolfsburg nach sich ziehen. Permanente Produktionsverbesserungen mit der Zielmarke von 60 Prozent bewirken, daß Zehntausende von Arbeitsplätzen überflüssig werden.153 Bereits eine Woche nach Vertragsvereinbarung argumentierte VW Personalvorstandsmitglied P. Hartz anläßlich einer Betriebsversammlung: „Die Verringerung der Arbeitszeit für alle Arbeitnehmer/innen auf 28,8 Wochenstunden reicht nicht aus, um den Personalüberhang von 149 W. Riester, stellv. IG-Metall Vorsitzender, In: Frankfurter Rundschau, 30.10.1993. Siehe: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 29.10.1993. 151 Siehe: Frankfurter Rundschau, 25.11.1993. 152 Siehe: Metall, Nr. 23.12.1993, Seite 9. 153 Siehe: Stern, Nr. 49, 02.12.1993, S. 216. 150 - 92 - 30.000 in den Jahren 1994 und 1995 auszugleichen und die Beschäftigung für 100.000 Mitarbeitern In den westdeutschen VW Werken zu sichern.“ 154 Er schlug überraschend den darüber konstatierten Arbeitnehmer/innen Flexibilisierungsmodelle, wie das sogenannte Block- und Staffelmodell, vor. zusätzliche In der VW AG operiert man mit Belegschaftszahlen, die für 1994 einen weiteren Personalüberhang von 18.000 und für 1995 von 12.000 ausmachen.155 Der Abschluß verhindert (zunächst) erfolgreich angestandene Massenentlassungen von 30.000 Arbeitnehmer/innen. Diese zeitlich befristete Vereinbarung ist aber auch ein psychologisches Signal eines Einschnittes, den unendlichen Wachstum eines haustarifvertraglichen Lohn- und Gehaltsniveaus der VW AG im gegenseitigen Einvernehmen nach unten zu novellieren. Ein arbeitsmarktpolitisches Patenrezept kann diese Arbeitszeitverkürzung nicht sein, weil kein neuer Arbeitsplatz dadurch geschaffen, wohl aber vorerst gehalten wird. Die bestehende Arbeit wird mit diesem Instrument lediglich neu verteilt oder versucht zu erhalten. Der Abschluß der Vier-Tage-Woche entlastet außerdem in ungewöhnlicher Weise die „Bundesanstalt für Arbeit“. Durch die Arbeitszeitverkürzung wird es 1994 nicht mehr zur Kurzarbeit kommen und im Falle von Massenentlassungen hätte die Bundesanstalt jährlich 900 Millionen Mark für Arbeitslosengeld auf Basis des Arbeitsförderungsgesetzes für die 30.000 VW Arbeitslosen überweisen müssen.156 Der Vertragsabschluß entlastet in gewisser Weise die VW AG selbst. Das von einigen Unternehmen einfallslos praktizierte Hauruckverfahren von Massenentlassungen (siehe: MercedesBenz) wäre für VW allerdings auch eine teure Lösung gewesen: Bis zu 2 Milliarden DM hätte die VW AG für „Sozialpläne“ veranschlagen müssen.157 „Die Vier-Tage-Woche ist aber trotz der Unwägbarkeit ein zeitlich begrenzter Versuch, aus der Not heraus die vorhandene Arbeit auf möglichst viele Menschen zu verteilen.“158 Trotz formulierter Einschränkungen sollte positiv hervorgehoben werden, daß ein bisheriges Defizit an politischer sowie „intellektueller“ Kraft für gesellschaftlich akzeptable Lösungsansätze zur Aufrechterhaltung von hier 30.000 Arbeitsplätzen mit der erzielten Modellvariante erfolgreich ausgeglichen wurde. Hiermit ist zugleich der Durchbruch zu mehr Flexibilität am Arbeitsplatz zweifelsfrei eingeleitet worden, deren langfristige Konsequenz für die IG-Metall einen (weiteren) Bedeutungsverlust einleiten könnte. Die einstigen „Vorkämpfer“ der 35-Stunden-Woche mit Lohnausgleich befinden sich heutzutage in einem aufgezwungenen Abwehrkampf, in dem sie sich Arbeitszeit durch Lohnverzicht regelrecht erkaufen müssen. Das Kernproblem der VW AG, über dem Preis wieder konkurrenzfähig zu werden, ist mit diesem „Werkvertrag“ in keiner Weise entschärft worden: „VW habe 30 Prozent zuviel Mitarbeiter/innen. Man werde an weiteren Modellen arbeiten müssen, um diesen Überhang flexibel zu beschäftigen.“ 159 Diese 30 Prozent an Mitarbeitern stehen auch nach dem 28,8 Stunden pro Woche Vertragsabschluß bei VW im doppelten Wettbewerb: Sie müssen sich messen lassen an den Leistungen der VW Mitarbeiter/-innen in ausländischen Zweigwerken aber auch den Kostenvergleich mit der Belegschaft aller in- und ausländischen Zulieferbetriebe erfolgreich bestehen, um ihre Arbeitsplätze halten zu können. 154 Braunschweiger Zeitung, Helmstedter Ausgabe, 03.12.1993. Siehe: Autogramm, 02.11.1993, 23. Jahrgang, Seite 1. 156 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 04.12.1993. 157 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 06.12.1993. 158 Stern, Nr. 49, 02.12.1993, Seite 216. 159 Piëch, F. In: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 04.12.1993. 155 - 93 - Unabhängig von diesem zeitlich befristeten Erfolg der relativen Absicherung von betriebsbedingten Kündigungen für zwei Jahre wird der Vorstand der VW AG zielstrebig und konsequent die „schlanke“ Fahrzeugherstellung (lean production) nach japanischen Leitmustern systematisch ausbauen. „Im Hinblick auf den EG-Binnenmarkt und den sich damit verschärfenden Wettbewerb ist zur Sicherung der Unternehmensposition am Markt (...) die Suche nach kostengünstigen Produktionsverfahren unabdingbar. Einen der Schwerpunkte der Aktivitäten zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit bildet die konsequente Hinwendung zur schlanken Produktion....“160 Die veränderte Arbeitsorganisation wird die Fertigungstiefe reduzieren und damit auch die Beschäftigtenanzahl erheblich verringern. Parallel dazu wird auch die Automobilzulieferindustrie umstrukturiert, deren Vielzahl kleinerer Betriebe wird drastisch reduziert und die Zulieferindustrien werden zunehmend größere Komponenten und Systeme fertigen, um als Systemzulieferer bzw. Komponentenhersteller zu dienen. In der Umsetzungsphase zur „just-in-time“ Produktion werden sich im Planungszeitraum bis zur Einführung des Golf, Type IV. ca. September 1996, verstärkt Komponentenzulieferer im näheren Umfeld des Stammwerkes unter den diktierten Bedingungen der VW AG ansiedeln. Diese minimalen Beschäftigungsgewinne werden die einschneidenden Verluste des Personalabbaues in den Kernfertigungsbereichen bei weitem nicht kompensieren können. Die zukünftig neuen Formen der Arbeitsorganisation im VW-Werk Wolfsburg zielen auf die Intensivierung der Produktionssteigerungen, in der außer den Kernfertigungsbereichen wie Preßwerk, Rohbau, Lackiererei und Endmontage alles zur internen Disposition ansteht. Nach der erfolgten Auslagerung der Kabelstrangfertigung ist damit zu rechnen, daß die Fertigungsbereiche Polsterei, Näherei und das Kleinpreßwerk demnächst ebenfalls ausgelagert oder aus der VW AG unter Beibehaltung ihres jetzigen Standortes juristisch ausgegliedert werden. Ein endgültiges betriebswirtschaftliches Abwägen über Kosten und Nutzen dieser Operationalisierung ist zur Zeit noch im internen Entscheidungsprozeß des VW Vorstandes, was u.a. zur Folge hat, daß eindeutige Zielvorgaben bisher ausgeblieben sind. Dieser primäre Umstrukturierungsprozeß wird sich wahrscheinlich innerhalb der nächsten drei Jahre vollziehen, wobei der zeitliche Quantensprung durch die Einführung von „Golf Typ IV“ gesetzt wird, der bereits ein Jahr früher als geplant Anfang 1997 vom Band laufen soll. Diese Zielmarke scheint aber bereits schon für Oktober 1996 anvisiert zu werden, wo die Markteinführung der Produktionsreihe „Chico“ auf konsequenter „lean-produktion-Basis“ durch komplett angelieferte Modulteile äußerst personalextensiv montiert werden soll. Verbleibende Kernfertigungs- und Verwaltungsbereiche könnten z.B. in einer weiteren Stufe zu „unabhängigen Rechtsformen“ umstrukturiert werden, die mit dem Maßnahmeziel der geringsten Kosten gegenseitig konkurrieren. Die Entscheidung zur Ausgliederung von Betriebsfertigungskapazitäten ist abhängig von der „Differenz zwischen den standortbedingten Erträgen und den standortabhängigen Aufwendungen.“161 Ist zwischen der analysierten Kostenfrage und der Ertragslage eine Differenz zuungunsten der Ertragslage, wird in der Regel eine Ausgliederung auch vollzogen. Die systematische Verringerung der Fertigungstiefe auf schätzungsweise unter 30 Prozent wird ein hohes Personaleinsparungspotential zur Folge haben und die monostrukturierte Region Südostniedersachsen wird keine Arbeitsplatzkompensation in einem erforderlichen Maße anbieten 160 161 Geschäftsbericht der Volkswagen AG 1992. Seite 19/19. Handelsblatt Nr. 27, 07.02.1989. - 94 - können. Die Annahme, daß die ausgelagerten Arbeitsplätze hier in der Region weitgehend gehalten werden können, wird sich als Fehleinschätzung herausstellen. Das Rationalisierungspotential ist daher über einen längeren Zeitraum im Wolfsburger VW Stammwerk als außerordentlich hoch einzuschätzen und erfaßt alle personalintensiven Bereiche. Einschneidende Standortveränderungen bei VW Wolfsburg erfolgen langfristig in Form verdeckter Strategien und selektiver Auswahlkriterien. Obwohl sie sich somit auch stärker der politischen Aufmerksamkeit entziehen, werden die regionalen Folgewirkungen für Südostniedersachsen weiterhin geprägt sein durch Beschäftigungseinbrüche und eine negative Bevölkerungsentwicklung. Auch die nach außen propagierten „sozialverträglichen Lösungsmuster“ bewirken eine weitere tendenzielle arbeitsmarktpolitische Entleerung in der Region. Ob offizielle Massenentlassungen oder sozialverträglicher Personalabbau (die sogenannten „harten“ oder „weichen“ Methoden): Sie sind in ihren personal- und struktur-politischen Auswirkungen nahezu identisch. Es ist nicht auszuschließen, daß die Mitarbeiter/innen trotz des kommentierten Konzeptes zur Vermeidung betriebsbedingter Kündigungen bis Ende 1995 auch weiterhin mit einem kontinuierlichen Personalabbau konfrontiert sein werden und in Kombination mit den bisherigen Personalabbauinstrumenten ab 1996 eine Situation entstehen kann, in der eine wirkungsvolle sozialverträgliche Abfederung für die Betroffenen zukünftig nicht mehr gewährleistet ist. „Ohne den (erfolgreich) ausgehandelten 28,8-Stunden-Tarifvertrag (bis Ende 1995) würde das Unternehmen jetzt schon mitten in der Diskussion über Auswahlkriterien für Massenentlassungen stecken.“162 Wieviel Arbeitsplätze davon auf das Einzugsgebiet des Landkreises Helmstedt anfallen, ist prozentual kaum erfaßbar, da bei den Maßnahmen zukünftiger Personalabbaupolitik der regionale Proporz grundsätzlich nicht berücksichtigt wird. Sollte sich der Personalabbau im Wolfsburger VW-Werk auf Basis der Vier-Tage-Woche für 1994 auf 47.000 reduzieren, ist für den Landkreis Helmstedt mit ca. weiteren 1.000 Auspendlern in die VW AG weniger zu rechnen. Die Hälfte davon könnte wahrscheinlich noch über die 1994 auslaufende vorgezogene Verrentung ausscheiden. Der Landkreis Helmstedt wird sich aufgrund der hohen Abhängigkeit vom VW-Werk in Wolfsburg auf ein längerfristig anhaltendes niedrigeres Niveau seiner ökonomischen Entwicklung und auf eine weitere Erhöhung der Arbeitslosigkeit einstellen müssen. Summiert man die gesellschaftlichen Kosten in Form von Arbeitslosengeld und -hilfe, beruf-lichen Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen, Sozialhilfe, Kaufkraftreduzierung und das Absinken der Bruttowertschöpfung, reduziertes Gewerbesteueraufkommen und die Bereitstellungskosten für Industrie- und Gewerbeflächenvorratshaltungen, kann aufgrund dessen vermutet werden, daß diese politischen Folgekosten des beabsichtigten und aus strategischen Gründen schubweise umzusetzenden Umstrukturierungsprozesses in der VW AG in ihrer bilanzierten Gesamtheit höher ausfallen werden, als die anvisierten Einsparungskosten im VW-Werk Wolfsburg selbst. Auf der Ebene „strategischer Konzeptionen“ plante und operierte das VW Management traditionell betriebswirtschaftlich, ohne volkswirtschaftliche Gesichtspunkte in die Entscheidungsabläufe mit einzubeziehen. Seit dem Amtsantritt von J.I. Lopez und der personellen Umstrukturierung, insbesondere der Bereiche Beschaffung und Produktionsoptimierung, hat sich diese nur betriebswirtschaftliche Denk- und Handelsweise extrem verhärtet. Die Absichtserklärung vom VW Arbeitsdirektor P. Hartz, eine Personalpolitik umzusetzen, „die ein ungebremstes Produktivitätstempo, einen nachhaltigen Kostenabbau und (zugleich) eine menschliche Lösung des Beschäftigungsproblems ermögliche“, 163 ist ein hoher Anspruch, deren Umsetzung alle Kräfte und Kreativität der Sozialpartner beanspruchen wird. 162 163 Volkert, K. In: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 18.02.1994. Wolfsburger Kurier, 20.02.1994. - 95 - 3.2.3 Wertschöpfung der VW AG „Die von Herstellung, Vertrieb und Nutzung des Automobils abhängige Bruttowertschöpfung 164 macht (mit abnehmender Tendenz) etwa ein Fünftel des Sozialprodukts in der Bundesrepublik Deutschlands aus.“ 165 Der Beschäftigungseffekt in der gesamten Region Südostniedersachsen geht unmittelbar auf das Wolfsburger VW Werk zurück. Im Umkreis von ca. 30 Kilometern sind etwa 90.000 Arbeitnehmer direkt oder indirekt durch das Automobilunternehmen beschäftigt. Dabei erzielt die VW AG ein jährliches Umsatzvolumen von etwa 1,2 Milliarden DM. 50 Prozent aller niedersächsischer Exporte und 25 Prozent aller Investitionen im Bundesland Niedersachsen werden durch die VW AG getätigt.166 Durch die Gesamtbeschäftigungsanzahl, einschließlich aller vor- und nachgelagerten Bereiche, bestimmt dieses Unternehmen dadurch den Großteil der regionalen Einkommens- und Nachfragesituation, sowohl in Südostniedersachsen als auch im Landkreis Helmstedt. Hinweise über die intra- und interregionale Verteilung der Wirtschaftskraft (gemessen an der BWS) der VW AG für die regionale Wirtschaftsleistung im Zweckverband Großraum Braunschweig (dem auch der Landkreis Helmstedt angehört), ergaben folgende Zahlenwerte: „Mit einer aus dem niedersächsischen Anteil der VW AG (9 Mrd. DM) der Region Braunschweig zugeschlüsselten Wertschöpfung von 7,5 Mrd. DM verteilen sich hier 26,8% der BWS des Unternehmenssektors bzw. 50% der BWS des Verarbeitenden Gewerbes allein auf diesen Automobilhersteller (Landesanteil: 15%). Die industrielle Leistungskraft der Region wird somit entscheidend von der Automobilproduktion der Volkswagen AG geprägt.“167 Hiermit tritt die Bedeutung der VW AG und zugleich die Abhängigkeit der Region von ihr sehr deutlich hervor. Von den 7,5 Mrd. DM (die im Großraum Braunschweig durch die VW AG erwirtschaftet werden) fallen nur 16,3 % dieser BWS im verarbeitenden Gewerbe auf die Landkreise Gifhorn, Helmstedt, Peine und Wolfenbüttel. Die noch in den 80er Jahren stattgefundene Prosperitätsentwicklung der Automobilbranche im Großraum Braunschweig konnte im Vergleich zu anderen niedersächsischen Großräumen eine überdurchschnittliche Wachstumsphase erreichen, die mit dem Beginn der Konjunktur- und Strukturkrise in der VW AG ab September 1992 ebenfalls einen Einbruch in der BWS zur Folge haben wird. Daß die Leistungen der VW AG der Werke Wolfsburg, Braunschweig und Salzgitter an die Mitarbeiter/innen von Löhnen, Gehältern, Sozialausgaben des Arbeitgeberanteils, dem Versorgungsanteil einschließlich Pensionsrückstellungen, eine Gesamtsumme von 11,5 Mrd. DM (das entspricht einer BWS von rund 75% des gesamten Großraums Braunschweig) betragen, 168 verdeutlicht auch die Dimension der daraus resultierenden Kaufkraft. Bei einem durchschnittlichen Nettoeinkommen eines Arbeitnehmers pro Jahr bei VW (einschließlich der Vorstandsbezüge) von 61.700 DM (Quelle: VW AG), ergibt das auf den Landkreis Helmstedt übertragen, bei einem 15,4 prozentualen Belegschaftsanteil im VW-Werk Wolfsburg, das sind 9.173 Mitarbeiter/innen, einen monatlichen Gesamtbetrag von mehr als 47 Millionen DM. 164 Anmerkung: Bruttowertschöpfung im folgenden BWS genannt. Institut der deutschen Wirtschaft. Produzieren am Standort Deutschland. Herausgeber: Verband der Automobilndustrie e.V. (VDA). Frankfurt a. M. 15.06.1993, Seite 3. 166 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 21.01.1993. 167 Günter, H. Zur Abhängigkeit der Region Braunschweig von der VW-AG. Institut für Wirtschaftswissenschaften, Abt.Volkswirtschaftslehre, Technische Universität Braunschweig 1993. Seite 168 Siehe: Günter, H. Dto. Technische Universität Braunschweig 1993. Seite 20. 165 20. - 96 - Der Wirtschaftsraum Landkreis Helmstedt wird vorwiegend aus dieser Kaufkraft gespeist. Das haustarifspezifische Gehalts- und Lohnniveau der VW AG schaffte die Voraussetzung für diese beachtliche Wertschöpfungshöhe, der Summe aus geleisteten monatlichen Gesamteinkommen unselbständiger Arbeit. Die in Höhe von dreistelligen Millionenbeträgen verminderte Umsatz- und Körperschaftssteuer bereiten dem niedersächsischen Finanzministerium aufgrund der gegenwärtigen Absatzkrise der VW AG Schwierigkeiten. Die VW AG mit ihren fünf Werken in Niedersachsen und die niedersächsischen Zulieferbetriebe als insgesamt größte Steuerzahler des Landes haben beim Finanzministerium eine Herabsetzung ihrer Steuervorauszahlung als Reaktion einer Anpassung an die rückläufige Umsatzentwicklungen beantragt. 169 Die Gewerbesteuer, die sich am Gewinn eines Unternehmens orientiert, kommt zu rund 85 Prozent den Gemeinden zugute, während der Rest an den Bund geht. Von den Gewerbesteuerzahlungen des Unternehmens hat die Stadt Wolfsburg als Geschäftssitz des Automobilkonzerns bislang am stärksten profitiert und ist deshalb auch am härtesten betroffen, wenn diese Steuereinnahmen sich nun verringern. Die VW Absatzkrise führte dazu, daß sich die Gewerbesteuereinnahmen der Stadt Wolfsburg auf weniger als die Hälfte reduzieren. Der Gewinneinbruch bei Volkswagen hat ein riesiges Loch in die Wolfsburger Stadtkasse gerissen. Der Haushalt 1993 mußte wegen des sinkenden Gewerbesteueraufkommens kräftig abgespeckt werden. Die fatale Abhängigkeit Wolfsburgs von der VW AG zeigte sich durch ein Schreiben vom 27.10.1992 der Konzernspitze an die Stadtverwaltung, in dem mitgeteilt wurde, daß die Stadt nicht mehr mit der erwarteten Gewerbeertragssteuer von 36 Millionen rechnen könne. Insgesamt sank in Wolfsburg das Gewerbesteueraufkommen von 1988 bis 1993 von 177 auf 90 Millionen DM.170 „Auch die Stadt wird sich von ihren Standards trennen, um sich der finanzwirtschaftlichen Normalität anzupassen, weil die Basis für eine üppige Anormalität für immer entfallen ist.“ 171 Rat und Verwaltung der Stadt Wolfsburg sind auf die jetzt so spärlich sprudelnden Quellen aus der VW AG geradezu fixiert gewesen. Die Äußerung des Stadtkämmerers verdeutlicht, daß Wolfsburg hinsichtlich der Mobilisierung von Sparpotentialen und einer Reform der Haushaltswirtschaft noch am Anfang steht. 3.2.4 Golf Parallelproduktion und Standortpräferenz Die zukünftige Stellung des Werkes Wolfsburg als Hauptproduktionsstandort im Konzern-verbund scheint langfristig nicht ausreichend gesichert zu sein. Nach Auslagerung der Polo Produktion nach Spanien im Juli 1992 ist die Abhängigkeit von nur einem Basismodell im VW Standort Wolfsburg weltweit in dieser produzierten Größenordnung am ausgeprägtesten. Seitdem versucht das VW Management die ganze Bandbreite des absatzpolitischen Instrumentariums mit nur einem Basismodell im Wolfsburger VW-Werk abzudecken. „Wie zu den Zeiten des „Käfer-Erfolges“ stützt sich der Marktanteil von VW (22 Prozent in Deutschland) heute vor allem auf einen Typ: 54 Prozent aller im Inland verkauften Volkswagen sind Autos der Modellreihe Golf/Vento.“172 Nur ein Modell auf Basis vom Typ Golf in der produzierten Größenordnung - im Segment der „unteren Mittelklasse“ - mit dem anvisierten Ziel von maximal täglich 3800 Produktions-einheiten 169 Siehe: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 26.06.1993. Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 03.02.1993. 171 Berenskötter., M. (Stadtkämmerer), Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 17.06.1993. 172 Stern, Nr. 52, 1992, Seite 102. 170 - 97 - in Wolfsburg, und mit aufsteigender Tendenz von 380 in Mosel 173 lassen Risikofaktoren erkennen, die weit über konjunkturell-spezifische Trends hinausgehen. „Im gesamten deutschen Automobilbau soll die Fertigungstiefe, Kennziffer für den Arbeitsanteil des Autokonzerns am Endprodukt, von derzeit 40 auf 30 Prozent gedrückt werden.“174 „In Wolfsburg werden noch rund 43 Prozent aller Autoteile selbst produziert.“175 Die Konzentration auf die erwähnte Kernfertigung in der Fertigmontage des Wolfsburger VW Werkes konkurriert ab Januar 1994 direkt mit dem VW Werk im sächsischen Zwickau. Die dort entstehende „schlanke Fabrik“ mit anfänglich täglich ca. 1000 Golf Typ III - Modellen, soll die modernste in Deutschland werden, in der die „effektive Wertschöpfung“ an jedem Auto nur noch 25 Prozent betragen soll.176 Zwickau wird hierbei durch den gesamtproduktionstechnologischen Vorteil der neuesten Fertigungsanlage und Arbeitsorganisation ein ernsthafter Konkurrent im internen Konzernverbund. Insgesamt verfügt die VW AG weltweit über 40 Produktionsstätten, davon sind zur Zeit 12 im Ausoder Umbau, die „nun in einem intelligenten Verbund von Kapazitäten und Kosten geführt werden müssen.“177 Der Aufbau der Produktionsstätte in Zwickau bedeutet für Wolfsburg Parallelproduktionskapazitäten für den Golf Typ III mit der Konsequenz, daß Kapazitäten kurzfristig zwischen den Standorten verlagert werden können. Speziell bei Nachfrageeinbrüchen kann damit die Konkurrenz zwischen den Standorten vom Management strategisch genutzt werden. Das Zweigwerk Mosel bei Zwickau halten VW Manager für gänzlich überflüssig. Sie bestätigen, daß durch das Montagewerk Mosel die Beschäftigungslage in der Wolfsburger Produktion auf Dauer schwer beeinträchtigt werden könnte.178 Ende Oktober 1992 berichtete die Zeitschrift „Manager-Magazin“, daß Volkswagen aufgrund zukünftiger Überkapazitäten die Halbierung der Fertigungskapazität des im Ausbau befindlichen Werkes in Mosel beschlossen habe. Statt bei geplanten 250.000 Golf Typ III soll die Kapazität auf jährlich 125.000 reduziert werden.179 Im Ergebnis würde das eine vorübergehende Standortstabilisierung für Wolfsburg bedeuten, obwohl bei der internen Konkurrenz zukünftig ausschreibungspflichtiger Sondermodelle der Standort Mosel vor Wolfsburg aufgrund günstiger Kostenvorteile weiterhin den Vorrang erhalten könnte. Nach den Planzahlen von 12/92 soll die VW Fabrik im neuen Bundesland Sachsen erst im Jahr 1997 auf die beabsichtigte Größe ausgebaut werden. Im VW Vorstand ist man sich intern wohl klar, daß die Kapazitäten gar nicht mehr gebraucht werden. Bei der ursprünglichen Expansionsplanung ist der deutliche Konjunktureinbruch in der gesamten Automobilbranche nicht berücksichtigt worden. „In Mosel produzierte VW im Dezember 1992 mit 2.000 Beschäftigten täglich 380 VW Golf. „Von 1994 an sollen dort rund 5.500 Beschäftigte täglich 1.200 Autos bauen“. Ein VW Sprecher erklärte, „an dem Projekt selbst wolle VW auf jeden Fall festhalten.“180 Der Betriebsratsvorsitzende Volkert fügte diesbezüglich hinzu: „Derzeit steht im Vordergrund, das Erreichte in Mosel mit den insgesamt 2.000 Mitarbeitern zu sichern und durch den jetzt beginnenden Sturm zu bringen.“181 173 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 25.07.192. WirtschaftsWoche Nr. 21, 15.05.1992, Seite 135. 175 Stern, Nr. 52, 1992, Seite 102. 176 Siehe: Hannoversche Allgemeine, Wirtschaftsteil, 04.07.1992. 177 Hahn, C. In: Braunschweiger Zeitung, Wirtschaftsteil, 03.07.1992. 178 Siehe: Spiegel. Nr. 40, 28.09.1992, Seite 159. 179 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 24.10.1992. 180 Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 11.12.1992. 174 - 98 - Das nach dem „Sturm“ der Automobilkonjunkturkrise die Milliardeninvestition in Mosel und Chemnitz (Motorenwerk) den beschriebenen "Druck" auf das Wolfsburger Zweigwerk nur kurzfristig aussetzt und auf einen späteren Zeitpunkt verschiebt, verdeutlicht folgende Veröffentlichung: "Wenn von Januar 1994 an täglich etwa 1.000 Autos der Golfserie vom Band laufen, genießt die Fabrik den Ruf der Mittelgröße, die derzeit als wohl wirtschaftlichste angesehen wird."182 Die ab 1994 modernste Automobilfabrik in Deutschland wird von Planungsstäben auf folgendes Konzept laufend verfeinert: „Auf die Zulieferer legt VW in Zwickau besonderen Wert. Als schlanke Fabrik soll das Werk weitgehend ohne Vorratshaltung arbeiten. Autositze, Frontpartien mit Kühlergrill und später auch das Cockpit mit Lenkrad, Meßgeräten und Handschuhfach müssen von den Spezialfirmen als komplett vorgefertigte Komponenten-fertigungssysteme pünktlich zum Einbau in die Karosserie angeliefert werden. VW will die Teile weder lagern noch die Qualität prüfen. Der Konzern spart so Geld für eine große Materialsammlung.“183 Die permanente Gefahr, daß die Investitionen in neuen Standorten (wie das Beispiel Mosel zeigt) auch zur Infragestellung bestehender Standorte führen kann, ist mittelfristig nicht auszuschließen. Durch eine eigene Rechtsform des Zwickauer VW-Werkes (Tochter-gesellschaft der VW AG), sind die dortigen Mitarbeiter vom Wolfsburger Haustarifvertrag und diversen Betriebsvereinbarungen abgekoppelt. Die daraus resultierenden Kostenvorteile für Mosel bedeuten ebenfalls eine Konkurrenz für die Golf III Parallelproduktion in Wolfsburg. Das die interne Standortkonkurrenz zwischen Wolfsburg und Mosel keine Vision, sondern bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt Gegenstand tagespolitischer Entscheidungsfindung ist, verdeutlicht folgendes Zitat: „Unterdessen haben Sachsens Sozialdemokraten die Weiterführung des VW Projektes in Mosel bei Zwickau gefordert. Sie reagierten auf Äußerungen von Niedersachsens Ministerpräsident Gerhard Schröder, wonach VW Investitionen in Mosel nicht zu Lasten von Arbeitsplätzen in den alten Ländern gehen dürften und deshalb wegen der schlechten Absatzsituation gestreckt werden müßten.“184 Für die VW AG besteht außerdem die Gefahr, daß sich die Aufgabenstellung der Marken überschneiden. Aber auch innerhalb der Marken existieren Produktüberschneidungen, die weit über die „Überlappung“ von Modellen zu einzelnen Zielgruppen hinausgehen, z.B. wird der neu im Markt eingeführte Golf-Variant mit Sicherheit in das Nachfragesegment des traditionellen PassatVariant einbrechen. Desweiteren werden in den Markt neu eingeführte Modelle von Seat und Skoda zu Lasten der inländischen VW Zweigwerke führen, die insbesondere eine weitere Aushöhlung der Existenzgrundlage in Wolfsburg bewirken könnten. VW produzierte 1993 im Zweigwerk Wolfsburg nur noch 614.000 Einheiten, 25 Prozent weniger als 1992.185 Die Überkapazitäten und der daraus resultierende Kostendruck haben den konzernintensiven Konkurrenzkampf extrem verschärft. 1993 produzierte die VW AG im Ausland erstmals mehr Pkws (u.a. VW Polo in Spanien, Seat und Skoda) als im Inland mit VW und Audi. Die Mitarbeiter/innen in den deutschen Werken müssen sich gegen die Betriebe in Mexiko, Südafrika und Spanien, aber auch gegen Skoda in der Tschechien und der Slowakei erfolgreich behaupten. Zur Sicherung der Standortpräferenz gehört auch der Verbleib des Geschäftssitzes in Wolfsburg. Aus der Sichtweise des VW Markenvorstandes gab es interne Präferenzen und diesbezügliche Abwägungsprozesse nach der Suche eines „idealen und repräsentativen“ Standortes. 181 Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 14.12.1992. Wollbaum, K. In: Hannoversche Allgemeine, 04.07.1992. 183 Wollbaum, K. Dto. 184 Hannoversche Allgemeine, 14.12.1992. 185 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 04.12.1993. 182 - 99 - Die Präferenz für die Wirtschaftsmetropole Frankfurt am Main wurde aufgrund der Wiedervereinigung und der damit verbundenen Stärkung des Wolfsburger Standortes vom Konzernvorstand verworfen. Langfristig könnte die neue deutsche Hauptstadt Berlin intern favorisiert werden. Dem Vorbild von Mercedes und Sony entsprechend, ihre Geschäftszentren nach Berlin zu verlagern, wird sich längerfristig auch die VW AG wohl nicht entziehen wollen. Kostenaspekte werden hierbei mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kein Kriterium darstellen. Die Attraktivität des Wolfsburger Mittelzentrums mit oberzentraler Teilfunktion würde bei der Ausgliederung des gesamten Verwaltungsvorstandes nicht nur Kaufkraftverluste, sondern weitere gravierend Imageeinbußen bevorstehen. Durch den internen Konkurrenzkampf zwischen den VW Produktionsstandorten, in der es bei der Kostenkalkulation um Pfennige gehen kann, würde durch die „neutrale Verlagerung“ des Konzernvorstandes an einen „Imagestandort“ die betriebswirtschaftliche Kalkulation noch konsequenter gegen Wolfsburg umgesetzt werden können. Aus Sichtweise des Management hat es sich als Vorteil erwiesen, den Geschäftssitz von den Produktionsstätten abzukoppeln (Beispiel Adam Opel AG). Solange das Bundesland Niedersachsen seinen 20 prozentigen Anteil am VW Aktienpaket behält und sich der politischen Willensbildungsprozeß zu dieser Fragestellung nicht verändert, werden etwaige (vermutete) Pläne kaum umgesetzt werden können. „Nach der Privatisierung des Bundesanteils an der Volkswagen AG und der geforderten Privatisierung des Landesanteils will die Bonner Koalitionsregierung jetzt das 1960 in Zusammenhang mit der ersten Privatisierung geschaffene VW-Gesetz aufheben. Ein entsprechender Initiativantrag wurde im Bundestag eingebracht.“186 Das VW-Gesetz garantiert besondere Schutzfunktionen und Mitbestimmungsrechte für die Arbeitnehmer/-innen. Dazu gehört unter anderem eine Stimmrechtsbeschränkung der Aktionäre, durch die nicht mehr als 20 Prozent aller Stimmrechte auf der Hauptversammlung ausgespielt werden dürfen. Eine weitere bedeutsame Besonderheit des VW-Gesetzes besteht darin, daß die Einrichtung beziehungsweise Verlegung einer Produktionsstätte eine Mehrheit von zwei Dritteln im Aufsichtsrat erfordert. Insbesondere hierin ist aus Sichtweise der Arbeitnehmer/innen und ihrer betrieblichen Interessenvertretung eine weitere zentrale Schutzbestimmung für die Standort- und Beschäftigungssicherung in Gefahr. 3.2.5 Marktperspektiven und Qualitätsprobleme Marktperspektiven sind in der Vergangenheit aufgrund der Schnelligkeit und Sprunghaftigkeit von mittel- und langfristigen Entwicklungstendenzen im Marktsegment Automobil ungenau vorhergesagt worden. Tendenzielle Fehleinschätzungen über Auswirkungen konjunktureller Absatzeinbrüche und unvorhergesehene Exporterfolge im europäischen Markt der 80er Jahre hinterließen in der Vergangenheit unzutreffende Prognosen in der Beurteilung nationaler und internationaler Marktperspektiven. „Wie zu den Zeiten des Käfer-Erfolges stützt sich der Marktanteil von VW Deutschland (22 Prozent) heute vor allem auf einen Typ: 54 Prozent aller im Inland verkauften Volkswagen sind Autos der Modellreihe Golf/Vento.“187 Für die bisher kontinuierlich hohe Golf-Nachfrageakzeptanz zum dauerhaften Zulassungs-bestseller Nummer eins in der Bundesrepublik Deutschland bedeutet diese außerordentliche Erfolgsstory 186 187 Wolfsburger Kurier, 27.03.1994. Siehe: Stern, Nr. 52, 1992, Seite 102. - 100 - keinesfalls eine unbefristete Langzeitgarantie. So wird sich der Golf IV in noch extremerer Konkurrenz zu Mitbewerbern in nochmals engeren Märkten behaupten müssen. Obwohl die Nachfrage nach dem neuen Golf (Typ III) für 1992 Spitzenwerte aufwies, unterliefen erhebliche Anlaufschwierigkeiten und arbeitsorganisatorische Pannen in der Fertigmontage, die es erforderlich machten, das Tausende von Fahrzeugen nachgebessert werden mußten.188 Die komplizierte Produktionslogistik aufgrund der individuellen Ausstattungsvielfalt 189, der trotz eines Personalüberhanges bestehende tendenzielle Mangel an Mitarbeiter/innen und interne Probleme bei der Umstellung zur „lean production“, führen offensichtlich zu Qualitätseinbußen. „Das Erfolgsmodell Golf rangiert im »TÜV Auto Report 92« bei den bis zu drei Jahre alten Autos auf Platz 36 - weit hinter den japanischen Konkurrenten. Jedem 23. Golf-Fahrer wurde schon bei der ersten TÜV-Hauptuntersuchung wegen »erheblicher Mängel« die Plakette verweigert.“190 Nach einer Kundenbefragung des amerikanischen Marktforschungsunternehmens J. D. Power & Associates schnitt VW in allen drei Vergleichen - Zufriedenheit der Kunden nach dem Kauf, nach 90 Tagen und nach einem Jahr - schlechter als der Branchendurchschnitt ab.191 Der Druck aus Fernost wächst, speziell in der Automobilbranche. Es hat den Anschein, daß Made in Germany im internationalen Wettbewerb qualitativ nicht mehr „erste Wahl“ ist, dafür aber in den Gesamtkosten den ersten Platz einnimmt. Die von der EG ausgehandelte Höchstquotenregelung für japanische Automobile ist noch wirksam, obwohl doch ein Golf-Angreifer aus Fernost mit DIN-Verbrauchswerten wirbt, die auch unter realistischen Praxisbedingungen deutlich unter Golf-Niveau liegen.192 Außerhalb Europas haben japanische Automobilproduzenten mit besserer Qualität, erheblich niedrigeren Fertigungskosten und günstigeren Preisen den harten Konkurrenzkampf (speziell USAMarkt) klar für sich entschieden. „Echte Neuerungen, sagte VW Chef Toni Schmücker, gibt es in japanischen Autos nicht. Der Wolfsburger Konzernherr gestand den blechernen Schrecken aller westlichen Automanager zwar nette kleine Ideen zu, allein die will der deutsche Käufer oft gar nicht haben.“193 Die Entwicklungstendenzen in der internationalen Automobilindustrie sind an dieser oberflächlichen Fehleinschätzung des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der VW AG, T. Schmücker, gänzlich vorbeigezogen. z.B. investierte Nissan im britischen Sunderland umgerechnet 2,7 Mrd. DM, um dort ab 1993 von 4.600 Mitarbeitern jährlich 270.000 Autos der Typen Primera und Micra vom Band rollen zu lassen. Gleichzeitig erweitert der zweitgrößte japanische Automobilkonzern, dem im eigenem Land eine akute Finanzschwäche nachgesagt wird, sein spanisches Förderband auf 104.000 Geländewagen im Jahre 1993. Nun steigt auch der Branchenführer Toyota offensiv groß in Europa mit einem Investitionsvolumen von umgerechnet 2,4 Mrd. DM ein. Es entstehen zwei britische Fertigungsstrecken - ausgelegt auf jährlich 200.000 Motoren und die Serienproduktion der Modellvariante Carina. Bis zur Mitte des Jahrzehnts will der Automobilkonzern seine europäische Kapazität auf jährlich über 200.000 Fahrzeuge heraufgefahren haben. Das Unternehmen Honda plant bis 1995 im britischen Swindon die Fertigung von 100.000 Concerto pro Jahr - eine Investition von rund einer Mrd. DM. Volvo und Mitsubishi beabsichtigen etwa zum selben 188 Siehe: Spiegel, Nr. 40, 28.09.1992, Seite 152. Siehe: Autogramm, VW-Mitarbeiterzeitung, Sonderbeilage, 07.12.1992. 190 Stern, Nr. 52, 1992, Seite 104. 191 Siehe: Stern, Nr. 52 1992, Seite 104. 192 Siehe: Stern, Nr. 31, 23.07.1992, Seite 118. 193 Siehe: Der Spiegel, Nr. 44, 27.10.1980. 189 Kommentar [AL2]: Seite: 95 Um die Ausstattungsvielfalt erheblich zu reduzieren, ist im Golf-Typenprogramm eine "normentierte Fahrzeugreihe" (GolfEurope) entwickelt worden. In dieser Programmkombination wurde bei diesem Wagen von theoretisch möglichen maximal rund 90 Millionen bzw. 80 Millionen auf 16 bzw. 32 (CL bzw. GL) reduziert. Das bringt erhebliche Vorteile für die Fertigung: - die Teilevielfalt an der Linie wird abgebaut - wiederkehrende Arbeitsabläufe, hoher Übungsgrad - bessere Materialbereitstellung. - 101 - Zeitpunkt die gemeinsame Produktion in Holland aufzunehmen, "Daihatsu" beginnt 1993 im italienischen Pisa, "Suzuki" beabsichtigt, in Ungarn zu investieren.194 Die Investitionsoffensive japanischer Automobilkonzerne, die sich vorwiegend arbeitsmarktpolitische Problemregionen als Standort wählen und sich für Großbritannien aufgrund des dort vorherrschenden niedrigen sozialen Standards und wirkungsschwacher Gewerkschaften entschieden haben, wird als „Euro-Japaner“ einen ruinösen Verdrängungs-wettbewerb auslösen. Diesbezüglich kommt nach einer Modellrechnung der Industriegewerkschaft Metall (IGM) im günstigen Fall in Westeuropa im Jahr 2000 zu Überkapazitäten von 2,4 Millionen PKW innerhalb eines Jahres. Die pessimistische Variante kommt zu dem Ergebnis, daß die Nachfrage sogar um 4,7 Millionen PKW hinter dem Produktionsmöglichkeiten herhinkt.195 Dieser Einblick in die Exportoffensive der „Euro-Japaner“ in einem insgesamt enger werdenden Automobilmarkt verdeutlicht, unter Berücksichtigung ökologischer Grenzwerte, in einem Europa der EU ohne Grenzen die anstehenden und zukünftigen Probleme des größten Industrieunternehmens in Niedersachsen und Marktführer Europas. „Weltweit bestehen Überkapazitäten in Höhe von rund 10 Millionen, die auf Dauer keinerlei Chance zu einer wirtschaftlichen Auslastung haben werden. Allein in Europa müsse man von 2,5 bis 3 Millionen Fahrzeugen ausgehen, die produziert werden könnten, aber keine Abnehmer fänden.“196 Die deutsche Autoindustrie muß sich darauf einstellen, daß die Neuzulassungen von PKW und Nutzfahrzeugen im Inland in naher Zukunft auf das Normalniveau der 80er Jahre, ergänzt um den nachhaltigen Absatz in Ostdeutschland, zurückfallen werden, so die Prognose des Bundeswirtschaftsministeriums.197 Bis 2010 wird laut Einschätzung des Baseler Forschungsinstituts "Prognos AG" der Automobilbau zum gesamtdeutschen Bruttosozialprodukt nur unterdurchschnittlich beitragen.198 Marketing Systems (MS) das renommierte Beratungsunternehmen für die Automobilindustrie, hat eine Studie über die Nachfragekonkurrenz und Produktionsentwicklung der Automobilhersteller erstellt: Danach wird sich die harte Wettbewerbssituation im weltweiten Automobilmarkt Anfang der 90er Jahre mit spektakulären Verlusten in den USA, schrumpfenden Unternehmensgewinnen in Japan, Zusammenschlüssen großer Hersteller, einer Krisenstimmung in der Zulieferindustrie und einer umfangreichen Personalfreisetzung zeigen.199 Das weltweite Wachstum der Pkw-Nachfrage soll danach noch bis zum Jahr 2.000 weiterhin knapp über 2 Prozent pro Jahr liegen, in Zahlen über 43 Millionen PKW, betragen. Der weltweite, expansive Ausbau japanischer Marktanteile bis zum Jahr 2.000 zielt in Richtung Westeuropa auf 20 Prozent. „In internen Analysen rechnet VW damit, jährlich bis zu 150.000 Kunden an die Euro-Japaner zu verlieren.“200 In den 90er Jahren, die von einem stärkeren Anstieg des Verkehrsaufkommens in Westeuropa durch die Schubwirkungen der deutschen Vereinigung und des EG-Binnenmarktes gekennzeichnet sind, werden Personen- und Güterverkehr stark expandieren. In der Bundesrepublik Deutschland dürfte sich das aufgrund der zentralen geographischen Lage besonders bemerkbar machen. Sowohl 194 Siehe: Süddeutsche Zeitung, 04.03.1993. Siehe: Frankfurter Rundschau, 28.08.1993, Seite 9. 196 Volkert, K. In: Wolfsburger Allgemeine, 25.05.1993. 197 Siehe: Studie des Wirtschaftsministeriums.In: Handelsblatt, 02.07.1993. 198 Siehe: Handelsblatt, 09.06.1993. 199 Siehe: Beratungsunternehmen "Marketing System" (MS). In: Handelsblatt, 17.12.1992, Seite 23. 200 Stern, Nr. 52, 1992, Seite 106. 195 - 102 - Bevölkerungsentwicklung als auch Wirtschafts- und Einkommenswachstum sprechen eindeutig für ein noch steigendes Personenverkehrs-aufkommen.201 Diesen Grenzwerten einer maximalen Belastbarkeit sollen folgende Faktoren hinzugefügt werden: Die erwähnten weltweiten Überkapazitäten, konjunkturelle Nachfrageausfälle der PKW als Mitverursacher globaler Umweltkrisen durch Ozonloch und Treibhauseffekt, Risikofaktoren in der Energiegewinnung und die tagtägliche Immobilität auf bundesdeutschen Straßen lassen in ihrer Gesamtheit auch strukturelle Veränderungsprozesse einer tendenziellen Reduzierung der vormals uneingeschränkten Akzeptanz des Automobils erkennen. Außerdem verstärkt sich die Tendenz, daß „Geld und Macht mittels Automobil zur Schau zu stellen, an Wertigkeit verliert.“202 Es verstärken sich die Indizien, daß ein zukünftiges verändertes Wachstum auch ein anderes Mobilitätsverständnis mit sich bringt. Die Marktstrategie des VW Managements hat sich definitiv auf den Kernbereich der Automobilproduktion festgelegt. Alternative Möglichkeiten zu einer Produktdiversifizierung (wie der Daimler-Benz Konzern, bestehend aus Deutsche Aerospace DASA, AEG und Daimler-Benz 203) sind vom Vorstand der VW AG verworfen worden. Aus eigener Initiative heraus schaffte es Mercedes-Benz nicht, ein multinationaler Mischkonzern zu werden. Zur Realisierung dieses bedeutenden Vorhabens kaufte man sich am Aktienmarkt bis zum Stand erreichter Mehrheitsbeteiligungen ein und ließ es offiziell vom Bundeskartellamt absegnen. Zaghafte Versuche in der Wolfsburger Forschung und Entwicklung zur Produktdiversifizierung sind in der Vergangenheit fehlgeschlagen. In einem übersättigten Markt erfolgversprechende Nischen für absatzfähige Produkte zu finden, ist die Problematik an sich. Der entscheidende Unterschied beider Automobilkonzerne ist in der Tatsache zu sehen, daß sich Mercedes gerade noch rechtzeitig mit erwirtschafteten Rücklagen und staatlicher Subvention in andere "Standbeine" einkaufte, während VW sein Kapital ausschließlich in der Produktsparte Automobil (zuletzt Seat und Skoda) investierte. Speziell die Mitarbeiter/innen im Bereich Forschung und Entwicklung sollten sich in Wolfsburg verstärkt Gedanken um den langfristigen Erhalt der eigenen Arbeitsplätze machen, indem sie in Eigeninitiative in Form von Arbeitsgruppen (z.B. die Marktchancen einer sinnvollen Verknüpfung der Verkehrssysteme) über Möglichkeiten und Chancen selbstentwickelter Technologien gemeinsam nachdenken. Es wäre eine verpaßte Chance, deren zum Teil hochwertiges Wissen diverser Fachbereiche nur im Bereich der Automobilsparte einseitig "verpuffen" zu lassen VW Geschäftsleitung und Betriebsrat sollten auf Basis der bewährten „kooperativen Konfliktbewältigung“ dieses Arbeitskräftepotential aus der „F. + E.“ als Entwicklungschance begreifen und betriebsorganisatorische Schritte umsetzen, die dem Abbau des technischen Dienstleistungsbereiches entgegenwirken. Insbesondere dieses Entwicklungspotential müßte in seiner Gesamtheit gehalten werden, um im internationalen Wettbewerb auch längerfristig erfolgreich zu sein. Auch auf Basis kommerzieller Antriebstechnik sind bereits heute Verbrauchswerte zu erzielen, die eine wesentliche Minderung des Treibhausgases Kohlendioxid und der verkehrsbedingten Luftschadstoffe bewirken: Die Umweltorganisation „Greenpeace“ demonstrierte mit ihrem 1987 bei Renault entwickelten „Sparmobil Vesta“ (Verbrauch bei konstanten 100 km/h lediglich 1,9 Liter) das bereits technologisch Realisier- und Machbare der Gegenwart.204 201 Siehe: "Verkehr 2000". Europa vor dem Verkehrsinfarkt?, Hrsg: Deutsche Bank. Mai 1990. Automobil, Nr. 1, Mai 1993, Seite 20. 203 Siehe: Daimler-Benz Konzernverflechtungen. Siehe: Stern Nr. 29, 09.07.1992, Seite 33. 204 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 20.10.1993. 202 - 103 - Die Automobilproduzenten hingegen praktizieren eine ökologische Hinhaltetechnik und fahren einen verwirrenden Zickzackkurs um die Entwicklung kleinerer und sparsamerer Personenkraftwagen herum205 Die Anzeichen verdichten sich, daß zur Zeit aus marktstrategischen Gesichtspunkten kein PkwProduzent ernsthaft interessiert ist, eine umweltfreundliche Modellgeneration in Serie vom Band laufen zu lassen. 1991 kündigte sich überraschend eine Zusammenarbeit zwischen dem Schweizer Uhren- und Telefonproduzenten N. Hayek und der VW AG an, um gemeinsam das Projekt „Swatch-Auto“ zu entwickeln.206 Auch eine weitere Absichtserklärung eines gemeinsamen Kleinwagenprojekts zwischen der VWKonzerntochter SEAT und der GM-Konzerntochter Suzuki, unterhalb der Polo Klasse zu entwickeln, ist fehlgeschlagen. Die Auflösung beider Verträge zählten zu den ersten Amtshandlungen von F. Piëch.207 Prof. Dr. U. Steger, ehemaliges Vorstandsmitglied der Marke Volkswagen, Zuständigkeits-bereiche Umwelt, Verkehr und Recycling, äußerte sich in einem Referat, daß „die deutsche Automobilindustrie alle Anstrengungen unternehme, die ökologischen Folgen des Automobils auf ein Mindestmaß zu reduzieren.“208 Tatsächlich hat die deutsche Automobilindustrie ihre Selbstverpflichtungserklärung zur Reduzierung des Kohlendioxidausstoßes um 25 Prozent bis zum Jahr 2005 nicht erfüllen können. Ganz im Gegenteil: Die CO2-Emission wird gegenüber 1987 noch um 10 Prozent steigen. Das gilt selbst dann, wenn alle technischen Möglichkeiten zur Verbrauchssenkung ausgeschöpft werden.209 Trotz aller Diskussionen um Hybridantriebe, Solarmobile oder Elektroautos - Alternative Kraftstoffe haben auf mittlere Sicht nur begrenzte Chancen. Zu dieser realistischen Einschätzung gelang eine „Shell-Studie“ zur Entwicklung auf dem internationalen Kraftstoffsektor.210 Die Hauptursache für die geringe Verbreitung alternativer Kraftstoffe liegt nach den Ergebnissen der Studie darin, daß sie vom Autofahrer zu viele Zugeständnisse verlangen. Zu den Nachteilen zählen u.a. die hohen Preise auf Grund der hohen Produktionskosten, der Mangel an speziellen Tankeinrichtungen, die Kosten eines Fahrzeugumbaus, geringere Motorleistungen, ein zu kleiner Aktionsradius, Aspekte der Sicherheit im Umgang mit diesen Kraftstoffen sowie die Notwendigkeit besonderer Schmierstoffe. Außerdem muß immer berücksichtigt werden, daß eine ganze Reihe von alternativen Kraftstoffen und Antriebssystemen in ökologischer Hinsicht nicht zwangsläufig die Vorteile besitzen, (z.B. Primärenergieanteil bei Elektromotoren), die ihnen zugeschrieben werden. Zwischenzeitlich hat sich das VW Management dafür entschieden, den bereits erwähnten Stadtwagen „Chico“ ab 1995 auf den Markt zu bringen. Die technischen Details stehen noch nicht 205 Siehe: Der Spiegel, Nr. 06.09.1993, Seite 245. Anmerkung: Das Swatch-Auto des Schweizer Unternehmens Nicolas Hayek soll nun doch in Zusammenarbeit mit der Daimler-Tochter Mercedes-Benz gebaut werden. „Der Daimler-Vorstand gab am Dienstag grünes Licht für eine Zusammenarbeit mit dem Schweizer Uhrenkonzern SMH. Mercedes verspricht sich von der Kooperation zukunftsweisende Möglichkeiten für die Entwicklung, Herstellung und Vermarktung von Automobilien, die besonders für den Einsatz in Ballungsgebieten geeignet sind.“ (Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 23.02.1994). 207 Siehe: Der Spiegel, Nr. 06.09.1993, Seite 246. 208 Helmstedter Blitz, 16.12.1992. 209 Siehe: Handelsblatt, 09.09.1992. 210 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 15.08.1992. 206 - 104 - fest. Als Produktionsstandort sei mit Wolfsburg das größte inländische Werk ausgewählt worden. Mehrere Werke des Konzerns hätten sich um die Realisierung des Chico-Projekts beworben.211 Auf keinen Fall ist der Chico in der Lage, den ausgelagerten Polo abzulösen. Ziel ist es, in Wolfsburg zu zeigen, daß auch an einem alten Standort ein zukunftsweisendes, ökologisches Auto wettbewerbsfähig hergestellt werden kann. Damit erhält der Standort Wolfsburg, der trotz betriebswirtschaftlicher Inflexibilität in der VW internen Standortkonkurrenz benachteiligt ist, eine weitere Chance zum Erhalt des Werkes. Ein zukünftiges Einstiegsmodell für ca. 15.000 DM im VW Werk Wolfsburg zu fertigen, ist ehrgeizig und wird kein bequemer Weg.212 Produktionstechnisch und arbeitsorganisatorisch wird der in Wolfsburg beabsichtigte „Chico“ äußerst schmal (lean) produziert. Nur noch vergleichsweise wenig Mitarbeiter/innen werden die fertig angelieferten Modulteile montieren. Der anvisierte Marktpreis wird für arbeitsintensive Produktionsformen keinen Gestaltungsspielraum offen lassen und die enge Wirtschaftlichkeitskalkulation offenbart das Dilemma des Produktionsstandortes Wolfsburg: Die Markteinführung kommt für das VW Werk mindestens fünf Jahre zu spät, weil in der internationalen Standortkonkurrenz (speziell in Südosteuropa oder im „Mega-Wachstums-markt“ Südostasien) bei dem anvisierten Endpreis dort effizientere Wertschöpfungspotentiale zu erzielen sind als im Bundesland Niedersachsen. Die Konzernleitung plant, den Kleinwagen im Vergleich zu anderen Modellen in wesentlich kürzerer Bauzeit zu fertigen, die Arbeitsorganisation und Technik sollen mit modernsten Methoden optimiert werden. Der Chico ist als besonders kurzer, aber geräumiger Kleinwagen konzipiert und soll sich durch hohe Umweltfreundlichkeit auszeichnen. Unter anderem wird darüber nachgedacht, das Fahrzeug mit einem sogenannten Hybridantrieb - einer Verbindung von Verbrennungs- und Elektromotor - und einem Solarzellendach auszustatten. Außerdem wird die VW AG einen neuen Versuch mit dem „Öko-Golf“, ebenfalls im Werk Wolfsburg produziert, wagen: Der „Öko-Golf“ wurde 1983 als verbrauchsarmes Fahrzeug präsentiert213 und ist vom Markt aufgrund der hohen Preiskalkulation nur ungenügend akzeptiert worden. Diese neue 1993 vorgestellte Version wurde jedoch nicht mit dem zur Zeit sparsamsten Seriendieselmotor kombiniert. Unter ökologischen Gesichtspunkten wird ein Massenhersteller wie VW nicht umhinkönnen, stärker im Kleinwagenbereich einzusteigen. "Umweltkraftfahrzeuge" wie der Chico sind für den Standort Wolfsburg eine Herausforderung. Management, Betriebsrat und Belegschaft erhalten die Chance, den Beweis anzutreten, ein derartiges Auto am vermeintlich teuren Standort Bundesrepublik relativ kostengünstig zu produzieren. Dieser Versuch in eine neue Produktpallette zeigt, daß der Erhalt und der Ausbau von Marktanteilen auch in der Automobilindustrie nur mit zukunftsträchtigen Produkten möglich ist, wobei auch flexibles Reagieren auf Marktnischen von großer Bedeutung sein wird. „Das Auto 2000 wird zudem gezielt auf eine einfache und kostengünstige Fertigung hin konstruiert. Es besteht nicht mehr aus vielen Einzelteilen, sondern aus vergleichsweise wenigen Modulen,“214 die von Komponentenzulieferern gefertigt werden. Beim Automobilbau der Zukunft werden sich die Gestaltungsspielräume auf die Aufgabenstellung konzentrieren, inwieweit die Fertigungsmontage in weitaus kürzeren Zeitspannen verwirklicht werden kann und die Mengenkonkurrenz wird sich hauptsächlich an dem jeweils günstigsten Preis der Marktkonkurrenten orientieren, d. h. wer im entsprechenden Marktsegment inklusive Komplettaussstattung zum günstigsten Preis anbieten kann. Daraus läßt sich ein zukünftiger 211 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 24.10.1992. Siehe: Volkert,K. "Riesenchance Chico". In: Autogramm, 23.Jahrgang, 05.10.1993, Seite 9. 213 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 16.10.1992. 214 ADAC Motorwelt, 9/1993, Seite 26. 212 - 105 - „Verdrängungsprozeß der Superlative“ ableiten, der über strategische Allianzen (Kooperationen), Fusionen und Produktionsstättenverlagerungen weit hinausgehen wird. Für die Marktperspektiven der Zukunft ist deshalb die Projektion des erwähnten „Chico“ für den Automobilproduktionsstandort Deutschland und insbesondere für Wolfsburg eine Chance, konstruktive Herausforderung und schwerwiegende Problematik zugleich. Die aufgezeigten Problemstellungen verdeutlichen auch, daß von der gesamten Automobilindustrie ein schlüssiges ökologisches Konzept für die Zukunft des Automobils bisher fehlt und dringend konzipiert werden müßte. Die zukünftige Mobilitätsentwicklung wird verstärkt im Spannungsfeld zwischen Ökonomie und Ökologie stehen. Es kristallisiert sich deutlich heraus, daß die veränderten gesellschaftlichen, ökonomischen und ökologischen Rahmenbedingungen die Automobilmanager zwingen, sich mit selbigen Fragen und Problemstellungen auseinanderzusetzen, um sich zukünftige Marktperspektiven nicht gänzlich zu verbauen. Marktanteile in den USA Aus dem mexikanischen VW Werk „Puebla“ planen die VW Manager die Rückgewinnung der USA-Marktanteile, weil die mit viel Optimismus im USA-Staat Pennsylvania gestartete GolfProduktionsstätte aufgrund falscher Marktstrategien und Qualitätsfertigungsdefiziten 1988 schließen mußte. Sein bislang größtes Debakel erlebte Volkswagen in den USA. Bereits seit Mitte der 80er Jahre rutschte der größte deutsche Autokonzern in den USA mit zunehmendem Tempo ins Abseits. Im letzten Jahr verkaufte VW dort nur noch knapp 97.000 Autos, weniger als die Hälfte des Absatzes von 1985, ein Sechstel der Rekordverkäufe von 1970 und die niedrigste Zahl seit den 50er Jahren.215 Als Mitte der 80er Jahre der Dollar fiel und die Autopreise explodierten, war die Loyalität der VW Kunden dahin. Inkonsequent wurden in Westmoreland Golfs produziert, obwohl die USVerbraucher längst den Jetta bevorzugten, der aber kam aus Deutschland, womit sich VW voll den Wechselkursschwankungen aussetzte. Die Amerikaner finden an einem PKW ohne Stufenheck wenig gefallen. Im November 1987 verkündete VW die Aufgabe der längst unrentablen USMontage als Hersteller, der als erste ausländische Marke den Sprung in eine Fertigung in den Staaten gewagt hatte. Der Rückzug vollzog sich in einer Zeitphase, als der Dollarkurs nach wie vor eine Fertigung in den USA geraten erscheinen ließ und die Japaner zielgerichtet und in großer Expansion begannen, US-Werke zu errichten. VW bot der Konkurrenz ein negatives Lehrstück Auch mit dem 1990 eingeführten Passat hatte VW keinen Erfolg, und der in Osnabrück gebaute Typ Corrado fiel völlig durch: Ein Teil der nach den USA ausgelieferten Corrados mußte wieder nach Deutschland zurücktransportiert werden,216 wurden umgerüstet und mit überproportionalen Verlust an die inländischen Mitarbeiter zum (Gelegenheits-) Verkauf angeboten. In der Automobilbranche besteht auf internationaler Ebene folgende ausgeprägte These: „Wer den USA-Markt verliert, verliert den Weltmarkt“.217 „Obwohl VW letztes Jahr (1991) mit 100 Millionen DM Verkaufshilfen das Geschäft (in den USA) ankurbelte, kauften nur 100.000 Amerikaner einen VW, 1985 waren es noch 200.000.“218 „Volkswagen fand im Juli 1992 in den USA nur noch 6.593 Käufer, ein Viertel weniger als vor einem Jahr. Das Siebenmonatsergebnis von 47.442 blieb um 21,9 Prozent hinter dem Vorjahr zurück.“219 215 Siehe: Handelsblatt, Nr. 109, 09.06.1992. Siehe: Handelsblatt. Dto. 217 Siehe: Auto-Aktuell, In: Auto, 16/1992. 218 Siehe: Auto-Aktuell, In: Auto, 17/1992. 216 - 106 - Um den Absatz nicht völlig einbrechen zu lassen, muß die Zentrale den amerikanischen Kunden großzügige Rabatte geben. Ergebnis: Rund eine Milliarde Mark Verlust 1992 in den USA.220 Einen vorläufigen „Schlußstrich“ ist aus der Absichtserklärung zu interpretieren, VW ziehe sich angesichts dramatischer Verluste aus dem US-Markt gänzlich zurück.221 Laut Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ haben die Marken VW und Audi in den ersten neun Monaten 1993 in den USA trotz hoher Subventionen nur noch 43.000 Fahrzeuge verkaufen können, das sind nochmals 39% weniger als im Vergleich zum Vorjahr und der Marktanteil ist auf klägliche 0,4% geschrumpft.222 Die VW AG dementierte offiziell derartige Vorstandspläne.223 Tatsache ist aber auch, daß die eventuellen Kosten eines Rückzuges vom USA-Markt geringer ausfallen als die in den kommenden Jahren in den USA noch zu erwartenden Verluste. 3.2.6 Rentabilitätsproblematik Trotz einer offiziell ausgewiesenen Umsatzerhöhung im ersten Halbjahr 1991 von rund 44 Milliarden DM224 regiert in der Konzernzentrale der "Rotstift", sind die Mitarbeiter verunsichert und die Betriebsräte befinden sich in Krisenstimmung.225 Nachfrageboom und Überstundenarbeit in der ersten Jahreshälfte 1992 beim Golf Typ III, können VW spezifische Problemstellungen und die Fakten der internationalen Automobilkonkurrenz nicht verdecken: Die Produktivität des Wolfsburger Automobilwerkes liegt mit bis zu 30 Prozent unter den japanischen Mitbewerbern. Der Arbeitsaufwand pro Auto bei Nissan in Sunderland/England (Euro-Japanern) liegt bei 20 Stunden. Bei den übrigen europäischen Herstellern beträgt die Produktionszeit pro Fahrzeug im Schnitt 36 Stunden.226 Wenn im internationalen Maßstab die Stunden verglichen werden, die „zum Bau eines in hoher Stückzahl gefertigten Autos benötigt werden, ist die Produktivität der Europäer insgesamt nur halb so hoch wie die der Japaner und etwas mehr als Zweidrittel der amerikanischen Hersteller. Unter Berücksichtigung japanischer Durchschnittstandards bei der Autoherstellung beschäftigten die europäischen Hersteller nach derzeitigem Stand fast 150.000 Arbeitskräfte oder 17 Prozent zuviel“227 „Den Break even, jenen Punkt also, ab dem ein Unternehmen Geld verdient, erreicht VW erst bei über 90 Prozent Kapazitätsauslastung. 75 Prozent gelten in der Branche als üblich.“228 „In der McKinsey-Studie über die europäische Automobilindustrie von 1991 lagen die Fertigungskosten des VW Konzerns mit einem Rekordindexwert von 140 - Honda und Nissan beispielsweise lagen bei 100. Selbst General Motors schnitt mit 135 Punkten noch besser ab. Die Analyse blieb ohne erkennbare Folgen: In den ersten neun Monaten 1992 betrug der Anteil der Herstellungskosten im Konzern immer noch 90,8 Prozent der Umsatzerlöse, bei Opel lag der Anteil schon 1991 nur bei 82,8 Prozent“229 219 Siehe: Handelsblatt, 6.8.1992. Siehe: Spiegel, Nr. 18.10.1993. Seite 138. 221 Siehe: Dto., Seite.139. 222 Siehe: Dto., Seite 139. 223 Siehe: Braunschweiger Zeitung, Helmstedter Nachrichten, 18.10.1993. 224 Siehe: Braunschweiger Zeitung - Helmstedter Ausgabe, 03.07.1992. 225 Siehe: WirtschaftsWoche, Nr. 21, 15.05.1992, Seite 134. 226 Siehe: Braunschweiger Zeitung - Helmstedter Ausgabe, 28.01.1993. 227 Siehe: Hannoversche Allgemeine, 30.09.1992. 228 Der Spiegel. Nr. 36, 06.09.1993, Seite 118. 229 Stern, Nr. 52, Seite 104. 220 - 107 - Milliardeninvestitionen in die Wolfsburger Produktionsanlagen haben die Rentabilitätsprobleme nicht lösen können, sie wurden durch das gigantische Automationskonzept eher noch vergrößert. Die teure Technik lohnt nur, wenn die Anlagen zu mehr als 90 Prozent ausgelastet sind. Sobald die Produktion unter diese Marke sinkt, erwirtschaftet die Golffabrik Verluste. „Es ist ein offenes Geheimnis, daß (...) in der Autoproduktion mit der Marke VW seit Jahren kaum noch Geld verdient wird, obwohl der Absatz Rekordhöhen erreicht hat.“230 Das Hauptproblem ist, daß Volkswagen zu teuer produziert. Der Konzern ist auf Dauer nicht in der Lage, mit seinen Konkurrenten mitzuhalten. Nur die bisherigen Geschäftsergebnisse einiger Tochtergesellschaften, so der Marke Audi und der VW Bank, ermöglichten es der VW AG, insgesamt noch einen offiziellen Gewinn auszuweisen. Ab 1993 ist die Wirtschaftlichkeitsrentabilität auch in diesen Marken nicht mehr gewährleistet. „Selbst 1991 im Boomjahr der Branche verdiente Volkswagen bei voller Kapazitätsauslastung keine Rendite mit dem Autoverkauf.“231 Für die kommenden schwierigen Jahre ist die VW AG, von allen europäischen Massenherstellern am schlechtesten gerüstet. Im Produktivitätsvergleich mit seinen Konkurrenten landet VW auf dem letzten Platz. „Die Kapitaldecke des Unternehmens ist dünn und die Schuldenlast drückend.“232 In der jährlichen Hauptversammlung und diversen Bilanzpressekonferenzen werden die erwähnten Umsatzzahlen öffentlichkeitswirksam vermarktet. Über das effektive Ergebnis vor Steuern dagegen wird nur intern diskutiert. Das reale „operative Ergebnis“, eine interne Rechengröße der renditeschwachen VW AG, die nicht in der veröffentlichten Bilanz auftaucht, gibt Aufschluß darüber, wieviel Geld mit dem Verkauf von Autos erzielt wird oder verloren geht. Der Verlust sackte 1991 auf minus 720 Millionen DM233 meldete das „Manager-Magazin“ im April 1992, während der „Spiegel“ in seiner Septemberausgabe noch 50 Mio. DM drauflegte. Zum drittenmal in Folge wurden bei VW derart verheerende Zahlen addiert, das Betriebsergebnis sackte hintereinander auf folgende Minuszahlen: 1990: - 690 Millionen 1991: - 770 Millionen 1992: - 850 Millionen.234 Diese entscheidenden Zahlen, die über das tatsächliche Geschäft von VW reale Auskunft geben, wurden im Planungspapier der Ende 1992 stattgefunden Aufsichtsratssitzung für das Geschäftsjahr 1992 nochmals nach oben korrigiert: „Das operative Ergebnis der Volkswagen AG weist für 1992 einen Verlust von 1,11 Milliarden Mark aus.“235 Bereits für das erste Quartal 1993 ist ein operativer Verlust in Höhe von 1 Milliarde eingetreten236 und diese in den ersten drei Monaten 1993 eingetretenen Verlustquoten fielen bereits so hoch aus wie das Minus im gesamten Geschäftsjahr 1992.237 „In den ersten drei Monaten dieses Jahres (1993) wird der größte Autokonzern Europas mit rund einer Milliarde Mark den wohl höchsten Quartalsverlust in seiner Unternehmensgeschichte verbuchen. In der Volkswagen AG ist der Jahresabschluß für 1992 binnen eines Jahres von 447 230 Stern, Nr. 42, 08.10.1992, Seite 24. Stern, Ebenda, Seite 102. 232 Der Spiegel, Nr. 36, 06.09.1993, Seite 115. 233 Siehe: Manager-Magazin, Nr. 4, 1992, Seite 35. 234 Siehe: Spiegel Nr. 40, 28.09.1992, Seite 35. 235 Spiegel, Nr. 49, 30.11.1992, Seite 136. 236 Siehe: Süddeutsche Zeitung, 01.03.1993, Seite 18. 237 Siehe: Der Spiegel, Nr. 9, 01.03.1993, Seite 89. 231 - 108 - Millionen auf 132 Millionen Mark weggebrochen, die Verluste aus dem reinen Autogeschäft sollen sich im vergangenen Jahr konzernweit auf zwei Milliarden Mark verdoppelt haben“238 Insgesamt gesehen ist jedes inländische Werk der VW AG (Standort Niedersachsen) unter betriebswirtschaftlichen Aspekten ein Subventionsunternehmen. Als Vergleichswert wird ebenfalls auf das interne Betriebsergebnis - als Maßstab für Unternehmenserfolg - bei Mercedes-Benz hingewiesen: 1992 ist das dortige „operative Ergebnis“ auf null gesunken. Im vergangenen Jahr erwirtschaftete das Unternehmen noch ein Ergebnis von 600 Millionen DM, vor fünf Jahren waren es noch 3,7 Milliarden DM.239 Nach Expertenmeinung können in der gesamten Automobilbranche bis zu 20.000 Arbeitsplätze verlorengehen.240 Die stagnierende konjunkturelle Gesamtentwicklung und der ins Stocken geratene Automobilabsatz, ab November 1992 mit dramatischen Auftragsrückgängen, rechtfertigt den Begriff „Automobilstrukturkrise“ mit erheblichen Auswirkungen auf das Wolfsburger Volkswagenwerk. Der riskante Expansionskurs der VW AG konnte nur erfolgreich sein, solange die Automobilkonjunktur boomte. Flaut die Nachfrage auch nur auf „Normal“ ab, kommt der Konzern in Bedrängnis. Bei einem starken Einbruch, wie nun eingetreten, bricht der unterste Rentabilitätssockel zusammen. Die wirtschaftliche Situation des VW AG wurde speziell im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ detaillierter dargestellt. Im folgenden wird auch unter Zugrundelegung dieses Berichtes näher auf die Gesamtsituation der VW AG eingegangen. Hier repräsentative Tagespressestimmen deutscher Zeitungen als Resonanz auf diese Veröffentlichung: Frankfurter Rundschau: „Carl Hahn, scheidender VW-Chef, hinterläßt seinem Nachfolger Ferdinand Piëch einen Sanierungsfall: In der Führung herrscht Chaos, die Volkswagen AG erwirtschaftet im Automobilverkauf ein Milliardenminus, der Konzern leidet unter 25 Milliarden Mark Schulden."241 Neue Presse Hannover: „Der VW-Konzern steckt offenbar tiefer in der Krise, als es die offiziellen Zahlen vermuten lassen (...) In der Branche gilt VW längst als Sanierungsfall, da der Gewinn schneller sinkt als der Umsatz steigt.“242 Die Welt: „Spekulationen um Volkswagen reißen nicht ab ...Zum „operativen Ergebnis“ will sich VW (...) nicht äußern. Diese interne Rechengröße habe nur bedingte Aussagekraft.“243 Süddeutsche Zeitung: „Die Volkswagen AG hat einen Bericht des Nachrichtenmagazins Der Spiegel über einen dramatischen Ertragseinbruch im wesentlichen nicht dementiert ... Nach dem Bericht nahm die Verschuldung des Konzerns in diesem Jahr dramatisch auf 25 Milliarden DM zu.“244 Nachdem die VW AG aufgrund der in 9 Jahren hintereinander stattgefundenen Automobilhochkonjunktur auch Marktführer im Umsatz produzierter PKW in Europa wurde, kam 238 WirtschaftWoche Nr. 12, 19.03.1993, Seite 184. Der Spiegel, Nr. 49, 30.11.1992, Seite 138. 240 Siehe: Neue Züricher Zeitung und Schweizerische Handelsblatt. 15.07.1992. 241 Frankfurter Rundschau, 01.12.1992. 242 Neue Presse Hannover, 01.12.1992. 243 Die Welt, 01.12.1992. 244 Süddeutsche Zeitung, 01.12.1992. 239 - 109 - der Einbruch um so deutlicher: Im Vergleich zwischen November 1991 und 1992 sind die Bestellungen beispielsweise in den USA um 16,5%, in England fast um 10 und in Japan um 11% zurückgegangen. Europaweit meldete der Vertrieb minus 19% für den Golf. In der Bundesrepublik liegt der Auftragsrückgang besonders beim Golf mit 55,6% in spektakulärer Höhe (allerdings hinkt in diesem Fall ein Vergleich mit dem Vorjahr, weil der neue Golf gerade im November 1991 auf dem Markt kam.)245 Die Konsequenz bedeutet Kurzarbeit, (letztes personalpolitisches Instrument vor Entlassungen) auch im Wolfsburger VW Werk. Besondere Bedeutung kommt hierbei der Äußerung zwischen Geschäftsleitung und Betriebsrat zu, „in Zukunft keinesfalls auf Halde produzieren zu wollen.“246 Bei einem Schuldenberg von ca. 30 Milliarden DM ist das renditeschwache Unternehmen anscheinend nicht mehr in der Lage, die negativen Folgewirkungen von Konjunktureinbrüchen durch verstärkte Lagerungshaltung etwas abzuschwächen. Ein frühzeitiges Anzeichen dafür, daß die für die 1. Jahreshälfte 1993 beantragte und vom Arbeitsamt genehmigte Kurzarbeit nicht die letzte im Gesamtjahr 1993 sein wird. Gegen das Herbeireden einer Krise in der VW AG äußerte sich der niedersächsische Wirtschaftsminister P. Fischer. Durchaus verständlich, wenn man sich die Abhängigkeit Niedersachsens von nur einem industriellen Standbein vergegenwärtigt. In Folge dessen argumentierte P. Fischer: „VW sei kein Sanierungsfall trotz der temporär ungünstigeren Ergebnisse sei der Automobilkonzern im Kern gesund.“247 P. Fischer steigerte sich, in dem er als niedersächsischer Wirtschaftsminister faktisch freiwillig die Funktion eines Pressesprechers der VW AG auf sich nahm und vorheriges Zitat folgendermaßen begründete: „Daß das bilanzierte Eigenkapital rund 18 Milliarden DM betrage, die Eigenkapitalquote über 25 Prozent liege. Er warnte davor, das operative Ergebnis als Schlüsselgröße für die unternehmerische Tätigkeit insgesamt bei VW zu nehmen. Das ist eine Binsenweisheit. Wenn ein Unternehmen kräftig investiert und dabei Sonderbedingungen für Abschreibungen nutzt, wie etwa in Mosel, dann muß das ordentliche Ergebnis schlechter ausfallen.“248 Der Minister gab sich zuversichtlich, daß die VW AG für die Zukunftsanforderungen des globalen Wettbewerbs gerüstet sei.249 Nachvollziehbar, denn wenn VW „hustet“, bekommt die jeweilige Landesregierung in Hannover bereits eine „Lungenentzündung“ angesichts der Tatsache, daß die jahrzehntelange monostrukturelle Abhängigkeit niedersächsischer Automobilstandorte nicht reduziert werden konnte und in Niedersachsen 250.000 Arbeitsplätze vom Produkt Auto abhängen davon entfällt die Hälfte auf Zulieferbetriebe. Anlehnend an die Argumentation Fischers äußerte sich ebenfalls der VW Konzerngesamtbetriebsratsvorsitzender K. Volkert: "Der VW Konzern hat wie die gesamte Autobranche, derzeit einige Probleme, ist aber bei allen Schwächen keineswegs ein Sanierungsfall. Nach den vergangenen Boom-Jahren normalisiere sich jetzt die Autonachfrage."250 Grundsätzlich anders sah es die renommierte Fachpresse:" Der Konzern ist bedrohlich verschuldet. Flüssigen Mitteln von 9,4 Milliarden Mark stehen in diesem Jahr bereits Kredite von 25 Milliarden gegenüber. Im nächsten Jahr, so sieht die Planung vor, werden die Schulden auf 30,7 Milliarden und 1994 auf 32,9 Milliarden Mark steigen. In Zeiten hoher Zinsen hat Volkswagen sich einen gefährlichen Ballast aufgeladen."251 Am Ende der Ära C. Hahn wird immer mehr zur Gewißheit und Realität, daß der niedersächsische Autogigant vor seiner wohl schwersten Strukturkrise steht. Volkswagen, Symbol des deutschen 245 Siehe: Wolfburger Allgemeine Zeitung, 12.12.1992. Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 11.12.1992. 247 Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 11.12.1992. 248 Braunschweiger Zeitung - Helmstedter Ausgabe, 11.12.1992. 249 Siehe: Ebenda, 11.12.1992. 250 Braunschweiger Zeitung - Helmstedter Ausgabe , 09.12.1992. 251 Der Spiegel, Nr. 49, 30.11.1992 , Seite 136. 246 - 110 - Wirtschaftswunders, ist zu einem Sanierungsfall geworden, dessen Auswirkungen auf die Region Südostniedersachsen unübersehbare Folgen mit sich bringen. „Insgesamt machen die von Hahn auf den Weg gebrachten Investitionen bis 1997 die Summe von 51 Milliarden Mark aus.“252 Auch mit Zustimmung des ehemaligen ersten Vorsitzenden der IG-Metall und damaligen Aufsichtsratsmitglieds der VW AG, F. Steinkühler, wurde noch vor zweieinhalb Jahren der Vertrag des pensionsreifen C. Hahn verlängert. 253 Diese von Hahn angeschobene Expansionspolitik hätte ohne die im nachhinein zurückgezogenen und gestreckten Investitionsmaßnahmen in den kommenden Jahren zusätzliche Milliarden Verluste eingefahren.254 Ein insgesamt unrealistisches Gesamtprojekt, von der Tatsache ausgehend, daß der VW AG dafür ohnehin das nötige Kapital fehlt und daß die damit zu erwartenden Überkapazitäten aufgrund von Marktsättigungen und Kaufkraftverlusten keinen betriebswirtschaftlich positiven Effekt erzielen und nebenbei die bestehenden Arbeitsplätze in den inländischen Zweigwerken existenziell gefährden. Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ kommt infolge dessen zur Prognose: „Das Unternehmen ist so angeschlagen, daß nur noch radikale Maßnahmen helfen. Hahns Nachfolger Piëch, scheint offenbar dazu entschlossen. Massenentlassungen, heißt es in Wolfsburg, werden unvermeidlich sein. Piëch werde bis zum Äußersten gehen und vor Werksschließungen nicht zurückschrecken.“255 „Der Riese VW wankt, und Piëch bleibt nicht die Zeit, die Probleme nacheinander zu lösen.“256 Am 31.12.1992 begann im Wolfsburger Management eine neue Zeitrechnung: Die „WAP Zeit“ „Warten auf Piëch“, wie es VW Manager intern formulierten, dürfte vorbei sein. Mit gemischten Gefühlen wartete man in der Geschäftsleitung auf den Stabwechsel an der Spitze zum Jahresende 1992/1993. Vor allem in den Führungstagen wuchs die Unruhe. Es galt als sicher, daß der neue VW Chef Piëch alle Führungsebenen ausdünnt. Vor allem an der Spitze dürfte F. Piëch Funktionsträger ausgemacht haben, die für die Krise mitverantwortlich sind.257 Piëch: „80 Prozent unserer Standortnachteile sind Managementfehler. Zulange wurde auf Fließbandarbeit und starre Massenfertigung gesetzt. Die Japaner mit schlanker Produktion, weniger Hierarchiestufen und Gruppenarbeit konnten ihren Wettbewerbsvorsprung festigen und ausbauen.“258 Die Logistik in der VW AG ist insgesamt zu ineffizient und die Struktur der Vernetzung verharrt in einem verhängnisvollen Kästchendenken innerhalb der Betriebsebenen. In der Gerüchteküche rund um die VW Vorstandsetage brodelte es weiterhin kräftig. Für den „Spiegel“ stand bereits fest: Der neue Vorstandsvorsitzende der VW AG F. Piëch, beabsichtigte den Spanier de Arriortua, Chefeinkäufer von General Motors (GM), nach Wolfsburg holen.259 Es ist zu befürchten, daß die anvisierten Maßnahmeschritte zur Konsolidierung vielleicht zu spät umgesetzt werden. Das vom vorherigen Vorstandsvorsitzenden C. Hahn initiierte gigantische Investitionsprogramm (das größte der Firmengeschichte) belastet die VW AG in seiner Substanz. Auch in den nächsten Jahren wird sich das Unternehmen davon nicht erholen. Mit 30,7 Milliarden Mark Schulden und mit sinkender Automobilnachfrage und verschärftem nationalen- und 252 Der Stern, Nr. 52, 1992, Seite 106. Siehe: Der Siegel Nr. 19, 10.05.1993, Seite 144. 254 Siehe: Top-Business, Industriemagazin, Nr. 3, 1993, Seiten 18/19. 255 Der Spiegel, Nr. 49, 1992, Seite 138. 256 Der Stern, Nr. 52, 1992, Seite 108. 257 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 03.12.1992. 258 Der Spiegel, Nr. 49, 1992, Seite 139. 259 Siehe: Der Spiegel, Nr. 7, 15.02.1993, Seite 48. 253 - 111 - internationalen Wettbewerb scheint das geschwächte Unternehmen denkbar schlecht gerüstet zu sein. Die Gefahr, daß die Region Südniedersachsen sich demnächst zu einer Krisenregion mit gigantischem Ausmaß entwickeln könnte, ist anhand dieser Faktoren nicht auszuschließen. In der VW Betriebsversammlung in Wolfsburg sprach der VW Konzern- und Gesamtbetriebsratsvorsitzender K. Volkert in seinem Rechenschaftsbericht unverklausuliert: „Die Situation ist wirklich ernst. Wer jetzt nicht begreift, daß härtere Zeiten Änderungen und auch Abstriche von allen erfordern, der muß wissen, daß dies verantwortungslos ist.“260 Die Kollektiveinstimmung auf eine grundlegend veränderte Gesamtsituation kann als eine pädagogische Vorbereitung an die Mitarbeiter/innen gewertet werden, auch auf die objektiven Grenzen von Betriebsratsarbeit hinzuweisen. K. Volkert sprach in seinem Referat von „ernsten inneren Problemen, die Volkswagen habe und die bisher durch hohe Verkaufszahlen überdeckt worden seien. Nun seien sie durch den Abschwung um so deutlicher zutage getreten. Die Personalabbaupläne - 12.500 Beschäftigte bis 1994 - seien nur ein Teil dieser inneren Probleme.“261 Der Betriebsrat könne sich nicht der Tatsache verschließen, "daß Einschnitte möglich sind, die über das bisher gewöhnte Maß hinausgehen."262 In seinem Abschlußreferat (ebenfalls auf der VW Betriebsversammlung) sprach der ehemalige VW Vorstandsvorsitzende C. Hahn von Herausforderungen, die im besonderen im VW Werk Wolfsburg darauf ausgerichtet sind, „über den schon 1992 erzielten Produktivitätsfortschritt von zehn Prozent hinaus weitere große Schritte schnell zurückzulegen. Nur dadurch wird es möglich, der weiteren Verschärfung des weltweiten Wettbewerbs zu begegnen und eine bessere Ertragssituation wieder herzustellen.“263 Ob in diesem „geschönten“ Abschlußbericht der darin enthaltene „Appell“ angesichts der aufgelisteten Defizite realisierbar erscheint und die VW AG insgesamt, besonders ihr traditionelles Werk in Wolfsburg, alle Voraussetzungen für Zukunftsaufgaben erfüllt, die schwierige Situation zu beherrschen und die Position des Stammwerkes im Unternehmen national sowie international zu sichern und auszubauen, erscheint angesichts bisheriger Faktoren fraglich. Eine der Hauptursachen sind die hohen Personalkosten. „28.000 Mitarbeiter rechnete (der zwischenzeitlich verstorbene) Konzernpersonalvorstand Martin Posh dem Aufsichtsrat vor, seien bei VW zu viel an Bord.“264 Die Hauptursachen der ökonomischen Ineffizienz liegen in der zu hohen Fertigungstiefe, zu langen Montagezeiten, in der zu kostenintensive Qualitätssicherung mit nachlassender Effektivität und vor allem ist die im internationalen Wettbewerbsvergleich nach heutigen Maßstäben zu groß dimensionierten Produktionskapazität im VW-Werk Wolfsburg. Durch die maximale Auslastung der Produktionskapazitäten können im Wolfsburger VW-Werk tagtäglich maximal fast 4.000, jedes Jahr theoretisch deutlich über 800.000 Pkws gefertigt werden. Diese Tatsache erweist sich heute als größtes Problem für die VW AG: Als Vergleichswert gelten die neuen Fabriken, die japanische Konkurrenten jetzt in Europa aufbauen: Sie können allenfalls 200.000 oder 300.000 Fahrzeuge im Jahr herstellen. Das hat gute Gründe: Größere Stückzahlen, so glauben sie, sind an einem Ort nicht effizient herzustellen. Im VW-Werk Wolfsburg zeigt sich beinahe täglich, das die Wettbewerber in ihrer Einschätzung richtig liegen. Die gigantische Produktionsmaschinerie ist offenbar nicht zu steuern. Ständig fehlen Teile, die Fertigungsmontage ist produktionstechnisch kaum steuerbar. 260 Autogramm, Nr. 12, 07.12.1992, Seite 3. Dto., Seite 3. 262 Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 04.12.1992. 263 Dto., 04.12.1992. 264 Stern, Nr. 52, 1992, Seite 108. 261 - 112 - Nach „Insideraussagen“ passierten in der zweiten Jahreshälfte 1992 nur noch ca. 30 Prozent aller fertigen Golfs unbeanstandet die Fertigungsbänder. Alle anderen müßten zur teuren Nacharbeit noch einmal zurück in die Produktion. Fehlende Fertigungsteile, die später auf den Parkplätzen nachgerüstet werden müssen, verursachten ein organisatorisches Chaos. Es ist ein offenes Geheimnis, daß ein relativ hoher Anteil fertiggestellter Golfs und Ventos bis Anfang 1993 ans Händlernetz ausgeliefert wurden, deren Nachbesserungskosten auf Kulanz der VW AG Millionen DM zusätzliche Kosten verursachen und die Akzeptanz der Kunden zur Marke VW erheblich beeinträchtigten. Das Desaster produktionstechnischer Pannen und Fehlentscheidungen kann beispielhaft fortgesetzt werden: So ließ übertriebenes Technikvertrauen auch die neue Lackiererei im VW Werk Wolfsburg zum Flop werden. Die Planer glaubten offenbar, wenn Computer die Rohkarosserien vollautomatisch durch die Anlage steuern, werden die Fahrzeuge tadellos lackiert. Doch die komplizierte Technik produziert allzu häufig Technikausschuß. So wächst in der Fabrik täglich ein teurer Blechhaufen: Motorhauben mit Lackfehlern konnten nicht mehr ausgebessert werden, weil am Personal für die Nacharbeiten gespart wurde. Anfang Februar 1992 setzte die Lackiererei produktionstechnisch gänzlich aus, so daß von den etwa 3.500 täglich produzierten Pkws, gerade 400 lackiert werden konnten.265 In Notfällen wurde von VW sogar der Hubschrauber angefordert, um Materialengpässe in der Produktionszulieferversorgung zu beseitigen. Besonders bei der Einführung des Golf Typ III war der Helikopter oft bis zu zehnmal pro Woche im Einsatz.266 Eine stufenweise Reduzierung der Fertigungstiefe von derzeit rund 43 Prozent auf die zunächst anvisierten 30 Prozent sind nicht mehr mit den "klassischen Regeln" der Einkaufspolitik zu managen. Der Integrationsprozeß der komplexen Systematik zwischen Lieferanten und Hersteller ist anscheinend erst im organisatorischen Aufbau. Die Konzernleitung hat in der Vergangenheit, als der Automarkt boomte, die innerbetrieblichen Strukturen stark vernachlässigt und nur auf quantitativen Massenausstoß gesetzt. Ein Seitenblick nach Japan erscheint deshalb angebracht: Dort haben die „Führungskräfte“ das Stadium des Taylorismus bereits hinter sich gelassen. Für sie besteht Management im intellektuellen Einsatz sämtlicher Mitarbeiter, ohne funktionelle Klassenschranken. Deutsche Automobilmodelle wie der VW Polo erreichen Laufzeiten von zwölf Jahren und mehr. „Bei den Japanern dagegen sind Forschung, Entwicklung, Einkauf und Produktion so aufeinander abgestimmt, daß sie für die Entwicklung eines neuen Modells nicht einmal drei Jahre benötigen. Deutsche Produzenten brauchen durchschnittlich doppelt so lange.“267 Als z. B. C. Hahn 1991 die neue Organisation der VW AG vorstellte, kamen selbst die Experten des Manager-Magazin ins Grübeln: „Diese Konstruktion ist so eigentümlich, daß sie in keinem Lehrbuch steht.“268 Kernpunkt der Neuordnung war die Schaffung eines eigenen Markenvorstands für VW, in dem Kompetenzrangeleien anhand des folgenden Beispieles vorprogrammiert sind: „Für den Vertrieb von VW etwa können sich der VW Chef, sein Vertriebsmann im Markenvorstand und der Vertriebsmann im Konzernvorstand gleichzeitig zuständig fühlen. Nach diesem Muster summieren sich die Vorstände von Konzern und den Marken Audi, Seat, Škoda, VW auf 30 (überdimensional bezahlte) Topmanager.“269 Die weitere Umsetzung von Strategie in Handlung läuft den langen Weg äußerst schwerfällig über sieben Hierarchiestufen in die unteren Ebenen. In Folge dessen gehen „mindestens zwei Milliarden Mark nach Schätzungen von Finanzmanagern dem Konzern jährlich durch Schlampereien und Pannen in Produktion und Einkauf verloren.“270 Diese Fehlentwicklungen sind ebenfalls eine Hauptursache dafür, weshalb VW auf Dauer nicht in der Lage ist, mit seinen Hauptkonkurrenten mitzuhalten. In der Führungsspitze fehlte es an 265 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 06.02.1993. Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 29.08.1992. 267 Der Spiegel, Nr. 19,10.05.1993, Seite 143. 268 Manager-Magazin, 5/1991. 269 Siehe: Stern, Nr. 52, 1992, Seite 106. 270 Der Spiegel, Nr. 49, 1992, S. 138. 266 - 113 - Entscheidungsfreudigkeit und Fachkompetenz. Das „Paradebeispiel“ klassischer Managementfehlentscheidungen bei VW kann in der Person C. Hahn und seiner unkontrollierten Expansionspolitik aufgezeigt werden. Befürworter des immensen Investitionsprogrammes argumentieren, daß strategische Entscheidungen nicht von der jeweiligen Konjunkturlage abhängig gemacht werden sollten. Sie übersehen aber, daß die finanziellen Rücklagen für derartige Investitionen nicht vorhanden und zukünftige Absatzprognosen von eklatanten Fehleinschätzungen geprägt waren. Der anvisierte „Megamarkt Osteuropa“ erweist sich kurz- und mittelfristig in Folge dessen als Utopie. Im veralteten tschechischen Škoda-Werk werden mindestens 10 Milliarden DM investiert oder auch verpulvert. Auf Hahns Nachfolger Piëch, der ab 04.01.1993 seine Tätigkeit aufnahm und der, wie alle Spitzenmanager in den japanischen Automobilkonzernen, ebenfalls Techniker ist (Dipl.-Ing.), wartet „nicht nur bei der Neuorganisation der Führung eine Herkulesarbeit. Die ehrgeizigen Ausbaupläne Hahns wird er, wo es noch geht, drastisch kürzen müssen. Im Werk Bratislava wird der Ausbau der Passatmontage gestoppt, bei Škoda soll die großzügige Erweiterung des Zweigwerkes Mladá Boleslav gestrichen werden.“271 Trotzdem wird sich die unaufhaltsame Tendenz zur Internationalisierung der Produktionsstandorte weiter fortsetzen und für das Wolfsburger VW-Werk besteht langfristig die Gefahr, daß speziell durch die Öffnung des osteuropäischen Marktes arbeitsplatzintensive Bereiche des verbleibenden Kernfertigungsanteils, ganz oder zumindest teilweise, in die Niedriglohnländer Osteuropas ausgelagert werden. Ein praktisches Beispiel für die Internationalisierungsbestrebungen der VW AG, insbesondere im zukünftigen osteuropäischen Markt, stellt die Standortentscheidung des neuen Audi-Motorenwerkes in Ungarn dar, das nach der Aufnahme seiner Produktion sicherlich auch Motoren für die heimischen Automobilstandorte produzieren wird. „Damit sind die mehr als zweijährigen intensiven Bemühungen gescheitert, die Motorenfabrik nach Magdeburg zu holen.“272 Der osteuropäische Markt befindet sich weiter im permanenten ökonomischen Zusammen-bruch: Der Bürgerkrieg in Jugoslawien ließ den stärksten Exportmarkt für Škoda auf null zusammenbrechen. In Polen ging der Verkauf um 34 Prozent zurück. In der GUS, wo VW 1992 offiziell mehr als 5.000 Stück absetzen wollte, fanden bis Oktober nur 1.400 Autos einen Käufer. Aufgrund dessen orientiert sich die Marke Škoda verstärkt nach Westen, wo ein Drittel der heruntergefahrenen Produktion abgesetzt werden soll, mit der Konsequenz, daß sie besonders der in Deutschland operierenden Marke Seat die Marktanteile streitig macht. Aber auch der Seat-Konzern, den C. Hahn offiziell als „Perle unter seinen Zukäufen pries“273, hat sich ebenfalls als eklatante Fehleinschätzung mit unabsehbaren Folgewirkungen erwiesen: Die spanischen Werkshallen sind zu groß dimensioniert und im iberischen Markt engagierte sich Seat mit mageren Verkaufsergebnissen: „Im spanischen Inland (1991: minus 23,6 Prozent) und in ihren wichtigsten Exportmärkten (Italien: minus 16,4 Prozent, Frankreich: minus 19,9 Prozent)“,274 dafür um so erfolgreicher auf den Deutschen Markt, mit der Parallelkonkurrenz zu Škoda, so daß die Markenvorstände wechselseitig in die Marktsegmente (hier primär auf Kosten des VW Polo) einbrechen. Die spanische 100 prozentige VW Tochter Seat ist kaum noch zu sanieren. Es muß mit einem Verlust von insgesamt 1,25 Milliarden Mark gerechnet werden. Spekulationen, nach denen das Stammwerk „Zona Franca“ in Barcelona geschlossen und die Produktion in das neue vier Milliarden Mark teure Zweigwerk nach „Martorell“ verlagert wird, sobald die VW AG für 1,5 Milliarden Mark das Zweigwerk „Landaben“ mit der Polofertigung übernimmt, verdichteten sich.275 271 Der Spiegel, Nr. 49, 1992, S. 142. Siehe: Volksstimme, Haldenslebener Ausgabe, 21.11.1992. 273 Siehe: Der Spiegel, Nr. 49, 1992, Seite 142. 274 Frankfurter Rundschau, 13.11.1992. 275 Siehe: WirtschaftsWoche, Nr. 41, 08.10.1993, Seiten 188-190. 272 - 114 - Das sich die VW AG von unrentablen Zweigwerken löst, ist keine Zukunftsvision: Seat beabsichtigte auf der Entscheidungsgrundlage von F. Piëch die Produktionsstätte in Barcelona zu schließen.276 Die massive Intervention des VW Vorstandsvorsitzenden beim spanischen Industrieminister Eguigaray, zur Sanierung dieses Zweigwerkes staatliche Subventionen in Milliardenhöhe zu überweisen, sind offensichtlich fehlgeschlagen. Der spanische Industrieminister J.M. Egigaray forderte den Vorstand der VW AG offiziell auf, klare Zukunftspläne für die Marke Seat vorzulegen. Der Minister äußerte offiziell, es gäbe „gewissen Konfusionen“ hinsichtlich der Absichten von VW, die 1993 mit Verlusten von 100 Milliarden Peseten oder rund 1,25 Milliarden DM bei Seat rechnet.277 Unterstellt man ein weiteres Expansionsmotiv, nämlich den Wolfsburger Konzern auf mehrere "Markenstandbeine" zu stellen, um ein Risikoausgleich zu erreichen, ist durch den zusätzlichen Einbruch der Marken Audi, Seat und Skoda, auch dieses Maßnahmeziel gescheitert. Weitere Beispiele für die Ursachenzusammenhänge eines „operativen Verlustes“ von über 1,1 Milliarden DM für 1992 sind unter anderem der vorgezogenen Ruhestand (ohne dieses effektive sozialverträgliche Personalinstrument der 58er Betriebsvereinbarungen wäre es zu Massenentlassungen gekommen), das Werk in Sarajevo, das seit längerer Zeit aufgrund des Krieges in Jugoslawien stillsteht und täglich hohe Verluste bringt, sowie die Währungsveränderung im Europäischen Währungsfond. Es kann als gesichert gelten, daß auf fast allen europäischen Märkten sich die Nachfrage nach neuen Pkws über das hohe Produktionsvolumen von 1992 mit einem Marktanteil von 17,6 Prozent in Europa (VW, Audi, Seat und Škoda)278 kaum steigern läßt. Die von C. Hahn wohl ehrgeizig geplante Großinvestition im Gesamtvolumen von ca. 81 Milliarden DM ist nicht nur die teuerste, sondern auch die riskanteste Expansion eines europäischen Automobilkonzerns, die unter Berücksichtigung zu hoher Produktionskosten, fehlender Rücklagen und nicht mehr zu erwirtschaftender Renditen, nur durch einen leichten Absatzrückgang einen riesigen Absturz in die Verlustzone bewirkt. Aus einem internen Vermerk der niedersächsischen Landesregierung ist bereits im März 1993 hervorgegangen, daß VW im Geschäftsjahr 1993 europaweit 200.000 Autos weniger bauen wird als geplant.279 Erschwerend kommt hinzu, daß auch für das Gesamtjahr 1994 laut einer Prognose des VDA mit einem weiteren Rückgang der Pkw-Neuzulassungen im Inland zu rechnen ist.280 Rentabilitätserschwerend wirkt sich der aktuelle Preisverfall auf den europäischen Märkten aus, so daß Neuwagen durch die selektiven Vertriebsverbindungen vielfach nur noch mit erheblichen Preisreduzierungen veräußert werden können. 281 Das Standardargument der zu hohen Lohn- und Lohnnebenkosten relativiert sich, wenn man Lohnkosten als einen Teil der Gesamtkosten analysiert. H. Henzler, Unternehmensberater bei McKinsey, weist auf die eigentliche Problematik hin: „Zwei Drittel aller Kostennachteile deutscher gegenüber japanischen Unternehmen werden nicht durch höhere Lohn- und Materialkosten, sondern im wesentlichen durch Mängel in der fertigungsgerechten Konstruktion, der Arbeitsorganisation, durch eine wenig vorteilhafte Fertigungstiefe verursacht.“282 276 Siehe: Braunschweiger Zeitung, 09.10.1993. Siehe: Braunschweiger Zeitung, Helmstedter Ausgabe, 18.10.1993. 278 Siehe: Auto, Motor und Sport. Heft 3. 29.01.1993, Seite 8. 279 Siehe: Neue Presse, 02.03.1993, Seite 9. 280 Siehe: Süddeutsche Zeitung, 28.01.1994 und Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.01.1994. 281 Siehe: Süddeutsche Zeitung, 28.01.1994. 282 Vorwärts, 2/1993, Nr. 2, Seite 7. 277 - 115 - Auf die Fragestellung zu den vergleichsweise hohen Lohn- und Sozialleistungen bei VW antwortete F. Piëch in einem Interview: „Zu 80 Prozent sind unsere Kostenprobleme Organisationsprobleme, zu weniger als 20 Prozent sind es Löhne und Lohnnebenkosten.“283 Daimler-Benz Vorstandsvorsitzender E. Reuter: „Die Ursachen der gegenwärtigen Krise liegen eben nicht allein bei den Kosten (unter anderem Lohnkosten) ... sondern seien vielmehr Folgen der Globalisierung des Wirtschaftens und des Wettbewerbs.“284 Die Rentabilitätsprobleme liegen zusammenfassend in der (noch) zu hohen Fertigungstiefe und der nach heutigen internationalen Rentabilitätsmaßstäben zu groß dimensionierten Fertigungsfabrik und zu langen Montagezeiten im VW Werk Wolfsburg. Insbesondere die Milliardeninvestitionen in Automationsfertigungsstraßen haben die Probleme nicht lösen können, sie haben sie eher noch vergrößert. Die ebenfalls unkontrollierte Expansionspolitik bei einer dafür nicht vorhandenen Kapitaldecke mit eklatanten Fehleinschätzungen in den Marktprognosen trugen in ihrer Gesamtheit mit dazu bei, daß sich die renditeschwache VW AG bereits Anfang der 80er Jahre trotz Boomphasen aus der rentabilitätsorientierten Gewinnzone systematisch herauskatapulierte. Je nach parteipolitischen Couleur, wird auch auf einen zusätzlichen Ursachenzusammenhang „mit dem Zeigefinger“ auf die spezifischen „Wolfsburger Machtverhältnisse“ verwiesen. Gemeint ist die Hausmacht des Betriebsrates und sekundär die Vertreter des Landes Niedersachsen, das mit verbleibenden 20 % an VW beteiligt ist, nachdem die Bundesbeteiligung mit ebenfalls 20 Prozent durch einen Beschluß des ehemaligen Aktionärs Bundesregierung auf dem privaten Aktienmarkt veräußert wurde. Anhand der analysierten Auswirkung der VW Krise auf das Bundesland Niedersachsen, geht es hierbei verständlicherweise auch um den elementaren Erhalt der Arbeitsplätze. Es darf auch darauf verwiesen werden, daß unter CDU-Landesregierungszeiten die äußerst marktwirtschaftlich orientierte B. Breuel 285 (in ihrer ehemaligen Funktion als VW Aufsichtsratsmitglied) einer (zwischenzeitlich erfolgten) Verlagerung der Poloproduktion ins spanische Seat Zweigwerk seinerzeit erfolgreich mit blockierte. 3.2.7 Betriebsrats- und Gewerkschaftspolitik Tatsache ist sicherlich auch, daß der Betriebsratsapparat bei VW im Interessenausgleich eine bedeutendere Rolle spielt, als vergleichsweise in anderen bundesdeutschen Unternehmen der Automobilindustrie. Dieses Sonderverhältnis ist aber keineswegs konfliktträchtig, sondern prinzipiell sozialpartnerschaftlich einzuordnen und läuft bei VW unter der spezifischen Bezeichnung „kooperative Konfliktbewältigung“. Wobei der Begriff „Konflikt“ eher eine theoretisch abstrakte Definition darstellt. Die Betriebsratsstrukturen (ähnlich aufgebaut wie die Geschäftsleitung) können als prinzipiell kooperativ interpretiert werden. Bisher konnte im Außenverhältnis die ökonomische Prosperität für Tarifvertragsabschlüsse und Betriebsvereinbarungen auf Basis eines Haustarifvertrages erfolgreich genutzt werden und im Innenverhältnis wird darauf geachtet, die Mitarbeit der Vertrauensleute innerhalb eines vorgegebenen Rahmens zu beschränken, ohne sie in ihrem Engagement auszuschalten. Dieses Wechselverhältnis zwischen Integration und begrenzten Konflikten unter der Regie bürokratischer Betriebsrats- und Gewerkschaftsarbeit, wobei eine prekäre Balance zwischen aktiver Beteiligung und passiver Folgebereitschaft286 im unteren und mittleren Funktionsbereich erzielt wurde, vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, daß der formal außerordentlich hohe gewerkschaftliche Organisationsgrad zugleich wenig Aussagekraft über die tatsächlich 283 Stern Nr,. 15, 07.04.1993, Seite 235. Der Spiegel, Nr. 36, 06.09.1993, Seite 35. 285 Anmerkung: Die Wirtschaftspolitik von Fr. Breuel erscheint aus der Sichtweise des Verfassers zu Marktoptimistisch, d. h., Fehlentwicklungen aufgrund von Divergenzen des Marktsystems werden weitgehend ignoriert. 286 Siehe: Erd. R., Verrechtlichte Gewerkschaftspolitik. In: Beiträge zur Soziologie der Gewerkschaften, Frankfurt a.M.,S. 165f. 284 - 116 - gewerkschaftliche Orientierung aussagt. Aus diesen Gründen heraus wird verständlich, warum es besonders für den Betriebsrat von elementarem Interesse ist, daß „vom neuen Konzernchef F. Piëch erwartet wird, daß er die bei VW bisher erfolgreich geübte kooperative Konfliktbewältigung zwischen Management und Betriebsrat fortsetzen werde.“ 287 Die Betriebsratspolitik bei VW verhält sich in der jetzigen Krisenbewältigungsphase weitgehend wie in der ökonomischen Krisensituation 1974/75: Als Arbeitnehmerin-teressenvertretung an die weitgehende Friedenspflicht des Betriebsverfassungsgesetzes (Betr.-V.G) gebunden und primär durch die Gewerkschaft in „nur“ marktwirtschaftliche Konfliktlösungen integriert,288 verzahnt sich deren Engagement mit der VW Geschäftsleitung noch enger als bisher. In Folge dessen sehen der geschäftsführende Betriebsrat und das Management bei VW in Wolfsburg das neue werksinterne Kriseninstrumentarium, das sich „Werkssymposium“ nennt, als hervorragendes Mittel an, um noch enger über anstehende Vorhaben intern und offen zu informieren.289 Dieses Werksmanagement auf hoher Ebene im gegenseitigen Einvernehmen, sozusagen als verlängerter Arm der Geschäftsleitung schließt die Option gänzlich aus, sich als Betriebsrat die Möglichkeit kollektiver Widerstandsmaßnahmen von der Betriebsbasis her offen zu halten. Auch die viel zitierte „Hausmacht“ der Betriebsräte würde gefährlich ins Wanken geraten, wenn sie als gewähltes Interessenorgan der Mitarbeiter (auf Rechtsbasis des Betriebsverfassungsgesetzes) unter den Bedingungen einer spezifischen Automobilkrise bei VW nicht mehr erfolgreich operieren könnte. Die dramatische Abwärtsentwicklung der realen Gewinnrate in der VW AG beinhaltet die Gefahr, daß die bewährte kooperative Konfliktbewältigung einseitig von der Geschäftsleitung gekündigt werden könnte. Bei der extremen Automobilmonostruktur in Südostniedersachsen würden die Folgewirkungen eines nicht mehr sozialverträglich arrangierten Personalabbaues sich dahingehend auswirken, daß die Massenarbeitslosigkeit in der Region Südostniedersachsen politisch außer Kontrolle geraten könnte.290 Das Gefahrenpotential bei einem nicht Vorhandensein von Alternativarbeitsplätzen könnte sich z. B. aufgrund der ungesicherten Risikofinanzierung einer "Wüstenrothkultur verschuldeter Eigenheime" auch in einem vermuteten Rechtsruck artikulieren, der politisch schwer beherrschbar wäre. Die nächsten Jahre werden zweifellos Aufschluß darüber bringen, inwieweit der zu erwartende weitere Personalabbau in der VW AG sich auf das Klima am hiesigen Arbeitsmarkt auswirken wird. Weil der Beziehungsaustausch zwischen Betriebsrat und Geschäftsleitung letztendlich von pragmatischen Sachzwängen diktiert wird, ist eine verhandlungsstarke, konfliktfähige und lösungsorientierte soziale Partnerschaft ein akzeptables Lösungsmodell zur Reduzierung der Massenarbeitslosigkeit. Zukünftige Entwicklungstendenzen werden zeigen, ob die Industiegewerkschaft Metall (IGM) langfristig gesehen in der Lage ist, die differenzierten Lebenslagen und unterschiedlichen Lebensverhältnisse291 ihrer Mitglieder aufzugreifen und Lösungen durchzusetzen, die auch 287 Braunschweiger Zeitung - Helmstedter Ausgabe, 09.12.1992. Siehe: Dombois, R. Massenentlassungen bei VW. In: Leviathan, Heft 4/1976. 289 Siehe. Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 10.12.1992. 290 Anmerkung: Als exemplarisches Beispiel kann der Bremerhavener Stadtteil Leherheide mit einer durchschnittlichen Arbeitslosenquote von 30% für 1992 herangezogen werden (Siehe: Stern, Nr. 50, 03.12.1992, S. 136). Der hauptsächlich durch die Strukturkrise im Schiffsbau seit Jahren sozialpolitisch heruntergekippte Problemstadtteil artikulierte sich durch die letzte Landtagswahl mit 14% für die rechtsradikale "DVU". Größtenteils ehemalige Stammwähler der SPD dückten damit ihren irrationalen Protest und Hilferuf zugleich aus. 291 Siehe: Kemke, M. Perspektiven der Gewerkschaftsbewegung in Deutschland, Düsseldorf 1990, Seite 112. 288 - 117 - individuelle Gestaltungsfreiräume in der betrieblichen und gewerkschaftlichen Mitbestimmung erweitern. „Die Strukturen dürfen bei uns nicht die Entscheidungswege vorgeben“",292 argumentierte der ehemalige HBV Vorsitzende Schwegler, auch mit der Konsequenz vom „Abschied der Allmacht der Gewerkschaftszentrale.“293 Bundesweit verliert die Industriegewerkschaft Metall (IGM) Monat für Monat ca. 20.000 organisierte Arbeitnehmer durch Gewerkschaftsaustritte. Die größte Einzelgewerkschaft der Welt hatte Ende 1993 über 400.000 Betragszahler weniger als vor zwei Jahren.294 Und das in einer ökonomischen Zeitphase, in der aus Arbeitnehmersicht die Schutzfunktion ihrer gewerkschaftlichen Interessenvertretung als besonders zweckmäßig einzustufen ist.295 Trotz dieses organisationskritischen Ansatzes an etablierter Arbeitnehmerinteressenvertretung sollte die zentrale Problematik des Rentabilitätsdefizites in der VW AG keinesfalls den Arbeitnehmern und ihren Betriebsräten/Gewerkschaften angelastet werden, weil das eine gezielte Ablenkung von den eigentlichen Ursachen darstellen würde. 3.2.8 Managerqualitäten Das Nachrichtenmagazin „Focus“ attackierte den neuen Vorstandsvorsitzenden der VW AG, F. Piëch, mit unterstellten Merkmalen wie „Ehrgeizling“ und „Machtbesessenheit“ „Auch Piëchs Produkte sind keine Renner mehr. 50 Prozent der Audis werden Vierradantrieb sein, prophezeite der Autoguru. Kaum zehn Prozent sind es. Der Angriff in der Oberklasse mit dem Audi-Flaggschiff V8 blieb stecken. Kaum 10.000 Kunden kaufen das Edelauto.“296 Piëchs bisherige Produktstrategien (als Vorstandsvorsitzender der Marke Audi) einer Parallelentwicklung von „Audi 80“ und „VW Passat“ (vorherige Basismodelle) oder die hohen "F. u. E." Zusatzkosten für zwei verschiedene Sechszylindermotoren, der Audi V8 Millionenflop der Superlative und der von Piëch favorisierte Vierradantrieb mit extrem hohen Material-, Gewichtund Energieaufwand, würden unter Zugrundelegung seiner eigenen hohen Bewertungsmaßstäbe vermutetermaßen eine fristlose Entlassung bewirken. In seiner Oktoberausgabe 1993 kritisierte das „Manager-Magazin“ die Firmenpolitik von F. Piëch: Demnach sackte Absatz und Ertrag bei der 100% igen VW Firmentochter Audi bereits ab August 1992 steil nach unten, die Ursache sei nicht nur konjunkturell, sondern primär auf Managerfehlverhalten zu begründen. Das Wirtschaftsmagazin lastete ihm Fehlentscheidungen zu, die weit über bisherige Publikationen hinausgingen.297 Ende Januar 1993 stellte das Manager-Magazin den VW Markenvorstandsvorsitzenden und PiëchStellvertreter, Goeudevert, als „Minusmann“ dar, dessen Bilanz negativ sei. „Er verzichtete auf wirksame Reformen, plante prächtige Gewinne und meldete horrende Verlust“, heißt es in dem Wirtschaftsblatt.298 In seiner letzten Rede in der Funktion des VW Markenchefs äußerte D. Goeudevert anläßlich einer VW Betriebsversammlung, in Stellvertretung für F. Piëch: „Wir werden auch aus der dritten Krise 292 Stern, Nr. 46, 1992. Stern, Nr. 46, 1992. 294 Siehe: Stern, Nr. 3, 13.01.1994, Seite 120 und Spiegel, Nr. 3, 17.01.1994, Seite 63. 295 Anmerkung: Arbeitslosigkeit ist automatisch nicht mit einem Gewerkschaftsaustritt verbunden und ein hoher Anteil von austrittsvollzogenen Arbeitnehmern ist weiterhin in Beschäftigungsverhältnissen tätig. 296 Focus, Nr. 11, 15.03.1993, Seite 131. 297 Siehe: Manager-Magazin, 10/1993. 298 Siehe: Manager-Magazin, 02/1993. 293 - 118 - unserer Geschichte genauso stark herauskommen, wie aus den ersten zwei. Haben Sie (an die VW Mitarbeiter/-innen gerichtet) dafür bitte Vertrauen... Mit diesem Appell schloß D. Goeudevert seinen Bericht in der Wolfsburger Betriebsversammlung am 17. Juli.“299 Kurz darauf schied D. Goeudevert aus der VW AG „im gegenseitigen Einvernehmen“ aus. Zwei Aspekte sollen in dem vermuteten unfreiwilligen Ausscheiden des designierten VW Markenchefs hierbei unterstellt werden: Die Chancen für einen sozialverträglichen Personalabbaues könnten damit weiter sinken und die von D. Goeudevert favorisierte strategische Zielrichtung eines Pkw-orientierten ökologischen Gesamtkonzeptes wird bewußt weiter vernachlässigt. Der scheinbar kritische Vordenker und mit seiner Veröffentlichung „Die Blechlawine zerstört die Umwelt“ selbst ernannte Umweltschützer galt längere Zeit als einziger Nachfolgekandidat für den VW Vorstandsvorsitzenden, seit im September 1989 der damalige Vorstands-vorsitzende C. Hahn ihn als Einkaufsvorstand nach Wolfsburg holte. „Aber es kam anders, obwohl Goeudevert die stark im VW Aufsichtsrat vertretenen Gewerkschaften einschließlich des damaligen stellvertretenden Aufsichtsratschefs und IG-Metall Vorsitzenden F. Steinkühler hinter sich wußte.300“ Unter weitgehendem Ausschluß der Öffentlichkeit beabsichtigte F. Piëch, der neue Vorstandsvorsitzende der VW AG, den Konzern offenbar durch die gegenwärtige Krise zu führen. Seit er in Wolfsburg die Regie übernommen hat, wurden wichtige Meldungen über das Unternehmen in der Regel nur noch von zweiter Hand verbreitet.301 Daß ausgerechnet der niedersächsische Ministerpräsident G. Schröder verkündete, der Verlust des ersten Quartals 1993 werde bei VW bereits die Höhe des für das gesamte Jahr erwarteten Verlustes erreichen, gibt einen Eindruck der Atmosphäre zwischen dem Unternehmen und dem Land Niedersachsen, das 20 % des Kapitals besitzt. „Schröder ist Mitglied des VW Aufsichtsrates. Seine Äußerung ist nicht als politische Geschwätzigkeit abzuhaken, sondern eher als Unmutsbekundung des Großaktionärs über die Informationspolitik der neuen VW Vorstandspolitik unter der Regie von F. Piëch zu deuten.“302 Mittlerweile hat sich diese „Zweckgemeinschaft“ nicht zuletzt aufgrund der Medienauseinandersetzung zwischen GM/Opel und VW nach außen hin stabilisiert und gefestigt, während sie im inneren Gefüge weiterhin labil erscheint. Für das VW-Mangement scheint der „Krieg“ ausgebrochen zu sein! Originalzitat aus der VW Mitarbeiterzeitung Autogramm: „Eine Schlacht führt man, um einen Krieg zu gewinnen. Und Krieg haben wir am Automarkt aus dem Grunde, daß eine Nation - Japan - erkennbar danach strebt, die Automobilindustrie strukturell in allen großen Weltregionen zu beherrschen. Ebenfalls seit langem ist klar, mit welcher Waffe der Krieg im wesentlichen geführt wird, der des Preises.“303 Die ersten Maßnahmeschritte zur wirtschaftlichen Konsolidierung wurden von F. Piëch bereits eingeleitet: „- die wichtigsten Rollen im Sanierungsstück besetzt; - eine Reorganisation des lahmen Vertriebs konzipiert; - für alle vier Konzerntöchter (VW, Audi, Seat und Škoda) eine Gleichteile-Politik definiert; 299 Autogramm, VW-Mitarbeiterzeitung, 29.07.1993, 23.Jahrgang , 7/8, Seite 1. Hannoversche Allgemeine Zeitung, 05.07.1993. 301 Siehe: Süddeutsche Zeitung, 25.02.1993, Seite 22. 302 Süddeutsche Zeitung, 25.02.1993, Seite 22. 303 Autogramm, 08.06.1993, Nr. 6, Seite 1. 300 - 119 - - einen drastischen Schnitt in die Fertigungstiefe mit dem Ziel deutlicher Produktivitätssteigerung verordnet und - eine Harmonisierung der Modellpolitik der einzelnen Konzernmarken vorgegeben.“304 Die immer geringeren Wachstumsspielräume in den jetzigen Hauptabsatzmärkten und die größere Wettbewerbsfähigkeit der Konkurrenten (z.B. Euro-Japaner) zwingen die bundesdeutsche Automobilindustrie (insbesondere die renditeschwache VW AG), zu strukturellen Änderungen auf sämtlichen Stufen des Produktionsablaufes. Die Maßnahmeschritte zur Ergebnisoptimierung gingen sogar soweit, daß der Verdacht geäußert wurde, daß Spitzenmanager von General Motors systematisch abgeworben würden. Bislang sollen von vierzig bei General Motors und Tochterunternehmen der „Adam Opel AG“ umworbene Manager sieben das Wolfsburger Angebot angenommen haben. Auf Grund dessen erwirkte das Landgericht Frankfurt auf Antrag von Opel eine einstweilige Verfügung gegen die Volkswagen AG.305 Die Erfolgsbilanz der GM-Tochter Opel im Umbau auf die „schlanke Produktion“ verschaffte dem Unternehmen aus einem 27 Milliarden Umsatz einen respektablen Jahresüberschuß von 1,1 Milliarden DM für 1991.306 Auf dieses „Know-how“ der Gewinnmaximierung scheint es F. Piëch in erster Linie abgesehen zu haben. Die Umfunktionierung aus dem Personalbestand des eigenen Unternehmens mitten im europäischen Automobilkonjunkturtief kostet offenbar zuviel Zeit. Mit einem 20 Millionen Dollar schweren Fünfjahresvertrag ist der Vizepräsident von General Motors, J.I. Lopez von F. Piëch nach VW für den Konzernvorstand (Aufgabenbereich: Produktionsoptimierung und Beschaffung) mit Zustimmung des Aufsichtsrates „abgeworben“ worden. Mittlerweile hat die Adam Opel AG „mit dem klaren Urteilsspruch des Landgerichts Frankfurt eine herbe Niederlage erlitten. Im Kern sagt das Gericht, daß die Abwerbung der sieben Opel-Manager durch Volkswagen lediglich die Ausnutzung einer sich am Arbeitsmarkt bietenden Chance darstellte. Unlauteres Verhalten konnte das Gericht nicht feststellen ...“307 Daraufhin ist die Adam Opel AG nach zwei erfolglosen Anläufen im Verfügungsverfahren in die Berufung gegangen. Es wird vermutet, daß es sich hierbei weitgehend um materielle Schadensersatzansprüche handelt, weil ein Verzicht auf die Berufung sich nachteilig auf eventuelle zivilrechtliche Forderungen auswirken könnte.308 Der ohne Rücksicht auf Kosten abgeworbene Lopez ist in der Automobilbranche international berühmt und berüchtigt zugleich.309 Die „rauhen Geschäftsmethoden“ von Lopez sind international umstritten. Er soll dem neuen VW Chef helfen, den „schärfsten Abschwung seit dem Zweiten Weltkrieg“ (Piëch) bei VW zu stoppen.310 F. Piëch setzt offensichtlich auf die Schockwirkung seiner Maßnahmen, Verkrustungen und Erstarrungen lassen sich aus seiner Sicht anscheinend anders nicht beseitigen.311 Was letzteres konkret bedeutet, wird man angesichts des großen Organisationen gesetzmäßig innewohnenden Beharrungsvermögens mit Spannung abwarten dürfen. Offensichtlich beabsichtigt Lopez, die VW AG vor allem auf Kosten der Automobilzulieferer erfolgreich zu sanieren. Folgende „Preisdrückerstrategie“ ist Basis der Lopez-Konzeption: "1.Die Gefahr besteht in einem weltweiten Verdrängungswettbewerb auf Kostenbasis. Die europäische Automobilindustrie darf diesen Kampf nicht verlieren. Eine zweite Chance es nicht. 304 "Top-Business", Industriemagazin, Nr. 3, 1993, Seite 20. Siehe: Braunschweiger Zeitung - Helmstedter Ausgabe, 07.04.1993. 306 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 10.04.1993. 307 Süddeutsche Zeitung, 03.02.1994. 308 Siehe: Süddeutsche Zeitung, 04.03.1994. 309 Siehe: Süddeutsche Zeitung, 18.03.1993, Seite 33. 310 Siehe: WirtschaftsWoche Nr. 12, 1903.1993, Seite 184. 311 Siehe: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.03.1993. 305 gibt - 120 - 2. Die Investitionen pro Autoeinheit müssen reduziert werden. 3. Kostengünstiger Input ist vor allem durch Kostensenkung bei Zukaufteilen und Abbau der Bestände zu erreichen. Da eingekaufte Teile 60 bis 70 Prozent der Gesamtherstellungskosten ausmachen, führt eine Verbesserung des Einkaufskonzepts zwangsläufig auch zur direkten Verbesserung des Preises."312 „Verlieren werden durch Lopez alle deutschen Zulieferer, profitieren wird dagegen eine Reihe von Ausländern. Der Einfluß des Landes Niedersachsen als wichtigster Aktionär von VW hat bisher dafür gesorgt, daß Volkswagen rund 80 Prozent seiner Zulieferungen aus dem Inland bezieht. Bei Opel hat Lopez dagegen durchgesetzt, daß jedes zweite bei Opel zugekaufte Teil aus dem Ausland kommt.“313 Bundesdeutsche Automobilzulieferbetriebe haben ihre Kosten in den vergangenen Jahren bereits um ca. 30 Prozent gesenkt. Ein Dispositionsspielraum nach unten ist kaum mehr vorhanden, so daß bei veränderter Einkaufsstrategie mit einer deutlichen Internationalisierung der Zulieferer gerechnet werden kann und ein Großteil bundesdeutscher Zulieferer zu austauschbaren Unterlieferanten degradiert wird. „Fast 130.000 Menschen sind in Niedersachsen in der Automobilzuliefererindustrie beschäftigt. Und allein 2.450 Unternehmen in Niedersachsen sind für VW tätig.“314 Auf den Zweckverband Großraum Braunschweig (Braunschweig, Salzgitter, Wolfsburg und die Landkreise Gifhorn, Helmstedt, Peine und Wolfenbüttel) entfallen von allen Zulieferbetrieben der VW AG rund 1000 Lieferanten, das sind 40 % der niedersächsischen Zulieferbetriebe.315 Es ist davon auszugehen, daß sich dieser Anteil niedersächsischer Zulieferer deutlich reduzieren wird und eine Reihe von Zulieferbetrieben auch nicht das benötigte Kapital für erforderliche Produktinnovationen besitzt. Der VW Konzernvorstand hat bereits den italienischen Reifenkonzern Pirelli nach Jahren gemeinsamer Geschäftstätigkeit von der Liste der Zulieferer gestrichen. „Bei Fragen des Preises und der Logistik habe es unüberbrückbare Differenzen gegeben“.316 Ein Pressesprecher von Pirelli teilte mit, der Wegfall bisheriger Lieferungen an VW bedeute eine jährliche Umsatzeinbuße von zehn Millionen DM.317 Es kann vermutet werden, daß Pirelli der erste, aber keinesfalls der letzte Automobilzulieferer ist, dem die Geschäftsbasis nach dem Motto entzogen wird: Wer als Zulieferer nicht „preisgefügig“ ist, dem wird gekündigt! Wie wird es den hauptsächlich in Niedersachsen angesiedelten mittelständisch geprägten Zulieferern zukünftig ergehen? Wird es für sie eine realistische betriebswirtschaftliche Kostenkalkulation und Abnahmegarantien geben, die ein Überleben am Markt ermöglichen? Die Landesregierung wird sicherlich im Rahmen ihrer Möglichkeiten, ihren Einfluß über ihre VW Aktienbeteiligung dahingehend geltend machen, daß die Umstrukturierung in der niedersächsischen Zulieferindustrie keinen Wirtschaftseinbruch zur Folge haben wird. Es ist davon auszugehen, daß dabei im „Spannungsfeld“ zwischen Kostenoptimierung der VW AG und Existenz der Zulieferer noch einige Entscheidungen offen sind. Die Landesregierung wird bei der Durchsetzung ihrer Interessen keinen leichten Stand haben! J.I. Lopez beabsichtigt, in fünf Jahren acht bis zwölf Milliarden Mark in der VW AG einzusparen.318 Bisherige Erfahrungswerte zeigen, daß zur Wiedererlangung der Wettbewerbsfähigkeit im Weltmarkt die Verringerung der Fertigungstiefe einen bedeutenden Beitrag leisten kann. Der Volkswagenkonzern kann sich aber nicht nur über den Einkauf sanieren, sondern wird auch seine Strukturen und Prozesse intern verbessern müssen, um im internationalen Maßstab wieder eine Wettbewerbsfähigkeit zu erlangen. 312 WirtschaftsWoche, Nr. 14, 02.04.1993, Seite 159. WirtschaftsWoche, Nr. 14, 02.04.1993, Seite 160. 314 Svetlik, W. (ehemaliges Vorstandsmitglied der Marke Volkswagen für das Ressort Beschaffung zuständig gewesen) In: Wolfsburger Kurier, 28.03.1993. 315 Siehe: Günther, H. Ebenda, Seite 37. 316 Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 10.04.1993. 317 Siehe: Ebenda, 10.04.1993. 318 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 26.03.1993. 313 - 121 - „Zu Vorsicht mahnt auch Daniel Jones, Mitautor der berühmten MIT-Studie über die Weltautoindustrie. Jones rät dem VW Vorstand: Er müsse sich auf interne Schwächen konzentrieren. Denn das Werk Wolfsburg sei das entscheidende Problem, denn 60.000 Mitarbeiter an einem Standort ließen sich nicht managen, Jones: VW braucht Männer wie Piëch und Lopez, um unter diesen industriellen Dinosaurier eine Bombe zu legen.“319 Die bereits attestierte ökonomische Ineffizienz der im internationalen Wettbewerbsvergleich nach heutigen Vergleichsmaßstäben zu groß dimensionierten Automobilfabrik in Wolfsburg ist ebenfalls nach Einschätzung von D. Jones die größte Problematik der VW AG. Die betriebswirtschaftliche Konsequenz dieser Prognose würde eine weitgehende Bestandsgefährdung für die im VW-Werk Wolfsburg beschäftigten Mitarbeiter/innen zur unmittelbaren Folge haben, wenn die eingeleiteten Maßnahmeschritte zur Ergebnisoptimierung nicht greifen. Der Erfolg seiner Einkaufsstrategie von J.I. Lopez wird mehr und mehr bezweifelt: „Über eine effiziente Produktion lassen sich die Kosten bei den Zulieferern nicht mehr drücken... eine ausgequetschte Zitrone gibt keinen Saft mehr,“320 äußerte R. Thieme, Chef des Karosseriebauers Karmann in Osnabrück, stellvertretend für die Situation aus Sicht der Auto-mobilzuliefererbranche. Die Möglichkeiten von weiteren Produktionskostensenkungen bei den Zulieferern sind weitgehend erschöpft. „In den letzten Jahren ... hätten die deutschen Lieferanten ihre Produktivität im Durchschnitt doppelt so stark gesteigert wie die Automobilindustrie ... und können (heute) zu den gleichen Preisen abgeben wie vor fünf Jahren“321 VW hat noch fünfzig Prozent Einsparungsmöglichkeiten, wir aber nicht,322 lautet die Stellungnahme eines Zulieferers. In Folge dessen wird in Fachkreisen die Sanierungsstrategie von J.I.Lopez in seiner Effizienz immer mehr in Frage gestellt, zumal sich die GM-Strukturen in ihrer Gesamtheit nur bedingt und bruchstückhaft auf VW übertragen lassen. Andererseits werden im VW-Werk Wolfsburg unter aktiver Beteiligung der Mitarbeiter/innen zweifellos neue Maßstäbe der Produktivitätsentwicklung auf der Basis der „KVP² -Prozesses“ erfolgreich und vielversprechend umgesetzt. KVP² setzt insbesondere auf die verantwortliche Einbeziehung der Mitarbeiter/innen, um Verschwendung zu erkennen und zu beseitigen. Mit dieser Strategie wird beabsichtigt, die Wettbewerbsfähigkeit des Werkes zu verbessern, indem die Organisation, die Arbeitsabläufe und die Produkte verändert werden. Dazu benötigte man vor allem die langjährigen Erfahrungen der Mitarbeiter, denen durch KVP² mehr Möglichkeiten gegeben werden, selbst zu handeln.323 Diese systematisch durchgeführten Workshops sind eine Chance, die betrieblichen Gestaltungsspielräume von denen zu gestalten, die den Produktionsprozeßablauf am besten kennen und infolgedessen zu ihrer Umgestaltung und Verbesserung als „interne Hauptdarsteller“ am produktivsten beitragen können: Die Arbeitnehmer/innen. „Die KVP-Workshops hätten Steigerungen von im Durchschnitt 20 bis 25% gebracht.“324 Großvolumige Kosteneinsparungen können aber erst in der Entwicklung neuer Modelle (Golf IV ab 1996) realisiert werden. Obwohl die Modelländerung ein Jahr früher als ursprünglich geplant 319 WirtschaftsWoche Nr. 14, 02.04.1993, Seite 160. Stern, Nr. 28, 08.07.1993, Seite 130. 321 VDA-Geschäftsführer M. Herzog, In: Stern, Nr. 28, 08.07.1993, Seite 130. 322 Siehe: Stern, Nr. 28, 08.07.1993, Seite 131. 323 Siehe: Wolfsburger Kurier, 24.10.1993. 324 Wolfsburger Kurier, 20.02.1994. 320 - 122 - umgesetzt werden soll, käme sie für den unter Erfolgsdruck stehenden J.I.Lopez zu spät, zumal das Vorstandsressort Entwicklung nicht unter seinen Zuständigkeitsbereich fällt. In dieser für den neu konstituierten VW Vorstand kritischen Zeitphase greift F.Piëch zur Entlastungsstrategie und behauptete in einem Zeitungsinterview: „Daß VW bereits zum Jahresende aus den roten Zahlen kommen werde... hochgerechnet aufs Jahr schreiben wir eine schwarze Null. 1993 wird VW verlustfrei sein.“325 Weitere „Einsparungen von acht Milliarden Mark seien sofort in Angriff genommen, bereits 90 Prozent dieser Maßnahmen sind realisiert worden.“326 In dieser fatalen Situation heißt die Devise anscheinend „Zweckoptimismus“: „Die Auftragseingänge bei der Marke VW hätten in den vergangenen sechs Wochen deutlich angezogen, sagte F. Piëch. Der Markt scheint wieder anzuspringen. Nach dem jetzt beendeten Werksurlaub sei keine Kurzarbeit mehr bei der Marke geplant.“327 Doch schon kurz danach wurde für 1993 der volle Rahmen für Kurzarbeit beantragt und trotz der geschönten branchenunüblichen Einmonatsabsatzberichte kamen neutrale Marktbeoachter zu entgegengesetzten Prognosen: „In der Europäischen Gemeinschaft sind im September 1993 mit 795.030 Autos rund 9,5% weniger Neuwagen zugelassen worden als im gleichen Vorjahresmonat. Wie die Vereinigung der Europäischen Autohersteller mitteilte, mußte der Marktführer VW EG-weit mit 133.570 Fahrzeugen einen überdurchschnittlichen starken Rückgang von 16,6% hinnehmen - der VW Marktanteil schrumpfte dadurch von 18,2 auf 16,8 Prozent... Der GM-Absatz verringerte sich mit 4,8% unterdurchschnittlich auf 103.350 Wagen, der Marktanteil stieg von 12,4 auf 13,0 %“328 ( September 1992: 12,4 % ). Der Versuch, die Konjunktur- und Strukturkrise mit kosmetischen Mitteln öffentlichkeits-wirksam zu lösen, erscheint angesichts aufgezeigter Rentabilitätsdefizite nicht überzeugend. Das Nachsehen haben hierbei in erster Linie die Arbeitnehmer/innen, die solche Managerstrategien durch eine nachträgliche und um so konsequenter durchgeführte Personalabbaupraxis nachhaltig und konkret zu spüren bekommen. Auch die Marke „Audi“ gerät ins „Strudeln“, wobei die Gründe dafür umstritten sind. „Schon zu Beginn der Autokrise und kurz vor seinem Wechsel von Audi zu VW (ließ F. Piëch) die Produktion auf Hochtouren laufen und damit die Probleme bei Audi selbst verschärfte.“ 329 „Die Audi AG in Ingolstadt wird 1993 rund ein Viertel ihres Umsatzes verlieren und mit rund 200 Millionen DM Verlust vor Steuern abschließen.“ 330 F. Piëch beabsichtigte mit den fünf Vorstandsvorsitzenden der Audi AG für zwei Tage in Klausur zu gehen, um „das angespannte Verhältnis zwischen ihm und den Managern der Tochtergesellschaft (zu schlichten). Eine Psychologin sollte moderieren. Das Treffen ist geplatzt.“331 Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ konstatierte zur Seat-Krise: „Der Absturz bei Seat aber zeigt, daß F.Piëch mit der Führung des Unternehmens offenbar überfordert ist.“332 325 Die Welt, 09.07.1993. Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 10.07.1993. 327 Wolfsburger Allgemeine Zeitung , 11.08.1993. 328 Wolfsburger Allgemeine Zeitung und Hannoversche Allgemeine Zeitung, 15.10.1993. 329 Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 05.02.1994. 330 Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 22.12.1993. 331 Manager Magazin, 24. Jahrgang, 3/1994, Seite 16. 332 Der Spiegel, Nr. 36, 06.09.1993, Seite 116. 326 - 123 - Der VW Aufsichtsratsvorsitzende K. Liesen übte in diesem Zusammenhang öffentliche Kritik, weil der Aufsichtsrat erst verspätet, Mitte August 1993, über die Milliardenverluste der VW Tochter Seat vom Vorstandsvorsitzenden informiert worden sei. Orginalzitat: „Das ist ein Problem!“333 Mittlerweile soll die Senkung der Gewinnschwelle von vormals über 100 Prozent auf unter 80 Prozent der Kapazitätsauslastung und die Reduzierung der Montagezeit pro PKW von 38 auf 33 Stunden nach Angaben vom VW Vorstandsvorsitzenden F. Piëch erreicht worden sein.334 Andererseits produzierte die VW AG im Wolfsburger Zweigwerk 1993 „nur“ noch 614.000 PKW, 25 Prozent weniger als 1992.335 Diese Minderauslastung der Produktion im Wolfsburger VW-Werk bewirkt eine Eliminierung der erzielten Produktionsfortschritte und der daraus resultierende Kostendruck verschärft den konzerninternen Konkurrenzkampf zwischen den in- und ausländischen Standorten der VW AG erheblich. 1993 produzierte die VW AG im Ausland erstmals mehr PKW (u.a. VW Polo in Spanien, Seat und Skoda) als im Inland mit den Marken VW und Audi. Diese Wettbewerbskonkurrenz unter den in- und ausländischen Zweigwerken in der VW AG überträgt sich aber auch auf die Zulieferindustrie, wo VW Abteilungen permanent effektivere Kostenvergleichsergebnisse erzielen müssen, um die Teilefertigung erfolgreich im Kernbereich der VW AG zu halten. Die Strategie des Managements, einen konsequenten Weg der internen Optimierung auf allen Ebenen und in allen Bereichen permanent fortzusetzen, wird sich auf das Beschäftigungs-volumen nachhaltig auswirken. Die Absichtserklärung von F. Piëch, der mitten im Zentrum des größten Automobilmarktes der Welt, in Detroit, die VW Modellvariante „Concept 1“ offiziell vorstellte, läßt langfristig Hoffnung aufkommen und kurzfristig den VW Aktienkurs ansteigen. 336 Die „Wiedergeburt“ des einstigen Erfolgsmodells „Käfer“ für die Fahrzeugkonzeption der 90er Jahre, das äußerst preiswert und trotzdem rentabel produziert werden soll, setzt eine neue nach unten orientierte Preismarke von ca. 15.000 DM. Eine anvisierte minimale Rekordzeit von unter zwölf Stunden Produktionsdauer für dieses Fahrzeug soll dazu beitragen, daß die Produktivität deutlich höher sein wird als die der japani-schen Konkurrenz. Es ist anzunehmen, daß aufgrund dieser vorgegebenen Werte und der Internationalisierungs-praxis der VW AG der Standort Wolfsburg für dieses Projektvorhaben kaum in Erwägung gezogen wird. Doch wie auch immer diverse Managerstrategien in ihrem Ergebnisfindungsprozeß letztendlich zu bewerten sind, sie werden keinen Spielraum für arbeitsintensive Gestaltungsformen offen lassen. Selbst wenn alle spektakulär verlaufenen personellen „Anwerbungsmaßnahmen“ für spätere Kostenminimierungsaktionen notwendig wären, um den Restbestand zu halten, kommen auch unter Berücksichtigung folgender Überlegungen Zweifel auf: Auch unterstellte Spezialquali-fikationen sind selbst auf der Ebene von Spitzenmanagern jederzeit austauschbar. Jedes Qualifikationsniveau ist heutzutage personell auf allen Hierarchieebenen reichhaltig vorhanden. Das VW-Werk Wolfsburg mit Konzernsitz ist neben den analysierten Strukturdefiziten schon deshalb problemorientiert, weil hier weniger humankapitalintensive Tätigkeiten dominieren und die erwähnten personalintensiven Kernfertigungsbereiche ein hohes Auslagerungsgefährdungspotential beinhalten. 333 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 01.10.1993. Siehe: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 03.12.1993. 335 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 04.12.1993. 336 Siehe: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.01.1994. 334 - 124 - Die weitere Globalisierung von Investitionen, Handel und Finanzströmen wird den Wettbewerb extrem intensivieren. Diese verstärkte Internationalisierung wird die Standortdiskussion in Niedersachsen extrem verschärfen und einzelne Standorte könnten gänzlich in Frage gestellt werden. So wird beispielsweise die strategische Bedeutung des Zweigwerkes Emden als exportorientierter Standort an der Nordseeküste durch die Internationalisierungspraxis der VW AG erheblich an Bedeutung verlieren und diese hoch subventionierte Produktionsstätte in ihrem Gesamtbestand überdurchschnittlich gefährdet sein. Die technologische und betriebswirtschaftliche Neuorganisation der VW AG in Richtung „Profit Center“ kann letztendlich für das Wolfsburger VW-Werk Gestaltungsformen annehmen, die aus dem Werksgelände einen großvolumigen Industriepark mit juristisch unabhängigen Unternehmen macht, die gegebenenfalls gegenseitig konkurrieren und auch externe Aufträge (z.B. von Ford-AG oder Opel-AG) annehmen könnten. Aus diesen neu entstehenden Organisationsformen ergeben sich dann verschiedenartige Tarifverträge, noch effizientere Abschreibungsmöglichkeiten und ein Höchstmaß an Flexibilität und einer effektiveren Steuerung der Produktionsabläufe. Längerfristige Entwicklungstendenzen in der Automobilindustrie zeichnen sich durch eine strukturelle Schrumpfung dieses Industriezweiges insgesamt aus, wobei die eigentliche Brisanz dieser zentralen Problematik nicht das Zerbrechen „alter“ Produktionsstrukturen darstellt (da aus Erfahrung resultierend im dynamischen Entwicklungsprozeß neue Branchen entstehen und sich den veränderten Verhältnissen erfolgreich anpassen können, wenn die ökonomischen Rahmenbedingungen dafür eine Möglichkeit geben) sondern die Tatsache der primär fehlenden Arbeitsplatzkompensation. Der zukünftige Megamarkt in Osteuropa erscheint für Investoren verlockend: Unendliche Bedürfnisse sind vorhanden, aber es existiert noch keine Kaufkraft, um die Bedürfnisse zu realisieren. Was liegt näher, als die Wertschöpfung vor Ort zu bringen, damit eine Wirtschaftszirkulation entsteht? Gleichzeitig kann ein Teil der dort produzierten Produkte nach Deutschland importiert werden, welches die längerfristige Konsequenz beinhaltet, daß die inländische PKW Nachfrage (außer dem gehobenen Marktsegment) auch aus osteuropäischen Produktions-stätten beliefert werden kann. Auch hierbei stellt sich die Frage, ob eine Vier-Arbeitstage-Woche bei fünf Produktionstagen als Beschäftigungssicherungsinstrument unter dem Aspekt weiterer permanenter Kosten-anpassungen, insbesondere ab 1996 dauerhaft gehalten werden kann. Im Endeffekt wird es sich hierbei wahrscheinlich „nur“ um eine Zwischenlösung handeln, die zwar sinnvoll, konstruktiv und zweckmäßig ist, aber die die zentrale Problemstellung des dramatischen Falles der Gewinnrate zum quasi „Subventionsunternehmen“ in einer nicht mehr wettbewerbsfähigen Konzernstruktur nicht verhindern kann und innerhalb eines extrem enger werdenden Automobilmarktsegmentes noch weitere Anpassungsstrategien nach sich ziehen wird. In dieser spezifischen Situation zeichnen sich Manager dadurch aus, daß sie in Zeiten schwindender Marktanteile in der Lage sind, ein Höchstmaß an organisatorischer Flexibilität und Kompetenz auch für den Erhalt von Arbeitsplätzen erfolgreich zu investieren. Der japanische Unternehmensberater M. Jmai stellte sein Konzept „Kaizen“ (kontinuierliche Verbesserungen) vor, das eine Balance zwischen Qualität, Kosten und Kunden darstellen soll. In Anspielung auf die europäische Automobilindustrie argumentierte Jmai: „Europäische Manager verstehen Kostenreduzierungen oft nur als Hauruckaktionen in Form von Personal-abbau, Werksschließungen oder schnellen Druck auf die Zuliefer ... So verbaut man sich eher seine Zukunft.“337 337 Braunschweiger Zeitung, Helmstedter Ausgabe, 12.05.1993. - 125 - Es kristallisiert sich hierbei heraus, daß das Erhalten von Arbeit und Gewinnen die wichtigste Priorität für den Betriebsrat der VW AG und eine beschäftigungssichernde Verteilung von Restbeschäftiungsverhältnissen zukünftig die größte Herausforderung für die betroffenen Arbeitnehmer/innen sein wird. Das Betriebsverfassungsgesetz (Betr.-V.G.) als rechtliche Ausgangsbasis der betrieblichen Arbeitnehmerinteressenvertretung bietet m. E. hierzu nur unzureichende bis fehlende Handlungsmöglichkeiten. Ein weiterer Gesichtspunkt zur Thematik „Managerstrategien“ sollte neben den etablierten Kriterien wie Rentabilität oder Liquidität auch den wichtigen Aspekt des gesellschaftlichen und regionalen Nutzens für Südostniedersachsen in zukünftigen Entscheidungsfindungen mit berücksichtigen. Es ist davon auszugehen, daß die neuen anvisierten Produktionsabläufe und Organisationsmethoden in der VW AG sich in Bezug auf das zukünftige Arbeitsplatzvolumen (inklusive der Zulieferindustrie) äußerst negativ auswirken, wovon auch der Landkreis Helmstedt nachhaltig betroffen sein wird. Die Kehrseite von Effizienzsteigerungen zur Wiederherstellung der Rentabilität sind die Personaleinsparungsmaßnahmen und die vermuteten Arbeitsverdichtungen betroffener Arbeitnehmer in der VW AG. Wie der politisch sicherlich umstrittene und aus Unternehmersicht betriebswirtschaftlich begründbare Beschäftigungsabbau volkswirtschaftlich aufgefangen werden kann, ist die große ungelöste Frage- und Problemstellung. Diesen arbeitsmarktpolitischen Abbauprogrammen müßten alternative Aufbaukonzepte parallel gegenüberstehen, um einen für ganz Niedersachsen existenziell notwendigen Strukturwandel einzuleiten. 3.2.9 Automobilzulieferer am Anfang des (erzwungenen) Anpassungsprozesses Die im Abschnitt „Rentabilitätsproblematik“ analysierten Defizite erfordern sicherlich konsequente Maßnahmen zur Gegensteuerung. Es verdichten sich Indizien, wonach die Automobilproduzenten und in der jetzigen Zeitphase, insbesondere die VW AG, aufgrund eigener Versäumnisse in der gegenwärtigen Absatzkrise sich hauptsächlich über die Automobilzulieferindustrie sanieren wollen. „Wenn einige Zulieferer heute klagten, der Umstrukturierungsprozeß bei VW gehe zu schnell, so habe er zwar Verständnis dafür, doch müsse er auch sagen: Das muß so rasch gehen, sonst geht alles den Bach runter.“338 Die „Schlankheitskur“ der Automobilindustrie hat die Zulieferbranche kräftig durcheinandergewirbelt. Trotz Kooperationen, Fusionen und strategischer Allianzen mit den Herstellern, erscheinen Personalabbau und Fabrikverlagerungen ins Ausland unvermeidlich. Mit dem Strukturwandel bei den Automobilherstellern werden auch die Zulieferer zu Anpassungsprozessen gezwungen, die nicht konfliktfrei ablaufen. Zwischen der VW AG und der Zulieferindustrie ist ein weiterer brisanter Konflikt aufgetreten: „Wenn Lopez so weitermacht, ruiniert er die gesamte industrielle Infrastruktur der Bundesrepublik, werfen ihm die Teilehersteller bereits jetzt unverhohlen vor.“339 Auf diversen Gesprächen zwischen der VW AG und den Zulieferern, die initiativ vom VDA zustande kamen, äußerte VW Vorstandsmitglied J.I.Lopez: „Die Zulieferfirmen müßten ihre Kosten senken und mit den Preisen deutlich zurückgehen.“ 340 338 Schröder,G. Niedersächsischer Ministerpräsident und Mitglied im Aufsichtsrat der VW-AG. In: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 24.11.1993. 339 Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 12.05.1993. 340 Hannoversche Allgemeine Zeitung, 13.05.1993. - 126 - Aus der Sicht des VDA ist die Ausgangslage der Zulieferer bereits jetzt äußerst kritisch, da die meisten Unternehmen mit Verlusten arbeiteten. 341 „Schon in den vergangenen fünf Boomjahren konnten die meist mittelständischen Betriebe gegenüber den mächtigen Autokonzern nur eine magere Preiserhöhung von rund 1,4 Prozent durchsetzen. Die durchschnittliche Umsatzrendite fällt seit Jahren und erreichte Anfang 1992 nach einer Branchenanalyse der Düsseldorfer IKB gerade noch magere 1,5 Prozent. Die Großunternehmen wälzen überdies im just-in-time Verfahren die Lagerhaltungskosten auf die Lieferanten ab und betreiben zunehmend „Global Sourcing“ - bedienen sich weltweit des günstigen Angebotes." 342 Das Preisdiktat der Automobilhersteller gegenüber den Lieferanten ist als extrem einzuordnen. So wurden im Januar 1993 zahlreichen Zulieferern von VW mitgeteilt, daß VW einseitig und mit sofortiger Wirkung die Preise um 5 Prozent reduzieren wird. 343 "Wenn VW in Einzelfällen von heute auf morgen Preisnachlässe von 28 Prozent von seinen Zulieferern verlange und parallel dazu den Anteil der Zulieferungen aus Spanien von jetzt 18 auf 67 Prozent ausweiten wolle," 344 bedeutet das Stellenreduzierungen, die im Jahresdurchschnitt 1993 bei mehr als 20 Prozent lagen und Ertragseinbrüche, die fast in der gesamten Zulieferbranche Niedersachsens zu roten Zahlen führten.345 Der Geschäftsführer vom VDA, J. Diekmann, erklärte zur Situation der Zulieferer-unternehmen: „Sorge bereitet dem Verband die Flucht vor allem der Zulieferer ins Ausland. So planen einer Umfrage zufolge rund 65 Prozent aller Teilehersteller, Produktionsstätten nach außerhalb zu verlegen. Für die Industriestruktur Deutschland sei eine solche Entwicklung schädlich. Was hier wegschmilzt, kommt nicht mehr zurück.“346 Im Hinblick auf den EU-Binnenmarkt prüft die Automobilzulieferindustrie verstärkt die Möglichkeit der Minimierung von Gesamtkosten mit der Tendenz, „daß auch die Zulieferer eine stärkere Internationalisierung unter Ausschöpfung der jeweiligen Standortvorteile anstreben.“ 347 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaft hat das Gemeinschaftsunternehmen von VW und Ford zu einer gemeinsamen Montagefabrik in Portugal gebilligt. Das EG-Subventionsvolumen umfaßt 1,1 Milliarden DM.348 Um dieses Werkgelände werden sich Automobilzulieferfirmen in einem Volumen ansiedeln, der weit über den Bedarf der dort produzierten Großraumlimousinen geht. Solche großvolumigen Investitionsmaßnahmen beschleunigen die Verlagerungen der unter starkem Kostendruck stehenden Automobilzulieferindustrie ins europäische Ausland. Diesbezügliche Zielvorstellungen der Europäischen Union, ökonomische Diskrepanzen langfristig anzugleichen, werden sich in ihrer Gesamtheit nicht zu Gunsten deutscher Automobilproduktionsstandorte und der heimischen Zulieferindustrie auswirken. Die Strukturkrise in der Automobilindustrie überträgt sich zeitgleich auf die von ihr abhängige Zulieferindustrie. „Die Zulieferer müssen noch viel mehr rationalisieren als die Automobilindustrie ... So werden auch hier die Jobs im Tausender-Pack gestrichen.“349 Nach einer veröffentlichten Studie der „Price Waterhouse Corporate Finance Beratung GmbH“, wird die Anzahl der Automobilzulieferer von rund 3000 auf etwa 500 drastisch schrumpfen.350 Der 341 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 12.05.1993. WirtschaftsWoche, Nr. 7, 12.02.1993, Seite 113. 343 Siehe: WirtschaftsWoche, ebenda, Seite 114. 344 Hannoversche Allgemeine Zeitung, 04.12.1993. 345 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 04.12.1993. 346 Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 26.08.1993. 347 Handelsblatt, Nr. 27, 07.02.1989. 348 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 24.12.1992. 349 WirtschaftsWoche, Nr. 21, 15.05.1992. 342 - 127 - tiefgreifende Strukturwandel innerhalb der Zulieferer wird verstärkt zu Firmenschließungen, für den Rest zu Kooperationen, Fusionen und Übernahmen führen. Das VW-Werk Wolfsburg unterhält derzeit, zusammen mit den Zweigwerken Braunschweig und Salzgitter, zu über 12.000 Zulieferbetriebe aus dem gesamten Bundesgebiet und europä-ischen Ausland vertragliche Geschäftsbeziehungen. Zukünftig läuft die Beschaffungsstrategie der VW AG auf eine deutliche Reduzierung der Lieferantenanzahl (single sourcing) hinaus,351 die zu einer ausgeprägten Straffung der Anzahl und organisatorischer/produktionstechnischer Umstrukturierung der Beschafffungswege führen wird. Unverklausuliert äußerte sich der VW Vorstandsvorsitzende F. Piëch, zu dieser zentralen Problematik : „Um einen Volkswagen zu bauen, benötigte man bisher 1500 Zulieferer. Diese Zahl der „Logistik-Partner“ werden auf wir auf 100 drücken.“352 Zu alledem verschlechtert sich die Lage der Zulieferer, weil die VW AG noch auf das sogenannte „Single-Sourcing-System“ umgeschaltet hat, das die einzelnen Fahrzeugkom-ponenten nur von einem einzigen Lieferanten beziehen will. Diese „Logistik-Partner“ oder auch „Modulhersteller“ genannt, werden von der VW AG als Systemführer nur akzeptiert, wenn sie für das Risiko und die Kosten für Ansiedlung, die Vorentwicklung und Montage komplett vorgefertigter Komponenten und für die Lagerungs- und Transportkosten einseitig aufkommen. Bei der von der Automobilindustrie zukünftig geforderte Erhöhung der Gesamteffizienz von Zulieferfirmen anhand von Qualität, Kostenposition, Entwicklungskompetenz, Logistikvoraussetzungen und Produktionsflexiblität 353 sind mittelständisch geprägte Zulieferer nicht mehr in der Lage, diesen Anforderungskriterien auch hinsichtlich der zunehmenden Internationalisierung zu entsprechen. Von den derzeit 2300 niedersächsischen Zulieferern, die bisher VW direkt versorgen, dürften lediglich noch 100 übrig bleiben. Der Rest könnte wiederum den rund 400 Systemzulieferern von VW eventuell zuarbeiten. Bei dem Prozeß würden wohl nicht alle Zulieferer mit insgesamt 70.000 Mitarbeitern in Niedersachsen überleben,354 äußerte der niedersächsische Wirtschaftsminister P. Fischer in einer Pressekonferenz. Die im Auftrag der niedersächsischen Landesregierung von R. Berger und Partner GmbH erstellte Studie über die „Handlungsempflehlungen... zur Unterstützung des Strukturwandels in der Automobilindustrie“ umfaßte 44 beteiligte Unternehmen mit einem 1992 erzielten Umsatz von 12,1 Mrd. DM am Standort Niedersachsen bei einer Mitarbeitergesamtzahl von 51.360 Arbeitnehmer/innen.355 Die hohe Resonanz dieser Studie bei den betroffenen Unternehmen verdeutlichte die problematische Lage der niedersächsischen Automobilzulieferindustrie. Der Landesregierung wurde empfohlen, durch gezielte Schwerpunktsetzung den Strukturwandel bei den Zulieferern frühzeitig zu fördern und mitzugestalten, anstatt spätere Sanierungsfälle zu bearbeiten.356 Als Defizit der niedersächsischen Zulieferindustrie wird in der Studie die große Abhängigkeit von sehr wenigen oder einem einzigen Kunden (VW AG) genannt. Zu den Schwachstellen werden auch eine zu geringe Internationalität und Mängel in der Mitarbeiterqualifizierung gezählt. Die Strukturanpassungen seien bisher nur vereinzelt eingeleitet worden. Wenn Maßnahmen ergriffen 350 Siehe: Handelsblatt, 26.04.1993. Siehe: Günter, H. Ebenda, Seite 9. 352 Die Welt, 09.07.1993 und Braunschweiger Zeitung, 10.07.1993. 353 Siehe: Handelsblatt, 26.04.1993. 354 Siehe: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 10.05.1993 und Braunschweiger Zeitung, 10.05.1993. 355 Siehe: Berger, R. und Partner GmbH, Studie: Handlungsempfehlungen an die Niedersächsische Landesregierung zur Unterstützung des Strukturwandels in der Automobilzulieferindustrie. Hannover Seite 23. 356 Siehe: Dto.,Seiten 23 und 35. 351 27.10.1993, - 128 - worden seien, dann seien sie vorrangig mit den klassischen Methoden (Entlassungen) getätigt worden.357 Nach Einschätzung der niedersächsischen FDP-Landtagsfraktion sind von den rund 120.000 Arbeitsplätzen der Zulieferindustrie ein Fünftel in der näheren Zukunft äußerst gefährdet.358 So beschlossen die beiden Automobilzulieferer Teves und SWF, an der Internationalen Automobilausstellung im Herbst 1993 nicht teilzunehmen. Die Töchter des US-Konzerns IFF haben sich zu diesem Schritt auf Grund der aktuellen Absatzlage in der Automobilindustrie, die mit einer Verschlechterung der Preissituation für die Zulieferer einhergeht, entschlossen. „Es müßten im Personal- und Sachkostenbereich unpopuläre Entscheidungen getroffen werden, um die Ertragslage der Zulieferindustrie zu stützen.“359 In der Branche wird dies als Signal für die rigide Preisverhandlungsstrategien der Autohersteller gewertet. Der Pkw-Zulieferer Mittelmann Guß GmbH in Velbert bei Düsseldorf schloß zum 30.09.1993 endgültig seine Werkstore. Von der Schließung waren 600 Arbeitnehmer/innen betroffen. Der Konkursverwalter der Gießerei habe erklärt, ruinöse Preisforderungen des Mittelmann Hauptabnehmers VW AG zwängen das Unternehmen zur Aufgabe. Orginalzitat: "Wir sind das erste Lopez-Opfer!" 360 Sicher nicht der erste, aber zweifelsfrei kein Ausnahmefall und nicht der letzte mittelständisch geprägte Zulieferer, der dem ruinösen Preisdiktat der VW AG zum Opfer fallen könnte. Dies ist ein weiteres Indiz für die Annahme, daß mehrere Gesprächsrunden, die landesweit, teilweise unter Anwesenheit von F. Piëch und J.I. Lopez, vom Ministerpräsidenten G. Schröder geleitet wurden, nicht den erhofften Effekt einer Bestandssicherung auf den Großteil der Zulieferer unter veränderten Lieferbedingungen haben könnten. In einer dieser Gesprächsrunden aus betroffenen Firmenleitungen, Banken und Vertretern der VW AG, (an dem auch die Firma Mittelmann Guß GmbH beteiligt war) wurde gemeinsam ein Fortführungskonzept speziell für die mittelständischen Familienbetriebe in Erwägung gezogen. Entgegen dieser Absichtserklärung habe die VW AG im Juni 1993 der Mittelmanngeschäftsführung mitgeteilt, daß das Unternehmen sich nicht mehr an dieses Konzept gebunden fühle. „Für das kommenden Jahr erwartete VW Preisnachlässe von 28 Prozent für rund ein Drittel der Mittelmann - Produkte oder die Aufträge würden nach Spanien gehen. Die VW Preisvorstellungen deckten nicht einmal die Lohn- und Materialkosten.“361 Die Präzisionswerkzeugindustrie ringt ebenfalls ums wirtschaftliche Überleben. Der Vorsitzende der Fachgemeinschaft Präzisionswerkzeuge im VDMA, W. Kelch, äußerte anläßlich der HannoverMesse: „... der ausgeübte Preisdruck führt zu einem verschärften Wettbewerb ... der Lopez-Effekt greife wie ein Virus um sich und bewirke eine totale Erosion der Erträge... Konstruktionszeichnungen und Fertigungsunterlagen würden an konkurrierende Mitwettbewerber weitergegeben.“362 Es ist positiv zu werten, daß sich die Wirtschaftspolitik der strukturellen Veränderungen in der VW AG annimmt und diesen Prozeß nicht gänzlich dem „freien Spiel der Kräfte“ überläßt. Trotzdem ist anzumerken, daß auch die vom Wirtschaftsministerium initiierten Gesprächsrunden zwischen niedersächsischen Zulieferbetrieben und VW Management sich anscheinend nur auf eine Moderatorenfunktion der Landesregierung beschränken. Politik soll auch keine Wirtschaft ersetzen, nur der Prozeß einer drastischen Schrumpfung der Automobilzuliefereranzahl und das Wegbrechen 357 Siehe: Dto., Seite 20 ff. Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 01.10.1993. 359 Siehe: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 01.12.1993. 360 Siehe: Volksstimme, Oscherslebener Ausgabe, 05.07.1993. 361 Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 06.07.1993. 362 Kelch, W., In: Braunschweiger Zeitung, 21.09.1993. 358 - 129 - einer hohen Anzahl von Arbeitsplätzen werden durch diese Gesprächsrunden vermutlich weder aufgehalten, noch die anvisierte Größenordnung reduziert werden können. „Die sich drastisch verschlechternde Ausgangslage der niedersächsischen Zulieferindustrie verlangt nach einem Konzept zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit, statt der Behebung von Einzelproblemen.“363 Die niedersächsische Landesregierung hat eine Standort-, Qualifzierungs- und Kooperationsoffensive eingeleitet, mit der Zielvorstellung, den Strukturwandel bei den Zulieferern zu fördern.364 Wie sollen diese „Handlungsempfehlungen“ der R. Berger Studie in wirtschaftspolitische Maßnahmen umgesetzt werden, wenn sich VW hauptsächlich auf Kosten der Automobilzulieferer saniert und seitens der betroffenen Zulieferer sich die Kostenstruktur auf Basis des bestehenden Gefüges nicht mehr reduzieren läßt? Die Antwort auf diese Fragestellung wird durch einen verstärkten Konzentrations- und Zentralisierungsprozeß innerhalb der Automobilzulieferindustrie geprägt sein. Vom Teile-, zum Komponenten-, zum System- und letztendlich zum Modulhersteller wird sich die Zulieferkette verändern. Der Gestaltungsspielraum dieser Kompetenzerhöhung von letztendlichen Modullieferanten (Logistik-, Standort- und Technologiekompetenzinhaber) wird gegenüber der monopolartigen Einkaufsmacht von Automobilherstellern aber nur zum Tragen kommen, wenn dadurch Kosten vom Abnehmer (VW) zum Lieferanten (Automobilzulieferer), z.B. durch Lagerhaltungskosten verlagert werden. Welchen Stellenwert werden die Modulproduzenten und -lieferanten in ihrem quantitativen Bedeutungszuwachs letztendlich haben, wenn der Abnehmer VW eine marktorientierte Preis- und Abnahmegarantie verweigert oder beispielsweise von vornherein ausschließt ? Der arbeitsmarktpolitische Gesichtspunkt ist hierbei in der Tendenz die Segmentierung in Kernarbeitsplätzen (VW AG) und Randarbeitsplätzen (Modulzulieferproduzenten). Das nicht vorhandene oder nur begrenzte Innovationspotential von mittelständisch geprägten Unternehmen kann eine erfolgreiche Umstrukturierung zum System- oder Komponenten-lieferanten kaum bewerkstelligen. Die Konsequenz des veränderten Zuliefervererhältnisses von System- und Komponentenlieferanten wird sich dahingehend entwickeln, daß künftige Subunternehmen verstärkt in Süd- und vor allem Osteuropa ihre Teilevorfertigung produzieren und damit die einheimischen Anbieter umgehen bzw. ökonomisch ausschalten. Den verbleibenden Zulieferern bleibt diesbezüglich keine andere Wahl, weil der Kostendruck sie zwingt, neue kostengünstigere Kundenbeziehungen aufzubauen und parallel interne Rationalisierungsprojekte zur Erhaltung der eigenen Wettbewerbsfähigkeit durchzuführen. Bei den „unabhängigen“ Autozulieferern ist die wirtschaftliche Existenz davon abhängig, ob es den Unternehmen gelingt, die zum Teil vollständige Umsatzabhängigkeit von wenigen oder einem Abnehmer zu mindern. Wenn es richtig ist, daß die Überlebensrisiken und Strukturprobleme vieler mittelständischer Autozulieferer in den vergangenen Jahren nur durch die einzigartige Autokonjunktur zugedeckt worden war,365 dann verheißt der eingetretene Nachfragerückgang auf dem Automobilmarkt nichts Positives. Eine Risikominderung wird daher für viele nur durch eine mit Augenmaß betriebene Diversifikation der Produktion und die Stärkung bereits vorhandener autounabhängiger Standbeine zu erreichen sein. Einige wenige Unternehmen haben hierbei aufgrund ihrer traditionellen Produktions- und Qualifikationsstruktur bessere Chancen. 363 Siehe: Berger, R. und Partner GmbH. Ebenda, Seite 2. Siehe: A. Tacke, (Staatssektretär im niedersächsischen Wirtschaftsministerium), In: Metall, Zeitung der Industriegewerkschaft Metall, 25.02.1994, Seite 20. 365 Siehe: Süddeutsche Zeitung, 14.04.1992 und Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.04.1992. 364 - 130 - Die verschärfte Konkurrenz der Automobilzulieferindustrie untereinander um kostengünstigere Herstellung spielt eine wesentliche Rolle, sich durch Angebote in unmittelbarer Nähe zum Hersteller in Verbindung mit just-in-time Anlieferung eine günstigere Ausgangsposition in einem fest umkämpften Markt zu schaffen. Gleichzeitig tendieren die Zulieferer unter dem von der Automobilindustrie diktierten Abgabepreisen dahin, unter Ausschöpfung der jeweiligen Standortvorteile sich verstärkt nach Süd- und Osteuropa zu verlagern. Der Druck auf die Erträge der Zulieferindustrie nimmt extrem zu, so das Anhaltspunkte für Knebelungsverträge gegeben sind. „Erhebliche nachteilige Wirkungen sind bei kleineren und mittleren Zulieferunternehmen auch hinsichtlich ihrer Autonomie und Gestaltungsfreiheit zu erwarten. Insbesondere die informative Vernetzung mit dem Autohersteller, die strikte Erfüllung auch kurzfristiger Lieferabrufe und die absolute Einhaltung hochgeschraubter Qualitätsstandards (Null-Fehler-Qualität) degradieren den normalen Zulieferer zu einem reinen Befehlsempfänger.“366 Die Zulieferbranche wird dem Kostendruck „um Pfennigkalkulationen“ verstärkt mit Fusionen einerseits und Betriebszusammenbrüchen andererseits (größtenteils mittelständisch orientierter Unternehmen) begegnen. Um den Kostendruck annähernd aufzufangen, werden die verbleibenden Zulieferbetriebe ihre Produktionsstätten im zunehmenden Maße ins Ausland verlagern und parallel die eigene Fertigungstiefe auf Sublieferanten übertragen. „Im Zuge eines sich beschleunigenden Ausleseprozesses unter den Zulieferern stelle sich sowohl für den Teile- als auch für den Komponentenhersteller stärker als zuvor die Frage, ob der weitere Weg alleine oder in Zusammenarbeit mit anderen Unternehmen beschritten werden soll. Nicht nur unter Kostenminimierungsaspekten, sondern auch vor dem Hintergrund einer durch steigende Produktverantwortung der Zuliefer notwendigen Bündelung von Know-how und finanziellen Ressourcen primär im Forschungs- und Entwicklungsbereich, seien die Vorteile größerer Produktionseinheiten evident.“367 Den ungewöhnlich starken Druck der Automobilproduzenten auf die Zulieferbetriebe haben Sprecher der IG-Chemie, Papier und Keramik und des Verbandes der kunstoffverarbeitenden Industrie scharf kritisiert.368 Dem Anspruch von VW, ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen Hersteller und Zulieferern zu entwickeln, um aus dieser Kooperation heraus die Wettbewerbsposition des Automobilstandortes Deutschland zu festigen,369 scheint diese Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu widersprechen. Als exemplarisches Beispiel für den Zukunftsperspektiven der Automobilzulieferindustrie in der Region Südostniedersachsen kann das als „Experiment“ angesehene Projekt angesehen werden, als 1982 das VW Werk Wolfsburg seine Kunststoffteilefertigung in eine Braunschweiger Firma auslagerte: Trotzdem der Kunststoffanteil z.B. vom Golf II von rund 62 Kilogramm auf 79 Kilogramm beim Golf III erhöht wurde und die „selbständige“ Zulieferfirma von dieser Entwicklung profitierte (und monatlich rund 12 Millionen Teile von 106 Maschinen mit 300 Arbeitnehmern herstellt), sind die Zukunftsaussichten nicht optimistisch. Anläßlich des 10jährigen Betriebsjubiläums kam bei den Mitarbeitern und der Geschäftsleitung gemeinsam keine „Freude“ auf, weil Pessimismus die Geburtstagsfeier überschattete, da angesichts des verstärkten Kostendrucks vom Auftraggeber das Werk in seiner Substanz gefährdet und der weitere Fortbestand fraglich geworden ist.370 Auch die im Landkreis Gifhorn angesiedelten Automobilzulieferfirmen (z.B. Teves GmbH, Triangel und Rockwell Golde) sind Beispiele einer äußerst krisenanfälligen Monostruktur: Das Gifhorner Zweigwerk der Teves GmbH als traditioneller Komponentenhersteller von Trommelbremsen für VW Wolfsburg ist ebenso von den Auswirkungen der PKW Stukturkrise 366 Strutynski, P. Autohersteller und Zulieferer im Umbruch.In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 4/92 Bonn, 11/92, Seite 1376. 367 Hannoversche Allgemeine Zeitung, 28.01.1993. 368 Siehe: Handelsblatt, 15.04.1993, Seite 15. 369 Siehe: Wolfsburger Kurier, 14.02.1992. 370 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 17.10.1992. - 131 - betroffen wie die Triangel Dämmstoffwerke bei Gifhorn. Bis 1994 soll die Mitarbeiterzahl bei Triangel von ursprünglich 900 auf ein Drittel reduziert werden. In der Bremsenfabrik Teves wurden außerdem 40 befristete Arbeitsverträge aufgrund der Automobilflaute nicht verlängert und für die Gießerei ist Kurzarbeit beantragt worden.371 Im Triangeler Werk wird die Schrumpfung mit der Rezession in der Autoindustrie und der kritischen Ertragslagen der Tatsache, daß das Werk innerhalb des französischen Mutterkonzerns Sommer-Allibert die größten Verluste habe begründet, teilte die Geschäftsführung mit. Der Autragsrückgang um 20 Prozent verschlechtere die Ertragslage weiter. 372 Insbesondere Triangel kann beispielhaft als Zweigwerk angesehen werden, das als eine Art „verlängerte Werkbank“ eingerichtet wurde. Treten konjunkturelle Einbrüche verstärkt auf, stehen diese automatisch zur Disposition. Ein weiteres Abhängigkeitsmerkmal sind die jeweiligen Firmensitze außerhalb dieser Region. Ebenfalls einen spürbaren Umsatzrückgang hat die Rockwell Golde GmbH, einer der führenden Automobilzulieferer, in ihrem Gifhorner Zweigwerk zu verzeichnen.373 Das im Herbst 1991 neu eröffnete Werk in Gifhorn (Investitionen von 100 Millionen DM) produziert mit rund 250 Mitarbeitern im abgelaufenen Geschäftsjahr 360.000 Schiebedächer vorwiegend für Volkswagen. Dabei wird direkt in die Fertigung von VW hinein (just-in-time) nach Wolfsburg geliefert.374 Aus diesen Fallbeispielen lassen sich folgende Rückschlüsse ziehen: - Die Strategien der gesamten Automobilindustrie tendieren dahin, sich hauptsächlich auf Kosten der Zulieferindustrie finanziell zu konsolidieren. Sie zerstören damit einen leistungsfähigen, traditionell eingefahrenen Verbund von größtenteils mittelständischen Zulieferunternehmen. - Die systematische Reduzierung des Umsatzerlöses hinterläßt bei den mittelständisch Zulieferern einen arbeitsmarktpolitischen Flurschaden und zerstört das Innovationspotential der Unternehmen. geprägten erworbene - Sich dem „Diktat“ weiterer Preiszugeständnisse gegenüber der VW AG zu unterwerfen ist gleichbedeutend mit Konkursanträgen der zumeist mittelständisch geprägten Zulieferindustrien. - Durch den kontinuierlichen Personalabbau in der VW AG und dem Arbeitsplatzeinbruch bei den Zulieferbetrieben in Südostniedersachsen, verliert die mono-strukturierte Region weitere zum Teil hochqualifizierte Facharbeiter, die aufgrund fehlender alternativer Beschäftigungsmöglichkeiten in andere Regionen abwandern. Neben der niedersächsischen Landesregierung und dem VDA, hat zwischenzeitlich auch der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) in der Auseinandersetzung zwischen der Automobilund der Zulieferindustrie eine Moderatorenrolle übernommen. Nach intensiven Diskussionen hat der BDI-Arbeitskreis „Zulieferfragen“ einstimmig in einem Leitsatz festgestellt, daß vertraglich vereinbarte Kaufpreise nicht durch nachträgliche Kostenüberprüfungen des Bestellers beim Zuliefer in Frage gestellt werden dürfen.375 Wenn nachträglich in bestehende Preisvereinbarungen eingegriffen wird, liegt eine rechtswidrige Handlungsweise vor. Der BDI erklärte in seiner offiziellen Stellungnahme weiter: „Eine solche Einflußnahme sei innerhalb regulärer Kaufverträge auch angesichts der derzeitigen scharfen Preiskonkurrenz nicht zulässig. Abnehmer und Zulieferer müßten strikt unterscheiden zwischen Kaufverträgen mit festgelegten Kaufpreisen und Kooperationsverträgen mit gemeinschaftlicher Kosten- und Produktplanung.“376 371 Siehe: Braunschweiger Zeitung - Helmstedter Ausgabe, 21.11.1992. Siehe: Dto. 12.12.1992. 373 Siehe: Braunschweiger Zeitung - Helmstedter Ausgabe , 06.11.1992. 374 Anmerkung: Die Automobilzulieferverflechtungen im Landkreis Helmstedt werden im Kapitel 3.1.5.2 aufgelistet. 375 Siehe: Handelsblatt, 15.07.1993. 376 Frankfurter Rundschau, 17.07.1993 und Hannoversche Allgemeine Zeitung, 17.07.1993. 372 - 132 - Die „normative Kraft des Faktischen“ scheint unter extremster Ausnutzung einer ökonomi-schen Machtposition trotzdem weiter der Regelfall zu bleiben: „In den Einkaufsstäben der Konzerne sitzen lauter Lopez, klagt ein Betroffener. Es werde in Verträge eingegriffen und die Preise rigoros um bis zu 20 Prozent gekappt. Die Drückerei geht weiter.“377 Das ausschließliche Ziel einer Kostenminimierung über den Einkauf scheint sich zum Aspekt der Qualitätssicherung „kontraproduktiv“ zu entwickeln. VW Vorstandsvorsitzender F. Piëch betonte: „Alle Anstrengungen zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit müßten an den Wünschen der Autokäufer ausgerichtet werden. Es gelte, die Begeisterung der Kunden für Erzeugnisse des VW Konzerns mindestens genauso lange zu erhalten, wie sie die Fahrzeuge nutzen... Preis, Qualität und Service müssen optimal sein.“378 Das Ziel der Qualitätssicherung scheint hierbei dem des günstigsten Einkaufspreises in der Unternehmenspraxis untergeordnet zu sein, was zur Folge haben könnte, daß auftretende Qualitätsprobleme das Markenimage beeinträchtigen würden. In der Adam Opel AG mehren sich die Anzeichen, daß ab Baujahr 1990 (in der die drastischen Kostenreduzierung von J. Lopez in der Serie griffen) in der gesamten Typenpalette zum Teil schwerwiegende Ausfallerscheinungen durch technische Defekte auftreten, die zum Teil gravierende Qualitätsmängel signalisieren. Die bundesdeutschen Automobilmanager beurteilen die Automobilzulieferindustrie als „zu teuer, zu langsam und zu phantasielos... Nur wer die neuen Spielregeln beherrscht, bleibt im Geschäft.“ 379 Am Beispiel der Robert Bosch GmbH, Geschäftssitz Stuttgart, werden diesbezügliche Maßnahmen zur Kostensenkung forciert, um die Ertragskraft und internationale Wettbewerbsfähigkeit aufgrund der direkten Geschäftsbedingungen langfristig zu sichern. Der Umsatzeinbruch in der Kraftfahrzeugausrüstung reduzierte sich im Januar 1993 um 18 Prozent des entsprechenden Vorjahreswertes. Personalabbau in den inländischen Werken sind die Konsequenz. Bei einigen Bosch-Erzeugnissen liegen die Kosten z.Zt. um 30 Prozent über denen führender Wettbewerber.380 Die unmittelbare Verlagerung der Automobilkrise auf die Zulieferindustrie verdeutlicht exemplarisch dieser Stuttgarter Elektronikkonzern (Europas größter Automobilzulieferer): In der hiesigen Region sind durch die Zentralisierung der Zweigwerke nicht zur Produktionsstätten und Arbeitsplätze, sondern auch Komponentenzulieferer ebenfalls betroffen. Der Bosch-Konzern erwägt z. B., ausgerechnet die Produktion der Steuergeräte für die Air-Bag Komponentenfertigung aus dem Zweigwerk Wolfenbüttel nach Ansbach zu verlagern. 381 Bundesweit sollen 1993 rund 10.000 Arbeitsplätze in der Robert Bosch GmbH Stellen wegfallen. Davon betroffen sind auch die Zweigwerke in Salzgitter und Wolfenbüttel, bei weiterem Abbau kann auch eine Bestandsgefährdung des Zweigwerkes in Wolfenbüttel nicht mehr ausgeschlossen werden.382 Das die Geschäftsbeziehungen zwischen Zulieferern und Abnehmern auch unter veränderten Produktionsbedingungen „kultivierter“ ablaufen können, zeigt das Kooperationsmodell der Fiat-AG mit Zulieferfirmen: „Der Turiner Fiat-Konzern hat mit 80 zum Verband der italienischen Automobilindustrie in Turin gehörenden Autozulieferern ein Kooperationsabkommen geschlossen. Das Abkommen sieht nach 377 Focus, Nr. 28, 12.07.1993, Seite 111. Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 25.10.1993. 379 Manager Magazin, 3/93, 23. Jahrgang, Seite 100. 380 Siehe: Süddeutsche Zeitung, 04.03.1993. 381 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 25.06.1993. 382 Siehe: Dto., 25.06.1993. 378 - 133 - den Angaben von Fiat eine enge Informationsvernetzung vom Beginn der Modellplanung an vor.“383 Preisgarantien sind ebenso Bestandsgrundlage dieser kooperativen Vertragsvereinbarung wie ein gegenseitiges Vertrauensverhältnis. Angesichts des dramatischen Arbeitsplatzabbaues besonders in der Automobilzulieferindustrie sollten sich die Akteure nicht nur einseitig auf den industriellen Restbestand von Kernfertigungsbereichen in der Automobilindustrie konzentrieren, sondern die wegschmelzenden Arbeitsplätze bei den Zulieferern ebenso berücksichtigen und Gegensteuerungsmaßnahmen einleiten. Die Beschäftigungspolitik der Landesregierung sollte sich nicht nur auf Krisenmanagement für Großbetriebe beschränken, sondern auch mittelständischen Unternehmen wirkungsvoll helfen - z. B. mit Risikobeteiligungen. In die strategischen Überlegungen sollte ebenfalls mit einfließen, ob die zukünftig neuen Komponentenhersteller auch einen längerfristigen Bestandteil der veränderten Produktionsorganisationen darstellen oder nur als kurzfristiger Übergang einer permanenten Logistikdiversifikation einzustufen sind. Letztendlich sollte eine industriepolitisch koordinierte Gemeinschaftsanstrengung aller deutschen Automobil- und Zulieferindustrien gemeinsam mit den betroffenen Bundesländern durchgeführt werden, um die notwendigen Innovationsprozesse für Produkte und Organisationen zu beschleunigen, die den Wettbewerbsanforderungen und damit veränderten Marktbedingungen für die Zukunft des Industriestandortes Bundesrepublik Deutschland Rechnung tragen. 3.2.10 Lean production - Anspruch und Wirklichkeit „In der deutschen Industrielandschaft vollzieht sich derzeit das spektakuläre Zusammentreffen zweier Megatrends: Eine durch massive Struktur- und Konjunkturprobleme entflammte Diskussion um den Wirtschaftsstandort Deutschland vermischt sich mit einem aus Japan importierten Rationalisierungskonzept. Es firmiert unter lean production bzw. Lean Management und wurde inzwischen als schlankes, mageres, straffes Management bzw. als Fitneßmanagement bereits eingebürgert.“384 Welche Organisationsmodelle können unserer Betriebswirtschaft helfen, angesichts hektischer Innovationszyklen und beängstigender Unkalkulierbarkeit von Entwicklungen, den ver-schärften Wettbewerb zu meistern? Aus betriebswirtschaftlicher Sicht erscheinen japanische Produktionsmethoden auf Basis von lean production effizienter und qualitativ besser als herkömmliche Produktionsmethoden.385 Zielvorstellung ist dabei die Ausrichtung „...auf das Wesentliche, ... durch den gleichfalls kontinuierlichen Verbesserungsprozeß auf allen Ebenen ... ,Vermeidung von organisatorischen Schnittstellen im Unternehmen und damit konsequente Ausrichtung auf den Wertschöpfungsprozeß, Realisierung des Fließprinzips, also keine Lager und Beherrschung einer beliebigen Produktvielfalt.“386 Mit diesem Konzept verspricht sich die europäische Automobilindustrie verbesserte Wettbewerbsvorteile gegenüber der japanischen, deren ganzheitliche Strategie und Vorgehensweise von den Europäern kopiert wird. 383 Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 05.02.1994. Handelsblatt, 26.07.1993. Anmerkung: Allerdings sei Lean Management keine japanische Erfindung: Es ist dort höchstens die konsequente Umsetzung vieler Einsichten aus Industrieforschung und Arbeitswissenschaft. 385 Siehe: Handelsblatt, 04.03.1993. 386 Struck. J. just-in-time, In: Insider - Publikationen, 50 Jahre Stadt Salzgitter ..., Salzgitter 1992, S. 44. 384 - 134 - Durch die systematisch ausgelagerten Fertigungsbereiche bei VW ergeben sich veränderte Standortmuster bei den Zulieferbetrieben. Die Standortwahl von Zulieferern ist zum einen abhängig von der Art der Teile und zum anderen von der Einbindung in das Materialflußkonzept. Bei komplexeren Teilen Komponentenherstellung (A- und B-Teile) mit hohem Technikgehalt (z.B. High-Tech-Produkte wie ABS, Airbag oder das Armaturenbrett) ist das Fertigungskonzept darauf abgestimmt, die Zulieferer in ein zeit- und somit distanz-empfindliches just-in-time - Konzept einzubeziehen. Bestimmte Baugruppen (Systemteile) werden daher ausgelagert und zukünftig direkt vom Zulieferer an das Band geliefert. Wie just-in-time in der Praxis funktioniert, zeigt das in Gifhorn ansässige Rockwell Gold Zweigwerk exemplarisch auf: Von dem Zeitpunkt, da der Rechner aus dem Wolfsburger VW Werk meldet, für welches Automobil welches Schiebedach benötigt wird, bis zur Lieferung des gewünschten Teils ans Fließband in der Wolfsburger VW Endmontage vergehen exakt 136 Minuten. In diesem knappen Zeitraum ist das Beladen des LKW, die Fahrt von Gifhorn nach Wolfsburg, vom Werkstor zur Montagehalle bis ans Band enthalten.387 Es wird beabsichtigt, daß Qualitätskreise und Qualitätszirkel durch Mitarbeiter von Herstellern und Modullieferanten gemeinsam eingerichtet werden, um Schwachstellen und Probleme, die bei der Herstellung von Modulen auftreten, gemeinsam frühzeitig zu erkennen, zu analysieren und zu lösen.388 Um den massiven Innovationsdruck und die Notwendigkeit zur zeitlichen Straffung im Forschungsund Entwicklungsbereich realisieren zu können, sollen spezielle Teams aus Mitarbeitern des Automobilherstellers und des Modullieferanten gebildet werden, die entweder gemeinsam oder aber arbeitsteilig nach bestimmten Vorgaben komplette Module entwickeln. Die informatorische Verknüpfung im Forschungs- und Entwicklungsbereich durch beiderseitige Nutzung von CADSystemen ermöglicht schnelle und kostengünstige Entwicklungen.389 Weitere wesentliche Charakteristiken der schlanken Produktion sind: Entscheidungen werden im wesentlichen an die Stellen verlagert, wo sie auch umgesetzt werden müssen. Kurze Informationswege und Dezentralisierung implizieren logischerweise flachere Hierarchien. Gruppenarbeit, Dezentralisierung und flache Hierarchien können daher als die erste Säule der Philosophie der schlanken Produktion bezeichnet werden. Das von den Japanern „abgekupferte Modell“ einer angeblich neuen, erfolgversprechenden Formel für Beschaffung, Produktion, Lagerhaltung, Vertrieb ( „just-in-time“ genannt), kann jedoch nicht uneingeschränkt als effiziente Logistik angesehen werden. Neben den Kostenvorteilen für die Marktmonopolisten stellt sich hierbei die Frage, ob die Kosten wirklich reduziert werden oder nur woanders anfallen, bzw. verlagert werden. Die vermehrten Transportvorgänge, reduzierten Sendungsgrößen, häufige Be- und Entladungsvorgänge sind für die Zulieferer intensive Kostenverursacher. Lagerhaltungskosten in zumeist groß dimensionierten Pufferlagern tragen dazu bei, eine Kostenabwälzungsstrategie zu Ungunsten der Automobilzuliefererindustrie zu praktizieren. Die Lieferanten werden gezwungen, um ihr eigenes wirtschaftliches Überleben zu sichern, die für sie nun zusätzlichen Kosten im Preis einkalkulieren zu müssen. Die erwähnten Transportgänge führen andererseits zum „Verkehrsinfarkt“. Vor diesem Hintergrund wird ein Dilemma besonders deutlich: Einerseits trägt just-in-time zur Erhöhung der Transportvorgänge und damit des gesamten Verkehrsaufkommens bei. Dieses erhöhte Transportaufkommen wiederum ist die zentrale Ursache für die immer häufigeren Staubildungen. Andererseits gefährdet aber der Verkehrsstau die pünktliche und auf den gesamten Materialfluß abgestimmte Belieferung. 387 Siehe: Aller-Zeitung, 04.02.1993. Siehe: Handelsblatt, 22.06.1992. 389 Siehe: Betriebswirtschaftslehre, WISU Heft 8-9, Frankfurt a. M. 1992, Seite 29. 388 - 135 - Ein funktionsfähiges just-in-time Konzept setzt eine Termingenauigkeit voraus, die angesichts der heutigen Transportbedingungen kaum noch gewährleistet werden kann. Kontinuierliche Lieferengpässe und dadurch bedingte Produktionsausfälle im VW Zweigwerk im Wolfsburg bestätigen diese praktische Inflexibilität. Eine weitere Problematik aus Sicht der Industrie betrifft die Anfälligkeit des Produktionsablaufes bei gezielten und beabsichtigten Störungen. Je perfekter das just-in-time Konzept funktioniert, um so intensiver ist das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Industrie und Zulieferbetrieben. Die Gewerkschaften haben diese Situation längst erkannt. Durch Streikmaßnahmen bei einigen wenigen Zulieferern kann heutzutage beispielsweise die gesamte Automobilindustrie lahmgelegt werden. Die Industrie ist somit besonders anfällig für gezielte Streikmaßnahmen geworden. Hinzu kommt, daß aus Sicht der Gewerkschaften solche gezielten Streiks besonders effektiv sind: Erstens ist die gesamte Branche von ihnen betroffen, zweitens ist der Aufwand für die Gewerkschaften gering, da nur relativ wenige Arbeiter bei den Zulieferern in Streik zu treten brauchen. In den USA zeigten sich außerdem unlösbare Konflikte von lean production und gewerkschaftlicher Interessenvertretung ab und in Japan wird bereits eine Post-lean-production in der Automobilbranche (insbesondere bei Mazda) propagiert, die ein optimales Zusammenspiel von Mensch und Technik favorisiert.390 Bei Mercedes-Benz werden diese Erkenntnisse durch die Propagierung von „europäischer Technik und fernöstlichen Geist“ umgesetzt. Dieser mehr pragmatische Umsetzungs-Mix ist prägend für die neue Standortpolitik der Lean-Reformunternehmen,391 welche auch den Ausgleich und Konsens zwischen Unternehmen und Kommunen im Hinblick auf die Industrieflächenvorratspolitik beinhalten sollten. Es erscheint in der Tat irritierend, daß im Standort Deutschland anscheinend nur japanische Konzepte kopiert werden, die dort im Ursprungsland aufgrund erweiterter Erkenntnisse bereits verändert oder grundlegend modifiziert wurden. Die lean production allein wird die deutsche Automobilindustrie jedenfalls nicht wieder in die ursprüngliche Spitzenstellung bringen. Es gibt wohl nur eine Möglichkeit, die verbleibenden Arbeitsplätze gegenüber den japanischen Mitwettbewerbern erfolgreich zu erhalten: Eigenständige und kreative Innovationen. Hier fehlt anscheinend die überzeugende Vision. Zum Beispiel könnten umfangreiche Fortschritte im Produktions- und Kostenmanagment mit einem minimalen Aufwand an Koordination, einer geringen Hierarchie, einem zeitgemäßen Arbeitszeitsystem und neuen Eingruppierungsstrukturen ein völlig neues Kapitel der Arbeits- und Betriebsorganisation in der VW AG einleiten. Es erscheint sogar wahrscheinlich, daß durch die Wiederentdeckung und Ausschöpfung der Ressource Mensch die Automatisierung betrieblicher Abläufe nicht mehr so wie früher im Mittelpunkt stehen wird. In vielen Fällen wird sie sicherlich sogar zurückgehen, da Gruppenarbeit bei der schlanken Produktion mit ihrer Transparenz, ihren kurzen Informationswegen und ihrer flachen Hierarchie in ihrer Funktionalität durch manche Formen der Automatisierung eher behindert wird, (siehe: VW Zweigwerk Mosel). Plötzlich ist der Mensch wieder in den Mittelpunkt gerückt, als die vollautomatisierte und zentralgesteuerte Fabrik sich als zu starr und kostenträchtig entpuppte (siehe: VW-Werk Wolfsburg). Die zentrale Fragestellung ist: Kann das Managementkonzept lean production als Kern einer neuen Unternehmenskultur und einer innovativen und sozialen Arbeitsorganisation eingestuft werden? Auf einer Tagung der IG-Metall und Hans-Böckler-Stiftung hat der Erfahrungsaustausch von Wissenschaftlern und Experten aus der Praxis, Gewerkschaftsfunktionären und Betriebsräten sowie Managern aus der Metallindustrie eines deutlich gemacht: lean production als Mangementkonzept 390 391 Siehe: Handelsblatt 20.07.1993. Siehe: Dto., 26.07.1993. - 136 - zielt auf Rationalisierung und Produktivitätssteigerung und nicht primär auf Humanisierung der Arbeit!392 Ob die angestrebte neue Unternehmensorganisation ein Ansatz zur Verbindung von Wirtschaftlichkeit, Demokratisierung und Humanisierung des Arbeitslebens sein kann oder ob es um eine Reorganisation der Machtverteilung geht, ist nicht Untersuchungsgegenstand dieser Strukturanlyse. Trotzdem sollte folgende Erkenntnis nicht vorenthalten werden: Alle Betriebssysteme haben technologische und betriebswirtschaftliche Grenzen. Alle Systeme können nur unter bestimmten ökonomischen, ökologischen und gesellschaftlichen Bedingungen funktionieren. Wenn ein Teilsystem seine Voraussetzung verliert, ist auch seine Effektivität verloren. „Nach Informationen der japanischen Automobilarbeitergewerkschaft leisten die dortigen AutoWerker im Schnitt 350 Überstunden pro Jahr. Zudem wird ein Teil des Urlaubsanspruches für kurzfristige Krankheiten genutzt, da die Geschäftsleitung für Abwesenheit oftmals große Summen von den Prämienzahlungen abzieht. Japanische Zulieferungsunternehmen, das eigentliche Rückgrat der just-in-time Philosophie, bringen es auf 500 Überstunden pro Jahr, und das Personal im Maschinenbau rekrutiert sich zu einem Viertel aus Teilzeitarbeitskräften. Sie müssen mit 20 bis 50 Prozent der Löhne des Stammpersonals auskommen.“393 Ein weiterer wesentlicher Konkurrenzvorteil der Japaner liegt immer noch in den sehr viel längeren regulären Arbeitszeiten der Beschäftigten. Zwar gibt es auch in Japan ansatzweise eine Tendenz zum eher hedonistischen, freizeitorientierten Lebensstil. Die fernöstliche Haltung zum Betrieb als „zweiter Familie“ ist auf deutsche Verhältnisse aber nicht übertragbar. Es kristallisiert sich heraus, daß spezifische Fertigungskostenvorteile der lean production entscheidend mit den japanischen Arbeits- und Lebensbedingungen zusammenhängen. Außerdem ist die dortige historisch ausgeprägte „Harmonieideologie“ unter dem Gesichtspunkt der Negation von Persönlichkeitsstrukturen keineswegs auf abendländische Kulturkreise übertragbar. Es wird deutlich, daß das „Leitbild“ einer neuen Fabrik, für neue Arbeitsorganisationen und Gruppenarbeit auf den sozialökonomischen Gegebenheiten der eigenen Gesellschaft aufbauen muß und nicht nur aus Japan „abgekupfert“ werden kann. Teamarbeit, flache Hierarchie und kurze Wege können nicht dazu führen, den Arbeitsprozeß im Sinne der lean production zu harmonisieren. Allerdings gehört zu diesem Veränderungsprozeß auch „das Einstellungungsverhalten der Mitarbeiter zu verändern. Wenn die Egoismen der einzelnen zu Kooperation mit den anderen gewandelt werden können, dann fällt die Umsetzung durch Umstrukturierung etc. leicht. Wir erleben dann, daß jeder voll dahintersteht, alle haben ein Ziel. Es entfallen weitgehend die inneren Reibereien, die jetzt immer wieder auftreten, wenn Veränderungen erforderlich sind.“394 Ob diese Prognose auch unter VW-spezifischen Bedingungen und Problemstellungen bis ins Detail realisierbar ist, wird die Zukunft zeigen. Nach jahrzehntelanger monotoner Arbeitstätigkeit mit einem ausgeprägten Hierarchisierungsgrad werden die Mitarbeiter/innen jetzt auf neue Formen der Arbeitsorganisation getrimmt. Die notwendige Anpassung an eine veränderte Wirtschaftslage und die drastische Verschärfung des nationalen und vor allem internationalen Wettbewerbs, zwingen die Manager parallel zu den klassischen Maßnahmebündeln (forcierter Personalabbau und weitere Rationalisierungsmaßnahmen) eine neue Strategie umzusetzen: Die direkte Einbindung der Mitarbeiter/innen zur Verbesserung der Produktionsabläufe soll als neues Instrument greifen. Konsequent analysiert geht es dabei aber auch um das Aufbrechen alter Strukturen, um engere Zusammenarbeit und um eine ständige Verbesserung der Arbeitsabläufe. Das würde auch einen Wandel und die Abkehr von bisherigen traditionellen Führungsprinzipien bedeuten. Dies ist nur mit dem scheibchenweise Abgeben von Macht und Verantwortung realisierbar. Für eine konsequente Einbeziehung der Mitarbeiter in Gestaltungs- und Entscheidungsprozesse ist dieser Weg 392 Siehe: Hans-Böckler-Stiftung (Hrsg.). Lean production - schlanke Produktion, Düsseldorf, Mai 1992 , S.48. VDI - Nachrichten, 13.11.1992. 394 Handelsblatt, 25./26.09.1992. 393 - 137 - unumgänglich. Ob die inhaltliche und nicht nur formale Einbindung der Mitarbeiter/innen in diesen Struktureingriff eines Entwicklungsprozesses dieser Größenordnung des Unternehmens letztlich gelingt, hängt entscheidend auch davon ab, ob vom Markenvorstand Volkswagen Impulse ausgehen, die ein neues Verständnis für den Umgang miteinander ermöglichen. Die Aufgabenstellung des Managements wäre es hierbei, Hindernisse für diesen Prozeß auszuräumen und somit notwendigen Freiraum innerhalb der Betriebsorganisation zu schaffen, damit die neuen Organisationsstrukturen praktisch greifen. Der VW spezifische Schwachpunkt bei der organisatorischen Umstrukturierung unter Einbeziehung der Betroffenen scheint sich folgendermaßen darzustellen: Wie können aufgrund der Überkapazitäten unbegrenzt und konfliktfrei Lösungsmuster erarbeitet werden? Unter Berücksichtigung des kontinuierlichen Personalabbaues und der damit verbunden Unsicherheit des eigenen Arbeitsplatzes kann das Engagement der Mitarbeiter/innen im „Keim erstickt“ werden. Außerdem würde eine konsequent durchgeführte schlanke Produktion die Qualifikationsanforderungsmerkmale an die verbleibende Stammbelegschaft extrem erhöhen. Langfristig hätte das Belegschaftssegment der un- und angelernten Produktionsarbeiter weniger Chancen, die benötigten Weiterbildungsmaßnahmen erfolgreich zu bestehen. Für den gewerblichen Bereich kommt insbesondere zum Tragen, daß zukünftig multifunktio-nale computervernetzte Arbeitsplätze den Wissensvorsprung der Vorgesetzten und Konzern-zentrale aufheben. Die Ausrichtung an organisatorischen Leitbildern beinhaltet aber noch das Denken in Geschäftsprozessen anstatt in Organisationsstrukturen. Gestaltungskonzepte für den verbleibenden industriellen Kernbereich reduzierter Stammarbeitsplätze bei VW sollten darauf abzielen, bei der Umsetzung Strategien zu entwickeln, die eine Verbindung zwischen internationalen Wettbewerb und innerbetrieblicher Reformfähigkeit beinhalten. Ungeachtet der aufgezählten Argumente vollzieht sich die Umsetzung fernöstlicher „Autobaukultur“ in die Strukturen des VW AG am Beispiel der neu errichteten Seat Montagefabrik Martorell bei Barcelona im katalanischen Spanien unaufhaltsam weiter: Japan stand Pate bei der neuen Arbeitsorganisation, für die der von Nissan in Großbritannien abgeworbene technische Direktor Grifiths verantwortlich ist. Nach japanischen Vorbild ist auch der Produktionsablauf konzipiert. Der eigene Fertigungsanteil macht nur rund 30 Prozent aus. Für diese just-in-time Produktion steht in 2,5 Kilometer Entfernung ein Zulieferzentrum mit 15 Firmen zur Verfügung, die 30 verschiedene Komponenten liefern und über einen Datenverbund ständig informiert werden , was gerade benötigt wird. Ein ins Werk integriertes Zentrum koordiniert die Zusammenarbeit mit den insgesamt 400 Zulieferern. Insgesamt ist die Kapazität auf 1.500 Autos täglich ausgelegt. Die Endstufe mit 6.000 Beschäftigten soll Ende 1993 erreicht sein.395 Die Seat Montagefabrik ist ein weiterer Beleg dafür, daß sich die Strukturen der Automobilproduktion international angleichen. Die Umsetzungsprobleme dieser Angleichung auf die regionalen Bedingungen niedersächsischer Verhältnisse zeigen im Folgenden die Schwierig-keiten der Vorratshaltung an Gewerbe- und Industrieflächenbedarf für die Belange der VW AG am exemplarischen Beispiel der Stadt Wolfsburg und der Landkreise Helmstedt und Gifhorn auf. 3.2.11 Flächennutzung für die Automobilindustrie ? „Über die Planung und Erschließung von Industrie- und Gewerbeflächen in Wolfsburg ist in der zurückliegenden Zeit viel diskutiert und geschrieben worden, ohne dabei aber wesentliche Fortschritte gemacht zu haben.“ 396 Die Gewerbeflächenentwicklung ist in Wolfsburg bereits an ihre Kapazitätsgrenze gestoßen. Die Auffassung von VW Management und Betriebsrat, auch den ökologisch sensiblen Bereich des 395 396 Siehe: Frankfurter Rundschau, 23.02.1993, Seite 15. Wolfsburger Kurier, 10.10.1993. - 138 - „Barnbruch“ gewerblich-industriell zu nutzen, weil zu wenig potentielle Alternativflächen zur Verfügung stehen, 397 stoßen im Willensbildungsprozeß parteiübergreifend auf zum Teil deutliche Ablehnung. Über fehlende Industrieansiedlungsflächen in unmittelbarer Werksumgebung für die logistischen Erfordernisse bei just-in-time Vorhaben ist im erforderlichen Umfang in der Vergangenheit hingewiesen worden. Aufgrund der notwendigen Liefergeschwindigkeit ist die Forderung nach räumlicher Nähe der anzusiedelnden Unternehmen auch nachvollziehbar. Im Gegensatz zu anderen VW-Werken verfügt die unmittelbare Umgebung des Wolfsburger Werkes ungünstigere Voraussetzung für die Ansiedlung von Zulieferern. So ist die Ausweisung neuer Industrie- und Gewerbeflächen in und um Wolfsburg aus der Sicht des Gesamtbetriebsrats eine der langfristig lebensnotwendigen Voraussetzungen für die Standortsicherung des Werkes Wolfsburg. 398 Verschwiegen wird u.a., daß die Entwicklungsmöglichkeiten auf dem jetzigen Werksgelände noch nicht vollständig ausgeschöpft sind und darüber hinaus wird in öffentlicher Form auf den Willensbildungsprozeß Einfluß genommen: „Das von der Stadt Wolfsburg ins Auge gefaßte Gewerbegebiet Roiwekamp nördlich von Warmenau sei ein sehr guter Standort für Zulieferbetriebe.“ 399 Desweiteren forderte VW Gesamt- und Konzernbetriebsrat K. Volkert die Gremien des Rates auf, „bei der Beratung der Belange des Naturschutzes, die Dringlichkeit der Ansiedlung neuer Fertigungsstätten und somit neuer Arbeitsplätze entsprechend zu gewichten.“400 Unverklausuliert äußerte sich K. Volkert anläßlich der Regionalkonferenz der IG-Metall: „Dazu gehöre auch eine regionalorientierte Zuliefer- und Ansiedlungsstrategie. Hierbei werde es aber auch darauf ankommen, im Rahmen von Ansiedlungskonzepten politischen Druck zu entfalten und strukturelle Voraussetzungen z.B. durch die Ausweisung von Gewerbe- und Industrieflächen zu schaffen.“ 401 H.-J. Uhl, Geschäftsführer des VW Konzernbetriebsrates ergänzt diese Forderung anläßlich eines Pressegeprächs: „Wenn es zu Auslagerungen komme, müsse dafür Sorge getragen werden, daß vor den Toren Wolfsburg sich neue Zulieferer ansiedeln.“402 Gewerbeflächen für die Belange der VW AG im Wolfsburger Stadtgebiet zu reservieren, ist nicht nur als reine Bestandspflege zu interpretieren. Es erscheint auf den ersten Blick auch überlebenswichtig, weil die einzelnen Zweigwerke nur dann eine Chance haben, wenn es ihnen gelingt, durch veränderte Organisationsstrukturen Vorteile gegenüber anderen Standorten (interne Standortkonkurrenz) zu erarbeiten. Die Ratsmitglieder aus dem Wolfsburger Wirtschafts- und Stadtentwicklungssausschuß zeigten sich enttäuscht über die langen Planungszeiten der Verwaltung und verlangten dringend eine beschleunigte Ausweisung von Gewerbeflächen.403 „Weitere Zeit dürfte, insbesondere unter Berücksichtigung der Entwicklungen bei Volkswagen, nicht verlorengehen.“404 Der Engpaß in der Gewerbeflächenplanung ist aus der spezifischen Wolfsburger Entstehungsgeschichte und Stadtstruktur zu erklären: Die Lagen, die traditionell und auch noch heute die größte Eignung für eine gewerbliche Nutzung aufweisen, nämlich verkehrsgünstige Standorte in unmittelbarer Nähe des Volkswagenwerkes nördlich des Mittellandkanals, sind aus 397 Siehe: Wolfsburger Kurier, 10.10.1993. Siehe: Wolfsburger Kurier, 26.05.1993 und Braunschweiger Zeitung, 26.05.1993. 399 Wolfsburger Kurier, 26.05.1993 und Braunschweiger Zeitung, 26.05.1993. 400 Volkert, K. In: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 25.02.1992. 401 Wolfsburger Kurier, 26.05.1993. 402 Braunschweiger Zeitung, 26.05.1993. 403 Siehe: Wolfsburger Kurier, 14.11.1993. 404 Wolfsburger Kurier, 14.11.1993, Seite 1. 398 - 139 - ökologischer Perspektive, genauer aus Sicht des Natur- und Landschaftsschutzes, als problematisch einzuschätzen oder stehen außerdem in Konflikt mit Wohnnutzungen. Entsprechend kontrovers wird seit längerer Zeit die Diskussionen insbesondere um das Gebiet Barnbruch geführt. „Nachdem die Stadt Wolfsburg auf die im Barnbruch schon im Flächennutzungsplan festgelegten 180 Hektar großen Flächen für die Gewerbeansiedlung in den 80er Jahren verzichtet hatte, war es schwer, dafür Ersatzflächen zu finden.“405 Hierbei ist der klassische Zielkonflikt zwischen Ökonomie und Ökologie zu attestieren. Dem Erweiterungsvorhaben stehen zum Teil auch Umweltverträglichkeitsstudien entgegen, 406 die durch Schutzgebietsfestsetzungen aus der Sichtweise von VW Lobbyisten nicht zu einer „Strangulierung“ von VW führen dürfen. Tatsächlich ist eine Ausdehnung des Werkes Wolfsburg nur noch nördlich des Aller-Kanals in dem Gebiet zwischen Warmenau und Kästorf möglich. Der Sandkämper Raum ist bereits durch einen Bebauungsplan aus dem Jahre 1986 vollständig verplant. Zwar ist das Gebiet noch nicht gänzlich bebaut worden, hiermit ist aber mittelfristig nach den Vorgaben im Bebauungsplan zu rechnen. Südlich des Mittellandkanals grenzt das Stadtzentrum an. Im Osten befindet sich der Allerpark, der nach Abriß des Bürozentrums Ost mittelfristig nur noch als ein erweitertes Erholungsgebiet als Ersatzmaßnahme zur nördlichen Werkserweiterung ausgewiesen ist. Aus diesen Faktoren heraus ist eine Ausdehnung des Werksgeländes nur in nördlicher Richtung möglich. Auch kann prinzipiell davon ausgegangen werden, daß ein Produktionsunternehmen zur Bestandssicherung ca. 10 Prozent Reservefläche benötigt, um flexibel reagieren zu können. Bei einer Werksgröße von ca. 600 ha hält sich das für die VW AG vorgesehene Vorratsgelände von 57 ha sogar im angemessenen Rahmen. Der Bedarf an Gewerbe- und Industrieflächen innerhalb der Stadtgrenzen Wolfsburgs und der angrenzenden Landkreise Helmstedt und Gifhorn ist als Folgewirkung der analysierten Strukturveränderungen im Wolfsburger VW Werk unübersehbar. Anforderungsmerkmale an die kommunale Gewerbeentwicklung sind überwiegend von der Entwicklung bzw. den Veränderungen der Unternehmensstrategie in der dominierenden Automobilbranche abhängig. Um permanente Produktionsverbesserungen mit der Zielmarke um 60 Prozent zu erreichen, zeichnen sich bei VW folgende Strukturveränderungen ab: - Abbau der Lagerhaltung auf dem Werksgelände, die Zulieferbetriebe müssen die Lagerhaltung übernehmen und sind für die termingerechte Anlieferung der Einbauteile am Produktionsband verantwortlich. Verringerung der Fertigungstiefe, diverse Produktionseinheiten, die sich bisher im Fertigungsverbund der VW AG befanden, werden ausgelagert. Sowohl die Verringerung der Fertigungstiefe als auch neue Überlegungen in der Logistik stellen besondere Anforderungen an die Gewerbeflächennutzung Wolfsburgs und den in räumlicher Nähe mit günstigeren Straßenanbindungen befindlichen Landkreis Gifhorn, sowie an den Landkreis Helmstedt. Unter diesem Gesichtspunkt haben verfügbare Flächen eine hohe strategische Bedeutung für die Entwicklungschancen eines Standortes, der sich zunehmend einer größer gewordenen konzerninternen Standortkonkurrenz ausgesetzt sieht. Einerseits wäre es fatal, wenn ein Mangel an vorhandenen Flächen Strukturveränderungen blockieren würde, die an anderen Standorten umgesetzt werden können. In diesem Fall würde der Standort Wolfsburg weiteres Fertigungs- und Entwicklungspotential verlieren. Im Zusammenhang mit veränderten Zulieferstrategien ist weiter zu 405 406 Siehe: Wolfsburger Kurier, 10.10.1993. Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 18.02.1992. - 140 - berücksichtigen, daß Modulzulieferung immer auch eine eigene Produktionsstätte des Zulieferers erfordern, da der Zulieferumfang für das VW Werk Wolfsburg extrem hoch ist. Andererseits beinhaltet diese Strategie eine weitere Zementierung und Abhängigkeit von der monostrukturierten Automobilindustrie, indem man auf zukunfts-orientierte Branchendifferenzierung weitgehend verzichtet und somit regionale Entwicklungs-chancen vergibt, um die Kernfertigungs(rest)arbeitsplätze im VW-Werk Wolfsburg zu stabilisieren. Industrie- und Gewerbeflächen werden dringend für die aus VW Sichtweise erforderliche Verringerung der Fertigungstiefe, die in ihrer Konsequenz immer mehr Produk-tionseinheiten aus dem Volkswagenwerk Wolfsburg ausgegliedert, benötigt. Mit der Ausweisung geeigneter Industrieflächen für Zulieferbetriebe soll angestrebt werden, den Standort Wolfsburg über den Preis wieder konkurrenzfähig zu gestalten. Die niedersächsische Landesregierung beabsichtigt, in Zusammenarbeit mit der VW AG, ein abgestimmtes Konzept zu erarbeiten, um Zulieferbetriebe nach Niedersachsen zu holen. Der niedersächsische Wirtschaftsminister P. Fischer verkündete diesbezüglich: Im Umkreis der niedersächsischen Produktionsstandorte von VW mehr als 20 Firmen mit etwa 2500 Arbeitsplätzen neu anzusiedeln.407 Das sei auch erklärtes Ziel der Förderpolitik des Landes. Er habe VW angeboten, in Kooperation mit den Standortkommunen ein spezielles Ansiedlungsprogramm für Zuliefer-betriebe zu entwickeln, das dann von der neu gegründeten Agentur für Industrieansiedlungen des Landes betreut werden soll.408 Die niedersächsische Landesregierung schlägt ein sogenanntes Innovationspaket vor, mit der Zielvorstellung, die Automobilfertigung einschließlich Zulieferindustrie in diesem Land zu halten.409 Wie kann dieses Dilemma zwischen einer dringenden Notwendigkeit von Automobilarbeitsplatzerhaltungsinvestitionen auf einem allerdings unteren Beschäftigungsniveau und der damit weitgehend vergebenen Chance einer Industriediversifizierung aufgrund fehlender Industrieund Gewerbeflächen im Großraum Wolfsburg gemindert werden ? Manager und Betriebsräte von VW, die ausschließlich auf die unmittelbaren Bedürfnisse dieses Unternehmens ausgerichtet sind, argumentieren folgendermaßen: Wenn der Standort Wolfsburg mit anderen VW Standorten konkurrenzfähig bleiben will, müssen dem VW-Werk in der Region ausreichend Flächenreserven zugebilligt werden. Nur so kann VW auf die Weiterentwicklung der Produktionsabläufe oder auf Ansiedlungsforderungen neuer aufgegliederter Produktionseinheiten schnell und flexibel reagieren. Durch den institutionalisierten „VW-Stadt-Arbeitskreis“ erhält die Wolfsburger Stadt-verwaltung die Möglichkeit, sich in der Stadtentwicklung auf die Rationalisierung, Organi-sationsänderung und Arbeitsplatzreduzierung im VW-Werk einzustellen410, da die (wie festgestellt) äußerst begrenzt städtischen Industrie- und Gewerbeflächen einen höchst-möglichen „Nutzeffekt“ an (von der VW AG) ausgesuchten Automobilzulieferern im Komponentenfertigungsbereich erzielen sollen und die Entwicklung des Büroflächenbedarfs in diesem Arbeitskreis ebenfalls abgestimmt wird. Dies sind Eckdaten, die bei der Aufstellung eines Gewerbeflächenkonzeptes in Wolfsburg von Bedeutung sind und bei deren Ausarbeitung „verantwortliche Spitzenkräfte der VW AG“ 411 eine „beratende“ Funktion einnehmen. Die „beratende Funktion“ kann als Richtlinien-kompetenz interpretiert werden. So wird z.B. die architektonische Umgestaltung des Bahnhofsvorplatzes mit zukünftigen ICE-Halt (durch einen Privatinvestor) verwirklicht und es entstehen Büro- und Verkaufsflächen, die als attraktive Bürostandorte schon mittelfristig genutzt werden können, sofern ein Bedarf aufgrund des Rezessionseinbruches überhaupt vorhanden ist. 407 Siehe: Braunschweiger Zeitung, 16.02.1992. Siehe: Braunschweiger Zeitung, Helmstedter Ausgabe, 11.12.1992. 409 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 04.12.1993. 410 Siehe: Wolfsburger Kurier, 07.04.1993. 411 Siehe: Dto., 07.04.1993. 408 - 141 - Dieser Einblick in die Wolfsburger Stadtentwicklung verdeutlicht nicht nur die enge und zielgerichtete Zusammenarbeit zwischen Werk und Stadt. Sie läßt auch die Vermutung zu, daß die Aufteilung des „verbleibenden Restkuchens“ für den umliegenden ländlich geprägten Raum mit Verdichtungsansätzen (z. B. Landkreis Helmstedt) reserviert werden könnte. Die Vertiefung dieser Problematik soll im folgenden anhand der Gewerbeflächenplanung unter Berücksichtigung der speziellen Situation der Stadt Wolfsburg und den umliegenden Landkreisen Gifhorn und Helmstedt untersucht werden: Die Veränderung der Zulieferbeziehungen spiegeln neue Logistikkonzepte in Verbindung mit der just-in-time Strategie wider, die sich entsprechend der Art der Teile in die Einbindung in Materialflußkonzepte klassifiziert. Zwar gilt für alle Teile das just-in-time Prinzip, d.h. die schnellstmögliche Zulieferung um spätmöglichsten Zeitpunkt, jedoch ergeben sich entsprechend der Teile (ABC-Klassifikation) unterschiedliche zeitliche Restriktionen bei der Zulieferung und damit unterschiedliche Standortmuster der Zulieferindustrie. „VW unterscheidet zwei Zulieferungsarten, die zu unterschiedlichen Standortmustern der Zulieferbetriebe führen: - zeitpunkt- und reihenfolgegerechte Sequenzanlieferung mit zahlreichen fahrzeugspezifischen Varianten (A- und teilweise B-Teile); - bedarfsgerechte Anlieferung mit geringerer Variantenzahl im Block (C- und teilweise BTeile).“412; Es lassen sich vier Bedarfskategorien unterscheiden: 1. Erweiterungsfläche für VW; 2. Industrieflächen für Zulieferbetriebe, A- und teilweise B-Teile ; 3. Gewerbeflächen für Zwischenlager und Vormontage, C- und teilweise B-Teile; 4. Flächen für örtliches Gewerbe; Entfernungsdistanzen zum VW Werk: A-Teile nach dem just-in-time System maximal 10 km; B-Teile nach dem just-in-time und Sequenzsystem maximal 25 km; C-Teile nach dem Sequenzsystem maximal 50 km; Dementsprechend besitzt jede Kategorie von Automobilzulieferern (A, B und C-Teile) unterschiedliche Erforderungsfaktoren: A-Teilehersteller (Modulproduzenten und - lieferanten): - Integrationskompetenz - Logistik - Standort - Technologiekompetenz - Preis B-Teilehersteller (System- und Komponentenproduzenten bzw. -lieferanten): 412 Siehe: Gewerbeflächenbedarf der Stadt Wolfsburg, (Gutachten). Institut für Stadtforschung und Strukturpolitik GmbH. Berlin Dezember 1992. Seite 6. - 142 - - Technologiekompetenz - Logistik - Preis Komponentenproduzenten: - Logistik - Preis C-Teilehersteller (Teileproduzenten bzw. -lieferanten). - Preis413 Man erkennt aus dieser Zuordnung, daß am untersten Ende nur der Preiswettbewerb mit der Konsequenz dominiert, daß diese Produktionsstätten im Inland nicht mehr wettbewerbsfähig sind. Am oberen Ende der Rangskala überwiegt der Technologie- und Logistikwettbewerb als eine Ursache für den stark zunehmenden Konzentrationsprozeß innerhalb der Zulieferindustrie. Zu 1. Erweiterungsfläche für VW Diese unterschiedlichen Bedarfskategorien haben unterschiedliche Standortanforderungen. So kann z. B. eine VW eigene Produktionsausweitung aus produktionstechnischen Gründen nur auf dem vorhandenen Werksgelände oder in direkter Umgebung stattfinden. Die Stadt Wolfsburg hat anhand eines Grundsatzbeschlusses bereits ein Flächennutzungsplanverfahren eingeleitet, daß eine VW Flächenerweiterung in nördlicher Richtung anstrebt. Im internen Willensbildungsprozeß der Ratsfraktionen der Stadt Wolfsburg ist diese nördliche Flächenerweiterung schon deshalb umstritten, weil eine eindeutige Absichtserklärung in schriftlicher Form von der VW AG zu diesem Flächenerweiterungsprojekt nicht vorliegt. Der Landtagskandidat der Grünen, S. Wilhelm, warf der Verwaltung diesbezüglich „vorauseilenden Gehorsam gegenüber dem VW Konzern vor, obwohl dieser gar keine weiteren Flächen erwarte.“414 Tatsache ist, daß diverse Turbulenzen im VW Management eine eindeutige Absichtserklärung bisher vermissen ließen und Flächenerweiterungsabsichten nur über bestimmte Informationskanäle, bzw. informelle Kontakte (VW-Stadt-Arbeitskreis) und Einzelpersonen zustande kamen, die den Verdacht entstehen ließen, daß eine „Unterdrückung von Informationen“ für die meisten Ratsmitglieder besteht. Außerdem ist zu bedenken, daß Ausbaupläne im Wolfsburger VW-Werk angesichts geringer gewordener Verteilungsspielräume, und der Diskussion mit welchen Instrumenten Sozialpläne und Massenentlassungen zu verhindern sind, zwischenzeitlich gegenstandslos geworden sind. Zusammenfassend kann hierzu vermutet werden, daß aufgrund der bereits erwähnten laufenden Rücknahme der Produktionseinheiten die Kapazitätsauslastung weiter reduziert wird und deshalb die VW AG für ihren verbleibenden Kernfertigungsbereich in absehbarer Zeit keine weiteren Flächen in Wolfsburg benötigt. Zwischenzeitlich wurde im Rat der Stadt Wolfsburg über die Änderung des Flächennutzungsplanes im nördlichen Bereich Kästorf-Warmenau zugunsten der VW Erweiterungsfläche mehrheitlich abgestimmt.415 Die Aussprache über diesen Tagesordungspunkt verlief erwartungsgemäß kontrovers: „VW ist an dieser Erweiterung gar nicht mehr interessiert. Sie wird nicht benötigt und ist zu teuer.“416 Durch die einschneidenden Reduzierungen von Arbeitszeit, Beschäftigungsvolumen und Kapazitätsauslastung werden „bestimmte Ausbauplanungen zu den Akten“ gelegt.417 413 Berger R. und Partner, Ebenda. Seite 18. Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 26.10.1993. 415 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 16.12.1993. 416 Ebenda. 417 Siehe: VW-Personalvorstand P. Hartz, In: Autogramm, 02.11.1993, 23. Jahrgang, Seite 1. 414 - 143 - Anhand der sich abzeichnenden Veränderungen in den Produktionsstrukturen könnte diese Vorratsfläche beispielsweise für Modulhersteller aufgrund der direkten räumlichen Anbindung zur Kernfertigung reserviert werden. Zu 2. Industrieflächen für Zulieferbetriebe, A- und teilweise B-Teile Industrieflächen für Modulautomobilzulieferer benötigen eine verkehrsgünstige Lage in kurzer Entfernungsdistanz, auf die sich die Stadt Wolfsburg ebenfalls einzustellen versucht. Folgende Anforderungsmerkmale sind für diese Bedarfskategorie „zwingend“ vorgeschrieben: - Sie müssen im engen Umkreis um das VW Werk angesiedelt sein müssen, um die just- intime Produktion zu gewährleisten, - es muß einen Gleisanschluß zur Lkw-Einfahrt des Volkswagenwerkes liegen müssen und sie sollen siedlungsfern und günstig zu der vorherrschenden Hauptwindrichtung liegen, um mit den auftretenden verkehrs- und produktionsbedingten Emissionen keine Wohngebiete zu beeinträchtigen. Bei der Analyse dieser aufgestellten Kriterien wird bereits ersichtlich, daß in Bezug auf die räumliche Entfernung und die Straßenverkehrsanbindung der Landkreis Helmstedt gegenüber der Stadt Wolfsburg und dem Landkreis Gifhorn insgesamt nicht die optimalen Voraussetzungen hat, diese Bedingungen zu erfüllen. Eine gezielte Ansiedlung von großvolumigen Zulieferbetrieben auf nördlichem und nord-östlichem Landkreisgebiet würde zu einer extremen Zunahme der Straßenverkehrsbelastungen führen, welche in ihren Folgewirkungen nicht nur die VW-Logistik beeinträchtigen, sondern einen gänzlichen Verkehrszusammenbruch bewirken könnten. Lediglich der Landkreis Gifhorn kann aufgrund seiner günstigen Anbindung, hauptsächlich durch die „Nordtangente“ K144, die Bedarfskategorie für Industrieflächen an Zulieferbetriebe überwiegend erfüllen. Die für die Automobilproduktion relevanten Zulieferer werden sich im verstärktem Maße in unmittelbarer Nähe des VW-Werkes Wolfsburg ansiedeln, wodurch eine deutliche Zunahme regionaler Verflechtungen zu erwarten ist. Einzelne Kommunen (speziell im standort-günstigeren Landkreis Gifhorn) haben frühzeitig verstärkt Gewerbegebietsstandorte für Automobilzulieferer akquiriert. Zu 3. Gewerbeflächen für Zwischenlager und Vormontage C und teilweise B-Teile Aufgrund der reihenfolgengerechten Zulieferung von A- und teilweise B-Systemteilen ist die räumliche Nähe des Zulieferers erforderlich. Dies gilt nicht für geringerwertige C-Teile. Sie werden bedarfsgerecht über ein Materialversorgungszentrum angeliefert. Die unmittelbare Nähe des Absatzmarktes ist demzufolge aus logistischen Gründen nicht notwendig, so daß keine wesentliche Veränderung des bisherigen traditionellen Standortmuster zu erwarten ist. Aufgrund der Gewerbeflächenengpässe in Wolfsburg ist daher mit einer unmittelbaren Ansiedlung von nicht in zeitkritische just-in-time Intervallen eingebundenen Zulieferbetrieben außerhalb Wolfsburgs z.B. in der Entfernungdistanz des Landkreises Helmstedt zu rechnen. Die Gewerbeflächenvergabe für diese Zwischenlagerungshaltung und ggf. Vormontage kann arbeitsmarktpolitisch nur als quantitatives Beschäftigungsvolumen im geringen Umfang eingeordnet werden. Die Zulieferindustrie wird eine größere Anzahl Zwischenlagerhallen auf Gewerbeflächen erstellen, um den logistischen Auflagen zu entsprechen. Deren Funktion wird hauptsächlich sein, quasi als Zwischenlager, vormontierte Zulieferteile für die Endliefer-segmente, speziell in den Bereichen Kfz-, Elektrik und Kunststoffteilefertigung, als Bindeglied zur pünktlichen just-in-time Anlieferung direkt zu den Fertigmontagebändern bei VW oder als Komponentenzulieferant für die System- und Modulautomobilzulieferer bereit zu halten. Entsprechend gering wird die Anzahl der in diesen Montagewerken Beschäftigten sowie deren Qualifizierungsgrad sein. Lediglich die arbeitsmarktpolitische Verlagerung eines äußerst geringen - 144 - Teils der vom zukünftigen Personalabbau betroffenen in die neuen Zwischenlager kann als geringfügiger Beschäftigungsbeitrag gewertet werden, der in keinem realistischen Verhältnis zum überproportionalen Flächenverbrauch steht. Der gegenüber dem Landkreis Gifhorn in Bezug auf Industrie- und Gewerbeflächenplanungen ins planerische Defizit geratene Landkreis Helmstedt, wird durch seine räumlich nicht so optimale Entfernung zum VW Zweigwerk Wolfsburg wohl als potentieller Gewerbeflächenlieferant für CTeile seinen „regionalpolitischen Beitrag“ leisten. Durch die beschriebene Zwischenlagerungshaltung bis zur abrufbereiten Endmontageproduktion werden die wirtschaftlichen Probleme in der Region Südostniedersachsens und im Landkreis Helmstedt durch die Automobilzulieferindustrie weiter verfestigt. Trotzdem (oder gerade deshalb) ist zu vermuten, daß sich die Ansiedlungskonkurrenz zwischen den Kommunen innerhalb dieser Region Südostniedersachsen (auch zwischen den Landkreisen Gifhorn und Helmstedt und zwischen den Gemeinden eines Landkreises), auch um die gewerbeflächenintensiven „Zwischenlager“, drastisch verschärfen könnte. Bei der Beurteilung von auszulagernden Produktionseinheiten bei VW ist es äußerst wichtig, die dabei entstehenden arbeitsmarkt- und strukturpolitischen Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Die Gefahr einer sozialen Schieflage durch die verbleibenden „Stammarbeitsplätze“ innerhalb der stark heruntergefahrenen Kernfertigung bei VW in Wolfsburg und die Randarbeitsplatzkonzentration in der Zulieferindustrie um das VW-Werk herum, verkörpert ebenfalls eine neue industrielle Arbeitsteilung, in der die regionale Chancenungleichheit weiter verfestigt wird. Die Annahme, daß die quantitative und flächenverzehrende Lagerhaltungsvormontage mit geringfügigen Arbeitskräftevolumen und repetitiven Arbeitstätigkeiten möglicherweise der erste Baustein einer anschließenden qualitativen Nutzungsveränderung sein könnte, läuft Gefahr, die in der Region Beschäftigten und Lebenden einer möglichst günstigeren Wirtschaftsentwicklung langfristig zu entziehen. Ein anderer Aspekt ist die wesentlich geringere tarifvertragliche Eingruppierung in der Zulieferindustrie gegenüber dem VW Haustarifvertrag. Kaufkrafteinbußen und Ängste der Betroffenen, die um ihren „sozialen Status“ fürchten, Verunsicherungen durch den Verlust der „sozialen Mitte“, Abwanderungs-absichten und Infrastruktureinbrüche wären außerdem Hemmnisse für ein günstiges Investitionsklima potentieller Investoren im Landkreis Helmstedt. Zu 4. Flächen für örtliches Gewerbe Flächenbereitstellung für örtliches regionales und überregionales Gewerbe schließt in der Überlegung bewußt ein, geeignete Gewerbegebiete auch für nicht VW abhängige Gewerbeunternehmen vornehmlich bereitzustellen. Hierbei hat anscheinend die Stadt Wolfsburg ihre Probleme: Sie verfügt derzeit über insgesamt 908 Hektar Industrie- und Gewerbeflächen. 175 weitere Hektar sind rechtskräftig beschlossen, aber nicht erschlossen und sofort verfügbar. 418 Die Wolfsburger Mittelstandsvereinigung (MIT) benötigt für Erweiterungsvorhaben innerhalb der Stadtgrenze dringend Gewerbeflächen, die im erforderlichen Ausmaß nicht zur Verfügung stehen, weil die Stadt Wolfsburg diverse Gewerbeflächen für VW Zulieferer freihält. Vier betroffene Unternehmen, deren Gewerbeflächen gekündigt wurden, beabsichtigen ins Umland (Landkreis Gifhorn und Oebisfelde) abzuwandern.419 3.2.11.1 Beurteilung und Konsequenzen Kommunalpolitiker sollten in ihrem Abwägungsprozeß berücksichtigen, daß das Fertigungskonzept „lean production“ äußerst Flächenintensiv ist. Der allgemeine Trend in Richtung des vermehrten Flächenbedarfs pro Beschäftigten gilt insbesondere in der Automobilindustrie. Gründe 418 419 Siehe: Wolfsburger Nachrichten, 27.01.1994. Siehe: Wolfsburger Kurier, 24.10.1993. - 145 - dafür sind insbesondere die veränderte Arbeitsorganisation, die Produktions-technologien und die Logistikkonzeption. Dies führt zu einem größeren Bedarf an Lager-flächen. - Das VW-Stammwerk in Wolfsburg reduziert sich in der Tendenz allmählich auf die Endmontage anzuliefernder Teile (Kernfertigung), die aus Zwischenlagern mit vormontierten Fertigteilen als Bindeglied zur Reduzierung der Fertigungstiefe in punktgenauer just-in-time Anlieferung direkt zu den Fertigmontagebändern bei VW angeliefert werden. - Die beschäftigungspolitische Brisanz dieser Umstrukturierung bei VW wird sich nochmals verschärfen, wenn die konjunkturelle Entwicklung weiter an Dynamik verliert. Deshalb sollte unbedingt eine Wirtschaftsförderungstrategie angestrebt werden, die wenigstens konjunkturelle Kompensationsmöglichkeiten- zur Durchsetzung einer Diversifikationsstrategie auf Landkreisebene beinhalten. Die in dieser Strategie verfestigte funktionale Arbeitsteilung eines größtenteils nur noch produzierenden Montagestandortes, beinhaltet eine Abkopplung fast aller innovativer Funktionsbereiche, die (sofern sie anfallen) fremdvergeben werden. Die „Logistik-Partner“ der VW AG oder auch Modulzulieferer werden sich größtenteils als Zuliefererwerke etablieren. Vormontierte Teile werden für die Endmontage bei VW komplettiert. Der extreme Gewerbeflächenverbrauch von Automobilzulieferern mit geringer Beschäftigungsquote und durchschnittlich niedrigen Anforderungsprofilen werden das seit Jahren in der gesamten Region rückläufige industrielle Ansiedlungs- und Umverteilungspotential verfestigen. Die „einseitige Vergabe an flächenintensive Lager- und Speditionsbetriebe ohne Beachtung geringer Arbeitsmarkteffekte und der enorm steigenden Verkehrsbelastungen“420 zeigt in ihrer Gesamtheit auf, daß die räumliche Größenordnung von Lagerhallen zu ihrer minimalen Beschäftigungsanzahl unverhältnismäßig ist. Es ist festzuhalten, daß eine Flächennutzung für die Automobilzulieferindustrie im Landkreis Helmstedt insgesamt weniger erstrebenswert erscheint. Die Stadt Wolfsburg wird ihre Erweiterungs- und Vorratshaltungspolitik von Industrie- und Gewerbeflächen prinzipiell und bedingungslos an VW orientieren. Durch die historische Entwicklung von Werk und Stadt, faktischer Bedingungen und sozialökonomischer Abhängigkeit ist diese Kommunalpolitik letztendlich ein Resultat pragmatischer Sachzwänge, zu der es aus Wolfsburger Eingebundenheit heraus kaum Alternativen gibt. Durch die begrenzte Anzahl von Nutzungsflächen im Wolfsburger Stadtraum kann nur eine begrenzte Gesamtfläche für die VW Auslagerungsstrategien bereitgestellt werden. Das hat zur Folge, daß die Wolfsburger Wirtschaftsförderungsmaßnahmen gezwungenermaßen auf jegliche Wirtschaftsdiversifikation verzichten muß und sich damit mittel- und langfristig der Chance entzieht, eine notwendige Flächenbereitstellung für Wachstumsbranchen parallel zur monostrukturierten Automobilbranche zu plazieren. Durch die indirekten Vorgaben des VW Managements zumeist über Einzelpersonen an die Kommunen zwecks Gewerbe- und Industrieflächenbedarfes kann vermutet werden, daß die Gemeinden bis an die Grenze ihrer finanziellen und organisatorischen Möglichkeiten gehen, mitunter bis zur Restausschöpfung vorhandener und noch dafür zu erschließender Flächen, um diesbezüglichen Voraussetzungen zu schaffen. Hier kann vermutet werden, daß die umliegenden Landkreise durch ihre räumliche Plazierung im Logistikkonzept der just-in-time Strategie indirekt dazu beitragen, den Standort Wolfsburg auf Kosten der eigenen Landkreisentwicklung zu stabilisieren. Die Automobilzulieferindustrie schafft weder neue Arbeitsplätze im erforderlichen Ausmaß, noch bietet sie ausreichende Ersatzarbeitsplätze für den Arbeitsplatzabbau bei VW und erzeugt aufgrund 420 Lompe, K. u.a. , Ebenda, Seite 390. - 146 - einer hauchdünnen Kostenkalkulation aufgrund des „Preisdiktates“ Arbeitsplatzsicherheit der im Zuliefersegmet beschäftigten Mitarbeiter/innen. keine relative Ungeachtet dieser Argumente wird sich bei konsequenter Umsetzung des just-in-time Fertigungskonzeptes im Raum Wolfsburg eine veränderte räumliche Produktionsordung einstellen, diese führt zur Herausbildung „regelrechter Produktionscluster. ... Östlich von Hannover hat sich ein solches Produktionscluster bereits in Ansätzen entwickelt: im Kern steht der Produktionsverbund der VW Werke Wolfsburg, Braunschweig, Salzgitter und Kassel, um den sich Zulieferbetriebe wie Bosch in Salzgitter und Hildesheim ansiedeln.“421 Die großvolumigen Produktionskapazitäten im VW-Werk Wolfsburg werden sicherlich identische Logistikkonzepte in unmittelbarer Umgebung des Werksgeländes benötigen. Durch die anstehende einschneidende Veränderung, die sich aus der reduzierten Fertigungstiefe bei VW und die tendenzielle Fremdvergabe von Fertigungsprozessen an Zulieferer ergibt, werden die umliegenden Kommunen eingestimmt, die flächenintensive Ausweisung von Industrie- und Gewerbeflächen für eine Flächenvorratspolitik zu investieren, die dem logistischen Umsetzungsspielraum des strukturellen Wandels in der Automobilbranche in dieser Region Rechnung trägt. Es ist anzunehmen, daß die um Wolfsburg neu anzusiedelnden Modulzulieferer einen hohen Fertigungsanteil auf Sublieferanten übertragen werden. Durch größere Gütermengen und kürzere Lieferabstände wird das Verkehrsaufkommen im Raum Wolfsburg nochmals ansteigen, was die Lebensqualität der unmittelbar und mittelbar betroffenen Bevölkerung durch die extrem steigenden Anforderungen an die Verkehrsanbindung spürbar einschränken wird. Standortkonkurrenz innerhalb der VW AG (z.B. die aufgezeigte Golf-Parallelproduktion in Mosel) verdeutlichen exemplarisch, daß der Entscheidungsspielraum von Kommunen, sich dieser Entwicklung zu widersetzen, in der Praxis kaum gegeben ist. Die den Kommunen letztendlich aufgezwungene Funktion eines praktischen „Erfüllungsgehilfen“ für die Renditesteigerung der VW AG, bei Gegenleistung der Erhaltung von Restarbeitsplätzen in den Kernfertigungsbereichen bei VW, verdeutlichen die einseitigen Macht- und Entscheidungsstrukturen. Die allgemeine und grundsätzliche Notwendigkeit zur Standortsicherung der VW AG als „ökonomisches Rückgrat“ des in der Tendenz sich abzeichnenden Restbestandes soll hiermit nicht in Frage gestellt werden. Parallel erscheint es aber ebenso notwendig, ein strukturpolitisch wirkungsvolles Konzept für Südostniedersachsen zu erarbeiten, daß nicht nur und ausschließlich die Interessensphäre der VW AG berücksichtigt.422 Die Zielvorstellung, einen möglichst großen Teil der bei VW durch personelle Ausdünung und Auslagerung von Betriebsteilen wegfallenden Arbeitsplätze in der Region Südostniedersachsen zu halten, gelingt nur, wenn gleichzeitig automobilunabhängige Branchen erfolgreich angesiedelt werden können. Neben einer notwendigen Unterstützung des Automobilstrukturwandels sollten innovationsorientierte Konzepte anvisiert werden, die auf den technologischen Wandel humankapital-intensiver Güter- und Dienstleistungen abzielen und eine Langzeitperspektive beinhalten. Regionalpolitisch wird sich die Stadt Wolfsburg der Standortpolitik einer ausschließlichen Bestandssicherung wohl am wenigsten entziehen können und auch nicht wollen. Die traditionell historische Verknüpfung zwischen „Werk und Stadt“ lassen anscheinend auch keine anderen Alternativen zu. 421 Siehe: Gewerbeflächenbedarf der Stadt Wolfsburg, (Gutachten). Ebenda, Seite 10. Anmerkung: Beispielsweise beabsichtigt die niedersächsische Landesregierung nach Angaben eines Sprechers des Wirtschaftsministerium 10 Millionen DM bereitzustellen, um in Emden die PKWStellflächen für die VW AG großzügig zu erweitern. Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 26.08.1993. 422 - 147 - Unter Berücksichtigung der räumlichen Entfernungsdistanz sollte jedoch der Landkreis Helmstedt partei- und interessenübergreifend versuchen, weitgehend von VW unabhängige Betriebe (außer für den Bürobedarf) anzusiedeln, die in Folge dessen möglichst nicht der Automobibranche zuzuordnen sind. Daß der Landkreis Helmstedt aufgrund räumlicher und infrastruktureller Bedingungen nicht primär zur Standortsicherung des VW Zweigwerkes in Wolfsburg beitragen kann, ist unter Abwägung analysierter Faktoren langfristig sicherlich nicht als Nachteil anzusehen. Aus diesem Grund ergibt sich aus der ungünstigeren räumlichen Entfernungsdistanz des Landkreises zu VW in Wolfsburg eine Chance, sich aus der „Umklammerung“ einer „Eingebundenheit“ zu lösen, welche letztlich darauf abzielt, daß sich die VW AG primär auf Kosten des Einkaufes saniert und die Kommunen als „Erfüllungsgehilfen“ die dafür notwendige Flächenvorratspolitik betreiben zu lassen. Durch das bisherige Fehlen eines Flächennutzungskonzeptes im Landkreis Gifhorn kann desweiteren vermutet werden, daß der Entwicklungsvorsprung in der gezielten Flächenausweisung gegenüber dem Landkreis Helmstedt mittelfristig kaum erfolgversprechend umgesetzt werden kann, weil die prinzipielle Ausrichtung auf die Automobilzulieferindustrie aufgrund der damit verbundenen negativ aufgezeigten Entwicklungstendenzen sich nicht an den Erfordernissen einer vorausschauenden Wirtschaftsförderung orientiert. 3.2.11.2 Alternativlösungsansatz Der Preis ausschließlicher Gewerbe- und Industrieflächenbereitstellung für die Interessensphäre der VW AG erscheint mangels vorhandener Flächenreserven als sehr hoch. Spätere Optionen auf existentiell notwendige Flächenvorratshaltungen für dringend benötigte (innovative) Branchenansiedlungen werden mangels eingeschränkter Flächen in einem ausreichenden Umfang speziell für Wolfsburg, aber auch für die umliegenden Landkreise Helmstedt und Gifhorn, im erforderlichen Umfang vermutlich nur eingeschränkt möglich sein. Der Gefahr konkurrierender Nutzungsinteressen mangels geeigneter Industrieflächen für die Automobilzulieferindustrie könnte deutlich entschärft werden, wenn einerseits die noch 30 Hektar Fläche auf dem Werksgelände der VW AG in Wolfsburg 423 sowie die erwähnte VW Erweiterungsfläche Nord von ca. 50 Hektar für Zulieferer zur Verfügung stehen würde und andererseits nutzungsintensive Gestaltungsmöglichkeiten auf den groß dimensionierten VW Parkplätzen um das Werksgelände in Wolfsburg konzipiert würden. Die im Eigentum der VW AG befindlichen Parkplätze wären aufgrund ihrer hervorragenden Anbindung ans Werk geeignete Industrieflächen für Modulhersteller. Die im Rahmen der „Expo 2000“ in die interne Diskussion eingebrachte Magnetschwebebahn könnte als Zubringer von der in die Randbereiche des Großraumes Wolfsburg ausgegliederten Parkplätze direkt ins Werksgelände fungieren. Außerdem wird durch die kontinuierliche Ausgliederung von weiteren Produktionseinheiten aus dem Wolfsburger VW-Werk die Kapazitätsauslastung tendenziell zurückgehen, so daß freiwerdende Flächen in den Werkshallen im größeren Umfang für Automobilzulieferer zur Verfügung stehen. Schon deshalb erscheint die Einbindung und Integration von Modulkomponentenherstellern in die Fahrzeugentwicklung und - fertigung erstrebenswert. Mit dieser Integrationsdichte ist der Produktionsablauf weniger komplex, fehlerfreier, kostengünstiger und verschafft der VW AG sowie den Modulkomponentenherstellern elementare Standortvorteile, die sich insbesondere für Wolfsburg positiv auswirken könnten. 423 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 26.10.1993. - 148 - Die hierbei benachteiligte soziale Interessengruppe ist vermutlich der VW Betriebsrat und die Gewerkschaft IG-Metall: Das Dilemma von unterschiedlichen Tarif- und Manteltarifverträgen auf engsten Raum beinhaltet sozialen Konflikt- und Sprengstoff, welcher die betriebliche- und gewerkschaftliche Interessenvertretung (unabhängig ob kooperativ oder konfliktorisch) in eine extreme Randlage katapultieren könnte. Mit diesem Maßnahmeziel einer Integrationsdichte von Kern- und Randfertigungsarbeitsplätzen ins Wolfsburger VW Zweigwerk werden aber andererseits für die Stadt Wolfsburg und deren Stadtumfeld entwicklungsnotwendige Flächenkapazitäten weitgehend freigehalten, die zur Ansiedlung von arbeitsplatzintensiven Wachstumsbranchen unumgänglich erscheinen. Weil sich zukünftige Standortsicherungsmaßnahmen des industriellen Restbestandes der Automobilindustrie mit dem Maßnahmeziel einer vorausschauenden Gewerbe- bzw. Industrieflächenplanung anhand aufgezeigter Faktoren weitgehend überschneiden, ist unter Abwägung dieser Zielkonflikte im Rahmen dieses Untersuchungsabschnittes ein Lösungsmodell zu favorisieren, das auf Integrationsdichte abzielt. „Der bessere Weg sei es, die Zuliefer näher an die VW Werke heranzurücken, ja in die Produktion zu integrieren.“424 Es ist damit zu rechnen, daß sich bereits mittelfristig Modulzulieferfirmen auf dem Werksgelände ansiedeln, um die räumliche Nähe aus den erwähnten Gründen rationell zu nutzen. 3.2.11.3 Prioritätensetzung an die kommunale Gewerbeflächenplanung Die zunehmende Fremdbestimmung der Gemeindeebenen durch dominierende Wirtschaftsinteressen führte dazu, daß immer mehr Gemeinden und Landkreise in die gleichen räumlichen Wirtschaftsverflechtungen eingebunden wurden. Aufgrund dieser aufgezeigten Sachlage erscheint es erstrebenswert, wenn beispielsweise der Wirtschaftsausschuß des Landkreises Strategien der Innenentwicklung bestehender und zukünftiger Gewerbe- und Industrieflächen konzipiert. Es geht inhaltlich um einen qualitativen und quantitativen Vergleich verschiedener Nutzungskonzepte, in der Überlegungen für die in der Planung befindlichen Gewerbeflächen des Landkreises Helmstedt erstellt werden. Neue Gewerbeflächenkonzeptideen in der Landkreisentwicklungsplanung schließen in der notwendigen Konsequenz auch ein abgestimmtes Planungsvorgehen für die zukünftige Entwicklung ein. Selbstverständlich wird die Ausweisung von gewerblichen Bauflächen und deren Erschließung weiterhin im alleinigen Verantwortungsbereich der Landkreisgemeinden und - städte liegen. Die letztendliche Entscheidung, an welcher Stelle in Gemeinde- und Stadtgebiet zu welchem Zeitpunkt bauleitplanerischen Voraussetzungen für die Ansiedlung von welchen Betrieben geschaffen werden, treffen die Gemeinden und Städte im Rahmen ihrer Planungshoheit nach wie vor selbständig. Trotzdem erscheint darüber hinaus eine abgestimmte Vorgehensweise für die zukünftige Landkreisentwicklung nicht zuletzt aufgrund herausgestellter Flächennutzungskonflikte als äußerst wichtig und sinnvoll. Durch die dynamische Landkreisentwicklung der nächsten Jahre wird der Druck auf das im Landkreisgebiet zur Verfügung stehende Flächenpotential zunehmen. Da in der Regel unterschiedliche Nutzungsinteressen denselben Standort beanspruchen, treten immer häufiger 424 Tacke, A. Staatssektretär im niedersächsischen Wirtschaftsministerium. In. Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 04.12.1993. - 149 - Nutzungskonflikte auf. Welche Nutzung sich letztendlich durchsetzt, ist auch eine politische Entscheidung, die vorausschauend entschieden werden sollte. Um diese Entscheidungsfindung vorzubereiten, könnten beispielsweise Fachpläne für einzelne flächenbeanspruchende Branchen erstellt werden, die in ihrer Gesamtheit die unterschiedlichen Nutzungskonzepte für das begrenzte Flächenpotential verdeutlichen. Die einzelnen Fachpläne könnten in ein räumlich-funktionales Entwicklungskonzept integriert werden. Die Ressortpläne würden dann nicht mehr isoliert betrachtet, sondern unter Abwägung der verschiedenen Nutzungsansprüche zusammengefügt. Das Landkreisentwick-lungskonzept erscheint als vorbereitendes Instrument für die Fortschreibung des Flächen-nutzungsplanes notwendig. Es könnte auf den Zeitraum der nächsten 10 Jahre ausgerichtet sein. Anhand skizzierter Problemstellungen und Hintergrundinformationen ist es absehbar, daß durch die Gewerbeflächenreservierungen für Automobilzulieferer für den Landkreis Helmstedt keine zusätzlichen Wachstumsimpulse entstehen. Deshalb könnten angesichts des proportional ansteigenden Gewerbeflächenbedarfes im Interesse einer langfristig stabilen Wirtschaftsstruktur (im Rahmen der Wirtschaftsförderung) in Koordination mit den betroffenen Gemeinden zwecks anzusiedelnder Unternehmen Vergabekriterien für Nutzungskonzepte vereinbart werden. Damit können die zur Verfügung stehenden Flächenressourcen optimaler ausgenutzt und zukünftig ein konsequentes Flächenrecycling und Flächenmanagement, sowie eine Verkürzung von Genehmigungs-verfahren einvernehmlich angestrebt werden. Strukturkonzept zur Gewerbeflächenentwicklung: Zielvorstellung Umsetzungsschritte Grundkonsens Welche Auflagen sind mit der Bereitstellung von Gewerbeflächen zu verbinden sind und wie kann die Einhaltung solcher Auflagen verbindlich gesichert werden? herstellen Verwaltungsabläufe transparenter gestalten, unter Einbeziehung programmatischer, strategischer und politischer Planungen (verwaltungsintern) Wie können die Ziele kommunaler Wirtschaftsförderung mit anderen planerischen Zielsetzungen (Verkehrsanbindung, Wohnungsbau, Verkürzung der Planungsverfahren) in einem kontinuierlichen Verwaltungsarbeitskreis interdisziplinär vorbereitet werden? Als Alternativstrategien könnten folgende Förderungskriterien diskutiert werden: Anstatt lagerungs- und flächenintensive Zulieferbetriebe sollten für die im Rahmen der Wirtschaftsförderung zu entwerfende Nutzungskonzepte für Gewerbeflächen an Produktionsbetriebe der Hochtechnologie, Forschungs- und Entwicklungsbetriebe oder Wissenschafts- und Forschungseinrichtungen anvisiert werden. Hiermit kann eine stärkere differenzierte Belegungspolitik und eine Abstimmung von Gewerbebetrieben nach Kriterien der Gleichartigkeit und der gegenseitigen Ergänzung besser aufeinander abgestimmt werden. Die Bereitstellung von Gewerbeflächen sollte ausschließlich durch eine gezielte Flächenbelegungspolitik erfolgen. Infolgedessen können die gegenwärtigen Probleme der Wirtschaftsstruktur auch als Chance für einen planerischen Neuanfang genutzt werden! - 150 - Es ist davon auszugehen, daß z.B. die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien auch für Landkreise, die in strukturschwachen peripheren Regionen liegen, zukünftig Chancen beinhalten. Obige Zielvorstellungen und Umsetzungsschritte sind förderlich, um den Ausbau der informationsorientierten und auf Technologietransfer ausgelegten zukünftigen Infrastruktur voranzutreiben und damit lagebedingte Nachteile durch rechtzeitigen Anschluß an die Wirtschaftszentren auszugleichen. Parallel als „Stützungsfunktion“ könnten außerdem der spätere Büroflächenbedarf (für die aus dem innerbetrieblichen Bereich bei VW ausgegliederten Dienstleistungsbereiche) strategisch anvisiert werden. Bei einer erfolgreichen Sanierung von VW ist trotz der momentanen Stagnationsphase mit einem Anstieg von Planungsbüros, z.B. für Logistiktätigkeiten, zu rechnen. Wirtschaftsförderungsmaßnahmen des Landkreises sollten diesbezüglich sich auf den beschäftigungspolitisch qualitativen Teil der aus der reduzierten Dienstleistungstiefe heraus resultierenden Tätigkeitsbereiche konzentrieren, die nicht an Enfernungsdistanzen und Produktionszeitvorgaben gebunden sind. Innovative Ingenieurbüros oder Forschungsinstitute sind eigenständige Lieferanten, die mit ihrem Potential mitunter eine marktführende Stellung einnehmen, die weit über den engen Bereich der Automobilproduktion hinausgehen. Höherwertige Dienstleister, z. B. in den Bereichen von Forschungs-, Entwicklungs- und Planungsaufträgen. sind Träger einer Produktdiversifikation auf innovativer Ebene. Diese Unternehmen tragen desweiteren zu einer höherwertigen überregionalen Dienstleistungs- und Produktionsverflechtung aktiv bei. Eine Sekundärstrategie könnte, in indirekter Anlehnung an die Automobilbranche, im gewerblichen Bereich die Ansiedlung der Produktion von Mikroelektronik, Meß- und Regeltechnik, Druckluftund Hydraulikkomponenten oder die Produktionssparte elektrotechnischer und elektronischer Bereiche darstellen, die auch innerhalb der Zulieferindustrie eigenständig Orientierungen aufweisen und zu einer Ausweitung der überregionalen Produktionsverflechtungen beitragen. Zum Umstrukturierungsprozeß der von der VW AG betroffenen Bereiche gehören auch unternehmensbezogene Dienstleistungen, die in der Vergangenheit eine positive Entwicklung vollzogen. Dazu zählen neben Rechts-, Steuer- und Wirtschaftsberatung vor allem Dienstleistungen im Bereich technischer Beratung, Planung und Entwicklung. Ein weiteres Argument für den Dienstleistungsbereich ist der relativ geringe Flächenbedarf: Während im Bürobereich von einem Flächenbedarf je Arbeitsplatz von 35 qm Bruttogeschoßfläche auszugehen ist, liegt der Bedarf etwa in den Bereichen Fertigung und vor allem Lagerhaltung um ein Vielfaches höher. Ein praktisches Beispiel ist die hundertprozentige VW Tochtergesellschaft „VW Gedas“ (Gesellschaft für technische Datenverarbeitungssysteme mbH), mit Firmensitz in Berlin. Bedingt durch die beschriebene reduzierte Dienstleistungstiefe entstand eine expandierende Gesellschaft, deren strategische Ausrichtung auf eine führende Marktposition bei hochwertigen, innovativen Aufgabenstellungen im Umfeld der technisch-wissenschaftlichen und technisch-administrativen Informationsverarbeitung abzielt. Mit Errichtung eines diesbezüglichen Softwareproduktionszentrums konnte das dynamische Unternehmen bereits 38 Prozent des Umsatzes durch Aufträge von Unternehmen erwirtschaften, die nicht zur VW AG gehören.425 Trotz der damit auch weiterhin verbundenen hohen Abhängigkeit zur Automobilbranche bliebe der Anschluß an die technologische Weiterentwicklung erhalten und die Möglichkeit, qualifizierte Arbeitsmarktgruppen im Landkreis zu halten und gegebenenfalls sogar auszubauen, könnte eventuell steigen Die Softwareentwicklung ist besonders in der hiesigen Region zukunftsorientiert, weil sämtliche VW Zulieferer und deren Subunternehmen in absehbarer Zukunft auf den Datenfluß über ein elektronisches Kommunikationssystem angewiesen sind. 425 Siehe: Wolfsburger Kurier, 09.08.1992. - 151 - Aus der reduzierten Dienstleistungstiefe heraus (die nicht an produkionstechnische Zeitvorgaben gebunden ist) ergeben sich auch für den Landkreis Helmstedt Möglichkeiten zur beschäftigungsintensiven Ergänzung. Im Trend bilden sich dabei dauerhafte Arbeitsteilungen zwischen Herstellern und eigenständigen Ingenieurbüros heraus, in der Tendenz Großraum-büros. Damit wird der Koordinationsaufwand zwischen Auftraggeber und -nehmer exter-nalisiert . Für die Gesamtbewertung kommt hinzu, daß diese leistungsfähigen und flexiblen Unternehmen flächeneinsparend sind und die Rückverlagerung ausgelagerter Kapazitäten ermöglichen. Neuansiedlungen sollten das innovative Potential anvisieren, das den technologischen und gesellschaftlichen Bedarf an Sicherung und den Ausbau von sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen und deren angemessenen Qualifizierungsstrukturen erfüllt. Im Gegensatz zu Managementmethoden läßt das öffentliche Dienstrecht markwirtschaftliche Unternehmensführungsmodelle nicht zu. Trotzdem ist die kommunale Wirtschaftsförderung in der Lage, sich Prinzipien der Unternehmensführung bei der Umsetzung genannter Alternativstrategien anzuzeigen und persönliches Engagement bis zum „operativen Ergebnis“ umzusetzen. Für die Wirtschaftsförderung ist im Hinblick auf den europäischen Binnenmarkt ab 1993 vieles vom strukturbedingten Wettbewerb vor Ort abhängig. Die Übertragung vieler Entscheidungen auf die europäische Ebene darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß wichtige Detailentscheidungen weiterhin auf regionaler Ebene getroffen werden. Daher sollten Kommunalpolitiker und Verwaltung aus Sichtweise der besonderen Interessenlage des Landkreises Helmstedt bei der vorausschauenden Gewerbe- und Industrieflächenplanung weitgehend unabhängig von Automobilzulieferbetrieben planen und alternativ auf Produkti-onsdiversifikation setzen, indem man sich auf zukunktsorientierte, arbeitsplatzintensive und wettbewerbsfähige Branchen orientiert. Ein Landkreis, der in seiner bisherigen Wirtschaftsentwicklung weitgehend als „Konjunkturpuffer“ und „verlängerte Werkbank“ ökonomisch funktionierte (siehe auch Kapital 3.1.10), sollte die Gelegenheit eines notwendigen Umstrukturierungsprozesses auch sinnvoll nutzen, um diesbezügliche Initiativen vorausschauend einzuleiten. 3.2.11.4 Überregionale Handlungsempfehlungen Die niedersächsische Landesregierung wird im Hinblick auf die Erhaltung von (Rest-) Arbeitsplätzen des niedersächsischen Monopolunternehmens offensichtlich von nachvoll-ziehbaren Sachzwängen geleitet. Hierbei wäre eine Doppelstrategie angemessen, die einerseits für den notwendigen Strukturwandel in der Automobilindustrie unter Einbeziehung betroffener Arbeitnehmervertretungen, dem Management aus Teileherstellerfirmen und der VW AG, möglichst arbeitplatzintensive Perspektiven anhand von modellartigen innovativen Bereichen kooperativ entwickelt und zum anderen zukunftsorientierte Projekte in neuen Wachstumsbranchen außerhalb der Automobilbranche eine ihrer Bedeutung angemessene Berücksichtigung finden läßt . Anmerkungen zum ersten Teil der Doppelstrategie: Im Hinblick auf den zukünftigen Gestaltungsablauf erscheint es unabdingbar, daß die Automobilzulieferindustrie für die zu treffenden einschneidenden Entscheidungen auch die innere Freiheit besitzt und nicht - wie bisher - weitgehend vor vollendete Tatsachen gestellt wird. Dies beinhaltet finanzielle Unterstützungsmaßnahmen seitens der Landesregierung für die Teilehersteller um ihnen Fusionen und Kooperationen zu System- und Komponenten-herstellern zu ermöglichen, mit der Gegenleistung der Zulieferfirmen, entsprechende Arbeitsplatzerhaltungsgarantien in ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereichen zu geben. Dieses Maßnahmebündel erscheint aber nur ökonomisch relevant und erfolgversprechend, wenn die VW AG ihrerseits eine Abnahme- und Preisgarantie für einen angemessenen Zeitrahmen verbindlich gewährleistet. - 152 - Anmerkung zum zweiten Teil der Doppelstrategie: Die Begründung für die notwendige Aufmerksamkeit und Konzentration auf alternative Wachstumsbranchen ergibt sich bereits aus der Tatsache, daß obige Maßnahmen in ihrer Wirksamkeit begrenzt und zeitlich befristet erscheinen, weil diese Investitionen aufgrund des sich reduzierenden Bedeutungsumfanges der Automobilindustrie in Deutschland und Westeu-ropa zunehmend an Effektivität verlieren. Hohe Förderraten fließen in eine stagnierende Branche, deren Rationalisierungen bis auf die jeweiligen Kernfertigungsbereiche und mittelfristige Verlagerungen von Produktionsstätten in Richtung osteuropäischer und südostasiatischer Wachstumsmärkte hier zukünftig zu ungünstigen Entwicklungstendenzen führen werden. 3.2.11.5 Arbeitsplatzbeschaffung durch ein Projekt „Industriepark“? Im folgenden soll der Vorschlag untersucht werden, einen gemeinsamen „Industriepark“ (Stadt und Landkreisübergreifend) zwischen Calberlah, Sülfeld und dem zur Gemeinde Lehre gehörende Essenrode außerhalb der Landkreisgrenze Helmstedts zu konzipieren. 3.2.11.5.1 Positive Betrachtung - Probleme zu bündeln und kreisübergreifend zu lösen, ist durchaus positiv. - Dieses Gemeinschaftsprojekt kann sicherlich wirkungsvoll mit dazu beitragen, Standortkonkurrenzverhalten zwischen den Kommunen abzubauen und hat den Vorzug, daß es ansiedlungswilligen Betrieben erschwert wird, kommunale Gebietskörperschaften bezüglich von Konditionen gegeneinander auszuspielen. - Die infrastrukturelle Anbindung des beabsichtigten „Industrieparks“ ist hervorragend. - Diese äußerst günstige Ausgangslage würde anstehende Gemeinschaftskosten zur Realisierung dieses Projektes grundsätzlich rechtfertigen. - Da es existentiell notwendig ist, den Automobilproduktionsstandort Wolfsburg langfristig konkurrenzfähig zu halten, sollte im Hinblick auf die beabsichtigte Flächennutzung folgendes Entwicklungskonzept gefahren werden: Eine 50 prozentige Flächenreservierung für potentielle Automobilzulieferer der Komponentenfertigung und die Nutzung der verbleibenden Hälfte für alternative auf Produktdiversifikationen, die zukunftsorientierte, arbeitsplatzintensive, wettbewerbsfähige und umweltfreundliche Kriterien erfüllen. Unter Berücksichtigung der proportionalen Erschließungskosten könnte die Stadt Wolfsburg eine 50 prozentige Beteiligung, die Landkreise Gifhorn und Helmstedt anteilig 25 Prozent übernehmen. - Der anstehende Gewinn aus dem Verkauf der erschlossenen Flächen und aus der Ansiedlung der Gewerbesteuerzahler könnte unter Berücksichtigung eines Ausgleiches von Disparitäten auf je ein Drittel festgelegt werden. Ein solches Pilotprojekt, in dem ein gemeinsamer Industriepark von drei Gebietskörperschaften bei der Planung, Erschließung und zukünftiger Vermarktung erfolgt, wäre ein praktischer Ansatzpunkt, gewerbliche Flächen in inter-kommunaler Abstimmung.konzentriert zu entwickeln, die auch dem entstehenden Regionalbewußtsein Rechnung trägt. - Die positiven Erfahrungswerte von drei fränkischen Gemeinden (Nürnberg, Führt und Erlangen), die ebenfalls in kooperativer Zusammenarbeit eine Gewerbefläche zusammen erschlossen und vermarkten426, können als praktisches Beispiel in der Entscheidungsfindung herangezogen werden. 426 Siehe: WirtschaftsWoche, Nr. 7, 12.02.1993, Seite 32. - 153 - - Sofern die planungsrechtlichen Aufgabenbereiche bei den Gebietskörperschaften verbleiben sollen, könnten für die nichthoheitlichen Aufgaben der Erschließung, Vermarktung und Bewirtschaftung dieses Gewerbegebietes auch privatrechtliche Organisationensformen gewählt werden. 3.2.11.5.2 Negative Betrachtung - Die Entfernungsdistanz zu den Kerngebieten des Landkreises Helmstedt, insbesondere zum Südkreis, ist zu weit. - Der beabsichtigte Industriepark trägt dazu bei, das sogenannte Achsenkonzept - die Stärkung der Wirtschaftszentren von Wolfsburg und Braunschweig weiter auszubauen. Die weitere ökonomische Zentralisierung dieses Verdichtungsraumes würde aus der Sichtweise des Landkreises Helmstedt dazu führen, von den Entwicklungschancen weiterhin abgekoppelt zu sein. - Strukturprobleme prinzipiell mit großvolumigen Industrieansiedlungen lösen zu wollen, gehören der Vergangenheit an. Die effektive Wirksamkeit dieser Maßnahme sollte prinzipiell nicht überschätzt werden. - Ein Schwachpunkt dieses Konzeptes ist die (bewußt) vernachlässigte Nutzungsdiskussion dieser Fläche auch für Branchen außerhalb der Automobilzulieferer. Diesbezügliche Planungsabsichten tendieren dahin, die Industrieflächennutzung ausschließlich als Instrument der Automobilzulieferindustrie zu reservieren. - Neue Industrie- und Gewerbeflächen für Automobilzulieferer sind weitgehend auf dem Werksgelände der VW AG reichhaltig vorhanden. Freiwerdende Nutzungskapazitäten von ausgelagerten Fertigungsabteilungen und die zusätzlich reservierte VW Erweiterungsfläche Nord schaffen ideale Voraussetzungen für eine logistische Integrationsdichte zwischen Modul-, Systemund Komponentenproduzenten sowie der VW Montagefabrik. Ein dringender Handlungsbedarf zur Flächenvorratshaltung für Automobilzulieferer im beabsichtigten Volumen des Industrieparkpojektes ist daher nicht ableitbar. - Trotz aller medienfixierten Veröffentlichungen um den Industriepark wurden zwischenzeitlich weder die Abwicklung der Planungen, die voraussichtlichen Kosten für den Grunderwerb und die bauliche Erschließung für die zum Landkreis Gifhorn gehörende Fläche in Angriff genommen , noch ist ein diesbezüglicher Antrag an die Verwaltung (Stand 10/93) und eine offizielle Abstimmung der Stadt Wolfsburg mit dem Landkreis Gifhorn zustande gekommen. 427 - Außerdem wäre die Möglichkeit, einen regionalen Gewerbe- und Industriepark in einer Größenordnung von beispielsweise 150 ha zu planen, angesichts der hierfür bedeutsamen Rahmenbedingungen nur schwer zu verwirklichen. Dazu zählen die notwendigen Planungsverfahren wie das Raumordungsverfahren, der Flächennutzungungsplan und der Bebauungsplan. Alle genannten Verfahren sind mit einem erheblichen Zeitaufwand verbun-den. Planungsträger wäre nicht der Landkreis Gifhorn, sondern der Zweckverband Großraum Braunschweig und die betroffene Samtgemeinde und Gemeinde. Diese Träger haben bisher keine Planungsabsicht bekundet. - Da das zwischenzeitlich geplante Industrie- und Gewerbegebiet in Isenbüttel im Landkreis Gifhorn mit 90 ha durch seine Größenordnung, Nähe und Anbindung an die Kreisstraße K 114 (Nordtangente) direkt auf Wolfsburg hin orientiert ist und somit vollendete Tatsachen schafft, stellt sich die grundsätzliche Frage , ob die Notwendigkeit von weiteren Gewerbeflächenplanungen, insbesondere für das Industrieparkprojekt im Raum Sülfeld-West, noch besteht. - Im Abwägungsprozeß regionaler Wirtschaftsaspekte und der spezifischen Interessenlage des Landkreises Helmstedt sprechen wenige Argumente für eine aktive Beteiligung an diesem beabsichtigten zentralen Industrieparkprojekt außerhalb seiner Kreisgrenze. 427 Siehe: Wolfsburger Kurier, 10.10.93. - 154 - - Ein Finanzierungsmodell aus der Sichtweise des Landkreises Helmstedt kann unter Zugrundelegung des in Erwägung gezogenen Standortes außerhalb seiner Kreisgrenze nur dahin tendieren, sich an den vorgeschlagenen Erschließungskosten prinzipiell nicht zu beteiligen. - Da die Wirtschaftspolitik des Landkreises gezwungen ist, mit knappen Mitteln höchst effektiv umzugehen und diese optimal zu nutzen, ist, in Abwägung mehrerer Optionen, eher eine Investition für die Verkehrsanbindung des Gewerbegebietes in Harbke (Sachsen-Anhalt) vorzuziehen. 3.2.11.5.3 Beurteilung unter strukturpolitischen Gesichtspunkten Der anvisierte „Industriepark“ bei Sülfeld kann keinen schnellen und kurzfristigen Ersatz für die in der VW AG entfallenden Arbeitsplätze schaffen. Insbesondere die Automobil-zulieferindustrie wird diese Erwartungshaltung nicht erfüllen können. Statt dessen sollte es nicht nur um Gewerbeflächendiskussionen, sondern parallel auch um Gewerbeflächen-nutzungskonzepte gehen. Angesichts des konstatierten monostrukturellen Wirtschaftsgefüges Südostniedersachsens sollte die zentrale Frage der Gewerbeflächennutzung nicht dem „freien Spiel der Kräfte“ unterliegen. Infolgedessen müßte neben Gewerbeflächenplanungen eine intensive Industriepolitik mit Produktionsdiversifizierungen eingeleitet werden, die von „Qualifizierungsoffensiven“ begleitet sein sollten, um einen arbeitsmarktpolitisch positiven Effekt sicher zu stellen. Angesichts der dramatisch knapper werdenden Haushaltsmittel erscheint es prinzipiell sinnvoll, die Kräfte gemeinsam zu bündeln, um gebietskörperschaftsübergreifend zukunfts-stabilisierende Maßnahmen einzuleiten, damit sowohl Industrie- und Gewerbeflächen, als auch diesbezügliche Industrie- und Gewerbeflächennutzungskonzepte integriert in Angriff genommen werden, um die Automobilstrukturkrise mittelfristig zu bewältigen. Deshalb ist es bedauerlich, wenn eine „Projektskizze“ wie der beabsichtigte Industriepark geographisch im Wirtschaftszentrum zwischen Wolfsburg und Braunschweig plaziert wurde, was der sozialökonomischen Problemlage des Landkreises Helmstedt in keiner Weise gerecht wird. Diese geplante Fläche würde aus der Sichtweise Helmstedts den Berufsauspendleranteil erhöhen und die ökonomische Funktionsbestimmung des Landkreises als Reservoir und Peripherie (insbesondere des Südkreises) weiter verfestigen. Als Vergleichsmaßstab für die Sülfelder „Projektskizze“ kann das 40 Hektar neue Gewerbegebiet „Schwarze Heide“ bei Hannover herangezogen werden. Diese Fläche wird vom dortigen Wirtschaftsdezernent ausschließlich für kapitalintensive Zuliefer reserviert, um dem Stöckener VW Zweigwerk Wettbewerbsvorteile zu verschaffen.428 Trotz der zuvor grundsätzlich kritisierten einseitigen Ausrichtung auf die Zulieferindustrie ist dieses hannoversche Projekt entgegen dem „Sülfelder Industrieparkmodell“ konzeptionell abgestimmt und zeigt detaillierte Konturen: Bereits für die zweite Jahreshälfte 1994 wird die Fläche zur planungsund genehmigungsreifen Ansiedlung von Zulieferbetrieben zur Verfügung gestellt werden. In einer direkten Gemeinschaftsaktion mit VW sollen in den kommenden fünf Jahren auf diesem Gelände „modernste Zulieferkonzepte“ umgesetzt werden. Praktisch als Zugabe wird den Zulieferern die Aussicht auf ein „bisher einmaliges“ Qualifizierungsprogramm ermöglicht. Der von der Stadt gemeinsam mit Siemens, Wabco und IBM entwickelte Fortbildungskatalog für Produzenten und Zulieferer der Automobilbranche wird vom Sozialministerium unterstützt und als EG-Modellprojekt ab Mitte 1994 starten können. Im direkten Vergleich fällt hierbei auf, daß die Koordination mit VW in Wolfsburg nicht direkt, sondern nur über „informelle Kanäle“ erfolgt und die beabsichtigte Realisierung dieses Projektes bei Sülfeld innerhalb der Planungszeitabläufe bis zum Modellbeginn VW Typ Golf IV nicht greifen kann, da es bis dahin nicht umsetzbar erscheint. 428 Siehe: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 11.11.93. - 155 - Das Alternativbeispiel, daß auch andere Möglichkeiten zur Ansiedlung von Zulieferern existieren, verdeutlichen die Ford-Werke: Für diesen Zweck habe der Automobilkonzern 400 Hektar des eigenen Werksgeländes im belgischen Genk an die Zulieferer verkauft. 429 Hervorzuheben ist ferner, daß sich ein dringender Handlungsbedarf für die Belange Wolfsburgs aufgrund der aufgezeigten Flächennutzungskonflikte nicht unmittelbar ergibt, weil die dafür benötigten und notwendigen Flächen bereits weitgehend auf dem Werksgelände der VW AG zur Verfügung stehen. Die Initiatoren des Sülfelder Industrieparkmodells (VW Betriebsrat und IG-Metall Verwaltungsstelle Wolfsburg), könnten auch in Bezug auf ihre im Mai 1993 initiierte Regionalkonferenz, die in Braunschweig stattfand, folgende Argumente in ihrer zukünftigen Entscheidungsfindung mit berücksichtigen: - Bisherige Strukturkrisen (Bergbau, Eisen- und Stahlindustrie, sowie Schiffbau) konnten in ihren inneren Umstrukturierungsprozessen durch veränderte Bedingungen im wesentlichen ebensowenig aufgehalten werden, wie gegenwartsbezogen die Automobilindustrie in der jetzigen Veränderungsphase. - Südostniedersachsen wird langfristig nur eine Chance erhalten, wenn es gelingt, unabhängig von der dominierenden und erdrückenden Automobilindustrie ein zweites, zukunftsorientiertes, arbeitsplatzintensives und wettbewerbsfähiges Standbein zu installieren. - Eine einseitige Industrie- und Strukturpolitik, die nur darauf abzielt, dem Automobilstandort Restbeschäftigungsperspektiven sichern zu wollen (Erhalt der verbleibenden „Stammarbeitsplätze“ durch die Schaffung von „Randarbeitsplätzen“ in der umliegenden Automobilzulieferindustrie), gerät in Gefahr, die langfristigen Konsequenzen des Beschäftigungsabbaues im Hinblick auf die Verfestigung monostruktureller Bedingungen zu unterschätzen. - Eine gewerkschaftlich orientierte „vorausschauende Arbeitsmarktpolitik“ sollte sich nicht nur primär auf eine Industrieflächenvorratspolitik für die Automobilbranche reduzieren. Andererseits sollten „nur“ marktwirtschaftlich orientierte und operierende Interessengruppen in ihren Entscheidungsfindungen mit berücksichtigen, daß der Versuch der Bewältigung der einschneidenden Strukturkrise in der Automobilindustrie und der analysierten VW spezifischen Probleme im Wolfsburger Produktionszweigwerk allein durch marktwirtschaftliche Regulationen, katastrophale Folgen haben könnte. Hier ist die aktive Einmischung aller gesellschaftlichen Kräfte gefordert und auch erforderlich, um für diese Region (einschließlich dem Landkreis Helmstedt) sozial annehmbare und volkswirtschaftlich effektive Lösungen zu erzielen. Auch die politischen Entscheidungsträger sind verantwortlich und müssen in Zusammenarbeit mit der Automobilzuliefer- und Automobilindustrie sowie mit anderen Verkehrsträgern, die Rahmenbedingungen für die gesicherte Zukunft erarbeiten. Beispielsweise sollten neue Verkehrssysteme und -netze konzipiert werden, um die Automobilregion in eine „Verkehrskompetenzregion“ umzugestalten. Das anvisierte Forschungsvorhaben für „zukünftige Verkehrstechnologien als Schwerpunkt einer Neuorientierung der Strukturpolitik in Südostniedersachsen“,430 das im Rahmen eines Projektstudiums am braunschweiger TU Seminar unter Leitung von K. Lompe favorisiert wird („wir sehen eine Chance für die Entwicklung des Wirtschaftsraumes von einer Automobil- zu einer Verkehrskompetenz“431), sollte im Rahmen einer wirtschaftlichen Neuorientierung nicht das einzige Schwerpunktprojekt in dieser Region darstellen. Ein integriertes Verkehrskonzept setzt eine breit angelegte Grundlagenforschung voraus, die in Südostniedersachsen im Vergleich zum Süddeutschen Raum bisher nur unzureichend vorhanden ist. 429 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 03.12.1993. Siehe: Lompe, K., u.a., Regionale Bedeutung und Perspektiven der Automobilindustrie, Seite 347 ff. 431 Siehe: Braunschweiger Zeitung, 26.06.1993. 430 - 156 - Innovationsprozesse und Steuerungspotentiale im Bereich neuer Verkehrstechnologien und Verkehrssysteme sind bereit in der Mercedes Benz AG reichhaltig vorhanden, die in diesem Zukunftsprojekt in Kooperation mit der Siemens AG und in der eigenen diversifizierten Konzernstruktur über hervorragende technologische Voraussetzungen zur Realisierung dieses Projektvorhabens verfügt. Der Personalabbau auch im Bereich der Forschung und Entwicklung in der Wolfsburger VW AG wird die regionale Ausgangsbasis für dieses Vorhaben eher schwächen und zukünftige Finanzierungsmaßnahmen werden unter Berücksichtigung engerer öffentlicher Fördermittel aus dem Bundesministeriums für Forschung und Technologie sicherlich nicht mehr nach dem „Gießkannenprinzip“ vergeben. Die mit dem Projekt beabsichtigte und grundsätzlich erforderliche ökonomische Teilstabilisierung der Region Südostniedersachsen, auch im Rahmen späterer Entwicklung und Herstellung von Verkehrsleitsystemen, hat eine hohe Priorität. Doch wenn sich Industriepolitik an regionalen Problemlagen orientiert, müßten parallel dazu weitere Maßnahmen auf Branchen außerhalb der Automobilindustrie hin erfolgen, die erst in ihrer Gesamtheit wirksame Entlastungen auf die zukünftige Arbeitsmarktentwicklung bringen würden. Zusammenfassend kann dieses für die Region Südostniedersachsens anvisierte Zukunftsprojekt als umsetzbar angesehen werden, aber ihm müssen realistischerweise im Vergleich zum süddeutschen Wirtschaftsraum aufgrund der dort wesentlich günstigeren Voraussetzungen weniger Chancen eingeräumt werden. Die allerdings notwendige regionale Kooperation von Herstellern im Fahrzeugbau (VW, MAN, LHB, Siemens, diverse Zulieferer und Forschungsinstitute), hätte inhaltlich in der Region eine Zukunftsperspektive, wenn parallel zum dominierenden Fahrzeugbau in kooperativer Zusammenarbeit eine vorausschauende Produktdiversifikation in neue Marktsegmente zustande käme. Die Wertschöpfungskette Verkehr sollte sich nicht nur auf das Automobil beschränken. Um die Monostruktur erfolgreich zu überwinden, sollten auch Schienen- und Nutzfahrzeuge, die Luft- und Raumfahrt in die Projektarbeit mit einbezogen werden. Zwischenzeitlich ist auf Initiative von vier IG Metall Verwaltungsstellen Braunschweig, Peine, Salzgitter und Wolfsburg eine regionale Entwicklungsagentur für Südostniedersachsen (RESON) gegründet worden.432 In enger Zusammenarbeit mit der Technischen Universität Braunschweig wurde ein Konzept für eine regionale Entwicklungsagentur entworfen, dessen Zielvorstellung in der Schwerpunktsetzung eine „Standort- und Beschäftigungssicherung mit Hilfe von regionaler Industriepolitik, gezielter Qualifizierungspolitik sowie Betriebs- und kommunenübergreifender Kooperation“ 433 anstrebt. Dieses Maßnahmebündel erscheint nur erfolgversprechend, wenn Ansätze und Konzepte zur tatsächlichen Überwindung der negativen Auswirkungen der automobilbestimmten Monostruktur verwirklicht werden könnten. Eine ausschließliche Konzentration auf die Förderung zur Anpassungsfähigkeit der Automobilbranche an veränderte Rahmenbedingungen hätte für Südostniedersachsen zur Folge, eine Strukturkonservierung mit Mitteln zu betreiben, die zur Bewältigung und Gestaltung des industriellen Wandels nicht wirkungsvoll beitragen würde. Südostniedersachsen muß auf Dauer ein hohes Lohnniveau mit guten Beschäftigungschancen eingeräumt werden. Zielvorstellung sollte auch hier sein, daß sich die im harten internationalen Wettbewerb stehenden Unternehmen selbst Entfaltungsspielräume öffnen, um vor allem in den Wachstumsbranchen neue Perspektiven zu suchen und Marktnischen zu besetzen. Der 432 Siehe: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 04.03.1994 und Braunschweiger Zeitung, 04.03.1994. Thesenpapier "Regionale Entwicklungsagentur RESON". Hrsg. IG Metall Verwaltungsstellen Braunschweig, Peine, Salzgitter und Wolfsburg, November 1993, Seite 4. 433 - 157 - wachstumsnotwendige Strukturwandel sollte trotz Rezession und Transformationskrise in Südostniedersachsen systematisch vorankommen. Personalpolitische Abbauprogramme diverser Unternehmen zu moderieren, erscheint auch aus regionalpolitischer Sichtweise perspektivlos. Es müßten endlich Modelle eines konstruktiven industriellen Umbaues, anstatt eines kontinuierlichen Abbaues in Südostniedersachsen konzipiert und wirkungsvoll umgesetzt werden. 3.2.12 Zusammenfassung Die folgende Zusammenfassung wird auf Basis von Prognosen, weiteren Handlungsempfehlungen und Alternativlösungsansätzen in Thesenform dargelegt. Auch das qualitative Instrument der Szenarienbildung wird hierbei angewendet, um ein möglichst realistisches Verhältnis zu den Perspektiven regionaler Entwicklungstendenzen aufzuzeigen: - Aufgrund der Hauptproblematik einer nicht vorhandenen Arbeitsplatzkompensation in zukunftsorientierte und beschäftigungsintensive Branchen hat sich die gesamte Region Südostniedersachsen mit den Spätfolgen regionaler Monostruktur auseinanderzusetzen. - Die Frage nach den Chancen industrieller Arbeit in der Bundesrepublik Deutschland wird in Gegenwart und Zukunft verstärkt durch den strukturellen Wandel geprägt sein: In der Automobilbranche werden diesbezügliche Strategien überlagert von der zentralen „Standortdiskussion“, in der die Zukunft der Arbeit von der Restgröße des verbliebenen Arbeitsvolumens, der Beseitigung von vermeintlichen Standortnachteilen, wie beispielsweise inflexiblen Arbeitszeiten und die im Vergleich zu den Mitwettbewerbern ungenügende Effizienz der Produktion Themen sein werden. - Aus betriebswirtschaftlicher Perspektive wird die VW AG ihre Wettbewerbsfähigkeit nur wiederherstellen und erhalten können, wenn in kürzester Zeit eine Produktivitätssteigerung erfolgreich vollzogen wird, bei der die zu hohe Fertigungstiefe, die zu langen Montagezeiten, die zu kostenintensive Qualitätssicherung und die in der Bundesrepublik Deutschland und in Spanien zu hohen Überkapazitäten erfolgreich abgebaut werden. - Die umfangreichen Investitionen der 80er Jahre haben in der deutschen Automobilindustrie bisher nicht zu einem beschleunigten Produktivitätsanstieg geführt. Um sich im internationalen Wettbewerb künftig effizienter behaupten zu können, werden die Automobilproduzenten ihre vergleichsweise hohen Produktionskosten im Inland drastisch senken. Ohne einschneidende Maßnahmen im Personalbereich erscheint dieses Ziel nicht realisierbar. - Das Leitmotiv Wachstum um jeden Preis mit einem geplanten Gesamtinvestitionsvolumen von 81 Milliarden DM in den europäischen VW-Werken ist als riskanteste Expansion eines europäischen Automobilkonzerns vorläufig gescheitert. Die Bestandssicherung der Arbeits-plätze im Inland ist nicht zuletzt deshalb in Gefahr. Der ins Stocken geratenen Automobilabsatz brachte insbesondere VW im Vergleich zu anderen Automobilkonzernen bei ungenügender Effektivität der Produktion in den offenen Absturz. - VW ist ab der zweiten Jahreshälfte 1992 bereits in eine Phase geraten, in der der Wettbewerb auch in Europa so stark geworden ist, wie beispielsweise auf dem nordamerikanischen Markt. Das bedeutet zunehmender Druck auf Preise, Erlöse und Ergebnisse. - Die in Wolfsburg nach heutigen Rentabilitätsmaßstäben zu groß dimensionierte Automobilfabrik müßte um die Hälfte reduziert werden, um international konkurrenzfähig zu sein. - Entscheidend für die weitere Entwicklung der Autobmobilproduktion im VW-Stammwerk Wolfsburg wird sein, ob sich zukünftig die Rentabilität der Produktion unter Berücksichtigung verschärfter Konkurrenzbedingungen managen läßt. Die Grundstrukturen der Automobilproduktion werden sich international zu Ungunsten Niedersachsens angleichen. - 158 - - Das Automobilproduktionswerk in Wolfsburg wird in seiner jetzigen Produktions- und Organisationsform keinen Bestand haben. Die Folgewirkungen einer finanziellen Konsolidierung der VW AG werden sich auf die Region Südostniedersachsen äußerst negativ auswirken. - Die Region Südostniedersachsen befindet sich von der VW AG (Zweigwerke Wolfsburg, Braunschweig und Salzgitter), in einem noch höheren Abhängigkeitsverhältnis als der Großraum Detroit (USA) von General Motors, Corp., Detroit/Michigian. - Die von einem Haupt- auf ein Zweigwerk herabgestufte Automobilfabrik in Wolfsburg wird bis auf die anvisierte Kernfertigungstiefe von deutlich unter 30 Prozent reduziert werden, so daß sie sich im Konzernverbund von Kapazitäten und Kosten dem internen Wettbewerb auch mit ausländischen VW Zweigwerken sowie mit der in- und ausländischen Zulieferindustrie verschärft stellen muß. - Wenn die VW AG es kurzfristig nicht schafft, bei Kosten und Produktivität zu den übrigen Automobilmitwettbewerbern aufzuschließen, wird die „Gesetzmäßigkeit des Marktes“ die VW AG verdrängen. - Einerseits ist in den Absatzmärkten nicht zuletzt aufgrund der Überkapazität von weltweit zehn Millionen Pkws und der zusätzlichen Konjunkturflaute kaum mit einer Erholung zu rechnen, andererseits ist die VW AG gezwungen, die eigene Produktivität im gnadenlosen Verdrängungswettbewerb schnell auf Weltniveau zu steigern. Beide Faktoren führten zum Resultat eines Personalüberhanges von über 30.000 Arbeitnehmer/innen in den sechs deutschen Volkswagenwerken. - Strukturkrise, Rezession und der damit einhergehende Zwang, Kosten zu senken, haben zu folgenden Vereinbarungen zwischen den Tarifvertragsparteien in der VW AG geführt: Anpassung der Arbeitszeit und der Personalkosten an die gesunkene Produktion nicht über Entlassung eines Teils der Belegschaft, sondern durch die Verkürzung der betrieblichen Arbeitszeit ohne vollen Lohnausgleich. Im Mittelpunkt steht dabei eine Reduzierung der Wochenarbeitszeit um 20 Prozent auf 28,8 Stunden und im Gegenzug dazu eine Verringerung des Jahreseinkommen um 15 Prozent, dafür eine Beschäftigungsgarantie für alle Mitarbeiter/innen vorerst bis Ende 1995. Die Alternative wäre ein Personalabbau (Massenentlassungen) von 30.000 Beschäftigten gewesen. - Neben parallel dazu laufenden Personalabbaustrategien wird ein weiterer Schwerpunkt in der Flexibilisierung der Arbeit liegen, um den Weg freizumachen für einen erweiterten Handlungsspielraum des Unternehmens bei der Gestaltung von individuellen Arbeitszeiten. - Aufgrund der konjunkturell schwachen Verkaufsaussichten für 1994 und 1995 ist zudem mit weiteren Produktionsrückgängen für die fünf niedersächsischen VW Standorte zu rechnen. Dieser weitere Absatzeinbruch katapultiert die VW AG erneut in eine weitere „Kostenfalle“ (Beschäftigungsgarantie bei betriebsbedingten Kündigungen bis Ende 1995). Auch bei leichten Volumensteigerungen bleibt der Konkurrenz- und damit der Preis- und Kostendruck unverändert stark. - Weiterer kontinuierlicher Personalabbau und die Auslagerung ganzer Fertigungsbereiche werden in Zukunft mit der Zielvorstellung zur Disposition stehen, internationaler zur produzieren um gegenüber Konkurrenten wettbewerbsfähig zu bleiben. - Bei einer weltweiten Überkapazität von rund zehn Millionen PKW wird ein heftiger Verdrängungswettbewerb unter den Automobilkonzernen geführt, der rezessionsbedingt extrem ist und aus europäischer Sicht weitere Fusionen (z.B.: Opel und Saab oder BMW und Rover), strategische Bündnisse und Kooperationen (z.B.: VW und Ford in Portugal), Lean-Management, Personalabbaumaßnahmen, Zweigwerksschließungen und Verlagerungs-tendenzen nach Osteuropa nach sich zeihen wird. Der zukünftig weltweit größte Pkw Absatz wird im asiatischpazifischen Wachstumsmarkt stattfinden. - Der Trend zur internationalen Arbeitsteilung von Forschungs- und Entwicklungspriorität in Deutschland und der Produktion im Ausland wird insbesondere von der Automobilindustrie favorisiert. Die renditeschwache VW AG wird hierbei wahrscheinlich eine „Vorreiterfunk-tion“ einnehmen. Wenn beispielsweise in Südosteuropa Kapazitäten ausgebaut werden, wird sich die Auslastung inländischer VW Zweigwerke tendenziell verringern. - 159 - - Es ist desweiteren davon auszugehen, daß auch die Modulzulieferanten mit Fertigungsfilialen auf dem Wolfsburger Werksgelände zukünftig vertreten sein werden, um die räumliche Nähe aus erwähnten Gründen rationell zu nutzen und diese Zusammenarbeit zwischen der VW AG und Lieferanten bereits bei der Konstruktion sowie der Produktion neuer Modelle zu koordinieren. - Die erhöhte Bedeutung der zentralisierten Automobilzulieferindustrie wird sich nicht positiv auf die Region Südostniedersachsen auswirken. Die anzusiedelnden Zulieferer werden in ihrer Gesamtheit keine ausreichende Arbeitsplatzkompensation schaffen, flächenverzehrend sein, das regionale Verkehrsaufkommen extrem erhöhen, für die Kommunen eine äußerst geringe Wertschöpfung bilden und eine vorausschauende notwendige Alternativflächenbereitstellung parallel zur monostrukturierten Automobilbranche weitgehend verbauen. Desweiteren wird die vor allem unter starken Kostendruck stehende Automobilzulieferindustrie ihrerseits Fertigungskapazitäten ins Ausland und an Subunternehmen überregional verlagern. - Nicht hauptsächlich auf Kosten der Automobilzulieferindustrie wird sich VW erfolgreich sanieren können, sondern nur gemeinsam mit der Innovationskraft der Zulieferer hat VW die Chance, im weltweiten Wettbewerb zu bestehen. - Die politischen Kosten eines umfangreichen regionalen Beschäftigungsabbaus bei der VW AG sind (möglicherweise) gravierender als die betriebswirtschaftlichen Vorteile. - Von dem Augenblick, wo die Betriebsräte der VW AG keine Erfolgsleistungen mehr vorweisen können, wird ihr politischer Einfluß tendenziell zurückgehen und ihre betriebliche Interessenpolitik gefährdet sein. Es ist damit zu rechnen, daß nach abgeschlossener Auslagerung erwähnter Produktionseinheiten und einer deutlich reduzierten Beschäftigtenzahl letztendlich auch der Haustarifvertrag bei VW zur internen Disposition stehen wird. - Die ökologischen Probleme, hauptsächlich durch den CO²-Ausstoß verursacht, werden immer drückender. Sie erfordern technologische Umwälzungen, deren Konsequenzen weit in die Fahrzeugkonzepte, Produktionsstrukturen und Verkehrsverhältnisse der Automobilindustrie hineinreichen werden. Die künftige Mobilitätsentwicklung wird verstärkt im Spannungsfeld zwischen Ökonomie und Ökologie stehen. - Zur Lösung dieses Kernproblems kann nur ein Verkehrssystem wirkungsvoll beitragen, das nicht nur ökonomische, sondern auch ökologische Kriterien gleichermaßen erfüllt. Nur ein zukünftiges Gestaltungskonzept, das alle Verkehrsträger angemessen einbezieht, kann zur Problemlösung beitragen. Es sollte leistungsfähig, kostengünstig und weniger umweltbelastend sein. Das erscheint aber nur realisierbar, wenn die individuelle Mobilität auf das absolut Notwendige eingeschränkt wird. Die Konsequenz einer zwangsläufig damit verbundenen erheblichen Reduzierung des produzierten Volumens an Pkws ist Voraussetzung dafür, die qualitativen Anforderungen der Bürger und der Wirtschaft an Schnelligkeit, Flexibilität und Zuverlässigkeit des Verkehrssystems auch für die Zukunft zu gewährleisten. - Die betroffenen Kommunalparlamente in Südostniedersachsen sollten angesichts des industriellen Wandels der automobilbestimmten Monostruktur neue Entwicklungspfade definieren und auch betreten. Die Region sieht sich einem dramatischen, strukturellen Anpassungszwang ausgesetzt, der nur durch einen gesamtgesellschaftlichen Dialog zwischen den politischen und wirtschaftlichen Akteuren bewältigt werden kann. Bisher hat das Prinzip Hoffnung regiert, doch die Automobilkrise seit der zweiten Jahreshälfte 1992 ist in ihren strukturellen Folgewirkungen dermaßen dramatisch, daß die Turbulenzen der „Schlankheitskur“ bei VW und den Zulieferern die Region kräftig „durcheinanderwirbeln“. - Es sollte unter Mitwirkung der kommunalen Spitzenverbände eine realistische Bestands-aufnahme bestehender Risiken im gegenseitigen Interesse vorgenommen werden, in der auch die Verlagerung der Abhängigkeit vom traditionellen Arbeitsreservoir zum Flächenvorratsreservoir zur Sprache kommen und Diskussionsgegenstand sein sollte mit der Zielvorstellung, ein Strukturgesamtkonzept für die Region Südostniedersachsen zu entwickeln, in der verstärkte Ansiedlungsbemühungen um tatsächlich innovativ operierende Unternehmen unabhängig von der Automobilindustrie unabdingbar erscheinen. - 160 - - Die Entscheidungsträger kommunaler Gebietskörperschaften sollten dabei durchaus selbstbewußt auftreten und in Bezug auf die analysierte Problematik Positionen vertreten, die keine „anachronistische Tendenz“ beinhalten. - Der seit Jahrzehnten propagierte und inhaltlich praktizierte Schulterschluß zwischen Kom-munen und VW Management verliert seine Bestandswirkung aufgrund des analysierten systematischen Arbeitsplatzabbaues. - Der unausweichliche Umstruktierungsprozeß in der Automobilindustrie kann für den Landkreis Helmstedt langfristig nur sozialverträglich gelöst werden, wenn ausreichend qualitative Ersatzarbeitsplätze geschaffen werden, die (wenn möglich) von der Automobilbranche unabhängig sind. - Hohe Förderraten fließen in eine stagnierende Branche, die zukünftig eine ungünstige Entwicklungstendenz aufweisen wird und in Westeuropa zunehmend an Effektivität verliert. - Den öffentlichkeitswirksam begleiteten Moderationen von Abbauprogrammen in der VW AG müßten parallel Aufbauprogramme gegenüberstehen, wobei ein gesellschaftlicher Bedarf an Konzeption und Realisation besteht. - Die Automobilstrukturkrise zeigt insbesondere für Südostniedersachsen eine beschleunigte Deindustriealisierung auf, die beschäftigungspolitisch zu steigender Massenarbeitslosigkeit und gesellschaftspolitisch zu sozialen Spannungen führen wird. Auf Basis des strukturellen Wandels werden sich diese ungelösten Problemkonstellationen zuspitzen und verlangen nach Initialfunktionen, die angemessene Zielbestimmungen und Umsetzungsstrategien der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gruppen erfordern. 3.2.13 Szenarien Szenario: Radikale Roßkur oder Trabbischicksal? Die Alternativen erscheinen aufgrund des Problemdruckes der internationalen Automobilkonkurrenz für die renditeschwache VW AG klar und zugleich trostlos: Entweder wird die „Lopez und Co.“ - Strategie favorisiert: Dies hat die Konsequenz zehntausender Arbeitsloser, insbesondere in der Automobilzulieferindustrie und der weiteren konsequenten Ignorierung der Umweltproblematik. Die VW AG wird wieder wettbewerbsfähig durch konsequente Ausgliederungen bis auf Kernfertigungsbereiche und (langfristig) betreibt neue Montagestandorten in Osteuropa, von denen auch der bundesrepublikanische Markt beliefert wird. Oder alle Innovationen werden mit der Konsequenz ignoriert, daß die Bundesrepublik Deutschland tendenziell zum technologischen Entwicklungsland zurückfällt, die Arbeitsplätze ebenso verlorengehen und die Umwelt dennoch „umkippt“. Entwicklungsperspektive der VW AG, Zweigwerk Wolfsburg Die zu groß dimensionierte, kostenträchtige und organisatorisch schwerfällige Wolfsburger Golf/ Vento-Produktion wird in der internen Standortkonkurrenz weiter zurückfallen. Die eingeleiteten Maßnahmeschritte zur einschneidenden Rentabilitätssteigerung der Produktions-struktur werden sowohl im internen Standortwettbewerb als auch unter den sich weiter verschärfenden Rahmenbedingungen der internationalen Konkurrenz trotz durchgeführter Konsolidierungsmaßnahmen, (Produktivitätsverbesserungen, Kapazitätsverringerungen, Arbeitszeit- , Block- und Staffelmodelle), die anvisierten Zielvorstellungen nicht erreichen. Die arbeitsmarktpolitische Konsequenz wäre ein weiterer Personalabbau, der sich nicht mehr einvernehmlich, geräuschlos und relativ sozialverträglich gestalten ließe. Innerhalb der großflächigen Betriebsstätten werden kleinere Produktionseinheiten gebildet, deren Maschinenpark es zuläßt, ein zukünftig breites Spektrum verschiedener Produkte kostengünstiger - 161 - und mit weniger Arbeitskräften herzustellen. Einzelne Produktionsprozesse werden intern verselbstständigt, beispielsweise Zulieferern überlassen, und die Fertigungstiefe erheblich verringert. Alternativszenario: Entwicklungssperspektive der VW AG, Zweigwerk Wolfsburg Die VW AG mit ihren qualifizierten und ebenso motivierten Mitarbeiter/innen wird die derzeitigen Strukturprobleme aufgrund ihres vorhandenen Know-how erfolgreich lösen und gestärkt aus der Automobilkrise hervorgehen. Der konsequente Weg der internen Kostenoptimierung hat bereits den „Break-even-Punkt“ um etwa 20 Punkte verbessern können434 und die KVP²-Workshops bewirken weitere Produktionssteigerungen. Das Zweigwerk in Wolfsburg wird in der Konzernstruktur auch weiterhin die wichtigste Funktion einnehmen, weil es für 50 Prozent des Erfolges der Marke VW und zu 20 Prozent des Konzernerfolges steht. Szenario: „Sozialverträglicher“ Personalabbau Der Gestaltungsanspruch, daß Konzepte für den verbleibenden industriellen Kernbereich reduzierter Stammarbeitsplätze bei VW darauf abzielen sollen, bei der Umsetzung Strategien zu entwickeln, die eine Verbindung zwischen internationalen Wettbewerb und innerbetrieblicher Reformfähigkeit beinhalten, kollidiert mit der sozialökonomischen Wirklichkeit: Mit der zeitlich befristeten Arbeitsgarantie bis Ende 1995 suchen VW Mitarbeiter/innen in den rund 5000 Workshops weiterhin nach Einsparungs- und Umsetzungsmöglichkeiten für notwendige Rationalisierungsmaßnahmen. Auf der anderen Seite machen sie sich damit überflüssig. Sie rationalisieren ihre eigenen Arbeitsplätze weg, und zwar je mehr, desto erfolgreicher sie in ihren Sparaktivitäten sind. 3.3 Arbeitsmarkt 3.3.1 Pendler 3.3.1.1 Einleitung Die Pendlerzahlen verdeutlichen besonders die strukturelle Verflechtungen eines Raumes. Die Pendlerdaten werden nur im Rahmen von Volkszählungen erhoben. Basis dieser Pendleranalyse ist die Volks- und Arbeitsstättenzählung 1970 und 1987. Aus diesem Grunde können die Daten nicht laufend fortgeschrieben werden. Die absoluten Zahlen beziehen sich daher auf die „Stichtage“ vom 27. Mai 1970 und vom 25. Mai 1987, die in der Gesamttendenz trotzdem aussagekräftig sind, obwohl der Datenerhebungstermin bekanntlich vor der Grenzöffnung lag und somit im besonderen die Einpendlerzahlen aus den neuen Bundesländern noch keine Berücksichtigung finden konnten. Eine Aktualisierung der Daten erfolgte aus den statistischen Erhebungen der „Bundesanstalt für Arbeit“ und über das Arbeitsamt Helmstedt (Stand vom 30.09.1991 und 30.06.1992), zum Teil ohne die Gemeinde Lehre. Damit können im folgenden auch aktuelle Daten erfaßt und hiermit veröffentlicht und es kann interpretiert werden, wie sich rückblickend die veränderten Bedingungen seit der Öffnung der innerdeutschen Grenze auf die Pendlerverflechtungen auswirkten. 434 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 18.02.1994. - 162 - Diese Daten wurden auf Basis eines datenverarbeitungsgestützten Regionalisierungssystems der Beschäftigungsstatistik erstellt, das als Quelle Daten aus dem integrierten Meldeverfahren zur Sozialversicherung nutzt. Die aktualisierten Daten von 1991 und 1992 haben im Vergleich zu den Volkszählungsdaten von 1970 und 1987 dahingehend den Nachteil, daß über die Häufigkeit der Pendlerbe-wegungen aufgrund des Datenmaterials keine Aussage getroffen werden kann. 3.3.1.2 Definition Zu den Pendlern zählen: - Erwerbstätige, die nicht in ihrer Wohngemeinde, sondern in einer anderen Gemeinde arbeiten (Berufspendler), - Schüler und Studierende, die aufgrund ihrer Ausbildung einen Ausbildungsort außerhalb ihrer Wohngemeinde aufsuchen (Ausbildungspendler). Erwerbstätige, Schüler und Studierende, die täglich zwischen Wohngemeinde und Arbeits- bzw. Ausbildungsort pendeln, sind von der Wohngemeinde aus betrachtet Auspendler. Von der Zielgemeinde (Sitz der Arbeits- oder Ausbildungsstätte) aus gesehen, sind sie Einpendler. (Erwerbstätige mit Reisetätigkeit wie Handels- und Versicherungsvertreter, ambulante Händler usw. gelten ebenso wie die Wochenendpendler - nicht als Pendler) Bekanntlich haben die meisten Einpendlergemeinden auch Ausspendler und die meisten Auspendlergemeinden auch Einpendler. Es gibt sogar fast alle denkbaren Mischungsverhältnisse in den Gemeinden, also eine lückenlose Reihe von den Einpendlergemeinden mit unbedeutender Auspendlerzahl bis zu Auspendlergemeinden mit geringen Einpendlern. Dieses vorhandene Mischungsverhältnis wird im folgenden in seiner Häufigkeit für den Landkreis Helmstedt untersucht. 3.3.1.3 Auspendler Wichtigster Bestimmungsgrund für Pendlerbewegungen ist die im hohen Maße eingetretene Trennung von Wohn- und Arbeitstätten. Von 35.533 wohnortbezogenen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Landkreis Helmstedt waren am 30.06.1992 17.154 Auspendler, die einem Beschäftigungsverhältnis außerhalb des Landkreises nachgingen. Dieser prozentuale Anteil von 51,7 Prozent offenbart im direkten Vergleich mit den Einpendlerdaten ein Negativsaldo eines insgesamt erheblich defizitären Arbeitsmarktes im Landkreis Helmstedt. Im Vergleich zur Volkszählung von 1987 ist das eine rund zehnprozentige Erhöhung des Auspendleranteils. Von diesen insgesamt 17.154 Auspendlern fahren arbeitstäglich 11.302 zum Zielort Stadt Wolfsburg, 3.619 zur Stadt Braunschweig, 474 in den Landkreis Wolfenbüttel, 296 in den Landkreis Gifhorn und 203 in die Stadt Salzgitter. Aus der von VW durchgeführten „internen“ Personalstatistik von 1991 geht hervor, daß insgesamt 9.227 Mitarbeiter (15,4 Prozent der Gesamtbelegschaft)* aus dem Einzugsbereich des Landkreises Helmstedt täglich ins VW-Werk nach Wolfsburg pendeln. Davon stammen aus Helmstedt 1.531 (2,6 Prozent),* aus der Samtgemeinde Velpke 2.342 (3,9 Prozent)*, der Einheitsgemeinde Lehre 1.756 (2,9 Prozent)* und aus den Städten Königslutter 1.579 (2,6 Prozent)* und Schöningen 631 (1,1, Prozent)*. Aus dem Landkreis Helmstedt pendeln täglich 131 Mitarbeiter (1,9 Prozent)* ins Braunschweiger VW-Werk und 29 (0,3 Prozent)* ins VW-Werk in Salzgitter. * Anmerkung: * In Klammern ist jeweils der prozentuale Anteil an der Gesamtbelegschaft angegeben. Kommentar [AL3]: Seite: 161 * prozentualer Anteil jeweils der Gesamtbelegschaft aus dem VW Zweigwerk in Wolfsburg - 163 - Die arbeitsmarktpolitische Dominanz des VW Werkes in Wolfsburg mit der für Südostniedersachsen typischen Automobilmonostruktur, dessen Standort sich außerhalb der Landkreisgrenze Helmstedts befindet, charakterisieren die bekannten einseitigen Verflechtungstendenzen. Berufsauspendlerorientierungen Wie in ganz Niedersachsen stiegen die Pendlerzahlen zwischen den beiden letzten Volkszählungen auch im Landkreis Helmstedt deutlich an. Die beiden Gemeinden mit dem höchsten Auspendleranteil, die Samtgemeinde Velpke und die Gemeinde Lehre, steigerten ihren Berufsauspendleranteil von 1970 im Vergleich zu 1987 um 25,5 Prozent bzw. 36,6 Prozent. (siehe Tabelle III. 5.1.1). Während die höchste Abnahme der Berufsauspendler mit minus 32,4 Prozent von der Gemeinde Büddenstedt verzeichnet wurde (siehe ebenfalls Tabelle III. 5.1.1). Hier zeigte sich, daß die Ansiedlung der Phönix AG eine zunächst spürbar arbeitsmarktpolitische Stabilisierung bewirkte. In der Samtgemeinde Heeseberg ist die rückläufige Tendenz des Auspendlerüberschusses von minus 12,0 Prozent (siehe Tabellen III. 5.1.1 und III. 5.1.5) auf folgende Faktoren zurückzuführen: Die Orte Jerxheim, Söllingen und der Ortsteil Watenstedt der Gemeinde Gevensleben sind reine Agrargemeinden. Durch Umstrukturierung der Landwirtschaft in den letzten Jahren und Stillegungen der Zuckerfabriken Watenstedt und Söllingen sind die meisten Arbeitsplätze innerhalb der Samtgemeinde Heeseberg verloren gegangen. Hinzu kommt das Aufgeben vieler ehemaliger Kleinbetriebe, die in den Dörfern (besonders Jerxheim) Arbeits- und Ausbildungsplätze boten. Diese Entwicklung führte in den letzten Jahrzehnten auch in der Samtgemeinde Heeseberg ebenfalls zu einem starken Anstieg der Auspendlerquoten. Jedoch reduzierte sich diese Trendentwicklung von 1970 bis 1987 auf minus 12,0 Prozent, weil der tendenziell hohe Bestand von Nichterwerbstätigen, wie Rentnern, Pensionären (Überalterungstendenzen) und der Arbeitslosenanteil in der Bevölkerung eine Stagnation der Mobilität bewirkte. 3.3.1.4 Einpendler Von den insgesamt 5.246 Personen, die arbeitstäglich in den Landkreis Helmstedt einpendeln, kamen am 30.06.1992 bereits 3.015 aus den neuen und 2.231 aus den alten Bundesländern. Dieser innerhalb von 5 Jahren (von 1987 und 1992) hinzugewonnene Einpendleranteil von 3.946 auf 5.246 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten spiegelt den Effekt der Einheitskonjunktur wider, ist aber zugleich ein Indiz dafür ist, daß der kurzfristig angestiegene Arbeitskräftebedarf vornehmlich von außerhalb des Landkreises, insbesondere aus dem neuen Bundesland SachsenAnhalt, aufgestockt wurde. Reallohnunterschiede und günstige Beschäftigungsperspektiven führten zu einer ausgeprägten OstWest-Wanderung sowie zu einem Anstieg der Einpendler, insbesondere aus Sachsen-Anhalt, auch im Landkreis Helmstedt. Die Ausprägung der Wanderung war am stärksten für qualifizierte Arbeitskräfte. Trotz dieses Hinzugewinnes ist der Negativsaldo der Ein- und Auspendlerbilanz von minus 11.908 Personen für 1992 weiterhin erheblich. Die Grundstruktur eines defizitären Arbeitsmarktes ist trotz der durch die Grenzöffnung bedingten geographischen Verlagerung von einer Rand- in die Mittellage in einem hohen Ausmaß weiterhin erhalten geblieben. Das gewonnene Einpendlerpotential aus dem neuen Bundesland Sachsen-Anhalt von 3.015 Personen setzt sich hauptsächlich aus folgenden Landkreisen und Städten im Regierungsbezirk Magdeburg zusammen: 955 aus dem Landkreis Haldensleben, 822 Landkreis Oschersleben, 372 Landkreis Wanzleben, Landkreis Halberstadt 178, Stadt Magdeburg 157, Landkreis Wolmirstedt 47, Landkreis Burg 36, Landkreis Schönebeck 25, Landkreis Wernigerode 22, Landkreis Stendal 20 und aus dem Landkreis Staßfurt 14 Personen, (siehe Tabelle III. 5.2.3). Aus dem alten Bundesland Niedersachsen kommen die Einpendler aus den Städten Braunschweig 599, Wolfsburg 302 und Salzgitter 87, den Landkreisen Wolfenbüttel 600, Gifhorn 167, Peine 77 und Goslar 56 (siehe Tabelle III. 5.2.3). - 164 - In diesen Zahlen diesseits und jenseits der Landesgrenze sind die Pendler erfaßt, die einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgehen. Darüber hinaus existiert noch eine unbekannte Anzahl von Ein- und Auspendlern mit Einkommen bis 520 DM im Monat (geringfügige Beschäftigungsverhältnisse). Die Kreisstadt Helmstedt konnte trotz ihrer stagnierenden Entwicklung bis September 1989 ihrer Funktion als Mittelzentrum durchaus gerecht werden und nach 1989 weiter ausbauen. Bei den Berufseinpendlern ist es der Stadt Helmstedt durch die Öffnung der innerdeutschen Grenze ab September 1989 gelungen, im Vergleich von 4.712 (1987) zu 6.452 (1991), insgesamt 1.740 Berufseinpendler zu gewinnen (siehe Tabelle III. 5.2.2), von denen 1.138 aus dem Einzugsgebiet Sachsen-Anhalt kommen. Mit dem „Rutsch“ aus der regionalen Randlage in die zentrale Mittellage verschaffte sich der gesamte Landkreis Helmstedt eine Steigerungsrate von 3.577 Berufseinpendlern (1987 insgesamt 8.671 und 1991 insgesamt 12.248), davon kamen 1991 aus Sachsen-Anhalt 2.470 Berufseinpendler. Hierbei stellt sich die zentrale Frage, mit welchem Maßnahmebündel der gewonnene Bestand an Einpendlern, insbesondere aus Sachsen-Anhalt, langfristig für den Landkreis Helmstedt gesichert werden kann? Zu den 2.470 Berufseinspendlern (Stand: 06.1991) aus Sachsen-Anhalt, die den Landkreis Helmstedt als Zielgebiet anfahren, kommen arbeitstäglich noch mindestens 5.000 - 8.000 Arbeitnehmer/innen als „Durchpendler“ aus Sachsen-Anhalt hinzu, deren Zielgebiete unter anderem Braunschweig, Wolfsburg, Wolfenbüttel, Salzgitter, Gifhorn und Hannover sind. Beispielsweise gibt das Arbeitsamt Braunschweig für die Stadt Braunschweig eine Anzahl von 3.850 Arbeitnehmer/innen aus Sachsen-Anhalt an, wobei 1.181 aus Magdeburg, 1.815 aus Halberstadt, 217 aus Stendal und 83 aus Sangershausen kommen. Für den Arbeitsamtsbezirk Braunschweig (einschließlich Salzgitter und Wolfenbüttel) werden 8.206 Arbeitnehmer aus Sachsen-Anhalt angegeben.435 Der Arbeitsamtsbezirk Magdeburg meldete insgesamt ca. 10.000 bis 12.000 Auspendler nach Niedersachsen.436 Da die Binnenwanderung von Ost nach West aufgrund des engen Wohnungsmarktes weiter abnehmen und die regionalen Arbeitsmärkte mit wenig Zugangschancen eine weitere Reduzierung der Binnenwanderung nach sich zieht, wird eine weitere Zunahme der Pendlerbewegungen durch dauernden oder vorübergehenden Verzicht auf Wohsitzwechsel von Berufstätigen aus den östlichen in die westlichen Bundesländern eintreten. Der Landkreis Helmstedt bekommt durch die BAB-A2 die Funktion eines faktischen Transitlandkreises zugewiesen. Inzwischen ist eine Stagnation der Einpendler aus Sachsen-Anhalt in den Landkreis Helmstedt festzustellen (siehe Tabelle III. 5.2.2), im übrigen auch ein Rückgang der Zuwanderer. Diese Entwicklung hängt mit der allgemeinen Konjunkturabflachung zusammen. Sie darf jedoch nicht vorschnell als nachhaltige Erholung auf dem sachsen-anhaltinischen Arbeitsmarkt interpretiert werden. „Für den Arbeitsmarkt im Westen bedeuten die Einpendler eine Erhöhung des Angebotes, gerade auch an qualifizierten Kräften: Nur 17% der Ostpendler übten eine un- oder angelernte Tätigkeit aus, 62% benötigten an ihrem Arbeitsplatz eine Techniker- oder Meisterqualifikation, 18% eine Fachhochschul- oder Hochschulausbildung.“437 Es ist zu erwarten, daß eine erneute starke Ost-West-Orientierung von Arbeitskräften auf den hiesigen Arbeitsmarkt hin auftreten wird. Aufgrund der mangelnden Ergiebigkeit des heimischen Arbeitsmarktes ist davon auszugehen, daß Beschäftigungspersektiven in westlicher Orientierung ausgeprägter sein werden, die den Landkreis Helmstedt als Transitraum benutzen. Insbesondere für interkommunale Pendler und Auspendlerorientierungen zwingt diese zusätzliche Nutzung der vorhandenen Infrastruktur zu noch höheren Zeitverlusten durch weitere Immobilitätstendenzen. Die Verkehrsproblematik im Landkreis stellt sich in neuer Dimension dar, 435 Quelle: eigene Nachfrage beim Arbeitsamt Braunschweig. Siehe: Volksstimme Haldenslebener Ausgabe, 06.03.1993. 437 Eichhorn, L. West-Pendler aus den neuen Bundesländern. In: Statistische Monatshefte Niedersachsen, Hannover 10/1992, Seite 328. 436 - 165 - da die absehbaren zukünftigen Verkehrsbelastungen im vorhandenen Netz nicht mehr aufzunehmen sind (der Ausbau der BAB-A2 auf sechs Fahrspuren wird noch mehr Verkehrsbelastungen bewirken und keine Entlastung hervorrufen) und ein allgemeiner Ausbau übriger Hauptverkehrsachsen nur in sehr beschränkten Umfang vertretbar ist. Eine andere Sichtweise der Einpendlerströme vermitteln die Daten vom Oberzentrum Braunschweig (30.06.1992): Von den 42.900 Einpendlern nach Braunschweig kamen aus den Landkreisen Wolfenbüttel 12.000, Peine 7.000, Gifhorn 4.800, Salzgitter 4.200 und Helmstedt 3.619. Gleichzeitig gab es 17.500 Auspendler, die Saldodifferenz betrug 25.400. Insofern verzeichnet Braunschweig einen deutlichen Einpendlerüberschuß.438 3.3.1.5 Interkommunale Pendlerverflechtungen Innerhalb des Landkreises betrug die Pendlerverflechtung am 30.06.1992 insgesamt 7.340 Personen. Die Pendlerströme konzentrieren sich auf Helmstedt und mit Abstand auf Königslutter, Schöningen und Büddenstedt. Alleine Helmstedt als ausgewiesenes Mittel-zentrum hat aufgrund der ausgeprägten Dienstleistungsfunktionen einen positiven Pendlersaldo aufzuweisen: Mit einem Einpendlerplus von 2.855 Personen kann die Mittelzentrumsfunktion herausgestellt werden, während Schöningen und Königslutter Einpendlerdefizite von minus 2.696, beziehungsweise 2.615 verzeichnen. Es ist auffallend, daß die Pendlerbeziehungen zwischen den nördlichen und nordwestlichen Gemeinden, zu den Gemeinden des südlichen Landkreises (inkl. Kreisstadt Helmstedt) äußerst gering sind (siehe Tabellen III. 5.1 und III. 5.1.4). Beispielsweise fahren auf Datenbasis der 87er Volkszählung mehr Berufsauspendler von Lehre zur Kreisstadt Gifhorn (24) als zur eigenen Kreisstadt Helmstedt (15). Von Lehre nach Wolfsburg arbeitstäglich 2.331 und nach Braunschweig 1.239. Nach den Zielgemeinden innerhalb des Landkreises fahren von Lehre nach Königslutter 15 Personen. Mit dem erwähnten Zielort Helmstedt sind das aus der Einheitsgemeinde Lehre insgesamt nur 30 Personen, die eine intrakommunale Verflechtung auf Landkreisebene aufweisen. Die Pendlerverflechtungen der Stadt Königslutter mit den übrigen Städten, Samt- und Einheitsgemeinden des Landkreises sind im Vergleich zu Lehre deutlich ausgeprägter: Insgesamt 624 Personen, davon 436 in die Kreisstadt Helmstedt, pendeln arbeitstäglich intrakommunal. Trotzdem ist auch hier ein deutlicher Auspendlerüberschuß von 2.481 Personen zu verzeichnen: Aus Königslutter fahren arbeitstäglich 3.108 erwerbstätige Personen eine Zielgemeinde außerhalb des Landkreises an. Davon nach Wolfsburg 1.891 und nach Braunschweig 1.012. (siehe Tabelle III. 5.1.4) Intrakommunale Pendlerverflechtungen konzentrieren sich hauptsächlich auf den Südkreis. Diese Pendlerverflechtungen zeigen eine deutliche Trennung der Nord- und Nordwestgemeinden von den Südgemeinden und Städten innerhalb des Landkreises auf. Selbst wenn berücksichtigt wird, daß in der permanenten Raumentwicklung der Landkreise, Städte und Gemeinden, die Wirtschaftsräume kaum mit den Regionalräumen übereinstimmen, ist die festgestellte überproportionale Diskrepanz einer unterstellten ökonomischen Trennungslinie zwischen den Nord- und Südgemeinden ein Indiz dafür, daß sich die räumliche Entwicklung im Landkreis deutlich auseinanderdividiert. Weil die Pendlerbeziehungen zwischen den Gemeinden des nördlichen und nordwestlichen Gemeinden zum südlichen Landkreis äußerst gering sind, haben beide eine eigenständige Dynamik aufzuweisen, deren Gemeinsamkeit der deutliche Berufsauspendlerüberschuß und die extreme Abhängigkeit von der Automobilindustrie ist. Insbesondere die Samtgemeinde Velpke und die Einheitsgemeinde Lehre weisen besonders unter Zugrundelegung der Pendlerverflechtungen sozialökonomische Strukturdaten auf, die in ihren funktionalen Beziehungen und Zuordnungen nicht auf den Landkreis Helmstedt ausgerichtet sind. 438 Siehe: Arbeitsamt Braunschweig, Statistische Berichte, Nr. 69/1993, Seite 2. - 166 - Die Stadtumlandentwicklung von Braunschweig und Wolfsburg hat die beiden Gemeinden Lehre und Velpke aus dem Strukturgefüge des Landkreises herausgedriftet und in das Stadtumland des Industriezentrums faktisch eingefügt. Aus diesen interkommunalen Pendlerverflechtungen ist insgesamt zu schließen, daß die ökonomische Struktur des Landkreises Helmstedt heterogen ist. 3.3.1.6 Entfernungsdistanzen Aufgrund nicht ausreichend vorhandener Arbeitsplätze pendeln arbeitstäglich 17.154 Arbeitnehmer/innen zu einem Arbeitsplatz außerhalb der Kreisgrenze. Unproblematisch ist die Entfernung von der Samtgemeinde Velpke nach Wolfsburg. Die Samtgemeinde Velpke mit 3.977 Berufsauspendler, ist bereits ein integraler Bestandteil der Verdichtungsregion um die Kernstadt Wolfsburg. Eine ebenfalls relativ kurze Entfernungsdistanz zu ihren Arbeitsorten haben die Einwohner der in der Mitte zwischen den Kernstädten Braunschweig und Wolfsburg gelegenen Einheitsgemeinde Lehre mit 3.735 Berufsauspendlern. Bei den übrigen Samt-, Einheitsgemeinden und Städte im Landkreis Helmstedt wird die Entfernungsdistanz der Pendlerwege von Wohn- zum Arbeitsort ein entscheidendes Kriterium. Witterungsbedingt risikoreiche Strecken tagtäglich in Kauf zu nehmen, ist zeitraubend und geht langfristig an die Substanz der unmittelbar betroffenen „weiträumigen“ Pendler: Von Heeseberg pendeln arbeitstäglich 150, von Schöningen 703, von Büddenstedt 175, von Nord-Elm 581, von Königslutter 1.891, von Grasleben 684 und von Helmstedt aus 1.776 nach Wolfsburg. Bei der Wahl des Wohnortes spielen für Pendler nicht immer die Wegeentfernungen die entscheidende Rolle, sondern die unterschiedlichen zeitlichen und standörtlichen Ansprüche an die Mobilität. Das heißt, daß es Möglichkeiten geben muß, notwendige Wege mit Erledigungen zeitlich und standörtlich zu bündeln. Hinzu kommt, daß auch die zeitliche Verfügbarkeit von Verkehrsträgern (Auto, Bus, Mitfahrgelegenheiten) ausschlaggebend ist für den Spielraum, Mobilitätszwänge räumlich und zeitlich zu bündeln. Es kann davon ausgegangen werden, daß sich die individuellen Kosten der Berufspendler in Zukunft drastisch erhöhen. Diese langen Anfahrtzeiten sind für Berufspendler faktisch eine „zweite Arbeitszeit“, die z.B. Arbeitszeitverkürzungen zunichte macht. Die Mobilität von Berufspendlern wird oft teuer erkauft: Durch zusätzlichen Streß und langfristig erhöhte Krankheits- und Unfallrisiken. Unter Aspekten der Sozialverträglichkeit ist der hohe Zwang zur räumlichen und zeitlichen Mobilität, das räumliche und zeitliche Auseinanderfallen von Lebensbereichen und die hohen Kosten für Mobilität - gemeint ist auch der Zeitaufwand, die Kosten für Kauf und Unterhaltung der Kraftfahrzeuge und die Energiekosten - für viele soziale Gruppen der Gesellschaft nicht tragbar, so daß sich für die Betroffenen eine eindeutige gesellschaftliche Benachteiligungen ergibt. 3.3.1.7 Ökonomische Ursachen Die aus der Tabelle III. 5.1.9 zu entnehmenden Berufsauspendler über die Gemeindegrenzen im Raumvergleich aufgeführten Landkreise zeigt auf, daß die vier Landkreise Südostniedersachsens in ihrem gemeinsam hohen Berufspendlerüberschuß die traditionell niedersächsische Landkreisproblematik eines Zentrum-Peripherie-Gefälles exemplarisch dar-stellen. Der weitere proportionale Anstieg der Berufsauspendlerzahlen im Vergleich von 1987 und 1991 (siehe Tabelle III. 5.1.2) aller Wohnsitzgemeinden des Landkreises Helmstedt, in der prozentualen Spannbreite von 3,8 bis 14,6 Prozent, verdeutlicht exemplarisch die einseitigen - 167 - Pendlerorientierungen aus dem ökonomisch strukturschwächeren Landkreis Helmstedt in die ökonomisch strukturbestimmenden Zentren Wolfsburg und Braunschweig. Ursache steigender Pendlerzahlen sind ungenügende Arbeitsmarktbedingungen im heimischen Landkreis. Die Mobilität wird gewissermaßen erzwungen durch eine geringe Betriebsdichte, erfolgte Betriebsstillegungen, niedrigem Lohnniveau und schlechteren Arbeits- und Aufstiegschanchen innerhalb des Landkreises Helmstedt. Aus der Berufsauspendlerorientierung auf Zielgebiete außerhalb des Landkreises läßt sich ableiten, daß aufgrund des hier niedrigen Arbeitsplatzangebotes rund 50% der Erwerbsbeteiligten (in Zahlen 17.154 Arbeitnehmer/innen) außerhalb des Landkreises - 11.302 mit Richtung Wolfsburg und mit über 3.700 mit Richtung Braunschweig - einem Beschäftigungsverhältnis nachgeht. Daraus wird ersichtlich, daß die Erwerbsmöglichkeiten hier vor Ort zu gering und größtenteils zu unattraktiv sind, weshalb ein hoher Anteil Arbeitnehmer/innen außerhalb des Landkreises ein Beschäftigungsverhältnis (insbesondere im VW Zweigwerk in Wolfsburg) aufnahm. Rückschlüsse auf die innerregionale Verflechtung von Südostniedersachsen, sowie die Abhängigkeit des Landkreises Helmstedt als Untersuchungsbeispiel in seiner ökonomischen Funktionsbestimmung als weitgehend arbeitsmarktpolitisches Reservoir, können aus der Interpretation der Berufsauspendlertabellen von 1970, 1987, 1991 und 1992 im Vergleich (siehe Tabelle III. 5.1.3) gezogen werden. Daß die Hälfte der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ein Arbeitsverhältnis außerhalb des Landkreises nachgeht, offenbart die strukturellen Schwächen von Monostruktur, geringer Industriedichte und dem allgemeinen Technologiedefizit. Die Reduzierung von Arbeitsplätzen in dem dominierenden Produktionszentrum Wolfsburg und dem Produktions- und Dienstleistungszentrum Braunschweig wird zu einer spürbaren Verjüngung sowie Veränderung des heimischen Arbeitskräfteangebotes führen, weil über die Hälfte aller Auspendler (inklusive Binnenpendler) unter 35 Jahre alt sind (siehe Tabelle III. 5.1.8). Es ist zu vermuten, daß durch den tendenziellen Arbeitsplatzabbau Arbeitnehmer/innen mit Berufsqualifikationen freigesetzt werden, für die im Landkreis Helmstedt kaum Beschäftigungsmöglichkeiten bestehen. Geht man vom Suburbanisierungseffekt aus, aus dem hervorgeht, daß die großen Städte in der Regel Bevölkerungsverluste verzeichneten, aber im unmittelbaren Umland dieser Städte Bevölkerungsgewinne erzielt wurden 439, so konnten die Städte Helmstedt, Königslutter und Schöningen an dieser Entwicklung nicht partizipieren, weil deren Distanzen zu den Kernstädten Braunschweig und Wolfsburg zu groß sind. Die Bevölkerungsverschiebung vom Zentrum in die Umlandbereiche eines Ballungsgebietes werden vor allem darauf zurückgeführt, daß die Zahl der Arbeitsplätze im Stadtgebiet Hannover zum Beispiel zurückgegangen ist, im unmittelbar angrenzenden Landkreis Hannover jedoch zugenommen hat.440 In Hannover führte das zu der Konsequenz, daß die Pendleranzahl in den Innenstadtbereich abnahm 441. Auf den Landkreis Helmstedt bezogen ist hier eine gegenläufige Entwicklung eingetreten, weil die Auspendlerquote mit Zielorten außerhalb des Landkreises tendenziell weiter zunahm. Durch die räumliche Entfernung zum Industriezentrum ist der Kern- und Südbereich des Landkreis Helmstedt von der Stadtumlandentwicklung Wolfsburgs und Braunschweigs abgekoppelt. Für die zukünftige Landkreisentwicklungsplanung hat das die Konsequenz, daß sie von der tendenziellen Verlagerung von Betrieben aus diesen Stadtkernen in die Umlandbereiche nicht profitieren wird und daß infolgedessen die Pendlerquoten auch zukünftig weiter ansteigen werden, sofern sich der Bevölkerungsanteil des Landkreises Helmstedt nicht rückläufig entwickeln wird. 439 Siehe: Materialien zur Raumentwicklung, laufende Raumbeobachtung. Hrsg: Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung, Heft 47. Seite 3. 440 Siehe: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 20.03.1993. 441 Siehe: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 20.03.1992. - 168 - Aus dem Sachverhalt dieser Beurteilung heraus kann eine langfristige Stabilisierung des Mittelzentrums Helmstedt nur gelingen, wenn auch in Helmstedt eine kontinuierliche Stadtumlandentwicklung eingeleitet wird, von der der gesamte Landkreis profitieren könnte. Problematisch sind im Landkreis Helmstedt in erster Linie die wachstumsschwachen Branchen, (Montagebetriebe) in der die Unternehmensstruktur auf überwiegend produzierende Funktionen ausgerichtet sind, die langfristig hinsichtlich der Qualität der Arbeitsplätze eher eine weitere Vertiefung der Landkreisdiskrepanzen auslösen und in deren Konsequenz der tendenziell hohe Berufsauspendleranteil weiter ansteigen wird. 3.3.1.8 Ost-West-Verkehr und Lösungsansätze Angesichts des ungebrochenen Wachstums im Verkehr fordert das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin eine neue europäische Verkehrspolitik.442 Als Ursachen der Verkehrszunahme werden die Internationalisierung der Wirtschaft und steigende Zersiedelung genannt. Die Experten erwarten für 1995 ein Gesamtverkehrsaufkommen, das um 40% über dem von 1990 liegt. Sollte dies tatsächlich eintreffen und keine nennenswerte Verlagerung des Verkehrs auf die Schiene gelingen, so sind die mitteleuropäischen Autobahnen Mitte der neunziger Jahre gänzlich „dicht“. So existieren für die Zunahme des Güterverkehrs auf der Straße fundierte Prognosen, in denen aus verschiedenen Gründen ein 40%iger Anstieg gegenüber heute vorhergesagt wird. Im Raum Wolfsburg ist dieser Wert vor dem Hintergrund weiterer Zulieferbetriebe auf „Just-in-time“ Basis unbedingt ernst zu nehmen.443 „Schätzungen zufolge wird der Verkehr in Ost-West-Richtung über die bisherigen Grenzen zur ehemaligen DDR bis zum Jahre 2010 im Personenverkehr auf das Fünffache und im Güterverkehr auf das Vierfache ansteigen bezogen auf das Jahr 1989. Der Ost-West-Verkehrsstrom wird dann die gleiche Stärke aufweisen, wie künftig der Nord-Süd-Strom in den alten Bundesländern. Im niedersächsischen Grenzbereich hat der Verkehr bereits jetzt ein Ausmaß erreicht, das vielerorts zu Engpässen führt. Die Autobahn Hannover-Berlin ist inzwischen bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit belastet.“444 Als Gegenstrategien sollten hierzu Elemente der Verkehrsvermeidung durch die Erhöhung der realen Kosten und eine vorausschauende Gestaltung regionaler Raumstrukturen erfolgen. Um den räumlichen Auswirkungen zukünftig extrem ansteigender Mobilitätskosten und damit in der Konsequenz weitere regionale Entleerungstendenzen (wie vor der Grenzöffnung) entgegenzuwirken, sollte der Landkreis Helmstedt zum Beispiel die Chance von „Bedeutungsveränderungen der Branchen“ vorausschauend für die Landkreispolitik nutzen. Die Veränderungen einzelner Branchen zur verstärkten Tertiarisierung, durch den ein arbeitsmarktpolitischer Dezentralisierungsprozeß eingeleitet wird, entsteht, weil z. B. die Einführung neuer Kommunikationstechnologien auch eine räumliche Trennung verschiedener Betriebsfunktionen ermöglicht. Das setzt natürlich auch erhöhte Anforderungen an die Qualität der Gewerbeflächen und Standorte voraus. Von der Tertiarisierungstendenz der Wirtschaft wird als Region begünstigt, wo ein hoher Wohnund Freizeitwert vorzufinden ist. An diesen vorausschauenden Anforderungsmerkmalen sollte sich Kommunalpolitik vor Ort orientieren und diesbezüglich die Qualität der Flächen und Standorte 442 Siehe: Handelsblatt, 12.08.1993. Siehe: Dr. M. Wermuth. IVV Verkehrsforschung und Infrastrukturplanung, TU-Braunschweig, Positionspapier 1993, Seite 20. 444 Raumordungsbericht Niedersachsen, Hannover 1992, Seite 8. 443 - 169 - weiter auszubauen, damit ein Arbeitskräftereservoir auch unter veränderten Mobilitätsbedingungen im Landkreis gehalten werden kann. Weitere Lösungsansätze aufgrund der Stadt-Umland-Entwicklungen von Braunschweig und Wolfsburg zu den umliegenden Landkreisen erfordern einen gemeinsamen Planungsraum (Aufgabenbereich Zweckverband Großraum Braunschweig), der als diesbezügliche Zielvorstellung in etwa den Pendlereinzugsbereich durch die täglichen Wohn-, Arbeitsplatzbeziehungen näher analysiert. Planerisch geht es dabei um eher restriktiv wirkende Ordnungsaufgaben bei der Steuerung einer expansiven Siedlungs- und Infrastruktur-entwicklung. Die Ausarbeitung von gemeinsamen Flächennutzungsplanungen über Stadt- und Kreisgrenzen hinaus wäre erstrebenswert, indem Ober- und Mittelzentren Kooperationen für eine „flächenordnende“ Stadtumlandplanung im gegründeten Großraumverband entwickeln. Die Pendlerverkehrsströme aus Sachsen-Anhalt durch den Landkreis Helmstedt in Richtung Wolfsburg und Braunschweig haben durch die deutsche Vereinigung für den Landkreis eine erhebliche Vergrößerung des verkehrswirksamen Pendleraufkommens bewirkt. Im Zusammenhang mit dieser Pendleranalyse ist dazu anzumerken, daß für den Landkreis Helmstedt ein mittelfristig erforderlicher Verkehrsentwicklungsplan445 als zusätzlicher Lösungsansatz eingeleitet werden sollte. Die Erhöhung des verkehrswirksamen Pendleraufkommens und die gravierenden Mängeln in der Verkehrsinfrastruktur, wobei der Landkreis teilweise die Rolle eines Transitraumes erfüllt, kann durch eine zu erstellende verkehrspolitische Konzeption Zielrichtungen und wichtige Vorsorgemaßnahmen treffen, die in der Umsetzung stufenweise erfolgen sollten. Ein VEP könnte im ersten Umsetzungsschritt darin bestehen, umfangreiches Datenmaterial zu erfassen und zu definieren. Der VEP soll Möglichkeiten aufzeigen, wie die verschiedenen Verkehrsarten Fußgänger, Radfahrer, motorisierter Individualverkehr und öffentlicher Personennahverkehr an einer sinnvollen und effektiven Steuerung des vernetzten Gesamtverkehrssystems beitragen könnten. Die Planung beinhaltet z. B. das Aufzeigen von Möglichkeiten, unerwünschten oder unnötigen KfzVerkehr zu reduzieren, oder wie durch eine Kombination von Fahrrad- und Busnutzung (bike and ride) der ÖPNV stadtweit stärker genutzt werden kann. Es geht darum, mit einem Bündel von unterschiedlichen konkreten Maßnahmen, die parallel, aber koordiniert realisiert werden könnten, die negativen Auswirkungen des Kfz-Verkehrs abzubauen. Da der VEP fortschreibungsfähig ist, liegt der Nutzen auch darin, alle zukünftigen Ideen-ansätze zur Verbesserung der Verkehrsverhältnisse beurteilen zu können, also auch solche, die heute noch nicht einmal angedacht sind. Dabei kann z. B. beurteilt werden: - Auswirkungen von Modellen zur Systematik des ruhenden Verkehrs, - Auswirkungen der Verkehrserzeugung alternativer Standorte neuer Siedlungsstrukturen (Wohnen oder Arbeiten.), - positive und negative Auswirkungen von angedachten Investitionen in der Verkehrsinfrastruktur, - Auswirkungen eines Verkehrsarten etc. grundlegend anderen Zusammenwirkens der verschiedenen Mit dem VEP kann so bei weiterer Verschärfung der Verkehrsproblematik angemessen, fundiert, rationell und ausgewogen reagiert werden. Bei VW in Wolfsburg werden neben den schon lange üblichen Fahrgemeinschaften neuerdings Nahverkehrs-Sammelbusse angeboten. Diese dürfen die Werkstore passieren. Die Buspendler gewinnen eine halbe Stunde durch den Wegfall der langen Fußmärsche auf dem Werksgelände. Eine allgemeine Verbesserung der Lebenssituation könnte sich daher für alle in ihrer räumlichen Mobilität eingeschränkten Bevölkerungsgruppen, sowohl durch ein ihren Bedürfnissen angepaßtes 445 Anmerkung: Verkehrsentwicklungsplan im folgenden VEP genannt. - 170 - Verkehrsangebot, als auch durch eine gezielte Verringerung von Mobilitätszwängen als Folge raumstruktureller Änderungen bewirken lassen. Die Notwendigkeit für die Landkeisbevölkerung zu handeln, ergibt sich aus ökonomischen, städtebaulichen, ökologischen und gesellschaftlichen Gründen. Empfehlungen: - Die künftige Landkreispolitik sollte darauf hinwirken, den hohen Auspendlerüberschuß zu reduzieren. Die beruflichen Mobilitätsanforderungen von Arbeitnehmer/innen sollten bis auf eine vertretbare Restgröße abgebaut werden. - Diesbezüglich kann die kommunale Wirtschaftspolitik ein wichtiger Impulsgeber und Koordinator für Dezentralisierungsstrategien im Bereich „Arbeit und Wohnen“ sein. - Das Ziel einer Reduzierung der Ausspendlerquoten ist durch Ansiedlungen innovativer Unternehmen anzustreben. - Ein VEP mit begleitender Öffentlichkeitsarbeit und darin eingebundenen konkreten Verbesserungsmaßnahmen für den ÖPNV sollte erarbeitet werden. 3.3.1.9 Zusammenfassung Die hierzu entworfenen kombinierten Gliederungen nach Pendlerintensität und Hauptpendlerrichtungen (Aus- und Einpendlertabellen) machen wesentliche Strukturen und Entwicklungstendenzen wie z. B. die derzeit ausgeprägte Verteilung der Städte und Gemeinden mit kontinuierlich ansteigender Auspendlerorientierung Richtung Wolfsburg (und mit Abstand Braunschweig), sowie die Bewertung des innerregionalen Pendleraustausches zwischen den Städten und Gemeinden erkennbar. Auch die Konzentration der neuen Einpendler aus Sachsen-Anhalt konnte aufgrund aktueller Daten aufgezeigt werden. Diesbezüglich ergeben sich aus der Pendleranalyse folgende Schwerpunkte: Die anhaltend tendenzielle Verknappung von Arbeitsplätzen führte im Landkreis Helmstedt dazu, daß die Berufsauspendlergesamtzahlen in den Jahresvergleichen von 1970, 1987, 1991 und 1992 weiter zunahmen. Diese negativen Salden verdeutlichen exemplarisch die einseitigen Pendlerorientierungen aus dem wirtschaftlich strukturschwächeren Landkreis Helmstedt in den wirtschaftlich strukturbestimmenden Industriekern nach Wolfsburg und Braunschweig. Die Gesamtbilanz ergab, daß am 30. Juni 1992 als aktuellstem statistisch zur Verfügung stehendem Datum 51,7% beispielsweise 17.154 Personen der erwerbstätigen Landkreisbevölkerung als Auspendler einer Beschäftigung außerhalb des Landkreises nachgingen. Die ausgeprägtesten Hauptverflechtungen der Berufsauspendler bestehen zur Stadt Wolfsburg mit 11.302 und zur Stadt Braunschweig mit 3.619 berufstätigen Einwohnern aus dem Landkreis Helmstedt. Da aber nur 5.246 Personen mit einem Wohnsitz außerhalb des Landkreises arbeitstäglich einpendeln (davon 2.231 aus Niedersachsen und 3.015 aus Sachsen-Anhalt), hat der Landkreis Helmstedt ein Negativsaldo von 11.908 als Folge eines defizitären Arbeitsmarkt aufzuweisen. Diese Pendlerzahlen verdeutlichen, daß im Landkreis ein Arbeitsangebot im nicht aus-reichendem Maße vorhanden ist. Die interkommunalen Pendlerbewegungen innerhalb des Landkreises betragen insgesamt 7.340. Desweiteren zeigt diese Pendleranalyse deutlich auf, daß die Pendlerbeziehungen zwischen den Gemeinden des nördlichen und nordwestlichen Kreisgebietes mit den südlichen Gemeinden sehr gering sind. Man kann infolgedessen davon ausgehen, daß speziell der nördliche Landkreis eine - 171 - eigenständige Dynamik besitzt und eine interpretierte ökonomische Trennungslinie zwischen Nordund Südkreis gleichzeitig eine geographische Trennlinie darstellt. Es zeigte sich ferner, daß insbesondere die Samtgemeinde Velpke und die Einheitsgemeinde Lehre unter Zugrundelegung der Pendlerverflechtungen sozialökonomische Strukturdaten aufweisen, die in den funktionalen Beziehungen und Zuordnungen nicht auf den Landkreis Helmstedt ausgerichtet sind. 3.3.1.10 Szenario Zum Einpendleranteil aus Sachsen-Anhalt: - Der für den Landkreis Helmstedt gewonnene Bestand an Einpendlern aus Sachsen-Anhalt kann mittelfristig kaum gehalten werden, weil die dafür erforderliche ökonomische Infrastruktur im Landkreis nicht ausreicht, eine Bestandssicherung auf Dauer zu gewährleisten. - Wenn ein Teil der heutigen Einpendler die Einwohner von morgen sein sollten, wird dieses Potential an durchschnittlich jüngeren, qualifizierten und mobilen Arbeitsmarktgruppen mangels Arbeitsplätzen und Wohnraum den Landkreis Helmstedt nur als „Durchlauferhitzer“ oder „Etappenziel“ in Anspruch nehmen, um letztendlich in die ökonomisch bestimmenden Regionen umzusiedeln. - Sofern das neue Oberzentrum Magdeburg langfristig eine ökonomische Stabilisierung erfährt, wird unter Zugrundelegung des heutigen Bestimmungsfaktors einer anhaltend stagnierenden kommunalen Wirtschaftsentwicklung im Landkreis Helmstedt, sich die Saldodifferenz der Pendlerbewegungen aus dem Landkreis in die ökonomisch bestimmenden Zentren Braunschweig, Wolfsburg und zukünftig auch nach Magdeburg weiter orientieren und verfestigen. 3.3.2 Arbeitsangebot 3.3.2.1 Gesamtbeschäftigtenentwicklung Einen Überblick über die Beschäftigungsentwicklung von 1974 bis 1992 ist aus der Tabelle III. 2 der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im AA-Bezirk Helmstedt ersichtlich. Die zweite Rezession in der Bundesrepublik führte 1974/75 zu einer konjunkturellen Talfahrt, die mit einem etwas verzögerten Einbruch 1975 ihren vorerst tiefsten Beschäftigungsstand erreichte. Der Landkreis Helmstedt konnte nach dem Konjunkturaufschwung erst verspätet ab 1978 fast annähernd seinen durchschnittlichen Beschäftigungsstand von 1974 wieder erreichen. Die gleiche Entwicklungtendenz wiederholte sich in der dritten Rezessionsphase 1982/83 im Arbeitsamtsbezirk Helmstedt. Auch hier setzte die Talfahrt etwas verspätet ein, dafür verzögerte sich die Aufschwungentwicklung im Vergleich zu den Bundesländern und konnte sich erst ab 1986 deutlich stabilisieren. Im Landkreis Helmstedt konnte der verspätete Konjunkturaufschwung erst 1987 an Dynamik gewinnen wobei, der Landkreis durch die ökonomischen Folgewirkungen des politischen Einigungsprozesses Ende 1989 (Einheitskonjunktur), eine ausnahmebedingte und zeitlich befristete ökonomische Prosperität erfuhr. Die gegenüber dem Bundestrend verspäteten konjunkturellen Aufschwungphasen (ebenso in Wolfsburg und im Landkreis Gifhorn) zeigen die ungünstigen Branchenstruktur eines Automobilstandortes deutlich auf. Desweiteren sind die Ursachen einer besonderen - 172 - Wachstumsschwäche des Landkreises Helmstedt in der geringen Branchendichte mit ungünstigen Wettbewerbspositionen zu sehen. Für die jetzige vierte Rezessionsphase kann als Konsequenz vorheriger Konjunkturverläufe geschlossen werden, daß die momentane Konjunkturkrise mit ihrem insgesamt strukturellen Anpassungsprozeß den tendenziellen Zerfall traditioneller Produktionsstrukturen im verarbeitenden Gewerbe beschleunigen und sich dies auf die ökonomische Landkreisentwicklung auswirken wird, so daß sich die Beschäftigtenentwicklung ebenfalls wieder mit zeitlicher Verzögerung entwickelt, die dann aber dem rückläufigen Produktionsvolumen angepaßt sein wird. Diese Trendentwicklung deutet sich bereits durch die Beschäftigtenentwicklung für 1993 an: Erstmals seit 1989 gab es zum Stand Juni 1993 wieder einen Abbau sozialversicherungspflichtig Beschäftigter. Am 30.06.1993 wurden 135.321 Beschäftigte im Arbeitsamtsbezirk Helmstedt registriert, 6.199 oder 4,4% weniger als im Jahr zuvor.446 Das sind die ersten Auswirkungen der Rezession und der strukturellen Veränderung in einzelnen Wirtschaftsbereichen, besonders in der Automobilindustrie und deren Zulieferer. Außerdem ist davon auszugehen, daß zukünftige Wachstumsphasen auch überregional mit einer Entkoppelung von Wachstum und Beschäftigung (jobloses Wachstum) verstärkt geprägt sein werden. An der prognostizierten konjunkturellen Aufschwungphase ab vermutlich Ende 1994/Anfang 1995 in der Bundesrepublik Deutschland wird der Landkreis Helmstedt aufgrund der analysierten Strukturschwäche (die bis dahin keinesfalls überwunden sein wird), nur zeitverzögert, in einem geringen Mengenvolumen und nur ungenügend partizipieren können. Die Gesamtbeschäftigtenanzahl in nichtlandwirtschaftlichen Arbeitsstätten reduzierte sich im Vergleichszeitraum von 1970 bis 1987 (Volkszählbasis) im Landkreis Helmstedt auf insgesamt minus 13,5 Prozent. Vergleichsdaten im gleich Zeitraum: Niedersachsen +10,6 Prozent und Bundesrepublik insgesamt +6,8 Prozent.447 Um das Standortprofil des Landkreises näher zu bestimmen, soll auch die Entwicklung dezentraler ökonomischer Indikatoren auf Städte und Samtgemeindeebene mit herangezogen werden. Folgende Veränderungen ergaben sich für die Gesamtbeschäftigtenanzahl in nichtlandwirtschaftlichen Arbeitsstätten von 1970 bis 1987 in Prozent448. Stadt Helmstedt: Stadt Königslutter: Stadt Schöningen: Samtgemeinde Grasleben: Samtgemeinde Heeseberg: Samtgemeinde Nord-Elm: Samtgemeinde Velpke: Gemeinde Büddenstedt: Gemeinde Lehre minus minus minus minus minus minus minus minus minus 5,8 Prozent 12,4 Prozent 32,9 Prozent 18,9 Prozent 29,6 Prozent 17,1 Prozent 1,9 Prozent 8,6 Prozent 11,9 Prozent Insbesondere dem Südkreis ist eine bedenkliche Abwärtsentwicklung zu attestieren. Der langfristige Schrumpfungsprozeß ist vor allem kritisch, wenn der in dieser prozentualen Gesamtsumme mit enthaltene Dienstleistungsbereich ebenfalls deutlich stagniert. Das trifft speziell auf die Gemeinde Büddenstedt (-22,5 Prozent), die Stadt Schöningen (- 6,7 Prozent) und die Samtgemeinde Heeseberg (-17,8 Prozent) zu. 446 Siehe: Arbeitsamt Helmstedt. Arbeitsmarktberichte, Sonderheft 8/94. Seite 3. Siehe: Statistisches Bundesamt und Niedersächsisches Landsamt für Statistik, Hannover 1992. 448 Siehe: Niedersächsisches Landesamt für Statistik, Hannover 1989. 447 - 173 - Eine diesbezüglich positive Entwicklungstendenz des Dienstleistungsbereiches verzeichnet dagegen die Stadt Königslutter mit 35,7 Prozent aufgrund des Landeskrankenhauses mit ca. 670 Beschäftigten und des „Hotel-Park Königshof“ mit ca. 165 Beschäftigten. 3.3.2.2 Erwerbsbeteiligung „Geht man für die alten Bundesländer von einem geringfügigen Rückgang der Erwerbsquote nach 1990 aus, so liegt in jahresdurchschnittlicher Rechnung das Erwerbspersonenpotential des Jahres 1992 bei voraussichtlich 32,2 Millionen. Das wären dann 1,74 Millionen mehr als 1989, die aber vor allem in die Stille Arbeitsmarktreserve eingehen werden.“449 Ursache dieser Steigerungsrate war die erhöhte Zuwanderung aus den neuen in die alten Bundesländer, dessen bevorzugten Ziele vor allem die industriell verdichteten Regionen im Süden der Bundesrepublik waren. Aus den Volkszählungsdaten von 1987 geht für die Erwerbsbeteiligung (Bevölkerung nach der Beteiligung am Erwerbsleben vom 25.05.1987) hervor, daß die durchschnittliche Erwerbsquote im Landkreis Helmstedt bei Männern aufgrund der höheren Erwerbsneigung in den Gemeinden Lehre und Velpke (durch die hohe Zahl der Berufsauspendler), Grasleben und Nord-Elm, insgesamt mit 60,5 Prozent leicht über dem niedersächsischen Landesdurchschnitt von 59,8 Prozent lag. Bei Frauen im erwerbstätigen Alter hingegen lag die Landkreisquote mit 32,3 Prozent unter dem Landesdurchschnitt (insbesondere in Büddenstedt, Heeseberg und Schöningen) von 33,9 Prozent.450 Die Erwerbsbeteiligung erfaßt die gesamte im Erwerbsleben stehende Landkreisbevölkerung, die sowohl im, als auch außerhalb des Landkreises einer Erwerbstätigkeit nachgeht. Man unterscheidet hierbei sozialversicherungspflichtig Beschäftigte nach Arbeitsort (alle Personen, die in der Gemeinde beschäftigt sind, aber auch außerhalb wohnen können) und sozialversicherungspflichtig Beschäftigte nach Wohnort (allen Personen, die sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind und in der Gemeinde wohnen). Desweiteren wurde die sozialversicherungspflichtig Beschäftigte Landkreisbevölkerung, je-weils für Arbeits- und Wohnort, nach Städten und Gemeinden, Personengruppe und Merkmalsgliederung (Stand: 30.07.1992) einzeln aufgelistet, (siehe Tabelle III. 1). Diese im Landkreis Helmstedt bisher noch nicht aufgearbeitete Datenbasis vom Arbeitsamt Helmstedt bis auf die unterste Gemeindeebene bietet die spätere Möglichkeit, Anforderungs- und Bedarfsprofile zukünftiger Arbeitsmarktentwicklungen miteinander abzustimmen. Die Differenz zwischen den Arbeits- und Wohnortbeschäftigten (23.400 zu 35.533) zeigt hierbei den defizitären Arbeitsmarkt auf, in denn ein hoher Anteil der Erwerbsmöglichkeiten liegt außerhalb des Landkreises. In den Städten und Gemeinden Königslutter, Schöningen, Mariental, Querenhorst, Grasleben, Ingeleben, Jerxheim, Twieflingen, Velpke und Lehre übertrifft die Frauenbeschäftigung den Männeranteil. Die Gesamtsumme sozialversicherungspflichtig Beschäftigter nach Arbeitsort ist fast von einem „Patt“ geprägt: 12.178 Männer und 11.222 Frauen. Die der „Wohnbeschäftigten“ beträgt hierbei 21.779 zu 13.754. Die Frauenerwerbsbeteiligung lag am 30.06.1989 im Landkreis um 5,9% höher als im Bundesdurchschnitt, (siehe Ziffer 1 aus der Tabelle III. 4). 449 450 Institut der deutschen Wirtschaft (IW). In: Handelsblatt, 17.12.1992. Siehe: NIW, Niedersächsisches Institut für Wirtschaftsforschung e.V., Hannover 1992. - 174 - Mittlerweile liegt die Frauenerwerbsbeteiligung knapp unter dem Bundesdurchschnitt im Gegensatz zu den Männern, die aufgrund der Auspendlerorientierungen , insbesondere durch die Orte Velpke und Lehre, leicht darüber liegen. Im Landkreis ist eine etwas niedrigere Frauenerwerbsbeteiligung als im Bundesdurchschnitt, aber eine etwas höhere Frauenerwerbsquote anzutreffen, die sich durch den Auspendlerüberschuß erklärt. Darunter fällt auch die Teilzeitarbeit, die im Landkreis hauptsächlich von Frauen (3.407 zu 121 Männern) wahrgenommen wird. Aus der Merkmalsgliederung ist weiter entnehmbar, daß hinsichtlich des Bevölkerungsanteils mit Hochschul- und Fachhochschulabschluß der Landkreis einen beträchtlichen Rückstand aufzuweisen hat. Der Anteil von hochqualifizierter Berufsausbildung (Abschluß an höherer Fachschule, Fachhochschule, Hochschule und Universität) ist als Indikator für Arbeitsplätze mit vergleichsweise hoher Arbeitsplatzsicherheit zu interpretieren und weist diesbezüglich für den Landkreis aus, daß hierbei ein eindeutiges Defizit besteht. Günstiger ist die Position bei den mittleren Schul- bzw. Berufsabschlüssen, wie Realabschluß oder Anschluß von Berufsfach- und Fachschulen. 3.3.2.3 Bildungsangebot Das Bildungsangebot umfaßt im Landkreis Helmstedt 40 allgemeinbildende Schulen, darunter 19 Grundschulen, 2 Hauptschulen mit Orientierungsstufen, 2 Haupt- und Realschulen mit Orientierungsstufe, 2 Orientierungsstufen, 4 Realschulen, 2 Gymnasien und 1 reines Oberstufengymnasium. Des weiteren 4 Sonderschulen für Lernbehinderte und 1 Schule für geistig Behinderte. Dazu kommen eine berufsbildende Schule (Berufsschule in Voll- und Teilzeitform, 1 und 2 jährige Berufsfachschule) in Helmstedt, eine berufsbildende Steinmetzschule in Königslutter und die Bergberufsschule Büddenstedt der BKB AG in Helmstedt. Diese allgemeinbildenden Schulen im Landkreis verfügten am 01.09.1992 insgesamt über 479 Klassen, 712 Lehrkräfte und 10.191 Schülerinnen und Schüler.451 Neben dem Bildungszentrum für das Steinmetz- und Bildhauerhandwerk in Königslutter, der politischen Bildungsstätte in Helmstedt mit rund 18.000 Übernachtungen pro Jahr, der OskarKämmer-Schule in Helmstedt, der Teutloff-Schule in Königslutter und der Musikschule Helmstedt e.V., ist der zentrale Bildungskristallisationspunkt die Kreisvolkshochschule Helmstedt452 mit ihren vierzig Außenstellen. Mit einigen der genannten Bildungsträgern führt die KVHS Kooperationsprojekte, dazu zählen: - Braunschweigische Kohlen-Bergwerke AG, Helmstedt (berufliche Weiterbildung für die Mitarbeiter der BKB und weitere Projekte), - DTA Helmstedt (Weiterbildung für Teilnehmer und Ingenieure), - Teutloffschule Königslutter 451 Siehe: Statistische Berichte, Niedersächsisches Landesamt für Statistik. Kreisfreie Städte und Landkreise in Zahlen, Hannover 2/1994, Seite 18. 452 Anmerkung: Kreisvolkshochschule Helmstedt im folgenden KVHS genannt. - 175 - (Weiterbildung in Kooperation in Abendform). Als Kooperationspartner für die breit angelegte Bildungsoffensive der KVHS zählen: - Universität Hildesheim/Fernuniversiät Hagen Außenstelle KVHS Helmstedt (Studienzentrum) - KVHS 2000 Weiterbildungsangebote der KVHS Helmstedt, besonders im Bereich der beruflichen Bildung - Deutsche Angestellten Akademie Pädagogische Leitung von Weiterbildungsmaßnahmen in Helmstedt: KVHS Helmstedt - Betriebe, Verwaltungen des Landkreises Weiterbildung für Mitarbeiter im Rahmen der „Bildung auf Bestellung“ der KVHS Helmstedt - Verschiedene Maßnahmen nach Ziel 2 (Regionen, die von rückläufigen industrieller Entwicklung schwer betroffen sind) und Ziel 4 (Erleichterung der Anpassung der Arbeitskräfte an die industriellen Wandlungsprozesse /Veränderung der Produktionssysteme Europäischer Sozialfond). - Arbeitsamt Helmstedt (Verschiedene Auftragsmaßnahmen für Arbeitslose, Integrationskurse für besondere (Spätaussiedler)). Gruppen - Sozialamt des Landkreises Weiterbildung für Langzeitarbeitslose (Sozialhilfeempfänger) in Kooperation mit der KVHS Helmstedt (Konzeption und Durchfühung der Maßnahme). - Mütterzentrum Helmstedt Angebote für Frauen. Die Erwachsenenbildung der KVHS hat in den letzten Jahren eine bemerkenswerte Steigerung quantitativer und qualitativer Art erfahren, die mit einem neuen Verständnis von Erwachsenenbildung einher geht. So hat sich von 1985 bis 1992 die Zahl der Unterrichtsstunden in Helmstedt von 17.383 auf 34.872 erhöht, was einer Steigerung von 100% entspricht. Die Weiterbildungsangebote der KVHS sind im Landkreis Helmstedt zum bedeutsamen Faktor der wirtschaftlichen Entwicklung geworden. Hier sind in den letzten Jahren zukunftsweisende Investitionen vorgenommen worden, (CNC-Technik, EDV usw.), die es auch zukünftig auszubauen gilt, will der Landkreis nicht den Anschluß an die wirtschaftliche Entwicklung verlieren. So begreift sich die KVHS heute zunehmend auch als Wirtschaftsförderungsfaktor, um durch die Bereitstellung einer Bildungs- und sozialen Infrastruktur Betriebe zur Ansiedlung in Helmstedt zu motivieren. Man kann diese Bildungseinrichtung als einen effizienten weichen Standortfaktor im Landkreiswirtschaftsgefüge einordnen. Durch die Einrichtung weiterer EDV-Räume und die bereits zuvor durch institutionelle Förderung des Arbeitsamtes angeschaffte CNC-Maschine der KVHS, die in den Berufsbildenden Schulen installiert wurde, konnte dieser wichtige Weiterbildungsbereich auch entsprechend der großen Nachfrage ausgestattet werden. Seit Winter 1992/93 verfügt die KVHS auch über CAD-Ausbildungsplätze (computerunterstütztes Konstruieren) und ist damit in der Lage, bis zur CIM-Ebene (computerunterstütztes Konstruieren - 176 - bis zur computergesteuerten Produktion) Ausbildungen auf höchstem technischen Niveau anzubieten. Hauptsächlich aus diesen Gründen ist es gelungen, den im Landkreis überdurchschnittlichen Anteil unqualifizierter Arbeitnehmer zu reduzieren und damit die mittleren Qualifikationen zu stärken. Als eine spezifische Form der beruflichen Bildung an der KVHS ist abschließend die Errichtung eines Studienzentrums der Fernuniversiät Hagen/Universität Hildesheim in der KVHS im Februar 1991 zu erwähnen. Das Angebot der KVHS im Bereich der beruflichen Bildung wird damit bis zum Hochschulstudium komplettiert. Durch die Verzahnung mit der universitären Weiterbildung sind auch engere Verbindungen zur wissenschaftlichen Forschung möglich, die sich auf alle Bereiche, besonders aber auch auf die sich wandelnde berufliche Bildung auswirken. Diese ergebnisorientierten Aktivitäten rechtfertigen einen Einblick in die Finanzierungsproblematik: Daß all’ diese Aufgaben Geld kosten, ist unbestritten. Aber obwohl die KVHS Helmstedt in den letzten Jahren qualitativ und quantitativ ständig weiterentwickelt wurde, ist der kommunale Zuschußbedarf sowohl relativ als auch absolut stark gesenkt worden. Dies steht im Gegensatz zu allen anderen Volkshochschulen der Bundesrepublik, deren Zuschußbedarf ständig gestiegen ist und nach der neuesten DVV Statistik bei über 30% liegt. Dies bedeutet für 1993: 801.750 DM Zuschußbedarf, den die KVHS Helmstedt nach Bundesdurchschnitt bean-spruchen könnte. 349.000 DM tatsächlich eingeplanter Zuschußbedarf der KVHS Helmstedt. Einsparungen gemessen am Bundesdurchschnitt: 452.750 DM. Berücksichtigt man, daß die KVHS Helmstedt sowohl besonders arbeitsintensive Angebote (z.B. Ausbildungsgänge für Sozialhilfeempfänger bis hin zu arbeitslosen Diplomingenieuren) als auch Zusatzaufgaben (z.B. Universitäre Erwachsenenbildung/ Fernuni usw.) wahrnimmt und trotz ländlichen Raumes zu den großen Volkshochschulen gehört, wird dieses sehr gute Haushaltsergebnis noch deutlicher. Aber mittelfristig wird man nicht umhinkönnen, den Zuschußbedarf der KVHS zu erhöhen, um die Qualität der Aus- und Weiterbildung an der KVHS zu erhalten. 3.3.3 Erwerbslosenentwicklung 3.3.3.1 Einleitung Die Erwerbslosenquote ist ein Spiegelbild einer Region und eines Landkreises, aus der sich individuelle Chancen für Arbeitnehmer nach Arbeitsplatzsicherheit als Eckwert für relativ gesicherte Lebensabschnittsplanungen ableiten lassen. Auch die allgemeine wirtschaftliche Leistungkraft einer Region spiegelt sich in einer Arbeitslosenstatistik wieder. Die regionale Entwicklung der Arbeitslosigkeit ist sowohl ein wesentlicher Indikator der konjunkturellen, wirtschaftlichen und sozialökonomischen Veränderungen der Arbeits- und Lebensbedingungen der Bevölkerung als auch der raumstrukturellen Veränderung der Verteilung der Arbeitsplätze und der damit einher gehenden funktionalen Verflechtungen und Standortbeziehungen in den Teilräumen einer Region. Unterbeschäftigungsentwicklungen schlagen sich in einer entsprechenden Arbeitslosigkeit nieder. Allerdings ist dabei zu berücksichtigen, daß sich Beschäftigungsverluste nicht unmittelbar in den Arbeitslosenquoten wiederfinden. Die Beziehung zwischen Beschäftigungs- und Arbeitslosigkeit ist vielmehr durch die demographische Entwicklung, das Verhalten der Betroffenen oder durch entlastende Maßnahmen der Arbeitsverwaltung geprägt. Arbeitslosigkeit ist das beherrschende Schwerpunktthema gesellschaftlicher Problemstellungen der 80er und 90er Jahre. Seit sich die Anzahl gemeldeter und registrierter Arbeitsloser gegenüber den - 177 - 70er Jahren versechsfacht und sich auf einen Stand von deutlich um teilweise auch über 3,5 Millionen einpendelte, ist sie zunehmend in den Mittelpunkt des wirtschafts- und sozialpolitischen Interesses gerückt. Infolgedessen erscheint es notwendig, den Entwicklungsverlauf der Unterbeschäftigung zunächst abweichend von der Landkreisentwicklung auch überregional zu skizzieren und im folgenden zu untersuchen. 3.3.3.2 Strukturen des Arbeitslosenbestandes Eine unterschiedliche Betroffenheit einzelner Bevölkerungsgruppen durch das Problem der Arbeitslosigkeit besteht in der Bundesrepublik jedoch nicht nur hinsichtlich ihrer regionalen Verteilung. Sowohl das Beschäftigungsrisiko als auch die Chancen zur Einstellung werden darüber hinaus durch eine Reihe persönlicher Merkmale beeinflußt, wie Alter, Geschlecht, Gesundheitszustand sowie vor allem auch durch die erworbenen beruflichen und betrieblichen Qualifikationen. Die dringend notwendige genauere Betrachtung des Arbeitsmarktes erfordert von daher differenzierungen, wobei die unterschiedlichen Dimensionen des Problems der Unterbeschäftigung beachtet werden müssen: die soziale Dimension, da Arbeitslosigkeit für die Betroffenen fast immer mit großen finanziellen und psychischen Problemen verbunden ist; sowie die ökonomische Dimension, da Arbeitslosigkeit immer die Unterauslastung des „Produktionsfaktors Arbeit“, d.h. Verzicht auf an sich mögliche Produktion und Wertschöpf-ung bedeutet; sowie nicht zuletzt die finanzielle Dimension, die in der wachsenden Belastung der Kassen der Arbeitslosen- und Sozialversicherungen sowie der öffentlichen Haushalte durch notwendige finanzielle Unterstützungsleistungen zum Ausdruck kommen. „Bei steigendem Niveau und zunehmender Dauer der Unterbeschäftigung führen Selektionsprozesse zu einer Strukturalisierung des Arbeitslosenbestandes. In Niedersachsen weist der überproportionale Anteil an Langzeitarbeitslosen besonders bei Frauen auf unzureichenden Umschlag auf dem Arbeitsmarkt hin. Als Folge davon sind in Niedersachsen im Vergleich zum Bundesdurchschnitt Frauen wesentlich stärker als Männer, Arbeitskräfte am Anfang und Ende ihres Arbeitslebens sehr viel stärker als in mittleren Jahren von der Arbeitslosigkeit betroffen. Darüber hinaus steigt das Beschäftigungsrisiko mit sinkender beruflicher Qualifikation in Niedersachsen überproportional an.“453 Risiken und Chancen am Arbeitsmarkt sind damit in sozialer Hinsicht in der Bundesrepublik in hohem Maße ungleich verteilt, vor allem bei länger anhaltender Unterbeschäftigung führen sie dabei zu beobachtenden Selektionsprozessen (die sogenannte „Dynamik der Arbeits-losigkeit“454) und zu einer Strukturalisierung des Arbeitslosenbestandes, die die unter-schiedliche Betroffenheit der einzelnen gesellschaftlichen Gruppen durch das Problem der Unterbeschäftigung weiter verstärkt. Diesbezüglich sind vor allem diejenigen Arbeitsmarktgruppen besonders negativ betroffen, die auch aus bekannten Gründen sozial benachteiligt sind: Ältere Arbeitnehmer, Jugendliche, Frauen und Arbeitnehmer mit gesundheitlichen Einschränkungen. Neben den aufgelisteten Faktoren erscheint das Risiko der Erwerbslosigkeit je nach persönlichen und beruflichen Qualifikationen sowie nach der jeweiligen Arbeitsmarktsituation äußerst unterschiedlich. Der rasche berufstrukturelle und qualifikatorische Wandel sowie die langanhaltende hohe Arbeitslosigkeit seit Anfang der 80er Jahre haben immer mehr Arbeitnehmer mit geringen oder nicht mehr nachgefragten bzw. veralteten beruflichen Qualifikationen für längere Perioden bzw. auch dauerhaft aus dem Beschäftigungssystem herausgedrängt. So lag die durchschnittliche Dauer der bisherigen Arbeitslosigkeit Ende September 1991 im Bundesdurchschnitt bei 13,4 Monaten und in Niedersachsen sogar 14,4 Monaten. Mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit verlieren die Arbeitslosen aber objektiv oder doch zumindest subjektiv 453 454 Jung, H.-U. Der Arbeitsmarkt in Niedersachsen. Hannover 1983. Seite 19. Siehe: Freiburghaus, D. Dynamik der Arbeitslosigkeit, Meisenheim am Glan 1978. S. 48 ff. - 178 - immer stärker allgemeine und berufliche Qualifikationen, so daß ein Wiedereinstieg in das Beschäftigungssystem zunehmend schwieriger wird. Die „kritische Schwelle“ wird bei einer Dauer der Arbeitslosigkeitsperiode von etwa einem Jahr gesehen. Diese Langzeitarbeitslosigkeit hat beträchtliche Ausmaße angenommen. Von den Arbeitslosen im September 1991 waren in Niedersachsen etwa 70.000 oder 30% (im Bundesgebiet 28%) länger als ein Jahr arbeitslos, etwa 38.000 oder 16% (im Bundesgebiet 15%) sogar länger als zwei Jahre. So hat sich in den letzten Jahren die Situation auf dem Arbeitsmarkt für einige Bevölkerungsgruppen extrem verschlechtert, so für die Langzeitarbeitslosen, die kaum in neue Beschäftigungsmöglichkeiten vermittelt werden können. Rund ein Drittel aller Arbeitslosen zählen dazu. Auch für ältere Arbeitslose und für Personen mit gesundheitlichen Einschränkungen gibt es am Arbeitsmarkt selbst bei positiver Gesamtentwicklung kaum noch Beschäftigungschancen. Ein anderer Aspekt ist das allgemeine Erwerbsverhalten: Auf das Erwerbsverhalten wirken eine Vielzahl von Faktoren ein, wie Bildung, Ausbildungsdauer, Altersstruktur, Familienstand, Kinderzahl, Arbeitsbedingungen, Lohnhöhe, Familieneinkommen, Stellung der Frau in Beruf und Gesellschaft, Renteneintrittsalter usw. Auch hinsichtlich der Beobachtung und Analyse von Entwicklungstendenzen regionaler Arbeitsmärkte wird die Arbeitslosigkeit zunehmend eine immer wichtigere Aufgabe der regionalenwirtschaftlichen Strukturforschung. 3.3.3.3 Unterschiedliche Aspekte der Arbeitslosenstatistik „Im Zentrum der politischen Auseinandersetzung steht die Arbeitslosenstatistik der Bundesanstalt für Arbeit“.455 In den offiziellen Zahlenanalysen wird grundsätzlich die „stille Reserve“ nicht berücksichtigt. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit versteht unter stiller Reserve den Teil des Erwerbspersonenpotentials, der weder erwerbstätig noch bei den Arbeitsämtern als arbeitslos gemeldet ist, weil die Möglichkeit der Vermittlung einer Arbeit als zu gering eingeschätzt wird.456 Diese Personen würden aber erfahrungsgemäß bei einem konjunkturellen Aufschwung und verbesserten Verhältnissen auf dem Arbeitsmarkt um einen Arbeitsplatz nachsuchen457 und gegebenenfalls auch finden. Diese Definition „stille Reserve“ weist somit jene Arbeitssuchende auf, die sich z.B. aufgrund fehlender Leistungsansprüche nach dem Arbeitsförderungsgesetz nicht oder nicht mehr arbeitslos melden und daher in der Statistik „verschwinden“, bzw. jene Personengruppen, die aufgrund negativer Arbeitsmarktverhältnisse auf eine Erwerbsbeteiligung verzichten müssen, die aber bei Besserungstendenzen - auch statistisch erfaßbar - wieder auf dem Arbeitsmarkt in Erscheinung treten. So kamen 1982 im Bundesdurchschnitt zu den 1,8 Mio. registrierten Arbeitslosen noch einmal 950.000 Arbeitssuchende aus dieser stillen Reserve hinzu. Auch in ihren „Überlegungen II, zu einer vorausschauenden Arbeitsmarktpolitik“, geht die Bundesanstalt für Arbeit auf die statistische Definition der nicht beschäftigten Erwerbsper-sonen ein und unterscheidet zwischen „registrierten Arbeitslosen“ und der „stillen Reserve“ 458 455 Westerhoff, H.D. Probleme der Arbeitslosenstatitik, Düsseldorf 1982.Seite 103. Siehe: Institut der deutschen Wirtschaft. Zur Defination der "Stillen Reserve" und einer Beschreibung der Personenkreise, die dazugerechnet werden vgl. u.a. Brinkmann, Ch. und .Reyker, L.,Erwerbspersonenpotential und Stille Reserve. "Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt-und Berufsforschung" Jg.18 (1985), S.7 ff. 457 Siehe: Eine andere Definition der Stillen Reserve findet sich bei Lankau, J. und Lankau-Hermann M.: Die Rückkehr von Frauen in den Beruf. Arbeitsmarktperspektiven und Wirtschaftseingliederungsstrategien. Deutscher Beitrag zu einer vergleichenden Studie in der Bundesrepublik Deutschland. Frankreich, Großbritannien und den Vereinigten Staaten von Amerika, Teil 1, Bonn 1978. S.73 ff. 458 Siehe: Bundesanstalt für Arbeit. Überlegungen II - zu einer vorausschauenden Arbeitsmarktpolitik. Nürnberg 1978. Seite 25. 456 - 179 - Die stille Reserve wurde hierbei bezeichnet als eine „gesamtwirtschaftlich nicht registrierte Arbeitslosigkeit (die) jenen Teil des vorhandenen Potentials an Erwerbspersonen (erfaßt), der weder erwerbstätig noch bei den Arbeitsämtern arbeitslos gemeldet ist.“459 Die Tendenz zur allgemeinen Unterschätzung der weiblichen Arbeitslosigkeit durch den hohen Anteil in der stillen Reserve wird auch aus der Ziffer 11 der Tabelle III. 6.1.4 ersichtlich. Die offiziellen Arbeitslosenzahlen der Bundesanstalt für Arbeit werden auch von U. Engelen Kefer, ehemalige Vizepräsidentin der Bundesanstalt und stellvertretende DGB-Vorsitzende in Frage gestellt.460 E. Mann, Pressesprecher der Bundesanstalt für Arbeit bestätigt: „In unsere reguläre Arbeitslosenstatistik gehen einzig die im Arbeitsförderungsgesetz definierten Arbeitslosen ein. Jene, die der Vermittlung ohne Wenn und Aber zur Verfügung stehen.“461 So stieg im Februar 1993 die offizielle Erwerbslosenanzahl auf 3,47 Millionen an (2,29 Millionen in den alten und 1,18 Millionen in den neuen Bundesländern). Doch diese Gesamtanzahl stellt nicht mal die Hälfte der tatsächlichen Arbeitslosen, weil mehr als sieben Millionen registriert sind.462 Vollkommen unberücksichtigt bleiben auf Grund dessen (Stand: Ende Januar 1993) folgende Arbeitsmarktgruppen: - 84300 Arbeitslose, die 58 Jahre und älter sind. Ihnen wird unterstellt, daß sie nicht mehr vermittelbar sind, - 756000 arbeitslose Bezieher von Vorruhestandsgeld in West- und Ostdeutschland und Altersübergangsgeld ab dem 55. Lebensjahr in den neuen Bundesländern; - 388400 arbeitslose Teilnehmer von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) davon 63400 in West- und 325000 im Ostdeutschland. - 802600 Teilnehmer an Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen (F+U). - Auf 1,7 Millionen Personen schätzt die Bundesanstalt die „Stille Reserve“. Sie sind der Arbeitsverwaltung ganz offiziell bekannt, auch wenn sie bei ihr weder als Arbeitsuchende noch als Leistungsempfänger registriert sind.463 Zu den von der Statistik offiziell ausgewiesenen 3.468.600 kommen also nochmals 3.731.300 inoffizielle Arbeitslose hinzu. Ein anderer Aspekt ergibt sich aus dem Problemen mit der Arbeitslosenstatistik aus dem Erhebungskonzept der Bundesanstalt für Arbeit. Die dabei angewendete Systematik führt zu Verzerrungen: „Arbeitslose und abhängige Erwerbstätige werden nämlich nach dem Wohnortprinzip erhoben; d.h. die Erwerbspersonen werden den Arbeitsamtsbezirk, in dem sie wohnen, zugerechnet. Die für die Arbeitsamtsbezirke berechnete Arbeitslosenquote ist folglich so konstruiert, daß den von der jeweiligen Arbeitsverwaltung zu betreuenden Erwerbslosen im Nenner der gesamte potentielle "Klientenkreis" gegenübergestellt wird. Sie beantwortet also keineswegs die ökonomisch interessante Frage nach dem Entstehungsort der Arbeitslosigkeit und dem tatsächlichen regionalen Beschäftigungsstand.“464 459 Bundesanstalt für Arbeit. Überlegungen II dto. Nürnberg 1978. Seite 23. Anm. 1. Focus, 15.03.1993, Nr. 11, Seite 46. 461 Ebenda, Nr. 11, Seite 46. 462 Siehe: Ebenda, Seite 46/47. 463 Siehe: Ebenda, Seite 46. 464Westerhoff, H.D. Probleme der Arbeitslosenstatistik. 1982, Seite 128. 460 Siehe: - 180 - „So kann angesichts der Tatsache, daß die Arbeitslosigkeit wohnortbezogen erfaßt wird, bei einer arbeitsortsbezogenen Erfassung die Arbeitslosenquote durchaus in Regionen ansteigen, die eine Beschäftigungskonzentration aufweisen.“465 Das hätte regional bezogen für die Dienststellen Wolfsburg aufgrund der dort vorherrschenden hohen Einpendlerüberschüsse die Konsequenz einer extrem höheren ausgewiesenen Arbeitslosenquote. Es ist davon auszugehen, daß die rasante Produktivitätsfortschrittstwicklung die Kluft auf dem Arbeitsmarkt nochmals extrem verschärfen wird. Daimler-Vorstandsvorsitzender E. Reuter sieht diesbezüglich die Dynamik der Veränderung in der zukünftigen Arbeitsorganisation mit der Konsequenz ca. sechs Millionen Arbeitslosen, ausgehend von der offiziellen Arbeitslosenstatisik.466 Zählt man die inoffiziellen Arbeitslosen hinzu, kämen nach dieser Prognose eine Gesamtanzahl in einer Größenordnung zustande, die vermutlich an den Grundwerten unseres Sozialstaates, ja möglicherweise sogar an der politischen Verfassung in diesem Land schlechthin rütteln. Langzeitprognosen zur Arbeitsmarktsituation in der Bundesrepublik Deutschland gehen davon aus, daß über die Jahrtausendwende hinaus von über 3,5 Millionen offiziell registrierten Arbeitslosen, das heißt von einer rechnerischen Lücke von 6 Millionen Arbeitsplätzen, auszugehen sei. Wenn man Statistiken nicht schönt, wird die Arbeitslosenzahl 1994 etwa sechs Millionen erreichen. Unter der Annahme sinkender Steuereinnahmen erscheint auch die Finanzierbarkeit des Arbeitslosengeldes auf Dauer gefährdet zu sein. Das Meinungsforschungsinstitut „Infas“ ermittelte im Auftrag der ARD im Dezember 1993 folgendes Einstellungsverhalten: Danach sind die Bundesbürger in ihren konkreten persönlichen Perspektiven für die Sicherheit des eigenen Arbeitsplatzes stark verunsichert. Vier von zehn Deutschen sehen ihren eigenen Arbeitsplatz als gefährdet an. Daß ihre Angst vor Arbeitslosigkeit wächst, geben insgesamt 22 Prozent an, während es vor einem Jahr 15 und vor zwei Jahren 10 Prozent waren.467 Trotz der ökonomischen Rezession und der dramatisch steigenden Zahl von Erwerbslosen wird es (zur Zeit) weder von der Bundesregierung, noch von der Niedersächsichen Landesregierung ein dringend benötigtes Konjunkturprogramm geben. Diesbezügliche Erklärung der Landesregierung: Angesichts der Haushaltslage sei ein Programm wie in Hessen nicht finanzierbar, äußerte A. Tacke, Staatssekretär im Wirtschaftsministerium.468 Ein anderer überregionaler Gesichtspunkt mit lokalen Auswirkungen ist die spürbare Veränderung der Arbeitsorganisation in firmenspezifische Stammbelegschaftsund Randbelegschaftsarbeitsplätzen: Um den Kern einer höher qualifizierten angestellten Dauerbeschäftigung der Stammarbeitnehmerschaft bildet sich eine durch Personalplanungsstrategien verursachte Randbelegschaft, die in der Regel niedriger qualifiziert ist und stark fluktuiert. Die Rekrutierung der Randbelegschaft erfolgt verstärkt auf der Basis von „Heuern und Feuern“. Sie ist unmittelbar abhängig von den Marktchancen des Unternehmens, beispielsweise den 465 Siehe: Klemmer, P. Abgrenzung von Fördergebieten für die regionale Wirtschaftspolitik, Wirtschaft und Standort, Frankfurt a.M. 1979, Seite 12. 466 Siehe: Süddeutsche Zeitung, 26.06.1993. 467 Siehe: Frankfurter Rundschau, 23.12.1993, Seite 10. 468 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 08.06.1993. - 181 - Veränderungen der jeweiligen ökonomischen Situation. Hauptsächlich ist die Randbelegschaft der „Träger“ des beschäftigungspolitischen Arbeitsplatzrisikos. Zwei Arbeitsmarkttendenzen lassen sich in Folge dessen ausmachen: Über die Hälfte aller neuen Arbeitsplätze fallen bereits in die Kategorie Randbelegschaftsarbeitsplätze und die Tendenz innerhalb bestehender Arbeitsplätze verlagern sich vom Kern zur Peripherie und zeigen in diesem Bereich die bereits jetzt erkennbare Erosion von Normalarbeitsverhältnissen exemplarisch auf. Insbesondere die Beschäftigungsstruktur der Wirtschaft im Landkreis läßt aufgrund des vorher analysierten Wirtschaftsgefüges von vorwiegend einfacheren und standardisierten Fertigungstätigkeiten, hoher Zweigwerkkonzentration mit einem unterdurchschnittlich niedrigen Lohn- und Gehaltsniveau in ihrer Gesamtheit die Annahme von überdurchschnittlichen Randarbeitsplätzen zu. Die Strukturdaten dieser Arbeitsmarktanalyse bestätigen die Annahme von Segmentierungsstrategien insofern, weil Arbeiter die Hauptbetroffenen der neuesten Entwicklung im Gegensatz zu den meisten Angestellten, die ihre betriebliche Position im Landkreis Helmstedt (noch) einigermaßen halten konnten. Aus dem Sachverhalt kristallisiert sich ferner eine „gespaltene Arbeitsgesellschaft“ mit einem bevorzugten Kern und einem vernachlässigten Rand heraus. Die Arbeitslosenhöhe als Auswirkung bestehender, zuvor aufgezeigter ökonomischen Disparitäten, zeigt durch den Arbeitsmarkt das Ausmaß der Strukturproblem in einer Region exemplarisch auf. Vor diesem Hintergrund wird im folgenden Höhe und Ausmaß der Arbeitslosigkeit sowie die Struktur und deren längerfristigen Entwicklungstendenzen dargestellt. 3.3.3.4 Ausmaß und Entwicklung der Arbeitslosigkeit Seit 1974 ist das wirtschaftspolitische Ziel der Vollbeschäftigung, wie es das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz vorsieht, nicht erfüllt. Damals stieg die Zahl der registrierten Arbeitslosen erstmals auf über 1 Million; in der Folgezeit sank sie nur unzureichend. Dramatisch spitzte sich das Problem in den Jahren 1981 und 1982 zu, als sich mit Steigerungsraten von 43 und 44 Prozent die Arbeitslosenzahl fast verdoppelte und noch einmal um ca. 1 Mio. zunahm. Ursache dieses negativen Entwicklungsverlaufes war die vorletzte Rezession von 1980, welche die Arbeitlslosenzahl mit 0,9 Millionen bis 1983 auf fast 2,3 Millionen anstiegen ließ und sich damit innerhalb kürzester Zeit fast verdreifachte. In der ersten Hälfte der 80er Jahre verharrte die Zahl der Arbeitslosen nahezu unverändert auf einem Niveau von etwas über 2 Millionen. Erst seit dem Herbst 1984 zeigten sich erste Besserungstendenzen auf dem Arbeitsmarkt, der sich trotz Hochkonjunktur aufgrund der Sockelarbeitslosigkeit auf ein konstant hohes Niveau der Arbeitslosigkeit stabilisierte. Dieses Verharren der Arbeitslosenzahlen auf einem hohen Niveau und die teilweise Abkopplung der Wirtschaftskonjunktur vom Arbeitsmarkt (Sockelarbeitslosigkeit), stellt gleichzeitig die regionale Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik vor kaum lösbare Aufgaben, 469 auch unter der Annahme, daß in den kommenden Jahren mit einer extremen Erhöhung dieser Unterbeschäftigung gerechnet werden muß. Disparitäten regionaler Arbeitsmarktentwicklung werden noch sichtbarer, wenn Vergleichswerte von Bundesland zu Bundesland und Unterscheidungsmerkmale der verschie-denen Raumordnungsregionen herangezogen werden; Fallbeispiel für 1984: In hochverdichteten Regionen des Bundesgebietes betrug die durchschnittliche Arbeitslosenquote 9%, in Regionen mit Verdichtungsansätzen 10,5% (dazu zählt auch der Landkreis Helmstedt mit 10,9%) und die Region Südostniedersachsen lag mit 12,5% höher als die meisten Bundesländer, 469 Siehe, Friedrich,W. Arbeitsmarktwirkungen moderner Technologien. ISG-Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik,. Bundesanstalt für Arbeit (Hrsg.) In: Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, 94. Nürnberg 1986, Seiten 28.ff. Bd. - 182 - wie z.B. Nordrhein-Westfalen 11,8 %; Hessen 8,1%, Bayern 9,5% und Baden-Württemberg mit 6,2%. Aus den letzten Prozentzahlen kristallisiert sich bereits eine Entwicklungstendenz heraus, die in der öffentlichen Diskussion als „Süd-Nord-Gefälle“ Einzug erhalten hat. Historische Aspekte der unmittelbaren Nachkriegszeit trugen in ihrer Gesamtheit dazu bei, eine „Süd-Nord-Diskrepanz“ zu verfestigen. Die Tabelle III. 6.1.4 „Arbeitsmarkt und betriebliche Ausbildung“ von der Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung, zeigt die regionale Verteilung des Arbeitsmarktes auf der Ebene von Raumordnungsregionen exemplarisch auf. Das viel zitierte Süd-Nord-Gefälle wird hier deutlich sichtbar und zwar sowohl bei der Arbeitslosenquote, als auch beim Anteil der Dauerarbeitslosigkeit. Letztere Strukturdaten sind aber auch in den ostbayerischen Grenzregionen von sehr ausgeprägter Bedeutung und weisen auf Strukturprobleme auch innerhalb des ansonsten prosperierenden Südens hin. Aus der Tabelleninterpretation ist entnehmbar, daß die Süd-Nord-Kontraste in der Beschäftigungsund Arbeitslosenentwicklung auf die größere Anzahl von Betrieben in Süddeutschland zurückzuführen ist, die vom Strukturwandel begünstigt wurden und besser im Markt lagen als die Konkurrenz im Norden der Republik. Es ist zu vermuten, daß auch weiterhin ein Süd-Nord-Gefälle der Arbeitsmarktprobleme in den alten Bundesländern bestehen bleiben wird. Insbesondere stellte sich das Arbeitsplatzangebot für qualifizierte und berufsorientierte Arbeitsmarktgruppen im Süden bis zur vierten Rezession günstiger dar. Mittelfristig wird dieses Gefälle allerdings abnehmen. Zum Beispiel wachsen die Standortnachteile in süddeutschen Ballungszentren und es gibt außerdem Indikatoren für eine steigende Konkurrenzfähigkeit norddeutscher Wirtschaftsstandorte. Zu nennen wäre hier insbesondere die europäische West-Ost-Wirtschaftsachse, von der auch der Landkreis Helmstedt langfristig beurteilt erheblich profitieren könnte. „Das Land Niedersachsen gehört von je her zu den Regionen im Bundesgebiet, die überdurchschnittlich von der Arbeitslosigkeit betroffen sind. Lag die Arbeitslosenquote zu Beginn der sechziger Jahre noch etwa 0,5 % - Punkte und im Verlauf der Rezession 1974/75 etwa 1% Punkt über dem Bundesgebiet, so hat sich der Abstand im Verlauf der letzten Jahre kontinuierlich auf über 2% - Punkte vergrößert.“470 Längerfristiger Entwicklungsverlauf Die Arbeitsmarktproblematik in Südostniedersachsen hat, neben seiner derzeitigen permanenten Höhe und diesbezügliche Auswirkungen auf bestimmte Arbeitsmarktgruppen, aufgrund seines langfristigen Charakters eine negative Tradition. Tatsache ist, daß die Region bereits seit 1953 zu den Gebieten gehört, die im Bundesvergleich eine überdurchschnittlich hohe und andauernde Arbeitslosigkeit verzeichnete: 1953 betrug die Arbeitslosenquote im Bundesdurchschnitt 5,5%, in Helmstedt und Wolfsburg 7,8%, in Braunschweig und Salzgitter 9% und als Vergleichswert in Baden-Württemberg mit 2,4%. Damit bestand bereits zu diesem anderen Teilen der Bundesrepublik das heute oft zitierte Süd-NordGefälle im Hinblick auf die räumliche Verteilung der Arbeitsmarktprobleme.471 Dieser Sachverhalt deutet für sich genommen auf eine strukturelle Schwäche der hiesigen Wirtschaft hin, die sich bereits in den 50er Jahren abzeichnete. Auch die erste größere Rezession der Nachkriegszeit von 1966/67 traf die Region Südostniedersachsen aufgrund der Automobilmonostruktur überdurchschnittlich mit 2,1%, in Niedersachsen mit 3,0% und in den 470 Jung, H.-U. Der Arbeitsmarkt in Niedersachsen, In:Tätigkeitsbericht des Niedersächsichen Institut für Wirtschschaftsforschung e.V., Hannover 1989, Seite 19. 471 Siehe: Becher, G. Das Gefälle und internationale Arbeitsteilung und die Krise der Regionalpolitik, Braunschweig 1986, s.32 ff. - 183 - Dienststellen des Arbeitsamtsbezirkes Helmstedt in Gifhorn mit 3,6%, in Helmstedt ebenfalls überdurchschnittlich mit 3,6% und in Wolfsburg mit 1,9%.472 Bis Anfang der 70er Jahre zeigten sich im Bundesland Niedersachsen regionale Beschäftigungsprobleme mit hoher Ausprägung, speziell in den traditionell strukturschwachen, ländlich peripheren Gebieten.473 Davon ist auch der Landkreis Helmstedt direkt betroffen gewesen. Erst die überregionale Vollbeschäftigungsphase mit Beginn der 70er Jahre konnte die Beschäftigungsdisparität allmählich abbauen. Mit diesem „Arbeitslosensockel“ bekam in der zweiten Hälfte des Jahres 1973 bis 1975 die Auswirkungen der weltweiten Rezession auch die Bundesrepublik Deutschland tiefgreifend zu spüren: So belief sich im Jahresdurchschnitt 1975 die Arbeitslosenquote im Arbeitsamtsbezirk Helmstedt 7,4%, in Niedersachsen 5,5% und im gesamten Bundesdurchschnitt 4,7%.474 Es bleibt festzuhalten, daß die Entwicklungstendenz eines Süd-Nord-Gefälles auch auf einen diesbezüglich gespaltenen Arbeitsmarkt zutrifft und daß dieser aufgrund seines langfristigen „Charakters“ eine beunruhigende Dimension angenommen hat, die in der Vergangenheit in Niedersachsen und im besonderen die Region Südostniedersachsen nicht immer im ausreichendem Maße beachtet wurde. Auch der Landkreis Helmstedt gehört zu den Landkreisen mit einem Sockel von überdurchschnittlich hoher Arbeitslosigkeit. Während sich im Bundesdurchschnitt 1984 die Arbeitslosenzahlen auf einem hohen Niveau stabilisierten (8,6%), stieg in der Region Südostniedersachsen die Zahl der Arbeitslosen weiterhin überproportional an: Setzt man die Bundesentwicklung gleich 100, stieg die Anzahl der Arbeitslosen 1984 gegenüber 1983 im Arbeitsamtsbezirk Braunschweig um 9,3% und im Arbeitsamtsbezirk Helmstedt sogar um 9,6%. Umgekehrt ist in diesem Zeitraum in fast allen süddeutschen Arbeitsamtsbezirken die Zahl der Arbeitslosen deutlich rückläufig. Damit bestätigte sich die Trendentwicklung, daß die Region Südostniedersachsen von der Arbeitsmarktentwicklung in anderen Bundesgebieten der Bundesrepublik in noch stärkerem Maße weiter abgekoppelt wurde.475 Die süddeutsche Wirtschaftsprosperität zeigt eine deutlich unter dem Bundesdurchschnitt (alte Bundesländer) verlaufende Arbeitslosenquote als Ergebnis einer überdurchschnittlichen Beschäftigungsentwicklung auf. Um diese Diskrepanz des Süd-Nord-Gefälles zu illustrieren, sind in der Tabelle III. 6.1.4 auch die Bundesländer Bayern und Baden-Württemberg im Raumvergleich aufgeführt worden. Der tendenzielle Beschäftigungszuwachs in Niedersachsen von 1987 bis 1991 ging in fast allen Landkreisen und kreisfreien Städten mit einer Abnahme der Arbeitslosenzahlen einher. Den stärksten Rückgang hatte Westniedersachsen, dagegen war der Rückgang der Arbeitslosigkeit in Südostniedersachsen relativ schwach ausgeprägt, trotz eines zum Teil hohen Beschäftigungszuwachses.476 Das Ausmaß der Arbeitsmarktungleichgewichte ist in den einzelnen Landesteilen Niedersachsens traditionell unterschiedlich. Gemessen an der Arbeitslosenquote zum Beispiel im Jahresdurchschnitt von 1991 (1993 in Klammern) reicht die Spannbreite vom Landkreis Lüchow-Dannenberg mit dem Spitzenwerten von 14,5% (15,5%) auf der einen und dem Landkreis Vechta mit 4,7% (6,5%) auf der anderen Seite. Dazwischen lag der Landkreis Helmstedt mit 8,2% (11,5%). 477 472 Quelle: Statistische Angaben des Landesamtes Niedersachsen/Bremen 1976. Bechler, G. Regionale Strukturprobleme, Band 1. Braunschweig 1987. Seite 50. 474 Siehe: Quelle: Statistischen Angaben des Landesamtes Niedersachsen/Bremen 1976. 475 Siehe: Koller, M. Zur Struktur und Entwicklung regionaler Arbeitsmärkte. In: Mitteilungen aus der Arbeitsmarktund Berufsforschung, Heft 1, Nürnberg 1978,S.63 ff. 476 Siehe: Raumordungsbericht Niedersachsen 1992. Niedersächsisches Innenministerium. Hannover 1993. Seite 18. 477 Siehe: Tabellenveröffentlichung vom Niedersächsischen Institut für Wirtschaftsforschung, e.V. Hannover 1992 und Niedersächsisches Landesamt für Statistik, Statistische Monatshefte, Hannover 3/1994, Seite 119. 473 Siehe: - 184 - Ende September 1993 betrug die Arbeitslosengesamtanzahl in Südostniedersachsen und der Wirtschaftsregion zwischen Harz und Heide 58.178. Von einem saisonalen Entlastungseffekt einer sonst üblichen Herbstbelebung war nichts zu spüren. Für die gesamte Region errechnete sich eine Arbeitslosenquote von 11,3%, welche deutlich über dem Land Niedersachsen von 9,8% und in den alten Bundesländern von 7,4% lag. Im Jahresvergleich September 1992 zu 1993 stieg die Arbeitslosenzahl im o. g. Vergleichsraum deutlich um 14.300 oder 32%, die Quote von 8,6 auf 11,3%. Die Anzahl der Kurzarbeiter in dieser Region betrug im Zeitraum 9/1993 rund 39.000, der Schwerpunkt lag eindeutig in der Automobilindustrie.478 In der Wirtschaftsregion zwischen Harz und Heide vollzog sich Ende Februar 1994 ein Anstieg der Arbeitslosenzahl auf 69.023, was einer Quote 13,5% entsprach.479 Das Beispiel Südostniedersachsen verdeutlicht, daß die Automobilstrukturkrise diesen Wirtschaftsraum in ein neues Problemgebiet verwandelt hat: Die traditionelle Peripherie, beispielsweise vom Verdichtungsgebiet Stadt Wolfsburg zum wirtschaftsschwächeren Landkreis Helmstedt, wurde im Hinblick auf das Folgeproblem der Arbeitslosigkeit von diesen neuen Rahmenbedingungen (Arbeitslosenzahlen für Dezember 1993 in den Dienststellen Wolfsburg 14,1%, Helmstedt 13,7% und Gifhorn 13,6%) zu Ungunsten Wolfsburgs nivelliert.480 Die Dienststelle Wolfsburg wies über Jahre hinweg die niedrigste Quote in der Region auf: Im Februar vor fünf Jahren lag sie bei 8,4%, im Februar 1994 erhöhte sie sich bereits auf 15,4%. Raumbezogene Arbeitsmarktvergleiche (Tabellen III. 6 bis III. 6.1.3) sollten von ihrer Aussagekraft primär nur auf Landkreisebene erfolgen, weil beispielsweise auch die Stadt Braunschweig als räumliche Verdichtung Besonderheiten durch ihre Anziehungskraft auf eher chancenarme Arbeitsmarktgruppen aufweist, die häufig ihre individuelle Hoffnung auf Verdichtungsräume statt auf ländliche Räume orientieren. Wenn z. B. Bedrängnislagen und fehlende Lebensperspektiven durch Dauerarbeitslosigkeit die persönlichen Beziehungsnetze schwächen oder gar zerstören, dann sinkt auch die soziale Bindung. In Stadtverdichtungen, die diese Gruppen aufnehmen, kommulieren dadurch die Probleme. Der direkte Vergleich von Landkreisen untereinander ist auch schon aufgrund des annähernd identischen Zentrum-Peripherie-Gefälles zur eigenen Standortbestimmungen des Landkreises Helmstedt aussagefähiger: Die Landkreise lagen im saisonal günstigen Monat September 1993 in der Spannbreite örtlicher Quoten zwischen 9,2% im Landkreis Wolfenbüttel und als „Schlußlicht“ der Landkreis Gifhorn mit 12,9 . Dazwischen lagen die Landkreise Peine mit 9,5%, Goslar mit 10.1% und Helmstedt mit 12,7%.481 Hierbei fällt im Vergleich der Landkreise besonders auf, daß sich Wolfenbüttel bereits seit Jahren aufgrund eines höheren Dienstleistungsanteils und der direkten Anbindung zum Oberzentrum Braunschweig, eine vergleichsweise günstigere arbeitsmarktpolitische Position erreichen könnte. Für den Landkreis Gifhorn ist hingegen anzumerken, daß der bereits konstatierte Schwachpunkt im Gliederungsteil „Bruttowertschöpfung“ (überwiegende Orientierung auf die Automobilzulieferindustrie (z.B. hat die Firma A. Teves in Gifhorn 1993 200 Arbeitnehmer entlassen) und direkte Auswirkungen des Personalabbaues in den VW-Werken Wolfsburg und Braunschweig) hier in der Arbeitsmarktinterpretation bereits seine Bestätigung findet. 478 Siehe: Arbeitsmarktzahlen für September 1993, Arbeitsamtsbezirk Braunschweig. Arbeitsmarktzahlen für Februar 1994, Arbeitsamtbezirk Braunschweig. 480 Siehe: Arbeitsmarktzahlen für Dezember 1993, Arbeitsamtsbezirk Helmstedt. 481 Siehe: Braunschweiger Zeitung, 08.10.1993. 479 Siehe: - 185 - Hinzu kommt die bevölkerungspolitische Zielrichtung der Stadt Gifhorn auf Aussiedler, die sich in der momentanen Rezession auf die Arbeitslosenstatistik negativ auswirkt, (siehe Tabelle III. 6.3.4). 3.3.3.5 Arbeitsmarktauswirkungen der Grenzöffnung „In den drei Jahren nach der Wiedervereinigung hat Ostdeutschland einen beispiellosen Kahlschlag seiner Wirtschaft erlebt. Von 9,86 Millionen Beschäftigten im Jahr 1989 haben bis Ende 1992 3,71 Millionen ihren Arbeitsplatz verloren. Von den 3,5 Millionen Arbeitsplätzen im industriellen Bereich (1989) gibt es (Ende 1993) nur noch 800.000 Arbeitsplätze.“ 482 „Hohe Arbeitslosigkeit und die verbreitete soziale Verunsicherung haben nach Feststellungen des Statistischen Bundesamtes zu einer intensiven Abwanderung aus den neuen Bundesländern in das frühere Bundesgebiet geführt...“483 Auch der niedersächsische Arbeitsmarkt mußte 1990 einen außerordentlich starken Zuwachs des Erwerbspersonenpotentials verkraften: „Von Jahresbeginn (1990) bis zur Bildung der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion Anfang Juli waren etwa 41.000 Personen aus den neuen Bundesländern nach Niedersachsen gekommen“484 Vergleicht man jedoch die Wanderungsbewegungen des Arbeitsmarktes insgesamt im Zeitraum von 1988 bis 1991, stellt man fest, das Süddeutschland das große Wanderungsziel geblieben ist: „Nach einer Analyse des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) sind im Zeitraum von 1988 bis 1991 in Westdeutschland 3,2 Millionen Menschen mehr zugewandert als weggezogen, das waren 5% der Bevölkerung. Ihre bevorzugten Ziele waren vor allem die industriell verdichteten Regionen im Süden der Bundesrepublik.“485 Die strukturstarken süddeutschen Zielgebiete konnten im Beschäftigungsboom 1983/91 die zugewanderten Arbeitskräfte zwar rasch in die Arbeitswelt integrieren. Aber im beginnenden Konjunkturabschwung ab Mitte 1992 stieg auch die Arbeitslosigkeit in Süddeutschland kräftig an. Die ökonomische Rezession im Westen schlägt auf die neuen Bundesländer durch. Trotz der „Subventionsgießkanne“ , mit der die Bundesregierung in Ostdeutschland hantiert, ist die Gefahr gänzlicher Deindustrialisierung nicht gebannt. Für Unternehmen, die zur Zeit im Westen nicht einmal ihre Stammwerke auslasten können, machen Erneuerungsinvestitionen und der Aufbau zusätzlicher Kapazitäten in den neuen Bundesländer wenig Sinn. Massive Absatzprobleme werden für das Scheitern von beabsichtigten Investitionsprojekten verantwortlich gemacht. „Der viel beschworene Mittelstand kann eben nicht ohne leistungskräftige Großindustrie existieren. Die Bundesregierung und ihre Treuhandanstalt weigern sich bisher standhaft, endlich eine gezielte Industriepolitik in Ostdeutschland zu verfolgen.“486 Die „Selbstheilungskräfte des Marktes“ können es allein nicht richten! Aus der aus dieser fatalen Situation heraus resultierenden Unterbeschäftigung in Millionen-höhe, die über den Höchststand in der Weimarer Republik hinausgeht, entstand zusätzlich ein mächtiger Druck von Arbeitsmarktnachfragern aus den neuen auf die alten Bundesländer. „Ungleicher hätte die Entwicklung in Ost- und Westdeutschland auf dem Arbeitsmarkt seit Öffnung der Grenzen kaum sein können.... Die Zahl der Beschäftigten nahm zwischen 1989 und 1992 um 1,2 Millionen (in Westdeutschland) zu. In Ostdeutschland hingegen explodierte die Kurzarbeiterund Arbeitslosenziffer, da mehr als ein Drittel der Arbeitsplätze verloren gingen.“487 482 Handelsblatt, 14.12.1993. 31.12.1992, Seite 3. 484 Gersdorf, M. Der niedersächsiche Arbeitsmarkt nach der Vereinigung. Hannover 1993 ,Seite 47. 485 Handelsblatt, 17.12.199, Seite 3. 486 Siehe: Die Zeit, Nr. 46, 06.11.1992, Seite 22. 487 Adam, W., u.a., In: Gewerkschaftsbuch 1992. Köln 1992. Seite 286. 483 Handelsblatt, - 186 - Kurzfristig konnte die westdeutsche Wirtschaft vom Einheitsboom gewaltig profitieren. Mittelfristig brach diese Sonderkonjunktur in sich zusammen und es entstand ein gespaltener OstWest Arbeitsmarkt mit erheblicher Arbeitsmarktdivergenz bzw. - konkurrenz. Längst ist der klassische Konflikt zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu einem allgemeinen Verteilungskampf geworden - zwischen Arbeitsplatzinhabern und Arbeitslosen, Arbeitnehmern West und Ost, zwischen Besserverdienenden, die nichts hergeben wollen, und Schlechterverdienenden, die die Hauptlast der deutschen Einheit bezahlen müssen.488 Es scheint die größte Herausforderung seit den Nachkriegsaufbaujahren in der Bundesrepublik Deutschland zu sein: Tragende Säulen des allgemeinen Wohlstandes brechen kontinuierlich weg und alternative Ersatzarbeitsplätze in Form neuer Industrien sind nicht in Sicht. Ohne die Umverteilung von Arbeit in die neuen Bundesländer wird es aber kaum einen raschen Aufbau und die damit verbundene Entlastung des westdeutschen Arbeitsmarktes geben. Bisher florierten in Ostdeutschland nur die Bau- und Dienstleistungsbranche. Doch ohne Industrie wird es auch keine Zukunft für Dienstleistungen geben.489 Viele Arbeitnehmer/innen in den neuen Bundesländern sind enttäuscht, in wachsender Zahl sogar verbittert, weil eine schnelle Angleichung der Arbeits- und Lebensverhältnisse zwischen Ost- und Westdeutschland sich nicht erfüllt hat. Der Zusammenbruch der ostdeutschen Industrieproduktion hat Millionen von Menschen nicht nur die Arbeitsplätze genommen, sondern anscheinend auch die Lebensperspektive. Es soll aber auch darauf hingewiesen werden, daß in den alten Bundesländern von vielen die Lasten der Einheit als übermäßig empfunden werden, weil diese Lasten nicht sozial ausgewogen und zu Ungunsten der sozial Schwächeren verteilt sind, ferner einher gehen mit der schwersten Beschäftigungskrise seit 1949. Die konstatierte extreme Zunahme der Arbeitslosigkeit - auch in den alten Bundesländern - wird, unter Zugrundelegung einer tiefgreifenden Wirtschaftrezession, die Verschärfung der Konkurrenz um die Arbeitsplätze nochmals erhöhen. Die ohnehin festzustellende negative Grundstimmung zwischen „neuen“ und „alten“ Bundesbürgern könnte durch eine Verfestigung einer neuen, zusätzlichen Variante des „gespaltenen Arbeitsmarktes“ zwischen Ost und West zur „explosiven Stimmung“ führen. Obwohl die Anzahl sozialversicherungspflichtig Beschäftigter 1991 in Niedersachsen stark anstieg, war der Spielraum für einen Abbau der Arbeitslosigkeit infolge der Zuwanderungen und Pendlern aus den neuen Bundesländern vergleichsweise gering. So war die Arbeitslosigkeit in den ehemals grenznahen Arbeitsamtsbezirken verhältnismäßig wenig zurückgegangen, bzw. in Helmstedt, Goslar und Göttingen - entgegen der allgemeinen Entwicklung - sogar angestiegen.490 Am ungünstigsten verlief die Entwicklung im Osten Niedersachsens. Insbesondere in den Teilräumen des Arbeitsamtsbezirkes Helmstedt (Hauptamt Helmstedt, die Dienststellen Wolfsburg und Gifhorn), lag das Niveau der Arbeitslosigkeit ab 1991 sogar höher als im Jahr 1987. Gründe für die ungünstige Arbeitsmarktentwicklung sind im Falle des Landkreises Helmstedt vor allem die Zuwanderung und der zunehmende Pendlerdruck aus den ostdeutschen Bundesländern. Die räumliche Entwicklung des Niveaus von Arbeitslosigkeit in allen zwanzig nieder-sächsischen Arbeitsamtsbezirken in der Zeitspanne von 1988 bis 1991 zeigt regionale Verschiebungen der Arbeitslosigkeit in „Verlierer- bzw. Absteigerarbeitsamtsbezirke“ deutlich auf. 488 vgl. Stern, Nr. 19, 06.05.1993, Seite 41. Schwegler, L. Vorsitzender der Gewerskschaft Handel, Banken und Versicherungen. In: Stern, Nr. 19.11.1992. Seite 312. 490 Siehe: Gersdorf, M., Ebenda ,Seite 49. 489 Siehe: 48, - 187 - Das sind die Arbeitsamtsbezirke Wilhelmshaven, Göttingen, Goslar, Lüneburg und insbesondere Helmstedt, der 1988 vom 1. Platz mit 9,2% Arbeitslosenquote (Niedersachsen 11,2%), 1989 Platz 6. mit 8,5% (Niedersachsen 10,0%), 1990 Platz 9. mit 8,8% (Niedersachsen 9,4%) und 1991 auf den 11. Platz mit 8,1% (Niedersachsen 8,1% ) am stärksten abrutschte. Bis auf den Arbeitsamtsbezirk Wilhelmshaven handelt es sich dabei um Arbeitsamtsbezirke im ostniedersächsischen Raum, auf die sich der Umzug und das Einpendeln von Arbeitskräften aus den neuen Bundesländern konzentriert.491 Der Helmstedter Arbeitsmarkt, direkt an der „Nahtstelle“ zwischen neuen und alten Bundesländern, ist von dieser Problematik besonders hart betroffen. Es bleibt diesbezüglich festzuhalten, daß der Beschäftigungsanstieg des Einheitsboomes von 1990/91 nicht aus der heimischen registrierten Arbeitslosigkeit, sondern vorwiegend durch Zuwanderer und Pendler aus SachsenAnhalt gespeist wurde, was zu einem gewissen Verdrängungseffekt insbesondere zu Lasten der Langzeitarbeitslosen im Landkreis Helmstedt führte. Die verhältnismäßig starke Konkurrenz um vorübergehend wieder zu besetzende Arbeitsplätze ist weitgehend zu Ungunsten ansässiger Arbeitssuchender bzw. Arbeitsloser ausgegangen. Die einschneidende Veränderung der Grenzöffnung hinterläßt arbeits- und sozialpolitische Folgen, denen nur durch einen bedarfsgerechten Einsatz der Arbeitsmarktinstrumente wirkungsvoll begegnet werden kann. 3.3.3.6 Arbeitsbeschaffungs- und berufliche Fortbildungsmaßnahmen Die Tabelle III. 6.2.1 verdeutlicht die Effizienz von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Es geht dabei um den Anteil, um den die Arbeitslosigkeit durch den Einsatz von AB-Maßnahmen gesenkt werden konnte. Beim Vergleich der zwanzig niedersächsischen Arbeitsamtsbezirke stellt sich heraus, daß in Leer und Emden die beachtlichen Werte von 24,8% und 15,3% erzielt werden konnten. Die ABM Arbeitsmarktentlastungswirkungen in der Spannbreite zwischen dem höchsten (Leer 24,8%) und dem niedrigsten Wert (Helmstedt 1,7%) verdeutlichen, wie unterschiedlich das Instrument ABM in Niedersachsen regional genutzt wird. Der Einsatz dieses ABM-Instrumentes hat zum einen die Frage der Zielguppenorientierung und zum anderen etwas mit der örtlichen Verfügbarkeit von Trägern zu tun, über die AB-Maßnahmen eingesetzt werden können. Der Aussagewert der Tabelle III. 6.2.2 ist insofern von Bedeutung, daß hieraus die Relevanz von ABM bei der Vermittlung von Arbeitslosen in Arbeit verdeutlicht werden kann. Der Anteil von Arbeitsvermittlungen, der durch ABM bewerkstelligt wurde, kommt 1991 in Leer auf einen Wert von 39,8% und in Helmstedt ergibt sich hingegen nur ein Wert von 4,5%. Das läßt die Schlußfolgerung zu, daß, wenn auf dieses effektive Instrument zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit weitgehend verzichtet wird, die Arbeitslosenhöhe sprunghaft ansteigt. Vergleicht man die Streuung vom Eintritt Arbeitsloser in Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen (F. u. U.) sowie vom Eintritt in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM), in Relation zu den im Laufe eines Jahres erfolgten Abgängen aus Arbeitslosigkeit (siehe Tabelle III. 6.2) ergibt sich für das Jahr 1991 im Landesdurchschnitt ein Anteilswert von 12,8%, in Helmstedt mit 16,7% ein über dem Landesdurchschnitt liegender günstigerer Wert. Man kann daraus schließen, daß die regional differierenden Umsetzungsmöglichkeiten arbeitsmarktpolitscher Aktivitäten auf den Arbeitsamtsbezirk Helmstedt bezogen, insgesamt zwar ebenfalls mäßig eingesetzt wurden, er aber auf Landesdurchschnittsebene gesehen (1989 übrigens noch 21,7%) hinter Leer, Emden und Osnabrück an vierter Stelle anzutreffen war. Diese positive Trendaussage läßt sich auch auf das Hauptamt Helmstedt übertragen. Nicht zuletzt durch die Tatsache, daß der ehemalige überdurchschnittliche Anteil von un- und angelernten 491 Siehe: Heinelt,H., Innerdeutsche Ost-West Migration und regionale Arbeitsmarktauswirkungen Niedersachsen. Institut für Sozialpolitk und Stadtforschung e.V.(Hrsg.), Hannover 1993, Seite 22. - 188 - Arbeitnehmern Anfang der 80er Jahre durch gezielte berufliche Fortbildungs-maßnahmen erheblich reduziert werden konnte. Diese „mittlere Qualifikationsstruktur“ mit abgeschlossener Berufsausbildung (Berufsfach- und Fachschulen) ist zum Teil bereits durch die Ausbildungsleistungen der heimischen Wirtschaft in der erwerbstätigen Bevölkerung vorhanden und liegt, gemessen an der Gesamtbeschäftigung, um ein Viertel über dem Bundesdurchschnitt. Daß jedoch in der Gegenwart bei Facharbeitern die Arbeitslosenquote noch höher anstieg als bei Nichtfacharbeitern, muß als Alarmsignal gewertet werden. Ein Indiz dafür, daß die erworbene und ausgeführte Qualifikation offensichtlich im technologischen Strukturwandel nicht mehr benötigt wird. „Einmal Erlerntes, das einst jahrzehntelang gültig blieb, veraltet heute rapide. Alle fünf Jahre verdoppelt sich das technische Know-how.“492 Diese Entwicklungstendenz läßt die Schlußfolgerung zu, daß die Anfang der 80er Jahre erfolgreich durchgeführten beruflichen Fortbildungsmaßnahmen im Landkreis Helmstedt in ihrer „Halbwertzeit“ überschritten sind und den neuen fachspezifischen Anforderungs-merkmalen offensichtlich nicht mehr entsprechen. Daraus resultiert die Erkenntnis, daß der heimische Arbeitsmarkt für einen zielgerichteten, innovativen technologischen Strukturwandel nur ungenügend vorbereitet ist. Ohne eine qualitative Qualifizierungsoffensive würde eine Innovationsstrategie der Wirtschaft im Landkreis Helmstedt nicht zustande kommen. Im Rahmen des rasanten und dynamischen Strukturwandels werden traditionelle Berufe mittelfristig entwertet. Flexibilität, Anpassung und Dynamik sind daher gefragt, insbesondere auf den Gebieten Weiterbildung und Nachqualifizierung. Wer hier Stagnationen hinnimmt oder es versäumt, Defizite abzubauen, wird auf lange Sicht den Anschluß gänzlich verpaßt haben. Die Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen wurden in der zweiten Jahreshälfte 1993 im Arbeitsamtsbezirk Helmstedt um 40 Prozent heruntergefahren, 493 dies bedeutete eine Reduzierung von 2.300 auf 1.300 Teilnehmer/innen. Diese drastisch gekürzten Mittel für Fort- und Weiterbildung zeigen exemplarisch auf, daß der Politik nicht mehr genügend Gestaltungsmöglichkeiten für arbeitsmarktpolitische Gegensteuerungsmaßnahmen ermöglicht werden. Die Vier-Tage-Woche bietet für die VW-Mitarbeiter die Chance, in der hinzugewonnenen Freizeit notwendige Qualifizierungsmaßnahmen für die berufliche Fortbildung zu nutzen, wenn zielorientierte Fachlehrgänge denn auch angeboten werden. Eine Qualifizierungsoffensive ist prinzipiell die beste Strategie gegen Arbeitslosigkeit. Die Finanzierung dieses Aufgabenbereiches gehört eigentlich zu den klassischen Mitteln der Bundesanstalt für Arbeit, doch das Arbeitsförderungsgesetz erscheint hierfür zu statisch und inflexibel. 3.3.3.7 Dynamik der Arbeitsplatzentwicklung Im folgenden wird unter regionalen Gesichtspunkten auf die Strukturverschiebung der Arbeitslosigkeit eingegangen. Die Strukturierung der Arbeitslosigkeit wird weitgehend von der Arbeitsmarktdynamik bestimmt. „Hinter oft nur marginalen Veränderungen der Gesamtbeschäftigung finden ständig erhebliche Umschichtungen statt. Bis zu einem gewissen Umfang werden diese Umschichtungen schon sichtbar, wenn man die Beschäftigungsentwicklung sektoral und regional disaggregiert.“494 492 Siehe: WirtschaftsWoche, Nr. 41, 08.10.1993, Seite 3. Wolfsburger Kurier, 08.12.1993. 494 Siehe: Cramer, U. Dynamik der Arbeitsplatzentwicklung. In: Informationen zur Raumentwicklung. Heft 1, Bonn 1990 493 Siehe: - 189 - Die Unterscheidungskriterien in expandierende Beschäftigungsgewinne aus Expansion oder Neugründung und schrumpfende Betriebe (Verluste durch Personalreduzierung) kann noch weiter differenziert werden, wenn neben den bestehenden auch neu gegründete und schließende Betriebe erfaßt werden. Dabei wird sowohl von der Relation der jährlich begonnenen, als auch der jährlich beendeten Beschäftigungsverhältnisse zur Gesamtzahl der Beschäftigten ausgegangen. Markiert das Verhältnis der jährlich begonnenen Beschäftigungsverhältnisse zur Gesamtzahl der Beschäftigten das Ausmaß der neu geschaffenen und personell ersetzten Arbeitsplätze, so kommt im Verhältnis der jährlich beendeten Beschäftigungsverhältnisse zur Gesamtzahl der Beschäftigten das Ausmaß der Freisetzungen von Arbeitskräften zum Ausdruck.495 Danach zeichnen sich folgende Charakteristiken des spezifischen Arbeitsmarktgeschehens ab: Zum einen gibt es in Niedersachsen Arbeitamtsbezirke mit sowohl überdurchschnittlich viel begonnenen als auch viel beendeten Beschäftigungsverhältnissen. Diese „bewegungsintensiven Arbeitsmärkte“ verzeichnen einen „hohen Umschlag“ von Arbeitskräften. Diese große Arbeitsplatzdynamik verdeutlicht ein bewegungsintensives Arbeitsmarktgeschehen, das stark zwischen Expansions- und Schrumpfungsraten variiert. Dazu zählen die Arbeitsamtsbezirke Leer, Emden, (hohe saisonale Beschäftigung, z.B. im Baugewerbe oder Agrarbereich), Lüneburg, Uelzen und Vechta. Zum anderen gibt es in Niedersachsen Arbeitsamtsbezirke, die zu einem unterdurchschnittlichen bis hin geringen „Umschlag von Arbeitskräften“ tendieren , als auch einen Arbeitsamtsbezirk mit nahezu stagnativer Entwicklung. Dies sind die Arbeitsamtsbezirke Braunschweig, Hannover und Osnabrück, während im Arbeitsamtsbezirk Helmstedt die mit Abstand höchste „Bewegungsarmut“ zu konstatieren ist. Insbesondere trifft dies auf das Hauptamt Helmstedt zu, das im September 1993 einen Restbestand von nur rund 150 offenen Arbeitsstellen aufwies, wobei auf rund 30 Arbeitslose nur eine offene Stelle kam, so daß der Arbeitsmarkt des Landkreises quasi als „statisch“ zu bewerten war. Welche Schlußfolgerungen lassen sich aufgrund des äußerst geringen Stellenumschlag-prozesses und der ausgebliebenen Dynamik im Arbeitsamtsbezirk Helmstedt, insbesondere im Hauptamt Helmstedt, ziehen? „Für den Stellenumschlag gibt es drei Ursachen: Konkurrenz zwischen den Betrieben, Strukturwandel, sowie Wachstum und Konjunktur.“496 Die „Bewegungsarmut“ im Dienstellenbereich Helmstedt liegt im allgemeinen daran, daß zwei „abgeschottete“ betriebliche Arbeitsmärkte (VW AG in Wolfsburg und BKB AG in Helmstedt) aufgrund der Monostruktur dominieren. Die starke Konzentration der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten auf diese größten Unternehmen reduziert die Arbeitsplatzdynamik im Landkreis Helmstedt erheblich. Desweiteren ist hierfür ursächlich der nicht sehr ausgeprägte Strukturwandel vom sekundären Sektor zu den dienstleistungsorientierten Branchen der Grund für die tendenziell stagnierende Gesamtbeschäftigungsentwicklung im Landkreis. Ein beträchtlicher und in den letzten Jahren überregional zugenommener Teil des „Arbeitskräfteumschlags“ ist offenbar im Landkreis Helmstedt weitgehend ausgeblieben. Die sehr hohe Arbeitsplatzverweildauer bei VW und BKB (beide mit rückläufiger Tendenz), im öffentlichen Dienst und eine überproportionale Schrumpfungsrate von Betrieben, der keine betriebliche Neugründungsexpansionsrate gegenüberstand, das Ausbleiben von Betriebs- erweiterungen in 495 Siehe: Heinelt, H. (Universität Hannover). Strukturverschiebungen der Arbeitslosigkeit in Niedersachsen, Landesgesellschaft zur Beratung und Information von Beschäftigungsinitiativen. Hannover 1992. Seite 6. 496 Siehe: Franke, H., Buttler, F., Arbeitswelt 2000. Frankfurt a.M. 1991. Seite 55. In: - 190 - einem nennenswerten Umfang, sind die Ursachen der sehr geringen, nahezu stagnativen Bewegung im Helmstedter Arbeitsmarkt. Diese Erkenntnis bietet einen detaillierten Einblick in die nicht vorhandene Dynamik des heimischen Arbeitsmarktes, die per Saldo keinen Spielraum für einen positiven Stellenumschlagsprozeß zuließ. Eine Ausnahmesituation war hierbei durch die Öffnung der innerdeutschen Grenze verbundene zeitlich befristete Einheitskonjunktur: Sie verschaffte weitgehend an der Arbeitsvermittlung vorbei eine neue Arbeitsmarktflexibilität von neuen Arbeitsmarktanbietern aus Sachsen-Anhalt. Die Unternehmen vor Ort haben diese Gelegenheit genutzt, den Arbeitskräftebestand aufzustocken und gleichzeitig umzustrukturieren. Mit der vierten Rezession hat sich die vorherige statische Ausgangsbasis wieder eingestellt. 3.3.3.8 Regionale Arbeitslosigkeit struktureller Aspekte unter Berücksichtigung konjunktureller und Vergleicht man die Anzahl Arbeitsloser im gesamten Arbeitsamtsbezirk Helmstedt innerhalb von 12 Jahren (vom Mai 1979 zu September 1991) stellt man hierbei fest, daß sich die Arbeitslosenhöhe von insgesamt 4719 (1979) auf 12716 (1991) drastisch erhöhte. Im Erhebungszeitraum 1979 betrug die Anzahl der zwischen 1 und 2 Jahren statistisch erfaßten Langzeitarbeitslosen 607 Personen. 1991 stieg deren Zahl auf 2068 Personen.497 Die kleinsten räumlichen Bausteine zur Erfassung der Arbeitslosigkeit sind die Dienststellen der Arbeitsamtsbezirke. Die Arbeitsmarktprobleme im Landkreis Helmstedt waren zwar kontinuierlich höher als der Bundesdurchschnitt, im Vergleich zum Land Niedersachsen bis Ende 1991 aber weniger gravierend, (siehe Tabelle III. 6.4). Die dritte Rezession von 1982 brachte in ihrer Folgewirkung eine Steigerung der Arbeitslosigkeit von 1565 (1980) auf 3727 (1984) im Hauptamt Helmstedt, wobei sich die Jahresdurchschnittswerte mit minimalen Schwankungen bis 1992 hielten. Dieser rezessions-bedingte Einbruch setzte zwar einen neuen Höchstwert in der Arbeitslosenstatistik, doch die Erwerbslosenentwicklung verlief parallel zu Südostniedersachsen und dem Bundesland Niedersachsen und die direkten Vergleichswerte von Land und Südostniedersachsen zum Hauptamt Helmstedt, zeigten hier sogar in der Tendenz etwas günstigere Zahlenwerte für den Landkreis Helmstedt. Einen weiteren überproportionalen Anstieg der Arbeitslosigkeit ergab sich aufgrund der vierten Rezession, deren arbeitsmarktpolitische Auswirkungen im Jahresdurchschnitt 1993 im Landkreis Helmstedt (inklusive Lehre) einen Bestand von 4.944 Arbeitslosen, bei einer Arbeitslosenquote von 11,5%, verursachte.498 Bisherige Erfahrungswerte zeigen, daß nach konjunkturellen Erholungen die Sockelar-beitslosigkeit jedesmal höher als vor dem Konjunktureinbruch war. Der Sockel der Arbeitslosigkeit nahm in den letzten beiden Rezessionen bundesweit um 700.000 beziehungsweise 830.000 Arbeitnehmer zu.499 Eine konjunkturelle Belebung wird also die Lage am Arbeitsmarkt kaum verbessern. Diese tendenzielle Entkoppelung von Konjunktur und Arbeitsmarkt und die besonders im Arbeitsamtsbezirk Helmstedt traditionell verzögerte Aufwärtsentwicklung der Beschäftigung nach Konjunktureinbrüchen wird eine zukünftige arbeitsmarktpolitische Konsolidierung in nur kleinen Schritten ermöglichen, wiederum sichtbar abgekoppelt vom Bundestrend. 497 Siehe: Veröffentlichungen des Arbeitsamt Helmstedt, Sonderhefte Nr. 11/1979 und Nr. 2 /1992. Siehe: Statistische Monatshefte, Niedersächsisches Landesamt für Statistik, Hannover 3/1994, Seite 119. 499 Siehe: Handelsblatt, 14.12.1993. 498 - 191 - Es ist damit zu rechnen, daß ein wirtschaftliches Wachstum allein keine neuen Arbeitsplätze schaffen wird. Anders formuliert: Nicht jede positive Wachstumsrate des Bruttoinlandsproduktes wird von einer Zunahme der Beschäftigten begleitet. Negativ interpretiert sind neue Arbeitsplätze die Restgröße wirtschaftlichen Handelns. Erst bei einer Wachstumsrate des Bruttoinlandproduktes oberhalb von 1,7 Prozent nahm die Beschäftigung in der Vergangenheit allmählich zu. 500 Die im 1. Halbjahr 1993 verlorengegangenen 206 Arbeitsplätze der Firma Naue KG, 249 Arbeitsplätze, der Helmstedter Spinnerei GmbH und 98 Arbeitsplätze der Reika-Technik GmbH, sowie der stufenweise Abbau von weiteren 400 Arbeitsplätzen bei der BKB für 1993, trugen in ihrer Gesamtheit zur deutlichen Erhöhung de Arbeitslosigkeit im Landkreis Helmstedt bei. Der saisonale Entlastungseffekt im Hauptamt Helmstedt kam auch nicht im September 1993 zustande. Insgesamt gab es zum Monatsende 9/93 einen Erwerbslosenstand von 4819 mit einer Arbeitslosenquote von 12,7%. Im Vergleich zum Vorjahresmonat September 1992 mit 3540 Erwerbslosen stieg die Zahl der Arbeitslosen um 1279 oder 36,1%. Rein rechnerisch kamen für den Zeitabschnitt 9/93 auf eine im Hauptamt gemeldete offene Stelle 36 Arbeitslose.501 Die erstellte Zeitreihe des Arbeitslosenbestandes im Dienststellenbezirk Helmstedt von Oktober 1992 (3.516) bis Oktober 1993 (4.931) verdeutlicht den extrem hohen Anstieg der Arbeitslosigkeit (Tabelle III. 6.4.2) um 1.415, das sind 40,24%. Dies ist der zugleich höchste Anstieg im Bereich des Landesarbeitsamtes Niedersachsen /Bremen. Im Dezember 1993 nahm die Arbeitslosigkeit im Hauptamt Helmstedt (ohne Lehre) nochmals um 132 oder 2,6 Prozent auf insgesamt 5.202 zum Vormonat zu. Das überwiegend milde Winterwetter im Dezember hielt hierbei die saisonale Arbeitslosigkeit in Grenzen. Trotzdem ist der Vergleich zum Vorjahresmonat beträchtlich: Die Arbeitslosigkeit betrug im Dezember 1992 3.677 Personen und wurde somit um 1.525 oder 41,5 Prozent überschritten. Die Arbeitslosenquote lag im Dezember 1993 bei 13.7 Prozent, nach 13,3 Prozent im Vormonat und 9,7 Prozent vor einem Jahr. Im Bereich des Landesarbeitsamtes Niedersachsen/Bremen betrug die Arbeitslosenquote im Dezember 1993 10,8 Prozent und in den alten Bundesländern 8,1 Prozent. Diese neuen Eckwerte des Arbeitslosengefüges als Folgewirkung der vierten Rezession katapultieren den Landkreis Helmstedt (im Gegensatz zur vorherigen Rezession) in eine schlechtere Situation bezüglich der Arbeitslosenquote als das Bundesland Niedersachsen. Die durchschnittliche Arbeitslosenzahl des Jahres 1993 betrug im Hauptamt Helmstedt (ohne Lehre) 4.651 und war damit 1.129 oder 32,1 Prozent höher als im Vorjahresdurchschnitt 1992. Anhand dieser Arbeitsmarktindikatoren ist für den Landkreis Helmstedt unter Berücksichtigung einer anhaltenden Konjunktur- und Strukturkrise eine prognostizierte Arbeitslosenquote um 18 Prozent in diesem und nächsten Jahr nicht ausgeschlossen. 502 Die weitere quantitative Entwicklung der Arbeitslosigkeit im Landkreis Helmstedt kann nicht ohne Berücksichtigung der Situation und Entwicklungstendenz des extremen Strukturanpassungsprozesses im Straßenfahrzeugbau nebst zugeordneter Zulieferbranche und des angrenzenden Bundesland Sachsen-Anhalts gesehen werden. Es ist zu erwarten, daß der Landkreis 500 Siehe: Siebert, H. Wirtschaftswachstum löst das Problem einer verfestigten Arbeitslosigkeit nicht. In: Handelsblatt, 14.12.1993. 501 Siehe: Arbeitsamt Helmstedt, Arbeitsmarktzahlen für September 1993. 502 Anmerkung: Der Wolfsburger Arbeitsamts-Dienststellenleiter W. Poerschke, prognostizierte für 1994/95 eine Arbeitslosenquote von bis zu 18 Prozent. Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 06.01.1994. - 192 - Helmstedt eine Ost-West-Orientierung von Arbeitskräften auf dem hiesigen Arbeitsmarkt auch mittelfristig zu verkraften hat und in Folge dessen die Konkurrenz- und Verdrängungseffekte (die branchenspezifisch unterschiedlich hoch sind) weiter anhalten.503 Die Anzahl der zukünftigen Arbeitslosen wird sich 1994 im Arbeitsamtsbezirk Helmstedt in einer Größenordnung von schätzungsweise 26.000 im Jahresdurchschnitt bewegen. Diese eher prognostizierte Untergrenze wird untermauert durch die anhaltende Rezessionsphase bis schätzungsweise Anfang 1995, die deutlich gesunkene Zahl an Zugängen von offenen Stellen, die rapide angestiegene Kurzarbeit, weitere Kosteneinsparungsstrategien der VW AG, die Gefahr weiterer Firmenzusammenbrüche im industriellen Kernbereich das Ausbleiben arbeitsplatzintensiver Firmenneugründungen. Interpretiert man die Entwicklungstendenz durchschnittlicher Arbeitslosenquoten im Hauptamt Helmstedt, so ist folgender Sachverhalt zu berücksichtigen: Die in der Entwicklung fortschreitende Verknappung heimischer Arbeitsplätze erhöhte die Berufsauspendlerquote. Hinzu kam eine für die Landkreisentwicklung typische Arbeitskräftebewegung: Eine traditionelle hohe Abwanderungsquote von Erwerbspersonen aus dem Land-kreis Helmstedt in Wirtschaftsregionen mit ökonomischer Expansion. Diese kontinuierliche Verknappung heimischer Arbeitsplätze bewirkte rückblickend auch eine vergleichsweise hohe Überalterung der Landkreisbevölkerung. Im Landkreis Helmstedt (ebenso im südöstlichen Niedersachsen) war deshalb aus Gründen des Altersaufbaus die „demographische Belastung“ des Arbeitsmarktes deutlich geringer als z.B. in den westlichen und nördlichen Landesteilen Niedersachsens. Die folgenden Beispiele verdeutlichen diese Entwicklung: Bei den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten je 1.000 Erwerbstätigen als „Nährungsmaß der Erwerbsquote“, Stand am 30.06.1989, ist der Landkreis Helmstedt mit 302 Beschäftigten im Vergleich zu Niedersachsen mit 438 und den alten Bundesländern mit 496, am untersten Ende der Bandbreite (siehe Ziffer 3 der Tabelle III. 2.3.3). Bei der jeweiligen Fortschreibung des Bevölkerungsstandes am 31.12. eines Jahres ist für 1989 der Anteil der Einwohner aus dem Landkreis Helmstedt, die 75 Jahre und älter sind, im ausgewählten Raumbezug der Ziffer 1 aus der Tabelle III. 1.2.2 mit 8,4%, gegenüber den alten Bundesländern mit 7,4%, am höchsten. Auch beim Anteil der weiblichen Altersquote der 75jährigen und älteren Frauen am Gesamtfrauenanteil von 11,3% hat der Landkreis Helmstedt im aufgeführten Raumvergleich den höchsten Wert, während die alten Bundesländer insgesamt einen Wert von 10,0% aufweisen. Das ist ebenfalls ein Indikator für einen hohen Durchschnittsanteil alleinstehender Frauen. Der Binnenwanderungssaldo der 18- bis 25jährigen (Ziffer 8 der Tabelle III. 1.2.4) entsprach je 1.000 Einwohner vom 01.01.1988 bis 31.12.1989 der entsprechenden Altersgruppe, im Raumvergleich einem Minus von 45% im Landkreis Helmstedt. Der Vergleichswert zu Niedersachsen ergibt hierbei minus 34%. Die in dieser Altergruppe prinzipiell überdurchschnittlich hohe Mobilität (Näherungsmaß für schulische und berufliche Ausbildungswanderung bzw. entsprechende Disparitäten), liegt im Landkreis somit noch 11 Prozent höher als der Landesdurchschnitt. Da im identischen Bemessungszeitraum der Binnenwanderungssaldo der 50 bis unter 65jährigen je 1.000 Einwohner im Landkreis Helmstedt +2 Prozent war (Ziffer 11), kann das im Vergleich zum niedersächsischen Durchschnittswert von minus 6 Prozent als Indikator für einen Altersruhesitz im Landkreis Helmstedt interpretiert werden. 503 Anmerkung: Von den 2,075 Millionen Industriearbeitsplätzen, die im Januar 1991 in den neuen Bundesländern gezählt wurden, habe es Ende 1993 nur noch knapp 700.000 gegeben. Die ostdeutsche Industriedichte sei in dieser Zeit von 132 Beschäftigten je 1000 Einwohner auf 47 gesunken. In Westdeutschland hätten 1993 noch 106 Beschäftigte (1991 waren es 116) je 1000 Einwohner einen Arbeitsplatz in der Industrie gefunden. Siehe: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.01.1994. Bereits aus diesen Zahlen ist ableitbar, daß sich die Ost-West-Orientierung von Arbeitskräften auch auf den Helmstedter Arbeitsmarkt mittelfristig unverändert hoch anzusetzen ist. - 193 - Der in der Vergangenheit kontinuierliche Verlust an Arbeitsplätzen, z.B. mit einem Rückgang von 12% von 1970 bis 1980, schlug sich aufgrund der Abwanderungstendenzen dieser betroffenen Arbeitskräftegruppen nicht so spürbar in den regionalen Arbeitslosenquoten nieder. Dieser Trend von Verlagerung durch erhöhte Mobilität wird in Zukunft arbeitsmarktpolitisch stagnieren, weil Rationalisierungsstrategien, Firmenzusammenbrüche und Betriebsverla-gerungen ins europäische und außereuropäische Ausland in der Bundesrepublik die Schaffung neuer Arbeitsplätze erschwert. Diese auch überregional negative Arbeitsmarktentwicklung wird Konsequenzen für den heimischen Arbeitsmarkt haben. Unter Zugrundelegung des in der Nachkriegsindustrie härtesten Rationalisierungsprogrammes in der Automobilindustrie und der speziellen Problematik der renditeschwachen VW AG, wird der kontinuierliche Arbeitsplatzabbau direkte Auswirkungen auf die anteiligen 9300 VW Arbeitnehmer/innen haben, die arbeitstäglich aus dem Landkreis Helmstedt ins Wolfsburger Zweigwerk pendeln (siehe Kapitel 3.2.2). Aufgrund divergierender Qualifikationsanforderungen sind im Landkreis kaum Beschäfigungsmöglichkeiten zu finden und es kann vermutet werden, daß die permanente Personalreduzierung in der VW AG nicht nur „sozialverträglich“ erfolgen wird. Die strukturstarken süddeutschen Zielgebiete konnten im Beschäftigungsboom 1983 und 1991 die zugewanderten Arbeitskräfte integrieren. Aber im jetzigen Konjunkturabschwung steigt die Arbeitslosigkeit auch dort besonders kräftig an. Eine weitere Reduzierung von Arbeitsplätzen im industriellen Kerngebiet Südostniedersachsen (auch außerhalb der Automobilindustrie) würde zur arbeitsmarktpolitschen Konsequenz einer extremen Erhöhung des Arbeitskräfteangebotes und einer deutlichen Verjüngung und Veränderung der Qualifikationsstrukturen im Landkreis Helmstedt führen. Als Folgewirkung der insgesamt unbefriedigend verlaufenden gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, beispielsweise durch eine offenbar weiter nachlassende nationale Wettbewerbs-fähigkeit heimischer Unternehmen und durch steigende Importkonkurrenz, ist zu erwarten, daß in wirtschaftsschwachen Gebieten vor allen das Problem erhöhter Arbeitslosigkeit zu den neuen Rahmenbedingungen hinzugekommen ist und der Landkreis Helmstedt auch davon in Zukunft überdurchschnittlich betroffen sein wird. In der hohen Arbeitslosenquote als Resultat der vierten Rezession kommt im Landkreis Helmstedt des weiteren zum Ausdruck, daß in qualitativer Hinsicht ein Bestand an qualifizierten, hochwertigen und langfristig sicheren (Stamm-) Arbeitsplätzen mit entsprechenden Berufsmöglichkeiten Mangelware ist. Da weiterhin ein nur unterdurch-schnittliches wirtschaftliches Wachstum in der Landkreisentwicklung anhand der analysierten Indikatoren vermutet werden kann, muß für die Zukunft von anhaltenden Arbeitsmarktproblematiken ausgegangen werden, die vor allem in einer weit überdurch-schnittlichen Arbeitslosenquoten zum Ausdruck kommen werden. Schließlich wird diese Entwicklung bei steigendem Niveau und zunehmender Dauer der bereits jetzt hohen Unterbeschäftigung zu einer weitgehenden Aufspaltung des Arbeitsmarktes führen, in der Jugendliche, Frauen und Behinderte, ältere Arbeitnehmer und gering qualifizierte Beschäftigte als Langzeitarbeitslose besonders betroffen sind. Diese Entwicklungstendenz wirkt sich für den Landkreis Helmstedt besonders aus arbeitsmarktpolitischer Sichtweise alarmierend aus, weil zwei Negativindikatoren zusammen addiert werden müssen, die sich in ihrer Wechselwirkung gegenseitig verstärken: Die überdurchschnittliche Schrumpfung des primären und sekundären Sektors und das nur unterdurchschnittliche Wachstum des tertiären Sektors. Der Verlust von Industriearbeitsplätzen wird sich auch in den nächsten Jahren fortsetzen und der Dienstleistungsbereich wird kaum einen Ausgleich bewirken. - 194 - Die Betrachtung der Untersuchungseinheit Hauptamt Helmstedt läßt desweiteren erkennen, daß die Arbeitsmarktprobleme auf einem hohen Niveau angesiedelt sind: 30% der Arbeitslosen sind Langzeitarbeitslose, d.h. länger als ein Jahr erwerbslos. Im Landesarbeitsamt Niedersachsen/Bremen beträgt der Anteil 27%. Langzeitarbeitslose sind häufig gekennzeichnet durch gesundheitliche Einschränkungen, einen hohen Frauenanteil, ein Alter über 50 Jahre und fehlende Berufsausbildung. Nachdem die Frauenarbeitslosigkeit Ende der 80er Jahre abgebaut werden konnte, stieg diese von 1991 bis 1992 wieder sprunghaft an. Die Altersstruktur läßt erkennen, daß sowohl ein Drittel aller Arbeitslosen älter als 50 Jahre, als auch eine hohe Steigerungsrate der Altersgruppe von 35 bis 45 Jährigen zu beobachten ist. Der Arbeitslosenbestand rekrutierte sich 1993 zu 51,3% aus Männern, 48,8% aus Frauen, 6,5% der Arbeitslosen waren Ausländer, 2,4% Jugendliche unter 20 Jahren, 6,1% Schwerbehinderte, 6,8% Aussiedler und 10,2% Teilzeitarbeitssuchende.504 Folgende Wirtschaftsgruppen hatten 1993 einen überdurchschnittlichen Zugang an Arbeitslosen zu verzeichnen: Straßenfahrzeugbau, Bauhaupt- und Nebengewerbe, Handel, Gebietskörperschaften inklusive Sozialversicherungen, Heime/Gesundheitswesen und Gaststätten. Aufgrund der Segmentierung betrieblicher Arbeitsmärkte sind die Arbeiter die Hauptbetroffenen der akuten Arbeitsmarktentwicklung, während Angestellte ihre Position insgesamt halten konnten. Hingegen ist die Arbeitslosigkeit bei Facharbeitern noch höher angestiegen als bei un- und angelernten Arbeitskräften. Dieses „Alarmsignal“ läßt darauf schließen, daß erworbene und angewendete Qualifikationen im heimischen Arbeitsmarkt veraltet, bzw. nicht mehr nachgefragt werden, (siehe auch Kapitel 3.3.3.5). Auf Branchen übertragen sind die Strukturdaten des Arbeitslosenbestandes im September 1993 auf Berufsabschnitte mit mehr als 100 Arbeitslosen in hoher Konzentration in folgenden Bereichen anzutreffen: Schlosser/Mechaniker, Elektriker/Techniker, Chemie/Kunststoff (das sind insbesondere die Automobilzulieferer), Montierer, Textil; im Dienstleistungsbereich Transport, Lager, Reinigung, Verkehrstätigkeit, Einzel- und Großhandel, aber auch mit steigender Tendenz die Verwaltungs-, Büro- und Organisationstätigkeiten. Die besorgniserregende Entwicklung der Arbeitslosigkeit (von 25.000 Menschen im Arbeitsamtsbezirk Helmstedt, davon 5.650 im Hauptamt Helmstedt, im Januar 1994 setzten neue Akzente. Der Arbeitslosenanstieg zum Vormonat Dezember 1993 betrug 447 Personen und die Arbeitslosenquote erhöhte sich auf insgesamt 14,9%, gegenüber dem Vormonat mit 13,7%. Vor allem deutet der weitere Anstieg der Kurzarbeit vom Vormonat mit 578 auf 679 Arbeitnehmer/innen im Erfassungsmonat Januar 1994 in insgesamt 10 Betrieben an, daß der rezessionsbedingte Höhepunkt anscheinend noch nicht erreicht wurde. Diese Arbeitsmarktmonatsdaten für Januar 1994 sollten nicht ausschließlich unter saisonalen Aspekten interpretiert werden. Ausschlaggebend hierfür sind konjunkturelle und vor allem strukturelle Gründe, die verdeutlichen, daß der Landkreis aus der veränderten Situation der Deutschen Einheit und der Europäischen Union seine Entwicklungsdefizite noch lange nicht überwunden hat. Bereits in der jetzigen Zeitphase ist ein überdurchschnittlicher Anstieg der Arbeitslosenquote zu verzeichnen. Weitere substanzielle Arbeitsplatzverluste durch industriellen Wandel und Veränderungen der Produktionssysteme werden zukünftig zu erwarten sein. Diese anhaltenden Verluste sind in ihrer Gesamtheit ungünstig zu bewerten. 3.3.3.9 Handlungsansätze 504 Siehe: Arbeitsamt Helmstedt, Sonderheft 4/94, der Arbeitsmarkt, Seite 2. - 195 - Die vorausgegangenen Ausführungen haben nicht nur aufgezeigt, daß die zukünftigen Herausforderungen für eine landkreisorientierte Arbeitsmarktpolitik größer geworden sind. Die analysierten Problemfelder zeigen ferner auf, daß notwendige Konsequenzen für neue Struktur- und arbeitsmarktpolitische Konzepte notwendiger denn je sind. Darüber hinaus fordert diese Analyse der Arbeitsmarktdaten geradezu eine endogene Strategie zur Behebung der Unterbeschäftigung heraus. Eine kreative und innovationsorientierte Entwicklungsstrategie zur Lösung von qualitativen und quantitativen arbeitsmarktpolitischen Disparitäten im Landkreis Helmstedt ist aber ohne exogene funktionale Rahmensetzung (Finanzierungshilfen etc.) nicht realisierbar. Die Zeiten, in denen Arbeitnehmer/innen aus dem Landkreis Helmstedt ihre Arbeitsplätze vorwiegend in den Volkswagenwerken und in der BKB AG fanden, gehören endgültig der Vergangenheit an. Da im Umkreis alternative Beschäftigungsmöglichkeiten größeren Umfangs fehlen, ist auf absehbare Zeit eine aktive Arbeitsmarktpolitik nach dem Arbeitsför-derungsgesetz gefordert, will man sich nicht auf eine reine Arbeitslosenfinanzierung beschränken. Weitere Einsparungen im Arbeitsförderungsgesetz, in der die wenigen verbliebenen Instrumente für eine vorausschauende aktive Arbeitsmarktpolitik rigoros abgebaut würden, wären hierbei kontraproduktiv. Soll zukünftig wirtschaftliches Wachstum mit einer möglichst hohen Beschäftigung verbunden sein, und eine günstige Beschäftigungsentwicklung selbst in einer stagnierenden Wirtschaft wie im Landkreis Helmstedt zustande kommen, so muß einerseits das weitere Auseinanderdriften des Zentrum-Peripherie-Gefälles abgebaut und andererseits müssen innovative, technologieorientierte Unternehmen angesiedelt, oder eine dahingehende Bestandspflege vollzogen werden, die am Technologietransfer erfolgreich partizipieren kann. Als Plattform für diesen innovationsorientierten Strukturwandel müßte aber auch ein erforderlicher Arbeitskräftebedarf durch Arbeitsmarktanbietern mit spezifischen Anpasssungsqualifikationen vorhanden sein. Es ist ein erhebliches Potential im Rahmen der arbeitsmarktpolitischen Zielgruppen zu versorgen, das nur durch Fortbildung und Umschulung aus der Arbeitslosigkeit herausgeführt werden kann. Gefordert ist hierbei eine aktive Arbeitsmarktpolitik, die vor allen Dingen die Übergangschancen vom zweiten in den ersten Arbeitsmarkt unterstützt. Sollte eine hierfür erforderliche aktive Arbeitsmarktpolitik nicht oder nur bruchstückhaft zustande kommen, erscheinen folgende Konsequenzen programmiert: Es ist davon auszugehen, daß aufgrund steigender Arbeitslosigkeit sich die Arbeitsmarktprobleme verschärfen und die im Landkreis wohnenden Arbeitnehmer/innen verstärkt Abwanderungserwägungen in Betracht ziehen werden, sofern der Arbeits- und Wohnungsmarkt Mobilitätsperspektiven bietet. Insbesondere jüngere Arbeitnehmer/innen und höher qualifizierte Berufsgruppen könnten mittelfristig abwandern, obwohl gerade sie für einen innovativen Strukturwandel benötigt werden. Die Langzeitarbeitslosigkeit erfaßt weitere Arbeitsmarktgruppen von Erwerbspersonen, auch von hochqualifizierten Arbeitnehmern, die ihre stark fixierten ökonomischen- und sozialen Lebensinteressen nicht mehr realisieren können. Die anhaltende Massenarbeitslosigkeit ist die Konsequenz enormer Arbeitsmarktungleichgewichte, in der immer mehr Arbeitnehmern die Langzeitarbeitslosigkeit droht. Für die genannten Problemgruppen (Jugendliche, Frauen, Arbeitnehmer mit gesundheitlichen Einschränkungen und ältere Arbeitnehmer) werden sich die Probleme verschärfen, wobei die Reintegrationschancen, außer für Jugendliche, tendenziell abnehmen. Außerdem ist zu berücksichtigen, daß der Umfang „unsozialer“ Beschäftigungsverhältnisse zunehmen dürfte. Desweiteren sollten die zumeist unbeachteten Zusammenhänge zwischen Arbeitsmarkt und Alterssicherung mehr Berücksichtigung finden. - 196 - Insgesamt sind hierbei die Akteure in der Politik gefordert, hierzu Entwicklungs- und Entscheidungsgrundlagen zu liefern. Da eine dringend notwendige aktive Arbeitsmarktpolitik weitgehend ausbleibt und die Ausrichtung auf einen Prozeß „marktwirtschaftlicher Selbstreinigung“ vorherrscht, wird sich die Diskrepanz zwischen Arbeitsplatz- und Arbeitskräftemarkt weiter extrem erhöhen. Gefordert ist dabei aber auch der Staat in seiner Funktion als Gesetzgeber (indem er inhaltliche Rahmenregelungen und grundsätzliche Verfahrensvorschriften schafft), in seiner Fürsorgepflicht und als humanistischer Verantwortungsträger! 3.3.3.10 Szenarien 3.3.3.10.1 Dauerarbeitslosigkeit! Die ökonomische Prosperitätsphase der bundesrepublikanischen Nachkriegsentwicklung neigt sich ihrem vorläufigen Ende zu. Zuletzt konnten noch annähernd zwei Drittel der Arbeitsgesellschaft am quantitativen Wirtschaftswachstum partizipieren. Unabhängig von zukünftigen zeitlich befristeten Konjunkturaufwärtsentwicklungen wird sich die Arbeitslosigkeit vom Konjunkturverlauf weiter abkoppeln und auf einem hohen Niveau dauerhaft verharren. Insbesondere die darunter anfallende Langzeitarbeitslosigkeit manifestiert sich in einem hohen Sockel Nichterwerbstätiger in einem bisher nicht erahnten Ausmaß zur Dauerarbeitslosigkeit. Der freie Fall von der zunächst beabsichtigten befristeten Arbeitslosenhilfe ab 1994 in die verordnete Sozialhilfe hätte sich dann bis in die obere Mittelschicht ausgewirkt. Auf diese Weise wird permanente Armut zu einem sich selbst verstärkenden Prozeß. 3.3.3.10.2 Alternativszenario: Zukünftige Arbeitszeitgestaltung Damit alle Mitarbeiter/innen nach ihren Möglichkeiten und Fähigkeiten mit ihrer Arbeit einen Beitrag zum Ganzen leisten können, werden wir auch Abschied nehmen müssen vom alten Modell des Vollzeitarbeitsplatzes. Immer mehr Menschen werden zeitweise an bestimmten Tages-, Monats- oder Lebensabschnitten ihr individuelles Know-how in den Betrieb oder der Verwaltung einbringen. Zu anderen Zeiten werden sie anderen wichtigen Beschäftigungen nachgehen. Realisierungsmöglichkeiten für eine Neuschaffung von Arbeitsplätzen und einen wirkungsvoller Abbau der Massenarbeitslosigkeit wären mit diesem einschneidenden arbeitsmarkt- und tarifpolitischen Instrumentarium einer Flexibilisierung des alten starren Arbeitszeitgefüges denkbar. 4. Ein Exkurs in die Selbstverwaltungsgarantie der Kommunen und die Auswirkung der aktuellen kommunalen Finanzsituation Nach dem Grundgesetz (GG) muß den Gemeinden das Recht gewährleistet werden, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu - 197 - regeln (Art. 28 II, S. 1 GG). Eigenverantwortlich heißt hierbei, daß die Gemeinden selbst bestimmen können, ob und wie sie regeln. Wer in der Gemeinde regelt, entscheidet die Bevölkerung der Gemeinde bzw. deren gewählte Vertreter in den politischen Vertretungsorganen. Der rechtliche Status der Gemeinde läßt sich ganz konkret daran messen, welche Rechte die Gemeinde gegenüber den anderen repräsentativ-demokratischen Ebenen hat (im Falle der Kommunen im Landkreis Helmstedt: Gemeinde, Samtgemeinde, Kreis, Land, Bund). Die Gemeinde hat bezüglich ihrer örtlichen Angelegenheiten Regelungs- und Planungshoheit, sofern die Angelegenheit nicht aufgrund von Gesetzen auf andere Ebenen oder andere staatliche Institutionen übertragen worden ist (Stichwort: Hochzonen von Aufgaben, z. B.: Übertragung der Aufgabe der Abfallbeseitigung von der Gemeindeebene auf die Landkreisebene) und insofern als das Bundes- oder Landesgesetz nicht einen Bereich so ausführlich geregelt hat, daß im Rahmen der Gesetze für die Gemeinde faktisch nichts mehr zu regeln übrig bleibt. Da die Selbstverwaltung Geld kostet und ein Großteil der Gelder vom Land kommt, besteht hier eine der wesentlichen Beeinflussungsmöglichkeiten der Gemeinden durch die Länder. Sie können den Geldhahn u. U. zudrehen und das kann die Gemeinden finanziell schwer treffen, da sie als Einnahmequellen nur sogenannte Bagatellsteuern (Hunde- und Getränkesteuern) erheben und in ihrer Höhe festsetzen können, ansonsten werden sie lediglich am Steueraufkommen beteiligt. Alle anderen Einnahmen sind von Land oder Bund gesetzlich geregelt oder es handelt sich um zweckgebundene Einnahmen. Zu diesen gehören Gebühren und Entgelte, welche leistungsabhängig sind. Der Bund und die Länder haben wesentlichen Einfluß auf die drei wichtigsten gemeindlichen Finanzquellen, als da wären: Realsteuern, Anteil am Einkommenssteueraufkommen und Anteil an der Verbundquote des Landes. Bund und Länder können desweiteren über Gesetzesänderungen den Geldstrom an die Gemeinden vermindern. Dies ist wohl eine nicht direkt offensichtliche, den Kennern der Materie mittlerweile aber eine sehr vertraute Beschneidung des kommunalen Selbstverwaltungsrechts. Da die Kommunen weiterhin die ihnen von Bund und Ländern auferlegten Aufgaben erfüllen müssen, wodurch für die eigentlichen Selbstverwaltungsausgaben immer weniger Geld übrig bleibt, müssen sie sich z. T. hoch verschulden, um gewisse, für den Standort wichtige Investitionen noch leisten zu können. Wenn man darüber nachdenkt, daß das staatliche Gemeinwesen zum überwiegenden Teil in den vielen Städten, Kreisen bis hin zu den kleinen Gemeinden stattfindet und bewahrt wird, so könnte man eine solche Beschneidung der finanziellen Mittel der Kommunen als kurzsichtig und bestandsschädigend interpretieren. Da durch die Erhöhung der steuerlichen Freibeträge für Klein- und Mittelbetriebe eine Verschonung von der Gewerbesteuer eintritt, bleiben nur noch die Großunternehmen übrig, die durch ihre Unternehmenspolitik einen ganz erheblichen Einfluß auf die Kommunalpolitik ausüben können. Durch solche fiskalischen Regelungen profitieren die Gemeinden sehr unterschiedlich, je nachdem ob sie Standort eines Großunternehmens sind oder nicht. Da die Gewerbesteuer zudem von Konjunkturschwankungen und der Wirtschaftspolitik des Bundes und der Länder abhängig ist, ist sie für eine langfristige Planung von Gemeindeprojekten kaum mehr geeignet. Von diesen Schwankungen etwas weniger beeinflußt ist der Anteil der Gemeinden an der Einkommenssteuer, wobei die Gemeinden bis heute warten, daß sie ein eigenes Hebesatzrecht bezüglich des Einkommenssteueranteils bekommen. Doch auch wenn dies nicht erfüllt ist, so steht doch außer Frage, daß der gemeindliche Einkommenssteueranteil relativ unabhängig von Konjunkturschwankungen ist und somit eine planbare Größe im kommunalen Finanzhaushalt darstellt. In den letzten Jahren ergaben sich bei der Verteilung der Einkommenssteueranteile jedoch insofern Probleme, als die Umlandgemeinden von großen Städten aufgrund des Wohnortprinzips eine höheres Aufkommen erhielten als die Städte selbst. So ist der Gedanke des Finanzausgleichs wieder stärker in den Vordergrund des Interesses gerückt. Prinzipiell soll bei dem neuerlichen Finanzausgleich so vorgegangen werden, daß das gesamte Steueraufkommen in einen Topf gegeben und nach einem neuen Schlüssel verteilt wird. Über den Finanzausgleich wird das Aufkommen an den Gemeinschaftssteuern (Umsatzsteuer, Köperschaftssteuer und Einkommenssteuer abzüglich des Gemeindeanteils) zwischen Bund, Ländern und Gemeinden aufgeteilt. Dieses geschieht folgendermaßen: - 198 - - Bundesfinanzausgleich (zwischen Bund und Ländern): Der Anteil von Bund und Ländern am Auf- kommen der Umsatzsteuer ist gesetzlich geregelt. Gleiches gilt für das Aufkommen an Einkommens- und Körperschaftssteuer, die jeweils zur Hälfte an Bund und Länder verteilt werden; - Länderfinanzausgleich (zwischen den Ländern): hier wird das unterschiedlich hohe Steueraufkommen der Länder durch Umverteilung angeglichen, da sich sehr unterschiedliche, z.B. von der Wirtschaftskraft und Höhe der Arbeitslosenquote abhängige Auszahlungssummen ergeben; - Kommunaler Finanzausgleich (zwischen Land und Gemeinden): die Gemeinden erhalten hier einen Anteil des Geldes, welches dem Land am Gemeinschaftssteueraufkommen zusteht. Somit hängen die Gemeinen am Tropf, den das Land öffnen oder schließen kann, da alleine das Land die Höhe der Zuweisung bestimmt. Es ist durchaus der Fall, daß der Finanzhaushalt vieler Städte, Landkreise und Gemeinden völlig eingemauert wird zwischen Personalausgaben, Zinsen und Sozialausgaben. In einer solchen Situation ist es auch verständlich, daß sich die Kommunen gegen eine Finanzierung zusätzlicher Einrichtungen (Frauenbeauftragte, Kindergartenplätze) zur Wehr setzen und darauf verweisen, daß dafür dann auch Gelder vom Staat zur Verfügung gestellt werden müssen. Es kann vielen Kommunen momentan durchaus widerfahren, daß sie eigene Projekte streichen müssen, um diese zusätzlichen Aufgaben zu finanzieren. Da die Städte und Gemeinden dazu verpflichtet sind, die Auftragsangelegenheiten und Pflichtaufgaben zu erfüllen, müßte die Finanzausstattung an die Aufgabenstruktur gekoppelt werden und dazu wäre eine Änderung des GG insofern von Nöten, als die Städte und Gemeinden bei der sie betreffenden Gesetzgebung mitbestimmen und -entscheiden können. Ob sie sich dann gegen die politische Übermacht von Bund und Land durchsetzen können, ist eine andere Frage, sicher wäre dann jedoch eine offenere Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen demokratisch legitimierten Ebenen (nach: Franke, 1993, AKP 1/1993)gegeben. 4.1 Die kommunale Finanzsituation des Landkreises Helmstedt Die Gemeinden finanzieren ihre Aufgaben vorwiegend aus Steuereinnahmen der Realsteuern und sonstigen Gemeindesteuern, aus dem Gemeindeanteil an der Lohn- und Einkommenssteuer und aus Finanzzuweisungen von Bund und Land. Bei den Finanzzuweisungen ist zwischen Schlüssel- und Zweckzuweisungen zu unterscheiden. Die Schlüsselzuweisungen werden den Gemeinden als allgemeine Deckungsmittel zur Verfügung gestellt, während mit den Zweckzuweisungen ganz bestimmte Maßnahmen bezuschußt werden, wie z. B. die Maßnahmen nach der Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der regionalen Wirtschaft (GRW, Art. 91 a Abs. 1 Nr. 2 GG). Im Gemeindehaushaltsrecht gilt das Gesamtdeckungsprinzip, was bedeutet, daß die Summe der Einnahmen, von den Zweckzuweisungen einmal abgesehen, in ihrer Gesamtheit dazu dienen, die Aufgaben des eigenen wie auch des übertragenen Wirkungskreises zu finanzieren. Den Grundsteuern kommt bei einigen Steuerungs- und Planungsvorgängen vor allem zukünftig eine Schlüsselrolle zu. So kann der fehlende Anreiz, ”untergenutzte” Grundstücke umzuwidmen und intensiver zu nutzen durch eine Reform und Erhöhung der Grundsteuer ersetzt werden und zwar, wenn das gegenwärtig existierende Ertragswertprinzip geändert wird. Die kommunalpolitisch sehr „unpopuläre“ Erhöhung der Grundsteuern ist Sache der Kommunalparlamente und wird bis dato nach Möglichkeit vermieden. In den letzten Jahren ist deshalb der Realwert der Grundsteuer gemessen am Steueraufkommen der Gemeinden ständig gesunken. Eine Neubewertung zu Verkehrswerten und eine ständige Anpassung der Bewertung bei gleichzeitiger Erhöhung der Grundsteuer könnte diesem Zustand ein Ende setzen. Die Grundsteuer sollte so viel Einnahmen einbringen, daß daraus alle öffentlichen bodenbezogenen Leistungen - einschließlich der Altlastensanierung - finanziert werden können. Außerdem könnte sie verhindern, daß der Produktionsfaktor Boden als Vermögensaufbewahrungsmittel genutzt werden kann. - 199 - So gilt z.B. in Japan seit dem 1.1.1992, ausgehend von außergewöhnlich steigenden Bodenpreisen bei eher wachsenden Hortungsflächen eine nationale Steuer auf das Halten und Horten von Grundstücken. Sie beträgt nur 0.2% des Grundstückswertes und wird nach Ablauf eines Jahres auf 0.3% erhöht, wobei Häuser und Mietwohnungen ausgenommen sind. Die Bemessungsgrundlage ist der Bodenwert. Daneben wird von den Gemeinden eine spezielle Steuer auf das Halten von Grundstücken und von ungenutzten Grundstücken erhoben. Die Gemeinden haben dabei das Recht, diese "untergenutzten" Gebiete selbst festzulegen. Außerdem erheben sie eine Grundsteuer in Höhe von 1.4% des Bodenwertes. Die Gewerbesteuer ist ein wichtiger Indikator zur wirtschaftlichen Entwicklung der gewerbesteuerpflichtigen Betriebe in einer Region. Die Städte und Gemeinden können die Hebesätze in eigener Verantwortlichkeit festsetzen, wobei ein hohes Niveau der Hebesätze zwar höhere Steuer-einnahmen für die Kommunen bedeutet, zur gleichen Zeit aber durchaus dafür sorgen kann, daß die Ansiedlungswilligkeit von Betrieben nachläßt und Abwanderungstendenzen auftreten können. 4.2 Steueraufkommen und -einnahmen (s.a. Tab. IV 1-1c und IV 2-2a) Im Landkreis Helmstedt sind 1990 ca. 22% der Einnahmen des Gesamthaushaltes aus Steuereinnahmen eingenommen worden (s. Tab. IV 1-1c). Im Landkreis Helmstedt beliefen sich die Steuereinnahmen je Einwohner auf knapp 960,-DM, womit der Landkreis knapp unter dem Bundesschnitt lag. Von diesem Betrag entfielen ca. 582,-DM auf den Gemeindeanteil an der Einkommenssteuer und 272,-DM (netto nach Abzug der Gewerbesteuerumlage), ca. 15,-DM auf die Grundsteuer A und 90,80 DM auf die Grundsteuer B ( s. Tab IV. 2 ). Bei den Gewerbesteuern ist aus Tabelle IV 2-2a deutlich ersichtlich, daß es starke regionale Unterschiede gibt. Führend ist die Stadt Wolfsburg, gefolgt von den Städten Salzgitter und Braunschweig, die als Standorte kapitalstarker Industrien relativ hohe Gewerbesteuereinnahmen erzielen. Das geringste Aufkommen weist diesbezüglich der Landkreis Gifhorn auf. Der Landkreis Helmstedt liegt wie auch die anderen Landkreise des Großraumes Braunschweig deutlich unter dem Bundesschnitt. Durch die einschneidende und zum Zeitpunkt der Fertigstellung der Strukturanalyse noch anhaltende Rezession sind die Gewerbesteuereinnahmen stark gesunken. In der Stadt Wolfsburg sind 1993 z. B. zweistellige Millionenbeträge ausgeblieben und es muß dort darüber nachgedacht werden, die Rücklagen vollständig einzusetzen, was ein äußerst riskantes Vorhaben bezüglich der Finanzsituation der Stadt darstellt (Wolfsburger Allgemeine Zeitung v. 30.10.1992, Wolfsburg droht schwere Finanzkrise). Im Landkreis Helmstedt stellt sich die Situation wie folgt dar: Die Gemeinde Büddenstedt hatte ein Minus von 1.9 Mio. DM bei den Gewerbesteuereinnahmen zu verkraften, die Stadt Helmstedt sogar ein Minus von 3 Mio. DM und die Stadt Schöningen von knapp 2 Mio. DM, die Samtgemeinde Nord-Elm von 300.000 DM (Angaben laut Umlagemeldungen der Kommunen bis zum 3. Quartal 1993). Im Vergleich zum 3.Quartal 1992 ergab sich im Landkreis Helmstedt eine Mindereinnahme aus dem Gewerbesteueraufkommen von knapp 7.8 Mio. DM. 4.3 Die Gewerbesteuerhebesätze (s.a. Tab. IV 3) Bei den Gewerbesteuerhebesätzen ergeben sich selbst im Landkreis noch deutlich Unterschiede zwischen den Städten und den Samtgemeinden. Im Landkreisdurchschnitt lag der Gewerbesteuerhebesatz 1991 bei 318% vom Gewerbesteuermeßbetrag nach dem Gewerbeertrag und - 200 - Gewerbekapital. 1993 wiesen die Städte Helmstedt und Schöningen mit 340% die höchsten Gewerbesteuerhebesätze im Landkreisgebiet auf. Den niedrigsten Wert wiesen die Samtgemeinden Heeseberg und Velpke mit 280% auf. 1991 lag der Landkreis Helmstedt zusammen mit dem Landkreis Gifhorn ca. 8% unterhalb des Landesschnitts. Während der Landkreis Gifhorn seinen Gewerbesteuerhebesatz seit Beginn der 80er Jahre gesenkt hat, blieb die Stadt Wolfsburg bei 360%, die Landkreise Helmstedt und Peine haben ihre Gewerbesteuerhebsätze nur unwesentlich erhöht. 4.4 Die Gewerbesteueraufbringungskraft (s.a. Tab.IV 4) Wenn der Grundbetrag der Gewerbesteuern mit dem landesdurchschnittlichen Hebesatz bewertet wird, so ergibt sich die Gewerbesteueraufbringungskraft je Einwohner. Dieser Indikator macht die unterschiedliche Ergiebigkeit dieser Steuer deutlich. Dabei ist für den Landkreis Helmstedt zu erkennen, daß er ca. 30% unter dem Landesschnitt für Niedersachsen liegt, der Landkreis Gifhorn liegt sogar mit über 50% unter dem Bundesschnitt. Unter den Landkreisen im Großraum Braunschweig liegt der Landkreis Helmstedt 1991 noch an der Spitze. 1989 lag der Landkreis Helmstedt sogar 17% über dem Landesschnitt, wogegen der Landkreis Gifhorn gegenüber 1980 starke Rückgänge zu verzeichnen hatte. 4.5 Der Gemeindeanteil an der Einkommenssteuer (s.a. Tab.IV 5) Hier liegt der Landkreis Helmstedt 15% über dem Landesschnitt. Der zunehmende Anteil an der Einkommenssteuerbeteiligung spielt für den kommunalen Haushalt eine wesentliche Rolle und sollte deshalb auch bei den Planungen im Kreisgebiet, vor allem bezüglich des Wohn- und Baulandes besonders berücksichtigt werden. Während die Städte eine abnehmende Tendenz zu verzeichnen haben, ist bei den Landkreisen im Großraum Braunschweig seit den 80er Jahren eine steigende Tendenz festzustellen. Besonders beim Landkreis Gifhorn ist ein deutlicher Anstieg von 10% unter dem Landesschnitt (1980) auf 15% über dem Landesschnitt (1991) festzustellen, was wohl nicht zuletzt auf einen höheren Bevölkerungsanteil mit hohem Einkommen zurückzuführen ist, der auf die verstärkten Bemühungen der kreisangehörigen Kommunen in Sachen "Wohnbevölkerung" hinweist. 4.6 Die Steuereinnahmekraft (s.a. Tab.IV 6) Lag die Steuereinnahmekraft im Landkreis Helmstedt 1980 noch bei 96% des Landesschnitts, ist sie 1991 auf 93% abgesunken und betrug zu diesem Zeitpunkt 997 DM je Einwohner. 1993 liegt sie laut Angaben der Kämmerei des Landkreises Helmstedt bei 968 DM je Einwohner, ist also bereits wieder abgesunken. Auch in dieser Tabelle wird die Wirkung der Grenzöffnung für den Landkreis Helmstedt offensichtlich. Im Jahr der Grenzöffnung lag die Steuereinnahmekraft je Einwohner mit 19% deutlich über dem Landesschnitt für Niedersachsen. Das läßt ahnen, welche großen Umsätze im Landkreis Helmstedt aufgrund der Grenzöffnung getätigt wurden. Damals wurden ca. 30 Mio. DM an "Geschenken" für die DDR-Bevölkerung gezahlt, wovon ein großer Teil direkt wieder in die heimische Wirtschaft abgeflossen sein dürfte. Eine solche Situation wird sich wahrscheinlich nie wieder für einen deutschen Standort ergeben. Der Landkreis Helmstedt steht im regionalen Vergleich mit im vorderen Drittel. Dies ergibt sich u.a. aus der Standortsituation für den Braunkohletagebau und die Nähe zu Wolfsburg ergibt. Der Landkreis Helmstedt steht bezüglich der Steuereinnahmekraft auch im Vergleich zu anderen niedersächsischen Kommunen gut da. 4.7 Die Ausgabensituation - 201 - Der Landkreis Helmstedt ist, wie auch andere Kommunen, durch die staatlichen Sparmaßnahmen und finanziellen Verlagerungen in erhebliche finanzielle Engpässe geraten. Vor allem die Erhöhungen im Sozialbereich machen dabei den größten Teil der zusätzlichen finanziellen Belastungen aus. Durch die Einsparungsabsichten des Bundes sind diverse Kommunen bereits zu der Entscheidung gekommen, Verfassungsklage gegen das von Bonn geschnürte Sparpaket einzuleiten. Die Sparmaßnahmen können insbesondere die Nachbarn in Sachsen-Anhalt und die anderen neuen Bundesländer vor kaum lösbare finanzielle Belastungen stellen. Nach dem Haushaltsplan des Landkreises Helmstedt schlugen die Ausgaben 1993 für Sozialhilfe mit ca. 36% und die Personalausgaben mit 24% als Hauptausgabenbereiche des Verwaltungshaushaltes zu Buche. In der Stadt Helmstedt sind bereits 56% (!) des gesamten Verwaltungshaushaltes für den Bereich Sozialleistungen vorgesehen. Im Zuge dieser Sparmaßnahmen wird es zwangsläufig zu einer Erhöhung der Kreisumlage kommen müssen, da dies traditionell die einzige Möglichkeit des Kreises ist, über höhere Einnahmen zu verfügen. Damit aber werden die Kommunen zusätzlich belastet und somit letzten Endes der Bürger. Ob diese Belastung politisch zu tragen sein wird, entscheidet die Zukunft, sicher ist, die Kommunen werden im Zuge dieser Vorhaben ihre Gebührensätze erhöhen müssen. Höhere Gebühren sind vor allem in den Bereichen Müll und Abwasser in den nächsten fünf Jahren zu erwarten. Um den Kreishaushalt zur Deckung zu bringen wird natürlich über die Höhe der Umlageerhöhung heftig diskutiert werden. Zur Kreisumlage ist zu sagen, daß der Landkreis Helmstedt bis dato zu den Landkreisen mit den niedrigsten Kreisumlage-Hebesätzen in Niedersachsen gehörte. Nach 10 Jahren muß nun der Landkreis aufgrund der staatlichen Sparmaßnahmen eine Erhöhung vornehmen, um seinen Haushalt auszugleichen. In den kreisangehörigen Kommunen wird die Diskussion um die Kreisumlageerhöhung zu diversen Haushaltsverschiebungen führen. Innerhalb der angeschlossenen Kommunen wird u. a. die Kreisumlageerhöhung zu erheblichen Mehrausgaben im Vermögenshaushalt und entsprechenden Kürzungen im Verwaltungshaushalt führen. In den Samtgemeinden kann es in der Folge zu höheren Samtgemeindeumlagen kommen, so daß die Gemeinden wiederum den ”schwarzen Peter” zugeschoben bekommen werden. Ähnlich wie in der Gemeinde Lehre werden sich die wesentlichen Ursachen für die Haushaltsengpässe in der - Erhöhung der Kreisumlage, - der Erfüllung des Solidarbeitrages, - der Gewerbesteuerumlage, - der Erhöhung der Personalausgaben, - sowie der Reduzierung der Schlüsselzuweisungen finden lassen. Es ist demnach damit zu rechnen, daß es in den Kommunen zu spürbaren Veränderungen kommen wird. So wird versucht, möglichst viele Ausgabenposten zu streichen. Häufig werden, trotz eines dringenden Personalmangels innerhalb der Verwaltung, freigewordene Stellen nicht oder verzögert wieder besetzt. Desweiteren werden verwaltungsinterne wie auch -externe Dienstleistungen herabgefahren, wie Telefonzentralen, Postdienste, Personal und Ausstattung von Frei- und Hallenbädern u. ä.. 1993 bereits wurde zusammengefaßt der Verwaltungshaushalt des Landkreises wie folgt dargestellt: es gibt keinen nennenswerten Bewegungsspielraum mehr und ein Ausgleich des Verwaltungshaushaltes war nur durch eine Erhöhung der Kreisumlagen zu bewerkstelligen. - 202 - Wesentliche Belastungsfaktoren waren: - die vorgesehene Änderung des Finanzausgleichsgesetzes, die erhebliche Mindereinnahmen und Verschiebungen von Einnahmen vom Verwaltungshaushalt in den Vermögenshaushalt mit sich bringt, - die Belastung bei den Sozialhilfeausgaben, bei denen zukünftig noch erhebliche Steigerungen erwartet werden, - die ebenfalls stark zunehmenden Personalausgaben - die zunehmende Verschuldung, die zukünftig eine Zunahme der Schuldendienstleistungen bewirken wird. 1993 konnte nur eine Mindestzuführung in Höhe der Kreditbeteiligungen veranschlagt werden und es mußte eine beträchtliche Geldsumme als Kredit neu aufgenommen werden (Haushaltsplan 1993, Landkreis Helmstedt). Für den Haushalt 1994 ergibt sich ein Minus von 6 Mio. DM. Zum Zeitpunkt der Analyse befand man sich bezüglich der Einsparmöglichkeiten noch in der Erörterungs- und Beschlußphase. Die enormen Ausgabenbelastungen dieses Haushaltes werden erneut durch die Erhöhungen im Bereich der Sozialhilfe hervorgerufen, dessen Ausgabenanteil sich 1994 auf 37% beläuft (BZ-Helmstedter Ausgabe v. 12.11.93). 4.8 Der Schuldenstand Innerhalb des Landkreises Helmstedt betrug der Schuldenstand je Einwohner am 31.12.92 1112,DM je Einwohner. In der Samtgemeinde Heeseberg belief sich der Schuldenstand je Einwohner auf bemerkenswerte 53,-DM (!). Den höchsten Schuldenstand je Einwohner hatte die Stadt Schöningen mit 1613,- DM je Einwohner (Landkreis Helmstedt, 1993). Ende 1993 wird sich die Verschuldung der Stadt Schöningen u.U. auf 2000 DM/Einwohner belaufen und der Stadthaushalt wird ein Defizit von 1 Mio. DM aufweisen (BZ-Helmstedter Ausgabe v. 12.11.93). In der Gemeinde Lehre belief sich der Schuldenstand je Einwohner Ende 1993 auf 1500.-DM/Person. In der Gemeinde Büddenstedt lag die Pro-Kopf-Verschuldung bei 256 DM/Einwohner und damit im unteren Drittel der vergleichbaren Gemeinden, wo der Schuldenstand ca. 930 DM/Einwohner ausmacht (Braunschweiger Zeitung - Helmstedter Ausgabe v. 16.3.1994, Büddenstedts Haushalt wird immer enger). Gegenüber 1991 ist eine Erhöhung der Verschuldung je Einwohner im Landkreis aufgetreten. 1991 belief sie sich auf durchschnittlich 1076,-DM je Einwohner) gegenüber 832,- DM im Jahre 1981 (Statistische Berichte Niedersachsen, Kreisfreie Städte und Landkreise in Zahlen 1981 und 1991). Die sich 1993 abzeichnende Verschuldungssituation wird sich voraussichtlich in den nächsten Jahren enorm verschärfen und in der Folge zu vielen Auseinandersetzungen zwischen dem Landkreis und den Kommunen führen, die ja letzten Endes ebenfalls über höhere Einnahmen den Haushaltsausgleich des Landkreises mitfinanzieren müssen. Neben den oben genannten Aspekten gibt es noch einen weiteren Bereich, der zur Sorge Anlaß gibt. Es handelt sich dabei um die explosionsartig gestiegenen Ausgaben des Vermögenshaushaltes für den Posten "Umschuldung von Krediten". Belief sich dieser Posten 1987 noch auf 2,0%, 1989 sogar auf nur 1.3%, waren es im Vermögenshaushalt 1992 knapp 26% und im Jahr 1993 bereits 28%. Die Tilgung von Krediten nahm 1993 einen normalen Wert von 5,7% ein. Diese Problematik ist ernstzunehmen, denn ein solcher Berg von Schulden belastet die Zukunft des Landkreises u. U. in erheblicher Weise. Es wird natürlich versucht, jede Art der Neuverschuldung zu vermeiden, was bei den vorhandenen Pflichtaufgaben der Verwaltung aber einfacher gesagt als getan ist. - 203 - Die Kommunen sind in ihren Entscheidungsfreiheiten so und so schon abhängig genug. Wenn zu dieser gesetzlichen Abhängigkeit auch noch ein so gefährlicher finanzieller Knebel hinzukommt, kann das sehr negative Folgen haben und die sich daraus ergebenden finanziellen Zwänge könnten die weitere Entwicklung der folgenden Generationen stark beeinträchtigen. - 204 - 5. Flächennutzung 5.1 Einleitung Die zur Verfügung stehende Bodenfläche, die mit unterschiedlichen Nutzungen belegt wird, stellt eine endliche Ressource dar. Wo viele Menschen und Wohn- sowie Gewerbeanlagen in Ballungszonen und Großstadtregionen zusammendrängen entsteht Flächenknappheit. Infolgedessen kommt es zur Erhöhung von Bodenpreisen und zu einer intensiven Flächennutzung. Generell aber mangelt es nicht an bebauungsfähiger Fläche, denn es gibt außerhalb der Verdichtungszonen Bereiche, in denen ein Überangebot an baulich ungenutzter, meist landwirtschaftlicher Fläche vorliegt. 1989 betrug die bebaute Fläche in den alten Bundesländern 12% der Gesamtfläche; in der ehemaligen DDR lag der Anteil ungefähr in derselben Höhe (Datenreport 1992). Mehr als die Hälfte unserer Fläche dient der Nahrungserzeugung und trotz dieser grundlegenden Funktion sind aufgrund von starken Bemühungen der EG, die Effektivität der landwirtschaftlichen Produktion europaweit zu steigern, in den letzten Jahren Millionen Hektar landwirtschaftlicher Flächen stillgelegt worden. Diese Stillegung soll vorwiegend in Gebieten mit schlechten Produktionsvoraussetzungen erfolgen. Es kann insgesamt also nicht von einer allgemeinen Flächenknappheit gesprochen werden, denn der Mangel an Flächen besteht lediglich dort, wo die Menschen zu dicht siedeln und sich ihre Nutzungsanforderungen häufen und überschneiden (Moewes, 1980). In einem dicht besiedelten Industrieland wie der Bundesrepublik Deutschland spielt der Boden als wichtiges, besonders Gut, wie oben angedeutet, eine wesentliche Rolle. Die Bodenfläche ist nicht vermehrbar (wohl aber in mehrschichtiger Nutzung die vorhandene Fläche konzentrierter bzw. vielfältiger zu nutzen). Betrachtet man die langfristige Entwicklung der Flächennutzung in den alten Bundesländern, so ist im allgemeinen eine Abnahme der landwirtschaftlichen Fläche und eine Zunahme der Gebäude-, Frei- und Verkehrsflächen zu verzeichnen. Die unterschiedlichen Aktivitäten des Menschen im Raum und die verschiedenartigen Flächennutzungsansprüche begründen das Verlangen nach einer übergreifenden Koordination derselben. Sollte eine solche Koordination nicht vorliegen bzw. wirksam greifen, so dürfte es über kurz oder lang zu einer Verdrängung weniger konkurrenzfähiger - z.B. weil weniger gut finanziell abgesicherter - Flächennutzungsansprüche kommen, ungeachtet ihrer tatsächlichen Bedeutung für die Wohlfahrt und Gesundheit der Menschen (Moewes, 1981). Die Flächennutzung stellt also einen wesentlichen regionalplanerischen Arbeitsbereich dar. Die bestehenden Leitbilder haben hierbei zu den bekannten Agglomerationen und den dazugehörigen Entlastungsversuchen (oftmals fällt in diesem Zusammenhang das Wort: ”Zersiedelung”) geführt. Außerdem leiten sie die Verteilung und Bewertung der verschiedenen Flächennutzungsansprüche an. Die zunehmende Verschärfung der Verdichtungsproblematik läßt die Frage nach neuen Leitbildern aufkommen, die eine weniger stark verdichtete Siedlungsstruktur anbieten können. 5.2 Die tatsächliche Flächennutzung des Landkreises Helmstedt im regionalen Vergleich und unter Berücksichtigung bestimmter Flächennutzungskategorien 5.2.1 Gebäude- und Freiflächen Der Anteil der Gebäude- und Freiflächen beträgt im Landkreis Helmstedt 5.6%. Im Vergleich dazu sind es beim Landkreis Gifhorn 4.1% und beim Landkreis Wolfenbüttel 4.8%. Betrachtet man die Anteile der verschiedenen Nutzungen in der Kategorie Gebäude- und Freiflächen (Tab.V 1) weist der Landkreis Helmstedt im angegebenen Landkreisvergleich in der Rubrik Gebäude- und - 205 - Freiflächen "Wohnen" den geringsten Anteil mit 49.3% auf; im Vergleich dazu haben die Landkreise Gifhorn, Peine und Wolfenbüttel jeweils Anteile, die über der 55%-Marke liegen! Gebäude und Freiflächen für Handel und Wirtschaft sind im Landkreis Helmstedt mit anteiligen 1.4% noch deutlich unter dem Landesschnitt und nur der Landkreis Wolfenbüttel hat einen geringeren Wert aufzuweisen. Der Landkreis Gifhorn weist mit 3.1% in dieser Kategorie den höchsten Wert im angegeben Vergleich auf. Die Flächen für Gewerbe und Industrie sind im Landkreis anteilig mit 27.6% an der Gesamtfläche Gebäude- und Freifläche angegeben, was nahezu das Doppelte des niedersächsischen Landesdurchschnitts ausmacht. Den geringsten Anteil weist der Landkreis Gifhorn mit 10.2% auf. Aus diesen Daten ist bereits erkennbar, daß der Landkreis Helmstedt eine altindustrielle Struktur und in den Bereichen Wohnversorgung und entsprechende Dienstleistungen ein erhebliches Defizit aufweist. In Bezug auf die Rubrik Gebäude- und Freiflächen "Erholung" weist der Landkreis Helmstedt im regionalen Vergleich ein weiteres Defizit auf. Es ist dies die relativ geringe und magere Ausstattung mit Erholungsflächen. Diese sind nicht nur für die Wohnbevölkerung wichtig, sondern stellen U. U. desweiteren auch ein attraktives Fremdenverkehrsangebot dar. Der Landkreis Gifhorn steht im regionalen Vergleich mit anteiligen 3.3% an der gesamten Gebäude- und Freifläche weit vorne an. Gegenüber dem Landkreis Helmstedt ist das ein sechsmal so hoher Wert, dreimal so viel wie der niedersächsische Landesdurchschnitt. Der Landkreis Gifhorn verfügt zudem über einen vergleichsweise hohen Anteil an Freiflächen, also Flächen im Ortsbereich, die noch nicht baulich oder anderweitig nachhaltig genutzt werden (Anteile der Landkreise Gifhorn und Peine je 2.2% an Gesamtgebäude- und Freifläche). 5.2.2 Betriebsflächen In der Kategorie Betriebsflächen, also unbebaute Flächen, die vorherrschend gewerblich, industriell oder für Zwecke der Ver- und Entsorgung genutzt werden, wird deutlich, daß im Landkreis Helmstedt der Bergbau ansässig ist (BF-Abbauland, anteilig ca. 1%). Damit läßt sich wohl auch der relativ hohe Wert (74 Hektar) für die Rubrik "BF-unbenutzbar" erklären, also Flächen mit Betriebsanlagen, die durch besondere Umstände unbenutzbar geworden sind (z.B. Bruchfelder, verfallene Betriebsanlagen, Trümmerfelder). Es ist in diesem Zusammenhang zu klären, um welche Flächen es sich genau handelt und inwiefern sie nicht für Naturschutz- und Erholungszwecke oder als Deponierungsflächen für bestimmte Abfallgruppen zu nutzen sind. Das Verhältnis zwischen den Größen Abbauland und BF-Unbenutzbar ist beim Landkreis Gifhorn wesentlich günstiger als beim Landkreis Helmstedt. Es ist hier zu klären, warum dem so ist. Sollte es im Landkreis Gifhorn verstanden worden sein, die Abbauflächen einer weiteren Nutzung zuzuführen, gar für den Fremdenverkehr und die Naherholung?! 5.2.3 Erholungsflächen In der Kategorie Erholungsflächen, also unbebauten Flächen, die vorherrschend dem Sport, der Erholung oder dazu dienen, Tiere und Pflanzen zu zeigen, weist der Landkreis Helmstedt, wie auch die anderen Landkreise relativ geringe Werte (zwischen 0.5 und 1% an der Gesamtfläche) auf und liegen damit weit unter dem niedersächsischen Landesdurchschnitt, der mit über 10% angegeben ist. Im Landkreis Helmstedt sind knapp 60% dieser Erholungsflächen mit Grünanlagen belegt, was einen Wert knapp unter dem niedersächsischen Landesschnitt bedeutet. Der Landkreis Gifhorn hat 18% der Erholungsfläche mit Campingplätzen belegt, was einen überdurchschnittlich hohen Wert darstellt und die Bemühungen dieses Landkreises im (Nah)- - 206 - Erholungsbereich ein wenig zu reflektieren vermag. Dafür ist zwar der Wert für Grünanlagen im Vergleich sehr niedrig, doch der für Campingplätze sehr hoch. Der niedersächsische Landesdurchschnitt liegt diesbezüglich bei unter 5%, der des Regierungsbezirkes Braunschweig bei ca. 4%. Der Landkreis Helmstedt weist einen Anteil von knapp 1% auf. Hier eröffnetet sich dem Landkreis Helmstedt u.U. ein Potential (s.u.), vor allem wenn die zu rekultivierenden Flächen nicht nur als Müllplätze verwendet werden. 5.2.4 Verkehrsflächen In der Kategorie Verkehrsflächen weisen die Landkreise Gifhorn (4.0%), Wolfenbüttel (4.4%) und Helmstedt (4.6%) die geringsten Anteile auf. Im Landesdurchschnitt für Niedersachsen betragen sie ca. 4.7%. Die "Verkehrsregion" Regierungsbezirk Braunschweig weist einen Anteil von 5.1% auf. Bei der Verteilung der Anteile auf die jeweiligen Rubriken, wie z.B. Straße und Wege, fällt auf, daß der Landkreis Gifhorn einen sehr hohen Anteil an Wegen aufweist (52.5%), was ihn für die Naherholung und das Wohnen durchaus attraktiver erscheinen läßt. In den Städten liegt der Anteil der Verkehrsflächen naturgemäß höher (stets über 50%). 5.3 Die ökologisch relevanten Flächenutzungen im Landkreis Helmstedt 5.3.1 Landwirtschafts- und Waldflächen In der Kategorie Landwirtschaftsfläche hat der Landkreis Helmstedt aufgrund seiner geographischen Lokalisation in einem Teilbereich der Börde mit hervorragenden Bodenwerten einen hohen landwirtschaftlichen Flächenanteil aufzuweisen (62.5%) und liegt damit knapp unterhalb des niedersächsischen Landesschnitts (63.3%) (s. Tab. V 2-2g). Im Vergleich zu den Landkreisen Wolfenbüttel (70.0%) und Peine (73.5%) sind die Anteile der landwirtschaftlichen Nutzflächen jedoch geringer. Im Landkreis Helmstedt ist ein relativ hoher Anteil guter bis sehr guter Böden vorhanden, vor allem südlich von der Stadt Helmstedt im Gebiet der Samtgemeinde Heeseberg. Dort liegt mit 89.6% der höchste Landwirtschaftsflächenanteil im Landkreis Helmstedt vor. Von da aus geht es westwärts in die Schöppenstedter Mulde (LK Wolfenbüttel), die ebenfalls hervorragende Bodenwerte aufzuweisen hat. Der relativ geringe Anteil an landwirtschaftlicher Fläche im Landkreis Gifhorn selbst die Stadt Helmstedt hat einen größeren Anteil (60.7%)- erklärt sich aus den landwirtschaftlichen Problemgebieten. Moore und Heidegebiete sind im Landkreis Gifhorn aufgrund der geologischen Vorbedingungen relativ häufiger und stellen bekanntermaßen landwirtschaftliche Ungunstgebiete dar. Der Landkreis Gifhorn liegt im ehemaligen Sandergebiet von Gletscherzungen (heutige Heidelandschaften) und weist somit großflächig Sandböden mit schlechten Fertilitätsgraden auf, die nicht zuletzt auf das Fehlen der Fluglößauflagen zurückgehen. Das zeigt sich auch bei der differenzierteren Auflistung der verschiedenen Nutzungsarten. In den Gebieten mit hohen Bodenwerten (Landkreise Helmstedt, Wolfenbüttel und Peine) liegen die Werte für die Anteile von Ackerland an der Gesamtlandwirtschaftsfläche alle über 80% und damit deutlich über dem Landesdurchschnitt für Niedersachsen mit 55.9%. Der Landkreis Gifhorn weist einen fast 30%-igen Anteil Grünland auf, wohingegen die Vergleichslandkreise teilweise sogar um 5% (Landkreis Wolfenbüttel) liegen. Hier zeigen sich auch die schon angesprochenen, im Vergleich zu den anderen Landkreisen großen landwirtschaftlichen Problemgebiete im Landkreis Gifhorn. Der Anteil der Moor- und Heideflächen ist mit knapp 4% der Gesamtlandwirtschaftsfläche der höchste im regionalen Vergleich. Auch der Anteil an landwirtschaftlichen Brachflächen ist der höchste im hier verwendeten Vergleich, was auf gehäufte Betriebs- bzw.-. Flächenaufgaben bzw. -stillegungen schließen läßt. Was des Landwirts Leid ist, kann des Fremdenverkehrswirts Freud sein. Der hohe Anteil an Grünland, Moor- und Heideflächen sowie an landwirtschaftlichem Brachland ist für Naherholungssuchende, aber auch Ferntouristen ein wichtiges Rekreationspotential, von dem die - 207 - landwirtschaftlich intensiv genutzten Landkreisgebiete von Helmstedt, Wolfenbüttel und Peine vergleichsweise nur sehr wenig aufzuweisen haben. Über weite Bereiche kann man dort sogar von einer Kultursteppe sprechen, die durch großflächig angelegte, industrielle Feldnutzungen gekennzeichnet ist und entsprechend ökologisch ausgeräumt ist. Sie ist somit auch kein Potential für den Fremdenverkehr. Der Waldanteil im Landkreis Helmstedt liegt vergleichsweise hoch (mit 23.8% liegt er über dem niedersächsischen Landesdurchschnitt, der 20.7% beträgt). Der Landkreis Gifhorn liegt mit 31.7% deutlich darüber, was nicht zuletzt an den geologischen Gegebenheiten im Landkreis Gifhorn liegt. Ökologisch und auch für den Fremdenverkehr interessant ist die Aufteilung der Waldgebiete nach Waldarten, wie Laub-, Nadel- und Mischwald. In den Regionen mit besseren Böden zeigt sich auch ein über 70%-iger Anteil von Laub- und Mischwald, der durch seine mehrstöckige Struktur und hohe Artendiversität vielfältiger ist. Auf den sandigen und anmoorigen Böden in einigen Bereichen des Landkreises Gifhorn gedeihen ausschließlich Nadelbäume. Hier ist die Anteilsverteilung zwischen Laub,-Misch- und Nadelwald genau umgekehrt. Über 70% des Waldbestandes stellen Nadelwald dar, der auch seinen eigenen Reiz hat, doch wesentlich artenärmer und damit eintöniger ist. Im Landkreis Helmstedt zeigt sich an der Verteilung der Waldarten deutlich die "Grenzlage" zwischen den fruchtbaren Lößböden im Süden und den sandigeren, lößarmen Böden nördlich der B1. Der Nadelwaldanteil beträgt im Landkreis Helmstedt ca. 13%. Im Landkreis Gifhorn dagegen über 70%. 5.3.2 Wasserflächen Ein weiterer wichtiger ökologischer Indikator zur Bewertung von Landschaftspotentialen ist neben der land- und der forstwirtschaftlichen Fläche der Wasseranteil in der Landschaft. Er betrug im Landkreis Helmstedt 1.1%, was im regionalen Vergleich einen Platz im unteren Drittel bedeutet. Im Regierungsbezirk Braunschweig lag der Anteil für Wasserflächen bei 1.4% (1989). Der Landesschnitt für Niedersachsen lag bei 2%, also etwas über dem Bundesschnitt von 1.8%. Im Bereich des Landkreises Helmstedt besteht ein spürbarer Mangel an für die Erholung geeigneten Wasserflächen (RROP 1991). Der Landkreis hat nur kleinere Wasserläufe (Schunter, Lutter, Lappau u.e.m.), dafür aber ursprünglich viele ausgedehnte Feuchtbereiche (feuchte Wiesen, Moore, Quellbereiche, Sümpfe u.ä.) aufzuweisen, die durch die Meliorationsmaßnahmen der Landwirtschaft auf den sehr guten Böden (sind sie erst einmal drainiert) stark vermindert worden sind. Betrachtet man die Zusammensetzung der Anteile an den verschiedenen Wasserflächenarten, so ergibt sich ein differenzierteres Bild. Den Großteil der Wasserflächen stellen im Landkreis Helmstedt Gräben dar, was ein Ergebnis der intensiven Meliorationsmaßnahmen für die Landwirtschaft ist. Auch an Flußufern oder erholungsmäßig attraktiven Seeufern und Teichen hat der Landkreis Helmstedt im Vergleich zum Landkreis Gifhorn relativ wenig zu bieten. Wären die Meliorationsmaßnahmen nicht durchgeführt worden, so wäre der Anteil an Sumpfland im Landkreis Helmstedt wahrscheinlich noch wesentlich höher (vor allem im Bereich des Großen Bruchs). Dort sind erst aufgrund der Entwässerungsmaßnahmen sehr gute Kulturböden entstanden. Wie bereits angedeutet, ist aus dem Aspekt der Förderung des Fremdenverkehrs heraus die Schaffung von Wasserflächen sinnvoll, obwohl auch hier planerisch festzulegen ist, wo Aktivitätsbereiche für den Menschen und wo Ausgleichs- und Rückzugsräume für die Natur liegen, damit es nicht zu den unerwünschten Konfliktsituationen zwischen unterschiedlichen, einander zum Teil diametral entgegengesetzten Flächennutzungsansprüchen kommt. Eine solchermaßen ungeregelte Freizeitnutzung, wie sie sich zeit- und stellenweise an den Velpker Seen in der Velpker Schweiz zeigt, kann stark zu Lasten der ökologischen Qualität gehen. In den nächsten 30 Jahren wird der Landkreis Helmstedt wahrscheinlich einen relativ starken Zuwachs an Wasserflächen erhalten. Dies wird im Zuge der Rekultivierungsmaßnahmen der BKB im Süden der Stadt Helmstedt geschehen, wo in Richtung Schöningen aufgrund gewaltiger - 208 - Massendefizite zwei größere Seen entstehen sollen. Neben diesen größeren Wasserflächen werden auf dem Rekultivierungsgelände noch weitere kleinere Wasserflächen zu den bereits existierenden dazukommen. Damit könnte sich der Bereich zwischen dem Grundzentrum Schöningen über die Industriegemeinde Büddenstedt zum Mittelzentrum Helmstedt in einen nicht nur naturräumlich sondern auch fremdenverkehrsmäßig und die Wohnqualität steigernden Landschaftsbereich entwickeln. Dies kann sich jedoch nach neueren Planungen seitens des Unternehmens noch ändern, vor allem, wenn man gedenkt, die Massendefizite mit Müll verschiedenster Herkunft in gesonderten Deponien auszugleichen. Der Landkreis Gifhorn und Peine stehen bezüglich fremdenverkehrlich zu nutzenden Wasserflächen dank natürlicher Vorgaben besser da. Es sei deshalb hier noch einmal darauf hingewiesen, daß das Rekultivierungsgelände der BKB in Teilstücken bei entsprechender Ausstattung ein sehr gutes Fremdenverkehrspotential darstellt. Leider wird die Entstehung der Seen aus der Sicht von 1993 noch viel zu lange dauern. Trotzdem würde eine vorausschauende Planung und frühzeitige Anfreundung mit einer fremdenverkehrlichen Naherholungsnutzung nicht zum Nachteil des Bereiches zwischen Helmstedt und Schöningen sein, vor allem, wenn man die geographische Lage des Geländes etwa auf der Mitte zwischen Magdeburg und Braunschweig an einer der wichtigsten europäischen Transport- und Kommuniaktionsachsen berücksichtigt. 5.4 Flächen anderer Nutzung In der Kategorie Flächen anderer Nutzung fällt der hohe Anteil von Übungsgelände im Landkreis Gifhorn auf, was zum einen durch das bekannte Versuchsgelände von Volkswagen und zum anderen von militärischen Übungsflächen herrühren dürfte. Im Landkreis Wolfenbüttel ist der hohe Anteil von Übungsgelände ebenfalls auf die militärische Nutzung (hier der ehemalig ansässigen englischen Streitmacht) zurückzuführen. Der Landkreis Helmstedt weist einen relativ hohen Anteil von Schutzflächen auf, also Flächen, deren Hauptzweck der Schutz von Anlagen oder Landschaftsteilen ist. Hierbei dürften auch die ehemaligen Grenzkontrollanlagen zu Buche schlagen, da durch den Landkreis Helmstedt zwei sehr wichtige Verkehrswege (die A 2 und die Eisenbahnstrecke nach Berlin) mit den entsprechenden ehemaligen Grenzkontrollstellen verlaufen, die z.T. bereits wieder abgebaut sind bzw. brach liegen. Es handelt sich in diesem Zusammenhang meist um Grundstücke, die vom Bundesliegenschaftsamt verwaltet werden. In naher Zukunft sollen die Grenzanlagen im Zuge des Autobahnausbaus völlig umgestaltet werden (auf sachsen-anhaltnischer Seite soll auf dem Gelände der ehemaligen Kontrollund Schutzeinrichtungen u. a. ein "Grenzmuseum" entstehen). 5.5 Die geplante Nutzung der Bodenflächen Ein Vergleich der Flächen der geplanten Nutzung mit den Flächen der tatsächlichen Nutzung ist aufgrund unterschiedlicher Abgrenzungskriterien beider Erhebungskataloge schwierig und z.T. nur eingeschränkt möglich. Gemäß der Regelung des Baugesetzbuches können im Gegensatz zum Liegeschaftskataster bei der geplanten Nutzung bestimmte Nutzungsarten einer umliegenden Nutzungsart zugeordnet werden. Einer der gravierendsten Unterschiede ergibt sich bei den Bauflächen. So sind z.B. bei den Flächen der geplanten Nutzung bestimmte, deutlich von der Wohnbebauung abgesetzte Wohnbauflächen der umliegenden, zumeist Landwirtschafts- und Waldfläche zugeordnet. Dies führt in landwirtschaftlich strukturierten Gebieten zu einer scheinbaren Abnahme der Bauflächen gegenüber der tatsächlichen Nutzung in teilweise erheblichem Umfang. Ähnlich verhält es sich mit Flächen für den Straßenverkehr. Bei der geplanten Nutzung werden vor allem die klassifizierten Straßen erfaßt, während z.B. Wohn- und Stichstraßen sowie land- und forstwirtschaftliche Wege im Gegensatz zur tatsächlichen Nutzung zugeordnet werden, auch wenn sie ggf. in einzelnen Bauleitplänen gesondert dargestellt sind. Hier ergibt sich deshalb eine scheinbare Abnahme der Flächen für den Straßenverkehr. - 209 - - 210 - 6. Die Gewerbeflächen Gewerbeflächen sind ein sehr wichtiger Standortfaktor und deshalb für die Wirtschaftsförderung von besonderer Bedeutung. Für eine wirtschaftliche Entwicklung sind immer auch überplante, kurzfristig verfügbare und konfliktfreie (z.B. ohne Altlasten) Gewerbeflächen notwendig. Gewerbeflächen sind einer der wenigen durch die wirtschaftsförderliche Arbeit vor Ort gestaltbaren "harten" Standortfaktoren. Die Verfügbarkeit von Flächen ist desweiteren für Maßnahmen der Bestandspflege von großer Wichtigkeit wenn es gilt, genügend erschlossene Grundstücke für Erweiterungszwecke der Unternehmen vorzuhalten. Das zentrale Verlagerungsmotiv der Unternehmen erklärt sich oftmals nicht aus dem Vorhandensein von Zugfaktoren hin zu neuen Standorten, sondern durch Druckfaktoren, den alten Standorten verlassen zu müssen, wobei wiederum Flächenknappheit am alten Standort einen der wichtigen Abwanderungsgründe darstellt (Ertel, Jung, Müller 1989). Wenn also im Landkreis Helmstedt ausreichend qualitativ gute gewerbliche Flächen zur Verfügung gestellt werden können, dann besteht durchaus die Möglichkeit, daß Unternehmen sich für einen Standort im Landkreis Helmstedt interessieren und sich dort auch ansiedeln. 6.1 Die Gewerbeflächensituation im regionalen Überblick Im Gebiet des Zweckverbandes Großraum Braunschweig sind ca. 9785 ha Industrie- und Gewerbegebiete enthalten (2.4% des Gesamtgebietes). Von diesen sind 60.8% (5.951 ha) bebauter Bestand. 1.3% (125 ha) sind frei und unbebaut, 3% (297 ha) teilerschlossen, für 1.4% (137 ha) läuft das Planverfahren, 0.7% (64 ha) sind Industriebrachen (z.T. ehemalige Zuckerfabriken), 0.3% (25 ha) sind andere Recyclingflächen, 27.6% (2.701 ha) sind in älteren F-Plänen abgesichert, z.Zt. Brachland oder landwirtschaftlich genutzt und 4.9% (485 ha) sind angedachte Flächen in der Vorprüfung ohne Planverfahren (Gewerbeflächenatlas des Zweckverbandes Großraum Braunschweig, 1993) Die Schwerpunkte der Gewerbeflächenausdehnung beziehen sich auf die Ober- und Mittelzentren. Nach der Gewerbeflächenerhebung des Zweckverbandes Großraum Braunschweig sind über 50% der ausgewiesenen Freiflächen in der Stadt Salzgitter vorhanden (ca. 1400 ha)! Die Stadt Braunschweig (391 ha) und die Stadt Wolfsburg (247 ha) halten ca. 24% der Reserven. In den vier Landkreisen des Zweckverbandgebietes werden insgesamt ca. 26% der Flächenreserven vorgehalten. Von diesen zuletzt genannten Gewerbeflächen in den Landkreisen des Zweckverbandes Großraum Braunschweig ist ein Großteil auf die Kreisstädte und die größeren kreisangehörigen Städte verteilt. Die ländlichen Bereiche verfügen im allgemeinen nur über sehr kleine ortsbezogene Industrie- und Gewerbeflächen. 6.2 Die Gewerbeflächen im Landkreis Helmstedt Die meisten im Landkreis Helmstedt ausgewiesenen Flächen sind sowohl für Gewerbe als z.T. auch für Industrie oder als Industrie- und Gewerbegebiete ausgewiesen und unterliegen z.T. bestimmten Nutzungsbeschränkungen, wie z.B. dem Lärmschutz (überhaupt spielen Emissionsbestimmungen eine große Rolle). Nach eigenen Untersuchungen ergaben sich widersprechende Ergebnisse bei Größe, Auflagen und Zeiträumen der Innutzungsnahme von Gewerbeflächen im Landkreis Helmstedt. In die hier vorliegenden Ergebnisse sind die Befragungen des Amtes für Wirtschaftsförderung, die Befragung der Wirtschaftsförderer des Landkreises, die Umfrage zu GE- und GI-Gebieten des Zweckverbandes Großraum Braunschweig sowie die Zusammenstellung der Investment Promotion Agency Niedersachsen (IPA) eingeflossen und miteinander verglichen worden. Die Angaben der Wirtschaftsförderer waren dabei z. T. unvollständig, ja wie im Falle einer Samtgemeinde sogar völlig übertrieben. Deshalb wurde sich im wesentlichen auf die Angaben des Zweckverbandes - 211 - Großraum Braunschweig, der IPA und des Bauordnungs- und -planungsamtes des Landkreises Helmstedt, deren Angaben ja auch in die Zusammenstellung des Zweckverbandes eingeflossen sind, berufen. Aus dieser Zusammenstellung ist zu ersehen, daß es im Landkreis Helmstedt diverse Gewerbeflächen gibt, von denen einige kurzfristig verfügbar sind bzw. sein werden. Eine Gewerbeflächenknappheit ist innerhalb der nächsten 4-5 Jahre (einen reibungslosen Planungsablauf vorausgesetzt) kaum zu befürchten, da sich vor allem die Städte Helmstedt und Königslutter um Vorhalteflächen bemühen. Eine Knappheit könnte lediglich im Bereich kurzfristiger und zudem flächenintensiver Belegungsmöglichkeiten, wie sie sich in der Zeit der Untersuchungserstellung bei der Zuliefererproblematik für das sich grundlegend umstrukturierende VW-Werk in Wolfsburg ergeben hat, diagnostiziert werden . Hier hat der Landkreis Helmstedt aufgrund seiner infrastrukturellen Anbindung an Wolfsburg und in Bezug auf die großflächig versiegelnden Ansiedlungen von Zulieferern und die dafür kaum vorhandenen Flächen keine direkt erkennbare Chance. Die Flächenvorhaltung des Landkreises Helmstedt ist insgesamt zu gering bemessen. Hier sollten unbedingt Anstrengungen unternommen werden, einen planerischen Vorhaltezeitraum von 15-20 Jahren zu erreichen. Auch wenn das in Anbetracht der knappen Haushaltsmittel eine kritische Empfehlung ist, so könnte auf alle Fälle versucht werden, über eine enge intrakommunale Kooperation vorbereitende Schritte einzuleiten. Durch eine vertraglich geregelte Kooperation ließen sich zudem erhebliche finanzielle Mittel einsparen. Wenn weiter nur ein "business as usual" gefahren wird, so werden sich die Kommunen auch weiterhin um etwaige Fortschritte und Erfolge neiden anstatt zusammenzulegen und über Kooperationsverträge eine für alle vorteilhafte und tragbare Übereinkunft in dieser Angelegenheit zu erreichen. 6.2.1 Größen und Verfügbarkeiten der (geplanten) Gewerbegebiete im Landkreis Helmstedt Der Landkreis Helmstedt verfügt über insgesamt 1042 ha Gebäude- und Freiflächen für Gewerbe und Industrie (s. a. Tab. V 2). Nach Angaben des Bauplanungsamtes (1993) sind als reine Gewerbeflächen ca. 780 ha im Landkreis Helmstedt vorhanden. Die Differenz zwischen diesen beiden Angaben ist wohl darauf zurückzuführen, daß bei den in den Nutzungserfassungen der tatsächlichen Flächennutzung von 1989 erfaßten Flächen u.a. auch betriebliche Sozialeinrichtungen, Wohngebäude für Betriebsinhaber, Hausmeister, Pförtner usw., Stellplätze und Garagen aber auch Werkstraßen, Gleisanlagen, Lagerplätze und Verladerampen einbezogen wurden. 6.2.2 Die Situation im Einzelnen In der Stadt Helmstedt sind nach Angaben der IPA 110.4 ha frei, wovon sich 17.2 ha in öffentlicher Hand befinden und insgesamt voraussichtlich spätestens bis 1996 verfügbar sein sollen. Laut Zweckverband Großraum Braunschweig sind knapp 30.4 ha sofort verfügbar, wovon 7.2 ha voll erschlossen und unbebaut sind. In der Stadt Königslutter sind nach der IPA 27 ha Freiflächen vorhanden, die bis 1994 verfügbar sein sollen; ca. 8 ha davon befinden sich in öffentlicher Hand. Nach Angaben des Zweckverbandes Großraum Braunschweig sind 19.5 sofort verfügbar, wobei für ca. 7 ha keine wirksame Darstellung im F-Plan vorhanden ist und ein Änderungsverfahren noch läuft. Im Gebiet der Stadt Schöningen sind laut IPA-Angaben 19.2 ha Optionsflächen mit rechtswirksamen FLNP vorhanden. Davon befinden sich 1.1 ha in öffentlicher Hand. Laut Zweckverband Großraum Braunschweig sind 22.6 ha voll erschlossen und frei, jedoch aufgrund der örtlichen Lage wegen Wohnungsbesatz z.T. nur als Mischgebiet ausgewiesen. Den größten Teil nehmen Flächen im Gebiet der zugehörigen Gemeinde Esbeck ein (132 ha; Bergbaufläche). Im Gemeindegebiet Büddenstedt befinden sich insgesamt knapp 68 ha Gewerbeflächen. In der Büddenstedt selbst sind 2.5 ha Gewerbeflächen, von denen noch 2 ha frei und voll erschlossen sind. In der Gemeinde Offleben befinden sich 63.5 ha Gewerbeflächen, von den ca. 30 ha frei und voll erschlossen sind, wobei das vorhandene Kraftwerk am Standort 1993 geschlossen wurde und teilweise bis auf weiteres stillgelegt wird. - 212 - Die Gemeinde Grasleben verfügt laut IPA über 23 ha, von denen 15 ha im FLNP wirksam und 8 ha im Aufstellungsverfahren zur FLNP-Erweiterung sind. Deren frühste Verfügbarkeit wird mit 1994 angegeben. Nach Angaben des Zweckverbandes Großraum Braunschweig sind 28 ha voll erschlossen und frei. Die Gemeinde Lehre verfügt laut Gewerbeflächenatlas des Zweckverbandes Großraum Braunschweig insgesamt über knapp 27 ha Gewerbeflächen. Davon befinden sich nach Angaben der IPA 10 ha in der FLNP-Änderung und der B-Plan für 6 ha im Aufstellungsverfahren. Die frühste Verfügbarkeit wird hier mit 1993 angegeben. Wendhausen verfügt über ein Gewerbegebiet von knapp 8 ha Größe. Davon sind 6.8 ha voll erschlossen und frei, jedoch z.T. mit einer Altlast kontaminiert. Diese Fläche gehört dem Landkreis Helmstedt und ist zugleich die einzige Gewerbefläche in dessen Besitz. Die Gemeinde Flechtorf (Gemeinde Lehre) hat knapp 11 ha freie Gewerbefläche angegeben, von denen sich 1 ha in öffentlicher Hand befindet. In der Samtgemeinde Heeseberg sind laut Zweckverband Großraum Braunschweig insgesamt 26 ha Gewerbeflächen vorhanden, von denen 8 ha frei sind. Nach Angaben der IPA sind im Gemeindegebiet in der Gemeinde Söllingen 8 ha Gewerbegebiete in Vorbereitung, von denen 4 ha Optionsflächen darstellen und 4 ha innerhalb von 1-3 Jahren, also bis 1994 verfügbar sein sollen. In der Samtgemeinde Nord-Elm werden von einer Gesamtgewerbefläche von ca. 63 ha für die Gemeinde Frellstedt 21 ha Optionsflächen angegeben (in der Zusammenstellung des Zweckverbandes Großraum Braunschweig ist diese Fläche unter Süpplingen aufgeführt). In der Gemeinde Süpplingen sind desweiteren 4.3 ha als frei gemeldet. In der Gemeinde Velpke werden nach Angaben des Zweckverbandes Großraum Braunschweig von insgesamt 41 ha ca. 12 ha als frei gemeldet, für die jedoch der FLNP und der B-Plan noch im Aufstellungsverfahren sind, so daß keine zuverlässigen Aussagen über eine etwaige spätere Nutzung und den Zeitpunkt der Innutzungsnahme möglich sind. In der Samtgemeinde Velpke befinden sich im übrigen die von der Fläche her größten Industriebrachen im Landkreis Helmstedt, einmal abgesehen vom 1993 stillgelegten Kraftwerk Offleben, das sich auf dem Gebiet der Gemeinde Büddenstedt befindet. Bis 1996, also einem von heute aus gesehenen relativ kurzen Zeitraum sollen nach den Angaben, die die Wirtschaftsförderer des Landkreises Helmstedt der IPA gemeldet haben, insgesamt ca. 66 ha Gerwerbeflächen zur Verfügung stehen. Nach Angaben der Kreisverwaltung befinden sich für etwa 61 ha Bebauungspläne im Aufstellungsverfahren. Im einzelnen sind das in der Stadt Königslutter 14.3 ha, in der Samtgemeinde Grasleben 15 ha, in der Gemeinde Lehre 5.7 ha, in der Gemeinde Söllingen 8.7 ha und in der Gemeinde Velpke 17.3 ha. Bei diesen Angaben gilt der Vorbehalt, daß es sich dabei um unterschiedliche Stadien des formalisierten Verfahrens handelt, so daß bis zum Abschluß des Planungsverfahren nicht gewährleistet ist, ob das eingeschlagene Planungsziel auch erreicht werden kann. Nach einer verwaltungsinternen Befragung bezüglich sofort verfügbarer Flächen, also baureifer, d.h. in Bebauungsplänen rechtswirksam ausgewiesener, sofort verfügbarer Gewerbe- und Industrieflächen, gibt es in der Stadt Helmstedt ein Gebiet von ca. 30 ha; in der Stadt Königslutter eine Fläche von 3 ha. Es ist auffällig, daß auch die etwas abseits der großen Verkehrswege liegenden Gemeinden Gewerbegebiete in beträchtlicher Größe aufweisen. Es ist hierbei unbedingt auf die Folgewirkungen solcher Ausweisungen zu achten: Allzu schnell kann ein solches Vorhaben aufgrund der sich negativ gestaltenden öffentlichen Haushaltsmittel, neuer gesetzgeberischer Tatsachen, wirtschaftlicher Engpässe und des Strukturwandels zu Fehlinvestitionen führen. Die infrastrukturelle Einrichtung solcher Gewerbegebiete hat im Landkreis Helmstedt nicht auf jeden Fall Aussicht auf eine staatliche Förderung, schon gar nicht bei den anstehenden Einsparungen im - 213 - Bundeshaushalt und einer sich wandelnden Konzentrationsstruktur in der Raumplanung seit der Grenzöffnung. Zudem laufen die zonenrandtypischen Fördermittel und Abschreibungsmöglichkeiten aus. Zum Ziel-2-Gebiet der EU gehören die Gemeinde Büddenstedt, die Städte Schöningen und Helmstedt, sowie Teile der Samtgemeinde Heeseberg und Nord-Elm, so daß in diesen Kommunen kurzfristig u. a. Gewerbegebietsausweisungen und damit zusammenhängende Infrastrukturen von der EU gefördert werden können. Für die Belegung bzw. Umnutzung "dörflicher" Gewerbegebiete ist ebenfalls der Dienstleistungssektor interessant. Wenn der Standort gut zu erreichen ist könnte z. B. ein Gewerbehaus eingerichtet werden, das sich mit der gesamten Hausbaupalette beschäftigt. Dabei könnte der baubiologische Bereich ganz besonders gefördert werden, denn dafür ist ein gesundes Wachstum zu prognostizieren (man bedenke nur den zukünftigen baubiologischen Umbau des vorhandenen Bestandes oder die zunehmende Nachfrage nach baubiologisch errichteten Häusern. 6.2.3 Exemplarische Darstellung der Bandbreite einzelner Gewerbeflächenmerkmale Die Flächen im Landkreis Helmstedt haben folgende Querschnittsmerkmale vorzuweisen: - Eigentümer sind vorwiegend Privatpersonen; - die Preise stehen nur in sehr begrenztem Umfang fest; - der Erschließungsgrad der Flächen ist sehr unterschiedlich; ( Eine Erschließung mit Elektrizität, Wasser, Abwasser, Gas ist an allen Standorten jederzeit möglich, zum Teil bereits vorhanden. Die notwendigen Erschließungsstraßen müssen häufig erst noch angelegt werden ) - zum größten Teil liegen rechtskräftige Flächennutzungspläne vor, weniger häufig auch rechtskräftige Bebauungspläne; - die meisten Flächenanteile sind GE-Gebiete, die wenigsten sind als GI-Gebiete ausgewiesen (letztere vorwiegend in der Stadt Helmstedt und Königslutter), - Schwerpunkte der gewerblichen Flächenausdehnung stellen die Städte Helmstedt und Königslutter dar (Ausarbeitung des Amtes für Wirtschaftsförderung, Landkreis Helmstedt, 1990). Bei den Angaben zum Autobahnanschluß läßt sich erkennen, daß ca. 25% der Gewerbeflächen weniger als 10 km Entfernung zur Autobahn untergebracht haben. Ca. 75% liegen in einer Distanz bis zu 20 km zur Autobahn. Der zuständige Stückgutbahnhof, der die Region Helmstedt ver- und entsorgt, ist in Braunschweig beheimatet. Knapp 80% der (inklusive geplanten) Gewerbeflächen liegen in einer Entfernung von 30-40 km zum Stückgutbahnhof Braunschweig. Ca. 20% liegen näher als in 20 km Entfernung. Bezüglich der Schiffahrtswege kann im Landkreis Helmstedt festgestellt werden, daß keines der Gebiete einen direkten Zugang mit direkter Uferverladestelle aufzuweisen hat. Je nach geographischer Lage bieten sich die Häfen in Braunschweig, Haldensleben oder Wolfsburg an. Knapp 30% der Gewerbegebiete liegen in einer günstigen Erreichbarkeit von bis zu 15 km. Ca. 20% weisen eine Entfernung von bis zu 25 km auf und 50% liegen zwischen 30 - 50 km von der nächsten Wasserstraße mit entsprechender Uferladestelle entfernt. Da der östliche Teil des Landkreises Helmstedt etwa auf der Mitte zwischen Braunschweig und Magdeburg liegt, empfiehlt sich hier u.U. die nähere Verladestelle in Haldensleben, für den nördlichen Teil des Landkreises die Verladestelle in Wolfsburg. Der westliche Teil des Landkreises wird sich diesbezüglich sachgemäß nach Braunschweig orientieren. - 214 - 6.3 Flächen der BKB Die BKB verfügt über ca. 3260 ha Flächen im Landkreis. Davon entfallen auf die Betriebsfläche ca. 1600 ha, wovon wiederum ca. 1300 ha auf den Tagebau entfallen. Die Landwirtschaftsfläche ist ca. 1000 ha groß, wovon ca. 450 ha rekultivierte Fläche darstellen. Ca. 600 ha sind Waldfläche. Weiterhin sind ca. 60 ha Wasserflächen im Besitz der BKB, die östlich von Büddenstedt und südöstlich von Offleben liegen und heute Vorranggebiete für Natur und Landschaft darstellen. Im Landkreis Helmstedt ist von verschiedenen Seiten gesagt worden, daß die BKB AG u.a. die bestehende Gewerbeflächenknappheit mindern könnte. Von Seiten des Unternehmens wird das aber etwas anders gesehen: Hier wird gesagt, daß das Unternehmen kaum Flächen besitze, die als GEoder GI-Gebiete kurzfristig und unmittelbar zur Verfügung stehen können. Und die bestehenden Flächen, die u.U. zur gewerblichen Nutzung geeignet wären (z.B. bei der Gemeinde Büddenstedt) werden vom Unternehmen nicht zu Vorzugspreisen vergeben, da der Immobilienbereich vor allem in Zeiten der internen Umstrukturierung auf neue Geschäftsfelder an Gewicht zunimmt und das Unternehmen keine Flächen zu Schleuderpreisen veräußern möchte. Ganz gleich, wie diese Fälle auch bewertet werden, eines zeichnet sich deutlich ab: die Verantwortung des Unternehmens für die Region kann sich nicht nur darin zeigen, neue Geschäftsfelder (das Entsorgungsunternehmen BKB AG) zu erschließen und die Region in neue Abhängigkeiten dieser Monostruktur zu leiten, sondern es sollte auch aktiv am Umbau der vom Bergbau stark beeinflußten Region mitwirken. Auch wenn ein wirtschaftendes Unternehmen keine "gemeinnützige Organisation" ist, die moralische Verantwortung für die Region ist damit nicht beiseite zu schieben, da das Unternehmen in ein sozio-kulturelles und -ökonomisches Umfeld eingebettet ist. Das Unternehmen hat aufgrund seiner Aktivitäten im Bergbau Jahr für Jahr Millionengewinne gemacht und tausenden von Menschen Arbeit und Einkommen gegeben. Es ist auch nicht von der Hand zu weisen, daß dieses Unternehmen mit seiner eigenen Politik den Landkreis Helmstedt über Jahrzehnte bestimmte, auch im Gewerbeflächenbereich. So verhinderte es einst sehr erfolgreich die Ansiedlung eines anderen großen Betriebes, der, wäre er erfolgreich angesiedelt worden, durchaus mit seinen Lohnstrukturen zu einem Konkurrenten der BKB AG hätte werden können. Die im Besitz des Unternehmens befindlichen Rekultivierungsflächen sind zwar keine Siedlungsflächen und schon gar keine Gewerbeflächen, doch sie stellen ein großes und wertvolles Potential für die Landkreisentwicklung dar. Man denke dabei nur an die gute Lage zu den Verkehrssträngen (sowohl Autobahn als auch Schiene) und ihre Lage in einem neuen, vereinigten Deutschland. Sieht man dazu die vorhandenen Werkstattflächen im Kohlepfeiler zwischen Büddenstedt und Schöningen, so ließe sich ohne weiteres ein langfristiges Konzept in Richtung Naherholung, Wohnen und Arbeiten sowie Naturschutz und Ökologie (Stichwort: moderne Dienstleistungen) vorstellen (s. a. Anhang). Die bisher gefahrene Ausrichtung des Unternehmens auf "Wir können Massen bewegen und sind Energieerzeuger" und die naheliegende kurzfristige Konzentration auf Müll als lukratives Geschäft eines niedergehenden Bergbaubetriebes ist nach unternehmerischen Gesichtspunkten naheliegend, wird den Arbeitsplatzabbau aber in keinster Weise abmildern können. Alle machen Müll und keiner will ihn vor der Haustür liegen haben. Wenn also diese Region zu einer Entsorgungsregion umgebaut werden soll, so sollte der Gedanke der Kompensation in den Vordergrund gerückt werden. 6.4 Der VW-Flächenbedarf In der Zeit der Erstellung dieser Analyse wurden bei Gesprächen mit den mit der Wirtschaftsförderung betrauten Funktionsträgern immer wieder der Wunsch geäußert, für den nach Gewerbeflächen suchenden VW-Konzern entsprechende Flächen im Landkreis Helmstedt zur Verfügung zu stellen. - 215 - Die Suchraster der flächenverbrauchenden Unternehmen der Zulieferer (die ja die Lagerung für das Just-in-time-Verfahren übernehmen) orientieren sich möglichst nahe an den Wolfsburger VWKonzern (wenn nicht sogar auf das Konzerngelände in Wolfsburg selbst bzw. in einer ca. 15Minuten-Fahrdistanz dazu). Für Logistik-/Zentrallager- und Verkehrs-/Logistik-Unternehmen liegt der Landkreis allenfalls punktuell im Suchraum. Sie konzentrieren sich auf Flächen in zentraler Lage zu den norddeutschen Industrieregionen wie den Raum Osnabrück, aber auch Göttingen, Hildesheim, Hannover, Braunschweig u. ä.. Die benötigten Gewerbegebiete müssen vor allem über eine optimale Lage inklusive einer sehr guten infrastrukturellen Ausstattung verfügen (Gleisanschluß, Autobahnanschluß etc.), was es im Landkreis Helmstedt ganz und gar nicht einfacher macht, entsprechende Flächen zur Verfügung zu stellen. Der Ausbau der A2 kann u. U. für anliegende Kommunen eine Chance beinhalten, die oben angesprochenen Unternehmen für an dieser internationalen Verkehrsachse ausgewiesene Gewerbegrundstücke zu interessieren. Ob das dann unbedingt in Bezug zur VW-AG stehen muß, sei einmal dahingestellt. Insbesondere der große Anteil an industriellen Brachflächen im Bereich Salzgitter wird voraussichtlich über kurz oder lang wirtschaftlich lukrativ eingesetzt werden können, auch wenn das für die Ansiedlungswünsche im Landkreis Helmstedt nicht so vorteilhaft ist. Aber auch im Landkreis Helmstedt sollte man die Realitäten akzeptieren. In der Stadt Salzgitter "schlummert" ein gigantisches Flächenpotential, das, wenn es eingesetzt werden kann, auch auf dem Arbeitsmarkt überregionale Wirkungen haben dürfte, die sich u. U. auf dem Helmstedter Arbeitsmarkt entlastend bemerkbar machen könnten. 6.5 Grundsteuern und Gewerbesteuern Grund- und Gewerbesteuern gehören zu den unternehmerischen Standortfaktoren und sind Bestandteil der wirtschaftsförderlichen Instrumente. Deshalb sollen sie in diesem Zusammenhang eingehender dargestellt werden. Bezüglich der Hebesätze von Grundsteuern und Gewerbesteuern hat sich bei den Angaben für die Gemeinden des Landkreises Helmstedt folgende Bandbreite ergeben: Grundsteuern A und B von 200 bis 350 v.H., Gewerbesteuern von 260 bis 360 v.H. (Landkreis Helmstedt, 1993). Die Durchschnittswerte des IHK-Bezirks Braunschweig von 1989 bis 1991 setzten sich wie folgt zusammen: Grundsteuer A 1989 1990 Grundsteuer B Gewerbesteuer 1991 1989 1990 1991 1989 1990 1991 Stadt Braunschweig 320 320 320 400 400 400 Stadt Salzgitter 280 280 280 360 360 360 390 Landkreis Goslar 278 278 277 296 296 Landkreis Helmstedt 269 269 269 288 288 Landkreis Peine 271 271 271 273 Landkreis Wolfenbüttel 271 272 273 269 269 Niedersachsen 283 285 286 287 288 Quelle: Veröffentlichung der IHK-Braunschweig, 1992 395 395 410 390 390 296 324 326 232 288 321 320 318 274 274 349 349 350 269 320 321 320 290 319 319 319 - 216 - Es ist aus dieser Zusammenstellung ersichtlich, daß der Landkreis Helmstedt zu den "günstigen" Landkreisen gehört. Er ist diesbezüglich also ein zu bevorzugender Standort. 6.6 Preise für Gewerbeflächen Neben anderen wichtigen Standortfaktoren spielt natürlich die Höhe des Kaufpreises und der Erschließungszustand der Gewerbegebiete eine wichtige Rolle für die Unternehmen. Über Preise für Gewerbegebiete im Landkreis waren kaum zuverlässige Angaben zu finden. Generell kann man sagen, daß bei Gewerbebauland der Grundstücksmarkt sehr unausgeglichen ist. Städte und Gemeinden sind bemüht, das Wertniveau möglichst niedrig zu halten und dennoch werden vereinzelt relativ hohe Preise für gewerbliche Bauflächen gezahlt. Das resultiert zum einen aus dem Interesse, das bestimmte Branchen haben, in Königslutter, Helmstedt oder Schöningen präsent zu sein, wobei auch hier die Öffnung der deutsch-deutschen Grenze eine wichtiger Beweggrund sein dürfte und zum anderen aus dem Wissen der Kommunen heraus, daß ihr Standort seinen Preis haben kann. Im Landkreis Helmstedt liegen die durchschnittlichen Preise bei 8,- bis 65,- DM/qm, abhängig von Lage und Erschließungsstand des Grundstücks (Grundstücksmarktbericht Helmstedt, 1992). Aber es sind auch Fälle bekannt geworden, wo bis zu 70 DM/qm gezahlt werden. 6.7 Gewerbeflächenmanagement Der Landkreis Helmstedt verfügt nur bedingt über und für spezielle unternehmerische Anforderungen ausgestattete Flächen. Alleine der kurze Vorhaltezeitraum und die Ergebnisse der Befragung der Wirtschaftsförderer weisen auf die Dringlichkeit eines übergreifenden Gewerbeflächenmanagements hin. Da die Ausweisung und Erschließung von Gewerbeflächen, wie schon öfters betont, zu den wesentlichen Aufgaben einer am Erfolg orientierten Wirtschaftsförderung gehört, sollte man im Landkreis Helmstedt, vor allem in Anbetracht der "Konkurrenten" in den Nachbarkommunen (vor allem im Landkreis Gifhorn und den Städten Braunschweig und Salzgitter) noch aktiver werden. Im Landkreis Helmstedt gibt es bis dato keine systematische und übergreifende Werbung und Akquisition, um zu versuchen, die Gewerbeflächen mit Ansiedlern, seien es externe oder auch interne, zu belegen. Der Landkreis Helmstedt hat sich aus gegebenen Gründen nicht wie der Landkreis Gifhorn und die Stadt Braunschweig auf die Zulieferer von VW und die Unternehmen aus den Bereichen Logistik/Zentrallager konzentriert. Das regionale Markenzeichen - die sogenannte Verkehrsregion - geht bisher mehr oder minder am Landkreis Helmstedt vorbei. Auch wenn dabei weniger die weitere und stärkere Spezialisierung der Region auf Automobile und die damit verbundenen Zulieferfirmen gemeint ist und mehr auf einen steigerungsfähigen Ausbau der Verkehrsinformations- und technikstrukturen abgehoben wird, liegt der Landkreis Helmstedt bisher „verkehrt“. Die IPA als überregionaler und internationaler Werbeträger des Landes Niedersachsen weist vielfältige Werbeaktivitäten in vielen Ländern nach. Sowohl Staaten in Europa, den USA, Japan, Südkorea sowie Taiwan werden angesprochen, da dort das Land Niedersachsen Repräsentanzen unterhält, die der IPA zuarbeiten. Schwerpunkte im europäischen Umfeld sind vor allem die westdeutschen Bundesländer, Skandinavien, Großbritannien und die Niederlande. Die Akquisition knüpft insbesondere an vorhandene Stärken in der niedersächsischen Wirtschaftsstruktur an. Im Raum Braunschweig ist dies unmittelbar aus der Nähe zu Wolfsburg im Automobil- und damit im Zuliefererbereich zu sehen (IPA Rundbrief 1, Mai 1993). Der Zweckverband Großraum Braunschweig beschäftigt sich z. Zt. mit der Erstellung des Regionalen Raumordnungsprogramms und wird aller Voraussicht nach die Achse Salzgitter-PeineBraunschweig-Wolfsburg als gewerblich-industrielle Standorte planerisch herausheben. Er könnte sogar, auch wenn ihm dies per Gesetz nicht zugedacht ist, die Ansiedlung von Zulieferbetrieben in - 217 - den Kommunen abstimmen (Braunschweiger Zeitung v 25.8.93 "Die Region muß sich als solche begreifen"). Dem Amt für Wirtschaftsförderung des Landkreises Helmstedt obliegt es aufgrund ihrer organisatorischen Stellung, verstärkte Kontakte zu den Unternehmen vorzugsweise im Landkreis Helmstedt zu suchen. Dies ist nicht nur wichtig, um die unternehmerischen Standortbewertungen in Erfahrung zu bringen, sondern auch um etwaige standortbezogene Engpässe frühzeitig zu erkennen und vor allem bei Umsiedlungswünschen frühzeitig Initiativen ergreifen zu können. Ein detaillierter Gesamtüberblick über die bestehende gewerbliche Flächensituation liegt vor. Um die Standortfaktoren aus der unternehmerischen Perspektive und Bewertung besser kennenzulernen und sie auch entsprechend ihrer Gewichtung in ein kommunales Flächenmarketing einzubauen, ist im Rahmen dieser Analyse eine Unternehmensbefragung ausgearbeitet worden, die sich in ihrem Inhalt und in ihrer Ausrichtung an bestehende, erfolgreich durchgeführte Befragungsschemata anlehnt. Die ausformulierte Befragung ist am Ende der Strukturanalyse einzusehen. Es wird hier vorgeschlagen, eine solche Befragung bei den Unternehmen durchzuführen, wobei es aus pragmatischen Gründen wahrscheinlich besser ist, sie in mündlicher Form im Rahmen einer Betriebsbesichtigung und eines informellen Gesprächs vorzunehmen. Eine solche Befragung gibt den Entscheidungsträgern die Möglichkeit, etwaige Umsiedlungs- bzw. Umstrukturierungsvorhaben rechtzeitig zu erkennen und sich mit entsprechenden Maßnahmen darauf einzustellen bzw. sie u.U. abzuschwächen oder zu verhindern und im Landkreis umzuleiten. Es können daraus außerdem Ableitungen über die Bewertung des Standorts seitens der Unternehmen aus den verschiedenen Branchen gemacht werden. Zu einem umfassenden kommunalen Gewerbeflächemangement gehört auch eine breit angelegte Informationspolitik. Es wird in Zukunft wohl kaum noch Ansiedlungen auf der sogenannten "grünen Wiese" geben. Umweltschutzauflagen und Bürgerinitiativen sowie organisierte Umweltschutzgruppen versuchen nicht nur die Errichtung von Gebäuden sondern auch die dafür unabdingbar notwendigen Verkehrsverbindungen zu verhindern, vor allem, wenn sie scheinbar ausschließlich den Unternehmen nützen. Ein Grund mehr, die noch zur Verfügung stehenden Flächenressourcen optimaler auszunutzen und zukünftig ein konsequentes Flächenrecycling und Flächenmanagement zu betreiben. Die Informationspolitik sollte versuchen, zu erklären, daß eine Flächenausweisung nicht zum Selbstzwecke der Unternehmer geschieht, wohl aber zur Steigerung der unternehmerischen Aktivitäten vorgenommen wird, wodurch sich folglich auch Arbeitsplätze ergeben und somit über die Einkommenssicherung auch die Lebensqualität der Bürger und Bürgerinnen gesteigert werden kann. Im einem kommunalen Gewerbeflächenmanagement kommt es nicht alleine darauf an, ein Standortangebot zu vermarkten (Immobilienmakler-Mentalität), sondern die Standorte den zu erkennenden spezifischen Bedürfnissen der Unternehmen möglichst gut anzupassen und dabei das Wohl der Allgemeinheit, also auch anderer Interessengruppen mit ihren wichtigen Anliegen (Umweltschutz) ernstzunehmen. Trotz einer detaillierten Informationsvergabe an alle wichtigen, mit der Flächenausweisung verbundenen Interessengruppen, lassen sich nicht immer die Vorbehalte bestimmter Gruppen abbauen. Unter dem Deckmantel des Umweltschutzes sind oftmals unnachgiebige Egoismen verborgen, die die Arbeit einer vermittelnden Stelle geradezu herausfordern. Die sogenannten weichen Standortfaktoren bekommen für die Unternehmen eine immer größere Bedeutung. Zu diesen weichen Standortfaktoren gehört z.B. auch das Image einer Region. Im Landkreis Helmstedt liegt das Image eines Braunkohlereviers und Kraftwerkstandortes vor, das gerade für Außenstehende relativ negativ besetzt ist, und es gilt, dieses auf alle Fälle abzumildern und eine Attraktivitätssteigerung zu versuchen. Die Stoßrichtung "Entsorgen" ermöglicht durchaus eine ökonomische Diversifizierung, ob sie jedoch auch dazu führt, daß die Wohnbevölkerung gesteigert werden kann, daß sich weitere Unternehmen, insbesondere anderer Sparten des Dienstleistungssektors, ansiedeln, darf kritisch beurteilt werden. Die vorhandene Rekultivierungsfläche könnte sowohl für die Richtung Entsorgung als auch für das weite Feld des Tourismus, ja späterhin u. U. sogar für den Wohnbereich in Wert gesetzt werden. Es kommt lediglich darauf an, wie die Dinge arrangiert und koordiniert werden, wie sie in der Region bewertet und überregional vermarktet werden können. - 218 - 6.8 Gewerbliche Brachflächen Das Vorhandensein gewerblicher Brachflächen ist ein Resultat des Strukturwandels, der vor allem in altindustriell geprägten Regionen, wie dem Landkreis Helmstedt mehr oder minder spürbar ist. Der wirtschaftliche Strukturwandel ist immer wieder analysiert worden, seine Auswirkungen auf die Flächennutzung sind dabei jedoch nur selten betrachtet worden (Henkel 1982). Was versteht man unter Brachflächen? In der Landwirtschaft bezeichnet man liegengelassene Flächen als Brachflächen. Der Wortstamm weist eher auf umgebrochene aber unbestellte Flächen, die allenfalls zur Viehversorgung und somit gleichzeitig zur Bodenregeneration genutzt werden, hin (Brockhaus Enzyklopädie 1991). Unbrauchbar gewordene landwirtschaftliche Flächen können ohne Schaden ungenutzt liegengelassen werden (sie dienen dabei sogar gleichzeitig mehreren Funktionen, wie z.B. als Nischen für Fauna und Flora), was man von unbrauchbar gewordenen Siedlungsflächen nicht behaupten kann, schon gar nicht wenn eine ehemalige Gewerbe- oder Industrienutzung zu belastenden Bodenverseuchungen bzw. -degradationen geführt hat. Es gibt sehr unterschiedliche Definitionen für unbrauchbar gewordene Siedlungsflächen, wobei die englischen und schottischen aus der Förderpraxis stammenden Defintionen die geeignetsten scheinen. In der englischen Definition heißt es, daß es sich um Land handelt, "das so geschädigt ist durch industrielle oder andere bauliche Inanspruchnahme, daß es ohne Behandlung nicht wieder vorteilhaft genutzt werden kann". Die schottische Entwicklungsagentur bezeichnet Brachland als "Land, das aufgegeben, vernachlässigt und unansehnlich ist aufgrund früherer industrieller oder anderer Nutzung und das ohne Behandlung nicht wieder nutzbar gemacht werden kann oder dessen ungünstiges Erscheinungsbild Auswirkungen auf die Umgebung hat und deshalb einer Behandlung bedarf" (Städtebauliche Forschung, Heft 03.112, 1985). Von solchen Flächen gehen für gewöhnlich potentielle Gefahren für Mensch und Umwelt aus und sie sind somit nicht nur eine Umweltgefahr sondern eben auch ein gewaltiges Handicap für die ökonomische Entwicklung der Gebietskörperschaften. Die Erfassung solcher Flächen hat größte Dringlichkeit, wie Beispiele aus vielen europäischen Ländern demonstrieren, wo z. B. Wohngebiete auf ehemaligen Sondermüllablagerungsplätzen errichtet wurden. Auch im Landkreis Helmstedt gibt es diesbezüglich sehr akute Probleme. In der Stadt Schöningen wurden auf einem bereits wieder zur Nutzung freigegebenen und teilweise wieder bebauten Gelände Reste schwermetallhaltiger Schwefelkiesabbrände gefunden. Das bedeutet für die Stadt Schöningen und die auf dieser kontaminierten Fläche ansässigen Unternehmer und Hausbesitzer, daß sie vor einer großen, kaum alleine zu bewältigenden Sanierungsfinanzierung stehen, deren Zuständigkeit wahrscheinlich zu einem juristischen Streit führen wird. Daß dies Skandale sind, steht außer Frage, doch wie damit umgehen? Neben gesetzlichen Maßnahmen wie Bodenschutzgesetzen und damit verbundenen Ausführungsrichtlinien sind Baugesetzänderungen und Reorganisationen der abfallwirtschaftlichen Systeme die wesentlichen "Werkzeuge" zur Verbesserung der bestehenden Situation. Vor allem Standorte in dicht besiedelten Ländern, mit dem Zwang zur Wiedernutzbarmachung ehemals industriell genutzter Flächen, haben in den vergangenen Jahren ein umfangreiches Instrumentarium im Umgang mit Altlasten entwickelt. Es gibt mittlerweile ganze Industriebereiche, die sich ausschließlich mit der Sanierung kontaminierter Flächen beschäftigen und sich auf internationalen Messen zu diesem Thema darstellen. In Großbritannien z. B. wurde ein Förderfonds eingerichtet, an den die Kommunen und private Unternehmen Anträge auf finanzielle Mittel zur Bodensanierung stellen können. Das Schlagwort ist in diesem Zusammenhang "Contaminated Land". Contaminated Land wurde definiert als: Land, das eine akute oder potentielle Gefahr für die Gesundheit oder die Umwelt aufgrund seiner gegenwärtigen oder vorherigen Nutzung darstellt (zit. in Ferber, Roeloffzen, 1992). - 219 - Doch es bestehen nach wie vor große Defizite hinsichtlich des praktischen Erfahrungsaustausches zwischen den mit dem Problem konfrontierten kommunalen und regionalen Gebietskörperschaften. Entscheidende Fragestellungen, wie - die Methodik einer flächendeckenden Erfassung von Verdachtsstandorten, - die Durchführung der Gefährdungsabschätzung, - die Prioritätenbildung nach naturwissenschaftlichen und planerischen Kriterien, - die Entwicklung von Sanierungsstandards im Kontext des kommunalen Flächenrecyclings, - der Austausch über Kriterien zur Technologiewahl bei der Sanierung werden bisher kaum international ausgetauscht (Ferber, Roeloffzen, 1992). Hier bieten sich doch konkrete Themenhinweise für die Rubrik „Entsorgungsregion“ und dazugehörige Seminareinrichtungen im Landkreis Helmstedt. Der Bergbau im Landkreis Helmstedt ist noch nicht beendet, wird aber in absehbarer Zeit seinem Ende entgegengehen und damit könnten die dazugehörigen Flächen teilweise auch zu industriellen Brachflächen werden. Wird dem erstellten Rekultivierungsplan Folge geleistet, so wird zumindest ein kleiner Teil der Rekultivierungsfläche späterhin für Fremdenverkehr und Naherholung zur Verfügung stehen können. Ob diese zukünftige Erholungsfläche in Wert gesetzt werden kann, ist bis dato mehr als fraglich. Eine Verbindung zwischen Entsorgung und Naherholung, vor allem in Anbetracht der Größe des Rekultivierungsgebietes und der Vielfältigkeit des Entsorgungssektors ist nicht von vornherein ausgeschlossen. Die Wiedernutzbarmachung von solchermaßen klassifiziertem Brachland sollte auf alle Fälle vor einer Neuansiedlung auf der grünen Wiese versucht und angestrebt werden. Die Kommunen sollten sich, wenn die Planung neuer Baugebiete - sei es für Gewerbe, Wohnen, Gemeinbedarfs- oder Freizeiteinrichtungen - ansteht, vorrangig überlegen, ob sie nicht geeignete Brachflächen zur Verfügung haben, die sie dafür in Wert setzen könnten, auch wenn es zugegebenermaßen meist unkomplizierter ist, auf der grünen Wiese zu planen und zu bauen. Neue Nutzungsmöglichkeiten für Brachflächen lassen sich schwerpunktmäßig in vier Nutzungskategorien einteilen: 1. gewerbliche Wiedernutzung 2. Umnutzung zu Wohnbauflächen 3. Umnutzung zu Grün- und Erholungsflächen 4. Umnutzung zu privaten und öffentlichen Infrastruktureinrichtungen 5. Eine Kombination dieser Kategorien je nach örtlichen Gegebenheiten. Da im Landkreis Helmstedt nur bedingt industrielle Brachflächen vorhanden sind und sie nur selten in städtischen Gebieten liegen, ist hier nur eingeschränkt und ganz speziell eine Dringlichkeit vorhanden, sie planerisch aufzuarbeiten und möglichst schnell wieder in die gewerbliche Nutzung zurückzuführen. Es sind zudem neue Gewerbegebiete vorhanden und generell gesehen herrscht keine akute Flächenknappheit, so daß man nicht von einer Dringlichkeit sprechen könnte, die gewerblichen Brachflächen unmittelbar einer neuen Nutzung zuführen zu müssen. Nichts desto trotz spornt das Potential der gewerblichen Brachflächen zu kreativer Gestaltung an und man sollte durchaus darauf bedacht sein, sie einer neuen Nutzung zuzuführen. - 220 - 6.8.1. Weitere Hinderungsgründe für die Wiedernutzung von gewerblichen Brachflächen In Bezug auf die Wiedernutzbarmachung von Brachflächen können auch kommunale Bodenpreissubventionen für neue Gewerbestücke die Attraktivität aufgelassener Gewerbestandorte negativ beeinträchtigen. Das ist vor allem in städtischen Bereichen der Fall. Solange es kostengünstiger ist, eine neu ausgewiesene Fläche zu bebauen, werden die gewerblichen Brachflächen vernachlässigt. Außerhalb der städtischen Verdichtungsräume liegt aus wirtschaftsförderlicher Sicht, wie auch im Landkreis Helmstedt, meist eine "Wir-nehmen-alles-Mentalität" vor und es wird partiell versucht, durch kommunale Bodenpreissubventionen neue Ansiedler in den Landkreis Helmstedt zu locken. Das löst die Brachflächenproblematik in keinster Weise, sondern führt im Gegenteil zum Verschieben der Probleme auf die nachfolgenden Generationen, wobei anzumerken ist, daß Problemgefüge mit der Zeit nicht vereinfacht werden, sondern stets komplizierter zu werden pflegen. 6.8.2 Die Brachflächen im Landkreis Helmstedt Die meisten gewerblichen Brachflächen liegen im außerstädtischen Bereich, wie z.B.: - die ehemalige Zuckerfabrik in Groß Twülpstedt und die ehemalige Ziegelei in Volkmarsdorf (8.7 ha und 2.2 ha); erstere wurde Anfang 1994 abgerissen; - das Ziegeleigelände in der Gemeinde Mackendorf (6.5 ha), - das ehemalige Kalischachtgelände in Grasleben-Heidwinkel (4.7 ha), - ein nur z.T. genutztes Gelände bei Querenhorst, das früher als Hühnerfarm genutzt wurde (6.6 ha; inzwischen abgerissen); - das ehemalige Kraftwerksgelände von Offleben, das z.T. Industriebrache wird, da das Kraftwerk teilweise aufgegeben wird (von 63.5 ha sind 60% bebaut und 40% brach; es ist noch nicht geklärt, inwiefern dieses Kraftwerk in einer etwaigen Müllverbrennungsanlage aufgehen kann); - in der Gemeinde Watenstedt das Gelände der ehemaligen Zuckerfabrik und Rübenverladung, das z.T. Industriebrache wird (4.1 ha); In der Stadt Helmstedt standen zur Zeit der Erstellung dieser Analyse die Firmengelände der ehemaligen Firma Reika (0.6 ha), der Firma IVP (5.5 ha) und des Ziegelwerks (19.5 ha) zur Disposition. Das Gelände der ehemaligen Helmstedter Spinnerei wurde kurzfristig wieder verkauft. In der Stadt Königslutter stand zum Zeitpunkt der Analyse das Gelände der ehemaligen ROTOWerke zur Disposition (6.35 ha). Es gab bereits Anzeichen, daß sich dort eine Nutzung im medizinischen Bereich ankündigte. Dies wäre ein sehr gutes Beispiel für eine gelungene Neuinwertsetzung eines ehemals produktiven Gewerbe- zu einem Dienstleistungsbereich. Auch im Landkreis Helmstedt erscheint es zweckmäßig, ein Brachflächenkataster anzulegen, um rechtliche, finanzielle und verfahrensmäßige Schwierigkeiten der Wiederverwendungsprozederes zu erleichtern. Immer häufiger werden ehemalige Industrie- und Gewerbeflächen im Zusammenhang mit Altlasten genannt. Der Landkreis Helmstedt hat hier leider unangenehme Erfahrungen mit Altlasten auf einem eigenen Grundstück machen müssen. Die damit zusammenhängenden juristischen Verfahren können die Wiedernutzbarmachung erheblich verzögern. Deshalb sollte ein Altflächenkataster angelegt werden, damit in Zukunft solche unangenehmen Erfahrungen und Entwicklungshemmnisse vermieden werden können. - 221 - 6.8.3 Vorschläge für ein Instrumentarium zur Wiedernutzbarmachung von gewerblichen Brachflächen Es können folgende Instrumente zur Wiedernutzbarmachung von Brachflächen vorgeschlagen werden: - Bodenuntersuchungen sind ein Instrument, um Klarheit über den Handlungsbedarf und damit über die Erforderlichkeit des weiteren Instrumenteneinsatzes zu erlangen; - Beratung von Eigentümern und Interessenten ist immer erforderlich; - planerische Ziele müssen festgelegt, instrumentell verfestigt und schließlich realisiert werden; - Planungsfolgemaßnahmen wie Bodenordnung und Erschließung können erforderlich sein; - die Grundstücke müssen verfügbar gemacht und für die vorgesehenen Zwecke mobilisiert werden können; - andere Ordnungsmaßnahmen, insbesondere die Beseitigung von Altlasten müssen durchgeführt werden; - um Investoren auf Brachflächen gleiche Chancen wie auf erstmalig erschlossenen Flächen zu bieten, ist finanzielle Förderung durch die öffentliche Hand nötig; - diese Maßnahmen können auch in einem Gesamtverfahren durchgeführt oder zur Erfüllung auf Dritte übertragen werden (Schriftenreihe 03 "Städtebauliche Forschung", Heft 03.112, 1985). - 222 - 7. Verkehr Eine entscheidende Voraussetzung für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes und seiner Regionen sind leistungsfähige und umweltgerechte Verkehrswege. Dabei spielen die Autotrassen und die Schienenwege, für spezielle Gütertransporte eingeschränkt auch die Wasserwege, als wesentliche Verkehrsträger eine wichtige Rolle. Der ÖPNV- und dabei besonders der schienengestützte Personen- und Gütertransport sind für die Entwicklung der Wirtschaft von besonderer Bedeutung, vor allem in einer zunehmend arbeitsteiligen und mobilen Gesellschaft. Seit 1989 ist die Grenze nach Osten hin offen und es gibt in Folge dessen einen großen Nachholbedarf im Verkehrsbereich, vor allem was den Aus- und Aufbau von leistungsfähigen Schnellverbindungen angeht. Die Bedeutung der Verkehrserschließung und des Transportwesens für die Ausformung der Siedlungsstruktur wird durch folgende siedlungsstrukturelle Grundregel deutlich dargestellt: Ist die Fähigkeit und das Verlangen der Menschen, große Mengen an Gütern, Diensten und Information hervorzubringen und zu verbrauchen, stärker entwickelt, als das Verlangen und die Fähigkeit, diese zu transportieren, wird eine Tendenz zur räumlichen Konzentration wirksam; ist dagegen die Fähigkeit zu transportieren hoch entwickelt, kann eine Tendenz zur räumlichen Streuung wirksam werden (Moewes, 1981). In der heutigen Situation wird immer offensichtlicher, daß sich eine siedlungsstrukturelle Wandlung ergeben hat. Heute können Menschen und Güter jeden Punkt des Landes relativ zügig mit den öffentlichen Verkehrsmitteln oder im PKW bzw. mit dem LKW anfahren. Durch verschiedene siedlungs- und wirtschaftsstrukturelle Änderungen in den letzten zwanzig Jahren hat sich u. a. auch eine qualitativ neue Siedlungsstruktur ergeben, die bezüglich des Wohnungsbereiches mit der Kurzform "In der Stadt arbeiten, auf dem Lande wohnen" gut umrissen werden kann. 7.1 Mobilität Aus Studien der Münchner Sozialdata GmbH und den Erhebungen zum kontinuierlichen Verkehrsverhalten (KONTIV) ist erkennbar, daß sich die Grundtendenz einer zunehmenden Mobilitätsentwicklung bestätigt. Während die Aktivitätsmuster der Menschen (also ihre Verkehrszeiten, Hauszeiten, Wegehäufigkeiten) in den letzten Jahren relativ konstant geblieben sind, haben sich die Wegstrecken (Entfernungen) sowie die Verkehrsmittelnutzung beträchtlich verändert. Verkehrswachstum bedeutet in erster Linie Entfernungswachstum. Je weiter die Wege sind, um so häufiger wird der PKW benutzt (Hesse, 1992). Die Vorteile dieses Verkehrsmittels liegen auf der Hand. Es ist die individuelle Beweglichkeit und der Transportraum unter gleichzeitiger Erhaltung der Individualsphäre, die dieses Fortbewegungsmittel gegenüber dem öffentlichen Massentransport so begehrenswert machen. Der deutsche Mensch verbringt ca. drei Viertel seines täglichen Zeitbudgets mit außerhäuslichen Aktivitäten. Der mit dem Ortswechsel verbundene Zeitaufwand beträgt im Durchschnitt ca. eine Stunde, bei Berufspendlern etwas mehr, bei alten Menschen etwas weniger. Der größte Teil der "Alltagsmobilität" wird nach wie vor in kleinen Radien abgewickelt: ein Viertel aller Wege endet bereits nach einem Kilometer, die Hälfte nach drei Kilometern. Nur jeder fünfte Weg führt weiter als zehn Kilometer. In ländlichen Regionen mit ihren lockeren Siedlungsstrukturen und eingeschränkten ÖPNV-Angeboten sind die Entfernungen größer, so daß die Wegehäufigkeit, der Aktivitätsgrad sowie die Benutzung des ÖPNV unter den Vergleichswerten der Verdichtungsräume liegen. Verkehrszwänge und Verkehrsverhalten der Bevölkerung werden im wesentlichen durch Erreichbarkeiten, Angebotsdichte und Versorgungsstandards im Handel, bei Dienstleistungen und Arbeitsplätzen bestimmt. Mobilität im Verkehr bedeutet also die Möglichkeit, Ziele zu erreichen und den gewünschten Tätigkeiten nachzugehen. Die Mobilität ist nur bedingt davon abhängig, ob man ein Auto besitzt - 223 - oder nicht. Das Auto steht sowieso die meiste Zeit still. Es verbraucht viel Raum und wird zudem als Transportmittel relativ schlecht ausgelastet. Zudem beansprucht es nach den SozialdataErhebungen an Nutzungstagen durchschnittlich drei Stellplätze und kommt somit auf einen Parkflächenbedarf von 40-60 m2 pro Stück. Daß dies einen immensen Bedarfsdruck in den Städten hervorruft, steht außer Frage. Die damit verbundene konstenintensive Flächenbereitstellung kann die finanziell stark beeinträchtigten Kommunen vor erhebliche finanzielle Probleme stellen. Die zunehmende Benutzung von Autos für die täglichen Besorgungen oder das Erreichen von Arbeitsstellen oder ähnlichen wichtigen Stationen weist im Grunde auf den Ausdünnungsprozeß bei den Angeboten im öffentlichen Personentransport hin, der zumindest teilweise einen Verlust von Standortattraktivität bedeuten kann (z. B. für den Bereich Wohnen, dort Familien mit Kindern im Schulalter). Das Zauberwort der Mobilität per PKW wird gerne von "autofahrenden" Politikern, Wissenschaftlern und Journalisten als Sachzwang genannt und sollte aber sehr kritisch hinterfragt werden. Es ist oftmals lediglich das Ergebnis einer ”Windschutzscheibenmentalität” und nicht unbedingt die korrekte Wiedergabe eines existierenden Sachverhalts. So werden im Landkreis oft die schienengestützten Verkehrsträger als unattraktiv bezeichnet, was nach eigenen Untersuchungen schon gar nicht in einer solchen Pauschalität anerkannt werden kann. Auf der anderen Seite scheint ein Abbau der Flächenversorgung durch die DB AG schon dadurch gerechtfertigt, daß sich immer weniger Menschen dazu entschließen können, den ÖPNV zu nutzen. Es ist in diesem Fall nicht unbedingt von vornherein gesagt, daß die Bereitstellung eines besseren Angebotes zugleich eine höhere Nachfrage bewirkt. 7.2 Das Straßennetz im Landkreis Helmstedt Ein dichtes und differenziertes Straßennetz stellt das Grundgerüst für eine vielseitige Beanspruchung des Raumes dar. Im Falle des Landkreises haben die gut ausgebauten Verkehrswege wohl auch dazu geführt, daß ein Teil der Bevölkerung aus dem Oberzentrum Braunschweig und dem Mittelzentrum mit oberzentralen Teilfunktionen, Wolfsburg, "auf das Land ausgewichen" ist, um dort ihren Wohnstandort zu nehmen. Das relativ gut ausgebaute Verkehrsnetz des Landkreises ist auch als gewerblicher Standortfaktor von großer Bedeutung. Um Braunschweig und Wolfsburg hat sich eine Art von Wohn-, Schlaf- und Freizeitausgleichsraum gebildet, wovon vor allem die Standorte der Landkreise Wolfenbüttel und Gifhorn, aber auch Teilräume des Landkreises Helmstedt profitieren konnten. Das Straßennetz des Landkreises Helmstedt beläuft sich in seiner Gesamtlänge auf ca. 904 km. Die Anteile der Autobahnen betragen ca. 39 km, die der Bundesstraßen 109,5 km, die der Landesstraßen ca. 172 km. Die Kreisstraßen schlagen mit ca. 260 km Gesamtlänge und die der Gemeindestraßen mit ca. 323,5 km zu Buche (Stand 1.1.93). Die Länge der Radwege bzw. kombinierten Rad- und Gehweglänge an Kreisstraßen beläuft sich auf 27,6 km (Stand 1.1.92). 7.2.1 Die Autobahnen Die Hauptverkehrsader im Landkreis Helmstedt ist die von West nach Ost verlaufende A 2 Hannover - Berlin. Dazu kommt das Teilstück der A 39, deren Anschlußstelle am Autobahnkreuz Wolfs-burg/Königslutter liegt. Die A2 stellt eine der Hauptentwicklungsachsen im Norden unseres Landes dar und ist schon aus diesem Grund für die Entwicklung des Landkreises von großer Bedeutung. Sie ist ein Teilstück der sogenannten "Blauen Banane", also Bestandteil einer der Hauptentwicklungsachsen der Europäischen Union und wird somit in den nächsten Jahren immer wichtiger für den Warentransport zu und von den östlichen Märkte in Polen und Rußland werden, was zu einem über die Jahre noch zunehmenden Verkehrsaufkommen führen wird. - 224 - Im Rahmen des Verkehrsprojekts "Deutsche Einheit" sind insgesamt 17 Projekte vorgesehen, von denen sieben Straßenvorhaben sind. Die A 2 wird im Rahmen des Verkehrsprojekts "Deutsche Einheit" als Projekt 11 sechsspurig ausgebaut. Ziel des Projektes 11 ist es, eine leistungsfähige Straßenverbindung von Niedersachsen über Sachsen-Anhalt, Brandenburg nach Berlin und zur A10 zu errichten. Die spätestens seit der Wiedervereinigung schweren Verkehrsbeeinträchtigungen auf der A2 sollen durch den Ausbau vermindert werden. Der Ausbau der A2 soll desweiteren zur Entlastung des regionalen Straßenverkehrsnetzes beitragen. Nach Vorhersagen des Verkehrsministers soll es während der Errichtung nicht zu größeren als den bisherigen Verkehrsbelastungen der Ab- und Zubringerstraßen kommen. Die mit der A2 verbundene Verkehrsbelastung und -entwicklung im Bereich des Landkreises ist aus Tab. VII 1 zu entnehmen. Im Zuge des Ausbaus sind im Bereich des Landkreises Helmstedt zwischen dem AK Wolfsburg/Königslutter und der Landesgrenze zu Sachsen-Anhalt (ehemaliger Grenzkontrollpunkt Helmstedt) folgende Anschlußstellen geplant: - Anschlußstelle Barmke-Rennau (K14 bzw. L297); voraussichtliche Bezeichnung "Nord-Elm" - Anschlußstelle Helmstedt-Mariental (B244) - Anschlußstelle B1 östlich von Helmstedt. (Die Anschlußstelle Barmke-Rennau wird nach dem letzten Stand der Dinge einstweilig "auf Eis" gelegt (frdl. mündl. Information des Straßenbauamtes des Landkreises Helmstedt, 1994).) Die Anschlußstellen sollen eine bessere Ableitung des Verkehrs bei Staus und Unfällen gewährleisten und sind zudem als Standortfaktoren von außerordentlicher Bedeutung für die kommunale Entwicklung. Es werden keine Umgehungsstraßen oder größere Entlastungsstraßen neu gebaut, es wird lediglich das nachgeordnete Straßennetz durch die oben angeführten Anschlußstellen und durch den Bau von Überführungen angepaßt. Der Zeitablauf des Ausbaus des Teilbereiches vom Autobahnkreuz Wolfsburg/Königslutter bis zur Landesgrenze zu Sachsen-Anhalt sieht vor, daß nach dem Abschluß des Planfeststellungsverfahrens, der Umbau der vorhandenen Autobahn bis voraussichtlich Oktober 1999 abgeschlossen sein wird. Für den Abschnitt Mitte vom Autobahnkreuz Wolfsburg/Königslutter bis zur Anschlußstelle Braunschweig Ost ist die Fertigstellung wahrscheinlich bis Ende 1997/Anfang 1998 abgeschlossen (n. frdl. Information der Abteilung Straßenbau im Bauordnungs- und -planungsamt des Landkreises Helmstedt, 1994). Die Kosten für dieses Teilstück belaufen sich voraussichtlich auf ca. 320 Millionen DM. Der Neubau der Autobahn wird zwischen Boimsdorf und Barmke sowie zwischen Helmstedt und dem ehemaligen Grenzkontrollpunkt Helmstedt nördlich der vorhandenen Trasse begonnen. Zwischen Barmke und westlich der Anschlußstelle Helmstedt soll der Neubau nach neueren Überlegungen (1994) gegenüber früheren Planungsabsichten ebenfalls nördlich der Trasse vorgenommen werden. Der Ausbau und die Neuanlage der A2 werden zu erheblichen Umweltbeeinträchtigungen führen, wie z.B. zu Boden- und Wasserverseuchung durch Kohlenwasserstoffe, Kohlenmonoxide und Schwermetalle, so daß im engen Umfeld zur Trasse nachhaltige negative ökologische Beeinträchtigungen auftreten werden. Durch den Bau der Trasse werden auf 0,7 km auf beiden Seiten Böden mit hoher Empfindlichkeit gegenüber Schadstoffeinträgen neu betroffen sein (s. a. Umweltverträglichkeitsstudie zum Ausbau der BAB A2, Abschnitt BS-Ost - AK Wolfsburg/Königslutter bis Gut Trendel, Teil 2, Variantenuntersuchung, Teilentwurf 1992). Aber auch im weiteren Umfeld, von ca. 5-10 km beiderseits der Trasse ist mit höheren Schädigungen zu rechnen, da dort die aufgewirbelten Schadstoffe wieder „ausfallen“. - 225 - Was die Geräusch- und Lichtemmissionen der A2 betrifft, ist z. B. im Bereich der Stadt Helmstedt die Errichtung einer fünf Meter hohen Lärmschutzwand vorgesehen, da die Autobahn hier durch besiedeltes Gebiet verläuft. Abschließend ist festzustellen, daß die A2 dringendst der neuen Verkehrssituation seit der Wiedervereinigung anzupassen ist und es scheint bereits im Planungsvorfeld vorhersehbar zu sein, daß eine sechsspurige Auslegung aufgrund des prognostizierten zusätzlichen Verkehrsaufkommens in den nächsten Jahren zumindest abschnittsweise zu klein ist (z.B. im Bereich der Einheitsgemeinde Lehre - Anschlußstelle Braunschweig Ost - Autobahnkreuz A 2 - A 39 wäre nach Aussagen von Verkehrsexperten des Landkreises Helmstedt ein achtspuriger Ausbau rein pragmatisch und planerisch gesehen sinnvoller). Die Gesamtkosten für den Gesamtausbau der A2 zwischen Hannover und Berlin wird insgesamt mit ca. 3,4 Milliarden DM veranschlagt. 7.2.2 Verkehrsmengen und -aufkommen auf der A 2 Was das Verkehrsaufkommen angeht, haben sich seit der Grenzöffnung deutlich spürbare Wandlungen ergeben: Nach Angaben der Straßenverkehrszählung 1985 für den Autobahnbereich des Landkreises Helmstedt ist im Helmstedter Zählstellenabschnitt eine DTV (durchschnittliche tägliche Verkehrsstärke) von ca. 14.800 Kfz/24 Std. aufgetreten. Ca. 25% davon fielen auf den Güterverkehr. Der durchschnittliche Durchsatz für Kraftfahrzeuge lag im Helmstedter Abschnitt am Tag bei ca. 830 Kfz/h, wobei der LKW-Anteil bei 24% lag, was 200 LKW/h ergibt. In der Nacht lag das durchschnittliche Kraftfahrzeugaufkommen bei 194 Kfz/h bei einem LKW-Anteil von knapp 48%, was 93 LKW/h ergibt. Der Ausländeranteil bei den LKW lag bei 16%. Es trat auf diesem Autobahnabschnitt vor allem der Typus der Mischverkehrs auf, was eine Verbindung von Freizeit-, Wirtschafts- und Berufsverkehr darstellt. An den Freitagen und Sonntagen ergaben sich die höchsten Verkehrsdichten (Straßenverkehrszählung 1990 in der BRD, im Auftrage des Bundesministeriums für Verkehr, Abt. Straßenbau und der Straßenbauverwaltungen der Länder, 1991). Betrachtet man die Werte für das Jahr 1990/1991 mit ca. 48.000 DTV (Kfz/24h) zwischen der Anschlußstelle Braunschweig Ost und der Landesgrenze Niedersachsen/Sachsen-Anhalt (1992/93 sollen es zwischen Gut Trendel und der Anschlußstelle Helmstedt durchschnittlich 53.000 Kfz/24h gewesen sein), so liegt die Vermutung nahe, daß die für das Jahr 2010 prognostizierten Werte von über 100.000 Kfz pro Tag zwischen den Anschlußstellen Braunschweig Ost und der ehemaligen Grenzkontrollstelle durchaus eintreten können. Davon werden ca. 40% dem Güter- und Schwerverkehr zuzuordnen sein. Auch wenn in Zukunft der Güter- und Schwerverkehr zunehmend stärker von der Straße auf die Schiene oder das Schiff verlagert werden wird, ist aus dem Vergleich 1985/1991 bereits entnehmbar, daß es trotzdem zu großen Zunahmen dieser Verkehrsart kommen wird. Es kann sogar sein, daß diese Prognose noch zu tief greift, denn die A2 ist eine der wichtigsten Ost - West - Austauschwege in der Mitte Deutschlands. Um das bestehende Verkehrsaufkommen zu entzerren, wurde zwischen den Anschlußstellen Autobahnkreuz Wolfsburg/Königslutter und Burg in Sachsen-Anhalt eine "Verkehrsbeeinflussungsanlage" eingerichtet. Sie kostete für das Teilstück von 50 km Länge 13 Mio. DM und ist bei den auftretenden Verkehrsmengen notwendig gewesen, um das bestehende "Nadelöhr" (z. B. durch das Nichtvorhandensein eines Standstreifens) sicherer und "fließfähiger" zu machen. Diese Anlage zeigt über ein computergestütztes Rückkoppelungssystem den Autofahrern nicht nur die optimale Geschwindigkeit an, sondern signalisiert den Lkw - Fahrern auch Überholverbote. Außerdem zeigt sie allen Verkehrsteilnehmern bei Nebel, Eis und Schnee die notwendigen Geschwindigkeitsbeschränkungen und warnt die Verkehrsteilnehmer vor Stau und Unfällen. - 226 - Die bestehende Anlage soll nach dem Neubau der A2 erhalten bleiben und muß zu diesem Zweck noch verbreitert werden. 7.2.3 Die Bundesstraßen im Kreisgebiet. Die für den Traversalverkehr im Landkreis wichtigsten Bundesstraßen mit überregionaler Bedeutung sind die B 1 und die B 244. Erstere hat im Landkreisgebiet eine Länge von 26 km und führt als Teilstück von Braunschweig über Helmstedt nach Magdeburg. Sie ist neben der A2 die wichtigste West - Ost - Verbindung im Landkreis Helmstedt. Die B 244 ist die wesentlichste Nord - Süd - Verbindung im Landkreis und führt mit einer Länge in diesem Teilbereich von 56 km an Wolfsburg vorbei über Schöningen und weiter nach Süden über Jerxheim in Richtung Werningerode (Sachsen-Anhalt). Kleinere Teilstücke von Bundesstraßen im Landkreisgebiet sind die B 82 von Schöningen über Schöppenstedt nach Wolfenbüttel (5,2 km) und weiter als Verbindung zum Raum Goslar/Harz, die B 188 im nördlichen Kreisgebiet als Anschluß an den Raum Wolfsburg und Gifhorn sowie als Anschluß über Danndorf nach Oebisfelde in Sachsen-Anhalt (9,0 km), die B 245 mit lediglich 3,2 km Länge von Helmstedt aus in Richtung Süden nach Halberstadt (Sachsen-Anhalt) und die B 248, die im Landkreis vom Autobahnanschluß Lehre-Wendhausen über Flechtorf zur A 39 an das überregionale Hauptverkehrsstraßennetz führt. Die B 1 ist in der Zeit der Strukturanalyse mehrmals ins Gespräch gekommen, und zwar aus dem Grund einer etwaigen Herabstufung der B1 zur Landesstraße. Die B 1 war vor der Wiedervereinigung eine relativ gering frequentierte "Sackgasse", die an der deutsch-deutschen Grenze im Lappwald endete. Nach der Wiedervereinigung im Oktober 1989 ist sie aber zu einer der wichtigen Fernverkehrsstraßen in Deutschland geworden und eine teilweise Herabstufung der B1, die im übrigen von Aachen nach Kaliningrad führt, entspräche nicht mehr der jetzigen Situation nach der Vereinigung beider deutschen Staaten, so die IHK Braunschweig. Eine Abstufung von Bundesstraßen ist laut Gesetz nur vorgesehen, wenn sich die betreffende Bundesstraße in einem Bereich innerhalb von 5 km um die Autobahn befindet. Und das ist nur an ganz wenigen Stellen auf dem Teilstück Braunschweig - Helmstedt der Fall. Da die B1 in einer ursprünglichen, vor der Grenzöffnung angefertigten Planung an Königslutter und Helmstedt mittels Umgehungsstraßen vorbeigeführt werden sollte, wäre eine Herabstufung das Aus für diese Pläne gewesen, da es keine Bundesmittel für den Bau der Umgehungsstraßen gegeben hätte. Die Stadt Helmstedt hatte zwischenzeitlich bereits für ein neues Gewerbegebiet mit direktem Anschluß an die Ortsumgehung geworben. Im Bereich des Magdeburger Berges in der Stadt Helmstedt, wo ein neues Gewerbe- und Wohngebiet erschlossen worden ist, würde eine solche Herabstufung zur Attraktivitäts- und somit Wertminderung des Gebietes führen, vor allem, da Investoren bereits die B1-Südumgehung der Stadt als Investitionsgrundlage angegeben hatten. Da im August 1993 bei Irxleben der "Elbe-Park" eröffnet wurde, könnte sich dieses Argument seitens der Ansiedlungsinteressierten aber als vorgeschobenes Argument erweisen. Die Wirtschaftlichkeit dieses Gewerbebereiches in Helmstedt ist aufgrund der gewerblichen Unternehmensneugründungen in Sachsen-Anhalt so und so kritisch zu betrachten, ob mit oder ohne B1 - Anschluß. Da die B 1 sozusagen strategische Bedeutung innerhalb des Kammerbezirkes Braunschweig hat (es sind die Landkreise Helmstedt, Wolfenbüttel sowie die Stadt Braunschweig betroffen), haben sich mehrere Interessengruppen u.a. auch der Zweckverband Großraum Braunschweig gefunden, um gegen eine geplante Herabstufung Einspruch zu erheben. Ein Wegfall der Ortsumgehungen könnte nach Dafürhalten dieser Institution zu spürbaren Auftragseinbußen für Unternehmen aus der Region führen. Außerdem ist die B 1 bei Überlastungen der A 2, was in den Jahren seit der Grenzöffnung zum täglichen "Verkehrsschauspiel" gehört, ein wichtiger Umleitungsweg und für den Zielverkehr im Raum Braunschweig - Magdeburg von grundlegender Bedeutung. Eine Abstufung würde so auch dem Ziel des Zusammenwachsens beider Wirtschaftsräume nachhaltigen Schaden zufügen. - 227 - Die B1 und ihre etwaige Abstufung sind nach wie vor ein Streitthema. Es sieht derzeit danach aus, als könnte diese geschichtsträchtige Entwicklungsachse den Status als Bundesstraße verlieren und somit ihren Wert als (gewerblicher) Standortfaktor einbüßen. 7.2.4 Weitere wichtige Umgehungsstraßen im Landkreis Helmstedt Das seit der Grenzöffnung gewaltige Verkehrsaufkommen wird den Bau von Umgehungsstraßen notwendig machen. Im Bereich der Stadt Helmstedt wurde 1992-1994 bereits an der Westumgehung der B244 gebaut, die entgegen der ursprünglichen Planungsabsichten in den "vordringlichen Bedarf" des Bundesverkehrswegeplans 1992 aufgenommen worden war. Sie wird das neue Gewerbegebiet im Nordwesten der Stadt Helmstedt anschließen und auf der L 644 vorbei am Emmerstedter Gewerbegebiet zur B1 führen. Geplant ist desweiteren eine Südumgehung der Stadt mit Anschluß über die B1 zur A2. In der Stadt Königslutter muß ebenfalls dringend für eine verkehrliche Entlastung des Innenstadtbereiches gesorgt werden. In diesem speziellen Fall geht es laut der zugänglichen Unterlagen um eine Entlastungsstraße zwischen der L 290 (Wolfsburger Straße) und der L 644 (Rottorfer Straße). Diese Entlastungsstraße ist Teil einer späteren Gesamtumgehungsstraße, die wegen des Verkehrs im Zusammenhang mit der Zuckerfabrik, der Umleitungsstrecke für die A 2 und zur Erschließung von Gewerbeflächen am Nordrand der Stadt Königslutter ausgebaut werden soll. Die dafür notwendigen verwaltungstechnischen Vorarbeiten waren zum Zeitpunkt der Strukturanalyse bereits eingeleitet worden, die Straße selbst wird jedoch voraussichtlich erst in frühestens 5-10 Jahren gebaut werden können, obwohl der Bedarf für diese Ortsumgehung als sehr dringlich einzustufen ist. 7.2.5 Regional bedeutsame Landesstraßen Regional bedeutende Landesstraßen im Kreisgebiet sind: - die L 290 als direkte Verbindung zwischen dem Raum Wolfsburg, der Stadt Königslutter und der Stadt Schöppenstedt im Landkreis Wolfenbüttel, - die L 633 als Bedarfsumleitung zwischen den Anschlußstellen Königslutter/Ochsendorf und Braunschweig/Ost der A2 sowie für den Wochenendverkehr in den Elm, - die L 635 Wendhausen - Hordorf und die L 639 als durchgehende Verbindung in den Raum Gifhorn, - die L 653 und die L 322 als regionale Verbindungen aus dem nördlichen Kreisgebiet nach Wolfsburg, - die L 646 als Anbindung des Ortes Grasleben an das überregionale Verkehrsnetz sowie die L 651 als Verbindung nach Weferlingen in Sachsen-Anhalt, - die L 652 als Erschließungsstraße für die Naherholungsgebiete im Elm zwischen Königslutter und Schöningen sowie als Verbindung nach Hötensleben in Sachsen-Anhalt, - die L 641 als Verbindung zwischen den Städten Königslutter und Schöningen, - die L 626 als Verbindung aus dem Helmstedter Raum in Richtung Schöppenstedt im Landkreis Wolfenbüttel, - die L 640 als Anbindung der gewerblichen Standorte im Raum Büddenstedt an die Städte Helmstedt und Schöningen,- die L 622/L 623 als Verbindung aus dem Raum Jerxheim über die B 79 nach Wolfenbüttel und die L 624/ K 25 als Verbindung nach Schöppenstedt und weiter nach Braunschweig. 7.2.6 Kreisübergreifende Straßenverbindungen in Richtung Sachsen-Anhalt - 228 - Was die Straßenverbindungen betrifft, sind im Landkreis Helmstedt als ehemaligem Grenzbereich die durch die Grenze gekappten Straßenverbindungen von besonderer Bedeutung. Sie wurden zum Großteil nach der Grenzöffnung wieder errichtet und ausgebaut: Tab. VII 1: Grenzüberschreitende Straßenverbindungen im Landkreis Helmstedt 1993 Streckenabschnitt Straßenzug Freigabe Grafhorst-Breitenrode B 244 Planungen Bemerkungen soweit bekannt allg. Verkehr 16t ----- Büstedt-Oebisfelde B 188 allg.Verkehr 16t Ortsumgeh. Oebisfelde+ Verlegung B188 im Gespräch Bahrdorf-Gehrendorf K 41 allg.Verkehr 2.8 --- keine f.allg.Verk. Allerbrücke Wegweisung Saalsdorf-Lockstedt K 44 --gesperrt a.Richtg.ST landw.V.frei Saalsdorf-Weferlingen K 45 allg.Verkehr --- keine allg.Verkehr --- keine Wegweisung Mackendorf-Döhren L 647 Wegweisung Querenhorst-Döhren K 46 f.allg.V.gesperrt --- --- Grasleben- Döhren K 47 f.allg.V.gesperrt --einsturzgefährdeter Durchlaß Durchfahrt verboten Grasleben-Weferlingen L 651 allg.Verkehr --- --- Helmstedt-Walbeck L 643 f.allg.V.gesperrt --Forstweg --- Bad Helmstedt-Beendorf L 642 --- --- Helmstedt-Morsleben B1 PKW, Busse, Mofas allg.Verkehr Helmstedt-Harbke B 245 allg.Verkehr --- --- Hohnsleben-Sommersdorf B 245 f.allg.V.gesperrt --landw.Verkehr --- --- BedarfsumleitungA2 3t - 229 - Hohnsleben-Harbke B 245 frei allg.Verkehr --- --- Offleben-Barneberg K 22 allg.Verkehr --- --- Schöningen-Hötensleben L 652 allg.Verkehr 16t --- --- Söllingen-Ohrsleben L 624 allg.Verkehr 2.8t--- --- Jerxheim-Dedeleben B 244 allg.Verkehr 16t --- --- Quelle: Bauordnungs- und Planungsamt, Abt. Straßenbau des Landkreises Helmstedt, 1993 Innerhalb kurzer Zeiträume wurden die Verbindungen Werferlingen -Grasleben, Beendorf - Bad Helmstedt, Hötensleben - Schöningen, Jerxheim - Dedeleben wieder für den Straßenverkehr eröffnet. Die Verbindungsverbesserung Döhren - Mackendorf kann voraussichtlich erst 1995 realisiert werden. Es handelt sich bei dieser Straße um eine Landesstraße (L647), so daß die Zuständigkeit beim Straßenbauamt Wolfenbüttel liegt. 7.3 Der ÖPNV Nach dem Entwurf des LROP Niedersachsen muß der ÖPNV zu einer attraktiven Alternative zum Individualverkehr ausgestaltet werden. Die Verkehrsbedienung durch den öffentlichen Verkehr soll vor dem Individualverkehr Vorrang erhalten. Die Träger des ÖPNV sind in allen Teilräumen des Landes zu verkehrlichen und tariflichen Einheiten zusammenzufassen, wobei auch - für den Landkreis Helmstedt wichtig - auf den grenzüberschreitenden Zusammenschluß der Verkehrsträger hinzuwirken ist. Für den Ordnungsraum Braunschweig ist das Stadtbahnnetz auszubauen und zusammen mit dem Nahschnellverkehr zu einem regionalen ÖPNV-System zu entwickeln Die Erstellung eines regionalen Tarifsystems ist im übrigen eine der wichtigen und aktuellen Aufgaben des Zweckverbandes Großraum Braunschweig. Neben der Einbindung der Region Braunschweig in den Fernverkehr der DB AG ist eine durchgreifende Verbesserung des Nahschnellverkehrs zwischen den Zentren der Region sowohl in der Ost-West- als auch in der Nord - Süd - Richtung auf den vorhandenen und künftig geplanten Schienenstrecken anzustreben. Der öffentliche Verkehr hat grundsätzlich zwei wesentliche Funktionen zu erfüllen: - Die Funktion der Daseinsvorsorge, d.h. die Sicherung eines Mindestangebots an Verkehrsmöglichkeiten für die Bevölkerung zur Versorgung und zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, und - die Konkurrenzfunktion zum motorisierten Individualverkehr (MIV) mit dem Ziel, die Umweltbelastungen möglichst gering zu halten. In den Großstädten überwiegt die Konkurrenzfunktion, im ländlichen Raum die Daseinsvorsorgefunktion des ÖPNV. Im Bereich des Landkreises Helmstedt wird der ÖPNV sowohl schienengebunden als auch im Linienbusverkehr mit sieben konzessionierten Verkehrsträgern (einschließlich der DB AG) und zusätzlich über Sonderverkehre (Schüler- und Werksverkehr) durchgeführt. Da sich der Landkreis Helmstedt im Verdichtungsraum im Umfeld von zwei Oberzentren und einem Mittelzentrum mit oberzentraler Funktion befindet, treten je nach der Entfernungsdistanz zu diesen Zentren die beiden oben genannten Funktionen des ÖPNV zueinander in eine bestimmte Beziehung. Je näher man einem größeren Zentrum kommt, desto höher ist die Konkurrenzfunktion, je weiter man sich entfernt desto größer ist die Daseinsvorsorgefunktion des ÖPNV. - 230 - Zur Konkurrenzsituation mit dem MIV ergibt sich für den Verdichtungsraum Braunschweig folgendes Bild: im gesamten Verdichtungsraum um Braunschweig herum liegen bei ca. 35% aller Pkw - Fahrten objektive Gründe für die Nutzung des Pkw vor. Rund 25% sind subjektiv Pkw gebundene Fahrten. Von diesen nutzen trotz vorhandenen ÖPNV - Angebots 15% infolge fehlender Informationen und rund 10% aus Imagegründen den Pkw. Bei den restlichen 40% der Pkw-Fahrten besteht für den Verkehrsteilnehmer grundsätzlich eine echte Wahlsituation (ÖPNV - Symposium der IHK Braunschweig, Juni 1993). In den ländlicheren Gemeinden des Landkreises muß dafür Sorge getragen werden, daß entsprechend dem Vorsorgeprinzip eine Mindestbedienung im öffentlichen Verkehr aufrechterhalten wird. Im Landkreis Helmstedt wird dabei auch die flexible Betriebsweise von Taxen und Mietwagen eingesetzt. Seit April 1989 hat die Stadt Helmstedt das ”Anruf - Sammel Taxi” für das gesamte Stadtgebiet eingerichtet, was deutlich auf die Bemühungen der Stadt verweist, Alternativen im Personentransportwesen wahrzunehmen und damit auch für den Standort eine Attraktivitätssteigerung zu erreichen. 7.3.1 Die Busverbindungen im Landkreis Helmstedt Es gab z.Zt. der Strukturanalyse 16 Omnibuslinien der Kraftverkehrsgesellschaft mbH Braunschweig (KVG), wovon 3 Überlandverbindungen waren. Sie verbanden das Mittelzentrum Helmstedt mit dem Mittelzentrum Wolfsburg und den städtischen Grundzentren Königslutter und Schöningen (bedient wurden diesen Strecken mit den Linien 46 (Wolfsburg), 48 (Königslutter) und 49 (Schöningen)). Neben den anderen Buslinien, die vornehmlich die Fläche im Landkreis Helmstedt bzw. mit zwei Linien das Stadtgebiet Helmstedt erschließen, gab es noch eine "Sommerlinie" von Juni bis September in das touristisch wichtige Reitlingstal bei Königslutter. Die Linie 56 und 57 sind neben den Linien 58 und 16 "grenzüberschreitende" Buslinien. Linie 56 führt über Mariental, Grasleben, Weferlingen bis nach Hödingen, Linie 57 fährt über Clarabad im Brunnental, Beendorf nach Walbeck. Linie 58 fährt Ostingerleben und Linie 16 Wefensleben an. Die Linie 53 C verbindet Emmerstedt und das dort liegende Gewerbegebiet mit Beendorf. Der Landkreis Helmstedt wird in seinem südlichen Teil ab Helmstedt über die Stadt Schöningen sowie die Gemeinden Söllingen, Jerxheim nach Gevensleben sowie Helmstedt, Schöningen, Hohnsleben von der Regionalbus Braunschweig GmbH (RBB) bedient. Ab Watenstedt fährt die Linie 2410 über Wolfenbüttel nach Braunschweig. Es gibt gegensätzliche Aussagen darüber, ob sich die Linien auch am Wochenende rentieren. Auf alle Fälle bedient die KVG diese Strecken seit Dezember 1992 an Sonn- und Feiertagen und fährt zudem noch alle Gemeinden an, während die RBB außer Werktags auch Sonnabends diese Strecken bedient. Der Nordkreis wird mit Linie 35 der Verkehrsbetriebe Bachstein GmbH bedient, die von Wolfsburg nach Mieste in Sachsen-Anhalt und zurück fährt. Im Westkreis, wo die Gemeinde Lehre liegt, war die Linie 23 der Wolfsburger Verkehrs GmbH (WVG) zwischen Wolfsburg und Braunschweig über Flechttorf/Lehre bereits gefährdet. Zum Ende der Strukturanalyse galt diese Linienbedienung als gesichert. Die Linie 21 der Braunschweiger Verkehrs-AG fährt von Bornum aus nach Braunschweig und die Linie 34 bedient das Ausflugsziel Reitlingstal (Königslutter) von Braunschweig aus, jedoch nur im Sommerbetrieb. In den nächsten Jahren ist vor allem auf der Linie 46 von und nach Wolfsburg mit Verzögerungen zu rechnen, da der Ausbau der A 2 voraussichtlich zu Staus in erheblichem Umfang führen wird und weitere Umbauarbeiten an den untergeordneten Straßennetzen zu einer zusätzlichen Belastung der Fahrtstrecke des Busses führen könnten. Nach Aussagen des Unternehmens gab es bereits 1992/1993 Engpässe, die zu Zeitverzögerungen führten. Das ist insofern ungünstig, da diese Linie eine wichtige Zubringerfunktion im Landkreis Helmstedt für das VW-Werk in Wolfsburg hat, welches direkt angefahren wird. Zur Zeit der Erstellung der Strukturanalyse betrug die Fahrzeit für - 231 - eine Strecke zwischen 1 Std. 02 min und 1 Std. 27 min. Das ist gegenüber dem motorisierten Individualverkehr knapp die doppelte Zeit. Werktags verkehren 9 Busse in die jeweilige Richtung. Nach Aussagen des Unternehmens im Juli 1992 stand zu diesem Zeitpunkt noch eine Bedarfsanalyse für Linie 46 aus. Es wurde dabei an eine schnellere Anbindung gedacht, die eine Fahrzeit von 45 min beanspruchen würde, was diese Linie für die Pendler aus dem Landkreis Helmstedt dann doch erheblich attraktiver machen könnte. Leider wurde die bestehende Linie 46 nicht, wie zumindest im Früh- und Spätverkehr zu erwarten wäre, mit VW-Arbeitern ausgelastet. Ganz im Gegenteil: z.T. fuhren die Busse noch nicht einmal halbvoll von und nach Wolfsburg. Ein Manko des Transportmittels Bus ist der Preis. Obwohl die KVG für 130,- DM pro Monat eine Erwachsenenmonatskarte für die Strecke Helmstedt - Wolfsburg anbietet, was relativ kostengünstig ist, scheint es für Pendler günstiger und bequemer zu sein, alleine oder in Fahrgemeinschaften zu fahren. Der Massentransport ist ökologisch und volkswirtschaftlich sinnvoller, da die Straßen weitaus weniger verstopft werden als beim Individualverkehr. Um eine Bevorzugung des ÖPNV als Transportmittel zu erreichen, müßte z.B. das Besteuerungssystem das Fahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln belohnen. Autofahren wird z. Zt. im Einkommenssteuerrecht und durch eine unzureichende Verwirklichung des Verursacher- und Kostendeckungsprinzips geradezu belohnt. Es kann deshalb auch ein noch so innovatives kommunales Handeln im Verkehrsbereich nicht an dieser Tatsache vorbeisehen. Solche durchaus wünschenswerten Änderungen liegen im Handlungsbereich der Landes- und Bundespolitik und somit außerhalb kommunaler Entscheidungs- und Handlungsspielräume. 7.3.2 Die Möglichkeiten, von der Schiene auf den Bus umzusteigen (Quellen: KVG Omnibusfahrplan, gültig ab August 1992; Elektronische Fahrplanauskunft DB/DR 1994) In dieser Zusammenstellung wurde lediglich der Haltepunkt Bahnhof Helmstedt berücksichtigt. Die Stadt Königslutter ist im Nahverkehr an die Schienenstrecke Magdeburg - Hildesheim angeschlossen. Von der Stadt Helmstedt aus kann man die Stadt Schöningen ebenfalls auf der Schiene auf der Strecke Helmstedt - Wolfenbüttel - Braunschweig anfahren. Die Stadt Wolfsburg ist über den Bahnhof Braunschweig im Schienennahverkehr zu erreichen. Kommt man am Bahnhof Helmstedt an, so ergeben sich folgende Abfahrtsmöglichkeiten im Busverkehr (ab Schöninger Straße bzw. Braunschweiger Tor): nach Königslutter über Süpplingenburg mit der Linie 31 bzw. über Frellstedt mit der Linie 48 zwischen 05.50 Uhr und 18.10 Uhr 13 Abfahrtsmöglichkeiten; nach Schöningen und weiter nach Hötensleben mit der Linie 49 zwischen 04.45 Uhr und 16.50 Uhr 5 Abfahrtsmöglichkeiten; in Richtung Wolfsburg mit der Linie 46 zwischen 03.45 Uhr und 18.40 Uhr 12 Abfahrtsmöglichkeiten. Sonstige: nach Warberg mit Linie 43 zwischen 07.50 Uhr und 18.15 Uhr 4 Abfahrtsmöglichkeiten; nach Volkmarsdorf über Süpplingenburg und Rottorf mit der Linie 45 zwischen 07.30 Uhr und 18.20 Uhr 4 Abfahrtsmöglichkeiten; - 232 - nach Esbeck über Büddenstedt und Offleben mit der Linie 50 zwei Abfahrtsmöglichkeiten. Möchte man vom Bahnhof Helmstedt abreisen, so bestehen folgende Ankunftsmöglichkeiten mit dem Bus: von Königslutter über Süpplingenburg mit der Linie 31 zwischen 06.43 Uhr und 18.41 Uhr 6 Ankunfstmöglichkeiten; von Königslutter über Frellstedt mit der Linie 48 zwischen 07.27 Uhr und 19.44 Uhr 7 Ankunftsmöglichkeiten; von Schöningen mit der Linie 49 2 Ankunftsmöglichkeiten; von Wolfsburg über Velpke, Grasleben zwischen 07.30 Uhr und 20.00 Uhr mit Linie 46 13 Ankunftsmöglichkeiten. Sonstige: von Warberg über Wolsdorf mit der Linie 43 zwischen 07.28 und 18.55 Uhr 5 Ankunftsmöglichkeiten; von Volkmarsdorf über Rottorf, Süpplingenburg mit der Linie 45 zwischen 07.30 Uhr und 19.30 Uhr 5 Ankunftsmöglichkeiten. Es ist folglich festzustellen, daß der Bahnhof des Mittelzentrums Helmstedt mit dem busgestützten Nahverkehr relativ gut zu erreichen ist. Gewisse Engpässe ergeben sich bei der Weiterreise, wenn die Züge zwischen 08.00 und 11.00 Uhr Morgens und Abends ab 18.00 Uhr ankommen. Bei den Zugabfahrtszeiten ergeben sich Engpässe in der Zubringerfunktion der Busse in den Zeiten zwischen 09.00 und 12.00 Uhr und Abends ab 18.00 Uhr. 7.4 Der Schienenverkehr Nach dem Entwurf des LROP Niedersachsen von 1993 soll der schienengebundene Personen- und Güterverkehr gegenüber dem Straßenverkehr Vorrang erhalten. Für den Güterverkehr soll dies durch den Bau leistungsfähiger Güterverkehrszentren und Güterverteilungszentren unterstützt werden. Es wurde im übrigen auch im Landkreis Helmstedt darüber diskutiert, ob der Helmstedter Raum u. U. im Suchfeld für solche Verkehrs- und Verteilungszentren liegt. Im regionalen Raumordnungsprogramm, das der Zweckverband Großraum Braunschweig bis 1995 aufstellt, sollen u. a. auch Lokalitäten oder Schwerpunkträume für solche Zwecke benannt werden. In der Stadt Wolfsburg soll nach nicht bestätigten Informationen ein eigenes Güterverteilungszentrum in Zusammenarbeit mit der VW AG entstehen. Bisher sind Güterzentren stets entlang der wichtigen Nord - Süd - Achse aufgebaut worden (z. B. in Göttingen, Hannover, Braunschweig). Entlang der A 2 könnte ein Suchraum in oder bei der Stadt Magdeburg erkannt werden, die ja zukünftig auch auf der Nord - Süd - Achse über die A 14 hervorragend angebunden sein wird. Die Personenbeförderung soll insbesondere durch attraktive Fahrplangestaltungen und den Ausbau der Bahnhöfe (hier z. B. Park- und Ride - Systeme für Pendler) verbessert werden. Nach dem Entwurf zum LROP Niedersachsen ist den Landkreis Helmstedt betreffend der Lückenschluß Jerxheim - Dedeleben bzw. Gunsleben wiederherzustellen. Es handelt sich hierbei um ein ca. 5 km langes Stück, das einer entsprechenden Modernisierung bedarf und als Südanbindung des Landkreises Helmstedt eine große Bedeutung hat. Nach der Fahrplanänderung im Sommer 1992 hält in Helmstedt fortan kein IC mehr. Bis zu diesem Zeitpunkt hielten die IC's der Deutschen Bundesbahn noch in Helmstedt, da er ja der ehemalige Grenzbahnhof auf westlicher Seite war. - 233 - Die Strecke über Braunschweig, Magdeburg nach Berlin ist seit 1993 voll elektrifiziert. Diese im Rahmen der "Verkehrsprojekte Deutsche Einheit" vorgenommene notwendige Modernisierung der Strecke Helmstedt - Magdeburg - Berlin (Projekt 5) hat eine erhebliche Zeitersparnis für die Reisenden gebracht. Gegenüber den "Taigatrommeln" fährt der ICE und IC mit erheblich höherer Reisegeschwindigkeit und verkürzt so die Reisezeit nach Berlin um ca. ein- bis eineinhalb Stunden. Im Norden des Landkreises wird im Zuge des "Verkehrsprojekts Deutsche Einheit" Projekt 4 (Strecke Hannover - Stendal - Berlin) ein Teilstück der Schnellbahnstrecke errichtet, die für die Reisenden eine bessere Bedienung nach Berlin bedeuten wird. Mit diesem Anschluß wird die Stadt Wolfsburg "endlich" einen Schnellbahnanschluß erhalten. Diese Planung stammt noch aus den Zeiten des existierenden DDR-Staates. Die Stadt Wolfsburg wird zum Abzweigungsort aus Richtung Berlin, an dem sich die Südstrecke über Braunschweig, Göttingen und weiter Richtung Frankfurt München und die West- und Nordroute über Hannover trennen. Für den nördlichen Teil des Landkreises Helmstedt könnte sich aus der ICE - Haltestation in Wolfsburg ein großer Vorteil ergeben, da die Bürger in diesem Teilbereich des Landkreises Helmstedt nun in wesentlich kürzerer Zeit einen überregionalen Haltepunkt erreichen können. Das hat auch einen positiven Einfluß auf die Standortqualität z. B. unter dem Aspekt Wohnen. Für den Landkreis Helmstedt bedeutete der Wegfall des IC - Haltepunkts insgesamt eine Verschlechterung der Anbindung nach Berlin und andere Großstädte. Es muß fortan der Bahnhof Magdeburg bzw. Braunschweig angefahren werden, um dort die Schnellverbindungen der ICE- und IC-Züge wahrnehmen zu können. Ist die Strecke über Wolfsburg erst einmal fertiggestellt, so wird es möglich sein, auf relativ "zügige" Art und Weise von Paris/London über Brüssel, Aachen, Köln, Hannover nach Berlin und von dort weiter nach Warschau und Moskau zu gelangen. Die Streckenführung liegt in der bereits angesprochenen Mitteleuropäischen Entwicklungsachse und wird hoffentlich ganz wesentlich zu einer Verkehrsentkrampfung auf den Straßen führen, sowohl was den motorisierten Individual- als auch den Güterkraftverkehr angeht. Außerdem bietet der Haltebahnhof Wolfsburg, wie bereits oben angeführt, einen Standortvorteil für die im Nordkreis gelegenen Kommunen des Landkreises Helmstedt. 7.4.1 Der ökologisch - ökonomische Aspekt des Schienenverkehrs Für den Bereich Güterverkehr: Vor allem in diesem Bereich ist eine Entlastung mit dem Kombiverkehr nicht nur ökologisch sondern in besonderem Maße auch ökonomisch sinnvoll. Nach einer Studie des Instituts für Verkehrswissenschaft der Universität Münster, die im Auftrag des Deutschen Verkehrsforums erarbeitet wurde, ist vor allem im Langstreckenbereich ab 500 km Entfernung der Kombiverkehr die kostengünstigste Variante. Nach diesen Berechnungen verursacht jeder Lastzug auf einer Modellstrecke von Stuttgart nach Krefeld (430 km) 461 DM "externe" Kosten, gegenüber 199 DM im Kombiverkehr und 133 DM im klassischen Schienenverkehr. Momentan wird ca. ein Fünftel des Frachtaufkommens im Kombiverkehr transportiert (Hannoversche Allgemeine, Schiene schlägt Straße, 22.7.93). Das bedeutet, daß hier noch genügend Reserven mobilisiert werden können, damit noch mehr Güter- und vor allem Schwerverkehr auf die Schiene oder das Schiff verlagert wird. Für den Bereich Personenverkehr: Bei einer Reisedistanz von 500 km sind im Personenreiseverkehr folgende Rahmendaten von Bedeutung: Flugzeug Bahn PKW mit Kat Diesel PKW - 234 - Gesamtkosten in DM(jePerson) 522 110 161 149 CO2 in kg je Person 130 19 88 84 NOx in g je Person 490 57 220 270 SO2 in g je Person 62 17 17 84 Quelle: Bundesumweltministerium, 1992 Geht es darum, die Kosten einer Reisestrecke von 500 Kilometern abzuschätzen, werden für den Pkw nur die durch die zusätzliche Fahrleistung von 500 Kilometern entstehenden Kosten berechnet. Die variablen Kosten betragen bei einem Auto der Mittelklasse für Benzin (ca. 11 DM pro 100 Kilometer) und für Ölverbrauch und andere leistungsabhängige Kosten (ca. 2 DM pro 100 Kilometer). Alle übrigen Kosten sind Fixkosten, die gewissermaßen bereits mit der Entscheidung, den Pkw für eine bestimmte Zeit weiterzunutzen, anfallen. Die entscheidungsrelevanten variablen Kosten einer Pkw-Fahrt von 500 Kilometern betragen somit 75 DM und liegen deutlich unter den Kosten von 110 DM für eine Bahnfahrt gleicher Streckenlänge, wobei die DB AG neben der Bahn Card für einen begrenzten Zeitraum zwischen Frühling und Herbst 1994 mit einem besonders günstigen Nachtfahrttarif, der bis 02.00 Uhr nachts gilt, neue Kundenpotentiale aktivieren möchte. Damit kann für 58 DM auch eine Strecke von 500 km zurückgelegt werden. Durch eine deutlichere fiskalische Beteiligung der Autofahrer an den durch die Nutzung der Pkw entstehenden Schäden an der Gemeinschaft (Luft-, Wasser- und Bodenverschmutzungen und dazugehörige Kosten) könnte zukünftig vermutlich ein Preisvergleich zugunsten der Bundesbahn zustande kommen. Die DB AG versucht mit verschiedenen Instrumenten, eine Alternative zum Pkw herzustellen (s.o.). Erst wenn die variablen Kosten der Autofahrt den Kosten für Reisen mit der DB-AG vergleichbar werden (z.B. durch Anhebung der Mineralölsteuer oder eine Absenkung der Bahnfahrpreise) wird die Bahn auf Kurz- und Mittelstrecken zu einer ernstzunehmenden (kostenmäßigen) Konkurrenz. 7.4.2 Die Anbindung des Hauptbahnhofes Helmstedt an einige ausgesuchte wichtige überregionale Zentren Nach dem Winterfahrplan 1993/94 ergab sich im regionalen und überregionalen Zugverkehr (in der Zeit von 5 Uhr Morgens bis 1 Uhr am nächsten Morgen) folgendes Bild für Abfahrts- und Fahrzeiten aus Helmstedt : Anzahl der Abfahrtsmöglichkeiten Fahrzeit in Stunden:Minuten 17 nach Aachen 18 nach Berlin Hbf. 32 nach Braunschweig 15 nach Dresden Hbf. 20 nach Düsseldorf Hbf. 16 nach Frankfurt/M. Hbf. 11 nach Frankfurt/O. Hbf. 19 nach Halle (Saale) Hbf. 19 nach Hamburg Hbf. 22 nach Hannover 20 nach Köln 23 nach Leipzig Hbf. 11 nach Rostock Hbf. 13 nach Salzgitter Bad 13 nach Salzgitter Ringelheim von 5:05 2:51 0:24 3:42 3:46 3:21 4:12 1:36 2:41 1:10 4:10 2:14 4:15 0:49 0:54 bis bis 10:22 bis 3:09 bis 1:08 bis 6:31 bis 6:56 bis 6:39 bis 5:57 bis 2:18 bis 4:20 bis 1:36 bis 9:22 bis 4:53 bis 7:19 bis 1:12 bis 1:17 - 235 - 14 nach Schwerin Hbf. 14 nach Wolfsburg 3:10 bis 6:15 1:08 bis 4:37 Der Bahnhof Helmstedt ist Haltebahnhof für insgesamt 8 Interregio - Zugpaare pro Tag, die im Zwei - Stunden - Takt in Helmstedt anhalten. Wie man unschwer aus der obigen Zusammenstellung entnehmen kann, ist die Kreisstadt gut angebunden, da mit relativ geringem Zeitaufwand wichtige Zentren der Bundesrepublik Deutschland erreicht werden können. 7.4.3Die DB - Problemstrecke 312 Die DB-AG - Strecke Braunschweig- Wolfenbüttel - Jerxheim - Schöningen - Helmstedt (Strecke 312) stellt eine für den Südkreis wichtige Flächenversorgung des Öffentlichen Nahverkehrs im Landkreis Helmstedt dar. Sie verzeichnete trotz einer Erhöhung der Zugzahlen im Fahrplanjahr 1991/92 einen beständigen Rückgang der Reisenden. Fuhren 1980/81 von Montag bis Freitag 25, Samstag 13 und Sonntag 8 Reisezüge pro Tag, wurde die Bedienung dieser Strecke 1992/93 von Montag bis Freitag mit 24 und Samstags mit 12 Reisezügen pro Tag angesetzt. Der Sonntagszugsverkehr wurde aufgrund fehlender Nutzung ab 1992/93 auf dieser Strecke eingestellt. Zwischenzeitlich wurden diverse Verbesserungen seitens der DB AG unternommen (z. B. Anpassung der Zeiten an den Schülerverkehr am Samstag), doch die Zahl der Reisenden im schienengebundenen Personennahverkehr gingen bei zunehmender Motorisierung der Bevölkerung nach wie vor zurück. Die Zahl der Reisenden hat sich auf dem Streckenabschnitt Wolfenbüttel Schöningen seit 1985 von 1105 auf 866 (1991) pro Werktag reduziert, was einem Rückgang von 21.6% entspricht. Auf dem Streckenabschnitt Schöningen - Helmstedt ist diese Zahl von 506 im Jahre 1985 auf 366 im Jahre 1991 zurückgegangen, was einem Rückgang von 27.7% entspricht (Nds. Landtag, 12. Wahlperiode, Drucksache 12/3715, 2.9.1992). Um eine Attraktivitätssteigerung dieser Strecke vorzunehmen, wäre der Einsatz von modernen, schnelleren Triebwagen u.U. von Vorteil. Das Land ist bereit, der DB AG nach Aufstellung eines Gesamtkonzeptes Zuschüsse für die Anschaffung von modernen Triebwagen zu gewähren. Desweiteren ist sie bereit, Zuschüsse für die Erstellung von Park- und Ride - Anlagen zu gewähren, vorausgesetzt, die Komplementärfinanzierung durch die Kommune ist sichergestellt. Im Zuge der Regionalisierung ist es zudem beabsichtigt, den Kommunen flächendeckend die Aufgaben- und Ausgabenverantwortung für den gesamten ÖPNV unter Einbeziehung des Schienenpersonennahverkehrs als Selbstverwaltungsaufgabe zu übertragen. Regionalisierung bedeutet in diesem Zusammenhang die Zusammenführung von Zuständigkeiten für Bestellung und Bezahlung von Nahverkehrsleistungen auf regionaler Ebene. Ein Hauptanliegen der Neuorganisation des ÖPNV ist u. a. die Zusammenstellung kundengerechter Nahverkehrsangebote unter Beteiligung aller Verkehrsträger und Verkehrsunternehmen. Das heißt für die Gebietskörperschaften, also Städte, Gemeinden und Landkreise aber auch die Länder, daß sie entscheiden werden, wo, wann, wieviel Nahverkehr zu welchen Konditionen und in welchen Qualitäten stattfinden soll. Der Besteller garantiert die Bezahlung der von ihm in Auftrag gegebenen Leistungen. So sieht es auch die EG-Verordnung 1893/91 vor. Das heißt, die Gebietskörperschaften werden mit klaren Verträgen mit den Betreibergesellschaften regeln müssen, welche Leistungen für einen definierten Preis zu erbringen sind. Die Gebietskörperschaften und Länder müssen hierfür aber die finanziellen Voraussetzungen erlangen, was eine Umleitung der vom Bund für den SPNV (Schienengebundener Personennahverkehr) bereitgestellten Mittel verlangt. Die Höhe und Dauer der Zahlungen ist zu diesem Zeitpunkt (1993) zwar in einem gröberen Rahmen abgesteckt, im Detail jedoch noch Sache von Verhandlungen. Trotz des ”Finanzierungsgerangels” wäre es begrüßenswert, wenn der ÖPNV in Zukunft Pflichtaufgabe der Kreise und Kommunen würde, denn auf der Ebene der kommunalen Zweckverbände z. B. lassen sich die Notwendigkeiten der Region gut erschließen und im Anschluß daran, die ÖPNV - Systeme effektiv organisieren und nutzen. 7.5 Die Finanzierung des ÖPNV - 236 - Beim ÖPNV bleiben, wie auch in anderen Bereichen, die Finanzen das zentrale Thema, da Geld nun einmal benötigt wird, um neue Verkehrsmodelle einzuführen und bewährte auszubauen. Der Bund will bezüglich der Finanzierung zukünftig nur eingeschränkt Verantwortung übernehmen. Im Bereich der Bedienung durch die DB-AG sind Landesmittel vorgesehen, wobei aber die Höhe noch nicht abschließend gesetzlich geregelt ist. Die seit Jahren von den Kommunen geforderte ÖPNV - Zuständigkeits- und Finanzierungsregelung wird vom Bund nur sehr zurückhaltend aufgenommen. Statt dessen wird die Privatisierung weitergeführt (Verkauf von ehemaligen DB - Buslinien) und die anstehenden Aufgaben werden zunehmend mehr auf Länder, Kreise und Kommunen verlagert, ohne die Finanzierungsfrage mit den Betroffenen so zu regeln, daß die ohnehin in die finanzielle Klemme geratenen Kommunen Daten erhalten, mit denen sie planen können. Solange die Finanzierung des ÖPNV nicht über ein Bundesgesetz einheitlich geregelt ist, müssen die Kommunen andere Finanzierungswege nehmen, um den ÖPNV noch attraktiver zu gestalten: - Mittel für Schülerbeförderung; freigestellte Schülerverkehre müssen aufgelöst und in Linien im normalen Fahrplan übernommen werden; - Landkreis und Kommunen müssen sich darauf verständigen, die Kreisumlage zu erhöhen, um die Betriebskosten für den ÖPNV abzudecken; die Gemeinden können als Gegenleistung dafür einen optimaler funktionierenden ÖPNV anbieten; - Gemeinde- und kreisübergreifende Lösungen erschließen über die Synergieeffekte u. U. neue Finanzressourcen; - das mit dem Steueränderungsgesetz geänderte Gemeindefinanzierungsgesetz stellt den Gemeinden mehr Mittel für ÖPNV - Infrastrukturen, allerdings nur im investiven Bereich zur Verfügung (mit diesen Geldern können Busse und Bahnen angeschafft, Bushaltestellen und Bahnhöfe saniert werden). Die Zuschußhöhe beträgt 60% aus GVFG - Mitteln, den Rest müssen Kreise und Kommunen aufbringen. Es können dazu u.U. noch 25% Zuschüsse für Investitionen in Schienen- wege und Bahnhöfe aus dem Länderprogramm in Niedersachsen beantragt werden (Wenzel, 1992). Alle diese Finanzierungstöpfe bleiben leider mehr als unzureichend, wenn nicht vom Bund Finanzierungsmodelle vorgeschlagen werden, die den Kreisen und Kommunen eine bessere finanzielle Konsolidierung erlauben. Die bestehenden Mittel reichen aller Voraussicht aber aus, um neue Wege zumindest vorzubereiten. Ein weiterer hoffnungsvoller Ansatz liegt in der Einführung einer Nahverkehrsabgabe, die in Baden-Württemberg, NRW, Hessen und Niedersachsen diskutiert wird. Diese Nahverkehrsabgabe könnte zweckgebunden für den ÖPNV verwendet werden (Wenzel, 1992). 7.6 Der schienengebundene Güterverkehr Zum Schienengüterverkehr ist zu sagen, daß im Kreisgebiet folgende Gütertarifpunkte existieren: - Alversdorf, - Grasleben, - Helmstedt und - Königslutter. Im Bereich dieser Gütertarifpunkte werden etwa 500.000 t Güter pro Jahr im Wagenladungsverkehr auf der Schiene umgeschlagen (nach frdl. schriftl. Mitteilung der DB). Kurzfristig wird sich an - 237 - dieser Menge wohl nichts ändern. Von diesen 500.000 t sind allein 90.000 t (1992) Schwefelladungen, die bei der BKB AG durch ein modernes Trennungsverfahren bei der Verfeuerung der Kohle gewonnen werden. Dieser Schwefel wird vor allem an die Chemische Industrie verkauft. 7.7 Der Schiffsverkehr Der Ausbau des Mittellandkanal soll den Raum Berlin/Magedeburg mit den wichtigen Nordseehäfen und westdeutschen Industriezentren verbinden und so die Standortbedingungen für den zukünftigen Regierungssitz Berlin und den Raum Magdeburg verbessern. Die ursprünglich gedachte Aufgabe und Funktion des Mittellandkanals wird so nach über 55 Jahren uneingeschränkt zu erfüllen sein: das Industriegebiet an Rhein und Ruhr, mit Weser, Elbe und Berlin zu verbinden. 7.7.1 Das Wasserstraßen - Projekt 17 von Hannover nach Berlin Der Ausbau dieses 280 km langen Wasserstraßenstücks wird für moderne Motorgüterschiffe mit 110 m Länge und 2000 t Gesamtgewicht sowie Schubverbände mit zwei Leichtern mit einer Gesamtlänge von 185m, 11,4m Breite und 2,8m Abladetiefe und 3800 t ausgebaut. Die zukünftige Wasserstraße wird zwischen 42 und 55 m breit und 4 m tief sein. Die voraussichtlichen Kosten belaufen sich auf ca. 4 Mrd. DM und der Planungs- und Bauzeitraum beläuft sich von 1992 an auf voraussichtlich 10 Jahre. Ein Teilstück des Wasserstraßenprojekts Hannover - Magdeburg - Berlin ist das 80 km lange Endstück des Mittellandkanals von der Schleuse Sülfeld bei Wolfsburg bis zum Schiffshebewerk Magdeburg bei Rothensee. Nördlich von Magdeburg endet der Mittellandkanal und die Schiffe müssen durch ein sehr kritisches "Nadelöhr", um in den Elbe - Havel - Kanal zu gelangen und weiter nach Berlin zu fahren. Die jetzigen Einrichtungen haben nicht die Aufnahmefähigkeit, die vorgesehen und erwünscht ist. Die dazu vorgeschlagenen Problemlösungen stellen sich wie folgt dar: - eine Staustufenlösung in der Elbe bei Heinrichsberg, bei der der Magdeburger Hafen eingestaut wird, - die andere Lösung ist eine ursprüngliche beim Mittellandkanal geplante, aber nicht fertiggestellte Schiffsbrücke über die Elbe (Verkehrsprojekte Deutsche Einheit, Der Bundesminister für Verkehr, 1992). 7.7.2 Die ökologische und ökonomische Dimension des Wasserstraßenverkehrs Im allgemeinen zeichnen sich Binnenschiffahrt und Wasserstraßen durch - günstige Transportkosten, - hohe Sicherheit, - geringen Energieverbrauch und - Umweltfreundlichkeit aus. Die Wasserstraßen helfen zudem, den Wasserbedarf von Industrie und Landwirtschaft zu decken, tragen zum Hochwasserschutz bei und werden häufig als wertvolle Erholungsbereiche genutzt. Die besondere Leistungsfähigkeit der Binnenschiffahrt liegt im günstigen Verhältnis von Eigengewicht zur transportierten Last. Auf eine Tonne Last entfallen beim Schiff nur 350 kg Eigengewicht, beim LKW 600-700 kg und bei der Eisenbahn 800 kg. - 238 - Der Energieverbrauch bei der Binnenschiffahrt ist um 20% geringer als bei der Eisenbahn. Mit der gleichen Menge Treibstoff kann eine Tonne auf der Straße 100 km, mit der Eisenbahn 300 km und auf der Wasserstraße 370 km weit transportiert werden. Die in der Zukunft auf dem Mittellandkanal fahrenden Frachter werden per Stück die Fracht von ca. 70 Lastzügen übernehmen können, die Schubverbände sogar von knapp 130 LKW (Verkehrsprojekte Deutsche Einheit, Der Bundesminister für Verkehr, 1992). Nach Angaben der Wasser- und Schiffahrtsdirektion Mitte wird mit einem Verkehrszuwachs von 20% über dem Verkehrsaufkommen des Jahres 1989 auf dieser wichtigen West - Ost - Magistrale gerechnet (schriftl. im Juli 1992 angefragt). Geht man von der Kreisstadt Helmstedt aus, so liegen die nächsten Häfen mit 30 km, 35 km und 40 km Entfernung in Haldensleben, Wolfsburg und Braunschweig. In der Stadt Wolfsburg gibt es zwei Häfen, den vom VW-Werk und den Hafen Fallersleben. Der erstere ist fast stillgelegt und wird lediglich noch von zwei Fahrzeugen angefahren, die Schlacke abtransportieren. Für den nördlichen Teil des Landkreises Helmstedt lassen sich allerdings diesbezügliche Lagevorteile diagnostizieren, da zum einen die günstige Lage zu Wolfsburg und zum anderen die Nähe zum Hafen Haldensleben gewährleistet ist. Im übrigen ist im Bereich Wassertransport noch lange nicht das letzte Wort gesprochen. Man betrachte nur die innovativen Schritte, die in der deutschen Schiffsbauindustrie gegangen werden. Für den Wassertransport, vielleicht auch auf dem Mittellandkanal öffnen sich in absehbarer Zukunft völlig neue Perspektiven. Bis dato ist der Wassertransport mit den herkömmlichen Binnenschiffen stets weiter zurückgefahren worden. Die Binnenschiffahrt gilt als gefährdete Branche. Ein wesentliches Problem der Binnenschiffahrt ist die Transportzeit auf den Wasserstraßen. Mit neuartigen Katamaran bzw. Hybridschiffen (SES- Surface Effect Ships): halb Katamaran halb Hovercraft, kann eine Geschwindigkeit von bis zu 90 km/h erreicht werden. Das bei Blohm und Voss geplante Hochgeschwindigkeitsbinnenschiff in SES-Bauart ist für den Transport von 50 Lkw - Trailern vorgesehen. Der Flußkatamaran wird so schnell sein wie ein Lkw und ein Sonntagsverbot gibt es bisweilen auch noch nicht. Es bleibt abzuwarten, ob solche Schiffe auch den neu gestalteten Mittellandkanal befahren können, doch es könnte sein, daß die Zukunft diesen Schiffen gehört. Deshalb kann es bereits jetzt von Vorteil sein, die raumbezogenen Konzeptionen dahingehend neu zu bewerten. Allein in der DEUREGIO Ostfalen gibt es mehrere Häfen, deren Umfeld sich vielleicht als zukünftiges Güterumschlagszentrum eignen. Hier könnte der Umschlag vom Lkw Verkehr auf die Wasserstraßen stattfinden. 7.8 Luftverkehr Der nächste Flughafen ist der Flughafen Waggum bei Braunschweig, der somit in relativ guter Erreichbarkeit gelegen ist. Von der Kreisstadt Helmstedt aus ist der Flughafen in ca. 30-40 Minuten mit dem Pkw erreichbar; für den Westkreis ist die Erreichbarkeit entsprechend günstiger. Vor allem der westliche Teil des Landkreises Helmstedt kann aus der Nähe zu diesem Flugplatz einen Standortvorteil machen, da dieser Flugplatz auch mit kleinen, zweistrahligen Düsenjets anzufliegen und somit für Geschäftsleute interessant ist. Der Landkreis Helmstedt ist im übrigen Mitgesellschafter der ”Flughafengesellschaft Braunschweig mbH”, die den Flugplatz unterhält. In Zukunft ist eine direkte Anbindung an die A 2 geplant, was wiederum zu einer merklichen Verkürzung der Anfahrtzeiten führen wird. So kann die Anfahrtzeit von der Stadt Helmstedt zum Flugplatz Waggum auf voraussichtlich ca. 20-30 Minuten per Anreise mit dem Pkw verkürzt werden, entsprechend weniger wird es bei einem Ausbau der Anschlußstelle Königslutter von Königslutter aus sein. - 239 - In der Nähe zu Magdeburg soll ebenfalls ein Regionalflugplatz entstehen, wobei mehrere Standorte im Gespräch sind aber noch nicht endgültig entschieden ist, welcher Standort den Vorzug erhält. Bei der Stadt Helmstedt befindet sich ein Segelflugplatz, der bedingt auch mit kleinen Propellermaschinen angeflogen werden kann, jedoch zur Zeit nur auf Voranmeldung. Auch daraus könnte u. U. ein Standortwert abzuleiten sein, vor allem wenn dieser Flugplatz erweitert wird. Es muß dabei nicht daran gedacht werden, daß ein umfassender, die Landschaft und deren Bewohner störender Ausbau erfolgen muß. Denkbar ist, Segelflugmeisterschaften, Ballonmeisterschaften, Kunstflugausscheidungen u. ä. in Helmstedt auszurichten. Es wäre auf alle Fälle eine Attraktion, die dem Fremdenverkehr Helmstedt zugute kommen könnte. Außerdem könnte auch darüber nachgedacht werden, Kooperationen mit Forschungseinrichtungen zu suchen, die im „kleinen Flugzeugbau“ tätig sind (Stichwort: Luftfahrtbundesamt in Braunschweig). - 240 - 8. Wohnen und Wohnungsmarkt im Landkreis Helmstedt 8.1 Einleitung Der Landkreis Helmstedt mit seiner für den Wohnbereich günstigen Lage zwischen zwei im nahen Pendelbereich liegenden Oberzentren (Braunschweig und Magdeburg) und dem in einer ähnlichen Entfernung befindlichen Mittelzentrum mit oberzentralen Funktionen (Wolfsburg) verfügt über einige auf dem Wohnungsmarkt günstige Optionen, wie z.B. die im Vergleich zu den Oberzentren relativ günstigen Mieten und Preise für Wohnungen und Bauland, eine bevorzugte Lage von Baugebieten im dörflichen Randbereich, teils sogar in Waldrandnähe, und eine gut ausgebaute Infrastruktur. Das Vorhaben, durch Bereitstellung günstiger Wohnungen oder entsprechenden Baulands höhere Einkommen zu importieren, sollte jedoch kritisch aber nicht ablehnend betrachtet werden. Der Bereich des Wohnens nimmt in der Wirtschaftsförderung eine wichtige Funktion ein, da die Rolle der kommunalen Einnahmen über die Gewerbesteuern an Wichtigkeit abnehmen wird und somit die der Einkommenssteuern an Bedeutung in der kommunalen Haushaltsplanung zunehmen wird. Das liegt zum Hauptteil an dem neuen Gemeindefinanzierungsgesetz, wonach die Lohn- und Einkommenssteuerumlage, die sich bis dato auf ca. 15% beläuft, gegenüber der Gewerbesteuer an Bedeutung gewinnen wird (es sollte dabei auch daran gedacht werden, daß die Gewerbesteuereinnahmen starken konjunkturellen Schwankungen unterliegen können). Ein weiterer Punkt ist, daß die durch kapital- und ertragsstarke Industrieunternehmen gezahlten Gewerbesteuereinnahmen nach dem neuen Länderfinanzausgleichsgesetz verstärkt mit dem Land geteilt werden müssen und es erscheint allein aus diesem Grunde einleuchtend, daß die Rolle der Einkommenssteueranteile nicht nur in der kommunalen Wirtschaftsförderung an Bedeutung gewinnen wird. Der kommunale Finanzausgleich versucht die Wanderungsverluste der Städte, die sich infolge der verstärkten Wohnansiedlungsbemühungen des Umlandes ergeben, auszugleichen. In der Wirtschaftsförderung sollte der Wohnstandort auch Bestandteil der Standortpflege und vermarktung sein. Für ansiedlungswillige Unternehmen z. B. aus dem Dienstleistungsbereich aber auch aus anderen Branchen spielt die Qualität des Wohnstandorts eine bedeutende Rolle insofern, als sowohl für Arbeiter als auch für Angestellte der verschiedenen Gehaltsstufen ausreichend und z.T. hochwertiger Wohnraum zur Verfügung stehen sollte. Die Wohnraumnachfrage im Landkreis Helmstedt ist in den letzten zwei Jahren sehr stark angewachsen und man muß durchaus von einer akuten Wohnungsnot sprechen, die über die nächsten Jahre noch anhalten wird. In Anbetracht dieser Tatsachen gehört zu einer solchen "Wohnstrategie" nicht nur die Bereitstellung von Bauland sondern auch das konzentrierte und konzertierte Ineinandergreifen von Planung und Durchführung, um den dazugehörigen Ausbau von infrastrukturellen Einrichtungen für die relevanten Altersgruppen und deren Qualitätsansprüche durchführbar zu machen. Desweiteren ist die Nutzung von Leerständen und Baulücken als vordringlich einzustufen, die Gründe für die Leerstände herauszuarbeiten, zu bewerten und eine Vorgehensweise zu finden, wie dieses Manko auf dem Wohnungsmarkt gelindert werden kann. 8.2 Die Alterszusammensetzung der Bevölkerung des Landkreises und die für eine Wohnansiedlungsstrategie relevanten Altersgruppen Im Bereich Wohnen spielt die Wohnbevölkerung und deren Alterszusammensetzung eine sehr bedeutende planerische Rolle (s. Tab. VIII 1 + VIII 2). Die Alterszusammensetzung ist im Bereich des Wohnens von großer Bedeutung. Es sind vor allem bestimmte Altersgruppen, die für die planerische Aufarbeitung in Bezug auf Flächenbereitstellung und Gestaltung des Wohnumfeldes wichtig sind. Außerdem wird die Bedarfsseite auf dem Wohnungsmarkt im wesentlichen durch die Bevölkerungsentwicklung beeinflußt. - 241 - 8.2.1 Die Altersgruppe der 20 -45 - Jährigen Eine wichtige Gruppe ist die Altersgruppe der 25 - 35 -jährigen Menschen. Die geburtenstarken Jahrgänge der 60-ziger sind seit Mitte der 80-ziger Jahre verstärkt auf den Wohnungsmarkt vorgedrungen, was trotz abflauender Singularisierungstendenz (die Zunahme der Haushaltszahlen seit 1987 liegen mit 1.5% unterhalb der Zunahme der erwachsenen Bevölkerung von 2.3%) zu Engpässen auf dem Wohnungsmarkt geführt hat. Es ist die Gruppe der Menschen, die bis zu Beginn der 90-ziger eine starke Singularisierungstendenz aufwies und zudem weniger Kinder hatte. Diese Ziel- und Altersgruppe fragt verstärkt sogenannte Singlewohnungen nach. Diese „Einpersonenhaushaltstendenz“ ist jedoch nicht nur dieser Altersgruppe zuzuschreiben, sondern entsteht auch durch eine zunehmende Scheidungsrate sowie sinkende Wiederverheiratungsquoten nach Scheidungen in den folgenden Altersgruppen. Viele dieser Menschen bevorzugen ebenfalls kleine Wohnungen, vor allem 1-2 - Zimmer - Wohnungen. Im Landkreis Helmstedt betrug der Anteil der 25 - 35 Jährigen im Januar 1991 15%. Im Landkreis Gifhorn betrug er 16.4%, im Landkreis Wolfenbüttel 15%. Der Landkreis Gifhorn weist neben der Stadt Wolfsburg (16%) in dieser Altersgruppe die höchsten Raten auf. Interessant ist auch der Wert für die 30-35 Jährigen, der sogar etwas über dem Bundesschnitt liegt und so auch darauf verweist, daß der Landkreis Gifhorn zu einem bevorzugten Wohnstandort dieser sozio-ökonomisch wichtigen Altersgruppe gehört. Noch deutlicher zeigt sich dieses bei Betrachtung des Anteils der 25-25 Jährigen. Insgesamt spielt die Gruppe der 25-45 jährigen Menschen auf dem Wohnungsmarkt als Baukundenpotential eine besondere Rolle. Der Anteil der Bevölkerung im Baualter von 25-45 Jahren betrug im Landkreis Helmstedt 28.2%, was im Vergleich zu den Landkreisen Gifhorn mit 30.2%, Wolfenbüttel mit 28.5% und Peine mit 28.4% den geringsten Anteil bedeutet (s. a. Tab. VIII 2). In dieser Altersgruppe werden erfahrungsgemäß häufig sowohl Ein- und Zweifamilienhäuser als auch kleinere Wohnungseinheiten auf Eigentumsbasis nachgefragt. Hier ist auch zu berücksichtigen, daß diese Generationen zur sogenannten "Erbengeneration" gehören und den Dauerboom im Eigentumssektor sehr nachhaltig mit produziert haben. Die Erfahrung der letzten 10-15 Jahre zeigt, daß ein großer Teil der ererbten Vermögen zum Erwerb von Wohnungseigentum verwendet wird. 8.2.2 Die Altersgruppe der älteren Menschen (ab 60 Jahren) Die Altersgruppe der 65 jährigen und älteren Menschen interessiert in diesem Zusammenhang, da in dieser Gruppe viele Menschen sind, die einen Alterswohnsitz und eine entsprechende Pflege- und Versorgungsinfrastruktur nachfragen, aber auch im Freizeit- und Kulturbereich (also auch dem Fremdenverkehr) entsprechender Beachtung bedürfen. Hier weisen die Stadt und der Landkreis Helmstedt die höchsten Anteilwerte im regionalen Vergleich auf. In der Stadt Helmstedt betrug der Anteil der 60- bis über 75 Jährigen am 1.1.1991 26.9%, im Landkreis Helmstedt 23.8%. Etwas niedriger liegt der Wert mit 22.1% im Landkreis Wolfenbüttel. Bis auf den Landkreis Gifhorn mit 18.3% und der Stadt Wolfsburg mit 19.8%, liegen alle in diesem Vergleich aufgeführten Kommunen sowohl über dem niedersächsischen Schnitt mit 21.4% als auch dem Bundesschnitt mit 20.7%. Da diese Altersgruppe der Bevölkerung eine besondere Rolle spielt, sollte auch verstärkt darüber nachgedacht werden, den Wohn- und Versorgungsstandort für diese Bevölkerungsgruppe zu verbessern. Desweiteren spiegeln die Zahlen wider, daß im Landkreis Helmstedt bezüglich dieser Altersgruppen ein mehr an Erfahrung vorliegen sollte als in den anderen Regionen. Hier läßt sich also durchaus daran denken, diese Altersgruppe auch als Wohnzielgruppe zu erkennen und entsprechende den Wohnstandort verbessernde Initiativen zu ergreifen. Zudem wird der Anteil der über 65 jährigen an der Bevölkerung bis zum Jahr 2010 eine Verdopplung erreichen (Immobilienmanager 3/93), so daß also Steigerungen zu erwarten sind . In der Region Brauschweig - 242 - wird bis zum Jahr 2000 mit einer Zunahme der über 60 Jährigen von ca. 17% gerechnet, im Bundesschnitt mit 20% (Bevölkerungsprognose der BfLR, Heft 9/19 1992 und Heft 11/12 1992). 8.3 Der Wohnungsmangel im Landkreis Helmstedt Der Wohnungsnachfragedruck hat sich im Raum Helmstedt seit Ende der 80er Jahre erheblich verstärkt, was nicht unbedingt als Indiz für eine Bevorzugung dieses Raumes in der Wohnnachfrage bewertet werden sollte. Es sind vielmehr die geringe Bautätigkeit und Wanderungsgewinne im Zuge der Grenzöffnung, die als Gründe für diesen starken Nachfragedruck verantwortlich sein könnten (ISP, 1991). Der Druck auf dem Wohnungsmarkt zeigt sich in "Warteschlangen" und verschobenen Umzügen sowie einer starken Preisentwicklung für Wohnen und Bauland. Im Bereich des Sozialamtes ergibt sich aus diesem Prozeßgefüge z. B. eine zunehmende Anzahl von Wohngeldempfängern (im Bundesdurchschnitt müssen bis 65% des Einkommens für Mietkosten aufgebracht werden) und bei den Wohnungsbaugesellschaften eine erhöhte Anzahl von Antragstellern. Auf dem Vermietungsmarkt ist der Mangel ganz deutlich spürbar. Wenn sich auf eine Wohnungsannonce hin fünfzig, ja, in Großstädten hunderte von Interessierten melden, ist das eine Zeugnis der Mangelsituation auf dem Markt, die für preistreibende Geschäftspraktien ein breites Betätigungsfeld bietet. Eine Obdachlosigkeit, wie sie sich durchaus aus einem solchen Wirkungsgefüge ergeben kann, wird meist durch "Puffer" abgemildert. Solche Puffer sind bei den jungen Menschen die Wohnung der Eltern, bei Älteren das Unterkommen bei Verwandten und Freunden, in Übergangsheimen, Hotels, Zimmervermietungen u.ä.. Der Wohnungsmangel, der sich z.B. in der Stadt Helmstedt zwischen 1987 und 1990 ergab, wurde in einer Untersuchung des Eduard - Pestel - Instituts, die im Auftrage der Nord LB ausgeführt wurde, berechnet. In der folgenden Tabelle sind neben den tatsächlich vorhandenen Haushalten die Ergebnisse der Modellrechnung für die fiktive Haushaltsbildung auf der Grundlage der seit 1985 abnehmenden Haushaltsgrößen aufgeführt. Die Gegenüberstellung der Werte zeigt, daß sich 690 Haushalte bis 1990 mehr hätten bilden müssen, wäre eine ausreichende Versorgung mit Wohnungen vorhanden gewesen. Es ist hier die defizitäre Wohnsituation deutlich diagnostiziert, die sich nach der Grenzöffnung noch erheblich verschärft hat. Tabelle: Stadt Helmstedt Haushalte 1987 bis 1990 Haushalte(HH-IST) tatsächlich gebildet bei gegebenem Wohnungsbestand Veränderung Haushalte, fiktiv gebildet bei ausreichender Wohnungsversorgung Veränderung Haushaltsrückstau 1987 1988 12.220 1989 12327 1990 12364 Summe Veränderung in % 12409 - 1.5% - 107 37 45 189 - 12.525 12.644 12.825 13.099 - 4,6% 3 305 119 182 274 574 12 145 229 690 nachrichtl.: Kreisstädte 1 jeweils 31.12. 2 Summe HH-Rückstau in % der HH-IST 1990 3 kumulierte Werte ab 1985 5.6%2 4.9%2 8.4 Der Wohngebäudebestand im regionalen Vergleich Aus den Tabelle VIII 3-VIII 6 ist ersichtlich, daß der Landkreis Helmstedt bezüglich des Alters des Wohngebäudebestandes das Schlußlicht im Vergleich zu den Landkreisen Gifhorn, Wolfenbüttel und Peine bildet. Vergleicht man den neueren Wohngebäudebestand, der ab 1969-1975 und später errichtet wurde, steht der Landkreis Helmstedt mit 18.8% des Bestandes als Schlußlicht im Vergleich zu den anderen Landkreisen (wie Gifhorn mit 39.0%, Wolfenbüttel mit 28.8% und Peine - 243 - mit 29.6%) da. Auffällig sind die hohen Errichtungsbestände der Städte Helmstedt, Schöningen und außerhalb des Landkreises der Stadt Wolfsburg der Jahre 1949 bis 1968, die wahrscheinlich mit der bis 1967 stets aufwärts weisenden wirtschaftlichen Entwicklung im Landkreis, der BKB und, außerhalb des Landkreises, mit VW zu tun haben (der Großteil der Wohnungen der Wohnungsbaugesellschaft der BKB AG stammt aus den 50er und 60er Jahren, s.u.). Auffällig ist vor allem der Landkreis Gifhorn, der einen hohen Errichtungsanteil seit 1958 aufweist und zudem in den Jahren 1969-1979 und später zu den Spitzenreitern auch im Vergleich zu den anderen Landkreisen und kreisfreien Städten des Regierungsbezirks Braunschweig gehört. Es sind kaum Anzeichen im Landkreis Helmstedt erkennbar, die aus einer ähnlichen „Gunstlage“ (zumindest im Nord- und Westkreis) heraus zu einer verstärkten Bautätigkeit geführt hätten. Dieses Versäumnis ist auch mit einer konzentrierten Aktivierung dieses Bereiches zumindest kurzfristig nicht aufzuholen. Der Gebäude- und Wohnungsbestand im Landkreis Helmstedt Im Jahr 1987 betrug der Wohngebäudebestand (ohne Wohnheime, ohne Wohngebäude mit 1 oder 2 Freizeitwohneinheiten) insgesamt 23.037 Einheiten. In diesen befanden sich 40.559 Wohnungen, von denen 39.809, also 98.1% belegt waren (s.a. Tab. VIII 7 + VIII 8 ). Am 31.12.1991 betrug der Wohnungsbestand bereits 41.737 Wohneinheiten, was einer jährlichen Zunahme von 1987 bis 1991 von 0.7%/a entspricht. Von diesen 41.737 Wohneinheiten bewirtschaftete allein die Wohnungsbaugesellschaft niedersächsischer Braunkohlenwerke mbH - WBG - Helmstedt 2.763 Wohneinheiten. Das sind knapp 7% des Gesamtbestandes. In der Hauptsache handelt es sich hierbei um Wohnungen aus den 50er und 60er Jahren. Betrachtet man die Fortschreibung des Gebäude- und Wohnungsbestandes 1989 bis 1991 für den Landkreis Helmstedt (s.a. Tab. VIII 9), ist zu erkennen, daß der Anteil der Ein- und Zweizimmerwohnungen selten über 5% liegt. Der Anteil der 20-30 - jährigen Wohnbevölkerung beträgt 1991 im Landkreis Helmstedt 7.6%. Insgesamt liegt der Anteil der 1-2 - Zimmer Wohnungen im Landkreis Helmstedt am 31.12.91 bei 3.9%. Hier wird bereits deutlich, daß ein Teil dieser Bevölkerungsgruppe entweder zuhause bei den Eltern oder in (Übergangs)Wohnungen mit mehr als 2 Personen pro Haushalt unterkommt. Insgesamt liegt der Anteil der Ein- und Zweizimmerwohnungen im Beobachtungszeitraum von 1989 bis 1991 zwischen 2.43% (Nord-Elm) und 5.1% (Stadt Helmstedt). Den größten Anteil am Wohnungsbestand haben die Wohnungen mit 3-6 Zimmern, der 1991 im Landkreis im Durchschnitt bei 82.8% lag, wobei die Städte Helmstedt und Schöningen Anteile von über 87% aufwiesen. Die Industriegemeinde Büddenstedt hat mit 84.2% ebenfalls einen über dem Landkreisschnitt liegenden Anteil an 3-6 - Zimmer - Wohnungen. Die ländlich geprägten Gebiete weisen einen auffällig hohen Anteil von Wohnungen mit 7 und mehr Zimmern auf, was sachgemäß auf die Siedlungsstrukturen des Ländlichen Raumes zurückzuführen ist. Im Landkreisdurchschnitt lag der Anteil solch großer Wohnungen bei 13.3% des Bestandes. Typischerweise weist die ländlich strukturierte Samtgemeinde Heeseberg den diesbezüglich höchsten Anteil mit 24.9% auf, aber auch die Samtgemeinde Velpke besitzt mit 21.2% einen relativ hohen Anteil an Wohnungen mit 7 und mehr Räumen, wobei die Leerstände in der Samtgemeinde Velpke vor allem resultierend aus der Nähe zu Wolfsburg geringer sind (2.0% nach Daten aus der VZ, 1987) als bei der Samtgemeinde Heeseberg mit 2.3% (VZ, 1987; s.a. Tab. VI 7). Die Durchschnittswerte für den Landkreis Helmstedt lagen im Jahr 1987 bei 1.9%. Die regionalen Werte für Niedersachsen schwanken 1990 zwischen 0.57 bis 2.5%. Der Landesdurchschnitt lag bei 1.6% (LBS, Schriftenreihe, Bd. 14). Die Städte Helmstedt, Wolfsburg sowie die Landkreise Gifhorn, Helmstedt, Wolfenbüttel und Peine weisen allesamt einen Anteil von unterhalb dieses Schwellenwertes auf, wobei die Stadt Wolfsburg den niedrigsten Wert (0.87%) und der Landkreis Wolfenbüttel den höchsten Wert mit 2.48% aufweisen (s.a. Tab. VIII 8). - 244 - Im Landkreis Helmstedt wird der Schwellenwert von 2.5% des Bestandes unterschritten. Es sollten ca. 2,5% vorhanden sein, damit genügend Umzugsmöglichkeiten vorhanden sind. Liegt der Wert für die Leerstände darunter, kann man davon ausgehen, daß es zu Umzugsketten kommen kann. Das heißt, daß immer mehr umzugswillige Haushalte auf freiwerdende Wohnungen warten und so den Umzug anderer umzugswilliger Haushalte in ihre freiwerdende Wohnung verhindern bzw. hinausschieben. Aus der Untersuchung des Eduard-Pestel-Instituts (1991) zeigt sich, daß in der Stadt Helmstedt zwischen 1987 bis 1990 ein Anstieg der Leerstände von 14.9% zu verzeichnen war. Im selben Zeitraum haben die Kreisstädte einen Rückgang der Leerstände von 17.3% zu verzeichnen gehabt, was auf eine zunehmend angespannte Wohnraumsituation hinweist. Die Zahl der Untermieter hat in der Stadt Helmstedt in diesem Zeitraum um 23.2% zugenommen, die in den beiden anderen Kreisstädten um 26.7%. Im Landesdurchschnitt sind die Untermieterzahlen um durchschnittlich 25% gestiegen. Im Gegensatz zu 1984 haben sich die Untermietverhältnisse in Niedersachsen fast verdoppelt (LBS - Schriftenreihe, Bd. 14). Das ist ebenfalls ein Hinweis auf die sehr angespannte Wohnsituation. Die Zunahme der Untervermietung ist im grenznahen Bereich aber bedingt auch durch eine wesentlich höhere Nachfrage im Zuge der Grenzöffnung zustandegekommen, da sich zu dieser Zeit und auch danach eine große Zahl von Händlern, Unternehmern und Verwaltungsexperten in den sachsenanhaltinischen Regionen aufgehalten haben und es nicht einfach war/ist, dort adäquate Unterkünfte zu finden. 8.5 Die Zunahme von Wohnungen Die Tabelle zu Wohnbautätigkeit und Flächenumsatz (s. Tab. VIII 10) zeigt im Landkreisvergleich deutlich die verstärkten Bemühungen (erhöhte Bauintensität) des Landkreises Gifhorn im Wohnungsbau. Nimmt der Landkreis Helmstedt dort 1985 mit 4.4 fertiggestellten Wohnungen je 1000 (0.42%) des Bestandes noch den letzten Platz ein, weist der Landkreis Gifhorn bereits 15.6 je 1000 Wohnungen des Bestandes (1.6%) an fertiggestellten Wohnungen auf. 1989 sind es sogar 18.1 (1.8%), ein doppelt so hoher Wert wie der Wert des Bundesgebietes (alte Länder) und nahezu dreimal so hoch wie der Wert für die Raumordnungsregion Braunschweig mit 6.7 je 1000 Wohnungen des Bestandes. In den anderen niedersächsischen Regionen lag die Bauintensität zwischen 1987 und 1990 zwischen +270% und -40%. Die Region Gifhorn hat dank ihrer günstigen Lage zu großen Industrieregionen eine hohe Bauintensität (ca. 2% und mehr, LBS - Schriftenreihe, Bd. 14), während der Landkreis Helmstedt immer noch bei 0.5-1% des Bestandes liegt. Daraus ergibt sich wiederum ein hoher Druck auf den Wohnungsmarkt, da durch so geringe Fertigstellungsraten kaum Sickereffekte entstehen können. Es wird vielmehr so sein, daß die Ausziehenden bereits feste Nachmieter haben und so freiwerdende Wohnungen gar nicht erst auf dem freien Wohnungsmarkt angeboten werden können. Die verstärkten Bemühungen im Landkreis Gifhorn werden sich aller Voraussicht nach in Zukunft sehr positiv bemerkbar machen. Man bedenke in diesem Zusammenhang nur die kommunalen Einkünfte in Bezug auf die Anteile an der Einkommenssteuer. Im Landkreis Helmstedt werden aber ebenfalls verstärkte Bemühungen unternommen. So hat die Kreiswohnungsbaugesellschaft Helmstedt seit 1988 bis einschließlich Ende 1992 insgesamt 121 neue Wohnungen, davon 54 Dachgeschoßwohnungen mit einem Kostenaufwand von rund 13.9 Millionen DM gebaut. 58 dieser Wohnungen sind in Vorsfelde errichtet worden, also außerhalb des Landkreisgebietes, aber sehr nahe zum VW-Werk. Für die Jahre 1993 und 1994 sind mit einem voraussichtlichen Kostenaufwand von 10,7 Millionen DM 50 neue Wohnungen in den Städten Helmstedt, Königslutter und Schöningen geplant . Durch die schlechte Finanzsituation der Kommunen wird sich leider in Zukunft auf den Anbau oder Dachgeschoßausbau konzentriert werden müssen (BZ, Helmstedter Ausgabe vom 14.08.93). Im Jahr 1991 wurden von der Kreiswohnungsbaugesellschaft 352 Mietwohnungen, im Jahr 1992 266 Wohneinheiten modernisiert. 62 Wohnungen wurden nach Fertigstellung der Modernisierungsmaßnahmen sofort wieder neu belegt (Helmstedter Blitz, 3.9.92) - 245 - Aus der Tab. VIII 11 wird ersichtlich, daß im Landkreis Helmstedt, wie auch in den anderen Kommunen des Landkreises das Hauptgewicht der Fertigstellungen im Ein- und Zweifamilienhausbau lag. Besonders intensiv wurde in der Gemeinde Lehre und Samtgemeinde Velpke in dieser Sparte gebaut. Beide Kommunen sind durch ihre geographische Lokalisation begünstigt. Was bei der Samtgemeinde Velpke die Nähe zu Wolfsburg ist, ist bei der Gemeinde Lehre die „Zwickellage“ zwischen dem Oberzentrum Braunschweig und der Stadt Wolfsburg. Auffällig ist zudem die insgesamt geringe Fertigstellung von Gebäuden mit Drei- und Mehrzimmerwohnungen. Die Stadt Königslutter, die Samtgemeinde Velpke sowie die Gemeinde Lehre fallen positiv auf und haben die im Kreisvergleich höheren Fertigstellungsraten von Gebäuden mit Drei- und Mehrzimmerwohnungen. Aus Tab. VIII 12 ist ersichtlich, daß im Landkreis in diesem angegebenen Zeitraum insgesamt 792 Wohnungen entstanden sind, mit einer deutlichen Konzentration im Vier-bis-fünf-Zimmer-Bereich, also einer stark nachgefragten Wohnungsgröße. Die raumplanerisch und ökologisch kritischsten Bautätigkeiten im Wohnbereich sind die im Einund Zweifamilienhausbau. Bezüglich des 1- und 2-Familienheimbaues nimmt der Landkreis Helmstedt im regionalen Vergleich Rang 1 ein. 1989 lag der Anteil neuer 1-2 Familienhäuser bei 99.4% (s.a. Tab. VIII 10). Der Anteil neuer Wohnungen lag mit 97.8% im 1-2 Familienhausbereich. Es soll hier nicht der Eigenheimbau in Form von Einfamilienhäusern verunglimpft werden, doch es bedarf doch einer kritischen Betrachtung. Durch den ausgeweiteten Eigenheimbau ist z. B. ein zunehmendes Verkehrsaufkommen zu attestieren. Wenn also mehr Eigenheime gebaut werden, muß unbedingt planerisch und praktisch dafür Sorge getragen werden, daß die Verkehrsproblematik bedacht wird und entsprechende Versorgungs- und Freizeiteinrichtungen durch den ÖPNV sowie dazugehörige Streckenführungen auch für den Individualverkehr nicht die Anlieger dieser neuen Siedlungen bzw. der Hauptstraßenanrainer zusätzlich negativ beeinträchtigen. Letzten Endes wird es zukünftig darum gehen, eine vernünftige, an den Bestrebungen und Verhaltensweisen des Menschen orientierte, ins ökologische Netz möglichst weitgehendst einzupassende Lebensraumgestaltung zu finden, wobei dem Wohnbereich größte Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte, denn er stellt den intimsten Erfahrungs- und Austauschbereich des Menschen neben der Arbeitsstätte dar (Moewes, 1981). Diese raumplanerischen Problemstellungen müssen jedoch auf anderen, der Landkreisebene übergeordneten, Ebenen diskutiert werden. Es bestehen wohl kaum Zweifel daran, daß Einfamilienhäuser, und seien es auch Reihenhäuser, Atriumhäuser etc. relativ enger Bebauung, dem Familienleben förderlich sind und vor allem den Kindern - und sei der Garten auch noch so klein größere Bewegungs-, Erlebnis- und Entfaltungsmöglichkeiten gewähren als dies in den städtischen Verdichtungsgebieten möglich ist. Warum also nicht allen Menschen einen eigenen Wohn- und Lebensbereich erschließen? Das Argument, es stünde nicht genügend Fläche zur Verfügung, hinkt ein wenig, denn bebaubare Fläche ist genügend vorhanden. Es bedarf dazu aber einer Veränderung der Flächennutzungsansprüche und der dazugehörigen Leitlinien für das Siedlungsmuster. Dafür müßte wahrscheinlich das „Zentrale-Orte-Prinzip“ aufgeweicht werden und dies kann nur auf den höheren Entscheidungsebenen entschieden werden. Nichtsdestotrotz kann im Landkreis Helmstedt eine moderne, an ökologischen Prinzipien orientierte Lebensraumgestaltung vorgedacht werden und in Projektsiedlungen vorgeführt werden. Die Lage als Modellregion ist als gut zu beurteilen. Die Nachfrage nach solchermaßen gestalteten Lebens- und Arbeitsräumen nimmt in Deutschland wahrscheinlich noch weiter zu und es ist eine wachsende Nachfrage zu erwarten. Vergleicht man Tab. VIII 12 mit Tab. VIII 13 wird ein deutlich positiveres Bild des Landkreises Helmstedt gezeichnet (unterschiedliche Quellen!). Die Gemeinde Lehre und die Samtgemeinde Velpke sind Spitzenreiter, gefolgt von den Städten Königslutter und Helmstedt, die vor allem seit 1991 eine deutliche steigende Tendenz bei den Fertigstellungen aufweisen. Es wurden auch hier vorwiegend Wohnungen mit 4-5 Zimmern fertiggestellt. Die geringen Zugangswerte der Samtgemeinde Heeseberg sind darauf zurückzuführen, daß diese Samtgemeinde etwas abseits der Entwicklungsräume des Landkreises Helmstedt liegt und somit bestimmte Begrenzungen für Wohnansiedlungen existieren (z. B. planerisch, soziale). Außerdem - 246 - gibt es kein übergreifendes Flächenmarketing dieser landschaftlich so reizvollen Wohngegend. Es ist nicht (nur) der Brockenblick sondern auch die relativ gute Infrastruktur und der weitgehend erhaltene dörfliche Charakter mit einem Gutteil Landwirtschaft, der diesen Wohnstandort einen eigenen Reiz verleiht. Doch das alleine reicht nicht. Eine in der Samtgemeinde angedachte verstärkte Reaktivierung der "Süd - Elm - Bahn" von Helmstedt über Schöningen - Schöppenstedt Wolfenbüttel nach Braunschweig könnte bei Auslegung im Schnellverkehr durchaus zu einer gesteigerten Wohnansiedlungsattraktivität entlang dieser Strecke beitragen. Ein Plus ist, daß die Organe der Samtgemeinde eine positive Einstellung zu den Baugesuchen Ansiedlungswilliger haben. Wenn hier eine Optimierung der Flächenvorhaltung und des Marketings dieser Flächen eingeleitet wird, so kann das auch den Erhalt und gegebenenfalls den Ausbau der DB-Strecke 310 indirekt unterstützen. Bei der Gemeinde Büddenstedt ist die geringe Anzahl an Zugängen aus ihrer Flächenknappheit sowie aus ihrer Funktion als Industriegemeinde erklärbar. Das (Wohn)Image dieser Siedlung ist vom Braunkohlebergbau geprägt. Wenn der Bergbau in absehbarer Zeit zum Erliegen kommt und die Rekultivierungsfläche vielleicht zu einem ökologisch wertvollen Gelände gemacht werden könnte, so erhält der Wohn- und Freizeitwert dieser Gemeinde eine qualitativ neuwertige Ausrichtung. Wird hier frühzeitig erkannt, daß in den nächsten 10 - 20 Jahren vor der Tür ein landschaftlich reizvolles und abwechslungsreiches Gebiet entsteht (inklusive diverser Entsorgungseinrichtungen mit Arbeitsplätzen), so ist eine bedingte Wohnattraktivitätssteigerung dieses Standortes zu erwarten. Diese ist bei rechtzeitiger planerischer Vorarbeit späterhin positiv zu nutzen. Dieser Aspekt spielt auch im Fremdenverkehr eine wichtige Rolle, denn die Gemeinde Büddenstedt kann sich aufgrund der geplanten Vorhaben, was die Rekultivierungsmaßnahmen angeht, durchaus große Chancen ausrechnen, zu einer attraktiven Fremdenverkehrsgemeinde zu werden. Solche Vorhaben müßten jedoch erst einmal eruiert werden. 8.6 Verschiedene Gründe für Baulücken und Leerstände Auf die Gründe für städteplanerisch unerwünschte Baulücken auch in den Städten des Landkreises Helmstedt s. a. Kapitel "Wohnbaulandreserven im Landkreis Helmstedt) wird im folgenden näher eingegangen. Für das Schließen von Baulücken sind (n. Dieterich, 1981) folgende Gründe maßgeblich: Bodenwirtschaftliche Gründe: - das knappe Angebot an Bauland wird vermehrt, - bessere Ausnutzung der vorhandenen technischen Infrastruktur (vor allem Erschließungsanlagen, für die von den Gemeinden z.T. schon erhebliche Investitionen erbracht worden sind, die aber mindestens teilweise brachliegen), - bessere Ausnutzung der vorhandenen sozialen Infrastruktur (z.B. Schulen und Kindergärten), - Vermehrung des Wohnungsangebotes. Das Schließen von städtischen Baulücken kann deshalb auch der Stadtflucht entgegenwirken und Sickereffekte auslösen, - in gewissem Umfang kann auf die Neuausweisung von Bauland verzichtet werden, wenn Baulücken geschlossen werden. Städtebauliche Gründe im engeren Sinne: - im Bereich geschlossener Bebauung: a) Erzielung wichtiger gestalterischer Wirkungen, die - 247 - b) Verringerung von Lärmimmissionen, z.B. im Inneren eines Baublocks. - Beseitigung von Belästigungen, die von Baulücken ausgehen (unästhetischer Anblick, Abfallablagerungen und Brutstätten für Ungeziefer), - Beseitigung funktionsloser Räume. - von der Bebauung können positive Impulse für die Umgehung ausgehen. Sozialpolitischer Gesichtspunkt: - Minderung der sozialen Segregation. Es wird seitens der Kommunen natürlich versucht, die Baulücken zu schließen. So wird in der Stadt Helmstedt, wo 1992 ein sehr schönes altes, leider einsturzgefährdetes ehemaliges Professorenhaus abgerissen wurde, versucht, diese Lücke z. B. durch den Bau eines Hotels wieder zu schließen. Auch in den Kommunen des Landkreises Helmstedt gibt es, selbst in den vom Wohnungsmangel stark beeinträchtigten Städten, diverse Leerstände. So stehen zum Verkauf anstehende Eigentumsbzw. Neubauwohnungen z.B. wegen zu hoher Mietforderungen leer, da sie in den Übergangszeiten bis zur Vermietung/zum Verkauf des Objekts keinen Mieter/Käufer finden. Hier ist mit durchschnittlichen Leerstandszeiten von bis zu einem halben Jahr auszugehen. Wegen Renovierungen und Verbesserungsinstallationen zur Erzielung eines hohen Mietzinses stehen Wohnungen ebenfalls bis zu einem Vierteljahr und länger leer. Staffelmietverträge tun das ihrige zu einer Verschlechterung des Wohnungsangebotes, da potentielle Kunden schnell erkennen können, daß eine Wohnung in absehbarer Zeit u. U. nicht mehr bezahlbar sein wird. Auch hier entstehen Leerstände, die sich durchaus über einen längeren Zeitraum (u.U. ein halbes Jahr und länger) hinziehen können. Ein weiterer Grund für Leerstände und bedingt für die Wohnungsknappheit besteht in nicht bewohnten Zweitwohnungen (Freizeitwohnungen), die z.T. nur ein einziges mal im Jahr in Anspruch genommen werden und dann den Rest des Jahres leer stehen. Es gibt also Hinweise, daß sich die bestehende Wohnungsknappheit nicht nur aus einer simplen Mangelsituation aufgrund geringer Fertigstellungszahlen ergibt, sondern zumindest teilweise auf einem rein privaten Spekulationsgebaren beruht. Es soll hier nicht Moral und Ethik angezeigt bzw. diese angemahnt werden, sondern lediglich darauf hingewiesen werden, daß eine mögliche Entspannung des Wohnungsmarktes nicht allein auf den Schultern der kommunalen und städtischen Entscheidungsträger ruht, sondern oftmals durch persönliches Engagement und Rücksichtnahme des Bürgers hilfreich unterstützt werden kann. 8.7 Anteil der Eigentümer- und Mietwohnungen an bewohnten Wohnungen Der Anteil der Eigenheime an den bewohnten Wohnungen (s.a. Tab. VIII 14+14a) ist insofern von größerem Interesse, als dieser Anteil etwas über die regionalen Bindungen der Bevölkerung auszusagen vermag. Die Besitzer von Eigenheimen sind finanziell wie auch psychisch relativ stark an den Raum gebunden und können so durchschnittlich als weniger mobil angesehen werden. Das ist vor allem in Anbetracht der voraussichtlich in den künftigen Jahren zunehmenden Arbeitslosigkeit im Landkreis Helmstedt von Bedeutung. Bei Betrachtung der Tab. VIII 14 ist auffällig, daß der Landkreis im Vergleich zu den dort aufgeführten Landkreisen über den geringsten Anteil an Eigentümerwohnungen verfügt (35.6%). Der Landkreis Gifhorn hat mit einem Eigenheimanteil von 61.2% den höchsten Anteil, gefolgt vom Landkreis Peine mit 53,4%. Die hohen Mietwohnungsanteile der Städte Helmstedt und Wolfsburg erklären sich sachgemäß aus ihrer städtischen Funktion, aber auch durch ihre Funktion als Wohnungsschwerpunkte für die Arbeitnehmer des produzierenden Gewerbes (BKB- und VW-AG). Diese beiden Unternehmen verfügen zudem über eigene Wohnungsbaugesellschaften. Die Stadt Wolfsburg weist den höchsten - 248 - geförderten Mietwohnungsanteil (ca. 50% des Bestandes) auf. Bei den Landkreisen weist der Landkreis Helmstedt den höchsten Anteil an geförderten Wohnungen auf (23,9% des Bestandes). Was die Höhe des Mietpreises betrifft, hat der Landkreis Helmstedt das niedrigste durchschnittliche Mietpreisniveau (Daten der Volks- und Arbeitsstättenzählung von 1987) mit 5,25 DM/qm (Stadt Helmstedt 5.63 DM/qm). Der Landkreis Gifhorn weist im regionalen Vergleich ein relativ höheres Mietpreisniveau auf. Es kommt also nicht von ungefähr, wenn immer wieder auch in regionalplanerischen, politischen und wirtschaftsförderlichen Gremien darauf hingewiesen wird, daß der Ausbau des Wohnungsangebotes für den Landkreis Helmstedt und seine Kommunen von Vorteil sein dürfte, denn das günstige Mietniveau kann diesbezüglich zu einem Standortvorteil werden. 8.8 Die Preise für Wohnen im Landkreis Helmstedt Der durchschnittliche Gesamtkaufpreis für freistehende Ein- und Zweifamilienhäuser lag im Zeitraum von 1985 bis 1992 zwischen 156.000 DM (Tiefststand 1987) bis 246.000 DM (1992) mit deutlich steigender Tendenz nach der Grenzöffnung (130%-ige Preissteigerung von 1989 bis 1992!). Der durchschnittliche Gesamtkaufpreis für Reihenhäuser und Doppelhaushälften lag zwischen 122.000 DM (Tiefststand 1987) und 177.000 DM (1992), ebenfalls mit deutlich steigender Tendenz nach der Grenzöffnung (ca. 130%-ige Preissteigerung von 1989-1992). Die Preisdifferenz zwischen den Reihenhäusern und Doppelhaushälften ist durch die allgemein größeren Wohn- und Grundstücksflächen der freistehenden Ein- und Zweifamilienhäuser zu erklären. Der Quadratmeterpreis für freistehende 1- und Zweifamilienhäuser ab dem Baujahr 1971 beträgt durchschnittlich ca. 2.300 DM, für Reihenhäuser und Doppelhaushälften ca. 2.400 DM. Bei den Eigentumswohnungen ergibt sich ein durchschnittlicher Quadratmeterkaufpreis von 1.700 (Baujahr 1970 und älter) bis 2.800 DM für die Baujahre 1990 bis 1992. 8.8.1 Baulandpreise Die Grundstücksgrößen pro erstellter Wohneinheit liegen im Landkreis Helmstedt sowohl deutlich über dem Durchschnitt des Regierungsbezirks Braunschweig als auch über dem Niedersächsischen Durchschnitt. Im Regierungsbezirk Braunschweig verminderte sich die durchschnittliche Baulandfläche pro erstellter Wohneinheit von 559 (1989) auf 441 m2 (1993), im Land Niedersachsen von 612 (1989) auf 497 m2 (1993). (LBS, "Baulandausweis zwischen Trägheit und Eifer", Hannover, 1993) Die Baulandpreise beim individuellen Wohnungsbau im Landkreis Helmstedt sind für erschliessungspflichtiges und -freies Bauland aus folgender Tabelle entnehmbar: Erschließungskostenbeitragspflichtig in DM Erschließungskostenbeitragsfrei in DM Durchschn.-Größe in m2 1986 39 1987 36 1988 41 1989 40 1990 48 1991 44 1992 55 80 89 79 67 85 64 65 786 770 753 760 710 770 845 Quelle: Grundstücksmarktbericht 1992 für den Bereich des Landkreises Helmstedt- In Tab. VIII 15 zeigt sich, daß der Landkreis Helmstedt zu den relativ billigeren Landkreisen bezüglich der Kaufpreise für baureifes Land gehört. Der Landkreis Helmstedt weist strukturelle Wanderungsverluste in den Landkreis Gifhorn wegen der dortigen attraktiven Wohn- und Arbeitsplatzangebote sowie der reizvollen Landschaft auf. Der - 249 - Landkreis Gifhorn weist bei den Kaufwerten für baureifes Land im Vergleich zu den Landkreisen Helmstedt, Wolfenbüttel und Peine zwar etwas teureres Bauland auf, gehört trotzdem aber zu den günstigen regionalen „Anbietern“. Gifhorn ist auch der Landkreis mit den in den letzten 20 Jahren höchsten Bevölkerungswachstumsraten (s.a. Kartenwerk von Petersen und Gerdes, Studienarbeit des Fachbereichs Geographie, Hannover 1993, im Amt für Wirtschaftsförderung Landkreis Helmstedt einsehbar). Dies resultiert nicht nur allein aus der günstigen räumlichen Nähe zu Braunschweig und Wolfsburg sowie Hannover sondern wird u. a. auch von dem Kultur- und Freizeitsponsoring des VW-Konzerns positiv beeinflußt. Die Baulandproblematik ist in den angrenzenden Oberzentren (zumindest nach Westen hin) bei weitem angespannter als im Landkreis Helmstedt. Bauland in den Städten zu erhalten ist in vielen Fällen ein fast aussichtsloses Unterfangen, weshalb auch immer mehr Menschen nach "draußen" auf den verhältnismäßig billigeren Baulandmarkt ziehen, wobei wie bereits gesagt wurde, das Bauland im Landkreis Helmstedt relativ billiger ist als in den ihn umgebenden Landkreisen. In der Stadt Braunschweig z.B. ist die Baulandversorgung mit am schlechtesten in Niedersachsen. Das dort vorhandene Bauland ist bei normaler Bautätigkeit praktisch innerhalb eines Jahres aufgebraucht, wenn nicht erhebliche neue Baulandausweisungen stattfinden. 8.8.2 Die Miet- und Pachtzinsen Bei den Miet- und Pachtzinsen führt die steigende und sich auf hohem Niveau befindliche Nachfrage zu überhöhten Mietpreisen, wobei die "Schallmauer" in ländlicheren Bereichen des Landkreises Helmstedt bei 10,- DM liegt (1992/1993). Für vermieteten Wohnungsbestand wurden im Landkreis Helmstedt folgende gemittelte Preise angegeben, wobei sich nur auf Durchschnittsmieten für den gesamten Landkreis gestützt werden kann: - Wohnungen in guter Lage, mit guter Ausstattung und Gliederung und gutem Zustand von DM - 12.00 DM/qm WFL. - Wohnungen in durchschnittlicher Lage mit normaler Unterhaltungszustand von 6.00 DM - 9.00 DM/qm WFL. Ausstattung und 8.00 normalem - Wohnungen mit einfacher Ausstattung, schlechter Gliederung und renovierungsbedürftig 4.00 DM/qm - 6.00 DM/qm WFL. von - bei Neuvermietungen orientieren sich die Vermieter jeweils an dem höchsten, für ihren Wohnungstyp ermittelten Mietwert. - Bei Erstvermietungen werden bis zu 15.00 DM/qm WFL. erzielt. (Grundstücksmarktbericht 1992 für den Bereich des Landkreises Helmstedt). 8.9 Wohnbaulandreserven im regionalen Vergleich und im Landkreis Helmstedt Im Jahr 1992 hat das Niedersächsische Sozialministerium eine Umfrage zu den Wohnbaulandreserven u.a. der kreisfreien Städte und Kommunen im Landkreis Helmstedt vorgenommen (s. Tab. VIII 16+16a). Diese Befragung muß generell gesehen sehr vorsichtig interpretiert werden und die Ergebnisse geben nach Aussagen von Mitarbeitern des Bauordnungsamtes Helmstedt lediglich eine Tendenz an (hin und wieder auch nur einen Wunschtraum der Befragten). Mit der Umfrage wurden folgende für Wohnbebauung vorgesehene Einzelflächen innerhalb der geltenden Bebauungspläne der Gemeinden in Niedersachsen abgefragt: - Bauflächen nach § 34 Bau-GB, d.h. Bauflächen in Baulücken, - 250 - - Bauflächen nach § 30 Bau-GB (Bauflächen in geltenden Bebauungsplänen), - Bauflächen nach § 33 Bau-GB (Bauflächen im Stadium der Planung nach öffentlicher Auslegung und Beteiligung der Träger öffentlicher Belange). Daneben beinhaltete die Umfrage des Sozialministeriums noch die Rubrik Bauerwartungsland in Flächennutzungsplänen. Bei den Angaben zu diesem Bereich ist zu berücksichtigen, daß es nicht sicher ist, ob und wann diese Flächen in Bebauungspläne überführt werden. Bei Betrachtung dieses Datenmaterials ist bemerkenswert, daß z.T. sehr große Baulandflächen nach § 34, d.h. in Baulücken angegeben wurden. Stichproben ergaben, daß von den in Baulücken ausgewiesenen Flächen der größte Teil aus den unterschiedlichsten Gründen nicht zur Bebauung zur Verfügung steht. Zum Teil sind die Flächen nicht frei zugänglich (Hinterliegergrundstücke) oder die Besitzer sind selbst nicht bereit, die Grundstücke zu bebauen, andererseits aber auch nicht Willens, sie am Markt zu veräußern. Bei einem weiteren Teil verhindern behördliche Auflagen ein marktgerechtes Bebauen (E.-P.-Institut, 1993). Bei den Flächen der Baulücken sind z.T. bebauungsplanmäßige Festsetzungen vorhanden, so daß sie bei etwaiger Wohnraumnutzung umgewidmet werden müßten. Da sie bereits baulich genutzt worden sind, ist nur ein geringer oder sogar gar kein Erschließungsaufwand erforderlich. Auch sind die eventuellen bodenordnerischen Maßnahmen in der Regel nicht sehr umfangreich, da die Flächen meist nur einem Eigentümer gehören. Der eigentliche Hinderungsgrund für eine bauliche Wiedernutzbarmachung wird sehr häufig darin gefunden, daß ein solches Stück Land als Wert relativ inflationssicher erhalten werden kann und bei der bestehenden knappen Baulandausweisung der spekulative Aspekt in den Vordergrund rücken kann. Das Halten von Baulücken macht keine bzw. nur geringe Kosten. Auf alle Fälle sind die Erhaltungskosten geringer als die jährlichen Wertsteigerungen der Baulücken. Die Ergebnisse für den Landkreis Helmstedt sind der Tab. VIII 16a zu entnehmen. Es ist hieraus erkennbar, daß der Landkreis Helmstedt im Vergleich zu den anderen Landreisen den letzten Platz einnimmt (s.a. Tab. VIII 16). Die WE-Reserven betragen im Landkreis Helmstedt insgesamt 3.789 Einheiten, das entspricht einer Vorhaltereserve von 9.1%, wobei die größten Reserven im Bereich von F - Plänen (1.993 WE) bestehen, gefolgt von 1.194 WE-Reserven im Geltungsbereich von B Plänen und während Planverfahren (§§ 30 u. 33 Bau-GB) und 602 WE-Reserven im bebauten Innenbereich. Über die größten Wohnbaulandreserven verfügt der Landkreis Gifhorn mit 6497 WEReserven insgesamt, gefolgt vom Landkreis Peine mit 6249 und dem Landkreis Wolfenbüttel mit 4252 WE-Reserven. Bei der Stadt Wolfsburg und der Stadt Salzgitter bestehen größere Anteile an WE-Reserven im Geltungsbereich von B - Plänen und während Planungsverfahren (§33 Bau-GB). Auffällig sind auch die Vorhaltungsgrößen der Stadt Braunschweig im Bereich von F - Plänen. In den anderen Bereichen steht die Stadt Braunschweig an letzter Stelle. Aus dieser Konstellation in der Stadt Braunschweig läßt sich schließen, daß hier ein akuter Flächenmangel vorliegen muß. Auch im Landkreis Wolfenbüttel wurde eine akute Knappheit bei der Verfügbarkeit von Bauland diagnostiziert (LBS - Schriftenreihe, Bd. 16). Diese und andere Vorbedingungen lassen es sinnvoll erscheinen, daß der Landkreis Helmstedt seine Chance nutzt und im Bereich Wohnen aktiv ist. Der "Konkurrenzstandort" Landkreis Gifhorn mit seinen großen WE-Reserven im Bereich von B Plänen ist bei der Strategiefindung zu berücksichtigen und aufgrund guter Umwelt- und Wohnqualitäten als sehr starker Konkurrent um die Gunst von Ansiedlern zu betrachten. Der Landkreis Peine hat ein auffälliges Übergewicht im Ein-bis-Zwei-Familienhaus-Bereich (1730 WE-Reserven im bebauten Innenbereich, 1775 bei WE-Reserven im Geltungsbereich von B Plänen und während Planungsverfahren sowie 1746 WE-Reserven im Bereich von F - Plänen), was nicht zuletzt durch seine Lage zwischen der Landeshauptstadt Hannover und den Produktionsstandorten Braunschweig, Salzgitter und Wolfsburg bedingt ist. An diesem Standort sieht es so aus, als wäre die Strategie der "Einkommensabschöpfung aus den städtischen Gebieten" durch die verstärkte Zurverfügungstellung neuer Wohnungen und erschlossenen Baulands aufgegangen. Interessant ist auch der intrakommunale Vergleich im Landkreis Helmstedt in Bezug auf die Verteilung von Geschoßbauten und 1 - 2 Familien - Häusern. Die Stadt Helmstedt als - 251 - Mittelzentrum hat einen ausgewogenen Anteil von Geschoßbauten und bodennahem Wohnen im Innenbereich ausgewiesen, während im Geltungsbereich von B - Plänen etwa 1/4 der WE-Reserven im Geschoßbau vorgesehen ist. Im Bereich von F - Plänen hat die Stadt Helmstedt laut der Veröffentlichung des Niedersächsischen Sozialministeriums keine Vorräte. Nach Angaben der Stadt Helmstedt sind nach Schätzung in den F - Plänen ca. 30 ha als Baulandreserve vorhanden, wobei nicht ausdifferenziert wurde, für welche Art der Bebauung diese vorgesehen sind. Im Vergleich zu dem näher an Braunschweig liegenden Grundzentrum Königslutter wird etwa die Hälfte an Wohnvorhaltungen erreicht, wobei Königslutter verstärkt im bodennahen Wohnbereich Reserven vorhält (244 Einheiten im 1-2 Familienhaus und 50 im Geschoßbau). Die Stadt Schöningen hat in dieser Statistik keinerlei WE-Reserven vorzuweisen, hat aber auf Anfragen der Strukturanalyse folgende Angaben gemacht: nach §34 Bau-GB sind im bebauten Innenbereich 29 und im 1-2 Familienheim 15 WE - Reserven vorhanden (insgesamt also 44). Nach §33 Bau-GB sind im Geltungsbereich von B - Plänen und während Planverfahren 89 WE-Reserven im Geschoßbau und 50 im 1-2 Familienheimbereich verzeichnet (insgesamt also 139 Einheiten). Im Bereich von F Plänen gibt die Stadt Schöningen 100 WE-Reserven für 1-2 Familienheime an. Die WE-Reserve der Stadt Schöningen beläuft sich auf 283 Einheiten. Auffällig bezüglich der Verteilung von Geschoß- und bodennahen Wohnreserven sind die Kommunen Lehre und Velpke. Beide sind, das ist bereits mehrmals angesprochen worden, durch ihre geographische Lage stark mit herausragenden Arbeitsplatzstandorten verbunden und dienen diesbezüglich als Wohn- und Schlafstätten. Zudem müssen sie bei der Planung auf verschiedene Flächennutzungsbeschränkungen Rücksicht nehmen, was wahrscheinlich auch ein Grund ist für das auffällige Übergewicht an Geschoßbauten bei den WE-Reserven (Lehre: 129 Einheiten im Geltungsbereich von B - Plänen; Velpke: 168 Einheiten im Geltungsbereich von B - Plänen und 645 im Bereich von F - Plänen). Die Samtgemeinde Nord-Elm setzt in der WE-Vorhaltung verstärkt auf den Bereich der 1 -2 Familien - Häuser, wobei die Werte im Vergleich zu den anderen Kommunen des Landkreises fast unglaubwürdig hoch ausfallen, doch diese Vorhaltewerte könnten auch auf ein verstärktes Engagement seitens der Samtgemeinde hinweisen (die Vorsichtsmaßregeln bei der Interpretation wurde bereits oben angedeutet). In den F - Plänen weisen die Samtgemeinden Nord-Elm und Velpke die höchsten Werte von je 730 und 645 Wohneinheiten aus. Unter den Städten weist Königslutter mit 294 WE die höchste Vorhaltekapazität auf. Im Landkreis Helmstedt sind die Zeichen des Wohnungsmarktes und der dort wirkenden Faktoren längst erkannt. Die Städte im Landkreis sind aktiv geworden und weisen zusätzliche Baugebiete aus. In allen Städten hofft man auf die sogenannten „Sickereffekte“, die sich aus der erweiterten Baulandausweisung ergeben könnten. Wenn die Neusiedler ihre Häuser beziehen, müßte sich für die Nachrücker auf dem Wohnungsmarkt eine geringe Angebotsentlastung ergeben. Wenn sich die Flächen im Kernstadtbereich erschöpfen, so steht vor allem der Stadt Königslutter, bedingt auch der Stadt Helmstedt noch Erweiterungsraum zur Verfügung, bei der Stadt Schöningen sieht es diesbezüglich weniger gut aus. Aber auch auf der Ebene der Samtgemeinden ist man im Landkreis Helmstedt aktiv geworden. Es sind in vielen Gemeinden neue Baugebiete entstanden. Stellvertretend sei hier die Samtgemeinde Grasleben und Heeseberg angeführt. Die Samtgemeinde Grasleben liegt unmittelbar nördlich der Kreisstadt Helmstedt. Hier möchte man über einen noch zu erstellenden Gemeindeentwicklungsplan verstärkt auf die Neuausweisung von Baugebieten hinarbeiten. Die südlich der Stadt Schöningen gelegene Samtgemeinde Heeseberg bietet in den Gemeinden Söllingen, Beierstedt und Jerxheim z. T. erschlossene Baugebiete an. In der Samtgemeinde Heeseberg könnte über eine Strategie, die den südlichen Landkreis entlang der "Süd - Elm - Bahn" mit dem Oberzentrum Braunschweig verbindet, das Gebiet als attraktives Wohnumfeld stärker hervorgehoben werden. 8.10 Hindernisse im Wohnungsbau und deren etwaige Beseitigungsmöglichkeiten Die Zahlenangaben zu den ausgewiesenen Baugebieten sagen nichts über deren räumliche Struktur aus. Oftmals sind die Bauländer zerstückelt, was eine konzentrierte Ansiedlungskonzeption erheblich erschweren kann. Außerdem gibt es eine große Menge an Auflagen in den - 252 - Bebauungsplänen und Baugenehmigungen betreffend Lärmschutz, Immissionsschutz, Abstandsregelungen oder Naturschutzbestimmungen. Auch die bei vielen Ausweisungen auftretenden Bürgerinitiativen verkomplizieren oft die Genehmigungsverfahren. Es darf in dieser Betrachtung aber auch nicht unbeachtet bleiben, daß es eine Vielzahl von Einschränkungen der Kommunalen Planungshoheit gibt. Das bedeutet in diesem speziellen Themenbereich, daß es keine genaue Vorhersage geben kann, inwiefern sich die anstehenden Wohnbauplanungen auch in einem bestimmten - möglichst kurzfristigen - Zeitrahmen verwirklichen lassen. Große zusammenhängende Baugebiete sind eher die Seltenheit im Landkreis Helmstedt. Ein weiteres Hindernis ist die oftmals fehlende gemeindliche Bauleitplanung. Das führt dazu, daß in den Flächennutzungsplänen ausgewiesene Flächen zunehmend seltener nutzbar gemacht werden können. Eine Wohnstrategie, die sich darauf stützen möchte, Wohnplätze für Menschen zu schaffen, die außerhalb des Landkreises ihre höheren Einkommen erzielen, muß unbedingt berücksichtigen, daß die mit der Wohnansiedlung verbundenen Folgekosten für infrastrukturelle Einrichtungen und Erschließungen für diese Nachfragergruppe erheblich sein können. Im Übrigen ist der soziale Segregationsprozeß aus der Stadt in deren Umland, der sich aus solchen Wohnansiedlungsbemühungen ergibt, raum- und städteplanerisch nicht erwünscht, da die Städte auf diese Weise Gefahr laufen, Familien mit höherem Einkommen und gehobenem sozialen Status (den sogenannten Aktivteil der Bevölkerung) aus der Kernstadt in die Umlandgemeinden zu verlieren und somit neben kulturellen Trägern auch finanzielle Einbußen in beträchtlichem Umfang hinnehmen zu müssen. Weiterhin sind einige bundes- und landespolitische Entscheidungen von großem Einfluß auf die Dynamik des Wohnungsbaus, wie z.B. die drastische Kürzung der Fördermittel aus dem Strukturhilfeprogramm der Stadtsanierung oder die zukünftige Auslegung des berühmten Paragraphen 10 e Einkommenssteuerrecht. Das erste Argument könnte im Landkreis die Städte Helmstedt, Königslutter und Schöningen sowie die Gemeinden Barmke, Boimstorf, Glentorf, Lauingen, Lelm, Rottorf - Königslutter, Lehre, Ahmstorf, Rennau, Dobbeln, Ingeleben, Söllingen, Twieflingen, Süpplingenburg und Warberg betreffen. Die Gemeinden sind in das Dorferneuerungsprogramm aufgenommen worden und die Streichung bzw. eine Kürzung der Mittel aus dem Strukturhilfeprogramm würde diese Dörfer in ihrer dörflichen Entwicklung hart treffen, vor allem wenn man berücksichtigt, daß die infrastrukturelle Ausstattung für den gehobenen Wohnbedarf erhebliche finanzielle Mittel benötigt. Im Zuge der Dorferneuerungsbemühungen wird an vielen Stellen versucht, die Ansiedlungsattraktivität der Dörfer zu steigern. Eine Kürzung der Fördermittel würde die Erschließung der Bestandsreserven und Neuausweisung und -einrichtung doch spürbar verzögern können. Etwaige Kürzungen treffen auch deshalb doppelt hart, da sie mit einem teilweisen Rückzug des ÖPNV, vor allem aber der Banken, Sparkassen und der Post aus der Fläche einhergehen. In den Städten liegen die Prioritäten der Sanierungsmaßnahmen zum einen in der Schaffung von Wohnraum für die gehobenen Sozialschichten (unter Hinweis auf den Verlust der Aktivbevölkerung) und zum anderen in der Wohnraumschaffung für die kleineren und mittleren Einkommensbezieher. Außerdem wird die Ansiedlung von Dienstleistungsunternehmen, die die ansässige Bevölkerung versorgen können, gefördert. Hier kann eine Kürzung der Sanierungsmittel zum Verfall wertvoller Gebäude- und damit Wohnungssubstanz führen, da alte Bausubstanz nicht besser zu werden pflegt. Neue Wohnungen im Siedlungs-anschlußbereich können nicht gebaut werden, da der Ausbau der dazu notwendigen Infrastruktur aufgrund fehlender finanzieller Mittel aufgeschoben wird bzw. verzögert angegangen werden muß. Ein weiterer Hinderungsgrund der Entwicklung ist speziell mit der ehemaligen Zonenrandproblematik verbunden. Ein Wegfall der Zonenrandförderung bedeutet, daß Erschließungsmaßnahmen, wie der Ausbau und die Verbesserung der Infrastruktur und der Verkehrswege, der Wasser- und Energieversorgungsanlagen, sowie der Abwasser- und Abfallbeseitigungsanlagen fortan weiter aufgeschoben werden müssen. Somit bleiben wichtige Erschließungsmaßnahmen „in den Schubladen“ und es kann so unschöne Fälle geben, daß in einer - 253 - Gemeinde mit in rechtskräftigen Bebauungsplänen ausgewiesenen Baugebieten nicht bebaut werden können, da die Mittel für Erschließungsmaßnahmen fehlen bzw. erst nach langen Wartezeiten bereitgestellt werden können. Ein weiterer externer Grund ist die fiskalische Bewertung von Wohneigentum. Ab dem 1.1.1994 sind nach dem Erwerb von gebrauchten Wohnimmobilien nur noch 9.000 DM in den ersten vier Jahren und danach 7.500 DM in den folgenden vier Jahren steuerlich absetzbar. Bisher konnten in den ersten vier Jahren 16.500 DM von der Steuer abgeschrieben werden. Die Kürzung der Wohneigentumsförderung gilt nur dann nicht, wenn es sich um ein neues Haus handelt. Das wird auf dem Gebrauchtimmobilienmarkt vielleicht zu einer geminderten Nachfrage führen und die Investoren und Ansiedlungswilligen eher zum Neubau führen. 8.10.1 Baulandknappheit: Gründe und mögliche Überwindung Die Spekulation mit Bauland ist ein weiterer Aspekt, der zu Baulandknappheiten führen kann. So spielen veränderte Wohnbedürfnisse eine besondere Rolle, da sie im allgemeinen zu einem höheren Flächenbedarf führen. Außerdem spielt die Hortung von Baugrundstücken eine wesentliche Rolle , da diese aus Gründen der Vermögensvermehrung immer attraktiver wird. Die vorhandenen Reserven befinden sich häufig in der Hand von Bauträgern, der öffentlichen Hand im weitesten Sinne und in der Hand privater Besitzer. Es gibt viele Hinweise, daß die Bauträger relativ selten Baugrundstücke horten. Oftmals haben sie nur Vorhalte für einen Zeitraum von bis zu fünf Jahren. Bei der öffentlichen Hand ist im weitesten Sinne durchaus von einer Hortung von Grundstücken zu sprechen. Dabei handelt es sich teilweise um Grundstücke der Deutschen Bundesund Reichsbahn oder auch ehemalige Grenzinfrastrukturen u. a.. Bei den privaten Grundstückseigentümern sind verschiedene Sachverhalte zu berücksichtigen. Es gibt Private, die aus irrationalen Gründen oder schwer faßbaren Beweggründen Bauland horten, wobei die Motivationen bis hin zur Sphäre der Pietät reichen können. Meist handelt es sich bei den privaten Besitzern um Haushalte mit größeren Vermögensbeständen. Neben Aktien, Geldvermögen und sonstigen Wertpapieren, werden Grundstücke zur Abrundung einer renditestarken und möglichst risikofreien Vermögensmischung gehalten. Unter den Privaten sind zudem eine große Anzahl Alteigentümer, die Bauland längst vor der Zeit der Umwidmung für Produktionszwecke ererbt oder gekauft haben. Hierzu gehören die Landwirte, Gärtnereien aber auch viele sonstige Betriebe, die Grundstücke für künftige Betriebserweiterungen erworben haben. Daneben gibt es private Grundstücksbesitzer, die aus deutlichen Beweggründen Grundstücke zurückhalten, sei es wegen eigener späterer Bauabsichten, Baulandvorhaltung für die Kinder oder Enkel oder aus Gründen der Vermögensverwaltung und Vermögensvermehrung. Grundstücke sind immer wieder krisenfeste sichere Anlagen mit ständig steigendem Wert. Daneben ist der Bereich der echten Spekulation zu sehen. Der Wertzuwachs des Bodens übersteigt eine durch Bebauung zu erzielende Nutzungsrendite. Der Boden wird damit zum Anlageobjekt. Aufgrund der Bilanzierung nach dem Niederstwertprinzip entstehen laufend wachsende steuerfreie Stille Reserven. Diese Stillen Reserven sind ein angenehmes Risikopolster und können je nach Bedarf, vor allem aber wenn größere Investitionen anstehen oder Phasen kritischer Wirtschaftsentwicklung überstanden werden müssen, aktiviert werden. Das Horten von Grundstücken ist privatwirtschaftlich sehr ertragreich, obwohl es volkswirtschaftlich erhebliche Kosten verursachen kann. Die im Besitz dieser beiden zuletzt genannten Gruppen befindlichen Flächen sind ohne gesetzlichen Druck kurzfristig kaum zu mobilisieren. Eine Mobilisierung solch gearteter Flächen ist eigentlich nur über Steuerdruck machbar. Die kommunalen Spitzenverbände und Experten verlangen seit Jahren, daß das Horten von Parzellen durch eine Besteuerung einzudämmen sei, da den zu erwartenden riesigen Wertsteigerungen fast lächerlich niedrige Abgaben gegenüber stehen. Außerdem kann der Gewinn bei späterer Veräußerung dem Zugriff des Fiskus entzogen werden. Als ein gutes Hilfsmittel wird dabei die in den sechziger Jahren gestaltete und später wieder abgeschaffte Grundsteuer C angesehen. Verbunden mit Entwicklungsmaßnahme und Baugebot - 254 - wäre sie ein guter Beitrag zur Mobilisierung von Bauland (Skowronowski FR 23.1.93). Es gibt aber auch kritische Stimmen zu dieser Steuer und es wird politische Gründe geben, daß sie nicht mehr zur Anwendung gekommen ist. Wenn das Steuerrecht die Grundeigentümer zur Freigabe von Wohnbauland veranlaßt, so sieht darin auch der Bundesrat eine sinnvolle Vorgehensweise, um das notwendige Bauland in den Kommunen zur Verfügung zu stellen (wib 3/93-XII/79). Doch man muß mit dem "Steuerinstrument" sehr vorsichtig umgehen, denn solange Preisüberwälzungsspielräume vorhanden sind, werden diese konsequent genutzt. Im Entwurf des neuen Investitions- und Wohnbauerleichterungsgesetzes sollten deshalb laut des Vorschlages der Länderkammer folgende Ergänzungen und Änderungen aufgenommen werden: - eine Baulandsteuer für sofort bebaubare Grundstücke, um die Zurückhaltung von Bauland einzuschränken, - die Befreiung der Grundsteuer bei städtebaulichen Maßnahmen soll zur Mobilisierung baureifer Grundstücke beitragen, - den Gemeinden soll ein erweitertes Vorkaufsrecht beim Kauf von unbebauten Grundstücken gewährt werden, - durch Einbeziehung des Mietwohnbausicherungsgesetzes soll die Umwandlung von Mietin Eigentumswohnungen erschwert werden, - eine Bebauung in Außenbereichen soll eingeschränkt werden. (Demokratische Gemeinde 3/93). Spekulationen mit Bauland sind ein ernstzunehmender Hinderungsgrund, um in vielen Kommunen preiswert Wohnungen bzw. Wohnraum für die Bevölkerung zur Verfügung zu stellen. Potentielles Bauland unterliegt in weiten Bereichen einer zunehmenden, die Errichtungszeiträume unnötig erweiterndem Spekulationsgebaren. Vor allem in den städtischen Gebieten nimmt diese Tendenz unangenehme Dimensionen an. In einigen Metropolen sind Quadratmeterpreise bei Eigentumswohnungen von bis zu 10.000 DM(!) wie z.B. in München zu erzielen. Kostete ein Quadratmeter baureifes Land 1991 im Bundesdurchschnitt noch 82 DM, so müssen heute bundesweit 140.70 DM gezahlt werden. Wenn zudem in den überlasteten Planungs- und Bauordnungsämtern lange Wartezeiten für eine Genehmigung ergeben, kann sich in dieser Zeit der Preis für Bauland sehr stark erhöhen. Im Landkreis Helmstedt liegen die Preise im gehobenen Mittelfeld, was nicht zuletzt auf die Öffnung der Grenze und eine damit wahrscheinlich kurzfristig erhöhte Nachfrage zurückzuführen ist. Um Spekulationen zu vermeiden, könnten Gemeinden, die neues Bauland ausweisen, mit genügend Kapital ausgestattet werden, um dieses zu erwerben, auch wenn das durchaus kritisch betrachtet werden kann. Es wären z.B. Grundstücksfonds denkbar, für die kleinere Gemeinden Zuschüsse als Anfangskapital erhalten. Dieses Kapital darf nicht verbraucht werden, sondern muß im Fonds bleiben, der sich dann fortlaufend selbst finanziert. Wird auf diese Weise Bauerwartungsland gekauft, steigt das Angebot und der Preisanstieg wird gestoppt. Damit die Gemeinden langfristiger planen können, wäre auch über eine Zwischenfinanzierung für die Erschließungskosten durch Zuschüsse nachzudenken. Gemeinden mit starken Bevölkerungszuwächsen könnten im kommunalen Finanzausgleich einen besonderen Zuschlag erhalten, um die Kosten für privat nicht finanzierbare Infrastruktureinrichtungen (Schulen und Kindergärten z.B.) tragen zu können. 8.10.2 Die Hofheimer Konzeption - 255 - Ein Ansatz, der für viel Unruhe in Fachkreisen und politischen Gremien der betroffenen Kommune gesorgt hat, ist die sogenannte "Hofheimer Konzeption" zur Bereitstellung finanzierbarer Wohnungsbaugrundstücke (n. Sartowski, 1991). Sinn und Zweck dieser Vorgehensweise ist, daß potentielle Wohnbauflächen vor einer Überplanung gekauft werden, da sie sonst unbezahlbar werden können. Ein einmal aufgestellter FLNP ist nicht mehr rückgängig zu machen und es ist deshalb wichtig, die Flächen vor der Überplanung zu erwerben. Die Hofheimer Konzeption beinhaltet folgende Vorgehensweise: - die Kommune sucht sich nicht überplante Flächen am Siedlungsrand in der Größe von 10 - 20 ha, wobei aber die Suchfelder nicht genau angegeben werden, damit die Verkäufer keine Preisspekulationen vornehmen können und somit dieses Anliegen bereits im Keim durch meist völlig überzogene Preisvorstellungen zunichte machen können; - Hier werden die laut FLNP ausgewiesenen landwirtschaftlichen Flächen gekauft, wobei folgende Stufungen möglich sind: a) es wird zum Zeitpunkt der ersten Kaufinitiative der hohe Einkaufspreis gezahlt, danach wird eine nach unten abgestufte Preisstaffelung eingeführt (pro Quadratmeter z.B. 100 DM 1992, 80 DM 1994, 40 DM 1998). b) es wird mehr Land ins Auge gefaßt als wirklich erworben wird; damit läßt sich das einzwängende Preisdiktat bzw. Spekulationsgebaren einiger Interessengruppen relativ leicht umfahren; c) überflüssiges Bauland kann unter bestimmten Voraussetzungen späterhin zum Selbstkostenpreis verkauft werden. Die Kaufbedingungen sind dann: - eine Mindestwohnzeit vor Ort muß nachgewiesen werden; - das Haushaltseinkommen darf eine bestimmte Höhe nicht überschreiten; - der Käufer des Grundstücks darf keine weiteren Immobilien besitzen. Dieser Filter dürfte die Spekulanten außen vorhalten. Es soll hier keine Wertung über die Spekulation mit Geldern und Grundstücken vorgenommen werden. Es ist jedoch nicht von der Hand zu weisen, daß die Spekulation mit Grund und Boden den aus der Sicht der Kommunen überlebenswichtigen Bereich der Bevölkerungsansiedlung nachhaltig negativ beeinflussen kann. Diese Konzeption hat dort zu heftigsten Kontroversen in den Kommunen geführt, wo einzelne Entscheidungsträger den Mut hatten, sie ernsthaft vorzustellen. Wenn Flächen in Form erschlossener Grundstücke in ausgewiesenen Bebauungsplangebieten zur Verfügung stehen, sollte möglichst eine öffentliche Beratungs- und Anwerbungsinstitution die zur Disposition stehenden Flächen managen und vermarkten, aber auch mit dafür Sorge tragen, daß eine günstige Interessenabwägung ermöglicht wird, vor allem wenn es um Natur- und Umweltschutzbelange geht. Hierfür muß aber auch auf höherer Ebene ermöglicht werden, daß Ausgleichsflächen für neue Siedlungsgebiete nicht nur regional sondern auch überregional geschaffen werden können. 8.10.3 Deregulierung der Baubestimmungen - 256 - Für die unzureichende Versorgung der Bevölkerung mit Wohnraum wird oft die Kompliziertheit und Schwerfälligkeit der Genehmigungsverfahren verantwortlich gemacht, die der Gesetzgeber zur Voraussetzung für die Bildung der Baugrundstücke und deren Bebauung gemacht hat. Diese Beurteilung trifft zu einem gewissen Teil wohl tatsächlich zu, was aber nicht verwundern kann, wenn man bedenkt, welche umfassende Wirkung eine Baugenehmigung heute entfaltet: Mit ihrer Erteilung bestätigt die Bauaufsichtsbehörde, daß ein Bauvorhaben mit dem öffentlichen Baurecht in seiner Gesamtheit vereinbar ist. Zum öffentlichen Baurecht gehört dabei nicht nur ein dramatisch wucherndes Dickicht von Gesetzen, Verordnungen, Duchführungsbestimmungen und Verwaltungsvorschriften, sondern auch eine Vielzahl technischer Baubestimmungen zum Wärmeschutz, zur Standsicherheit, zur Schalldämmung und zum Schutz vor Gesundheitsgefährdungen durch Baustoffe, wie z. B. Asbestzement. Dieses Dickicht zu lichten wäre der Gesetzgeber aufgerufen; es sei in dieser Hinsicht aber vor falschen Erwartungen gewarnt, denn es wäre eine Illusion, eine ständig komplexer werdende Lebenswirklichkeit mit immer einfacheren Instrumenten, zumal wenn auch die Ansprüche des Bürgers z. B. an die Wohnruhe ständig steigen, zu bewerkstelligen. Andererseits ist die Schwerfälligkeit und Langwierigkeit von baurechtlichen Genehmigungsverfahren nicht selten vom Antragsteller oder Entwurfsverfasser selbst verschuldet, indem die eingereichten Anträge so unvollständig sind, daß sie nicht bearbeitet werden können. Wenn die zu erteilenden Genehmigungen die oben beschriebene umfassende Wirkung entfalten sollen, ist es selbstverständlich, daß die Bauvorhaben zuvor auch so umfassend beschrieben werden müssen, daß alle ihre Auswirkungen beurteilt werden können (Schäfer, 1994). Hier wäre die oben angesprochene Beratungsinstitution von großem Wert. Sie könnte z. B. im Bauordnungsamt des Landkreises eingerichtet werden. Die Bundesregierung hat mit dem "Investitions- und Wohnbauerleichterungsgesetz" ein Instrumentarium geschaffen, das den Ansiedlungswilligen zukünftig einige Wochen im Genehmigungsverfahren ersparen soll. Dies soll z.B. dadurch erreicht werden, daß die öffentliche Auslegung des Planentwurf zukünftig statt eines Monats nur noch 14 Tage dauern wird. Allein der Verzicht auf die höhere Verwaltungsbehörde, die bei Vorabgenehmigungen eines Bauwunsches während der Planaufstellung ihre Zustimmung erteilen muß, soll bis zu zwei Monaten Zeitersparnis erbringen. Das gilt aber nur bei bestimmten betrieblichen Erweiterungen oder Anbauten an Wohngebäuden im unbeplanten Innenbereich. Von Bedeutung könnte diesbezüglich auch sein, daß Gemeinden fortan verstärkt auch Projekte im Außenbereich, also z.B. die Errichtung zusätzlicher Wohnungen auf landwirtschaftlichen Höfen genehmigen können. Zwischen der Aufgabe der landwirtschaftlichen Nutzung und der Umnutzung zu Wohnzwecken dürfen bis zu fünf Jahre liegen. 8.10.4 Externe Faktoren Auch wenn in einem Land wie der Bundesrepublik Deutschland mit ihrer vergleichsweise stabilen Währung Bauland, also Grundbesitz eine der besten Anlagen gegen Inflationsverluste ist, ist der frei finanzierte Wohnungsbau wegen der geringeren Renditeaussichten für private wie auch institutionelle Anleger vergleichsweise wenig attraktiv. Deutsche Immobilienfondes und Versicherungsgesellschaften investieren hauptsächlich in Gewerbeimmobilen (Immobilienmanager, 3/93). Und da Gewerbeimmobilien in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern noch Nachholbedarf haben, sind in diesem Bereich auch weiterhin hohe Wertsteigerungen zu erwarten. Die Unternehmen werden wohl erst wieder verstärkt in Wohnimmobilien investieren, wenn sich ihre Lage nachhaltig gebessert hat.(BÖRSE Spezial, Nr. 1, 1994) Außerdem lockt der Kapitalmarkt mit attraktiven Renditen z.B. bei Renten- und Aktienfonds oder anderen Finanzanlagen. Vor allem bei den Investmentfonds ist ein starker Trend ins Ausland zu - 257 - verzeichnen. Dieser Trend verstärkt sich seit Dezember letzten Jahres noch, da ab diesem Zeitpunkt die sogenannte Zwischengewinnsteuer greift, mit der der Fiskus auf die bis zum Verkauf von Anteilen aufgelaufenen Fondserträge zugreift. Die Wohnungswirtschaft bietet wie oben gesagt nur bedingt lockende Renditen. Deshalb sind von der Angebotsseite her kaum nachhaltige Impulse zu erwarten, was sich aber relativ schnell ändern kann, wenn z.B. das Zinsniveau sinkt. In den städtischen Bereichen sind die Aussichten für Anlageobjekte weitaus besser. Im Landkreis Helmstedt könnte solches für die drei Städte Helmstedt, Königslutter und Schöningen zutreffen. Anlageobjekte im restlichen Bereich des Landkreises zu begründen, erscheint auch im Wohnbereich zur Zeit nur bedingt möglich zu sein. Solange sich aber das Angebot nicht erweitert, werden sich auch die Preise nicht beruhigen. Da Wohnraum aus Renditegründen - vor allem in den Städten- immer stärker in gewerblichen Nutzraum umgewandelt und so der städtische Wohnraum verknappt wird und zudem an Lebensund Wohnqualität verlieren kann, drängt es die Nachfrager von Wohnungen in den Randbereich der Städte bzw. müssen die Städte mit ihren Baulandausweisungen ins Umland ausweichen. Neues Bauland muß fast immer aus dem landwirtschaftlichen Bereich abgezogen werden. Hier liegt ein besonderer Hinderungsgrund für die zügige Neuausweisung von Bauland. Die Landwirte können bei hohen Verkaufspreisen für Bauland schon bei kleinparzelliger Zurverfügungstellung in Steuerprogressionen gelangen, die unternehmerisch unnötig sind. Auch im Landkreis Helmstedt dürfte ein Engpaß bei ausreichendem landwirtschaftlich nutzbarem Ersatzland bestehen, so daß eine steuerliche Unschädlichkeit des Verkaufsgewinns durch den Einkauf neuer landwirtschaftlicher Produktionsfläche wohl nur eingeschränkt möglich ist. Wird so ein Sachverhalt diagnostizierbar, so ist eine Mobilisierung von Baulandreserven nur durch eine Modifizierung der Ersatzinvestitionsmöglichkeiten für die Landwirte möglich. Zu Entlastungserscheinungen auf dem Baumarkt kann folgendes Szenario führen: die modernen Nachfrager sind nicht mehr ohne weiters bereit, sich längerfristig zu verschulden. Diese Entwicklung kann sich u. U. über kurz oder lang über eine nachlassende Nachfrage nach Baugrundstücken und Eigentumswohnungen auf die Preise niederschlagen und so zu einer Beruhigung oder gar Ermäßigung der Grundstückspreise bzw. einer Verlagerung des Angebotes führen. In den jungen Generationen (30 Jahre und jünger) ergeben sich neue Bewertungen des Immobilienkaufs, da andere Gewichtungen in der Lebensführung vorgenommen werden. Es sieht so aus, als wäre man nicht ohne weiteres mehr bereit, sich Jahre oder Jahrzehnte für den Erwerb einer Immobilie "krummzumachen". Das ist ein gewichtiges Argument, dessen Folgen für den Immobilienmarkt und die bauplanerischen Vorhaben nur bedingt vorhersagbar sind. 8.11 Wohnen im Alter Nach der von der LBS in Auftrag gegebenen Studie "Altengerechtes Wohnen" werden bis zum Jahr 2000 in Deutschland mindestens 100.000 altengerechte Wohnungen fehlen! Nach dieser Studie, die die Bonner Empirica-Gesellschaft für Struktur- und Stadtforschung im Auftrag der LBS durchgeführt hat, strebt die Generation der 45-60 Jährigen im Alter ein durch Serviceleistungen abgesichertes, eigenverantwortliches Leben an. Eigenständigkeit und individuelle Gestaltungsmöglichkeiten sind für sie am wichtigsten und viele der Befragten gaben an, daß sie nach einer Alternative zu den herkömmlichen bienenwabenähnlichen "Altenheim-IsolationsStationen" suchen. Die zukünftigen, sogenannten "Neuen Alten" wissen, wie sie wohnen möchten: - möglichst zentral in einer gemischten Nachbarschaft, - 258 - - mit unmittelbarem Anschluß zu den Einkaufs- und Dienstleistungsmöglichkeiten eines attraktiv gestalteten städtischen Zentrums. Fast 40% der 800 in niedersächsischen Städten Befragten ziehen eine Wohnform in Betracht, die mit sozialen und kulturellen Gemeinschaftseinrichtungen gekoppelt ist. Nach ihren Vorstellungen könnte das z.B. eine Wohnanlage oder ein "Heim mit Hotelatmosphäre" in Verbindung mit einem "Sozialstützpunkt" sowie nahegelegenen Einkaufsmöglichkeiten und Dienstleistungsbetrieben sein. Zudem wünschen viele der Interviewten eine gegenseitige Hilfe und sie wollen außerdem nur die Hilfen in Anspruch nehmen, die sie wirklich benötigen. Es ist in der angeführten Studie erkennbar, daß die Befragten im Alter gerne aus den oftmals dann zu groß gewordenen Wohnungen in altengerechte Wohnungen mit ausreichendem Gemeinschaftsund Serviceangebot in der Nähe umziehen wollen. Das kann bei umsichtiger Förderung neuer Wohnmöglichkeiten für die Auszugswilligen durchaus zu einer deutlichen Entspannung des Wohnungsmarktes führen (LBS - Schriftenreihe, Band 13, 1992). Das 1993 im Landkreis Helmstedt etablierte Seniorenbüro kann in dazugehörigen Vermittlungstätigkeiten u.U. ein geeigneter Ansprechpartner werden. Außerdem kann es bei der Planung für solche Anlagen sehr hilfreich zu Rate gezogen werden. Generell betrachtet fehlt es auf dem Markt an sogenannten Sozialimmobilien, die den oben angeführten Bedürfnissen der kommenden und vorhandenen Ruheständler entsprechen. Es ist damit zu rechnen, daß zukünftig häufiger als noch heute die Qualität des Wohnungsangebots sehr viel genauer geprüft werden wird, bevor die Alten aus ihren bisherigen Wohnungen ausziehen. Grundsätzlich aber sind sie bereit auszuziehen, da sich die soziale Situation z.B. nach Auszug der Kinder, Verrentung oder Versterben des Lebenspartners doch deutlich ändern kann. Angesichts des vorhandenen Angebots haben sich 82% der Befragten gegen ein Alten- und oder Pflegewohnheim ausgesprochen. Lediglich 4% können sich im Alter vorstellen, in einer solchen Institution zu leben, für 14% der Befragten ist ein Heimaufenthalt nur im Notfall akzeptabel. 80% der 800 Befragten haben sich über alternative Wohnformen bereits Gedanken gemacht. 25% wollen auch im Alter eine Privatwohnung, 75% ziehen eine Wohngemeinschaft vor. Für die Menschen ist es verständlicherweise nicht wünschenswert, in Altersheimen eventuell allein und isoliert den Lebensabend zu verbringen. Die für die alten Menschen notwendigen Pflegeinfrastrukturen sollten deshalb so ausgestaltet werden, daß eine Mischung zwischen Nachbarschaftshilfe und professioneller Betreuung möglich ist. Momentan liegen die Pauschalversorgungspreise ca. bei 25 DM/qm für Wohnkosten und 40-60 DM/qm für Serviceleistungen. Um die eben genannten Sozialimmobilien zu schaffen, bedarf es erst einmal besonderer Vertragsbedingungen, die für die Alten und ähnliche Zielgruppen mit bestimmten Anforderungen, wie z.B. kinderreiche Familien, annehmbar sind. Im Falle der Alten sind folgende Punkte von besonderer Wichtigkeit: - finanziell abgesichertes Wohnen im Alter, - Wohnrecht soll bis zum Lebensende dauern, - Miet- und Zusatzkosten müssen im überschaubaren Rahmen bleiben und ebensolchen Steigerungen unterliegen. Auch wenn in der angeführten Untersuchung der Anteil derer, die im Alter noch Eigentum erwerben können mit relativ gering bezeichnet wird (900.000 Haushalte der heute 45-65 Jährigen können sich zumindest Anteile an Sozialimmobilien erwerben), gibt es durchaus Ansätze für Kapitalanlagen, die für diese und nachfolgende Generationen attraktiv sind. Der Kauf von Immobilienfondsanteilen ist ein solcher Ansatz. Über diese Kapitalanlage könnten sich Interessenten neben der renditefähigen Geldanlage gleichzeitig ein Recht auf altengerechte Wohnung in einem entsprechenden Projekt sichern. Sobald der Anleger in eine fertiggestellte Wohnung einzieht, zahlt er eine nach der Geldanlagehöhe gestaffelte Miete. In solcherart gestalteten Fonds können auch reine Vermögensanleger investieren. - 259 - Neben diesen Immobilienfonds wäre das Wohnsparen eine zweite Möglichkeit, Seniorenprojekte zu finanzieren. Das funktioniert so, daß die Wohnsparer eine Sparsolidargemeinschaft bilden und eine bestimmte Anzahl von Wohnungen finanzieren, die dem Sparerkollektiv späterhin zur Verfügung stehen können. Die zukünftigen Mieter erwerben per Zuschuß oder Darlehen das Recht auf eine altengerechte Wohnung inklusive Serviceangebot. Durch ihre Geldeinlagen ermöglichen sie den aktuellen Nutzern ein günstigeres Wohnen, da die Mieten niedriger sind oder geringere Steigerungsraten aufweisen (Handelsblatt 20./21.8.93). Ohne die Starthilfe der Kommunen und Wohlfahrtsverbände aber geht es im vorgeschlagenen Anteilscheinsystem nicht, denn am Anfang müssen Wohnungen zur Verfügung stehen, die nicht mit den Mitteln aus den Anteilen der Sparer finanziert werden. Es interessieren sich zunehmend mehr private Investoren für diesen Bereich und es besteht Anlaß zu der Annahme, daß es im Landkreis Helmstedt - eine politische Unterstützung vorausgesetzt möglich wäre, solche Wohnprojekt zu realisieren, sei es für Alte, kinderreiche Familien oder Singles. Für die Singles vor allem In der jüngeren Generation bis 35 Jahre müßte man versuchen, den zunehmenden ökologischen und lebenswertbewußten Einstellungen mit entsprechend konzeptionierten Wohn- und Arbeitsprojekten entgegenzukommen Rentner/innen und leicht pflegebedürftige Menschen, die in speziell für sie eingerichteten Wohnanlagen leben, ziehen wahrscheinlich auch von außerhalb des Landkreises an den neuen Wohnstandort. In solchen Fällen werden also die Gelder, die sie z. B. für Konsumption und Pflegeleistungen ausgeben, in den Landkreis Helmstedt importiert und gelangen folglich dort in den Geldkreislauf. Im Wohn- und Einkaufsumfeld müßten im Landkreis Helmstedt lokal im Vorfeld solcher Ansiedlungsüberlegungen noch einige Verbesserungen zugunsten dieser Bevölkerungsgruppe vorgenommen werden. Das betrifft z. B. die altengerechte Straßen- und Wegeplanung aber auch diverse andere Gesichtspunkte. Für diese Problemstellungen ist das 1993 neu begründete Seniorenbüro in der Stadt Helmstedt ein guter Ansprechpartner. Beispiele für ein modernes Verständnis des altersgerechten Wohnens Vorzeigebeispiele für ein modernes Verständnis des Wohnens im Alter und eine Finanzierung über einen Immobilienfonds sind u.a. der "Wohnpark am Schönbuch" in Tübingen, der 1984 eröffnet wurde und 82 Eigentumswohnungen mit Wohnungsgrößen zwischen 2 und 4 1/2 Zimmern mit 50 bis 100 m2 aufweist. Die Wohnungen haben z. B. keine Türschwellen und sind mit Notrufsystemen ausgestattet. Desweiteren ist eine sehr gute Busverbindung zum Stadtzentrum vorhanden. Zwei zusätzliche Pflegekräfte sind in dieser Anlage tätig. In Freiburg - einem weiteren Beispiel - haben die Bewohner einer Seniorenwohnanlage einen Betreungsvertrag mit der Arbeiterwohlfahrt geschlossen, die auch Betreiber der Anlage ist. Dieser Vertrag umfaßt den Anschluß an ein Notrufsystem mit ständiger Rufbereitschaft, Hilfe im täglichen Leben und bei Krankheit eine dreiwöchige Pflege. In München ist eine Wohnanlage errichtet worden, in der mehrere Generationen zusammenleben. Von den 160 Bewohnern sind 40 SeniorInnen und 22 Kinder. Dieses Mehrgenerationenmodell ist frei finanziert(!) In den fünf zwei- bis dreigeschossigen Hauszeilen befinden sich 27 Reihenhäuser, zehn Eigentumswohnungen und 25 Mietwohnungen für Ältere. Die Miete ist per Vertrag auf fünf Jahre festgeschrieben und darf erst dann geringfügig erhöht werden. Auch in Nordhorn ist eine ähnliche Wohnanlage entstanden. Die hier aufgeführten Beispiele sind alle in größeren Städten angesiedelt, was aber nicht heißt, daß es nicht auch im Mittelzentrum Helmstedt oder den Städten Königslutter und Schöningen Möglichkeiten dafür gäbe. Pflegeeinrichtungen und damit verbundene Erfahrungen liegen in allen drei Orten ausreichend vor. Um solche Einrichtungen zu etablieren, muß auch die entsprechende Infrastruktur geschaffen werden, vor allem eben im Konsum- und Kulturbereich. Kleinräumigkeit mit viel Grün, ein ab- - 260 - wechslungsreiches und qualitativ hochwertiges Dienstleistungsangebot und kurze, bequeme Distanzen mit vielen Ausruhmöglichkeiten könnten nicht nur dieser Zielgruppe sondern indirekt auch dem Tourismus zugute kommen. Die im Landkreis liegenden Städte sind diesbezüglich bereits aktiv geworden. So hat z.B. die Stadt Helmstedt zum Ende des Jahres 1993 beschlossen, diesbezügliche bauliche Aufwertungen der Fußgängerzone vorzunehmen. Aber auch in den anderen Städten ist man dabei, eine diesbezügliche Umgestaltung der innerstädtischen Bereiche vorzunehmen. 8.12 Der Aspekt des Freizeitwohnens Auf diesen Aspekt wird im folgenden stärker eingegangen, da sich im Freizeitwohnen ein Potential für den Landkreis Helmstedt ergibt, das zumindest lokal ausgebaut werden könnte. Freizeitwohnen hat sich aus dem Alltagswohnen als eigenständige Raumnutzung ausgegliedert. Bis zu 90% der gesamten arbeitsfreien Zeit wird im Wohnbereich verbracht. Es gibt deutliche Tendenzen zu einem weiteren, dem primären Wohnbereich nachgeordneten Freizeitwohnbereich. Dabei wird die besondere Ausnutzung der Ressourcen des Standortes als Freizeitfaktor gesondert bewertet. Durch eine solche Wohneinheit wird bei vielen Menschen die Qualität des Urlaubs gesteigert, da sie "abschalten", "ausspannen" und "aus dem Alltag herauskommen", "Tapetenwechsel" vornehmen können, ohne die ihre gewohnte Umgebung zu verlassen (RomeißStracke, 1986). Welche Faktoren beeinflussen die Wohnqualität des Freizeitstandortes aus Sicht des Nachfragers? Es sind nach einer Analyse des Studienkreises für Tourismus (STfT, 1985) Sauberkeit, Gemütlichkeit sowie Ruhe und Ungezwungenheit, die abgesehen vom Preis die herausragendsten Merkmale in der Bewertung des Nachfragers darstellen. Die Häuser und Wohnungen müssen nach dieser Studie zumindest über eine gute, durchschnittliche Einrichtung verfügen und über ein ansprechendes und gepflegtes Äußeres verfügen. Nach Auswertungen von Befragungen des STfT (1985) hat sich bezüglich der Umfeldbedingungen ein "Idealtyp" von Freizeitwohnen ergeben, der wie folgt zusammenfaßbar ist: - man möchte in einem alleinstehenden Haus mit unmittelbarem Zugang zur Landschaft wohnen, ohne nachbarliche Beeinträchtigungen befürchten zu müssen, - Ruhe und gute Luft, - ländliche Umgebung, - gewisser Bezug zur einheimischen Kultur, - Atmosphäre und - Naturnähe sind die wesentlichsten Umfeldbedingungen. Das darf nicht so interpretiert werden, daß die Urlauber und Nachfrager "nur" solche Idealtypen nachfragen. Wichtig schien ihnen zumindest 1985, daß die Häuser nicht zu dicht beieinander stehen, daß sie von Grünanlagen umgeben sind und daß genügend Kinderspielmöglichkeiten vorhanden sind (STfT 1985 (Bauernhof), Berichtsband 3). Die Ferienwohnung sollte also in einer "schönen" ländlichen, aber nicht zu abgeschiedenen Umgebung liegen. Sie sollte Zugang und Bezug zur umgebenden Landschaft aufweisen und eine gute Einrichtung haben (vor allem bei den sanitären Einrichtungen und der Küche) und auch bei schlechtem Wetter ein Wohlfühlen in den Aufenthaltsräumen gewährleisten können. Freizeitwohnen ist zumindest teilweise eine Kapitalanlagemöglichkeit für den Nutzer. Das ist ebenfalls ein Aspekt, der nicht unbeachtet bleiben sollte. Solchermaßen engagierte Kapitalanleger - 261 - kommen oft von außerhalb und nutzen ihre Objekte auch selbst. Damit nehmen sie als Gäste am regionalen Wirtschaftskreislauf teil. Leider scheint es nach den Untersuchungen des STfT keine Neigung der Besitzer von Ferienwohnungen zu geben, den zweiten Wohnsitz im Falle der Nichtnutzung zu vermieten. Hier müßte unbedingt eine vermittelnde Stelle oder ein Vertragspassus geschaffen werden, der eine weitere Vermietung z.B. durch das Amt für Fremdenverkehr oder einen der ansässigen Verbände (Naturpark, Fremdenverkehrsgemeinschaft) oder Fremdenverkehrsvereine möglich macht. 8.12.1 Das Problempotential des Freizeitwohnens Im Entwurf des Landes - Raumordnungs - Programms Niedersachsen (Mai, 1993) sind in den RROP, deren Erstellung (nächster Termin 1995) in der Zuständigkeit des Zweckverbandes Großraum Braunschweig liegt, die Standorte festzulegen, die mit der besonderen Entwicklungsaufgabe "Erholung" versehen werden. Voraussetzung ist, daß die natürliche Eignung der umgebenden Landschaft für Erholung und Freizeit, die Umweltqualität, die Ausstattung mit Erholungsinfrastruktur sowie das kulturelle Angebot vorhanden sind, bzw. gesichert und weiterentwickelt werden sollen/können. Desweiteren sollen in den RROP Erholungsstandorte mit der besonderen Entwicklungsaufgabe "Fremdenverkehr" innerhalb von Gemeinden mit herausragender Fremdenverkehrsbedeutung festgelegt werden, wenn Einrichtungen des Fremdenverkehrs besonders gesichert, räumlich konzentriert und entwickelt werden sollen. An diesen Standorten sollen andere Nutzungen frühzeitig mit dem Fremdenverkehr so in Einklang gebracht werden, daß sie langfristig die Sicherung und Entwicklung des Fremdenverkehrs unterstützen. Weiterhin heißt es dort, daß Fremdenverkehrseinrichtungen und sonstige fremdenverkehrsbezogene Freizeitprojekte dazu beitragen sollen, die Lebens- und Erwerbsbedingungen der ansässigen Bevölkerung zu verbessern, den Fremdenverkehr einer Region zu stärken und die traditionellen Formen des Fremdenverkehrs und des Städtetourismus zu ergänzen und zu beleben. Durch ihre Realisierung dürfen Landschaften nicht zersiedelt, historisch wertvolle Kulturlandschaften nicht beeinträchtigt, gewachsene Siedlungs- und Nutzungsstrukturen nicht wesentlich beeinträchtigt und der Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen und des Erholungswertes der Landschaft nicht gefährdet werden. Ihre räumliche und infrastrukturelle Anbindung an entsprechend leistungsfähige Orte ist anzustreben. Touristische Großprojekte sind frühzeitig in ihre Raum- und Umweltverträglichkeit zu prüfen und gegenüber örtlichen und regionalen Belangen der räumlichen Entwicklung abzuwägen. Nach einer Zusammenstellung von Romeiß-Stracke (1986, 1982) ergeben sich folgende vier Problemschwerpunkte bei der Planung von Freizeitwohneinheiten: 1. Landschaftsbelastung und -zerstörung - Zersiedelung von Ortsrändern, Veränderung des Landschafts- und Siedlungsbildes; - Besetzung der reizvollsten Landschaftsteile (Hangkanten, Waldränder, Uferbereiche); - Unzureichende Abwasser- und Müllentsorgung; Umweltverschmutzung; Gefährdung des ökologischen Gleichgewichts. 2. Infrastrukturvorleistungen der Gemeinden - Erschließungskosten werden z.T. voll von der Gemeinde getragen, z.T. keine Grundsteuerpflicht für Zweitwohnungsinhaber; - Konkurrenznutzung von Freizeitwohnsitzinhabern und Saisongästen bei Freizeiteinrichtungen, Überlastungserscheinungen; - Unterversorgung mit sozialer Infrastruktur bei Umwandlung von Freizeitwohnsitze in Altersruhesitze. - 262 - 3. Verzerrung des Boden- und Mietpreisniveaus - Anstieg der Grundstückskosten z.T. auf ein Niveau oberhalb der Verdichtungsräume; - Verdrängung der einheimischen Bevölkerung aus dem Wohnungsmarkt; 4. Überfremdung der einheimischen Bevölkerung - Zerstörung der überkommenen Sozial- und Kommunikationsstrukturen; - Verlust der kulturellen Identität. Auch im Landkreis Helmstedt kommen für die Neuanlage von Campingplätzen, Ferienhäusern usw. grundsätzlich die in der zeichnerischen Darstellung des RROP ausgewiesenen "Vorranggebiete für Erholung mit starker Inanspruchnahme durch die Bevölkerung" in Betracht. Es handelt sich um die Bereiche innerhalb größerer Gebiete mit besonderer Bedeutung für die Erholung, die in stärkerem Maße bereits von Erholungssuchenden, z.B. für Zwecke des Freizeitwohnens, zum Badebetrieb u.ä. genutzt werden und/oder die in unmittelbarer Nähe zu solchen Einrichtungen wie Campingplätzen, Freibädern, Spiel- und Sportanlagen oder zu Wohnsiedlungsbereichen gelegen sind (RROP Landkreis Helmstedt 1991). Es sind dies im Landkreis Helmstedt die Gemeinden Velpke, Grasleben und Süpplingen sowie Räbke, die Städte Königslutter, Helmstedt und Schöningen. 8.12.2 Träger- und Entwicklungsgesellschaften Bei den Träger- und Entwicklungsgesellschaften von Ferienhaus- oder -wohnungskomplexen läßt sich grob unterscheiden nach: 1 .Privater Trägerschaft, meist bei kleineren Einheiten mit 10-20 Häusern bzw. Wohnungen; 2."Ferienpark", "Freizeitpark" betrieben durch eine Trägergesellschaft (GmbH, Kommanditgesellschaft) mit zwei Varianten: a) Immobilienfonds für ein Objekt Hier wird gezielt ein Standort nach bestimmten Standortkriterien ausgesucht, erworben und bebaut. Zur Finanzierung wird ein Immobilienfonds angelegt, der unterschiedliche Beteiligungssummen und u.U. gesonderte Nutzungsrechte beinhalten kann. Meist handelt es sich dabei um steuerbegünstigte Geldanlagen; b) Haus- und Grundstücksbesitz im Feriendorf oder Freizeitpark: Auch hier werden die Einzelobjekte verkauft, aber gleichzeitig zur temporären Nutzung freigegeben. Die Käufer verpflichten sich, ihr Eigentum für einen bestimmten Zeitraum zur Vermietung freizugeben und erhalten dafür garantierte Mieteinnahmen. Die Trägergesellschaft übernimmt Betrieb und Vermietung bzw. Vermarktung während des Restes des Jahres z.B. an bestimmte, häufig überregional, sogar international tätige Touristikunternehmen; 3. Time-Sharing oder Ferienwohnrechtmodell: Hier erwirbt man ein Ferienwohnrecht an einer Wohnung oder einem Haus, das man auch an Dritte vergeben kann. Diese Vertragsform gilt für immer, mindestens aber für 99 Jahre. Diese Rechte werden meist von einem Verein vergeben; 4. Aktiengesellschaft: - 263 - Im Unterschied zum Ferienwohnrecht erwirbt man bei dieser Form nicht das Recht an einer konkreten Freizeitwohnanlage, sondern der Käufer wird wirtschaftlicher Miteigentümer an allen Ferienimmobilien der Gesellschaft. Der Aktienbesitzer erhält Wohnrechtspunkte, die in allen Anlagen im Besitz der Gesellschaft abgewohnt werden können. In diesem Fall müssen dann nur die ortsüblichen Nebenkosten bezahlt werden. Je nach Saison werden unterschiedlich hohe Wohnrechtspunkte pro Woche angerechnet und je mehr Aktien bei dem Aktionär sind, desto häufiger/länger kann er in einem Objekt der Gesellschaft mietfrei Urlaub machen. Wenn es um den Nutzen geht, den eine Kommune im Landkreis Helmstedt daraus ziehen möchte, so ist die erste und dritte Anlageform zu bevorzugen. Bei den anderen Anlageformen wird Kapital von außen herangeführt, die dabei entstehenden Gewinne aber auch wieder nach außen verbracht. Für die Kommune dürften dabei allenfalls ein paar Teilzeitarbeitskräfte und die Konsumptionsausgaben der Mieter wirksam werden. Und das ist nicht unbedingt im Sinne einer gesunden Entwicklung der Kommunen. Es erinnert in gewisser Weise an die verlängerten Werkbänken im produzierenden Gewerbe bzw. die Zweigbetriebe, deren Gewinne ja auch von den größten Anteilseignern von außerhalb des Produktionsstandorts abgeschöpft werden. Das Negativimage solcher Anlagen könnte dadurch abgemildert werden, indem die lokale private Trägerschaft bevorzugt wird und besondere Finanzierungsmodelle entworfen werden, an denen auch die öffentliche Hand beteiligt sein sollte/könnte. Zudem ist es möglich, über eine genossenschaftliche Organisation der Bevölkerung/Haus- und Grundbesitzer der jeweiligen Region oder Gemeinde, eine Kapitalbindung und Gewinnerhaltung in der Region zu erreichen (Stracke und Romeiß-Stracke, 1986). Die dazu notwendigen Vorgehensweisen sind vor allem in der Landwirtschaft bereits von langer Tradition. 8.12.3 Ausblicke für den Landkreis Helmstedt im Bereich des Freizeitwohnens Wenn im Landkreis Helmstedt in den diversen, zu diesen Zwecken geeigneten Gemeinden solche Vorhaben in Betracht kommen sollten, so sollte der Punkt "Beteiligung der Bevölkerung und Haus/Grundbesitzer" in den Vordergrund gerückt werden, damit die bestehende Gemeinschaft auch etwas von einem solchen Projekt hat und es sich nicht nur für die ansässige Gastwirtschaft oder den, wenn überhaupt noch bestehenden "Laden" rentiert. Bei der Ausweisung des Geländes wäre sicherlich eine Lage in der Nähe des Waldes, möglichst am Hang im Übergang zwischen Wald und angrenzender Landschaft zu bevorzugen. Wichtig ist, daß bei der Geländebeplanung auch daran wird, ausreichend einheimische und z.T. auch exotische, mit unseren Arten zurechtkommende Gehölze zu pflanzen. Je mehr Pflanzen in abgestimmten Gemeinschaften gepflanzt werden, desto höher kann sich die ökologische Geländequalität entwickeln. Bei der Hausanlage könnte durch Nutzung der lokalen handwerklichen Traditionen, vielleicht auch unter Hinzuziehung ausländischer handwerklicher Traditionen, die über die Städte- und Gemeindepartnerschaften vermittelt werden könnten, eine neue Art Ferienanlage entstehen. Warum nicht französische, englische, italienische, polnische etc. Handwerkstraditionen zur Anwendung bringen, vielleicht ließe sich damit auch eine andere Art Werbung gestalten (Stichwort: Heute ist es im Landkreis Helmstedt grenzenlos schön!) Ferienparks als Stätten der Begegnung, gebaut und errichtet mit Hilfe der regionalen Investitionskraft und Partnern aus ausländischen Gemeinden - das könnten dabei durchaus die Leitmotive vorstellen. Bei der Anlage von solchen Freizeiteinrichtungen sollte darauf Wert gelegt werden, daß sie an bestehende Erschließungs-, Ver- und Entsorgungssysteme angeschlossen werden bzw. sie mitbenutzen können, ohne daß neue Einrichtungen, die i. d. R. sehr teuer sind, errichtet werden müssen. - 264 - Auch technisch dezentrale Lösungen z.B. durch Nutzung des Regen- und Grauwassers für auf dem Gelände befindliche Teiche, Seen und Pflanzenkläranlagen sind durchaus denkbar und gar nicht so teuer, wie immer wieder behauptet wird. Es müssen dabei selbstverständlich bestehende Bundesund Landesgesetze berücksichtigt werden, die z. B. eine dezentrale Abwasserbehandlung nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen zulassen. Doch je ökologischer ein solches Projekt ausgelegt wird, desto mehr natürliche Kreislaufprozesse finden statt. Es kann davon ausgegangen werden, daß sich auch auf der Nachfrageseite eine deutliche Orientierung an den Prinzipien des „Sanften Tourismus“, wie Kleinteiligkeit, Übersichtlichkeit, geringe Belegungszahlen, ökologische Kreislaufwirtschaft, Schonung, Bewahrung und Ausbau der natürlichen Ressourcen (Anlage von Hecken, Obststreuwiesen u.v.m.), sowie Bewahrung und Stärkung der kulturellen Identität ergeben wird. Es wird die Vermutung angestellt, daß es möglich ist, durch einen konsequenten baubiologisch angelegten Siedlungsbau und eine damit einhergehende ökologische Geländegestaltung die landschaftliche Situation einer Agrarsteppe neu zu beleben. Nicht nur im Bereich der architektonischen Planung haben Stracke und Romeiß-Stracke (1986) in einem Forschungsbericht zu einem Forschungsprojekt des Niedersächsischen Sozialministeriums mit dem Titel "Freizeitwohnen - ein konstruktives Konzept" detaillierte Ausarbeitungen zur Gestaltung von Freizeitwohneinheiten gemacht, die als Orientierung sehr gut geeignet sind. Sie haben sich desweiteren detailliert mit der Rechts- und Finanzierungsfrage befaßt (s.o.). Angesichts der neuen Bedingungen seit Öffnung der Grenzen und der sich verschärfenden wirtschaftlichen Problematik im Landkreis Helmstedt, wäre es empfehlenswert, dieses Konzept für ein Pilotprojekt "Freizeitwohnen" wieder neu zu bedenken. Damals fiel aus folgenden Gründen die Wahl des Standortes für das Pilotprojekt auf den Naturpark Elm - Lappwald, Gemeindegebiet Königslutter: Es seien hier die Gründe eingehender dargestellt: 1. Die Dorfstrukturen bieten ein für das Freizeitwohnen attraktives Wohnumfeld. Die Gründung als Haufen- oder Angerdörfer ist größtenteils noch deutlich ablesbar, historische Ortskerne, z.T. mit wertvollen kulturhistorischen Denkmälern (Herrenhaus, Kirche, Schloß), bilden wichtige Identifikationspunkte. Die Dörfer sind in ihrer Struktur größtenteils noch verhältnismäßig wenig von den bekannten Ortsbildverschandelungen betroffen - u.a. aufgrund geringer wirtschaftlicher Investitionskraft der Einwohner und z.T. wegen der hauptsächlich landwirtschaftlichen Prägung. Die Landwirtschaft unterliegt aber stärker denn je dem allgemeinen, weltweiten agrarstrukturellen Wandel. Leerstehende Gebäudeteile und geeignete Dorfrandlagen (Brachen) sind vielfältig vorhanden. 2. Der Naturpark Elm - Lappwald ist eine Landschaft mit ruhigem und zurückgezogenem Gesamteindruck . Die Landschaft zeichnet sich durch alte Eichen - Buchen - Wälder mit diversen Edelhölzern und seltenen Pflanzenarten, reizvolle, wenn auch nicht immer in ihrer Artenzusammensetzung vollständig erhaltene Waldrandlagen und Naturdenkmäler aus, "...ohne jedoch an die Attraktivität bekannter "klassischer" Erholungslandschaften heranzureichen. Die Landwirtschaftsflächen sind z. T. großräumig flurbereinigt, eine negative Eigenschaft, die aber durch den reizvollen Kontrast der Dorflagen und der Wälder ausgeglichen werden kann." 3. Ein Wander- und Radwegenetz ist gut ausgebaut vorhanden und wird stetig erweitert. Der Naherholungsverkehr an Wochenenden aus Wolfsburg und Braunschweig erreicht nur an einigen Stellen im Elm (Reitlingstal) bemerkenswerte Konzentrationen. In die für das Pilotprojekt vorgesehenen Gemeinden reicht er kaum. Infrastruktureinrichtungen (Schwimmbäder, Tennis, Reiten, Golfen), die das Freizeitwohnen ergänzen können, sind in Königslutter, Helmstedt und - 265 - Schöningen vorhanden, erreichen aber nur bedingt eine überregionale Attraktivität (Stracke und Romeiß-Stracke, 1986). 1993 hat sich diesbezüglich nicht viel geändert. In der Stadt Schöningen ist ein Golfplatz entstanden, der auf alle Fälle eine überregionale Bedeutung erlangt hat. Was die Nachfragepotentiale angeht, verfügt der Landkreis Helmstedt über ca. 150 Ferienwohnungen bzw. -häuser. Auf den im Landkreis Helmstedt befindlichen Campingplätzen sind ca. 700 Stellplätze vorhanden. Aus welchen Gründen auch immer das Projekt damals scheiterte, es könnte, vor allem durch die politischen Änderungen bedingt, heute wieder erneut zu diskutieren sein. Die äußeren Umstände in den Dörfern (Leerstände, landwirtschaftlicher Strukturwandel, Entwicklung des Nah- und Kurzurlaubstourismus) lassen durchaus den Gedanken einer koordinierten und den Bestand aufstockenden Vermarktung von Ferien- und Freizeitwohnungen im Landkreis Helmstedt zu. Seit Wegfall der Grenze muß sich die Werbung für die touristische Vermarktung vor allem um den Ersatz des Berliner Kundenpotentials kümmern, da dieses ein neues Umfeld für ihre Freizeitaktivitäten in und um Berlin gefunden hat. Es sind bei der Fremdenverkehrsgemeinschaft Elm - Lappwald bereits werbetechnische Änderungen z.B. bei den Zielgruppen vorgenommen worden, um neue Besucher und Touristen in den Landkreis Helmstedt zu locken. Im Bereich Unterkunftsausweitung sind die Anstrengungen erfolgreich gewesen und es haben sich neue Betriebe angesiedelt. Im „Freizeitpark Nord - Elm“ in Räbke sind nach letzten Informationen Erweiterungen mit einer ansehnlichen Größenordnung geplant. - 266 - 9. Der Fremdenverkehr und seine Rolle im Landkreis Helmstedt Unter dem Begriff Fremdenverkehr kann die Gesamtheit der Beziehungen und Erscheinungen verstanden werden, die sich aus der Reise und dem Aufenthalt von Personen ergibt, für die der Aufenthalt weder hauptsächlicher noch dauernder Wohn- und Arbeitsort ist (Kasper, 1976). So zählen alle vorübergehenden Aufenthalte mit Ausnahme des Pendlerverkehrs und der regional bedingten Einkaufsfahrten zur touristischen Nachfrage, gleichgültig ob diese vorübergehenden Aufenthalte mit Übernachtung verbunden sind oder sich nur auf einige Stunden erstrecken. Im engsten Sinne werden als Fremdenverkehr nur Urlaubs- und Erholungsreisen nicht geschäftlichen Charakters verstanden, wobei meist noch zwischen Reisen von 2-4 Tagen Dauer und ab 5 Tagen Dauer unterschieden werden kann (Martin, 1986). 9.1 Die äußeren Faktoren der Entwicklung des Kurz- und Urlaubsreiseverkehrs Im Bereich der Urlaubsreisen wirken eine ganze Reihe von Faktoren auf die künftige Zahl von Reisenden und Urlaubsgästen und somit auf die Anzahl der Übernachtungen ein. 9.1.1 Die bestehende wirtschaftliche Situation Daß die wirtschaftlich unsichere Lage (vor allem seit 1992/1993) zu Einbrüchen im Urlaubsreiseverkehr führen könnte, hat sich nur für spezielle Teilbereiche des Tourismus als wahr erwiesen. Um einen Eindruck von der Marktlage zu erhalten, ist es von Bedeutung, die Bewertungen der Unternehmer selbst einmal zu betrachten. Für das Jahr 1992 wurde von der IHK Braunschweig gemeldet, daß die abgelaufene Sommersaison 1992 insgesamt nicht enttäuscht hat. Nach den Ausnahmesommern 1990 und 1991, die eindeutig unter dem Einfluß der Grenzöffnung standen, gab es im Sommer 1992 gewisse Einbrüche zu verzeichnen. Es wurde aber immer noch von einer Stabilität auf hohem Niveau gesprochen. 49% der befragten Unternehmen bewerteten das Sommergeschäft als gut, 43% als zufriedenstellend und nur 9% als schlecht. 1991 hatten noch 79% mit gut, 20% mit zufriedenstellend und nur 1% mit schlecht gewertet. Wird nach Beherbergungsund Restaurantgewerbe differenziert, so ist der Übernachtungsbereich zufriedener als das Gaststättengewerbe. Im Hoteleriegewerbe haben sich 54% mit gut und noch 41% mit befriedigend geäußert, im Restaurantbereich haben sich 42% mit gut, 43% mit zufrieden und 15% mit schlecht geäußert. Im Hotelbereich waren lediglich 5% der Meinung, daß ein schlechtes Ergebnis erzielt worden sei. Was die Umsatzentwicklung angeht, wird die Trendwende 1992 bereits deutlich. Nur 25% der Betriebe (im Vorjahr 60%) berichten von steigenden Umsätzen., 43% von gleichen (Vorjahr 35%) und bereits 32% (Vorjahr 5%) von rückläufigen Umsätzen. Mit der rückläufigen Umsatzentwicklung ist ein Rückgang der Bettenauslastung verbunden. Nur 18% berichten von Zunahmen (Vorjahr 54%), 52% von gleicher Auslastung (45% im Vorjahr). 30% haben einen deutlichen Rückgang verspürt (Vorjahr nur 1%!). Die zukünftige Entwicklung wird von 35% eher skeptisch bewertet, 39% hoffen auf eine günstigere Entwicklung und 26% bauen auf eine gleichbleibende Auftragslage. Über 2/3 der Betriebe wollen investieren, wobei sich 82% der Investitionen auf Ersatzbeschaffungen konzentrieren sollen. Erweiterungsinvestitionen werden weiterhin vorsichtig geplant (Wirtschaft, IHK Braunschweig 12/92). Im Jahr 1993 haben 25% der Gaststättenbesitzer gute Geschäfte gemacht, 45% der Befragten waren mit ihren Geschäften zufrieden und 30% klagten über eine schlechte Geschäftslage. Damit sind bereits doppelt so viele Geschäftsleute im gastronomischen Bereich unzufrieden wie im letzten Jahr(!). Im Hotelgewerbe registrieren nur 8% höhere Umsätze, 36% stagnierende Geschäfte und über die Hälfte rückläufige Umsätze(!). Es macht sich hier also auch die bestehende Rezessionsphase bemerkbar. Die Prognosen für 1994 sind bei knapp einem Drittel der Befragten (34%) - 267 - zuversichtlich, 33% erwarten einen Stillstand und ein weiteres Drittel eine ungünstigere Entwicklung. (Braunschweiger Zeitung, Helmstedter Teil v. 11.1.1993, Kritisches zum Neujahrsempfang der Gastronomen aus dem Landkreis Helmstedt). 9.1.2 Der demographische Aspekt und der Wertewandel Die Bevölkerungsentwicklung der deutschen Bevölkerung hat insofern Einfluß, als die quantitative Veränderung der Bevölkerungsentwicklung, Verschiebungen der Alterspyramide und veränderte Haushalts- und Familiengrößen auf die Menge der Reisebewegungen Einfluß ausüben können. Die Zahl der unter 25 Jährigen geht bis zum Jahre 2010 erheblich zurück, während die der 25-45 Jährigen zunimmt. Laut Regionaler Bevölkerungsprognose 2000 der BfLR wird die Anzahl der unter 20 Jährigen bis zum Jahr 2000 leicht rückgängig sein, die der 20 bis unter 26 Jährigen wird erheblich stärker zurückgehen und die der 60- bis unter 75 Jährigen wird deutlich zunehmen (s.a. Tab. IX 1+1a) Nach Modellrechnungen des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden wird sich der Anteil der bis zum Jahre 2010 60 Jährigen von 21,4% (1985) sogar auf 28% erhöhen. Der Anteil der unter 20 Jährigen an der Gesamtbevölkerung wird dagegen von 22,7% auf 17,3% sinken (DWIF, 1993). So unterschiedlich die Ergebnisse der Prognosen sind, sie weisen allesamt das Ergebnis einer Überalterung und eines Bevölkerungsrückgangs in unserer Gesellschaft auf. Aus den Zahlenwerken könnte man entnehmen, daß sich eine erhöhte Reiseintensität der mittleren und hohen Altersgruppe ergibt, wobei es durchaus möglich ist, daß sich die positiven und negativen Auswirkungen der Veränderung der Kopfzahlen in den Altersgruppen gegenseitig aufheben. Das wiederum könnte bedeuten, daß die negativen Auswirkungen des Bevölkerungsrückganges von den positiven Auswirkungen der Veränderung der Bevölkerungsstruktur, der Einkommensentwicklung, des Ansteigens der Urlaubsfreizeit kompensiert werden, sich also keine negativen Auswirkungen auf das Nachfragepotential im Tourismus ergeben. Der Bevölkerungsrückgang in den unteren Altersgruppen könnte die Kurzreisetätigkeit, die bekanntermaßen von den jungen Leuten eher bevorzugt wird, rein zahlenmäßig negativ beeinflussen. Die Änderung der Familienstruktur kann erhebliche Auswirkungen auf den Fremdenverkehr im Landkreis Helmstedt haben, zumindest für eine längerfristige Zukunft gesehen. Die Anzahl der Familien mit kleinen Kindern wird rein demographisch abnehmen. Das hat zur Folge, daß es bei Beibehaltung der bestehenden Zielgruppenausrichtung im Fremdenverkehr einen Rückgang der Übernachtungen in der Zielgruppe "Kleinfamilien" geben könnte. Bei den Mehrfachurlaubern z. B. sind Zweipersonenhaushalte deutlich überrepräsentiert. Aus geringer Haushaltsgröße in Verbindung mit hohem Einkommen ergibt sich ein hoher Anteil finanzkräftiger Haushalte (Marketing Anzeigen, März 1993). Hier könnte sich für den Bereich Kurzreisen im Landkreis Helmstedt ein positives Bild abzeichnen. Insgesamt hat das Anwachsen in den oberen Einkommensgruppen auf die Kurzreiseintensität aber keinen so bedeutenden Einfluß wie auf die Urlaubsreisetätigkeit als solches. Es sind inzwischen vielerorts Bemühungen im Gange, eine mögliche Kompensation dieses absehbaren Bevölkerungsrückgangs durch eine zusätzliche Werbungskonzentration auf die älteren reisewilligen Menschen zu erreichen. Es ist jedoch annehmbar, daß eine Kompensation nicht möglich ist, da der Rückgang der Familien mit kleinen Kindern stärker ist als die Zunahme der älteren Menschen. Zudem nimmt die Reiseintensität ab einem Alter von 60 Jahren deutlich ab. Allerdings darf auch ein unterdurchschnittlicher Anteil der Rentner und Pensionäre bei den Urlaubern nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Senioren von der absoluten Anzahl her mittlerweile eine bedeutende "Reisegruppe" darstellen: Etwa 5 Mill. Westdeutsche, die pro Jahr mindestens eine längere Urlaubsreise machen, sind 60 Jahre und älter. Kurzreisen werden von den Senioren insgesamt etwas häufiger als längere Urlaubsreisen unternommen. (Marketing Anzeigen, März 1993). - 268 - In der Zielgruppe der Mehrfachreisenden ist aber auch zu erkennen, daß sie eher älter sind. Ein besonderer Altersschwerpunkt bei den Mehrfachreisenden liegt im Bereich der 40-49 Jährigen. 51% der Mehrfachreisenden (längere Urlaubsreise) und 52% der „Vielreisenden“ entstammen dieser Personengruppe der Arrivierten und "Jungsenioren" (Marketing Anzeigen, März 1993). Feriencamps und ähnliche Organisationen sollten bei zukünftigen Planungen berücksichtigen, daß sich Einstellungsänderungen in der Bevölkerung bei der Urlaubsortswahl entscheidend bemerkbar machen können und deshalb rechtzeitig den entsprechenden qualitativen Ausbau ihrer Einrichtungen einleiten. Das könnte z. B. im Falle von Ferienparks heißen, daß daran gedacht wird, genügend vielfältige Freizeitmöglichkeiten zu bieten. Das bedeutet, daß sich im speziellen Fall des Landkreises Helmstedt vor allem die Landwirte als Flächenanbieter bzw. Einrichter betätigen könnten. Da die Reisenden die Naturnähe bzw. den ökologischen und nachhaltigen Umgang mit der Natur z. B. bei den Beherbergungseinrichtungen suchen (bzw. schätzen), sollte versucht werden, die Parks nach ökologischen Gesichtspunkten einzurichten und dabei möglichst Attraktionen zu schaffen, wie z. B. eine Verbindung zu einem "Otter-Zentrum" oder ähnlichem zu bewerkstelligen. "Sport treiben ist bei den Urlaubsreisenden eine deutlich beliebtere Freizeitbeschäftigung als beim Durchschnittsbürger. Daneben werden die für den Urlaub besonders relevanten Aktivitäten Fotografieren/Filmen sowie das abendliche Ausgehen ebenfalls häufiger ausgeübt. Unter den Einstellungen ist ein überdurchschnittliches Umwelt- und Qualitätsbewußtsein der Urlaubsreisenden hervorzuheben" (Marketing Anzeigen, März 1993). Bei Vielreisenden zeigen sich bei den verschiedenen Freizeitaktivitäten und den Einstellungen weit höhere Werte als beim Durchschnittsbürger: So treiben 61% von ihnen Sport (Bevölkerung 44%), Fotografieren und Filmen als Hobby üben über 48% aus (Bevölkerung 27%) und 84% weisen ein ausgeprägtes Umweltbewußtsein auf (Bevölkerung 69%). Beim Qualitätsbewußtsein beträgt der Anteil 82%(!) (Bevölkerung 22%) (Marketing Anzeigen, März 1993). Für den Bereich des Städtetourismus ist neben der Altersgruppe der jungen, noch in der Ausbildung befindlichen Menschen (Schüler, Studenten) vor allem die Altersgruppe der 40-60 Jährigen besonders zu begeistern. In den nächsten Jahren wird in dieser Gruppe eine relativ reisefreudige Generation nachwachsen, so daß auch mit einer Zunahme des Städtetourismus zu rechnen ist. Zudem könnten, vor allem wenn die Rezession überwunden ist, die Haushalte, die über ein gutes bis sehr gutes Einkommen verfügen, zunehmen. Doppelverdienste und Zusatzversorgungen bei vielen Rentnern und Pensionären werden die finanziellen Spielräume zudem noch erweitern (DWIF, 1993). Dieser Trend ist in den Städten des Landkreises erkannt und es wird daran gearbeitet, die Innenattraktivität der Städte durch entsprechende Umbaumaßnahmen zu erhöhen. Leider haben die Städte Helmstedt und Schöningen etwas spät mit diesem Umbau begonnen, doch wichtig ist, daß die Zeichen der Zeit erkannt sind und die Anpassung und somit der qualitative Ausbau eingeleitet wurden. In der Stadt Helmstedt könnte desweiteren an die touristische Neunutzung der leerstehenden Professorenhäuser gedacht werden. Sie gehören unmittelbar zur universitären Geschichte und vielleicht ließe sich auf dieser Schiene eine Neunutzung finden. Es bietet sich an, sie als Beherbergungsbetriebe, Seminar- und Schulungsräume (warum nicht als Außenstellen der Universitäten) aber auch als Altenwohnungen zu nutzen. Ein weiteres Beispiel für eine oben erwähnte Nutzung sind die "Edelhöfe" in der Stadt Helmstedt. Sie in ihrem äußeren Erscheinungsbild so zu erhalten wie sie sind. Dort könnte dann eine kleinsträumige Nutzung mit verschiedenen Gastronomiebetrieben, Handels-geschäften und Kunsthandwerkern, vielleicht in der betrieblichen Organisationsform eines Gewerbehauses eingerichtet werden. Ein solches Projekt könnte ein "Pendant" (hoffentlich nicht im finanziellen Bereich) zur Karutz-Markt-Passage darstellen und wäre folglich nicht nur aufgrund des historischen Aspekts eine Attraktion für die Innenstadt Helmstedts. 9.1.3 Die Einkommensverteilung - 269 - Vor allem nach der "Vereinigung" ist die Einkommensverteilung um einen "Ostaspekt" erweitert worden. Sie ist infolgedessen im Bundesvergleich noch unausgeglichener geworden. Die große Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland Ost (59%) muß sich auf den reinen Versorgungskonsum beschränken (Allensbach Institut, zitiert in Opaschowski, 1991). Die neuen Bundesländer gehören mit zu den ärmsten Gebieten der Europäischen Gemeinschaft und sind nicht umsonst bis 1999 als Ziel-1-Regionen der EU ausgewiesen worden. Bezüglich der Entwicklung der Einkommen gibt es sachgemäß mehrere verschiedene Möglichkeiten bzw. Projektionen. Steigen z. B. die oberen Einkommen, können sie die sinkenden oder nur leicht anwachsenden mittleren Einkommen bezüglich der Reiseausgaben u. U. kompensieren. Auf die Kurzurlaube wird diese Dynamik allerdings keine oder kaum nennenswerte positive oder negative Auswirkungen haben. Die Menge der Menschen, die über ein relativ kleines Einkommen verfügen, also für den Fremdenverkehr in ländlichen Räumen eine der wichtigen Zielgruppen darstellen, wird im Zuge der Wiedervereinigung erheblich zunehmen. Wenn der wirtschaftliche und soziale Wiederaufbau in den neuen Ländern gelingt, ist in den kommenden Jahren mit einer Zunahme der Bevölkerungsanteile zu rechnen, die pro Person über ein Jahreseinkommen von bis zu 50.000 DM verfügen. Das könnte sich auf dem Kurzreisemarkt deutlich bemerkbar machen. Durch die Nähe zu SachsenAnhalt könnte im Landkreis Helmstedt daran gedacht werden, diese Zielgruppe in ihren Einstellungen und Wünschen detaillierter bei den Entwicklungsplanungen zu berücksichtigen. Obwohl davon auszugehen ist, daß sich das Bild des "typischen" Urlaubers in Ostdeutschland weitgehend an sein Westpendant annähern wird, ist zur Zeit ein Mehr an Kurzreisen in Ostdeutschland zu registrieren (Marketing Anzeigen, März 1993), was aber nicht gleichzeitig bedeutet, daß es für den Kurzurlaubstourismus des Landkreises Helmstedt automatisch zu nennenswerten Steigerungen der Besucherzahlen kommen muß. In den alten Bundesländern betrug laut Lohn- und Einkommenssteuerstatistik 1986 der Anteil der Personen, die bis zu 50.000 DM im Jahr verdienen 73.6% (s.a. Tab. IX 2). Aus dieser Tabelle ist ebenfalls ersichtlich, daß der Landkreis Helmstedt in den "mittleren bis hohen" Einkommensklassen (25.000-100.000 DM) zum Erfassungszeitpunkt stets über dem Landes- als auch dem Bundesdurchschnitt lag, zwar etwas niedriger als der Landkreis Gifhorn, aber doch höher als die Landkreise Wolfenbüttel und Peine. "Spitzenreiter" war die Stadt Wolfsburg vor allem im Bereich der hohen Einkommen zwischen 50.000-100.000 und mehr DM. Aus Tab. IX 2a wird noch einmal offensichtlich, daß im Landkreis Helmstedt der Hauptteil der steuerpflichtigen Einkommen im Bereich von 40.000 bis 100.000 DM pro Jahr liegt. Qualitativ hochwertige Freizeiteinrichtungen, die nicht nur den Bewohnern sondern auch dem Tagestourismus (Wochenende, 2-5 tägige Aufenthalte) zur Nutzung zur Verfügung stehen, könnten sich aufgrund des "finanziellen Polsters" der Region wirtschaftlich rentieren. Wieviel vom eingenommenen Einkommen der Haushalte wird nun für fremdenverkehrsrelevante Ausgaben ausgegeben? Das ist insofern von Bedeutung, als man anhand dieser Zahlen abschätzen kann, welche Ansprüche und welches finanzielle Aufkommen bei den Haushalten vorliegt, um die notwendige Erholung der Familie zu gewährleisten. Ein Vierpersonenhaushalt (West) mit einem Bruttoeinkommen zwischen 3.500 und 5.150 DM pro Monat gab für den Kostenfaktor Freizeit 1992 durchschnittlich 14.2% des ausgabefähigen Einkommens aus, was einer Geldsumme von ca. 700 DM pro Vierpersonenhaushalt entspricht. Ein Vierpersonenhaushalt (Ost) gab 1992 13.5% des ausgabefähigen Einkommens für Freizeit aus. Durchschnittlich gab ein Vierpersonenhaushalt (West) mit höherem Einkommen 1232 DM monatlich für Freizeit und Erholung aus, im Osten lag diese Summe bei 650 DM pro Monat. Sowohl der West- als auch der Osthaushalt gaben ca. jede siebte Mark für "Kurzweil und Erholung" aus. Im Westen gab ein Zweipersonenhaushalt von Rentnern und Sozialhilfeempfängern mit geringem Einkommen für die Freizeit durchschnittlich 276 DM monatlich aus, im Osten waren es 261 DM. Im Zeitraum von 1965 bis 1992 sind die Freizeitausgaben aller Haushaltstypen schneller - 270 - gestiegen als das verfügbare Einkommen, was darauf hinweist, welchen Stellenwert die Erholung und die Teilnahme an fremdenverkehrsrelevanten Veranstaltungen aus der Sicht der Haushalte spielt. (Braunschweiger Zeitung, 22.12.93, Kostenfaktor Freizeit) 9.1.4 Die Freizeitentwicklung Die Urlaubsfreizeit wird in den nächsten Jahren aus verschiedenen Gründen voraussichtlich ansteigen. Wesentlich dazu beitragen könnten Arbeitszeitverkürzungen und vorzeitiger Ruhestand, wobei diese Themenbereiche zur Zeit der Strukturanalyse stark ins Wanken gerieten, da allenthalben von Arbeitszeitverlängerungen und vom Hinausschieben der Verrentung gesprochen wurde. Geht man nun davon aus, daß Arbeitszeitverkürzungen eintreten, ist projezierbar, daß sich die Zahl der Urlauber nur geringfügig erhöhen wird, während die Kurzurlaubsintensität gesteigert werden kann (Martin, 1986). Beim sich in letzter Zeit, bedingt durch die wirtschaftliche Rezession in Deutschland, deutlich abzeichnenden Kampf um die Arbeitsplätze, vor allem in der Gruppe der über 45 Jährigen, werden sich erhebliche Wirkungen im Fremdenverkehr zeigen können. "...Vertrauensverlust, Angst vor Entlassung und ein mangelhaftes Freizeitangebot..." bzw. ein nur begrenztes Freizeitangebot "...zwischen Fußball und Bier, Spielhalle und Videothek können in den nächsten Jahren zu erheblichen sozialen Spannungen und Auseinandersetzungen führen" (Opaschowski, 1991). Pro Jahr haben die Arbeitnehmer in Deutschland ca. 160 arbeitsfreie Tage, die sie mit Freizeitvergnügungen verschiedener Art füllen (Opaschowski, 1991). Diese Freizeit wird mit den verschiedensten Beschäftigungen verbracht, wobei bestimmte Sparten im Vordergrund des allgemeinen Freizeitinteresses stehen. Unter aktiver Freizeitgestaltung wird in naher Zukunft nach den Untersuchungen von Opaschowski (BAT Freizeitforschungsinstitut, 1992) der Sport und die Fitneß sowie das Heimwerken stehen. Sport wird im allgemeinen zum "Kampf gegen den inneren Schweinehund" betrieben, Sport ist Spannung, schafft Erfolgserlebnisse und soll den Frust des Arbeitsalltags besiegen. Wer Sport treibt ist in! Die gefragtesten Sportarten (Wandern, Schwimmen und Tauchen, Tennis, Radsport, Gymnastik, Spazierengehen, Golf, Jogging, Fußball, Segeln) sind mit längeren Anfahrtswegen verbunden und beginnen in der Regel dort, wo der ÖPNV aufhört. Deshalb sind im übrigen 57% der Deutschen der Meinung, daß die Nutzung von Naherholungsmöglichkeiten in der Zukunft nur mit dem Auto möglich sein wird (Opaschowski, 1992). In der EU werden pro Jahr 100 Millionen Auslandsreisen registriert. Von den Reisenden nehmen 55% den Wagen, 30% das Flugzeug, 8% die Bahn und 7% die Fähre (Kommission der EG, SEK(92) 702 endg., 1992). Dieser Trend zum Auto scheint nicht aufzuhalten zu sein und ist Zeugnis eines sich verstärkenden, auf grenzenloser Mobilität beruhenden Verhaltens der Bevölkerung. Daß diese Automassen bereits heut zu unübersehbaren "Verstopfungserscheinungen" führen und die gewünschte Mobilität im Keim ersticken können, ist erkannt und die Zukunft des Tourismus wird anders als heute aussehen. In der Natur ist der Mensch nicht mehr willkommen - generell gesehen zerstört er sie ohne jegliches Reflektionsvermögen. Deshalb kann eine zukünftige Fremdenverkehrsversion die sein, daß eine Konzentration der Touristen in Ferienclubs und künstlichen Ferienparadiesen stattfinden wird oder aber die Nutzungsregulierung in vorhandenen Freizeitgebieten dem "wilden Treiben" ein Ende setzt. Im Forschungsbericht 2001 (Opaschowski, 1992) wird davon ausgegangen, daß um das Jahr 2000 herum ein Drittel der Gesamtbevölkerung ständig irgendwo Kurzurlaub oder Wochenendfahrten unternehmen wird. - 271 - Die Reisetrends der 90er Jahre sind nicht in erster Linie von einer objektiv gewachsenen Anzahl von Reisenden bestimmt. Nicht die Reiseintensität, sondern eine neue Anspruchsqualität der Urlauber wird zur Herausforderung des Tourismus in den 90er Jahren (Opaschwoski, 1991). Welches sind die Trends im Einzelnen? 1. Trend zum Urlauberleben in intakter Landschaft; immer mehr Menschen werden sich Ziele mit intakter Umweltqualität aussuchen. 2. Trend zum Urlaubsverhalten zwischen Entspannungsbedürfnis und Unternehmenslust; Entspannen und Erleben zur selben Zeit werden in den Vordergrund des Urlaubsinteresses rücken. 3. Trend zur Individualisierung der Reiseformen; frei, flexibel und individuell lautet der Zauberspruch. Die "individualisierte Pauschalreise" wird immer mehr Anhänger finden. 4. Trend zu anspruchsvolleren Reiseangeboten, wobei das Niveau vom Einkommen abhängig ist. 5. Trend zum zweiten Zuhause; ein Komfort wie Zuhause wird nicht gewünscht sondern gefordert. 6. Trends zu sonnigen Zielen; die zentraleuropäische Lage der BRD führt dazu, daß für viele Bewohner Deutschlands ausländische Urlaubsziele näher liegen als inländische. Desweiteren macht der nach wie vor günstige Wechselkurs der DM gegenüber vielen Urlaubsländern den Urlaub im Ausland billiger als in den inländischen Fremdenverkehrsgebieten. 7. Trend zu kürzeren Reisen; dieser Trend läßt sich daraus ableiten, daß sich in den letzten Jahren ca. 75% der Bevölkerung keinen dreiwöchigen Urlaub mehr geleistet haben, was nicht an den fehlenden Möglichkeiten liegt, sondern an einer neuen Verteilung der "schönsten Tage des Lebens". Diese Neuverteilung der Urlaubstage läßt sich aus dem sozialen Strukturwandel ableiten. 8. Trend zu mobilerem Reiseverhalten; das heißt, der Urlauber möchte in derselben Zeit einfach mehr erleben. Mobilität wird zu einer eigenen Erlebnisform. 9. Trend zu spontaneren Reiseentscheidungen; man möchte sich nicht die Spontaneität als Zeichen von Lebenslust und Unabhängigkeit nehmen lassen und verreist am liebsten spontan, ohne Plan und Termindruck. 10.Trend zur Urlaubsgestaltung mit Clubatmosphäre; dieses Angebot nehmen zunehmend mehr junge Leute, Singles und Paare vor allem aus den Städten und Ballungszentren wahr. (Opaschowski, 1991). 9.1.5 Weitere Entwicklungsperspektiven und -Trends 9.1.5.1 Zielfeld Städtetourismus und Geschäftsreiseverkehr Der Städtetourismus wird als Ziel für Zweit- und Drittreisen immer beliebter (DWIF, 1993). Das heißt für den Landkreis Helmstedt, daß die Städte Helmstedt, Königslutter und Schöningen auch in den nächsten Jahren mit steigenden Besucherzahlen rechnen können, vorausgesetzt sie arbeiten ihre Attraktionen so auf, daß sie sowohl für Reisegruppen als auch für Individualisten annehmbar sind (Stichwort: Pauschalreisen, kulturelle Ereignisse, wie Rockkonzerte, Spezialausstellungen, außergewöhnliche Sportveranstaltungen wie Segel-, Ballon- und Drachenflugmeisterschaften, Motocross im Bergbaugelände u. ä.). Der Geschäftsreiseverkehr, der ja vor allem im Landkreis Helmstedt kurz nach der Grenzöffnung für eine außergewöhnliche Auslastung im Übernachtungsgewerbe sorgte, löst generell gesehen keine gesonderten Wachstumsimpulse aus, wirkt aber auf alle Fälle insgesamt stabilisierend. Laut - 272 - einer Umfrage des Magazins Wirtschaftswoche (Heft 4, 1991, zitiert in DWIF, 1993) sind 1991 6,87 Millionen Geschäftsreisende 76,5 millionenmal auf Geschäftsreise gewesen, wobei ca. zwei Drittel dieser Reisen mit Übernachtungen verbunden waren. Im Bereich des Geschäftsreiseverkehrs, insbesondere bei den Industrievertretern zeichnet sich aufgrund der verkehrlichen Situation im Straßenverkehr in letzter Zeit eine neue Verhaltensweise ab. Statt wie bisher alle Abnehmer zu besuchen, wird mehr und mehr dazu übergegangen, Verkaufs- und Informationswochenenden in repräsentativen Objekten zu organisieren und die Kunden dorthin einzuladen. Folglich ist über einen längeren Zeitraum gesehen, voraussichtlich mit einem Rückgang des Geschäftsreiseverkehrs und einer Zunahme bei den geschäftsbezogenen Übernachtungen zu rechnen. Es ergeben sich im Landkreis Helmstedt dafür diverse Möglichkeiten. Diesbezüglich sollte vor allem die Menge an z. T. leerstehenden landwirtschaftlichen (Guts)Gebäuden ins Auge gefaßt werden, wie z. B. die Burg Esbeck, Gut Büstedt, Gut Wendhausen u. ä. Objekte im Landkreis Helmstedt. 9.1.5.2 Das Zielfeld Seminare, Tagungen und Schulungen Im Bereich Tagungen, Seminare und Schulungen ist festzuhalten, daß in den letzten Jahren das Angebot weit über die Nachfrage anstieg und somit ein verstärkter Konkurrenzkampf eingesetzt hat. Da im Landkreis Helmstedt mehrere Institutionen vorhanden sind, die für solche Aktivitäten in Frage kommen, sollte vor allem darauf geachtet werden, diesen Hilfestellungen bei der überregionalen Vermarktung ihrer Angebote zu leisten und eine stabilisierende Bestandspflege zu betreiben. Neue Seminarhotels und ähnliche Einrichtungen haben nach vorheriger Abschätzung des etwaigen Kundenpotentials, vor allem für qualitätsspezifische Angebote z. B. aus den Bereichen Entsorgungstechnologien, Fremdenverkehr, Ökologische Landwirtschaft, Kunst und Kultur im Landkreis Helmstedt noch gute Ausbaumöglichkeiten. 9.1.5.3 Das Zielfeld Gesundheit Eine weiteres Zielfeld für den Tourismus im Landkreis Helmstedt stellt bei der geographischen Lage der Gesundheitssektor dar. Das steigende Gesundheitsbewußtsein der Bevölkerung ist unverkennbar. Aktive Erholung, Ausspannen, Gesundheitsvorsorge und physisches sowie mentales Training sind hier die Schlagworte. Im Landkreis gibt Helmstedt es außer Bad Helmstedt keine staatlich anerkannten Kur- oder Erholungsorte. Bad Helmstedt selbst ist ein staatlich anerkannter Erholungsort, der jedoch über keinerlei kurorientierte Pflegeeinrichtungen verfügt. In der Stadt Schöningen wurde bereits vor Jahren eine Wiederinbetriebnahme der Sole (vor allem zu medizinischen Zwecken) in Erwägung gezogen. Damals interessierte sich nach Aussagen des Vorsitzenden des Verkehrsvereins Schöningen ein Kinderarzt für ein solches Vorhaben. Es wurde jedoch als Projekt von der Stadt Schöningen aus Kostengründen abgelehnt, da die Aktivierung einer solchen Sole sehr kostenintensiv ist und es wurde ins Feld geführt, daß bestehende Kurorte mit ähnlichen Einrichtungen hoch verschuldet seien und man auf keinen Fall en Gros davon ausgehen kann, daß solche Einrichtungen auch den gewünschten Erfolg zeitigen. Zudem ist ein solches Vorhaben insgesamt sehr vielgestaltig, da für solchermaßen ausgelegte Einrichtungen auch die notwendige Infrastruktur (Beherbergung, Kultur, Gastronomie u. v. m.) im Umfeld geschaffen werden muß. Trotzdem ist die Idee, die Sole für medizinische Zwecke zu aktivieren gut, doch für einen einzelnen Investor zu riskant. Hier müßte versucht werden, ein Heilhaus einzurichten, das ein abgerundetes Betreuungs- und Pflegeprogramm für besondere Krankheitsbilder anbietet. Um solche Vorhaben zu verwirklichen, muß das Negativimage einer Bergbaustadt z. B. über entsprechende Werbemaßnahmen abgelegt und korrigiert werden. Der Bergbau und vor allem die Folgenutzung der Verbrennungseinrichtungen zur Müllverbrennung stehen dem Kurgedanken sozusagen diametral gegenüber. Da der Bergbau in dieser Region in absehbarer Zukunft auslaufen (ca. im Jahre 2011) wird und es deshalb absehbar ist, daß die Teilregion Schöningen eine neue Entwicklungsleitlinie benötigt, sollte auch über eine Version nachgedacht werden, die sich vollständig vom Bergbau und seiner - 273 - Folgenutzung gelöst darstellt. Die Ausrichtung der Stadt Schöningen auf den Kurbetrieb und einen etwaigen, damit verbundenen Aufschluß der Sole, dürfte mittlerweile zu den Akten zu legen sein, da sich die oben erwähnten Vorhaben des Bergbauunternehmens immer klarer herauskristallisieren. Da böte es sich eher an, in der Gemeinde Grasleben über ein solches Vorhaben nachzudenken, wenn die dortigen Verhältnisse dies möglich machen können. Wie bereits oben gesagt, wird der Anteil der alten Menschen zunehmen. Auch wird, zur Zeit zumindest, kein Rückgang bei den Zivilisationskrankheiten beobachtet, eher das Gegenteil ist der Fall. Es wird sogar eine Zunahme der von Zivilisationskrankheiten Betroffenen erwartet. Der Teilbereich Kuren, Pflegen und Erholen ist für einige Kommunen des Landkreises Helmstedt durchaus ein ernstzunehmendes Entwicklungsfeld. Man bedenke, daß das nächste Thermalbad z. B. erst in Salzgitter-Bad zu besuchen ist. Es kann nicht darum gehen, einen weiteren "Breitbandkurort" zu gestalten. Wenn seitens der Entscheidungsträger der Kurbereich wirklich ernsthaft ins Auge gefaßt wird, so sollte vielmehr eine bestimmte Behandlungsart und Therapie, vor allem in der Rehabilitation oder möglicherweise der Prävention von Krankheiten konzeptioniert werden. In Verbindung mit der Ärzteschaft des Landkreises ließe sich so u. U. über die Errichtung von Kurund Heilhäusern für bestimmte Zielgruppen (Orthopädie, Innere Medizin u. ä.) nachdenken. Es darf bei dem vorhandenen Imagevorsprung bestehender Einrichtungen nicht mit großen, überdimensionierten Vorgehensweisen zu viel riskiert werden. Die Rekultivierungsflächen der BKB-AG könnten in Teilbereichen für parkähnliche Anlagen genutzt werden, die an solche oben angesprochenen Heilhäuser angeschlossen werden könnten. Alleinig die Vorhaben des Unternehmens in der Entsorgung stehen einem solchen Gedanken diametral entgegen. 9.1.5.4 Das Zielfeld Natur und Landschaft Urlaub im Einklang mit Natur und Mitwelt, also der Trend zum Natur- und Landschaftserleben wird sich fortsetzen und wahrscheinlich noch verstärken. Die Erwartung, am Urlaubsort eine intakte Umwelt vorzufinden, steht an erster Stelle des Prioritätenkataloges von Urlaubern (DWIF, 1993). Der Urlauber möchte intakte Natur erleben, beobachten und sich vor allem an einer reichhaltigen Flora und Fauna erfreuen. Naturkundliche Lehrpfade bzw. Führungen und Aktionsformen (für die Älteren und Jüngeren) haben dabei eine wesentliche Unterstützungsfunktion und steigern die diesbezügliche Attraktivität des Standorts. Kulturelle Aktionen, wie sie in der Samtgemeinde NordElm vom Fremdenverkehrsverein angeboten werden (Erntefest, Mittelalterliche Tafeley u. e. m.) sind für diese Zielgruppe von Interesse, denn meist wird die traditionelle Landwirtschaft mit "Naturnähe" in Verbindung gebracht. Die nachrückenden Generationen sind wesentlich aktiver und informierter als dies noch vor zehn bis zwanzig Jahren der Fall war. Es müssen hier von der Fremdenverkehrsgemeinschaft ElmLappwald z. B., neue Erholungs- und Anspruchstendenzen der Nachfrager frühstmöglich aufgespürt und bearbeitet werden, um die daraus gewonnenen Erkenntnisse in die Anwendung vor Ort zu übertragen. Es ist in diesem Zielfeld noch ein allgemeiner Informationsbedarf bei den Anbietern zu festzustellen. 9.2 Die Bedeutung des Fremdenverkehrs in Niedersachsen Von 1988 bis 1992 stieg die Zahl der Gästeankünfte in Niedersachsen von knapp 7 Mio. auf ca. 8,7 Mio. um ca. 25% und die Zahl der Übernachtungen von 26,7 Mio. auf 32,8 Mio. um ca. 23%. Niedersachsen liegt nach offiziellen Statistiken (die bekanntermaßen lediglich Betriebe ab neun Betten erfaßt) an vierter Stelle hinter Bayern (76,6 Mio. Übernachtungen), Baden-Württemberg (40,2 Mio. Übernachtungen) und Nordrhein-Westfalen (36,2 Mio. Übernachtungen). - 274 - Die Fremdenverkehrswirtschaft gehört in Niedersachsen zu den bedeutendsten Wirtschaftszweigen. Nach amtlichen Statistiken werden in ca. 24.000 Betrieben des Hotel- und Gaststättengewerbes rd. 11.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte geführt und insgesamt ein Umsatz von 8 Mrd. DM erwirtschaftet. Der Fremdenverkehr bedeutet für die Bewohner der Haupttourismusregionen vor allem wirtschaftliche Vorteile, indem er für eine prosperierende Wirtschaftskraft und somit Arbeitsplätze und Einkommen sorgt. Außerdem trägt der Fremdenverkehr zur Erhaltung historischer Ortskerne bei und hebt die soziokulturelle regionale Identität hervor. Die Kehrseite der Medaille ist der motorisierte Individualverkehr, insbesondere an den Wochenenden und in der Ferienzeit, in denen es in den Haupttourismusgebieten zu erheblichen zusätzlichen Belastungen der Bewohner kommen kann. Neben Lärm- und Abgasbelastungen kann es infolge dessen zu erheblichen Mobilitätsbeschränkungen kommen. In vielen kleineren und kleinen Gemeinden werden zudem oftmals die ortstypischen Strukturen nachhaltig negativ beeinträchtigt. Die Kommunen können zudem relativ wenig Einfluß auf einen umweltverträglicheren Tourismus ausüben. Es obliegt (noch) nicht ihrer Zuständigkeit, besondere fremdenverkehrsrelevante Anreisemöglichkeiten anzubieten. Insgesamt verfügt das Tourismusgewerbe in Niedersachsen über einen hohen Leistungs- und Ausstattungsstandard und hat eine vergleichsweise gute Wettbewerbsposition. 9.3 Touristisch relevante Standortfaktoren des Landkreises Helmstedt Die Erholungsgebiete im Landkreis Helmstedt sind vor allem in den Bereichen Naherholung zwischen den Oberzentren Braunschweig und Magdeburg und dem Mittelzentrum Wolfsburg und dem Bereich Kurz- und Wochenendurlaub für einen größeren Bevölkerungsausschnitt in Niedersachsen aber auch über die Landesgrenzen hin attraktiv. Die großen Mischwälder des Naturparkes Elm-Lappwald (ca. 50% der Kreisfläche sind als Naturpark ausgewiesen) und die ländliche Ausprägung der Landschaft sind wertvolle Standortfaktoren. Die Fremdenverkehrsgemeinschaft Elm-Lappwald erledigt die Aufgaben der überregionalen Werbung, Koordinierung der Teilnahme an Messeveranstaltungen und Imagepflege für den Fremdenverkehrsstandort Landkreis Helmstedt. Bei den sich ändernden Einstellungen der Urlauber könnten die historisch-kulturell wertvollen Bestände im Landkreis Helmstedt noch wirksamer vermarktet werden. In der Börde und angrenzenden Teilgebieten befinden sich seit historischen Zeiten kulturelle und soziale Brennpunkte. Zeugnisse der verschiedenen Zeitalter sind z. B. der Kaiserdom und das Kaisergrab, die ehemalige Universität Helmstedt, die in Teilen noch vorhandene Bibliothek und zur ehemaligen Universität gehörende Professorenhäuser, Flucht-, Warn- und Trutzburgen des Mittelalters entlang der Schunter, Hünen- und Hügelgräber aus der Frühzeit des Menschen u. v. m.. Sie sind insgesamt als touristische Standortfaktoren hoch einzuschätzen und werden z. T. in der niedersächsischen überregionalen Werbeaktion "Straße der Romanik" touristisch vermarktet. Im übrigen führen Teilstücke der Routen 2,3,4,7 und 8 der Straße der Romanik durch den Landkreis Helmstedt. Für den Geschäfts- und Weiterbildungsbereich stehen diverse Tagungshäuser und Hotels, Pensionen u.ä. zur Verfügung. Touristische Attraktionen sind in den Bereichen Kultur, Natur und Landschaft, Wandern, Radfahren und Reiten - eben Sportarten, die ein bestimmtes Spektrum erlebnisorientierter Gäste anlocken können - vorhanden, die aber durchaus noch erweiterbar sind. Für attraktive und in Erlebnis- oder Themenparks konzentrierte Sport- und Freizeitangebote könnte der Landkreis Helmstedt bei der Nähe zur A2 und den kaufkräftigen Zentren Hannover, Braunschweig, Wolfsburg (und Magdeburg) ein durchaus attraktiver Standort sein. Über ausgedehnte Wasserflächen verfügt der Landkreis Helmstedt nicht. Große Wasserflächen werden voraussichtlich erst in ca. 30-50 Jahren zur Verfügung stehen, dann nämlich, wenn die Restlöcher der ehemaligen Bergbauflächen in den dafür vorgesehenen Teilen mit Wasser vollgelaufen sind. Da Wasser- und deren Randflächen eine ungemeine Faszination auf den Menschen ausüben, könnten vor allem die ehemaligen Bergbauflächen eine wichtige Funktion dabei übernehmen, einen wertvollen Beitrag zur Aufwertung der touristischen Standortfaktoren im Landkreis Helmstedt zu übernehmen. - 275 - 9.4 Touristische Entwicklungsorganisationen im Landkreis Helmstedt Aus den verschiedenen vorhandenen Fremdenverkehrsinitiativen und -institutionen seien hier die Fremdenverkehrsgemeinschaft Elm-Lappwald und der Verkehrsverein Nord-Elm exemplarisch hervorgehoben. Die bereits oben angeführte Arbeitsgemeinschaft "Fremdenverkehrsgemeinschaft Elm-Lappwald" (FVG E.L.) ist zur Zeit noch ein nicht eingetragener Verein und verfolgt ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige Zwecke, mit dem Ziel, den Fremdenverkehr im Bereich der Mitglieder zu fördern. Zu den Mitgliedern der Fremdenverkehrsgemeinschaft gehören kommunale Körperschaften (auch in Sachsen-Anhalt), örtliche Verkehrsvereine und ihnen gleichgestellte Einrichtungen im Elm-Lappwaldgebiet, örtliche und überörtliche Behörden sowie Wirtschafts-, Handels- und Verkehrsorganisationen, die an der Entwicklung des Fremdenverkehrs im ElmLappwaldgebiet interessiert sind. Zudem können Einzelpersonen, die den gemeinnützigen Satzungszweck unterstützen, Mitglied in der Fremdenverkehrsgemeinschaft werden. 1993 wurde eine Eintragung der Arbeitsgemeinschaft als ordentlicher Verein angestrebt. Finanziert wird die Fremdenverkehrsgemeinschaft über die Mitgliedsbeiträge. Die Landkreise übernehmen je zur Hälfte die Beitragssummen aller Mitgliedsgemeinden. Die Gemeinden und Kreise, die sich außerhalb des Naturparks Elm-Lappwald befinden, bezahlen bis auf weiteres 50% der Beitragssummen. Verkehrsvereine oder diesen gleichgestellte Vereinigungen sind wegen ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit zum Wohle des Fremdenverkehrs von der Beitragszahlung befreit. Die Eingliederung der Fremdenverkehrsgemeinschaft im Amt für Wirtschaftsförderung und Fremdenverkehr des Landkreises Helmstedt gewährt eine gute und intensive Zusammenarbeit zwischen dem öffentlichen Amt und der Fremdenverkehrsgemeinschaft, deren Geschäftsführer im Amtsbereich Fremdenverkehr tätig ist. Zu den zukünftigen Planungen ist zu sagen, daß beabsichtigt ist, den Naturpark Elm-Lappwald auf sachsen - anhaltinisches Gebiet auszuweiten. Da die Regionalen Landesraumordnungsprogramme der beiden Bundesländer entlang der Grenze unterschiedliche Schwerpunkte setzen, ist mit Interessenkonflikten bei dieser Ausweisung zu rechnen. So wurde im Landesentwicklungsprogramm für Sachsen-Anhalt keine Naturparknutzung im Anschluß an den Naturpark Elm-Lappwald vorgesehen. Eine Ausweitung des Naturparks ElmLappwald muß deshalb kritisch betrachtet werden. Da als Begrenzung des auszuweitenden Naturparks Elm-Lappwald aber die Allerniederung als natürliche geologische und geomorphologische Grenze angesehen wird, wird sich eine Ausweitung bis nach Walbeck hoffentlich ohne größere Probleme bewerkstelligen lassen. Eine Kooperation mit einem in der Entstehung befindlichen Naturpark Flechtinger Höhenzug Colbitz-Letzlinger Heide wäre insofern sinnvoll, als diese Landschaftseinheiten über Rad- und Wanderwege sowie "Themenstraßen" (anlehnend an das Beispiel Straße der Romanik vielleicht "Straße des Neolithikums") gut miteinander verbunden werden könnten. Der Flechtinger Höhenzug ist zur Zeit der Strukturanalyse als Landschaftsschutzgebiet ausgewiesen. Es ist bereits während Erstellung der Strukturanalyse offensichtlich geworden, daß sich die Interessenkonflikte zwischen Fremdenverkehr und dem Hartgesteinsabbau, der im Flechtinger Höhenzug ebenfalls eine lange Tradition hat, verschärfen. Die Entscheidungen für die Ausbeutung der Rohstoffe liegen auch in Sachsen-Anhalt bei den Bergbauämtern, die aber im Unterschied zur westlichen Variante keine Umweltverträglichkeitsprüfungen vorzunehmen haben. Es hat den Anschein, als würde oftmals zugunsten der Antragsteller entschieden und teilweise werden Genehmigungen erteilt, obwohl die Abbaufirma noch gar nicht Eigentümer des Geländes sind (Oscherslebener Volksstimme vom 20.10.93 "Einsprüche des Kreises verhallen oft ungehört"). Es ist offensichtlich, daß eine vorhergehende planerische Schwerpunktbildung der Flächennutzung solche Konflikte vermeiden helfen könnte. - 276 - Die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen hat vor allem nach ihrem Abschluß für den Fremdenverkehr auch eine positive Seite. Aufzulassende Hartsteinabbaugebiete bieten einen guten Ansatz für ökologische Nischen, auch wenn dies zunächst nicht direkt erkennbar ist. Wenn während des Abbaus bereits mit schonenden Methoden gearbeitet und eine Teilrekultivierung mit einfachen Mitteln vorgenommen wird, so ist eine spätere Nutzung für den Fremdenverkehr und die Freizeitbranche u. U. leichter. Steinbrüche weisen meist ein sehr günstiges Kleinklima auf, das für vielerlei Arten zu einem Lebensraum werden kann. Man könnte sich für einige dieser Steinbrüche eine Nutzung als Zoo vorstellen. Ehemalige, offengelassene und nicht rekultivierte oder nur teilrekultivierte Steinbrüche können bei entsprechender Gestaltung auch über eine phantastische Akustik verfügen, die eine kulturelle Nutzung nahelegen können. Die FVG E.L. ist wie oben bereits gesagt für die überregionale Werbung verantwortlich. Im letzten Jahr wurden verstärkt Pauschalprogramme ausgearbeitet und neue, nach modernen Gesichtspunkten gestaltete Übernachtungsverzeichnisse und Standortwerbebroschüren konzeptioniert. Neben fremdenverkehrsrelevanten Stellungnahmen versucht man auch, neue zielgruppenspezifische Angebote zu erstellen. Der Verkehrsverein Nord-Elm e.V. mit Sitz in Süpplingen wurde 1972 gegründet und ist eine vom zuständigen Landesverkehrsverband und der Samtgemeinde Nord-Elm anerkannte örtliche Fremdenverkehrsorganisation, die mit dem Einverständnis der Samtgemeinde als Träger der örtlichen Fremdenverkehrsarbeit auftritt. Durch seine Tätigkeit möchte der Verein zur allgemeinen öffentlichen Gesundheitspflege, zur Jugendpflege, zur Pflege der Heimatliebe und Heimatkunde beitragen, wobei er vor allem die landschaftlichen und kulturellen Besonderheiten fördert. Folgende Maßnahmen werden dabei vorwiegend vorgenommen: - Schaffung, Erhalt und Pflege von Einrichtungen, die der Erholung und Gesundheit dienen; - Mitarbeit bei der Schaffung und ständigen Verbesserung der dem Fremdenverkehr Einrichtungen, dienenden - Betreuung der Urlaubsgäste, - Vermittlung der Kulturgüter durch unentgeltliche Unterrichtung über die Stätten der Wissenschaft, Kunst und der allgemeinen Sehenswürdigkeiten; - Förderung der Kenntnisse über die nähere Umgebung und Pflege der Heimatliebe, - Ausbau des ReiseFremdenverkehrswerbung. und Erholungsgedankens mittels einer planvollen Vor allem in den letzten Jahren wurden unter der Mithilfe des Verkehrsverein Nord-Elm verstärkt Aktionen und Initiativen für ein am ländlichen Leben interessiertes Publikum angeboten. Dazu zählen u. a. das alljährlich veranstaltete Drescher- und Schnitterfest sowie die "Mittelalterliche Tafeley". Im Februar 1994 wurde auf Initiative des Fremdenverkehrsvereins in Zusammenarbeit mit der Burg Warberg e. V. ein neuer Weinberg, die "Warberger Schiefe Lage" angelegt und den Bewohnern der Samtgemeinde Nord-Elm dazugehörige "Anteilscheine" angeboten, die z. B. folgende Rechte beinhalten: - Vorschlag der Wahlkönigin; - Teilnahme an der Wahl; - Zins"ausschüttung" in Form eines Schoppen Weins. Auch mit dem Gedanken einer Wiederverwendung des Nordschachts als Museumsbergwerk spielt der Geschäftsführer des Verkehrsvereins Nord-Elm, was aber seitens des ansässigen - 277 - Bergbauunternehmens mit dem Hinweis auf bergbautechnische Probleme (Grundwasseranstieg im Schacht) bisher nicht positiv beschieden werden konnte. Durch überregionale Werbekampagnen und gute Kontakte zur Fremdenverkehrsgemeinschaft ElmLappwald werden die touristischen Attraktionen der Samtgemeinde Nord-Elm über die regionalen Grenzen hinaus bekannt gemacht. Was die Übernachtungszahlen betrifft, hat die Samtgemeinde Nord-Elm nach einem kurzzeitigen Tief in der Saison 1991/92 1992/93 wieder einen positiven Trend aufzuweisen (Amt für Wirtschaftsförderung und Fremdenverkehr, 1993). Dies ist nicht zuletzt auf die vielfältigen und originellen Ideen des Verkehrsvereins Nord-Elm zurückzuführen. Weitere Überlegungen zu einer übergeordneten Organisationsstruktur im niedersächsischen Fremdenverkehr Die bestehenden Fremdenverkehrsverbände in Niedersachsen haben in erster Linie einen regionalen Bezug. So ist die FVG E.L. Mitglied in dem Harzer Fremdenverkehrsverband. Die FVG selbst zählt auch Fremdenverkehrsorte in Sachsen-Anhalt zu ihren Mitgliedern. Seit Ende 1993 haben sich die bestehenden Fremdenverkehrsverbände zu einem Landesfremdenverkehrsverband zusammengeschlossen, um mit einer gemeinsamen Interessenvertretung wichtige Rahmenbedingungen, die vom Bund, vom Land, von Verkehrsträgern, Wirtschaftsverbänden u. e. m. gesetzt werden, besser beeinflussen zu können. Außerdem soll auf dieser Ebene auch die Durchführung einzelner Maßnahmen von landesweiter Bedeutung bearbeitet werden (Organisation des niedersächsischen Auftritts bei der „Internationalen Tourismusbörse Berlin“ z. B.). Der Landesfremdenverkehrsverband ist in der Form einer Arbeitsgemeinschaft mit Mitgliederversammlung und Vorstand organisiert; er verfügt nicht über eigenes Personal und eine eigene Geschäftsstelle. Die Geschäfte werden nebenamtlich vom Geschäftsführer des Harzer Verkehrsverbandes und seiner Geschäftsstelle in Goslar geführt. Um eine Stärkung der Fremdenverkehrsorganisation auf Landesebene zu erreichen, sollte eine auf Landesebene angesiedelte Fremdenverkehrsorganisation allen anderen untergeordneten Organisationen die Möglichkeit zur Mitbestimmung in fremdenverkehrsrelevanten (inklusive wirtschaftlichen und ertragsorientierten) Fragen bieten. Zu diesem Zweck soll der "Landesfremdenverkehrsverband Niedersachsen-Bremen e. V. neu in der Form eines eingetragenen Vereins gebildet werden. Als Mitglieder sollen neben den vier bestehenden Regionalverbänden vor allem großräumig arbeitende und landesübergreifende Tourismusverbände aufgenommen werden. Um die wirtschaftlichen Aktivitäten abzudecken, soll eine GmbH gegründet werden, deren Gesellschafter Mitglieder des Landesfremden-verkehrsverbandes neu, aber auch andere sein können. Zu den wirtschaftlichen Aktivitäten sollen spezielle landesweite Marketingaufgaben wie die touristische Imagewerbung Niedersachsens, die EXPO 2000, touristische Fachmessen, wie ITB und Grüne Woche, die Hotelklassifizierung, regionsübergreifende Veranstaltungen und Projekte bis hin zu touristischen Fachveranstaltungen wie TIN-Seminaren gehören. Es ist dafür ein maßgeblicher Einfluß des Landesfremdenverkehrsverbandes auf die GmbH sicherzustellen. Die Deckung der Geschäfts- und Personalkosten soll durch Mitgliedsbeiträge, eine institutionelle Förderung vom Land Niedersachsen und Projektfinanzierungen erreicht werden. 9.5 Die soziökonomische Bedeutung des Fremdenverkehrs im Landkreis Helmstedt In den in Tab. IX 3 aufgeführten Kommunen ist der Landkreis Helmstedt mit ca. 60% des bundesdeutschen Durchschnitts bei den Übernachtungen je Einwohner im vorderen Bereich angesiedelt. Berücksichtigt man den Landkreis Goslar, ohne den der Großraum Braunschweig lediglich 30% des Bundesgesamtschnitts erreicht, so ergibt sich für den Großraum Braunschweig mit dem Landkreis Goslar ein Wert von ca. 500% über dem Bundesgesamtschnitt(!). - 278 - Aus dieser Tabelle sind auch die zum Teil stark angestiegenen Besucherzahlen nach der Grenzöffnung 1989 zu erkennen, die dem ansässigen Fremdenverkehrsgewerbe ordentliche Umsätze gebracht haben dürften. Im Landkreis Helmstedt gab es 1993 27 Hotels (EZ und DZ von 35,- bis 230,- DM), 6 Hotels Garni (EZ und DZ von 35,- bis 115,- DM), 16 Gasthof- und Pensionszimmervermietungen (EZ und DZ von 35,- bis 110,- DM) und 33 Privatzimmervermietungen (EZ und DZ von 25,- bis 98,- DM). Desweiteren gibt es 29 Ferienwohnungs- und Hausvermietungen mit 115 Wohneinheiten, wobei der Ferienpark Räbke in der Samtgemeinde Nord-Elm den größten Vermieter mit 30 Einheiten darstellt (von 30,- bis 200,- DM). Im Oktober 1993 standen nach einer Erhebung nach TIN (Touristischen Informationsnorm) zum Gebietsunterkunftsverzeichnis des Landkreises Helmstedt ca. 1560 Gästebetten (im gewerblichen Bereich) zur Verfügung, wovon über 75% im Hotelbereich angeboten wurden. Im Campingbereich bestanden ca. 700 Standplatzangebote und im Ferienpark Räbke wurden ca. 300 Caravanstellplätzen, 30 Holzfertighäuser mit Ferienwohnungen (Ferienpark Räbke) sowie 100 Mobilheimplätze angeboten. Der Landkreis Helmstedt verfügt über ca. 0.8% der Bettenkapazitäten in Niedersachsen und steht im interregionalen Vergleich (s.a. Tab. IX 4) relativ gut. Hinter den Städten Braunschweig, Wolfsburg und Salzgitter und dem Landkreis Goslar, liegt, was die angebotenen Betten je Betrieb und den Auslastungsgrad der Betten bezogen auf das Bettenangebot angeht, direkt der Landkreis Helmstedt. Die geringe Verweildauer im Landkreis Helmstedt könnte durch entsprechende Gegensteuerung beim Angebot und einer neuen Zielgruppenorientierung durchaus verbessert werden. Einmal abgesehen vom Landkreis Goslar als traditionellem Harzurlaubsgebiet ist im Landkreis Gifhorn neben der Stadt Salzgitter (Salzgitter Bad als Kurort) die höchste durchschnittliche Verweildauer bezogen auf die Übernachtungen je Ankunft im Braunschweiger Raum zu verzeichnen. Die Zentren des Fremdenverkehrs im Landkreis Helmstedt stellen die Städte Königslutter und Helmstedt dar. Die Stadt Königslutter und die Gemeinde Lehre verfügten mit 47,2% bzw. 44,8% über eine über dem Bundesschnitt (alte Länder 1991) von 43,2% liegende Bettenauslastung. Auch in der Stadt Schöningen sind diverse attraktive Übernachtungs- und Aufenthaltsmöglichkeiten für verschiedene Besuchergruppen vorhanden, die jedoch nicht so gut angenommen werden, denn die Bettenauslastung lag 1991 bei 38,2% und damit sogar unter dem Landkreisschnitt von 43,6% (NIW, 1991). Unter arbeitswirtschaftlichen Gesichtspunkten nimmt der Fremdenverkehr im Landkreis Helmstedt eine untergeordnete Rolle ein. Von 22.823 gemeldeten SVP-Beschäftigten arbeiten direkt im Fremdenverkehr im Landkreis Helmstedt lediglich 1.1 % (!). Im niedersächsischen Schnitt sind es knapp 2.5% und im Bundesschnitt sind es 2.3%, die im Gast- und Beherbergungsgewerbe arbeiten (s.a. Tab. IX 5). Der Fremdenverkehr nimmt im Landkreis Helmstedt im Vergleich zu dem produzierenden Gewerbe eine untergeordnete Stellung ein. Es ist aber nicht von der Hand zu weisen, daß der Fremdenverkehr im Landkreis Helmstedt ein zusätzliches, ergänzendes Standbein im bestehenden Wirtschaftsgefüge darstellt. Von 1985 bis 1991 sind die Übernachtungszahlen in Niedersachsen um fast 38%, im Bundesgebiet lediglich um 25% gestiegen. Besonders profitiert haben die niedersächsischen Großstädte und ihr Umland ((Geschäfts- und Städtetourismus), Regionalbericht NIW, 1992). Es ist in Niedersachsen aber auch eine sonst nicht bekannte Diskrepanz zwischen amtlicher Statistik und den tatsächlichen Übernachtungszahlen zu benennen. Laut Untersuchungen des DWIF, in denen es darum gehen sollte, die amtlich nicht erfaßten Quartiere, wie gewerbliche Betriebe mit weniger als 9 Betten, Privatquartiere und Ferienwohnungen zu erfassen, wird der Anteil der statistisch nicht erfaßten Übernachtungen auf 133% der erfaßten Übernachtungen geschätzt. Im Landkreis Helmstedt liegen die von der Fremdenverkehrsgemeinschaft Elm-Lappwald zur Verfügung gestellten Zahlen für Übernachtungen um ca. 170% über denen der amtlichen Statistik. Diese Tatsache sollte bei den Bewertungen der Übernachtungszahlen im Landkreis Helmstedt berücksichtigt werden, denn sie - 279 - machen deutlich, daß die touristischen Attraktionen des Landkreises Helmstedt vom Kunden angenommen werden. In Tab. IX 4 wird eine Übersicht über die Anzahl der Beherbergungsbetriebe gegeben. Es wird daraus ersichtlich, daß der Landkreis Helmstedt 1991 bezüglich der Bettenkapazität über dem Bundesschnitt und bei der Bettenauslastung sogar über dem niedersächsischen Schnitt lag. Im regionalen Vergleich der Landkreise erreicht der Landkreis Helmstedt 1991 in Bezug auf die Bettenauslastung gute Werte. Betrachtet man die Verweildauer im Landkreis Helmstedt wird deutlich, daß er zu den Kurzaufenthaltsgebieten gehört. Bei der Beurteilung von touristischen Entwicklungsmöglichkeiten für die Region Helmstedt ist eine kritische Einschätzung künftiger Nachfrage- und Konkurrenzverhältnisse vorzunehmen, was im Rahmen der Strukturanalyse nicht in der erforderlichen Tiefe geleistet werden konnte und was demnach durch eine spezielle Fremdenverkehrsanalyse geklärt werden sollte. Die zum Zeitpunkt der Erstellung der Analyse erreichte Reiseintensität läßt die Vermutung zu, daß in Zukunft noch weitere Nachfragesteigerungen zu erwarten sind. Einschränkungen könnten sich im Zuge der Rezession 1992/93 ergeben wenn in weiten Bereichen des Urlauberspektrums z.B. die monatliche Fixkostenbelastungen (z.B. Wohnungsmieten, Schuldendienste) zunimmt. Dies könnte unter den Anbietern im Fremdenverkehrsgewerbe zu einem gesteigerten Konkurrenzdruck um die geringeren Gästezahlen führen und damit die Möglichkeiten einschränken, den Fremdenverkehr als Entwicklungsinstrument für die Region zu nutzen. Doch neue Hotelbauten entlang der A2, sowohl im Landkreis Helmstedt, als auch in den angrenzenden sachsen-anhaltinischen Landkreisen, beweisen, daß die Entwicklungs-achse A2, zumindest was den Geschäftsreiseverkehr angeht, besonders attraktiv ist. Bei der Attraktivität eines Fremdenverkehrsstandortes spielt der Landschaftsbezug eine bedeutende Rolle. Hier sind im Landkreis Helmstedt die großen Waldflächen des Elm, des Lappwalds, des Dorm und Eitz zu nennen. Leider gibt es nur sehr wenig Wasser in Form von Flüssen oder Seen. Aus diesem Grund sollte ehemalige Steinbrüche oder Tagebauflächen so rekultiviert werden, daß parkähnliche Landschaften entstehen, die dann wiederum bei entsprechender verkehrlicher Anbindung als Standortfaktor für das touristische Gewerbe Bedeutung erlangen können. Im Ausflugs- und Naherholungsverkehr spielt der attraktive Landschaftsbezug eine nicht so bedeutende Rolle, wohl aber die Schaffung attraktiver Freizeitangebote für die aus den jeweils ca. 50 km entfernten Agglomerationen Braunschweig und Magdeburg stammenden potentiellen Naherholungsgäste. Allein die Besucherfrequentierung von gehobenen Freizeiteinrichtungen z. B. in Wolfsburg oder Besuchermagneten im Reitlingstal läßt erahnen, daß auch die weniger spektakuläre Landschaft des Landkreises durch Schaffung von ökologisch eingerichteten Themenparks z.B. aufgewertet werden könnte. 9.5.1 Unmittelbar und mittelbar vom Fremdenverkehr ausgehende wirtschaftliche Wirkungen Die touristische Nachfrage bewirkt Umsätze in einer Vielzahl von Unternehmen, wobei viele diese lediglich als Zusatzgeschäfte verbuchen. Die Umsätze, die auf touristische Nachfrage zurückgehen, werden nicht getrennt erfaßt; daher ist es auch nicht möglich, das Umsatzvolumen im Fremdenverkehr angebotsseitig nachzuweisen. Die Bestimmung der fremdenverkehrsbedingten Umsätze kann deshalb einigermaßen zuverlässig nur durch die Ermittlung von Ausgaben für touristische Leistungen auf der Konsumseite erfolgen. Neben den dazu stattfindenden Erhebungsverfahren zum Ausgabeverhalten und Einberechnungen der Daten zum Nachfrageumfang müssen Wertschöpfungsberechnungen vorgenommen werden, um Aussagen über wirtschaftliche Wirkungen vornehmen zu können. Die Ermittlung der Ausgaben werden nach Zeiner und Harrer (1992) in folgenden Kategorien vorgenommen: - Unterkunft, - Verpflegung, - 280 - - Einkäufe, - Sport- und Freizeit, - lokaler Transport, - sonstige Dienstleistungen, - Tagesausgaben pro Kopf. Je differenzierter die Ausgabenbereiche erfaßt werden, desto besser lassen sich die Wertschöpfungsquoten nach Wirtschaftszweigen, -gruppen und -klassen bei der Berechnung der Einkommensbildung ermitteln. Aus der Wertschöpfung und der Einkommensbildung lassen sich dann erste Schlüsse bei der Beschäftigungswirkung ziehen. Doch die vom Fremdenverkehr ausgehenden wirtschaftlichen Wirkungen sollten immer auch im Zusammenhang mit der gesamten Wirtschaftssituation beurteilt werden. Hier ist es wichtig, zu erforschen, inwiefern der Fremdenverkehr zu einer Verbesserung der ökonomischen Verhältnisse führen kann oder ob eine Stärkung anderer Wirtschaftszweige nicht vorteilhafter wäre 9.5.2 Die durch den Fremdenverkehr bewirkten Umsätze Bei den Ausgaben pro Tag im Fremdenverkehr liegt eine umfangreiche Bandbreite von Ausgabemöglichkeiten vor, die nach Art und Qualität des Angebots und der Inanspruchnahme von einfachen bis zu qualitativ hochwertigen Unterkunftsformen variieren. Bei der vom Deutschen Wirtschaftswissenschaftlichen Institut für Fremdenverkehr an der Universität München (DWIF, 1992) durchgeführten Studie zur Ausgabenstruktur im übernachtenden Fremdenverkehr in der Bundesrepublik Deutschland (ohne Beitrittsgebiet) wird bezüglich der Unterkunftsart zwischen gewerblichen Betrieben (Hotels, Hotels garni, Gasthöfe, Pensionen) und privaten Unterkünften (Privatquartiere, Ferienwohnungen) unterschieden. Campingplätze und Jugendherbergen sind dabei nicht berücksichtigt worden. Aus Tab. IX 6 und IX 7 kann die detaillierte Aufgliederung der Ausgabenstruktur nach einzelnen Betriebsarten entnommen werden. Es handelt sich dabei um die durchschnittlichen Ausgaben pro Erholungsurlauber. Aus den Tabellen IX 8 und IX 9 ist ersichtlich, daß eine starke Abhängigkeit zwischen Ausgabenhöhe bzw. -struktur und der gewählten Unterkunftsart besteht. Es gibt aber noch weitere Einflußfaktoren, die zu einer regional unterschiedlichen Ausgabensituation führen können, als da wären: - unterschiedliche Preisstellung in vergleichbaren Beherbungs- und Verpflegungsbetrieben, - Struktur des vergleichbaren Fremdenverkehrsgebieten, Beherbergungsangebots in den verschiedenen - Ausstattung der Fremdenverkehrsgebiete mit Einrichtungen, auf welche die sonstigen Ausgaben der Fremden entfallen (z.B. Einkauf, Unterhaltung), - Sozialstruktur und Altersstruktur der Nachfrager, - Aufenthaltsdauer, - Reisegruppengröße, - Reisemotiv. (Zeiner, Harrer, 1992). Es zeigen sich wie oben angedeutet deutliche Abhängigkeiten zwischen der ausgewählten Betriebsart und den Ausgaben pro Übernachtung. Die Ausgaben für Verpflegung lehnen sich dabei - 281 - in den meisten Fällen an die Größen für Ausgaben für die Unterkunft an. Das heißt, sind die Übernachtungskosten hoch, sind es auch die Verpflegungskosten. Da für das Gebiet des Elm-Lappwaldes keine solche Erhebung durchgeführt wurde, sind Daten für den Harz und die Lüneburger Heide ausgewählt worden, wobei die Werte für den Elm-Lappwald eher unter denen für die Lüneburger Heide liegen dürften. Die in der nachfolgenden Tabelle dargestellten Werte stellen die Ausgaben aller Übernachtungsgäste dar, ganz gleich welches Reisemotiv vorlag. Die Werte wurden auf der Grundlage der Tagesausgaben nach Betriebsarten und Reisemotiv mit entsprechender Gewichtung ermittelt. Ausgabenart Fremdenverkehrsgebiet Unterkunft VerEinpflegung käufe Harzvorland-ElmLappwald 52,50 45,00 08,10 Sport und Freizeit 01,20 Harz HannoverHildesheimBraunschweig 50,80 43,40 08,30 01,30 00,90 11,10 115,80 77,10 55,50 19,00 01,40 01,30 02,70 157,00 Südniedersachsen 51,10 41,10 07,80 01,70 01,00 03,60 106,30 InsgeLokaler Sonstige samt Transport Dienstleistungen 00,70 13,50 121,00 Quelle: Zeiner, Harrer, DWIF, München, 1992). Tabelle: Tagesausgaben pro Übernachtungsgast in gewerblichen Quartieren nach Reisegebieten und Ausgabenart in DM (ohne Campingplätze, Jugendherbergen, Ferienwohnungen, Privat-quartieren) aufgegliedert nach Ausgabenart Die unterschiedlichen Endergebnisse sind u.a. auf folgende Sachverhalte zurückzuführen: - die Zusammensetzung des Fremdenverkehrsangebotes, - Ausstattung mit nicht fremdenverkehrsspezifischen Einrichtungen, - Ausgaben für sonstige Dienstleistungen hängen mit dem Anteil der Kurnachfrage im jeweiligen Fremdenverkehrsgebiet zusammen, - verschiedene zugrundeliegende Reisemotive. Aus dem Vergleich der obigen Tabelle mit Tabelle IX 10 ist ersichtlich, daß der Wert des Reisegebiets Harzvorland-Elm-Lappwald ca. 150% über dem Wert für Niedersachsen und ca. 106% über dem Bundesschnitt liegt, der absolut 113.10 DM beträgt. Der Wert für Niedersachsen weist noch einmal darauf hin, daß Niedersachsen ein günstiges Urlaubsland ist und schon aus diesen Gründen für verschiedene Zielgruppen attraktiv ist. 9.5.3 Die Ausflugsnachfrage Weit umfangreicher als der Fremdenverkehr mit Übernachtung ist mit Sicherheit auch im Bereich des Landkreises Helmstedt der Tagesbesucherverkehr, vor allem an den Wochenenden. Als Ausflug wird jedes Verlassen des Wohnumfeldes bzw. Ortsteiles bezeichnet, das - nicht als Fahrt von oder zur Schule, zum Arbeitsplatz, zur Berufsbildung vorgenommen wird, - 282 - - nicht als Einkaufsfahrt zur Deckung des täglichen Bedarfs dient und - nicht einer gewissen Routine oder Regelmäßigkeit unterliegt (Zeiner et al 1993). In den alten Bundesländern unternehmen ca. 90% der Einwohner jährlich zumindest einen Ausflug. Jeder Ausflügler tätigt derzeit im Durchschnitt etwa 22 Ausflüge pro Jahr. Die Stadtbevölkerung zeigt, wie zu erwarten war, eine höhere Ausflugsintensität als die ländliche Bevölkerung (Zeiner et al, 1993). An jedem Wochenende drängen sich die Menschen aus den Ballungsgebieten hinaus "aufs Land". Die Straßenbelastung ist an den Wochenenden größer als an Wochentagen (s.a. Kap. Verkehr). Wie aus Tabelle IX 11 ersichtlich, wird ein Großteil der Urlaube mit dem Verkehrsmittel PKW vorgenommen. Flugzeugreisen sind vor allem im Geschäftsverkehr üblich. Es liegt nahe, daß der PKW insbesondere für den Ausflugsverkehr in höherem Maße in Anspruch genommen wird. Koch (1986) gibt eine Anzahl von 80% Pkw-Benutzung für Ausflugsverkehr an. Diese Zahl dürfte inzwischen noch höher liegen. Das DWIF (1987) hat mit 83,4% den Pkw als Hauptverkehrsmittel für den Ausflugsverkehr angegeben. Busse (6,2%) und Bahnen (3,1%) spielen eine untergeordnete Rolle. Der Landkreis Helmstedt liegt im näheren Bereich zweier großer Städte und liegt bezüglich der Distanz zu diesen (ca. 50 km) exakt in dem Bereich, in den rein statistisch jeder zweite Ausflug stattfindet. Nur jeder achte Besucher legt einen längeren Weg von ca. 150 km pro Einzelstrecke zurück. Die Bereitschaft, einen längeren Anfahrtsweg in Kauf zu nehmen, korreliert mit der Attraktivität des Ausflugsziels (DWIF, 1987). Bevorzugte Ausflugsgebiete des Landkreises Helmstedt sind: - im Lappwald das Bad Helmstedt bei Helmstedt, - im Elm der Tetzelstein und das Reitlingstal bei Königslutter, - der Heeseberg in der Samtgemeinde Jerxheim und - die Velpker Schweiz in der Samtgemeinde Velpke. Nach Untersuchungen des DWIF zum Ausflugsverkehr (1987) nehmen etwas weniger als die Hälfte der Ausflügler gastronomische Leistungen (z B. Café, Restaurant) in Anspruch. Bei den Ausflugsaktivitäten sind Spazierengehen (ländlicher Raum) und Bummeln (innerstädtisch) als besondere Aktivitäten anzusehen. 1987 standen kulturelle Aktivitäten (z. B. Besichtigung von Denkmälern und Schlössern, Museumsbesuche u. ä.) noch vor den sportlichen Aktivitäten. Das könnte sich geändert haben, da heute viele Besucher z. B. mit ihren Mountainbikes Erkundungstouren in die Umgebung unternehmen und das sportliche mit dem kulturellen verbinden. Der sportliche Trend ist ja auch von Opaschowski bereits angeführt worden (s. o.). Durchschnittlich bringen 5 Tagesausflüge den Umsatz einer Übernachtung. Um detaillierte Kenntnisse zu erhalten, ist es notwendig, genauere Untersuchungen vorzunehmen. So kann z.B. die Parkplatzbelegung in den bevorzugten Ausflugsgebieten oder Verkehrszählungen vorgenommen werden. Nach Schätzungen des Geschäftsführers der Fremdenverkehrsgemeinschaft Elm-Lappwald e.V. kamen 1987 ca. 1 Million Tagesbesucher in den Landkreis Helmstedt. Das hieße, daß bei einer durchschnittlichen Tagesausgabe von 121 DM pro Übernachtungsgast ca. 24 Millionen DM durch den Ausflugsverkehr im Landkreis Helmstedt umgesetzt werden. Im Ausflugsverkehr beeinflussen wie auch beim Urlaubsreiseverkehr Art und Qualität des Angebots Struktur und Höhe der Ausgaben im Ausflugszielgebiet. So ergeben sich zum Teil sehr unterschiedliche Werte bei der Ausgabenhöhe je Ausflug. Ausflugsgebiete, die lediglich Wandermöglichkeiten bieten, werden also vergleichsweise niedrigere Umsätze je Ausflugsbesucher erreichen als z. B. städtische Gebiete mit qualitativ hochwertiger Fremdenverkehrsinfrastruktur und Freizeiteinrichtungen, die Tennis, Minigolf, Reiten, Erlebnisparks u.v.m. anbieten. Sie werden sachgemäß wesentlich höhere Ausgabenhöhen erreichen. - 283 - 9.5.4 Der Tagesgeschäftsverkehr Im Gegensatz zum Ausflugsverkehr konzentrieren sich die Tagesgeschäftsreisen auf die Werktage. Nach Erkenntnissen des DWIF (1986) konzentrierten sich die Tagesgeschäftsreisen in den alten Bundesländern auf die Werktage Montag bis Freitag. Knapp 50% der Tagesgeschäftsreisen fanden ihre Begründung in allgemeinen Geschäftsbesuchen. 16% hatten als Reisemotiv eine Weiterbildung bzw. Schulung, knapp 13% eine Tagung oder einen Kongreß. Bei einer geschätzten Auslastung der 1993 erfaßten Hotelbetten von 30 % durch den Geschäftsreiseverkehr und einer niedrig geschätzten Tagesausgabe von 121,- DM, ergibt sich ein durch den Geschäftsreiseverkehr erzeugtes Umsatzvolumen von ca. 10 Mio. DM im Landkreis Helmstedt. Unter der Annahme, daß die inoffiziellen Statistiken um ca. 130 % über den amtlichen Statistiken liegen, ergibt sich ein Gesamtumsatz von ca. 12 Mio. DM durch den Geschäftsreiseverkehr. Die durchschnittlichen Tagesausgaben (in DM) lagen in den alten Bundesländern 1987 pro Kopf bei: - allgemeiner Geschäftsbesuch - Schulung, Weiterbildung - Messe, Ausstellung - Tagung, Kongreß 53,40 41,00 89,70 39,60 - sonstiges 43,10. Der Durchschnitt ergibt 44,74 DM. Der Aspekt der „Zwischenstops“ Hier spielen vor allem die Motels und Campingplätze entlang der Autobahn eine wesentliche Rolle. Campingurlauber, hier vor allem Wohnmobiltouristen, Busreisende, Urlauber mit Pkw, Radfahrer und Rundreisende stellen das Besucherpotential im Bereich der Zwischenstops dar. Die sich darauf begründenden Motels entlang der Autobahn stellen sich sehr genau auf diese Besuchergruppe ein, denn für solche Besucher spielt die Ausstattung der Zimmer eine sehr wesentliche Rolle. Im Landkreis Helmstedt sind z. B. für die zukünftig zunehmende Anzahl der Wohnmobile keine Standmöglichkeiten vorhanden. Hier könnten sich die Kommunen entlang der Autobahn bzw. Der wichtigen Bundesstraßen , insbesondere die Städte noch engagieren. In Deutschland gibt es viele Kommunen mit ähnlicher Infrastrukturausstattung und Landschaftsqualität, die die Zielgruppe „Wohnmobilisten“ durch attraktiv gestaltete und plazierte Standplätze bereist erfolgreich erschlossen haben Bei den prognostizierten Zunahmen der Reiseintensität wird auch die Zahl der Zwischenstops sachgemäß zunehmen. Die A2 ist dabei eine der wesentlichen Transitachsen, vor allem in die sich in Richtung Osten entwickelnden Reisegebiete und natürlich die Hauptstadt Berlin. 9.6 Die Wertschöpfung aus der touristischen Nachfrage Die Wertschöpfung gibt an, wieviel Prozent des Nettoumsatzes (ohne MwSt.) unmittelbar zu Löhnen, Einkommen oder Gewinnen werden. Sie gibt an, wie einkommenswirksam die Fremdenverkehrsumsätze sind. In Tabelle IX 12 sind die im Gutachten des DWIF verwendeten Wertschöpfungsquoten angegeben. Danach liegt die Wertschöpfungsquote im Übernachtungsgewerbe zwischen 35-50%. Koch (1986) gibt eine Wertschöpfung von 80% für Privatquartiere an, da dort weniger Vorleistungen anderer Wirtschaftsbereiche, aber auch Abschreibungen weniger ins Gewicht fallen. Für Ferienwohnungen gibt er einen entsprechend - 284 - geringeren Wert an, da sie wenig oder gar keinen Personaleinsatz bedingen und der Abschreibungsund Fremdkapitalzinsaufwand dort die Gewinne schmälert. Auch im Bereich des Einzelhandels gibt es unterschiedliche Wertschöpfungsquoten. Zeiner und Harrer (1992) geben für den Einzelhandel 18%, Koch (1986) 12-14% an. Ohne alle Ausgabenbereiche im Einzelnen zu untersuchen, kann beim Erholungsreiseverkehr, soweit es die Umsätze am Aufenthaltsort betrifft, etwa von einer Wertschöpfung von 40% ausgegangen werden (Zeiner, Harrer 1992). Für den Landkreis Helmstedt wird pro Übernachtung und Tag ein Wert von ca. 120 DM angegeben. Das heißt, daß 48 DM zum unmittelbaren Einkommensbeitrag werden. Bei gerundeten 260.000 Übernachtungen im Jahr 1991 wären das dann 12.480.000 DM pro Jahr, die zum unmittelbaren Einkommensbeitrag werden. Legt man die inoffiziellen Übernachtungszahlen (ca. 170% mehr) zugrunde und nimmt einen Tagesausgabendurchschnitt von 81 DM für alle Betriebsarten, so ergibt sich bei einer Wertschöpfung von ca. 40% ein Betrag von ca. 14.3 Millionen DM unmittelbarem Einkommens- und Gewinnanteil pro Jahr. Beim Ausflugsverkehr ist die Wertschöpfungsquote ähnlich hoch wie beim Fremdenverkehr mit Übernachtung. Das Schwergewicht liegt hier beim Verpflegungssektor mit einer Wertschöpfung zwischen 35-40%. Zeiner und Harrer (1992) geben für diesen Bereich 37% an. Über die Ausgaben von Tagesausfluggästen im Landkreis Helmstedt gibt es keine Angaben, legt man jedoch die oben aufgeführten Zahlen zugrunde, so käme zu der oben angegebenen Summe noch einmal ein Betrag von ca. 10 Millionen DM durch den Ausflugsverkehr hinzu. Insgesamt würde sich der jährliche Einkommens- und Gewinnanteil der im Fremdenverkehr anfallenden Umsätze auf ca. 25 Millionen DM belaufen. 9.7 Beschäftigung Insgesamt ist in Niedersachsen die Personalsituation im Hotel- und Gaststättengewerbe relativ angespannt, da es nach wie vor an Fach- und erfahrenen Hilfskräften fehlt. In der Gastronomie herrscht vor allem im Bereich der Köche/Köchinnen ein großer Mangel. Die Ausbildungsbetriebe des Mittelstandes klagen zudem über Nachwuchssorgen, da die Ausbildungsqualität und die der Ausbildung folgenden Aufstiegschancen im Gewerbe als relativ gering eingeschätzt werden. Zudem ist der finanzielle Unterschied zwischen gelernten und ungelernten Kräften relativ gering, was im Ausbildungsbereich zu einer relativ hohen Aussteiger- und Abbrecherquote führt. Die Abbrecherquote lag bei den Köchen am höchsten, gefolgt von den Restaurantfachleuten. Die relativ hohen Fluktuationsraten ergeben sich auch durch ungünstige Arbeitszeiten und ein qualitativ niedriges Ausbildungsniveau (Niedersächsischer Landtag, Drucksache 12/6002, 19.4.1994). Der Landkreis Helmstedt hatte von 1980-1991 im Vergleich zum Bundesschnitt einen doppelt so hohen Beschäftigtenzuwachs im Gast- und Beherbergungsgewerbe zu verzeichnen, was zum Großteil auch auf die Grenzöffnung zurückzuführen sein dürfte. Es sollte jedoch nicht übersehen werden, daß gerade in diesem Wirtschaftszweig saisonale Beschäftigungs-verhältnisse vorherrschen und daß ein Großteil der Beschäftigten nicht sozialversicher-ungspflichtig arbeitet und qualitativ geringwertige Tätigkeiten ausführt, was ein vergleichsweise sehr geringes Lohnniveau nach sich zieht. Da es im Landkreis keine Kureinrichtungen gibt, die bekanntermaßen eines erheblichen Anteils gut ausgebildeter Pflege- und Versorgungskräfte bedürfen, ist auch kein höheres fremdenverkehrsrelevantes Lohnniveau zu erwarten. 9.7.1 Vollzeitbeschäftigte in Beherbungsbetrieben je Bett Im Landkreis Helmstedt gibt es im Durchschnitt 0.4 Beschäftigte je Bett. Das ist im Vergleich zum Land Niedersachsen mit 0.27 Beschäftigten je Bett und 0.31 Beschäftigte pro Bett im Bundesschnitt sehr gut. Diese Durchschnittswerte sind noch weiter differenzierbar. Wenn z.B. ein hoher - 285 - Qualitätsstandard des Übernachtungsangebots erreicht wird bzw. Durchschnittszahl auf über einen Beschäftigten pro Bett klettern können. vorliegt, wird diese 9.7.2 Nebenerwerbsbeschäftigte Nebenerwerbsbeschäftigte im Fremdenverkehr sind solche, die ihr hauptsächliches Einkommen aus einer Beschäftigung in anderen Wirtschaftszweigen erzielen. Der Fremdenverkehr bietet ihnen lediglich ein Zusatzeinkommen. Im Beherbergungsbereich trifft dies vor allem beim Angebot von Privatbetten, Beherbergung auf dem Bauernhof (inkl. Camping) und in vielen Fällen bei Ferienwohnungen zu. Auch für Fremdenheime bzw. Pensionen mit einem begrenztem Betten- bzw. Zimmerangebot wird es häufig zutreffen, daß sie im Nebenerwerb geführt werden. Nehmen wir z.B. an, daß ein Privatvermieter im Landkreis Helmstedt bei einer Belegung von z.B. 5 Zimmern an 120 Tagen im Jahr einen Umsatz von 37.680 DM hätte. Bei einer angesetzten Wertschöpfung von 50% wäre das ein Einkommen von 18.840 DM pro Jahr, was ein monatliches Einkommen von 1570 DM im Durchschnitt bedeuten würde. Der Nebenerwerb im Fremdenverkehrsbereich bezieht sich aber nicht nur auf den Beherbergungsaspekt sondern auch auf verschiedene andere Dienstleistungsbereiche, wie z.B. Fremdenführungen, Kutschfahrten, Durchführung von Festen und Auftritten von regionalen Künstlern u.ä.. Sie sind vergleichsweise zwar zu vernachlässigen, bieten aber, was die Vielfalt von zusätzlichen Einkommensmöglichkeiten angeht, wertvolle Ansätze für Einkommenskombinationen z. B. für Rentner und Rentnerinnen (Stichwort: Fremdenführung) oder aber auch für Landwirte (Stichwort: Kutschfahrten). Auch die vielen Teilzeitkräfte (Aushilfsdienste im Küchen- und Zimmerdienst) sind häufig als Nebenerwerbskräfte zu bezeichnen, da es sich für diese Personen oft um einen "Zuerwerb" für den Haushalt handelt (Koch, 1986). 9.8 Ferienzentren Nachdem auch in Deutschland immer häufiger der Gedanke an die Neugründung von Ferienzentren geäußert wird, soll hier näher auf diese neue Art des (Kurz)-Urlaubs eingegangen werden. Die Ferienzentren der zweiten Generation haben sich vor allem in den Niederlanden als kommerziell sehr erfolgreich erwiesen. Auch in Deutschland gründet die Firma "Center Parks" neue Einrichtungen. So ist gerade aktuell in der Lüneburger Heide ein solches Projekt gerichtlich durch einen Vergleich zum Weiterbau freigegeben worden, nachdem sich drei Anlieger bis dato erfolgreich gegen die Neueinrichtung eines solchen Parks gewehrt hatten. Diese haben erst im Januar 1994 ihre Widersprüche zurückgezogen, so daß nun der Errichtung eines Ferienzentrums der zweiten Generation durch das "Center Parks"- Unternehmen nichts mehr im Wege steht. Die Investitionssumme beläuft sich auf ca. 200 Millionen DM (Braunschweiger Zeitung v. 19.1.1994, Niedersachsen, Groß-Ferienpark für die Lüneburger Heide). 1992 gab es in Deutschland nach Strasdas erst vier Großprojekte, die man als Ferienzentren der 2. Generation bezeichnen kann. Bei allen wurden bereits begründete Ferienzentren erweitert, indem in diesen z. B. ein zentrales Erlebnisbad errichtet und die Beherbergungskapazitäten erweitert wurden. Insgesamt 24 Projekte befanden sich in einem konkreteren Planungsstadium. Im Gegensatz zu den niederländischen Ferienzentren sind die deutschen Projekte konzeptionell halboffen ausgelegt. Das heißt, sie haben einen stärkeren Austausch mit der Umgebung (Einkaufen, Wandern, Besichtigungen) als das bei Center Parks der Fall ist. Die geplanten Gesamtinvestitionssummen bewegen sich insgesamt zwischen 60 Millionen und 1 Milliarde DM. Der Flächenbedarf bei den in den alten Bundesländern in der Planung relativ weit vorangeschrittenen Projekten schwanken zwischen 30 und 120 ha. Bei der zusätzlichen Anlage von - 286 - Golfplätzen oder künstlichen Seen steigt der Flächenbedarf sehr stark an. Nicht umsonst müssen für solche Anlagen UVP-Gutachten erstellt werden. In Anbetracht der Tatsache, daß solche Projekte zukunftsweisend sind und man auch im Landkreis Helmstedt aufgrund der guten verkehrlichen Lage an der A 2 und der Nähe zu den Landeshauptstädten Hannover und Magdeburg ebenfalls an die Schaffung eines solchen Projektes denken könnte, soll hier eine detaillierte Bearbeitung dieses Themas stattfinden. 9.8.1 Was sind Ferienzentren der 2. Generation? Ferienzentren der 2. Generation sind nach Strasdas (1992) nach einem einheitlichen Plan gestaltete und (meist) von einer einzigen Gesellschaft betriebene touristische Großprojekte mit einem kompakten Angebot an Unterkünften (typischerweise in Bungalowform), Freizeitinfrastruktur, Versorgungseinrichtungen und weiteren Dienstleistungen. Angestrebt wird ein vielfältiges und qualitativ hochwertiges Angebot, das diesen Anlagen funktional einen mehr oder weniger autarken Charakter verleiht. Kennzeichnend ist ein überdachter Zentralkomplex - mit einem Erlebnisbad als wichtigster Attraktion, - der einen ganzjährigen, wetterunabhängigen Betrieb gewährleistet. Das Angebot richtet sich vor allem an Kurzurlauber. Die Bettenzahlen bewegen sich in der Regel zwischen 2.000 bis 4.000 Stück. In Deutschland handelt es sich bei den Betreibern meist um extra für dieses Projekt gegründete Gesellschaften mit geringem Eigenkapital, die lediglich die Standortsicherung und Konzeptentwicklung betreiben und hernach versuchen, für das durchgeplante Projekt Investoren zu finden. Bei den Ferienprojekten dieser Art ist desweiteren feststellbar, daß es eine Tendenz zur Beteiligung internationalen Kapitals gibt. So gehört das ursprünglich niederländische Unternehmen Center Parks zu 99,5% dem britischen Brauereiunternehmen Scottish Newcastle Breweries. Bei den anderen großen Betreibergesellschaften ist das im Prinzip nicht anders. Und damit wird gleich zu Beginn eine Gefahr für die Standortgemeinde deutlich. Es ist bei dieser Sachlage in Bezug auf den Landkreis nicht anders als das bei vielen dort existierenden Unternehmen bereits der Fall ist - sie sind außengesteuert und der Einfluß auf die unternehmerischen Entscheidungen durch die Kommunen ist als sehr gering zu bewerten. Außerdem fließen die Gewinne, wie bereits oben gesagt, in eine andere Region und werden aller Voraussicht nach nicht wieder in der Region reinvestiert. 9.8.2 Betriebskonzepte der Ferienparks Es gibt zwischen den verschiedenen Betreiberfirmen von Ferienzentren wesentliche konzeptionelle Unterschiede. Die "Gran- Dorado - Ferienzentren" und "Sun-Parks" unter-scheiden sich in Bezug auf die Standortwahl, die Größe und Gestaltung der Anlagen und die Einbeziehung der Tagesgäste von den Center-Parks. Bezüglich der Standortwahl ist zu sagen, daß die erstgenannten im Gegensatz zu den Center-Parks touristisch attraktive Gebiete suchen. Desweiteren haben sie nicht einen so hohen Flächenverbrauch wie die Center Parks und haben kleinere Zentraleinrichtungen, die weniger kostenaufwendig sind. Außerdem sind sie meist für den Autoverkehr geöffnet bzw. lassen den Autoverkehr bei An- und Abreise zu. Zudem entfällt meistens der bei den Center Parks vorhandene Wassersportsee und die Häuser entsprechen mehr den regional typischen Bauweisen. Die Häuser in den Center Parks sind dagegen immer gleich und entsprechen seltenst den regional typischen Bauweisen. Center Parks wollen den Besucher möglichst umfassend und vollständig auf dem Gelände halten, damit auch alle Nebenausgaben in die eigene Kasse fließen. In Center Parks wird der Tagesbesucherverkehr meist völlig ausgeschlossen bzw. wird der Tagesbesuch mit Eintrittsgeldern belegt und dadurch eine Begrenzung erreicht. Bei Sun Parks ist der Tagesbesuchsverkehr eine Einnahmequelle, die jedoch auch auf die Dauergastbelegung - 287 - abgestimmt werden muß, damit es in den Zentraleinrichtungen nicht zu Überbelegungen und somit Streßerscheinungen bei den Gästen kommt. Zusammenfassend unterscheidet Strasdas (1992) zwei Typen von Betriebskonzepten: a) innenorientiertes Betriebskonzept (Center Parks) b) außenorientiertes oder halboffenes Betriebskonzept (Gran Dorado und Sun Parks). Das innenorientierte Betriebskonzept kennzeichnet sich durch: - Tagesgäste werden begrenzt oder gar nicht zugelassen, - hohe Freiraumattraktivität der Anlage (viel Grünanteil, keine Autos), - aufwendig präsentiertes Konsumangebot, - geringe Attraktivität der Umgebung, - geringes, unattraktives Konsumangebot in der Standortgemeinde. Innenorientierte Konzepte bedürfen einer Mindestauslastung von 85-90%(!). Die Hauptanteile im Gesamtumsatz liegen bei der Vermietung (50%). Das außenorientierte Konzept läßt sich folgendermaßen charakterisieren: - offener für Tagesgäste, - geringe Freiraumattraktivität, - vielfältiges Konsumangebot, aber kleinere Zentralkomplexe, - hohe touristische Attraktivität der Umgebung, - Konsumangebote in der Standortgemeinde sind teilweise hochwertig und vielfältig. Außenorientierte Konzepte bedürfen einer Mindestauslastung zwischen 65-75%, wobei auch hier die Hauptanteile im Gesamtumsatz aus der Vermietung herrühren. 9.8.3 Freizeitangebote der Ferienparks Das Freizeitangebot von Center Parks besteht aus drei wesentlichen Elementen: - qualitativ hochwertigen Ferienwohnungen, überwiegend in Bungalowform, wobei es sich meist um helle Flachdachbauten aus Fertigteilen handelt, die mit Wohnflächen zwischen 30-100m2 ausgestattet sind; die Wohnungen sind komfortabel eingerichtet und da die Besucher ca. drei- bis viereinhalb Stunden pro Tag Fernsehen, gibt es ein eigenes Center-Park-Video-Programm, wobei Werbezeiten teuer verkauft werden; neben den Bungalows gibt es in den neuen Center Parks auch Appartements für zwei Personen in einem eigenen Center-Park-Hotel; - einem breit gefächerten Freizeit- und Konsumangebot mit dem "Subtropischen Schwimmparadies" als zentraler Attraktion, wobei großer Wert auf die Illusion einer subtropischen Strandatmosphäre gelegt wird; zudem gibt es in den angeschlossenen Saunabereichen viele Anwendungen, die den Thermal-Erlebnisbädern entlehnt sind; in den angeschlossenen Sportanlagen werden vielfältigste Aktionsmöglichkeiten angeboten; es gibt zudem Musikveranstaltungen und Shows, die aber nicht zum Kernprogramm gehören sondern eher zusätzliche Angebote darstellen; die in den Restaurants angebotenen Speisen werden in großen Zantraleinrichtungen hergestellt und dann an die "Satelliten" verteilt; - 288 - - "Natur" und damit "Landschaft" als wichtiges Gestaltungselement der Anlagen; damit wird Bezug genommen auf eines der wichtigsten Reisemotive der Urlauber; das Management der Center Parks sucht am liebsten Ländereien, wo sie in die sogenannte "unberührte Natur" hineinbauen können, was aber insofern zu relativieren ist, als gerne Landstücke mit Kiefernforsten (denn diese sind auch im Winter grün) oder ehemalige, bereits rekultivierte Bodenabbaugebiete ausgewählt werden; es ist nicht von der Hand zu weisen, daß bei der Einrichtung der Center Parks viel unternommen wird, um das Gelände vom optischen Eindruck her durch Neupflanzungen und Neuanlagen von Kleingewässern aufzuwerten; die Parkplätze sind am Eingang konzentriert und das Befahren der Anlage wird untersagt, so daß das Gelände für Spazierengehen und Fahrradfahren freigehalten wird. Center Parks gehen von der Konzeption her so vor, daß sie Gebiete suchen, die ansonsten touristisch weniger attraktiv sind. Wichtig ist vor allem, daß sie außerhalb der Ballungsgebiete liegen müssen, so daß der Kunde merkt, daß er "draußen" ist. Außerdem ist es so leichter, den Urlauber vor Ort zu halten und die Einnahmen nicht mit anderen teilen zu müssen. 9.8.4 Zielgruppen Zielgruppen der Center Parks sind: - Familien mit Kindern, - Senioren, - Gruppen junger Erwachsener ohne Kinder, - Kongresse und Betriebsfeste. Nach einschlägigen Untersuchungen (zit. i. Strasdas, 1992) sind ca. 70% der Besucher Familien mit Kindern, 10% Senioren über 63 Jahre und ca. 20% junge Erwachsene ohne Kinder. Bezüglich der Zielgruppe Kongresse, Betriebsfeste u. ä. wird in den letzten Jahren eine ständige Umsatzsteigerung verzeichnet. Es wird davon ausgegangen, daß die Besucher der Center Parks zu den mittleren bis höheren Einkommensklassen der städtischen Ballungsgebiete gehören, wobei im übrigen Anfahrtszeiten zwischen 2 bis 3 Stunden in Kauf genommen werden. 9.8.5 Standorttypen und -präferenzen Neben der Art des Konzeptes gibt es nach Strasdas (1992) bestimmte Standortfaktoren, die für die Ferienprojekte dieser Art von Bedeutung sind: - Erreichbarkeit, - naturräumliche Lage (Makrostandort) - naturräumliche Beschaffenheit (Mikrostandort), - regionale Wirtschaftsstruktur, - Verfügbarkeit von Flächen, - politische Verhältnisse. Die Anlagen müssen in einem Entfernungsradius von höchstenfalls 2-3 Stunden liegen und zudem pro Zentrum in diesem Einzugsbereich ca. 3-4 Millionen Menschen aufweisen. Es gibt bei den verschiedenen Konzeptversionen unterschiedliche Bevorzugungen im Bereich der naturräumlichen Lage zu verzeichnen. Bei Center Parks z. B. solle eine Mischung von Wald zu Freifläche von 70:30 - 289 - vorliegen, wobei die Forstbestände von geringem wirtschaftlichem Wert und das Grundstück möglichst eben sein sollten. Es werden eindeutig schwächer bis durchschnittlich strukturierte Standorte bevorzugt, aber sie sollten im Einzugsbereich von Ballungsgebieten mit hoher Kaufkraft liegen. Flächen sollten natürlich in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen und sich möglichst in Besitz der Gemeinden befinden. Eine vorherige Ausweisung als Feriengebiet in den Flächennutzungs-plänen erscheint von Vorteil. Wie auch in der produzierenden Wirtschaft spielt das politische Umfeld eine wesentliche Rolle. Bei zu starken negativen Äußerungen wird sich seitens der Investoren gerne auf einen anderen Standort verlagert. Der typische Standort sieht nach Stradas (1992) folgendermaßen aus: - periphere bis isolierte Lage im Verhältnis zu Ortschaften, - ökologisch "teilweise wertvoll" bis "wertvoll", - ländliche bis kleinstädtische Siedlungsstruktur, teilweise landwirtschaftlich geprägt, aber stärker dienstleistungsorientiert, - wirtschaftlich "strukturschwach" bis "durchschnittlich" (mittlere Wirtschaftskraft), - mäßig bis stark entwickelte traditionelle Fremdenverkehrsstruktur. 9.8.6 Ökologische Auswirkungen von Ferienzentren Sie lassen sich nach Strasdas (1992) in systemimanente und standortabhängige Auswirkungen unterteilen. Zu den systemimanenten gehören: - Flächenverbrauch und -versiegelung, - Ressourcenverbrauch, - Abwasser- und Abfallaufkommen. Zu den standortabhängigen gehören: - Beeinträchtigung/Zerstörung von Vegetation und Fauna, - Störung des Landschaftsbildes, - Verkehrsbelastungen. Im Durchschnitt liegt die Flächenversiegelung bei den von Strasdas (1992) untersuchten Anlagen bei 10 ha, ohne Flächen für die externe Infrastruktur und die Seen und Teiche. Neue Anlagen benötigen zudem immer zusätzliche F