Strukturanalyse des Landkreises Helmstedt

Transcription

Strukturanalyse des Landkreises Helmstedt
I
Strukturanalyse Landkreis Helmstedt
im Auftrag des Landkreises Helmstedt 1992-1994
Band 1:
Textfassung
Herausgeber:
Landkreis Helmstedt
Südertor 6
38350 Helmstedt
( 0 5 3 51 ) 121-0
Verfasser:
Diplom-Sozialökonom Klaus Kunz und Diplom-Geograph Jörg
Pohl unter Mitarbeit von Annette Litzenberg und Karin Pape
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die des Nachdrucks, der fotomechanischen oder tontechnischen Wiedergabe und der Übersetzung. Ohne
schriftliche Zustimmung des Landkreises Helmstedt ist es auch nicht gestattet, aus diesem urheberrechtlich geschützten Werk einzelne Textabschnitte,
Zeichnungen oder Bilder mittels aller Verfahren wie Speicherung, und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder Platten und andere
Medien zu verbreiten und zu vervielfältigen. Ausgenommen sind die im § 53 UrhG genannten Sonderfälle.
I
II
Vorwort des Herausgebers
Die vorliegende „Strukturanalyse Landkreis Helmstedt“ ist im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme des Arbeitsamtes Helmstedt in zweijähriger Arbeit entstanden.
Die beiden Autoren, Diplom - Sozialökonom Klaus Kunz und Diplom - Geograph Jörg Pohl
wurden bei ihrer Tätigkeit von Annette Litzenberg und Karin Pape unterstützt und vom Amt für
Wirtschaftsförderung, Fremdenverkehr und Statistik des Landkreises betreut.
Die entscheidende Herausforderung an das Team war, einerseits die Vergangenheit des Landkreises
aufzuarbeiten, dabei grundlegende Strukturen erkennbar zu machen, aber andererseits auch die
Phase nach der Grenzöffnung kritisch zu begleiten und nach Möglichkeit eine Vorausschau der
weiteren Entwicklung zu betreiben. Dabei sollte es nicht nur um eine Deskription von vergangenen
und aktuellen Entwicklungen gehen, sondern auf Basis ihrer weitreichenden Kenntnisse über
soziale und wirtschaftliche Zusammenhänge, über einzelne Vorgänge und über das Zusammenspiel
der Kräfte im Landkreis Helmstedt und darüber hinaus sollten die Autoren auch Defizite und daraus
abgeleitet Handlungsmöglichkeiten für den Landkreis Helmstedt aufzeigen.
Hilfreich war bei der Erstellung der Analyse, daß der Landkreis Helmstedt auch zur
Lenkungsgruppe der bereits ein Jahr zuvor veröffentlichten Analysen des Niedersächsischen
Instituts für Wirtschaftsforschung ( NIW ) und der ISA Consult Hamburg zählten, was einen
fruchtbaren Dialog und Informationsaustausch ermöglichte.
Alle Analysen zusammen stellen den Landkreis Helmstedt in seiner ganzen Vielfalt , aber auch mit
all seinen Strukturproblemen , deren Ursachen zeitlich zum Teil sehr weit zurückliegen, dar. Ein
Kernproblem des Landkreises ist seine doppelte Abhängigkeit vom Bergbau (Braunkohle) und vom
Straßenfahrzeugbau (Automobilproduktion in Wolfsburg). Daneben brachte der Wegfall der
Zonengrenze dem Landkreis nicht nur Chancen und neue, gute Nachbarn als Partner, sondern
zugleich auch eine Zunahme der Standortkonkurrenz an der Nahtstelle zweier Bundesländer,
verstärkt durch ein erhebliches Förderungsgefälle zugunsten des Landes Sachsen - Anhalt.
Die „Strukturanalyse Landkreis Helmstedt“ greift in zwei Bänden diese Problematik auf:
Band 1, die Textfassung, hat als Schwerpunkte u. a. eine Darstellung der wirtschaftlichen Gesamtsituation des Landkreises und dabei unter Auswertung aller zugänglichen Daten, Presseveröffentlichungen und sonstigen Materialien eine genaue Betrachtung des Automobilbaues in
Wolfsburg. Wichtige Inhalte sind ferner die Befragung zur Wirtschaftsförderung im Landkreis und
eine Befragung von Politik und Verwaltung im Gebiet der DEUREGIO Ostfalen e.V., dem
grenzübergreifend wirkenden Verein, dem neben dem Landkreis Helmstedt auch der Börde- und
Ohrekreis aus Sachsen - Anhalt angehören.
Band 2 bietet schließlich eine Zusammenstellung aller Daten, Statistiken und Übersichten, die zur
Anfertigung des Gesamtwerkes erforderlich waren.
Der Dank gilt allen Institutionen, Verwaltungen und Personen, die das Zustandekommen der
Strukturanalyse durch Anregungen, Gespräche und/oder die Bereitstellung von Daten, Informationen oder sonstigem Material ermöglichten.
Obwohl die Zeit sehr schnellebig ist und das Manuskript bereits im Sommer 1994 abgeschlossen
wurde, enthält die Analyse viele Hinweise, die dem interessierten Leser als Handreichung, auch
über aktuelle Entscheidungen hinaus, weiterhelfen können.
III
Zu den aktuellen Entwicklungen zählt, daß inzwischen Teile des Landkreises als Ziel - 2 - Gebiet
der Europäischen Union ( EU ) anerkannt wurden und auch Aufnahme in die Gemeinschaftsinitiative Rechar, eine Initiative für alle Kohlestandorte in der EU, fanden. Diese Aufnahme
ist nicht zuletzt den Analysten zu verdanken, die im Rahmen ihrer Tätigkeiten diese
Fördermöglichkeiten für den Landkreis Helmstedt erarbeiteten. Für den Landkreis Helmstedt bietet
das die Chance, mit den Fördermitteln der EU und unter Berücksichtigung der Ergebnisse der
unterschiedlichen Analysen, ganz pragmatisch eine Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen
Rahmenbedingungen im Landkreis herzustellen.
gez. Reilemann
( Landrat )
gez. Kilian
( Oberkreisdirektor )
-1-
Band I:
Strukturanalyse
1.
1.1
1.1.1
1.1.2
1.2
1.2.1
1.2.2
1.3.
1.3.1
1.3.2
1.3.3
1.3.4
1.4
Der Landkreis Helmstedt
Die geographische Abgrenzung des Landkreises
Flächengröße und angrenzende Gebiete
Zentrale Orte und zentralörtliche Zuweisungen
Der Naturraum
Die Vegetation
Klima
Ein geschichtlicher Abriß des Landkreises Helmstedt
Kaiser Lothar von Süpplingenburg
Salz und Kohle
Die Academia Julia
Die (ehemalige) Universitätsbibliothek zu Helmstedt
Ein Abriß der politischen und territorialen Entwicklung des
Landkreises Helmstedt
Der Landkreis und die Gebietsreform 1972-1974
Die Grenze und ihre Wirkung auf den Landkreis Helmstedt
Die Gründe für eine Zonenrandförderung
Die verschiedenen Zonenrandförderprogramme
Zonenrandförderung nach der ROG
Zonenrandförderung nach dem Zonerandfördergesetz
Zonenrandförderung nach der GRW
Die ehemalige Zonenrandförderung im Beihilferecht der EG
Die Zonenrandförderung in der Kritik
Förderoptionen des Zonenrandes
Aktuelle wirtschaftliche Rahmenbedingungen im ehemaligen
Zonenrandgebiet
1.5
1.5.1
1.5.2
1.5.2.1
1.5.2.2
1.5.2.3
1.5.2.4
1.5.3
1.5.4
1.5.5
Seite
11
11
11
11
12
15
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24
25
25
25
26
26
29
29
2.
Die Bundesrepublik vor der demographischen Wende
Bevölkerungsrelevante Vorgänge u.a. im Landkreis Helmstedt
31
33
3.
3.1
3.1.1
3.1.2
3.1.2.1
3.1.2.2
3.1.3
44
3.1.4.
3.1.5
3.1.5.1
3.1.5.2
3.1.5.3
3.1.6
Wirtschaftliche Entwicklung im Landkreis Helmstedt
Wirtschaftsstruktur und Strukturwandel
Einleitung und Untersuchungsmethoden
Historischer Rückblick der Wirtschaftsentwicklung
Bewertung und Konsequenzen bisheriger Wirtschaftsförderung
Zukünftige Förderprioritäten
Entwicklungsverlauf der Arbeitstätten und der Industriedichte
35
35
35
36
41
43
Entwicklungsverlauf der Bruttowertschöpfung
Wirtschaftsstruktur im Landkreis Helmstedt
Sachgüterproduktion und Dienstleistungsbereiche im Detail
Automobilzulieferverflechtungen
Die BKB AG und das Braunkohlerestaufkommen
Unternehmensorientierter Dienstleistungsbereich
Ansätze einer neuen Marktorientierung für die DTA
Eigenständigkeit ansässiger Unternehmen
Technischer Fortschritt und Landkreisentwicklung
Stadtumlandentwicklung von Helmstedt
Grenzöffnung - wirtschaftliche Entwicklung und Strukturwandel im
Wirtschaftsraum Landkreis Helmstedt
Handel und Handwerk
Ökonomische Indikatoren
Zusammenfassung
46
50
53
59
62
66
68
70
72
73
3.1.7
3.1.7.1
3.1.7.2
3.1.8
3.1.9
3.1.10
75
78
80
81
-1-
-2-
3.1.11
3.2
Szenario
Ursachen, regionale Auswirkungen der wirtschaflichen Krise und
Perspektiven der VW AG, unter Einbeziehung der Automobilzulieferer
3.2.1
Einleitung
3.2.2
Personalabbauplanungen
3.2.3
Wertschöpfung der VW AG
3.2.4
Golf Parallelproduktion und Standortpräferenz
3.2.5
Marktperspektiven und Qualitätsprobleme
Marktanteile in den USA
3.2.6
Rentabilitätsproblematik
3.2.7
Betriebsrats- und Gewerkschaftspolitik
3.2.8
Managerqualitäten
3.2.9
Automobilzulieferer am Anfang des (erzwungenen) Anpassungsprozesses
3.2.10
Lean production - Anspruch und Wirklichkeit
3.2.11
Flächennutzung für die Automobilindustrie ?
3.2.11.1 Beurteilung und Konsequenzen
3.2.11.2 Alternativlösungsansatz
3.2.11.3 Prioritätensetzung an die kommunale Gewerbeflächenplanung
3.2.11.4 Überregionale Handlungsempfehlungen
3.2.11.5 Arbeitsplatzbeschaffung durch ein Projekt „Industriepark”
3.2.11.5.1 Positive Betrachtung
3.2.11.5.2 Negative Betrachtung
3.2.11.5.3 Beurteilung unter strukturpolitischen Gesichtspunkten
3.2.12
Zusammenfassung
3.2.13
Szenarien
3.3
Arbeitsmarkt
3.3.1
Pendler
3.3.1.1
Einleitung
3.3.1.2
Definition
3.3.1.3
Auspendler
Berufsauspendlerorientierungen
3.3.1.4
Einpendler
3.3.1.5
Interkommunale Pendlerverflechtungen
3.3.1.6
Entfernungsdistanzen
3.3.1.7
Ökonomische Ursachen
3.3.1.8
Ost-West-Verkehr und Handlungsansätze
3.3.1.9
Zusammenfassung
3.3.1.10 Szenario
3.3.2
Arbeitsangebot
3.3.2.1
Gesamtbeschäftigtenentwicklung
3.3.2.2
Erwerbsbeteiligung
3.3.2.3
Bildungsangebot
3.3.3
Erwerbslosenentwicklung
3.3.3.1
Einleitung
3.3.3.2
Strukturen des Arbeitslosenbestandes
3.3.3.3
Unterschiedliche Aspekte der Arbeitslosenstatistik
3.3.3.4
Ausmaß und Entwicklung der Arbeitslosigkeit
Längerfristiger Entwicklungsverlauf
3.3.3.5
Arbeitsmarktauswirkungen der Grenzöffnung
3.3.3.6
Arbeitsbeschaffungs- und berufliche Fortbildungsmaßnahmen
3.3.3.7
Dynamik der Arbeitsplatzentwicklung
3.3.3.8
Regionale Arbeitslosigkeit unter Berücksichtigung konjunktureller und
85
85
85
87
98
100
103
109
110
120
122
131
139
144
151
154
155
159
159
159
160
160
165
168
169
169
169
170
170
171
171
173
174
175
176
179
179
180
180
181
183
185
185
186
187
190
192
194
197
198
-3-
3.3.3.9
3.3.3.10
3.3.3.10.1
3.3.3.10.2
4.
4.1
4.2
4.3
4.4
4.5
4.6
4.7
4.8
5.
5.1
5.2
5.2.1
5.2.2
5.2.3
5.2.4
5.3
5.3.1
5.3.2
5.4
5.5
6.
6.1
6.2
6.2.1
6.2.2
6.2.3
6.3
6.4
6.5
6.6
6.7
6.8
6.8.1
6.8.2
6.8.3
7.
7.1
7.2
7.2.1
7.2.2
7.2.3
7.2.4
7.2.5
7.2.6
7.3
struktureller Aspekte
Handlungsansätze
Szenario:
Dauerarbeitslosigkeit!
Alternativszenario: Zukünftige Arbeitszeitgestaltung
200
205
206
206
207
Ein Exkurs in die Selbstverwaltungsgarantie der Kommunen und
die Auswirkungen der aktuellen kommunalen Finanzsituation
Die kommunale Finanzsituation des Landkreises Helmstedt
Steueraufkommen und -einnahmen
Die Gewerbesteuerhebesätze
Die Gewerbesteueraufbringungskraft
Der Gemeindeanteil an der Einkommenssteuer
Die Steuereinnahmekraft
Die Ausgabensituation
Der Schuldenstand
208
209
210
211
211
211
211
212
213
Die Flächennutzung im Landkreis Helmstedt
Einleitung
Die tatsächliche Flächennutzung im regionalen Vergleich und unter
Berücksichtigung bestimmter Flächennutzungskategorien
Gebäude- und Freiflächen
Betriebsflächen
Erholungsflächen
Verkehrsflächen
Die ökologisch relevanten Flächennutzungen im Landkreis
Landwirtschafts- und Waldflächen
Wasserflächen
Flächen anderer Nutzung
Die geplante Nutzung der Bodenflächen
215
215
215
215
216
216
217
217
217
218
219
219
Die Gewerbeflächensituation im Landkreis Helmstedt
220
Die Gewerbeflächensituation im regionalen Überblick
220
Die Gewerbeflächen im Landkreis Helmstedt
220
Größen und Verfügbarkeiten der (geplanten) Gewerbegebiete im
Landkreis Helmstedt
221
Die Situation im Einzelnen
221
Exemplarische Darstellung d. Bandbreite einzelner Gewerbeflächenmerkmale 223
Flächen der BKB
224
Der VW-Flächenbedarf
224
Grundsteuern und Gewerbesteuern
225
Preise für Gewerbeflächen
226
Gewerbeflächenmanagement
226
Gewerbliche Brachflächen
228
Weitere Hinderungsgründe für die Wiedernutzung von gewerblichen
Brachflächen
230
Die Brachflächen im Landkreis Helmstedt
230
Vorschläge für ein Instrumentarium zur Wiedernutzbarmachung von
gewerblichen Brachflächen
231
Verkehr
Mobilität
Das Straßennetz des Landkreises
Die Autobahnen
Das Verkehrsmengen und -aufkommen auf der A 2
Die Bundesstraßen im Kreisgebiet
Weitere wichtige Umgehungsstraßen im Landkreis Helmstedt
Regional bedeutsame Landesstraßen
Kreisübergreifende Straßenverbindungen in Richtung Sachsen-Anhalt
Der ÖPNV
232
232
233
233
235
236
237
237
237
239
-4-
7.3.1
7.3.2
241
7.4
7.4.1
7.4.2
7.4.3
7.5
7.6
7.7
7.7.1
7.7.2
7.8
8.
8.1
8.2
8.2.1
8.2.2
8.3
8.4
8.5
8.6
8.7
8.8
8.8.1
8.8.2
8.9
8.10
8.10.1
8.10.2
8.10.3
8.10.4
8.11
8.12
8.12.1
8.12.2
8.12.3
9.
9.1
9.1.1
9.1.2
9.1.3
9.1.4
9.1.5
9.1.5.1
9.1.5.2
9.1.5.3
9.1.5.4
9.2
9.3
9.4
9.5
Die Busverbindungen im Landkreis Helmstedt
Die Möglichkeiten, von der Schiene auf den Bus umzusteigen
240
Der Schienenverkehr
Der ökologisch-ökonomische Aspekt des Schienenverkehrs
Die Anbindung des Hauptbahnhofes Helmstedt an einige ausgesuchte
wichtige überregionale Zentren
Die DB-Problemstrecke 312
Die Finanzierung des ÖPNV
Der schienengebundene Güterverkehr
Der Schiffsverkehr
Das Wasserstraßenprojekt 17 von Hannover nach Berlin
Die ökologische und ökonomische Dimension des Wasserstraßenverkehrs
Der Luftverkehr
242
243
Wohnen und Wohnungsmarkt im Landkreis Helmstedt
Einleitung
Die Alterszusammensetzung der Bevölkerung im regionalen Vergleich
und die für etwaige Wohnansiedlungsstrategien relevanten Altersgruppen
Die Altersgruppe der 20-45-Jährigen
Die Altersgruppe der älteren Menschen (ab 60 Jahren)
Der Wohnungsmangel im Landkreis Helmstedt
Der Wohngebäudebestand im regionalen Vergleich
Der Gebäude- und Wohnungsbestand im Landkreis Helmstedt
Die Zunahme von Wohnungen
Verschiedene Gründe für Baulücken und Leerstände
Anteil der Eigentümer- und Mietwohnungen an bewohnten Wohnungen
Die Preise für Wohnen im Landkreis Helmstedt
Baulandpreise
Die Miet- und Pachtzinsen
Wohnbaulandreserven im Landkreis Helmstedt
Hindernisse im Wohnungsbau und deren etwaige Beseitigungsmöglichkeiten
Baulandknappheit: Gründe und mögliche Überwindung
Die Hofheimer Konzeption
Deregulierung der Baubestimmungen
Externe Faktoren
Wohnen im Alter
Beispiele für ein modernes Verständnis des altersgerechten Wohnens
Der Aspekt des Freizeitwohnens
Das Problempotential des Freizeitwohnens
Träger- und Entwicklungsgesellschaften
Ausblicke für den Landkreis Helmstedt im Bereich des Freizeitwohnens
Der Fremdenverkehr im Landkreis Helmstedt
Die äußeren Faktoren der Entwicklung des Kurz- und Urlaubsreiseverkehrs
Die bestehende wirtschaftliche Situation
Der demographische Aspekt und der Wertewandel
Die Einkommensverteilung
Die Freizeitentwicklung
Weitere Entwicklungsperspektiven und -trends
Das Zielfeld Städtetourismus und Geschäftsreiseverkehr
Das Zielfeld Seminare, Tagungen und Schulungen
Das Zielfeld Gesundheit
Das Zielfeld Natur und Landschaft
Die Bedeutung des Fremdenverkehrs für Niedersachsen
Touristisch relevante Standortfaktoren des Landkreises Helmstedt
Touristische Entwicklungsorganisationen im Landkreis Helmstedt
Weitere Überlegungen zu einer übergeordneten Organisationsstruktur
im niedersächsischen Fremdenverkehr
Die sozioökonomische Bedeutung des Fremdenverkehrs im Landkreis
Helmstedt
244
244
245
246
246
247
247
248
249
249
249
250
250
251
252
252
253
256
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257
258
259
259
261
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266
266
268
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270
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273
274
277
277
277
278
280
281
283
283
283
284
285
285
286
286
289
289
-5-
9.5.1
9.5.2
9.5.3
9.5.4
9.6
9.7
9.7.1
9.7.2
9.8
9.8.1
9.8.2
9.8.3
9.8.4
9.8.5
9.8.6
9.8.7
9.8.8
9.9
9.10
9.11
9.12
10.
10.1
10.1.1
10.1.2
10.2
10.2.1
10.2.2
10.2.3
10.2.4
10.2.5
10.2.6
10.2.6.1
10.2.6.2
10.2.6.3
10.2.6.4
10.3
10.4
10.4.1
10.4.2
321
10.4.3
10.5
10.6
10.7
10.8
10.9
10.9.1
10.9.2
Unmittelbar und mittelbar vom Fremdenverkehr ausgehende
wirtschaftliche Wirkungen
Die durch den Fremdenverkehr bewirkten Umsätze
Die Ausflugsnachfrage
Der Tagesgeschäftsverkehr
Der Aspekt der „Zwischenstops“
Die Wertschöpfung aus der touristischen Nachfrage
Beschäftigung
Vollzeitbeschäftigte in Beherbergungsbetrieben je Bett
Nebenerwerbsbeschäftigte
Ferienzentren
Was sind Ferienzentren der 2. Generation?
Betriebskonzepte der Ferienparks
Freizeitangebote der Ferienparks
Zielgruppen
Standorttypen und -präferenzen
Ökologische Auswirkungen von Ferienzentren
Ökonomische Auswirkungen eines Center-Parks
Bezug zum Landkreis Helmstedt
Chancen und Begrenzungen der Fremdenverkehrsentwicklung im
Landkreis Helmstedt
Perspektiven
Die Förderleitlinien des Landes Niedersachsen
Förderprogramme der Europäischen Union
Der Bereich Fremdenverkehr in den Berufsbildungsprogrammen und
-maßnahmen der Europäischen Union
291
292
293
295
295
296
296
297
297
297
298
299
300
300
301
301
303
303
304
306
306
307
310
Landwirtschaft im Landkreis Helmstedt
Der ländliche Raum und die mit ihm verbundene Problematik
Kennzeichnung des ländlichen Raums im Landkreis Helmstedt
Die Verbindungen des ländlichen Raums zu den städtischen Bereichen und
mögliche Kooperationsformen
Die gewerbliche Situation in den ländlichen Samtgemeinden des Landkreises
Helmstedt
Samtgemeinde Grasleben
Samtgemeinde Heeseberg
Samtgemeinde Nord-Elm
Samtgemeinde Velpke
Die Wirkung der Grenzöffnung auf die Situation der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten der ehemaligen „Grenzgemeinden“
Die interne und externe Mobilität der Bevölkerung in den Samtgemeinden
Samtgemeinde Grasleben
Samtgemeinde Heeseberg
Samtgemeinde Nord-Elm
Samtgemeinde Velpke
Die Bevölkerung in den Samtgemeinden des Landkreises Helmstedt
Benachteiligte Bevölkerungsgruppen in den ländlichen Gemeinden
Bildungsangebote in den ländlich strukturierten Gebieten des Landkreises
Helmstedt
Schulen und sonstige Bildungseinrichtungen
Das Vereinsleben
312
312
312
Die Bundeslehranstalt Burg Warberg e. V.
Die landwirtschaftliche Nutzfläche im Landkreis Helmstedt
Die Verteilung der Böden und Bodenzahlen
Faktoren und Folgen des landwirtschaftlichen Strukturwandels
Betriebsstrukturen im Wandel
Die Beschäftigten in der Landwirtschaft im Landkreis Helmstedt
Das Einkommen aus landwirtschaftlicher Tätigkeit
Der Aspekt der Einkommenskombination
Der Landwirt als Freizeitwirt
322
322
323
324
325
325
326
327
328
314
315
315
316
316
317
318
319
319
319
319
319
320
320
321
321
-6-
10.10
10.10.1
10.10.2
10.14
10.15
Nutzung leerstehender landwirtschaftlicher Gebäude
Die Rolle der Beratung
Der bauplanungsrechtliche Aspekt der Umwidmung bisher landwirtschaftlich
genutzter Gebäude
Die Rolle des Denkmalschutzes
Perspektiven des ländlichen Raumes und dazugehörige Forschungsfelder
Erforschung des angewandten Instrumentariums
Das endogene Potential - die Gemeinde als Keimzelle der Entwicklung
Der Aspekt der nachwachsenden Rohstoffe
Pflanzen, die zu den nachwachsenden Rohstoffen gehören
Nutzungen nachwachsender Rohstoffe in der Industrie
Die Produktlinie Zucker
Die Produktlinie Stärke
Die Produktlinie pflanzliche Öle und Fette
Die Produktlinie Holz/Zellulose
Die Produktlinie Pflanzenfasern
Die Produktlinie Heil- und Gewürzpflanzen
Die energetische Nutzung von Biomasse
Die Wärmegewinnung aus Biomasse
Hinweise für Antragsteller
Kritische Momente im Bereich der nachwachsenden Rohstoffe
332
334
336
337
338
339
339
341
341
342
342
342
343
343
344
344
345
345
11.
11.1
11.1.1
11.1.2
Die Forstwirtschaft im Landkreis Helmstedt
Förderprogramme im Forstbereich
Erstaufforstungen
Sonderregelungen
347
349
349
349
12.
12.1
12.2
12.3
12.4
12.4.1
12.4.2
12.4.3
12.4.4
12.4.5
12.4.6
12.4.7
12.4.8
12.4.9
Die kommunale Wirtschaftsförderung
Aufgaben der Wirtschaftsförderung
Wirtschaftsfördergesellschaft oder Amt für Wirtschaftsförderung?
Die Einbindung der Wirtschaftsförderung im Gefüge der Verwaltung
Eine kritische Betrachtung der Möglichkeiten der Wirtschaftsförderung
Zuschüsse
Darlehen
Bürgschaften
Steuerliche Vergünstigungen
Bereitstellung von Grundstücken
Erlaß oder Stundung des Erbbauzinses
Freistellung von Erschließungsbeiträgen
Kommunale Abgaben
Errichtung von Fabrik- und Gewerbehallen, Gewerbehöfen und
Gewerbeparks
Vergabe von öffentlichen Aufträgen
Eine kritische Betrachtung der Wirtschaftförderung
Wichtige Standortfaktoren in Branchen des Dienstleistungssektors
Grundstück und Grundstücksgröße
Mitarbeiter
Repräsentation
Fühlungsvorteile
Zentralität
Verkehrsinfrastuktur
Absatz- und Kundenorientierung
Eine speziellere Branchenbetrachtung
Vorschlag zur Orientierung der Wirtschaftsförderung in Bezug auf den
Dienstleistungssektor
Die Wirtschaftsförderung und ihre Möglichkeit als EU - Beratungsstelle
für ansässige Unternehmen und Kommunen
351
352
353
354
355
355
356
356
356
357
357
358
358
10.10.3
10.11
10.11.1
10.11.2
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10.12
10.12.1
10.12.2
10.12.3
10.12.4
10.12.5
10.12.6
10.13
12.4.10
12.5
12.6
12.6.1
12.6.2
12.6.3
12.6.4
12.6.5
12.6.6
12.6.7
12.7
12.8
12.9
13.
13.1
Auswertung der Befragung der Wirtschaftsförderer im Landkreis
Helmstedt
Struktur und Organisation der kommunalen Wirtschaftsförderung im
328
330
358
359
359
361
361
361
361
361
362
362
362
362
364
365
366
366
-7-
13.2
13.3
13.4
13.5
13.5.1
13.5.2
13.5.3
13.5.4
13.6
13.6.1
13.6.2
13.7
13.7.1
13.7.2
13.7.3
13.7.4
13.7.5
13.7.6
13.8
13.8.1
13.8.2
13.8.3
13.8.4
379
13.8.5
13.8.6
13.8.7
13.8.8
13.9.
13.10
13.11
13.11.1
13.11.2
13.12
13.12.1
13.12.2
13.12.3
13.12.4
14.
14.1
14.2
14.3
14.4
14.5
14.5.1
14.5.2
14.5.3
14.5.4
14.5.5
14.6
14.7
14.8
Befragungsauswertung
366
Ziele und Arbeitsschwerpunkte
367
Bedeutung der Hauptaufgabenbereiche der kommunalen
Wirtschaftsförderung im Landkreis Helmstedt
367
„Wieviel Prozent Ihres Arbeitsaufwands verwenden Sie für Tätigkeiten zur..“ 368
Informationsschwerpunkte
368
„Auf welche Informationen greifen Sie im Rahmen Ihrer Funktionserfüllung
zurück?”
368
„Auf welche Informationsmedien greifen Sie zurück?”
369
„Wie gehen Sie vor, um die für die Wirtschaftsförderung relevanten
Informationen auf den neuesten Stand zu bringen?”
369
Wünschenswerte Aufbereitung von Datensammlungen
370
Personal- und Finanzsituation
370
Personalsituation
370
Haushaltsmittel
370
Aktions- und Tätigkeitsumfang
371
Analysetätigkeiten
371
Vorkehrungen für optimale Entwicklungsvoraussetzungen
372
Beratungs- und Vermittlungstätigkeiten
373
Koordinations- und Betreuungstätigkeiten
374
Informations- und Akquisitionstätigkeiten
375
Tätigkeiten der Erfolgskontrolle
375
Auswirkungen bisheriger Wirtschaftsförderungsaktivitäten
376
Wirtschaftsstruktur und -entwicklung
377
Arbeitsmarkt und Erwerbstätigkeit
377
Einkommen und Lebensstandard
378
Bevölkerungsstruktur und -entwicklung
Technische Infrastruktur
Soziale Infrastruktur
Finanz- und Leistungskraft der Kommune
Natur und Umwelt
Ausgesprochene Hemmnisfaktoren in der Wirtschaftsförderung
Interkommunale Zusammenarbeit
Zusammenarbeitsbereiche
Entwicklungsleitbilder
„Welches Entwicklungsleitbild haben Sie für Ihre Kommune?”
„Welches Entwicklungsleitbild haben Sie für Ihren Landkreis?”
Verbesserungswünsche
Wünschenswerte Standortbedingungen
Wünschenswerte Standortverbesserungen
Wünschenswerte Arbeitsmarktbedingungen
Wünschenswerte Dienstleistungen
380
381
381
382
383
387
387
388
388
388
389
389
389
389
389
Die DEUREGIO Ostfalen e. V.
Der geschichtliche Aspekt der DEUREGIO Ostfalen e. V:
Externe Gründungsvoraussetzungen des Vereins
Die Potentiale des Vereins
Die Strukturen des Vereins
Die Region Ostfalen und einige wichtige sozialökonomische Indikatoren
dieser Region
Allgemeine Situation der sachsen-anhaltinischen Mitglieder
Die Bevölkerung der DEUREGIO Ostfalen
Die Kaufkraft in den Landkreisen der DEUREGIO Ostfalen
Die Arbeitslosenquoten in der DEUREGIO Ostfalen
Gewerbeanmeldungen und Gewerbeabmeldungen
Gewerbeflächen in der DEUREGIO Ostfalen
Wohnbauflächen und mögliche Anzahl der Wohneinheiten
Der Fremdenverkehr in der DEUREGIO Ostfalen
Die Beherbergungskapazitäten in den Landkreisen der DEUREGIO
Ostfalen
391
391
391
392
393
395
395
396
397
398
399
399
401
401
402
-8-
14.9
14.9.1
14.9.2
14.9.3
14.9.4
14.9.5
14.9.6
14.10
Aktuelle Projekte und unterstützende bzw. fördernde Tätigkeiten
Qualitätssiegel
DEUREGIO-LOGO
Printmedium
Museumsbahn von Helmstedt nach Haldensleben
Ostfalen-Akademie
Sonstige Projekte und Aktionen
Kritische Momente für die DEUREGIO Ostfalen e. V.
15.
414
414
15.9
Auswertung der Befragung der Entscheidungsträger und
Entscheidungsträgerinnen in der DEUREGIO Ostfalen
Frage 1: „Wie sollte/könnte der Wirtschaftsraum DEUREGIO Ihrer Meinung
nach in Zukunft aussehen?”
Frage 2: „Stellen Sie bitte vor dem Hintergrund dieser Zielvorstellungen dar,
wie sich der zukünftige Wirtschafts- und Lebensraum im Moment
für Sie darstellt”
Frage 3: „Wirtschaftsraum DEUREGIO Ostfalen als Produkt”
Frage 4: „Wie läßt sich der Wirtschafts- und Lebensraum gegenüber anderen
in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt abgrenzen?”
Frage 5: „Wie läßt er sich gegenüber anderen Wirtschaftsräumen in der
Bundesrepublik Deutschland abgrenzen?”
Spezieller Teil: Handlungsfelder
1 . Handlungsbereich: Seit vier Jahren Grenzöffnung und die damit
verbundenen Möglichkeiten
2. Handlungsbereich: Regionales Image
3. Handlungsbereich: Attraktivität der Region
4. Handlungsbereich: EU-Binnenmarkt
5. Handlungsbereich: Grenzübergreifende Kooperation in Fremdenverkehr,
Wirtschaft und Natur
6. Handlungsbereich: Arbeitsmarkt
„Sehen Sie weitere Handlungsfelder?”
„Suchen Sie drei nach ihrer Meinung besonders wichtige
Handlungsfelder aus”
Der Verein als Partner und Moderator
16.
16.1
16.2
16.2.1
16.2.2
16.3
16.3.1
16.3.2
16.3.3
16.3.4
16.3.5
16.3.6
16.3.7
16.3.8
16.4
16.5
16.5.1
16.5.2
16.5.3
16.6
16.6.1
16.6.2
16.6.3
16.6.4
16.6.5
16.7
Die Europäische Gemeinschaft bzw. Europäische Union
Die mittelfristige Finanzplanung der EU
Deutschlands Stelle und Rolle in der EU
Die Entwicklungsziele für die alten Bundesländer
Die Entwicklungsziele für die neuen Bundesländer
Die Kommunen im europäischen Binnenmarkt
Der Aspekt der kommunalen Selbstverwaltung
Das öffentliche Auftragswesen
Der Aspekt Kultur
Der Aspekt kommunales Wahlrecht für EU-Ausländer
Der Aspekt Wirtschaftsförderung
Der Aspekt kommunale Steuern
Das Subsidiaritätsprinzip
Fazit für die Kommunen im Landkreis Helmstedt
Die Strukturfonds
Die Fonds in der Einzeldarstellung
Europäischer Fonds für regionale Entwicklung (EFRE)
Europäischer Sozialfonds (ESF)
Europäischer Ausrichtungs- und Garantiefonds (EAGFL-Ausrichtung)
Die Zielgebiete und ihre Differenzierungen
Ziel 1
Ziel 2
Ziel 3
Ziel 4
Ziel 5
Das Förderungsverfahren
424
425
426
427
427
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428
428
429
429
430
430
431
431
433
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434
434
436
437
437
437
438
438
438
439
15.1
15.2
15.3
15.4
15.5
15.6
15.6.1
15.6.2
15.6.3
15.6.4
15.6.5
15.6.6
15.7
15.8
404
404
406
406
406
407
408
409
411
411
412
413
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415
416
417
419
419
420
421
422
422
-9-
16.8
Ziel-2-Abgrenzung
440
17.
17.1
Strategische Überlegungen zur neuen wirtschaftsgeografischen Lage
Veränderte Rahmenbedingungen
Konsequenzen bisheriger Ergebnisse
Entwicklungspotentiale durch die Ost-West Wirtschaftsachse
Perspektiven durch die DEUREGIO Ostfalen e.V.
Mögliche Umsetzungsstrategien
Szenario: Entwicklungsperspektive DEUREGIO Ostfalen
Einflußfaktoren des strukturellen Wandels
Überregionale ökonomische Aspekte
Innovationsmöglichkeiten und Herausforderungen an die zukünftige
wirtschaftliche Entwicklung des Landkreises
Erster Maßnahmeschritt
Zweiter Maßnahmeschritt
Dritter Maßnahmeschritt
Innovative Wirtschaftsförderungsvisionen
443
443
446
448
450
451
455
456
459
Anhang
Bevölkerungsprognosen
Offene und geschlossene Immobilienfonds
EU-Programme
Zur Begrifflichkeit der Region
Partnerschaftsarbeit
Förderungsmaßnahmen des Bundes in den alten Bundesländern für mittelständische Unternehmen, Freie Berufe und Existenzgründungen
Befragung der Wirtschaftsförderer
Befragung der Entscheidungsträger und Entscheidungsträgerinnen der
DEUREGIO Ostfalen e. V.
Unternehmensbefragung im Landkreis Helmstedt
Zum Begriff der Infrastruktur
Die einzelbetriebliche Förderung im Überblick
482
482
490
492
497
501
17.2
17.3
17.3.1
17.3.2
17.4
17.5
17.6
17.6.1
17.6.2
17.6.3
17.6.4
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
Literaturverzeichnis
Band II:
Tabellen und Statistiken
Tabellenverzeichnis
Tabellen
463
463
466
469
481
503
513
528
532
543
546
550
- 10 -
Verfasserverzeichnis
Kapitel 1.
Der Landkreis Helmstedt
Jörg Pohl
Kapitel 2.
Die Bundesrepublik vor der demographischen Wende
Jörg Pohl
Kapitel 3.
Wirtschaftliche Entwicklung im Landkreis Helmstedt
Klaus Kunz
Kapitel 4.
Ein Exkurs in die Selbstverwaltung der
Kommunen und die Auswirkung der aktuellen
kommunalen Finanzsituation
Jörg Pohl
Kapitel 5.
Die Flächennutzung
Jörg Pohl
Kapitel 6.
Die Gewerbeflächen
Jörg Pohl
Kapitel 7.
Verkehr
Jörg Pohl
Kapitel 8.
Wohnen und Wohnungsmarkt im Landkreis Helmstedt
Jörg Pohl
Kapitel 9.
Der Fremdenverkehr im Landkreis Helmstedt
Jörg Pohl
Kapitel 10
Landwirtschaft im Landkreis Helmstedt
Jörg Pohl
Kapitel 11.
Die Forstwirtschaft im Landkreis Helmstedt
Jörg Pohl
Kapitel 12.
Die kommunale Wirtschaftsförderung als Selbstverwaltungsangelegenheit der Gemeinden
Jörg Pohl
Auswertung der Befragung der Wirtschaftsförderer
im Landkreis Helmstedt
Jörg Pohl
Kapitel 14
Die DEUREGIO-Ostfalen e.V.
Jörg Pohl
Kapitel 15:
Auswertung der Befragung der Entscheidungsträger
und Entscheidungsträgerinnen in der
DEUREGIO-Ostfalen
Jörg Pohl
Kapitel 16
Die Europäische Gemeinschaft bzw. Europäische Union
Jörg Pohl
Kapitel 17
Strategische Überlegungen zur neuen wirtschaftsgeographischen Lage
Klaus Kunz
Kapitel 13.
- 11 -
1. Der Landkreis Helmstedt
1.1 Die geographische Abgrenzung des Landkreises
In seinen äußeren geographischen Grenzen wird der Landkreis Helmstedt durch die Meridiane
10°36' und 11°5' ö. L. und durch die Breitenkreise 52°3' und 52°14' n. Br. begrenzt.
Die Kreisstadt Helmstedt liegt bei 11° ö.L. und 52°14’ n.Br..
Die Grenzen des Landkreises sind nur zum Teil an naturräumliche Vorgaben angepaßt. Einen
wirklichen Grenzsaum findet man aber im Süden des Landkreises im Bereich des Großen Bruchs.
Bereits im frühen Mittelalter trennte er als sehr sumpfige und moorige Niederung den "Derlingau"
im Norden vom "Harzgau" im Süden, später dann war er Grenze zum Halberstädtischen und
Preußischen und in jüngster Zeit (bis 1989) zur DDR. Heute ist ein Teil des Großen Bruch lediglich
eine innerstaatliche Landesgrenze und - das sei hier bereits vorweggenommen - zum Leidwesen des
Landkreises Helmstedt, eine oftmals krasse Fördergrenze in einem wiedervereinten Deutschland.
Eine weitere natürliche Grenzvorgabe bildet der Elm im Südwesten des Landkreises, der hier die
Landkreise Wolfenbüttel und Helmstedt voneinander trennt. Im Norden sind der Vorsfelder Bereich
und die Allerniederung natürliche Abgrenzungsbereiche.
1.1.1 Flächengröße und angrenzende Gebiete
Der Landkreis Helmstedt umfaßt eine Fläche von ca. 674 km². Im Norden grenzt er an den
Landkreis Gifhorn, im Nordwesten an die kreisfreie Stadt Wolfsburg. Im Westen zum Landkreis
Helmstedt schließt der Landkreis Wolfenbüttel und die kreisfreie Stadt Braunschweig an, während
im Südwesten der Landkreis Wolfenbüttel und im Süden der sachsen-anhaltinische Landkreis
Halberstadt liegt. Östlich an den Helmstedter Landkreis schließen sich die sachsen-anhaltinischen
Landkreise Oschersleben, Haldensleben und Klötze an, die nach der 1994 stattfindenden sachsenanhaltinischen Gebietsreform andere Zugehörigkeiten und Bezeichnungen erhalten werde. Der
Kreis Klötze wird zum Großteil dem Landkreis Westmark zugeordnet, der Landkreis Haldensleben
dem Ohrekreis, der Landkreis Oschersleben dem Bördekreis.
1.1.2 Zentrale Orte und zentralörtliche Funktionszuweisung
Zum Kreisgebiet gehören die Gemeinden Büddenstedt und Lehre sowie die Samtgemeinden
Grasleben, Heeseberg, Nord-Elm und Velpke. Außerdem gehören die gemeindefreien Gebiete der
Städte Helmstedt, Königslutter und Schöningen dazu. Dem Mittelzentrum Helmstedt sind neben
den beiden Städten Königslutter und Schöningen die Einheits- und Samtgemeinden zugeordnet. In
Teilbereichen übernehmen die Städte Königslutter und Schöningen aufgrund ihrer Einzelhandelsund anderen Dienstleistungsausstattungen zentralörtliche Bedeutung. Sie stellen deshalb auch
Grund-zentren dar.
Der Wirkungs- und Verflechtungsbereich des Mittelzentrums Helmstedt wird im Norden und
Westen des Landkreises vom Mittelzentrum Wolfsburg und dem Oberzentrum Braunschweig
bestimmt, während nach Magdeburg erst eine teilweise Orientierung erfolgt, was sich aber im Lauf
der nächsten Jahre bestimmt zugunsten einer stärkeren und engeren Bindung an die sachsenanhaltinische Stadt ändern wird.
Sind die Gemeinde Lehre und die Stadt Königslutter stark nach Braunschweig hin orientiert, ist die
Samtgemeinde Velpke z.B. als Wohnstandort nach Wolfsburg hin ausgerichtet. Königslutter als
zweitgrößte Stadt des Landkreises Helmstedt hat kaum Verflechtungen in östliche Richtung und ist
stark auf die Stadt Braunschweig „eingestellt“. Das im Norden an den Landkreis Helmstedt
angrenzende Mittelzentrum Wolfsburg erfüllt im Ordnungsraum Braunschweig oberzentrale
Funktion.
- 12 -
Die Siedlungsflächen im Landkreis zeigen unterschiedlichen Charakter. Während die Städte, aber
auch die Industriegemeinden Büddenstedt und Grasleben durch mehr oder minder reine Wohn- und
Gewerbegebiete sowie rundliche Industriebebauung gekennzeichnet sind, gibt es eine große Anzahl
von kleineren Ortschaften, wo noch dörfliche Strukturen mit zum großen Teil intakten
Bauerngehöften prägend sind. Landschaftsprägend sind desweiteren die großen Tagebaue, die
dazugehörigen Kraftwerksanlagen sowie diverse Sand- und Tonabbaue.
1.2 Der Naturraum
Der Landkreis Helmstedt hat dank seiner relativ langen N-S-Erstreckung Anteil an verschiedenen
Landschaftselementen. Das Gebiet des Landkreises reicht von den Ausläufern des bergigen
Harzvorlandes mit seinen weiten und fruchtbaren lößbedeckten Talungen bis in das weniger
fruchtbare, ehemals von Gletschern bedeckte, heute von Geestböden eingenommene nördliche
Flachland der Ausläufer der Lüneburger Heide.
Zwei große Landschaftseinheiten, das Ostfälische Hügelland und das Weser-Aller-Flachland sind
im Landkreis Helmstedt landschaftsbestimmend. Das Ostbraunschweigische Hügelland als
Untereinheit des Ostfälischen Hügellandes reicht vom Großen Bruch bis an die Grenze des
Hasenwinkels und umfaßt den Lappwald, die Helmstedter Mulde, den Elm, das Jerxheimer
Hügelland und das Große Bruch selbst. Das Weser-Aller-Flachland schließt sich im Norden an und
in den Grenzen des Landkreises Helmstedt gehören Teile des Ostbraunschweigischen Flachlandes
und des Drömlings dazu. Sie unterscheiden sich im wesentlichen durch unterschiedliche
Grundwasserverhältnisse, Bodenarten, Höhenlage und Landnutzungsweisen (Der Landkreis
Helmstedt, 1958).
Das Große Bruch als Teilstück des saaleeiszeitlichen Elbe-Urstromtals wies einst aufgrund der
rückstauenden Vorflutverhältnisse (geringes Gefälle zum Flüßchen Bode) einen hohen
Grundwasserstand auf, was insgesamt zur Ausbildung einer weiten Moorlandschaft führte, die für
lange Zeit nur auf Knüppeldämmen zu passieren war. Bereits im 16. Jahrhundert ließ Herzog
Heinrich Julius einen Schiffgraben anlegen, wohl auch um die Weser mit der Elbe zu verbinden,
also eine originär „wirtschaftsförderliche Angelegenheit”.
Zu den wichtigsten der oben genannten Knüppeldämme gehörten der Horndamm bei Hessen am
Fallstein, der Neue Damm bei Neuwegersleben, der Damm bei Oschersleben und der Kiebitzkamm,
auf dem die alte Heerstraße von Helmstedt nach Halberstadt verlief. Auch die im 19. Jahrhundert
für die industrielle Entwicklung Deutschlands so wichtige Eisenbahnverbindung über Jerxheim
mußte auf festen Dämmen errichtet werden.
Erst in den 60ziger Jahren dieses Jahrhunderts wurden durch umfangreiche Entwässerungsmaßnahmen die Feuchtwiesen und Moorbereiche in Ackerland umgewandelt. Im regionalen
Raumordnungsprogramm des Landkreises Helmstedt (1991) ist ein Teil dieses
Landschaftsbereiches dahingehend ausgewiesen worden, daß durch landschaftsgestalterische und
ökologische Maßnahmen eine ökologische Aufwertung dieses Landschaftsbereiches erreicht
werden soll. Im nachbarlichen Wulferstedt, Landkreis Oschersleben, ist eine Initiative in Form
eines Vereins gegründet worden, die sich der naturnahen Nutzung des in diesem Bereich noch
erhaltenen Feuchtgebiets des Großen Bruch beschäftigt (z.B. durch Propagierung und Projektierung
einer extensiven Weidenhaltung von Fleischrindern). Durch die Grenzziehung bedingt wurde hier
die moorige Situation erhalten, während ja auf niedersächsischer Seite durch die
Meliorationsmaßnahmen ein intensiv genutztes Ackerland entstand.
Das Jerxheimer Hügelland besteht aus dem östlichen Teil der Schöppenstedter Börde,
einschließlich des Heesebergs als deren südliche Begrenzung und höchsten Erhebung des
Jerxheimer Hügellandes. Da der Heeseberg aus Buntsandstein aufgebaut ist und im Bereich der
Hauptrogensteinbank ausstreicht, finden sich dort viele ehemalige Steinbrüche. Einst wurde hier der
Rogenstein, ein stark sandiger Kalkstein als Baustoff gewonnen.
Ein paar Bemerkungen zu der Börde, an der der Landkreis Helmstedt in geringem Umfang teil hat.
Landwirtschaftlich gesehen ist die Börde aus dem Grund wichtig, da sich hier die landwirtschaftlich
hoch geschätzten Schwarzerden finden, die entsprechend intensiv ausgenutzt werden können.
- 13 -
Die Bezeichnung „Börde“ wird aus dem mitteldeutschen „boren“, dem heutigen niederdeutschen
„bören“ oder hochdeutschen „gebühren“ beziehungsweise „heben“ abgeleitet. So bezeichnet das
Wort Börde also ursprünglich nichts anderes als einen Bezirk, in dem etwas gehoben wird oder aus
dem einem anderen etwas „gebührt“. Auch heute werden noch Steuern, Gebühren erhoben. Die
Börde war ursprünglich also ein Landschaftsbereich, in der in irgendeiner Weise ein Zins,
Gebühren oder ähnliches erhoben wurden. Börde ist demnach ein Rechtsbegriff für einen Zins- und
Verwaltungsbezirk, der sich allmählich seit dem Mittelalter in einen geographischen Begriff
verwandelt hat. Da die Böden der Börde außergewöhnlich fruchtbar sind, ist die Bezeichnung
Börde heute gleichzeitig ein Qualitäts- und Gütezeichen (Volksstimme, Oschersleber Ausgabe vom
31.8.93, Wie aus „Borde“ die Börde wurde).
Die Topographie des Elm wird vom langen Elmrücken beherrscht, der sich mit einer Höhe von
300m ü. NN. aus der ihn umgebenden landwirtschaftlichen Nutzfläche erhebt und absetzt.
Geologisch stellt der Elm einen Breitsattel dar. Er gehört wie Asse, Lappwald und Flechtinger
Höhenzug im benachbarten Sachsen-Anhalt zu den herzynisch gerichteten Bergrücken mit einer
NW-SO-verlaufenden Streichrichtung der Scheitelkämme. In der Folge der seit der Jura-/Kreidezeit
(vor ca. 135 Millionen Jahren) wirksamen Bruchschollentektonik entstand in Verbindung mit der
Halokinetik, also der Bewegung des Salzes als Folge von Entlastungserscheinungen in den
Deckgebirgen, die Emporhebung des schildförmigen Bergzuges des Elm. Die Hänge dieses
Breitsattels sind durch viele Täler gegliedert, die nur in ihren unteren Bereichen Wasser führen.
Botanisch gesehen ist der Elm ein Hochwaldgebiet, das von der Rotbuchenformation bestimmt
wird, die in zahlreichen Fällen die ehemaligen Steinbrüche, Kies-, Sand- und Tongruben sowie die
durch subterrane Auslaugungen entstandenen Erdfälle überlagert. Die Lößbedeckung ist nur
schleierhaft vorhanden. Die Böden sind gekennzeichnet durch flachgründige Rendzinen und
Braunerden.
Die Erdfälle sind Ergebnis eines subterranen (unterirdischen) Geschehens. Unter dem
Trochitenkalk (oberer Muschelkalk - der Elm gilt im übrigen als größter Seelilien (Trochiten)friedhof der Welt) folgen im Liegenden Tone, Mergel und Gipse des Mittleren Muschelkalks. Der
Gips wird durch die Sickerwässer ausgelaugt, wodurch unterirdische Hohlräume entstehen, die je
nach Größe infolge des Nachbrechens des Hangenden an der Erdoberfläche als flache Schüsseln
oder gar als steilwandige Erdfälle in Erscheinung treten.
Klimatisch hat der Elm durch seine Höhenlage eine wetterbeeinflussende Stauwirkung. Die
höchsten Niederschläge im Landkreis fallen im Elm. Das niederfallende Wasser wird aber sehr
schnell vom klüftigen Kalkstein des oberen Muschelkalks aufgenommen und unterirdisch
weitergeleitet, um an vielen verschiedenen Stellen in Karstquellen wieder zutage zu treten. Letztere
sind ein Bestandteil der sehenswerten Naturereignisse im Landkreis Helmstedt, vor allem in der
unmittelbaren Nähe zur Stadt Königslutter aber auch an anderen Orten am Elm.
Der Kalkstein des Elm wurde in der Vergangenheit als begehrter Baustoff gewonnen (z.B. für den
Bau des Kaiserdoms zu Königslutter) und er wird auch heute noch, wenn auch in geringerem
Umfang gewonnen. Der Kalk wurde auch zur Zementfabrikation bei Hoiersdorf in der Nähe der
Stadt Schöningen abgebaut.
Der Elm spielt als grüne Lunge zusammen mit dem Lappwald eine besondere Rolle im Landkreis
Helmstedt. Beide liefern u.a. wertvolle Bau- und Tischlereihölzer und dienen desweiteren ebenso
als Wasserschutzgebiete. Auch als Naherholungsgebiete sind sie touristische Attraktionen im
Landkreis Helmstedt. Die Wälder des Elm und Lappwald weisen, wie auch andere Wälder in
Deutschland und den angrenzenden Staaten streckenweise erhebliche Waldschäden auf, was sich in
absehbarer Zeit wohl auch sehr negativ auf die Qualität unseres Grundwassers auswirken könnte.
Zwischen Elm und Lappwald erstreckt sich die Helmstedter Mulde, die durch den Barneberger
Rücken (Untere Buntsandstein) geologisch in einen westlichen und einen östlichen Teil (zwei
geologische Spezialmulden, die westliche „Lößmulde“ und die östliche „Sandmulde“) getrennt
wird. Die Helmstedter Mulde ist geomorphologisch in ein größeres Lößgebiet im Südosten und ein
kleineres Sandgebiet im Nordwesten zu unterteilen . Sie erstreckt sich in derselben Richtung (NWSO) wie die sie begrenzenden Höhenzüge. Alle im Kreisgebiet verlaufenden Höhenzüge, wie der
Elm, Eitz, Elz, Dorm und Lappwald verlaufen in dieser herzynischen Streichrichtung.
- 14 -
Im Bereich der Lößmulde, wo sich auf den Lößunterlagen teilweise Schwarzerden bilden konnten,
wird folglich intensiver Anbau von Weizen und Zuckerrüben betrieben. Die landwirtschaftliche
Nutzfläche wird gelegentlich durch Waldstücke unterbrochen (z.B. Eitz, Elz, Schieren). Im
Südosten der Mulde finden sich auch die die wirtschaftliche Geschichte des Landkreises so
bedeutend kennzeichnenden Braunkohletagebaue.
Die Braunkohle entstand in den Muldenstrukturen, die sich durch die Aufwölbungen des Salzdomes
im Mittelrücken, der an der Oberfläche im Dorm, Elz und Eitz sichtbar wird, bildeten, wobei die
Flözbildung nicht immer gleichmäßig vonstatten ging und die Kohle durch die Nähe der Salzdome
hohe Salzkonzentrationen aufweist. Die Helmstedter Braunkohlenmulde enthält zwei
übereinanderlegende Flöze von ca. 6-27m (Treue-Flöz) bzw. 8-13m (Victoria-Flöz) Mächtigkeit,
die durch 20 bis 30m mächtige Glaukonitsande voneinander getrennt sind. Die Kohlebildungszeit
liegt im Eozän, in dem ein subtropisches Klima vorherrschte. Das Eozän ist ein Unterabschnitt des
Tertiärs, welches von ca. 65 Mill. bis 2 Mill. Jahren v. h. dauerte.
Im Nordosten schließt sich an die Helmstedter Mulde die Lappwaldscholle an, die Teil des
Ostbraunschweigischen Flachlandes ist. Das Gebiet des Lappwaldes ist ebenfalls aus einer
Zechsteinaufwölbung entstanden und wird von einem Eichen-Hainbuchenwald bestanden.
Geologisch ist der Bereich des Lappwaldes eine Mulde, in der die geologisch jungen Schichten des
oberen Keuper und des Jura erhalten geblieben sind, so daß sich in diesem Gebiet leicht
auswaschbare Sandstein- und Keuperverwitterungsböden finden. Die relativ häufigen
Eichenmischwaldformationen weisen ebenfalls auf den "sauren" geologischen Unterbau hin.
Nördlich der A2 befindet sich der Hasenwinkel, von dem aus sich in nördlicher Richtung immer
flacher werdende Rücken mit kleinen Kuppen finden. Östlich davon liegt das Lehrder Wohld, wo
sich seit dem Mittelalter bis heute die Waldnutzung erhalten hat. Wurden die auf den meist
schweren und feuchten Böden fußenden Wälder im Mittelalter noch dem Hudewald zugerechnet,
werden die Eichen-Hainbuchenmischwälder heute rein forstwirtschaftlich genutzt, spielen aber
auch als Naherholungsbereich für die Stadt Braunschweig eine wichtige Rolle.
Nördlich des Hasenwinkel wird das Land wieder flacher und ausgedehnte Ackerflächen
kennzeichnen das Landschaftsbild. Im Bereich der Velpker Platte sind die Schichten des Keuper
und Muschelkalk nur wenig herausgehoben. Im südwestlichen Teil dieses Bereichs finden sich
diese überlagernde Geschieblehme der Saale-Eiszeit mit fruchtbaren Böden, während in tiefer
gelegenen Teilen längs der Allerniederung ehemalige Schmelzwassersande und Kiesablagerungen
nur mittlere landwirtschaftliche Ertragslagen zulassen.
Waldreichere Gebiete finden sich erst wieder auf der Velpker Platte, wo viele ehemalige, heute mit
Wasser vollgelaufene Steinbrüche dem Landschaftsschutzgebiet "Velpker Schweiz" einen
besonderen landschaftlichen Reiz und Ausflugswert verleihen.
Der sich an die Velpker Platte anschließende Drömling als Teil des Weser-Aller-Flachlandes
zeichnet sich durch den Wechsel von Feuchtwiesen, Überschwemmungsbereichen, Niedermooren,
Laubmischwäldern und Bruchwäldern aus, die ausschließlich auf quartären Ablagerungen fußen.
Durch den hohen Wasserstand und anmoorige Böden erfolgt bis heute eine extensive
landwirtschaftliche Nutzung.
Der Drömling hat als Rast- und Brutgebiet eine hervorzuhebende Bedeutung für die Vogelwelt.
Dem wurde mit einigen Abstrichen durch die Ausweisung des Naturschutzgebietes "AllerAuenwald" (ca. 95 ha Größe) Rechnung getragen.
Zu den Gewässern im Landkreis Helmstedt ist zu sagen, daß die Fließgewässer zum überwiegenden
Teil naturfern bis extrem naturfern einzustufen sind. Laut der „Ökologischen Bestandserfassung des
Landkreises Helmstedt“ (1986) sind nur 7% der erfaßten Gewässer als natürlich oder naturnah
einzustufen. Auwälder oder kleinerflächige Gehölze sind nur an weniger als 10% der Fließstrecken
zu finden. Sie finden sich vor allem im Nordkreis (Schunter, Lappwald, Velpke) aber auch südlich
von Schöningen (hier Bruchwald). Natürliche Stillgewässer sind nur in Form einiger Erdfälle im
Elm und Dorm vorhanden. Die meist im Norden vorkommenden Stillgewässer sind verfüllte
Steinbrüche und mit über 2/3 der Fälle als naturfern zu bewerten. Moore finden sich im LSG
„Mittlere Schunter“.
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1.2.1 Vegetation
Dank der klimatischen Grenzlage des Landkreises Helmstedt (schon wieder eine Grenze!) zwischen
einem wärmer oder kälter getönten kontinentalen und einem maritim-feuchten Klima ist nicht nur
ein vielgestaltiges Bodenmosaik im Landkreis anzufinden, sondern auch eine, wenn auch von der
stark industriell ausgerichteten Landbewirtschaftung zurückgedrängte, vielfältige Flora. Neben den
weitverbreiteten mitteleuropäischen Spezies finden sich baltische aber auch atlantische Arten im
Landkreis Helmstedt.
Von der Gesamtfläche von ca. 674 km² sind ca. 25% Waldfläche, wobei die Wälder im Elm, dem
Lappwald, Dorm und Elz, sowie die Wälder um Lehre, die Velpker Schweiz und die Staatsforsten
bei Danndorf und Bahrdorf im Regionalen Raumordnungsprogramm für den Landkreis Helmstedt
(1991) eine besondere Erholungsfunktion zugewiesen bekamen.
Der Landkreis hat an zwei verschiedenen forstlichen Bezirken Anteil: einmal dem ostbraunschweigischen Flachland und zum anderen dem ostbraunschweigischen Hügelland. Im
erstgenannten Wuchsbezirk, auf hauptsächlich eiszeitlichen Geschiebelehmen und tongründigen
Böden, dominiert die Stieleiche in Gesellschaft mit Hainbuche, Linde und Rotbuche. Aber auch
Traubeneichen in Gesellschaft mit Hainbuche , Linde und Rotbuche sind häufig anzutreffen.
Im zweiten Wuchsbezirk findet sich eine typische Klimaxvegetation der Kalk- und Lößböden,
nämlich die Eichen-Buchenmischwaldformation. Je nach Standortverhältnissen finden sich hier
neben den dominierenden Rotbuchen Edellaubhölzer wie Linde, Bergahorn, Esche und Ulme.
Diverse Wildobstarten sind auf einem Gutteil der Fläche relativ häufig anzutreffen.
An den besonders trockenen und landwirtschaftlich allenfalls extensiv genutzten Hanglagen des
Heesebergs finden sich sehr seltene Pflanzenformationen des Steppen- und Halbtrockenrasens. Aus
diesem Grund wurde dort auch ein geschütztes Trockenrasenbiotop ausgewiesen.
Nördlich von Königslutter fließt die Schunter in einer breiten Senke, an deren Rand sich ein
sehenswertes Naturschutzgebiet mit selten gewordenen Sumpfpflanzengesellschaften (Rieseberger
Moor) befindet.
Insgesamt kann aber behauptet werden, daß auch im Landkreis Helmstedt, bedingt durch die
intensive Landbewirtschaftung, eine starke Artenverarmung zu verzeichnen ist. Intakte, artenreiche
Waldränder sind relativ selten.
1.2.2 Klima
Im Landkreis Helmstedt mit Höhen zwischen 56 - 310 m ü. NN. überlagern sich, wie bereits oben
gesagt, ozeanische und kontinentale Klimaeinflüsse, wobei die kontinentale Ausprägung für das
Wettergeschehen im Landkreis Helmstedt kennzeichnend ist. Der Jahresgang der Temperatur weist
erhebliche Schwankungen auf, der Jahresgang der Niederschläge läßt ein Sommermaximum
erkennen, so daß eine kontinentale Ausprägung konstatiert werden darf.
Im Jahresablauf werden die größten Windgeschwindigkeiten in der Regel in den Winter- und
Frühjahrsmonaten (Dezember - Februar) erreicht, wenn die Luftdruckgegensätze zwischen der
kalten Polarluft im Norden und der warmen Luft über dem Atlantik besonders stark sind.
Entsprechend der Lage des Landkreises im Westwindgürtel herrschen Winde aus südwestlichen bis
nordwestlichen Richtungen vor, wobei eine jahreszeitliche Verschiebung auftreten kann. Liegt im
Frühling und in den frühen Sommermonaten Juni, Juli und August das Maximum der Winde auf der
nordwestlichen Richtung, was sich als Folge der typischen Aprilwetterlagen mit den
Kaltlufteinbrüchen aus dem Nordmeerbereich ergibt, herrschen im Herbst und Winter SW-Winde
vor. Mit Frost muß von Anfang Oktober bis Mitte Mai gerechnet werden.
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Die Hauptniederschlagszeit liegt zwischen Anfang Mai bis Ende August, da die
Sommerniederschläge wegen ihrer konvektiven Entstehung ergiebiger sind als die advektiven
Winterniederschläge. Die Niederschlagsmaxima liegen im Juli und August, die -minima im Februar
und März. Die jährliche Niederschlagsverteilung weist Helmstedt dem Binnenlandstypus
(Sommerregentypus) zu.
Im langjährigen Mittel liegen die Niederschläge bei 600 mm/a, die mittlere Jahrestemperatur bei
8.4° C. Die Schwankungsbreite der Niederschläge liegt zwischen 360 - 800 mm, wobei der Elm und
der Lappwald mit ihrer durch die Höhe bedingten Stauwirkungen auf den Luftstrom relativ höhere
Niederschläge aufweisen. Die höchsten Niederschläge im Landkreis fallen im Elm mit nahezu 800
mm/a.
1.3 Ein geschichtlicher Abriß des Landkreises Helmstedt
Der Landkreis Helmstedt gehört zu einer außergewöhnlich geschichtsträchtigen Landschaft. Schon
von frühester Zeit an waren die lößhaltigen Bördeböden bevorzugte Gunst- und somit
Siedlungsstandorte und so finden sich Zeugnisse aus mehreren Jahrtausenden
Zivilisationsgeschichte im Landkreis Helmstedt.
Im südlichen Bereich des Landkreises Helmstedt finden sich auf den sehr fruchtbaren glazigenen
Lößböden Besiedlungsreste aus der Zeit 5000-3000 v. Chr.. Bei dem Ort Esbeck bei Schöningen
wurde z. B. eine linienbandkeramische Siedlung ausgegraben, die eindeutig in das Altneolithikum
datiert werden konnte.
Neueste Ausgrabungsfunde im Braunkohlentagebau lassen die Vermutung zu, daß Siedlungen im
Raum Helmstedt bereits im Altpaläolithikum (also älter als 200.000 Jahre) bestanden haben müssen
(n. frdl. mündl. Mitteilung der Museumsleiterin des Heimat- und Zonengrenzmuseums Helmstedt,
1994). Es ist also seit dieser Zeit mit zumindest saisonalen Siedlungen auf den fruchtbaren
Bördeböden zu rechnen, wofür auch die Lübbensteine und viele andere Großstein-Monumente nicht
nur im Landkreis Helmstedt, sondern auch in den benachbarten sachsen-anhaltinischen Landkreisen
sprechen.
Der Bereich um Helmstedt ist im 8. Jahrhundert n. Chr. ein heftig umstrittenes Gebiet zwischen
Franken und Sachsen. 748 wird auf einem Feldzug Pippins des Jüngeren gegen seinen Halbbruder
Grifo, die Siedlung Schöningen "Scahaningi" als erster Ortsnamen im Braunschweigischen
erwähnt. 952 n.Chr. wird die Stadt Helmstedt in einer Urkunde Kaiser Ottos I. erstmalig erwähnt.
Die damalige Grenze zwischen den Sachsen im Westen und den Slawen im Osten verlief teilweise
entlang der Schunter. Hier finden sich auch Überreste einiger Befestigungsanlagen, die damals zum
Schutz vor Übergriffen der aus dem Osten immer wieder angreifenden Slawen errichtet wurden.
Im 12. Jahrhundert erhält Helmstedt das Stadtrecht, die zusammen mit der Stadt Königslutter
(Stadtrecht um 1400 bis 1409) und Schöningen (Stadtrecht 1. Hälfte 14 Jh.) entlang der damals
existierenden Handelsstraßen (heutige B1 und alte Ohrumer Straße als Teilstück des „Hellweges“)
wichtige Marktflecken darstellten.
Um 1000 n.Chr. sind regelmäßig stattfindende Märkte entlang der neu angelegten Straße von Köln
über Braunschweig, Königslutter nach Magdeburg dokumentiert. Wichtige Handelsgüter der Städte
und Klostergüter im Landkreis Helmstedt waren in dieser Zeit Tuche, Bier und Getreide, im Falle
Königslutters und Schöningens Bausteine und Siedesalze. In der Stadt Schöningen wurde bereits
938 n.Chr. Salz gewonnen, wobei das Nutzungsrecht zu dieser Zeit bei den Klöstern und den von
braunschweigischen Herzögen mit der Salzgrafenschaft betrauten Lehensherrn lag. Ursprünglich
wird es wohl Eigentum des Königs gewesen sein. Die Klöster sind in dieser Zeit sozusagen Träger
des Fortschritts und Bewahrer der Traditionen. Unter ihrem Dach werden weit über Grafschaftsund Stammesgrenzen hinausreichende freundschaftliche, wirtschaftliche und oft auch politische
Verbindungen gepflegt. Sie sind zudem für alle jene eine Zuflucht, die in der Landwirtschaft und
dem gerade im Aufbau befindlichen Städtehandwerk (11. Jh.) keine Arbeit und damit Unterhalt
finden konnten. Wie auch heute bestand der Aufnahmeritus darin, alles, was man besitzt, dem
Kloster zu übergeben. Nur wer verzichtet kann glücklich werden. Verzicht auf Selbstbestimmung,
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Eigentum und Fortpflanzung, dafür aber ein relativ sicheres Leben. Ansonsten zwang der Krieg die
Menschen zum Verzicht.
Der im Elm gewonne Kalkstein wurde u.a. für das Grabmahl Heinrichs des Löwen im Dom zu
Braunschweig, dem Roland in Bremen, im 16. und 17. Jahrhundert für das Gewandhaus in
Braunschweig und die Hauptkirche in Wolfenbüttel verwandt. Nicht zu vergessen ist natürlich der
Kaiserdom zu Königslutter selbst. Leider ist der Elm-Kalkstein als Baustoff in Vergessenheit
geraten und durch künstliche Baustoffe vom Markt verdrängt worden.
Um 1030 finden sich silberne „Denare“ mit der Umschrift des Ludger (Liudierus) als
Zahlungsmittel in Helmstedt, was auf den sich ausweitenden Handel der Stadt und den Erfolg des
Marktgeschehens hinweist.
1.3.1 Kaiser Lothar von Süpplingenburg
Lothar von Süpplingenburg wurde wahrscheinlich um 1075 geboren und verstarb 1137. Beigesetzt
wurde er im Kaiserdom zu Königslutter. Kaiser Lothar lebte in einer Zeit, in der der technische
Fortschritt zu gewaltigen sozio-kulturellen Änderungen und Unruhen in der damaligen Gesellschaft
führte. So beschleunigten technische Innovationen wie der Wendepflug und Windmühlen das
wirtschaftliche Wachstum, gegründete Universitäten potenzierten das Wissen und forschten auf
neuen Wegen (z. B. in Bologna: 1119, hier insbesondere die medizinische Fakultät). Von den 82
Urkunden des Königs und Kaisers Lothar (n. F. J. Böhme) betreffen 70 Klosterangelegenheiten:
Siftungsbestätigungen, Schenkungen, Güteraustausch, Freiheitsbriefe, Schutzbriefe. 7 gewähren
Privilegien für Städte und Kaufleute. Da wurde der Schiffszoll auf der Elbe herabgesetzt, den
Quedlinburgern das gleiche Recht eingeräumt wie den Kaufleuten von Magdeburg und Goslar, den
Bürgern von Dusiburg erlaubt, Steine für den Eigenbedarf im herzoglichen Wald zu brechen und
den Straßburgern das Recht erteilt, daß keiner auswärts vor Gericht zu erscheinen brauche. Sein
einziges Gesetz verbietet die Zerstückelung oder den Verkauf von Lehen (Kruggel 1983). Kaiser
Lothar war demnach ein umfassend denkender Pragmatiker, der sich seiner Verantwortung für das
Allgemeinwohl sehr bewußt war und alles in seinen Kräften liegende tat, um zugleich absichern
und innovatorisch tätig zu sein. Er ist somit einer der ersten und berühmtesten dokumentarisch
belegten Wirtschaftsförderer der Region Helmstedt.
1426 tritt die Stadt Helmstedt dem Städtebund der Hanse bei, wobei sich das wirtschaftliche Leben
dank eines gesunden Branchenmixes von Handel und Handwerk gut entwickelte. Dadurch löste sich
auch das städtische Handwerk von der bisher alleinigen Abtsherrschaft und es kam auch hier zur
Gründung der Gilden. Die gestaltende politische und wirtschaftliche Macht der Gilden klang im
Zeitalter des Absolutismus wieder aus.
Um die Macht des Landesherrn zu sichern, bedurfte es verstärkter wirtschaftlicher Anstrengungen.
Es galt damals wie auch heute, einkommenssichernde Ausfuhrüberschüsse im Außenhandel zu
erreichen. Im Zuge dieser Vorgehensweise mußte natürlich die Unabhängigkeit der Wirtschaft
erreicht werden. Im Kreisgebiet entstanden in damaliger Zeit z. B. ausgedehnte Maulbeerplantagen
(in Königslutter sind über einen längeren Zeitraum Maulbeerplantagen und Seidenproduktion
dokumentiert), Tabakfelder und große Torfabbaue. Die Bodenschätze Braunkohle und Salz wurden
ebenfalls verstärkt abgebaut und vor allem die Salzgewinnung ermöglichte sichere Gewinne.
1.3.2 Salz und Kohle
Es sind vor allem die Kohle und das Salz, die bei der Industrialisierung des Landkreises Helmstedt
eine bedeutende Rolle gespielt haben. Für die Salzgewinnung sind Übertragungsrechte durch
Bischof Reinhard auf das neue Kloster St. Laurentius im Jahre 1120 urkundlich belegt. In der Stadt
Schöningen, die ihr Stadtrecht im 14. Jahrhundert erhalten hatte, wurde bereits seit dem 8.
Jahrhundert Salz gewonnen und es ist daher stark zu vermuten, daß es mindestens seit dieser Zeit
größere Siedlungen gegeben haben muß und die Salzgewinnung eine ständige Zunahme der
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Bevölkerung und der Beschäftigtenzahl erlaubte. Außerdem gehörte damals wie heute eine diesem
wirtschaftlichen Hauptzweig zuarbeitende Infrastruktur dazu, so daß sich wohl relativ schnell eine
arbeistteilige und vielfältige Wirtschaftsstruktur ergeben haben dürfte.
Bis zur Erfindung von Maschinen für den Salzabbau im 18. und 19. Jahrhundert wurde das Salz mit
primitiven und vergleichsweise uneffektiven Methoden gewonnen. Im Jahre 1845 war der
technische Fortschritt so weit gediehen, daß eine Sohle aus 600 m Tiefe gewonnen werden konnte
und die Erweiterung mit Siedepfannen ermöglichte in der Saline Schöningen eine Jahresproduktion
von 100.000 Zentnern. Der Ausbau der Bahnlinie von Schöningen nach Magdeburg brachte eine
deutliche Steigerung des Gewinns der Saline und bis etwa 1910 war die Saline in Schöningen zu
einem modernen Betrieb mit 150 Beschäftigten ausgebaut worden. Im Jahre 1970 wurde die Saline
"Neuhall" geschlossen. Sie hatte zuletzt eine jährliche Ausbeute von 100.000 Tonnen Siedesalz
verzeichnet. Im Landkreis wird heute nach wie vor in der Gemeinde Grasleben Salz gewonnen.
Neben der Salzgewinnung spielt der Kohlebergbau seit dem 18. Jahrhundert eine bedeutende Rolle
im Landkreis Helmstedt. Der Braunkohleabbau bei Helmstedt geht auf das Jahr 1725 zurück. Die
ersten Schürfrechte wurden 1794 an den ehemaligen Theologiestudenten Johann Friedrich Koch
vergeben. Am 26.1.1873 wurden die BKB mit einem Stammkapital von 1,6 Milliarden Talern
gegründet. Zu einem Preis von 2 Millionen Talern wurden die damals noch im Tiefbau
bewirtschafteten Gruben Treue bei Schöningen, Trendelbusch zwischen Schöningen und Helmstedt
sowie Prinz Wilhelm bei Helmstedt gekauft. 1886 wurde die erste Brikettfabrik errichtet (Treue I).
Neben dieser Brikettfabrikation kamen die Standorte Viktoria, Harbke und Fürst Bismarck hinzu,
die eine Monatsproduktion von 2.500 to aufwiesen. Im Jahr 1900 übersteigt die Kohleförderung
den Wert von 100.000 to pro Jahr zum ersten Mal. 1905 wird die Überland-Zentrale Helmstedt AG
gegründet. Ab dem 10.1.1906 wird der Helmstedter Raum mit elektrischer Energie versorgt. Die
Lieferung im ersten Geschäftsjahr 1906-1907 beläuft sich auf 700.000 kWh. 1909 wird das
Kraftwerk Harbke errichtet und 1925 wird mit der Stillegung des Südschachtes auf Prinz Wilhelm
der letzte Zeuge des Tiefbaues geschlossen. 1935 bis 1936 wurde im neu errichteten Schwelwerk
Offleben Mittelöl, Leichtöl, Teer und Phenolerzeugnisse gewonnen.
Nach dem Krieg und insbesondere nach der endgültigen Schließung der Grenze am 26.5.1952
gehen alle Gruben auf ehemals preußischem Gebiet (Tagebau Wulfersdorf, Teile des Tagebaus
Viktoria) sowie die Brikettfabrik Bismarck und das Kraftwerk Harbke verloren. Die BKB-AG
verliert dadurch 62% der gewinnbaren Kohlevorräte und der Bilanzwert aller verlorenen
Vermögensteile, nebst eingesetzter Geräte und Anlagen beträgt am Tage der Währungsreform 42,5
Millionen DM.
1952 bis 1954 wird für das verloren gegangene Kraftwerk Harbke das Werk Offleben errichtet.
1967 wird das Schwelwerk Offleben geschlossen. 1974 wird die BKB-AG nach Stillegung der
Brikettfabrik Treue zum reinen Stromproduzenten. 1980 wird das Kraftwerk Buschhaus errichtet,
das nach Inbetriebnahme 1985 noch in die überregionalen Schlagzeilen gerät, woraufhin die BKBAG 1987 eine moderne Rauchgasentschwefelungsanlage einrichten läßt, die es dem Werk mit
einem neuen technischen Trennungsverfahren erlaubt, immerhin 5% des Schwefels zu produzieren,
den die deutsche Chemische Industrie nachfragt.
1991 wird der Tagebau Alversdorf aufgegeben. 1993 wurde das Kraftwerk Offleben vom Netz
genommen, da die Abgaswerte nicht mehr den neuesten Richtlinien entsprachen. Sollte der
Aufschluß bei der Gemeinde Emmerstedt nicht stattfinden, so ist bis etwa zum Jahre 2015 mit dem
Auslaufen des Braunkohlebergbaus im Landkreis Helmstedt zu rechnen (n. frdl. Auskunft des
Öffentlichkeitsbüros der BKB-AG, 1993 und von Herrn Hausmann, ehem. Prokurist der BKB-AG,
1992).
Zurück zur Geschichte:
Das Jahr 1945 brachte mit dem Ende und dem Sieg der Aliierten Streitkräfte über das
nationalsozialistische Regime auch die innerdeutsche Trennung, die zu diesem Zeitpunkt noch
relativ unvollkommen war. Die Grenze, die sich in ihrem weitestgehenden Verlauf im übrigen am
Grenzverlauf zwischen Preußen und Braunschweig orientierte, schloß sich erst 1952 in einem
Maße, daß es für die Menschen gefährlich wurde, sie zu passieren. Nach und nach wurde sie so
ausgebaut, daß sie zum Schluß nur noch der Todesstreifen genannt wurde. In der Folge dieser
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hermetischen Abriegelung mußten viele Unternehmungen ihren Betrieb einstellen, denn es fehlten
ihnen die Marktzugangsmöglichkeiten in den Raum Magdeburg.
Trotzdem verstanden es Unternehmer, Banken und die Verwaltung, das Kreisgebiet, das in eine
sehr ungünstige Randlage geraten war, mit der Hilfe von Landes- und Bundesmitteln zu einem
industriellen und relativ prosperierenden Standort auszubauen, wobei die BKB-AG neben der
Verwaltung des Landkreises Helmstedt zum größten Arbeitgeber wurden. Viele Flüchtlinge und
Kriegsheimkehrer fanden in dieser Zeit in Helmstedt zunächst eine sichere Bleibe und es kam im
Zuge des Bevölkerungszuwachses zu ausgedehnten Wohnungsneubauten und vielen
Unternehmensgründungen.
Im November 1989 wurde die Deutschland trennende Grenze wieder geöffnet. Der Landkreis
Helmstedt war nach über 40 Jahren wieder in eine zentrale Lage in Deutschland gerückt. Es gab im
Rahmen der Grenzöffnung im Landkreis Helmstedt, vor allem in den grenznahen Gemeinden ein
großes spontanes Volksfest, das über Tage andauerte und als ein Ereignis besonderer
geschichtlicher Qualität in die Annalen eingehen wird.
1.3.3 Die Academia Julia
- Aliis inserviendo Consumor - Im Dienste anderer verzehre ich mich Diese Spruchweisheit von Herzog Julius, Herzog zu Braunschweig und Lüneburg, weist bereits
darauf hin, welchen Weitblick und welch eingehendes wirtschaftlich-kulturelles Fortschrittsverständnis dieser Mann gehabt haben muß.
1576 wird von Herzog Julius die Universität zu Helmstedt begründet (eine sehr gute
wirtschaftsförderliche Vorgehensweise), die lange Zeit die einzige in Niedersachsen blieb und die
bedeutendste evangelische Hochschule im damaligen Reich darstellte. Ihr guter Ruf zog viele
berühmte Gelehrtenpersönlichkeiten an. Um nur ein paar Namen zu nennen: J. Caselius (Schüler
des Melanchthon), G. Calixt, G. Bruno, L. Heister, G. C. Beireis u.v.m..
Die Universität sollte insgesamt knapp 233 Jahre bestehen und es haben in diesem Zeitraum 60
Theologen, 76 Juristen, 46 Mediziner und 96 Philosophen und Philologen dort gelehrt. Bis zum
Jahre 1635 hatten sich bereits 15.000 Studenten eingeschrieben(!). Von den 18 deutschen
Universitäten stand die Universität Helmstedt von der Bedeutung hinter Leipzig und Wittenberg an
3. Stelle. Der gute Ruf Helmstedts verminderte sich aber als die 1734 gegründete Universität
Göttingen mehr und mehr Einfluß gewann und deshalb das Interesse der Studenten und des
Lehrkörpers auf sich zog, was zu deutlichen Einschreibungsrückgängen an der Universität
Helmstedt führte und infolge dessen zu einer sukzessiven Abwanderung der klugen Köpfe.
Im Jahr 1810 wurden auf Erlaß des Königs Jerome Bonaparte die Universitäten Helmstedt und
Rinteln geschlossen. Der Grund war relativ ersichtlich. Zuletzt war die Helmstedter Universität
kaum noch attraktiv für die Studenten und Lehrenden und es waren nur noch eine Handvoll
ordentlicher Studenten eingeschrieben.
1985 wurde in den Gebäuden des Juleums die "Deutsche Technische Akademie" eingerichtet, die
1992 an eine Schweizer Holding veräußert worden ist. Der Arbeitsschwerpunkt liegt in der
praxisorientierten Weiterbildung auf naturwissenschaftlich-technischen Gebieten für Fach- und
Führungskräfte der Chemischen Industrie, des Maschinenbaus, der Elektrotechnik und des
Automobilbaus vorwiegend des In- und Auslands. Hauptarbeitsbereich ist dabei das Meßwesen, die
Normung, das Prüfwesen und die Qualitätssicherung sowie die Abwicklung ebensolcher Projekte in
Entwicklungsländern.
1.3.4 Die (ehemalige) Universitätsbibliothek zu Helmstedt
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Leider wurden viele der sehr wertvollen Bücher in die Bibliothek nach Wolfenbüttel verbracht.
Trotzdem befinden sich in der ehemaligen Universitätsbibliothek in Helmstedt noch viele außergewöhnliche Stücke, die von besonderer überregionaler, ja sogar internationaler Bedeutung sind,
wie sich unschwer aus der Besucherliste der Bibliothek entnehmen läßt.
Die Universitätsbibliothek Helmstedt ist weit davon entfernt, lediglich musealen Charakter zu
haben. Leider ist das vielen Entscheidungsträgern im Landkreis Helmstedt nicht bewußt und so
wird der ehemalige Lesesaal für repräsentative Zwecke ausgenutzt und die bibliophilen Schätze
fristen nur ein Randdasein.
In der UB Helmstedt werden in regelmäßig stattfindenden Seminaren für BibliothekarsAusbildungsgruppen die Einmaligkeiten und Seltenheiten vorgestellt. Viele internationale Forscher,
die sich zu Studienzwecken in der ehemaligen Universitätsbibiothek aufhalten, können sich mit
Hilfe des ehrenamtlich tätigen Bibiothekars Herrn Volkmann (dem hier zugleich gedankt sei für
seine außergewöhnliche Hilfsbereitschaft) in die wertvollen Urkunden und Bücher einarbeiten.
Es kann hier aufgrund des Umfangs des vorhandenen Buchbestandes nur ein exemplarischer
Ausschnitt gegeben werden.
Handschriften, Noten:
1. Brevarium Romanum, frühes 13. Jahrhundert (ca. 1230), Handschrift auf Ziegenpergament;
2. Deutsches Evangelienbuch, frühes 15. Jahrhundert, Handschrift auf Ziegenpergament;
3. Musae Sioniae, 7. Teil von Michael PRAETORIUS, 1611;
4. Der Psalter Davids von Cornelius BECKER und Heinrich SCHÜTZ, 1676
Bibeln, Inkunabeln, Frühdrucke
1. Biblia integra von 1491
2. Der Sachsenspiegel (1528), auffs newe gedruckt und anderweit mit vleisse corrigiret von EIKE
von REPGOW; die Besonderheit dieser Ausgabe sind die Urteile des Magdeburger SchöffenStuhls;
Bücher aus dem Zeitalter der Reformation
1. Martin LUTHER, Die Heubtartikel des Christlichen Glaubens/ Wider den Babst/ und der Hellen
Pforten zu erhalten..., Wittenberg 1545
2. Philipp MELANCHTHON, Corpus Doctrinae Christianae, Wittenberg 1561
Unikate:
1. Petrus de CRESCENTIIS, Von dem nutz der ding die in äckern gebuwt werde. Vom nutz der
bawleüt. Von der natur, aller gewächsz, früchten: thye eren, und alles des der mensch geleben
oder in dienstlicher übung haben soll, Straßburg, 1518
2. BUFFONS Naturgeschichte der Vögel; dieser und die anderen Bände enthalten handkolorierte
Stiche aller beschriebenen Vögel
3. Reinhold ERASMUS, Gründlicher und Warer Bericht vom Feldmessen/ Sampt allem /was dem
anhengig..., Desgleichen: vom Mar(k)scheiden kurzer und gründlicher unterrricht, 1574, dieses
Buch ist eine Rarität in Deutschland, lediglich in Freiberg/Sachsen gibt es noch ein weiteres
Exemplar.
Die UB Helmstedt ist nicht nur für Historiker und Bibliothekare von besonderer Bedeutung. Man
sehe sich nur die Vorlesungsverzeichnisse der Universität an und siehe auf die Namen der
Lehrenden und man erhält einen Eindruck von der einstigen Bedeutung dieser Universität.
Menschen wie G. Bruno, L. Heister , H. Meibom, G. C. Beireis u. v. a. weisen darauf hin, weshalb
sich so viele internationale Forscher heute mit der Helmstedter Wissenschaftsgeschichte
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beschäftigen. So ist die UB Helmstedt zu einem wichtigen Zentrum für Forschungen zur Geschichte
der Pharmazie und Botanik geworden, da sich in ihrer Obhut zwei wertvolle HERBARIEN des
Prof. L. HEISTER (1683-1758) in 98 Bänden und der Professoren und Apothekerfamilie
LICHTENSTEIN in 238 Kästen befindet. Um nur einen kleinen Überblick über den
Internationalismus zu geben, den die Helmstedter Universitätsbibliothek anlockt, seien hier
Forschungsarbeiten aus Rußland, Polen, Schweden, USA, Rumänien, Österreich, Israel angedeutet.
1.4 Ein Abriß der politischen und territorialen Entwicklung des Landkreises Helmstedt
Der Landkreis Helmstedt hatte in seinen ehemaligen Umgrenzungen bis zum Jahre 1750 86 Orte,
die zu 8 verschiedenen Ämtern, einem fürstlichen Gericht, 5 Klostergerichten, 8 adlige Gerichten
und 3 Stadtgerichten gehörten.
In dieser alt-braunschweigischen Verwaltung waren die „Ämter“ eine Zwischenstufe zwischen
Staat und Gemeinde, die als untere Instanz für Verwaltung und Justiz eine bestimmte Anzahl von
Gemeinden umfaßten. Um 1750 wurden die Ämter von der braunschweigischen Regierung
zusammengefaßt und neu gestaltet, indem fortan ein Oberamtmann oder Oberhauptmann den vier
neu gegründeten Bezirken vorstand. Neben dem Amtmann trat als dessen Angestellter der
Justitiarius als Rechtspfleger auf. Aus dem Justitiarius wird im 18. Jahrhundert ein fürstlicher
Beamter. Hier ist bereits eine Trennung von Verwaltung und Rechtspflege erkennbar.
In der napoleonischen Zeit, also ab 1807, als Braunschweig zum Königreich Westfalen gehörte,
wurden über die alten Landes- und Herrschaftsgrenzen hinweg, neue geographische, nicht
historisch bestimmte Neugliederungen nach Departments, Distrikten und Kantonen vorgenommen,
wobei die Stadt Helmstedt zur Destrikthauptstadt erklärt wurde.
Nach 1814 wurden in Anlehnung an die westfälischen Kantone Kreisgerichte gebildet, an deren
Spitze juristisch gebildete Amtsleute standen. Durch die Justizreform von 1823/35 wurde die
Trennung von Justiz und Verwaltung auch auf Amtsebene angebahnt. In Helmstedt wurde ein
Distriktgericht eingerichtet, dem die Kriminaljustiz und die Aufsicht über Kreisgerichte unterlag.
Den Kreisgerichten unterstand die niedere Gerichtsbarkeit, weshalb sie auch in Kreisämter
umbenannt wurden. Es wird hier also zuerst über die Justiz und dieser folgend auch über die
Verwaltung die spätere Kreisgliederung vorweggenommen.
Nach dem Umsturz von 1830, der die bestehenden Machtverhältnisse nicht grundlegend veränderte
und folglich auch keine durchgreifende rechtliche Neuordnung bewirkte, erfolgte eine wirkliche
Verwaltungsreform, die unter nicht einfachen Umständen in Braunschweig ausgearbeitet worden
war. Ab dem 6.10.1832 hatte der Landkreis Helmstedt den Umfang, den er, bis auf die Exklave von
Calvörde, welche später dem Landkreis Haldensleben zugeordnet wurde, bis zur Gemeinde- und
Verwaltungsreform von 1972 und 1974 behielt.
Als erster Kreisdirektor des Kreises Helmstedt nahm 1832 Justizamtmann Eisfeldt zu Vorsfelde
seine Arbeit auf. Die Kreisdirektoren unterstanden dem Ministerium, ihnen selbst waren alle
Beamten und Behörden in ihrem Bezirk unterstellt. Die Ämter wurden für geraume Zeit noch als
Selbstverwaltungskörperschaften weitergeführt, bis ihnen 1849 mit der konsequenten Trennung von
Justiz und Verwaltung alle gerichtlichen Aufgaben entzogen wurden. 1850 bereits wurden die bei
den Ämtern verbliebenen Verwaltungsaufgaben auf die Kreisdirektorien übertragen und
Amtsgerichte eingerichtet.
Trotzdem war das Mitbestimmungsrecht immer noch vom 3-Klassen-Wahlrecht bestimmt, in dem
das Stimmgewicht von der Höhe der Steuerzahlungen abhängig war. 1870 wurden dann die
Kommunalverbände, Zusammenschlüsse der kreisangehörigen Gemeinden, mit einer von den Stadtund Gemeindeparlamenten gewählten Kreisversammlung und einem vom Kreisdirektor gewählten
Kreisausschuß für die laufenden Geschäfte, gebildet.
Seit 1919 war der Freistaat Braunschweig auf höchster Ebene eine parlamentarische Demokratie,
die seit 1922 mit einer entsprechenden Verfassung ausgerüstet war. Die Kreisordnung von 1925
brachte den braunschweigischen Kreisen das Recht, alle Aufgaben, deren Übernahme nach
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Auffassung des Kreistages im Interesse des Landkreises zweckmäßig erschien, wahrzunehmen,
vorausgesetzt es bestanden keine übergeordneten gesetzlichen Regelungen.
Ab 1930 begann die Schlußphase der Weimarer Republik in Braunschweig. Die Nationalsozialisten
hatten zu dieser Zeit nur 9 Sitze im Landtag. 1932 fand die letzte ordentliche Plenarsitzung des
Braunschweigischen Landtags statt. 1933 fiel durch das erste Gesetz zur Gleichschaltung der
Länder mit dem Reich die Beschlußfunktion der Vertretungskörperschaften der kommunalen
Selbstverwaltung, die lediglich das Recht auf Anhörung behielten.
Durch die nationalsozialistische Diktatur wurden die zäh errungenen Mitbestimmungsrechte sehr
stark eingeschränkt bzw. völlig abgeschafft und dem zentralisierten Führerprinzip untergeordnet.
Nach dem verheerenden Zweiten Weltkrieg wurde dann der Amtsbezirk Calvörde in die sovietische
Besatzungszone einbezogen und späterhin dem Landkreis Haldensleben zugeordnet. Seit 1946 sind
die Gemeinden wie auch die Kreise als Selbstverwaltungskörperschaften neben dem Staat
selbstständige Einheiten, die nur noch im Auftrage tätig werden können.
Der Landkreis Helmstedt und die Gebietsreform 1972-74
Die Gebietsreform war eine politische Entscheidung mit dem Ziel, organisatorisch sinnvolle
Verwaltungseinheiten zu schaffen und so selbst den kleinen und kleinsten Gemeinden das Wissen
und den Sachverstand qualifizierter Verwaltungsexperten zur Verfügung zu stellen.
Die seit 1832 gültigen Grenzen des Landkreises wurden im Jahre 1972 aufgehoben. Der
Gutachterausschuß hatte eine Kreisfläche von 1068 km2 vorgeschlagen, die etwa 156.000
Menschen beheimaten sollte. Dieser Vorschlag hätte nach Meinung des Gutachterausschusses dazu
beigetragen, "den Wirtschaftsraum Helmstedt stärker nach Norden und Nordwesten hin zu
entwickeln; der im Raum Wolfsburg vorherrschenden Monostruktur würden hierdurch
wirtschaftliche Schwerpunkte entgegengesetzt werden, was für den Gesamtraum nur förderlich sein
wird." (Gutachten der Sachverständigenkommission für die Verwaltungs- und Gebietsreform,
1969).
Trotz des Vorschlags in dem Gutachten der Sachverständigenkommission für die Verwaltungs- und
Gebietsreform vom März 1969 wurden aus dem Kreis Helmstedt die Stadt Vorsfelde sowie die
Gemeinden Ahnebeck, Bergfeld, Brechtorf, Eisschott, Hoitlingen, Neuhaus, Parsau, Rühen,
Tiddische, und Wendschott herausgelöst. Dem Kreis entstanden dadurch erhebliche finanzielle
Mindereinnahmen, die nicht ausgeglichen werden konnten. Deshalb sorgte diese Umstrukturierung
für ernsthafte kritische Auseinandersetzungen und Unruhe im Landkreis sowie auf der
Regierungsbezirksebene.
Am 11.2.1974 wurde der Gebiets- und Einwohnerstand des Landkreises noch einmal geändert,
dieses Mal jedoch mit für den Landkreis positivem Ausgang. Ab dem 1.3.1974 wurden aus dem
Landkreis Braunschweig die Gemeinde Lehre und aus dem Landkreis Gifhorn die Gemeinden
Ahmstorf, Beienrode, Klein Steimke, Ochsendorf, Rennau, Rhode, Rottorf und Uhry in den
Landkreis Helmstedt eingegliedert, also dem Vorschlag der Gutachterkommission zumindest zum
Teil gefolgt. Die Fläche nahm von 552 km² (erste Version von 1972) auf ca. 674 km², die
Einwohnerzahlen von 95.774 auf 105.286 zu.
In diesen Abgrenzungen existiert der Landkreis Helmstedt bis zum heutigen Tage.
1.5 Die Grenze und ihre Wirkung auf den Landkreis Helmstedt
Die Ostgrenze der Bundesrepublik Deutschland ist eine Folge des Zusammenbruchs des
nationalsozialistischen Regimes, das sich vor allem dadurch auszeichnete, daß es Menschen anderer
Gesinnung, Hautfarbe und Religion verachtete und die ganze Welt in den Zweiten Weltkrieg
verwickelte, der zu millionenfachem Leid führte und zudem Deutschland in zwei Hälften spaltete.
- 23 -
Die Zonengrenze entstand in den Kriegsgeschehnissen aufgrund militärisch strategischer
Vorgehensweisen und erst nach 1945, in den beginnenden Zeiten des Kalten Krieges (also politisch
induziert), verhärtete sie sich zu einer unüberwindlichen Mauer. Das volksdemokratische
Regierungssystem der ehemaligen DDR gedachte, sich gegen die pluralistisch-parlamentarische
und mit den Amerikanern verbündete Bundesrepublik schützen zu müssen, indem sie einen
"Eisernen Vorhang" errichten ließ. Damit wurde diese Grenze zu einem Sinnbild zweier
gegensätzlicher politischer Systeme.
Die Grenzziehung hat zu einer nahezu unvergleichlichen Situation geführt. Eisenbahnlinien und
Autostraßen, Berge, Täler und Flüsse, dicht besiedelte Industriestandorte, land- und forstwirtschaftlich genutzte Flächen, Erholungsflächen und Bergbaugebiete - wie im Falle des
Landkreises Helmstedt - wurden mit einem "Todesstreifen" versehen, damit niemand die
Eigenentwicklung des letztlich so erfolglosen pseudosozialistischen Gefüges stören konnte. Auf
beiden Seiten der insgesamt knapp 2150 km langen Grenze wurde das gewachsene
Beziehungsgeflecht von mehreren Millionen Menschen zerschnitten und für über 40 Jahre rigide
auseinandergehalten.
In der Region Braunschweig gab es die ersten Bemühungen und nachhaltigen Initiativen zur
Ingangsetzung einer langfristigen Zonenrandförderungspolitik. In dieser Region galt rückblickend
auf alle Fälle die Formulierung, daß eine einst blühende Wirtschaft, die auf persönlichem,
kulturellem, wirtschaftlichem, verkehrs- und verwaltungsmäßigem Bereich nach Mitteldeutschland
in Jahrhunderten gewachsen waren, durch die Demarkationslinie unterbrochen wurden. Zwar wurde
der verkehrsmäßige Fluß aufgrund der Entschließung der drei Westlichen Besatzungsmächte
wiederhergestellt, die Demarkationslinie zum sovietischen Sektor stellte jedoch nach wie vor eine
Handels- und Austauschbarriere dar (Henk, 1985).
Um dieses Abgeschnittensein zu mildern, wurde die Zonenrandförderung ins Leben gerufen, zuerst
wohl mit dem Gedanken, daß sich die bestehende Situation in absehbarer Zeit abmildern werde und
Deutschland dann wieder vereinigt worden wäre. Mit aus diesem Grund wurden z. B. die
"Grenzabfertigungsanlagen" in Marienborn zuerst aus Holz errichtet. Damit wollte man zeigen, daß
es sich dabei lediglich um eine vorübergehende Einrichtung handelte (s. a. Ausstellung im
Zonengrenzmuseum in der Stadt Helmstedt).
Das erwies sich leider als Trugschluß - statt offener wurde die Grenze auf der Seite der DDR bis
1989 mit militärischer Präzision immer undurchlässiger gestaltet.
1.5.1 Die Gründe für eine Zonenrandförderung
Viele Autoren, die sich mit dem Thema Zonengrenze beschäftigt haben (s.a. Berg, 1989), sehen vor
allem folgende Aspekte als besonders ausschlaggebend für die Verschlechterung des Lebensraumes
Zonengrenzgebiet an:
- Lahmlegung früherer Verkehrsverbindungen, die weiträumige Umwege erforderlich machen,
- Verlust von Absatzgebieten,
- Verlust von Bezugsquellen,
- Kostensteigerungen durch Verschlechterung der Standortlage,
- Standort als Hemmnis bei der Auftragsvergabe,
- Abwerbungs- und Abwanderungsgefahr bei Betrieben und Menschen.
Die allgemeine sozio-ökonomische Verschlechterung erzeugte im Raum Braunschweig einen
wirtschaftlichen Konzentrationsprozeß, der im übrigen aber nicht nur im Zonenrandgebiet stattfand.
So stellt auch Henk (1985) fest: „Die Schwundprozesse vollzogen sich zumeist unabhängig vom
Verlust der Marktverflechtungen mit dem mitteldeutschen Raum.“
- 24 -
In der „überkommenen“ Wirtschaftsstruktur der Region Braunschweig standen die Konserven-,
Zucker- und Mühlenwirtschaft im Mittelpunkt. Trotz der Zonenrandförderung blieben nur wenige
Betriebe übrig und der Konzentrationsprozeß ergriff auch die Molkereien und Ziegeleien im
ländlichen Raum, die dort nach und nach verschwanden.
Man wollte das Zonenrandgebiet eigentlich zu einer Art Schaufenster ausgestalten, um dem
politischen Gegner Wohlstand und Kraft zu demonstrieren. „Der Konzentrationsprozeß erwies sich
als die stärkere Kraft gegenüber der Realisierung des gewerblichen "Schaufensters nach Osten" mit
öffentlichen Anreizmitteln“ (Henk, 1985).
Ein gewichtiger Grund für den relativ intensiven Strukturenwandel ist in den verlorenen und
abgeschnittenen Kommunikationsstrukturen (z.B. den Verkehrsverbindungen) zu sehen, infolgedessen ein Abdriften der Zonenrandgebiete in die wirtschaftliche und kulturelle Bedeutungslosigkeit stattfand.
1.5.2 Die verschiedenen Zonenrandförderprogramme
Am 2.7.1953 wurde mit Beschluß vom Deutschen Bundestag die 40-km-Zone als Förderregion
festgelegt (Henk, 1985). Dabei kamen verschiedene Instrumente zum Einsatz. Dies sind vor allem
die Landesmittel, die dem Fremdenverkehrsgewerbe, dem Handwerk und dem sonstigen
Kleingewerbe für Investitionen zur Verfügung gestellt werden sollten, um die Leistungsfähigkeit
der Betriebe zu verbessern. Bundesmittel wurden vor allem dann gewährt, wenn aufgrund der
Kredithöhe der Antrag aus Landesmitteln nicht befriedigt werden konnte. Sie sollten vor allem der
Schaffung sowie der Festigung gewerblicher Dauerarbeitsplätze in Industrie, Handwerk und
Fremdenverkehrsgewerbe dienen.
Daneben gab es sogenannte „Sonstige Maßnahmen“, wie
- Investitionszuschüsse von bis 15, 20 und 25% der Investitionskosten für Vorhaben in
Schwerpunktorten;
- Zinszuschüsse;
- Frachthilfen;
- Sonderabschreibungen;
- Halbierung der Beförderungssteuer;
- Bevorzugung bei der Vergabe öffentlicher Aufträge;
- steuerfreie Investitionszulagen von 10% der Anschaffungs- und Herstellungskosten bei
Neuansiedlung und Betriebserweiterungen von Produktionsbetrieben sowie 7,5% der Kosten
für grundlegende Rationalisierungen und Umstellungen
1.5.2.1 Zonenrandförderung nach dem ROG
Seit 1965 mit Verabschiedung des ROG wurde die Förderung des Zonenrandgebiets zu einer
vordringlichen Aufgabe des raumordnungspolitischen Handelns des Bundes. Hier wurde
konstatiert, daß die Leistungskraft des Zonenrandgebietes "bevorzugt" zu stärken sei; es sollten
desweiteren Strukturen geschaffen werden, die denen im gesamten Bundesgebiet "mindestens
gleichwertig" sind und es sollten vordringlich Bildungs-, Kultur-, Verkehrs-, Versorgungs- und
Verwaltungseinrichtungen geschaffen werden.
Das Zonenrandgebiet ist aber keine räumliche Struktur und auch kein eigener Wirtschaftsraum,
sondern ausschließlich eine politische Schöpfung. Die Förderung dieses Gebiets ist somit auch eine
rein politische, vor allem eben eine deutschlandpolitische Entscheidung gewesen, deren Ziel es war,
die Grenze in Deutschland zu überwinden (Berg, 1989). Nach dem Regionalen
- 25 -
Raumordnungsprogramm (1975) gehörte Helmstedt als Schwerpunktort zum Schwerpunktgebiet
Braunschweig.
1.5.2.2. Zonenrandförderung nach dem Zonenrandförderungsgesetz (ZRFG)
Das seit 1971 gültige ZRFG verfolgte eine umfassende Verbesserung der Verhältnisse im
Grenzgebiet zur DDR und zur damaligen CSFR. Vor allem staatliche Leistungen, wie regionale
Wirtschaftsfördermaßnahmen über steuerliche und verkehrspolitische Maßnahmen, aber auch das
Wohnungswesen, soziale Einrichtungen bis hin zur Bildung und Kultur sollten zu einer
Verbesserung der Lebensbedingungen im Zonenrandgebiet führen. Es ergaben sich aus diesem
Gesetz aber keine unmittelbaren Rechtsansprüche. Dieses Gesetz hatte vor allem für die Behörden
und sonstigen staatlichen Einrichtungen des Bundes besondere Wirkung. Vor allem auf dem
Verkehrssektor galt es, einen großen Nachholbedarf zu bewältigen (eine detaillierte juristische
Bearbeitung dieses Sachverhaltes findet sich u. a. bei Berg, 1989).
1.5.2.3 Zonenrandförderung nach dem GRW
Seit 1970 trat das Gesetz zur Verbesserung der regionalen Wirtschaft (GRW) in Kraft, das
mehrmals geändert wurde, auch um es den aktuellen Bedingungen besser anpassen zu können. Es
bestand auf alle Fälle kein Rechtsanspruch, doch das Gesetz hatte allein das Zonenrandgebiet als
Förderungsgebiet anerkannt, während für anderen Gebiete jeweils eine besondere Festlegung durch
den Planungsausschuß erforderlich war, die sich nach konkreten wirtschaftlichen
Bedürfigkeitskriterien richtete.
Die Stadt Helmstedt sowie die Samtgemeinden Heeseberg und Nord-Elm gehörten zu den
Schwerpunktorten nach der GA. Übriggeblieben waren lediglich die Stadt Schöningen und die
Gemeinde Büddenstedt, wobei hier aber durchaus die Frage gestellt werden kann, an welche
wirtschaftlichen Potentiale hier angeknüpft werden kann. Außer dem Bergbau und dem
Energiesektor sind hier keine nennenswerten Potentiale vorhanden (NIW, 1993).
In der Konzentration von Subventionszuweisungen stand der Schwerpunktort Helmstedt an dritter
Stelle im Bezirk Braunschweig. Die Förderung bestehender und neuer Unternehmen hielt sich hier
annähernd die Waage. Dabei stand der Ort zahlenmäßig an zweiter Stelle im Ansiedlungserfolg
(zumindest bis 1970; Henk, 1985).
Es bleibt abzuwarten, wieviele Unternehmen sich in den nächsten Jahren u. a. aus dem Grund des
Wegfalls dieser Förderoptionen aus dem Landkreis Helmstedt zurückziehen werden. Es muß hier
auch direkt die Frage gestellt werden, wie mit den Standorten in Anbetracht des Wegfalls der
Förderoptionen entlang der ehemaligen Zonengrenze umgegangen werden soll. Es kann nicht die
alleinige Aufgabe der Gebietskörperschaften sein, den Wegfall der Grenze durch ausschließlich
eigene Vorgehensweisen zu kompensieren. Da ist eindeutig sowohl das Land als auch der Bund
gefordert, denn nach wie vor gelten die Gesetze der gleichen Lebensqualitäten für alle Bewohner in
allen Teilen der Bundesrepublik Deutschland. Die spezielle Fördersituation und die Nähe des
Landkreises Helmstedt zu den hochgeförderten Kommunen in Sachsen-Anhalt fällt zusammen mit
der Streichung von Förderoptionen für infrastrukturelle Ausstattungen, Bildungsmaßnahmen und
einer prekären Haushaltslage der Kommunen auf der westlichen Seite der ehemaligen Grenze.
1.5.2.4 Die ehemalige Zonenrandförderung im Beihilferecht der EG
Da die EG lediglich an einem unbeeinträchtigten Handel interessiert ist, interessieren sie auch nur
die Wirkungen der von den Nationalstaaten verfügten Interventionsmaßnahmen zugunsten
rückständiger Wirtschaftsräume. Nationale Subventionen werden nur dann akzeptiert, wenn sie
transparent, minimal, zweckdienlich und befristet sind. Danach muß ihre Höhe in Prozenten der zu
fördernden Investition ausdrückbar sein; sie dürfen nicht höher sein als dies der Förderungszweck
gerade verlangt; die zu fördernde Maßnahme muß bestimmt und der Kommission vorher mitgeteilt
worden sein; schließlich müssen Subventionen tatsächlich der Umstrukturierung dienen und dürfen
nicht die Weiterführung unrentabler Produktionen begünstigen (Berg, 1989).
- 26 -
Die EG-Kommission überprüft dabei lediglich nur solche staatlichen Beihilfen, die bestimmte
Unternehmen oder Produktionszweige begünstigen. Von der Überprüfung nicht betroffen sind alle
staatlichen Hilfen für Gebietskörperschaften, Vereine, Privatpersonen, die ideellen Zwecken dienen
(wie z. B. Kultur, Freizeit, Sport, Gesundheit) und alle Beihilfen und Maßnahmen, die außerhalb
von Unternehmen auf den Ausbau der Infrastruktur (Straßen, Brücken, Schulen, Bahnen etc.)
ausgerichtet sind.
Zur Beurteilung der Verein- oder Unvereinbarkeit von Beihilfen zieht die EG-Kommission
Indikatoren wie die Arbeitslosenquote und die Bruttowertschöpfung sowie die soziale Lage heran.
Dazu werden bestimmte Schwellenwerte festgelegt, die dann als Richtschnur bei der
Entscheidungsfindung dienen.
Da die Situation im Zonenrandgebiet politisch bedingt war und aufrecht erhalten wurde, war hier
von vornherein jede wirtschaftliche Betätigung aufgrund des Fehlens natürlicher Leistungsfaktoren
(also politisch unbeeinflußter wirtschaftlicher Tätigkeiten) künstlich außer Kraft gesetzt. Dieses ist
aber ein wesentlicher Grund dafür, daß die EG die gewährten staatlichen Beihilfen in Frage stellt,
denn es kam de facto dadurch zu einer Verzerrung des Wettbewerbs im Gemeinsamen Markt. Auf
der anderen Seite wies und weist das (ehemalige) Zonenrandgebiet als einzige Region in Europa
den Standortvorteil einer unmittelbaren Nahtstelle zu den RGW-Ländern auf. Nirgends sonst
bestanden und bestehen so viele verschiedene natürliche, menschliche, technische und
wirtschaftliche Verbindungslinien zum Osten wie entlang der ehemaligen Zonengrenze. Deshalb
beanstandete die EG die staatlichen Beihilferegelungen auch nicht vollständig , da der Ausbau der
Brückenstellung einen kontinuierlichen Strukturwandel erlaubte und eine erhöhte Durchlässigkeit
der Grenze auf den verschiedensten Gebieten die Kostennachteile der Wirtschaft im ehemaligen
Zonenerandbereich stark verringerte. Erst so konnten die Voraussetzungen geschaffen werden, um
die eigentlichen Ziele der EG zu erreichen - Festigung von Frieden und Freiheit für die Bürger und
Bürgerinnen im Beitrittsgebiet.
Heute ist das ehemalige Zonenrandgebiet, in dem auch der Landkreis Helmstedt liegt, relativ
gefährdet, da nach den Einwanderungsgewinnen nun, Anfang 1994, bereits erste Abwanderungserscheinungen von Bevölkerung und Unternehmen zu diagnostizieren sind. Es sieht sogar so aus,
als wäre der ehemals konstatierte große Standortvorteil der mittigen Lage gar nicht so groß. Das
wirtschaftsförderliche Konzept einer Brücken- und Schaufensterfunktion gehört der Vergangenheit
an und es steht mehr denn je zuvor eine umfassende Bestandspflege im Vordergrund der
wirtschaftsförderlichen Aktivitäten.
1.5.3 Die Zonenrandförderung in der Kritik
Aus Sicht der EU stellt grundsätzlich jede staatliche, insbesondere sektorale Beihilfe in einem
gemeinsamen Markt eine Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs dar. Deshalb werden
diesbezüglich gewährte Beihilfen auch kritisch überprüft. Bei der Subventionsvergabe gilt
schlechthin das Prinzip: der Staat bzw. die Europäische Union hat nichts zu „verschenken”.
Deshalb sind Subventionen an Auflagen gebunden. Subventionen können zu einer schweren
Beeinträchtigung des Wirtschaftslebens führen, die u. U. bis zu einer Aushöhlung der unternehmerischen Freiheiten reichen kann. Jede harte Eigenleistung des Einen könnte durch die
staatliche Leistung und Förderung (also Subventionierung) des Anderen ausgeglichen bzw. nichtig
werden. Solche wettbewerbsverzerrenden Vorgänge sind im Rahmen eines Gemeinsamen
Europäische Marktes nicht akzeptabel.
Eine besondere Schwierigkeit der Subventionsvergabe besteht in der Erfolgskontrolle der
gewährten Subventionen. Der Staat ist rechtlich verpflichtet, die gewährten Subventionen möglichst
optimal einzusetzen, denn er greift damit in die Grundrechte der Steuerzahler und Konkurrenten
ein. Deshalb sind die Auflagen und somit die Zweckvorgaben für zu gewährende Subventionen
spezifisch zu gestalten.
- 27 -
Betrachtet man z.B. den Einsatz von Bundesmitteln im Zeitraum bis 1970 so ist offensichtlich, daß
der Landkreis Helmstedt zu einem der Schwerpunktgebiete in der Braunschweiger Region gehörte.
Helmstedt gehörte zu den Bundesausbauorten und befand sich deshalb auch an der Spitze der
Dotationsskala bezüglich der Bundesmittel (Henk, 1985). Es wurden hier eine Reihe von
Neugründungen und diverse Erhaltungsprojekte gefördert. Geht man von der Dichte der geförderten
Betriebe aus, so lag der Schwerpunkt der Förderungen auf der Fremdenverkehrswirtschaft. Nach
dem Subventionsvolumen nahm der Fahrzeugbau den ersten Platz ein (zumindest bis 1970).
Die vergebenen staatlichen Mittel haben bei der Bildung baulicher Anlagenvermögensteile maximal
ein Fünftel ausgemacht und haben somit ein Bauvolumen von ca. drei Viertel Milliarden DM
geschaffen. Da mit baulichen Investitionen auch Anlageninvestitionen verbunden waren, sind durch
die Förderungsmaßnahmen wahrscheinlich „milliardenschwere“ Investitionen ausgelöst worden.
Außerdem verursachen finanzielle öffentliche Aktionen Multiplikatorwirkungen in den zwischen
abhängigen Wirtschaftsbereichen und ziehen sogenannte Komplementärinvestitionen nach sich, die
ihrer Größe und Höhe nach durch den Autor dargestellt werden konnten.
Henk (1985) weist darauf hin, daß „..in der überwiegenden Zahl aller Fälle... die öffentlichen Mittel
der Spitzenfinanzierung gewerblicher Vorhaben dienten. Das Anreizmittel der staatlichen
Kredithilfe in Ermangelung ausreichenden Eigen- bzw. Bankkapitals nahm bei der Ausführung
betrieblicher Projekte (zumindest in der Region Braunschweig, Anm. d. Autors) den ersten Platz
ein. Das geht aus der nachweisbaren Tatsache hervor, daß es sich bei den meisten Förderfällen um
Baufinanzierungen gehandelt hatte. Die Analyse dieser konkreten Subventionszuweisungen
widerlegt eindeutig die Behauptungen zahlreicher Theoretiker, die öffentlichen Zuweisungen hätten
ausschließlich den Charakter des Mitnahmeeffektes bei der Standortwahl im Zonenrandgebiet
gehabt. Für Verlagerer in das Zonenrandgebiet spielten selbstverständlich die zusätzlichen
Vergünstigungen, wie z. B. die Inanspruchnahme der Sonderabschreibungen auf das
Anlagenvermögen eine erhebliche Rolle. Bei einigen Großprojekten war der Zwang der
Inanspruchnahme öffentlicher Mittel weniger gravierend, hier ging es ausschließlich um das
Arbeitsplatzangebot.“
Viele dieser Unternehmen haben überlebt, andere sind trotz der Kreditzuweisungen bankrott
gegangen, vor allem wenn sie nicht den Wachstumsbranchen (hier im Zeitraum bis 1985)
zuzurechnen waren.
Der Faktor Boden als Ansiedlungslockmittel hat in der Region Braunschweig eine besondere Rolle
gespielt. So standen auch im Landkreis Helmstedt diverse Standorte z. T. mit erschlossenem
Gelände und vorhandenen Baulichkeiten zur Umnutzung zur Verfügung. Hierzu zählten nach Henk
(1985) z.B. Anlagen der ehemaligen Wehrmacht (z. B. Marienborn, Heidwinkel), Gebäude des
aufgelassenen Bergbaus (z. B. BKB-Werkstätten), im Zuge des Konzentrationsprozesses
stillgelegte Fabriken u. ä.. Der Faktor Boden hatte auch bei der Nutzung als Erholungsraum einen
besonderen Anreiz für die Ansiedlung bzw. die Wiederbelebung von Pensionshäusern, Ferienparks
und einigen Hotels aus (z.B. Ferienparks Elm (Räbke), Mariental, Neueröffnung des Königshofes,
Wiedereröffnung des Quellenhofes).
Im Bereich des Faktors Arbeit galt es aufgrund der industriellen Monostrukturierung in der Region
Braunschweig die Schaffung von Erwerbsalternativen zu gestalten. In den Kreditvergaberichtlinien
hieß es deshalb, daß mit den Bundesmitteln vorrangig Projekte gefördert werden sollten, durch die
neue gewerbliche Arbeitsplätze geschaffen werden konnten.
In einer zweiten Phase der Belebung des Erwerbslebens durch Schaffung neuer Arbeitsplätze wurde
verstärktes Gewicht auf die fachliche Weiterbildung in der gewerblichen Wirtschaft gelegt. In der
dritten Phase bis 1970 wurden dann vor allem Umschulungsaktivitäten eingeleitet, um die starken
Freisetzungen im Bergbau abzufangen und diesen Erwerbstätigen eine neue Orientierung zu bieten.
Im Landkreis Helmstedt setzte der Bergbau nur relativ langsam Arbeitskräfte frei und die
freiwerdenden Arbeitskräfte konnten vorwiegend zur VW-AG überwechseln. Heute, wo es
ebenfalls wieder einen vermehrten Abbau von Arbeitskräften im Bergbau aufzufangen gilt, ist das
nur noch bedingt möglich, wenn nicht sogar ausgeschlossen, da die VW-AG ebenfalls verstärkt
Arbeitsplätze freisetzt.
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Henk (1985) spricht bereits davon, daß der Ausgleich im Bereich der Bergbauschwerpunktorte
Helmstedt und Schöningen nur teilweise erfolgreich gewesen ist. Trotzdem ist im Bezirk
Braunschweig ein Übergewicht an sogenannten "footloose-Gründungen" zu verzeichnen, was zu
neuen Betriebsagglomerationen geführt hat. Diese haben einen erheblichen Anteil an der
notwendigen Diversifikation von Ausgleichsindustrien gegenüber den krisenanfälligen
Monostrukturen bewirkt und müssen deshalb auch als besonderer Erfolg des Bundesmitteleinsatzes
gewertet werden (Henk, 1985).
Bezüglich dieser staatlichen Förderungen wird immer wieder das Gießkannenprinzip angeführt. Im
ehemaligen Zonenrandbereich ist insgesamt festzustellen, daß sich der Mitteleinsatz stark auf die
zentralen Orte konzentriert hat. Dieses Schwerpunktprinzip sieht seinen Ursprung übrigens im
Zentrale-Orte-System von Christaller.
Nichtsdestotrotz war ein eindeutiger flächenmäßiger Streueffekt zu beobachten. der
Konzentrationsprozeß aber vollzog sich fast automatisch und sachgemäß folgerichtig in den
zentralen Orten, da dort das mittelständische Gewerbe schon rein zahlenmäßig stärker vertreten war
als im Ländlichen Raum. Im ländlichen Umfeld konnten sich mit Hilfe der Subventionen
Handwerker und sonstige Gewerbetreibende entfalten, die nicht an die unmittelbare Kundennähe
gebunden waren. Hierzu gehörten vor allem Zimmerer, Dachdecker und sonstige Baugewerbe, da
sie einen relativ hohen Flächenbedarf für ihre Bauhöfe haben und folglich der Faktor Boden und
sein Preis für sie stark zum Tragen kommt.
Damit wurde doch zu einem bemerkenswerten Teil den Verödungsprozessen im ländlichen Umfeld
vorgebeugt. Leider ist im Nachhinein festzustellen, daß in den grenznahen Orten wie Schöningen
und Helmstedt, trotz einer erheblichen Verdichtung der Fördermittel durch Erhaltungs- und
Ansiedlungssubventionen, die wirtschaftliche Besserstellung dieser Randkommunen (eine sehr
wichtige Zielvariable im Rahmen der sogenannten „Schaufensterfunktion“) dennoch nicht erreicht
bzw. erhalten werden konnte. Die Betriebsschließungen übertrafen die Neuansiedlungen teilweise
um mehr als das Doppelte. Dieser wirtschaftliche Verödungsprozeß spiegelte sich auch in dem
starken Bevölkerungsrückgang dieser grenznahen Kommunen wider.
Insofern stellt die Grenzöffnung von 1989 wirklich eine neue wirtschaftliche Chance dar, denn nun
ist der mitteldeutsche Absatzmarkt wieder vorhanden und die Marktferne zum EU-Markt ist
ebenfalls nicht mehr gegeben, da Helmstedt jetzt "mitten 'drin" liegt. Die allgemeine Abhängigkeit
von der Monostruktur des VW-Werkes und vom Bergbau ist aber eindeutig noch vorhanden und
macht vor allem zur Zeit der verstärkten rezessiven Konzentrationsprozesse (1992/1994) besondere
Schwierigkeiten im Landkreis Helmstedt.
1.5.4 Förderoptionen des Zonenrandes
Bei der Förderung des Zonenrandes mußte stets ein starkes Konfliktpotential bewältigt werden. Auf
der einen Seite galt es, die Verhärtung bzw. Konservierung überkommener industrieller Strukturen
aufzuweichen, auf der anderen Seite die eindeutigen wirtschaftlichen, kommunikationstechnologischen und kulturellen Benachteiligungen des Grenzraumes abzumildern. Bei der
Förderung bestand immer die Möglichkeit, daß sich die überkommenen Strukturen länger erhielten,
als das für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung von Vorteil war. Man spricht in diesem
Zusammenhang auch von einer Zementierung der Strukturen, die meist ein Hinausschieben der
sozio-ökonomischen Probleme auf die nächsten Generationen zur Folge haben.
Für das Zonenrandgebiet wurde bis 1987 ein Förderhöchstsatz von 25% gewährt, der sich in der
Regel aus einer mit Rechtsanspruch versehenen 10%-igen Investitionszulage und einem zu
versteuernden Investitionszuschuß von 15% aus Mitteln der Gemeinschaftsaufgabe
zusammensetzte. Dazu wurden nach §3 ZRFG Sonderabschreibungen gewährt.
Ab 1988 betrug der maximale Förderhöchstsatz 23% zuzüglich der Steuerabschreibungsmöglichkeiten. Ab Ende 1989 wurden die Fördermittel nur noch aus den Mitteln der
Gemeinschaftsaufgabe finanziert, auf die kein Rechtsanspruch bestand und die vollständig
steuerpflichtig waren.
- 29 -
Als in den letzten zehn Jahren der industrielle Strukturwandel heftig zu wirken begann, wurden
bevorzugt Standorte gefördert, die eindeutig begünstigt waren. Das hatte zur Folge, daß sich viele
die Standorte entlang der Zonengrenze immer deutlicher verschlechterten. Die EU hatte zudem
aufgrund zunehmender regionalpolitischer Aktivitäten die Einheitlichkeit des Zonenrandgebiets als
Fördergebiet bereits sehr früh in Frage gestellt und für sich die Kompetenz in Anspruch genommen,
in jedem Einzelfall zu prüfen, ob eine wirtschaftliche Benachteiligung einer konkreten
Arbeitsmarktregion durch die Teilung Deutschlands besteht (Berg, 1989). Berg weist in derselben
Veröffentlichung bereits darauf hin, daß der Binnenmarkt die Problemsituation des
Zonenrandgebiets noch deutlich verschärfen würde. Dann fiel die Grenze und es wird bereits
verhandelt, inwiefern die angrenzenden Länder an der Ostgrenze Deutschlands in den Binnenmarkt
integriert werden können.
Von 1988 bis 1990 sind im Landkreis Helmstedt 23 Vorhaben mit einem Investitionsvolumen von
über 88 Mio. DM mit Zuschüssen aus der Gemeinschaftsaufgabe in Höhe von etwas über 9 Mio.
DM gefördert worden. Bis 1991 wurden noch einmal 2 Infrastrukturmaßnahmen und 8 gewerbliche
Vorhaben mit einem Investitionsvolumen von über 13 Mio. DM gefördert, wobei sich der GAZuschuß auf über 3 Mio. DM in 3 Jahren belief.
1.5.5 Aktuelle wirtschaftsförderliche Rahmenbedingungen im ehemaligen Zonenrandgebiet
Nachdem nun die Grenze seit vier Jahren offen ist, gibt es aus der Sicht der Bundesregierung und
der EU keine sachliche Veranlassung mehr, die Zonenrandbegünstigungen aufrecht zu erhalten, und
das obwohl sich die wirtschaftliche Situation nach einem sehr kurzen und außergewöhnlichen
Aufblühen insbesondere im Handel, in der ehemaligen Zonenrandlage eher verschlechtert als
verbessert hat. Das Wegfallen ehemaliger finanzieller Anreizmittel für ansiedlungswillige
Unternehmen ist wahrscheinlich auch der Hauptgrund für die diesbezügliche Inattraktivität des
Landkreises Helmstedt, der zudem in unmittelbarer Nähe zu einem der von der EU
höchstgeförderten Bereiche (alle neuen Bundesländer, also auch Sachsen-Anhalt) liegt.
Mitte 1993 einigten sich die Kommission der EG und der Bund darauf, daß die neuen Bundesländer
mit ihrer vollen Fläche als Fördergebiet ausgewiesen werden, die Fördergebiete in den alten
Ländern dagegen zu reduzieren seien. Im Regierungsbezirk Braunschweig wurden aufgrund dessen
15% des Fördergebietes, gemessen an der Einwohnerzahl, aus der Förderung herausgenommen. Im
Landkreis Helmstedt verblieben deshalb lediglich die Stadt Schöningen und die Gemeinde
Büddenstedt mit nahezu 19.000 Einwohnern in der Förderung der Gemeinschaftsaufgabe. 38.000
Einwohner des Landkreises wurden aus der GA-Förderung herausgenommen.
Bis 1996 verbleibt von der ehemaligen Zonenrandförderung lediglich die steuerbegünstigte
Investitionsrücklage (Abschreibungssatz: 50% bei beweglichen und unbeweglichen
Wirtschaftsgütern des Anlagevermögens).
Das bereits mehrmals angesprochene hohe Fördergefälle bei der Investitionsförderung im privaten
gewerblichen Bereich kann zu gar nicht anderen Folgen führen, als sie den Wirtschaftsförderern der
Region schmerzhaft jeden Tag bewußt werden; potentielle Investoren ziehen verstärkt ins
Nachbarland Sachsen-Anhalt. Hier sind 23% Normalförderung bei Betriebserrichtung und 12%
Kumulierungsmöglichkeiten vorhanden; desweiteren sind bezüglich des Förderkriterium "überregionaler Absatz" schon bei Überschreiten der 30-km-Zone Fördermittel beantragbar. Weiterhin
können in Sachsen-Anhalt Beratungsleistungen, Studien und Gutachten im Zusammenhang mit der
betrieblichen Einrichtung gefördert werden und ein Arbeitsplatz gilt ab 40 TDM als hochwertig und
es kann diesbezüglich eine Zusatzförderung beantragt werden (NIW, 1993).
1996 wird auf alle Fälle die klassische Zonenrandförderung im Rahmen der GRW auslaufen, was
Förderungseckwerte von 12 bis zu 18% Zuschuß bedeutet hat. 1994 läuft zudem noch das spezielle
kulturelle Zonenrandförderprogramm aus.
Als ein gewisser Ausgleich für den Wegfall aus der GRW wurde von Landesseite her der Landkreis
Helmstedt als Zielgebiet für die EU-Förderung vorgeschlagen. Von Seiten des Amtes für
Wirtschaftsförderung des Landkreises Helmstedt wurde in der Folge die Ausweisung eines
Teilgebietes des Landkreises Helmstedt (genauer die Städte Schöningen und Helmstedt, die
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Gemeinden Büddenstedt, Räbke und Wolsdorf (Samtgemeinde Nord-Elm) sowie die Gemeinden
Twieflingen und Söllingen (Samtgemeinde Heeseberg)) als Zielorte der Ziel 2-Förderung der EU
beantragt.
Hier können durch eine enge interkommunale Zusammenarbeit durchaus Chancen entwickelt
werden, die insgesamt die Rahmenbedingungen für die weitere sozio-ökonomische Entwicklung
positiv beeinflussen können (Braunschweiger Zeitung, Helmstedter Teil v. 1.2.1994,
Verhandlungserfolg für den Landkreis - außer Schöningen und Büddenstedt auch die Stadt
Helmstedt dabei).
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2. Die Bundesrepublik vor der demographischen Wende
In der Bundesrepublik wird insgesamt, wie auch in den anderen Industrienationen, in absehbarer
Zeit ein durchgreifender demographischer Wandel stattfinden, der nachhaltige Wirkungen in den
Gesellschaften zeitigen wird.
Entscheidend ist der langandauernde Geburtenrückgang und vor allem die massive Abnahme
kinderreicher Familien. Das bedeutet für die Bundesrepublik, daß in wenigen Jahrzehnten bereits
ein über 40%-iger Anteil der Bevölkerung mehr als 60 Jahre alt sein wird(!). Ohne Zuwanderungen
aus dem Ausland wird die inländische Bevölkerung um knapp ein Drittel sinken.
Nach einer Modellrechnung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung ( DIW ) benötigt die
Bundesrepublik allein zur Erhaltung ihrer Wirtschaftsfkraft bis zum Jahr 2008 eine jährliche
Zuwanderung von 300.000 Facharbeiter/innen. Wegen der verstärkt einsetzenden Überalterung der
Deutschen wäre danach eine Zuwanderung von jährlich einer Million(!) Menschen notwendig. Bis
zum Jahr 2015 ergäbe dies gegenüber dem bisherigen Ist-Zustand von 6 Millionen ungefähr 12
Millionen weitere Einwanderer.
Unter Berücksichtigung der bislang üblichen Rückwanderungsquote von Ausländern (nahezu
50%!) würde damit der Anteil der Ausländer an der erwerbstätigen Bevölkerung von derzeit 7,1%
bei weitem noch immer nicht die heutige Quote der Schweiz von 18,3% (ohne Saisonarbeiter)
erreichen (Die Zeit v. 4.2.1994, Abschied vom völkischen Wahn).
Diesen Zusammenhang sollten sich vor allem einmal die glühenden Nationalisten in unserem Land
vergegenwärtigen. Deutschland ist als ein internationaler Handelspartner auf ausländisches Knowhow und ausländische Arbeitskraft angewiesen, um so "kräftig" zu bleiben, wie es ist. Statt den
Nationalismus mit entwicklungs- und menschenfeindlichen Parolen anzuheizen, sollte man sich
besser daran beteiligen, den bestehenden Problemen des raschen Wandels und des Kampfes um
Arbeitsplätze und Wohnraum mit konstruktiven Konzeptionen entgegenzutreten.
Nach Annahmen der siebten koordinierten Vorausberechnung (Prämissen: Konstanz
Geburtenziffern von 1989 in der Zukunft, steigende Lebenserwartung und
Zuwanderungsüberschuß von vorwiegend deutschstämmigen Aussiedlern, der sich nach dem
2000 auf ca. 50.000-60.000 pro Jahr einpendeln könnte) gilt folgende Altersstruktur als
wahrscheinlich:
der
ein
Jahr
sehr
- die Zahl der Kinder und Jugendlichen nimmt weiter ab. Waren es 1988 noch 17,2 Millionen oder
21,8% der Bevölkerung, wird im Jahr 2030 ihre Zahl auf 12 Millionen oder 17,2% zurückgegangen sein;
- die Zahl der Erwerbstätigen wird in den nächsten Jahren ihren Höhepunkt erreichen und dann
langsam abnehmen. Ab dem Jahr 2020 wird mit einer beschleunigten Abnahme der Erwerbsstätigen Deutschen gerechnet. Im Jahre 2030 läge dann die Zahl der Erwerbstätigen im Alter
zwischen 35 und 60 Jahren bei 33 Millionen Menschen. Das wäre eine Abnahme von ca. 73% (!)
gegenüber dem heutigen Stand;
- die Zahl der Älteren (über 60 Jahre) ist seit den 80er Jahren stabil und wird bis zum Jahr 2030 auf
24,3 Millionen ansteigen. Ihr Anteil wird bei insgesamt abnehmender Bevölkerung auf 35%
zunehmen.
Sind nun die immer wieder zu hörenden Warnrufe bezüglich einer ”Vergreisung” unserer
Gesellschaft nur Unkenrufe oder sind sie ernst zu nehmen und was könnte diese Vergreisung
bedeuten?
Es muß dabei zuerst einmal etwas weiter ausgeholt werden. Es ist festzustellen, daß
- in armen Gesellschaften die Kinder die Alten ernähren, in reichen Gesellschaften dagegen die
Alten die Kinder und Enkel finanzieren;
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- die Bundesrepublik eine reiche Gesellschaft ist, in der das reale Sozialprodukt von 1955 auf 1988
um das Fünffache gestiegen ist;
- die Alten in der überwiegenden Mehrheit geistig und körperlich aktive und kreative Menschen
sind, die ein Bildungs- und Qualifikationsniveau aufweisen, das im internationalen Vergleich als
herausragend bewertet werden kann;
- die älteren Mitbürger mittelbar und bereits heute erkennbar zu einem der größten Arbeitgeber in
Deutschland werden.
Die Alten der Jetztzeit und der Zukunft werden sich aufgrund bestimmter Merkmale von denen der
Vergangenheit abheben:
- sie verfügen über ein höheres Bildungs- und Qualifikationsniveau,
- eine bessere Gesundheit,
- sie verfügen über höhere Einkommen
- und sie werden wohl relativ mobil sein.
Die absehbare demographische Wende wird nicht nur an unsere Gesellschaft völlig neue
Anforderungen stellen, sondern sie wird auch Auslöser für neuartige Wanderungsbewegungen
innerhalb Europas sein und damit zur kulturellen und nationalen Neubestimmung von Identitäten
führen. Unsere Gesellschaft steht in einer qualitativen Umstrukturierungsphase und die
stattfindenden sozio-kulturellen Neuorientierungen werden vehemente sozio-politische Änderungen
zeitigen.
Momentan zeichnet sich ein Trend ab, daß alte Menschen in unserer Gesellschaft es mehr und mehr
verstehen, welche Kraft und Bedeutung sie als gesellschaftliche Gruppe im Gesamtgefüge haben.
Sie beginnen, sich als Gruppe politisch zu artikulieren und wenden sich verstärkt gegen die gesellschaftsinterne "Abschiebung" der Alten aus Beruf oder Familie. Diese "Abschiebungspraxis" ist
weder individuell noch gemeinschaftlich gesehen ein wünschenswerter, geschweige denn ein
akzeptabler Zustand. Selbst wissenschaftlich ist eindeutig belegt, daß alte Menschen nicht weniger
Aufmerksamkeit, Urteilsvermögen oder Verantwortungsbewußtsein haben als junge Menschen. Es
läßt aufgrund des körperlichen Verfalls lediglich irgendwann die physische Belastbarkeit,
Flexibilität, Kraft und Beweglichkeit nach. Aber die alten Menschen haben eine Vielzahl von
Lebenserfahrungen, die sie teilweise zu großer Weisheit führt.
Wie sieht es mit der Integration der Alten in den Wirtschaftsprozeß aus?
Die Wirtschaft fährt zur Zeit verstärkt einen "jungendzentrierenden" Kurs. Es gibt nur noch wenige
Facharbeiter zwischen 55 und 65 Jahren. Die Alten nehmen desweiteren im Schnitt weniger oft an
Weiterbildungen teil und immer häufiger werden Frühverrentungen ausgesprochen bzw. auch
angenommen. Es ist also deutlich zu erkennen, daß die Alten im Wirtschaftsbereich "abgeschoben"
werden. Das ist bei dem technischen Stand unserer Gesellschaft völlig unverständlich, denn man
müßte in der Lage sein, die Arbeitsplätze altersgerechter zu gestalten bzw. rechtzeitig über Ausund Weiterbildungen das Wissens- und Erfahrungsreservoir der Alten sinnvoller anzusprechen und
für alle nutzbar zu machen.
Der demographische Wandel ist nicht aufzuhalten, es sei denn man ginge von einer stark erhöhten
Einwanderung aus anderen europäischen Staaten aus. Die Unternehmen, die Parteien, die Gewerkschaften u.v.m. müssen sich also voraussichtlich darauf einstellen, daß viele Aufgaben in unserer
gesellschaftlichen Produktion zukünftig in zunehmendem Maße von älteren Menschen erledigt
werden müssen(!).
Vordringliche Ziele sollten also eine Orientierung an dieser Arbeitnehmergruppe und die
Umgestaltung der vorhandenen Arbeitsplätze sein, so daß ältere Arbeitnehmer/innen ohne
verstärkte Verschleißerscheinungen und bei gleichzeitiger Wahrung der vom Markt geforderten
Qualität und Intensität der Bearbeitung am Arbeitsleben teilnehmen können. Die sich deutlich
abzeichnenden Tendenzen des "Zweiten Arbeitsmarktes" sollten nicht negiert, sondern verstärkt
- 33 -
wissenschaftlich bearbeitet werden, damit die Interessengruppen im Umdenk- und Umlenkprozeß,
der unabdingbar notwendig ist, eine gemeinsame Informationsbasis bekommen.
Durch den anstehenden demographischen Wandel werden sich auch Änderungen in der Nachfrage
ergeben, die sich voraussichtlich vor allem im personengebundenen Dienstleistungsbereich stark
positiv bemerkbar machen werden. Da in der Bundesrepublik allgemein eine starke Unterbelegung
in den Dienstleistungsbranchen und insbesondere in den personengebunden Dienstleistungen zu
verzeichnen ist, bietet sich hier ein weites Feld der Innovation und ökonomischen
"Nischengestaltung". Diese Perspektive sollte vor allem in der kommunalen Wirtschaftsförderung
ausgenutzt werden. Im Landkreis Helmstedt gibt es in diesem Bereich ein zukunftsträchtiges
Betätigungsfeld. Eine vorbereitende und zuarbeitende alten- und familiengerechten Wohnstrategie
ist für die Entscheidungsträger und Entscheidungsträgerinnen des Landkreises Helmstedt kein
unbekanntes Arbeitsfeld. Deshalb könnte man durchaus empfehlen, diesen Teil des sozioökonomischen Geflechts noch stärker auszubauen.
Das in Helmstedt eingerichtete Altenbüro ist da wahrscheinlich erst der Anfang. Es wird nicht mehr
lange dauern und das gesamte öffentliche und private Angebot muß sich auf Menschen in der
sogenannten dritten Lebensphase einstellen. Doch nicht nur die Leistungsangebote, sondern auch
die Problemlösungsstrategien müssen, wie in vielen anderen Bereichen, radikal und umfassend
geändert werden, und zwar in Richtung - man hört es immer wieder - einer zeitlichen, fachressortund institutionsübergreifenden Vernetzung aller Planungs- und Handlungsebenen. Gefragt ist eine
ganzheitliche Bearbeitung und Bewältigung der anstehenden Problemgefüge (Frankfurter
Rundschau v. 22.4.1993, Die demographische Zeitenwende erfordert eine radikal neue Politik).
Bevölkerungsrelevante Vorgänge u. a. im Landkreis Helmstedt
In der niedersächsischen Bevölkerung sind in den letzten 12 Jahren erhebliche Alterstrukturverschiebungen eingetreten. So gab es im Vergleich zu 1981
- ca. 16% mehr Kinder unter 6 Jahren,
- ca. 29% weniger 6 bis unter 18-Jährige,
- ca. 5% weniger 18 bis 25-Jährige,
- ca. 14% mehr 25 bis 65-Jährige und
- ca. 4% mehr Ältere (65 Jahre und älter) (s. a. Tab. II. 1).
Aus dieser Tabelle wird ersichtlich, daß in allen angegebenen Kategorien vor allem die
Altersgruppe der 6 bis unter 18-Jährigen in diesem Zeitraum die stärksten Einbrüche zu
verzeichnen hatte. Erweitert man diese Altersgruppe um die Gruppe der zwischen 18 bis zu 25Jährigen, wird die demographische Lücke deutlicher erkennbar. Die stärksten Abnahmen sind in
den städtischen Kreisen erkennbar.
Dagegen ist in den städtisch-ländlichen Kreisen, wozu auch der Landkreis Helmstedt gezählt
werden kann, der Zuwachs der unter 6-Jährigen zwischen 1981 und 1991 am größten (19,8%). Das
dürfte u.a. ein Ergebnis der "Stadtflucht" sein, die in den letzten 10-15 Jahren auch zu einer
Neuordnung des kommunalen Finanzausgleichs und diversen verwaltungstechnischen
Neustrukturierungen geführt hat (Stichwort: Eingemeindungen).
Vergleicht man Tab. II. 2 mit Tab. II. 3 wird erkennbar, daß der Landkreis Helmstedt einen starken
demographischen Altersüberhang hat. In der Gruppe der über 65 jährigen lag er sowohl über dem
niedersächsischen als auch dem bundesdeutschen Gesamtdurchschnitt. Vor allem in den Städten
Schöningen (20,6%) und Helmstedt (20,4%) sind auch im regionalen Vergleich außergewöhnlich
hohe Anteile in dieser Altersgruppe vorhanden. Auch der Anteil der 55-65-Jährigen (12,6%) liegt
über dem niedersächsischen und bundesdeutschen Gesamtdurchschnitt. Innerhalb des Landkreises
sind hier die Stadt Schöningen (14,0%) und die Gemeinde Büddenstedt (15,7%) Spitzenreiter.
In der Altersgruppe der 35-45 jährigen sind im Landkreis in der Stadt Schöningen (12,5%), der
Samtgemeinde Heeseberg (12,3%) und der Gemeinde Büddenstedt (11,7%) vergleichsweise
geringe Anteilswerte zu verzeichnen. Diese Altersgruppe ist sozio-ökonomisch und sozio-kulturell
von großer Wichtigkeit, denn in ihr befinden sich für gewöhnlich große Teile der Kulturträger und
- 34 -
"Arrivierten". Im regionalen Vergleich ist der hohe Anteil dieser Altersgruppe im Landkreis
Gifhorn auffallend. Mit 14.3% setzt er sich selbst im bundesdeutschen Schnitt deutlich ab.
Anhand der Anteilshöhen dieser Altersgruppe sind im Landkreis Helmstedt "Gunsträume" zu
erkennen. Wie zu erwarten sind die Stadt Königslutter (14,0%), die Gemeinde Lehre (14,4%) und
die Samtgemeinde Velpke bevorzugte Standorte dieser Altersgruppe, was sich eindeutig aus der
Nähe zu den Arbeitsmärkten Braunschweig und Wolfsburg erklären läßt.
In der Altersgruppe der 25-35 jährigen führt der Landkreis Gifhorn ebenfalls den regionalen
Vergleich an und der Landkreis Helmstedt liegt in dieser Altersgruppe deutlich unter dem
niedersächsischen und bundesdeutschen Gesamtdurchschnitt, wobei wiederum die Gemeinde Lehre
und die Samtgemeinde Velpke die höchsten Anteile aufweisen. Hier fällt auch die Gemeinde
Büddenstedt "positiv" auf, da sie einen relativ hohen Anteil in dieser Bevölkerungsgruppe aufweist.
In der Altersgruppe der unter 25-Jährigen weisen im Landkreis die Stadt Königslutter, die Samtgemeinden Heeseberg und Nord-Elm sowie die Gemeinde Lehre relativ hohe Anteile auf, die z.T.
sogar über dem Bundesdurchschnitt liegen. Die Stadt Schöningen ist in diesem Bereich das
"Sorgenkind", da sie die niedrigsten Werte in dieser Altersgruppe aufweist. Die Stadt Schöningen
weist auch nach Tab. II. 4 im Zeitraum von 1980-1988 den höchsten Wanderungssaldo auf, hat
dafür nach der Grenzöffnung aber auch einen hohen Zuwanderungswert aufzuweisen, der im
Landkreisvergleich jedoch nur einen mittleren Platz einnimmt.
Im Zeitraum von 1980-1988 haben bezüglich des Wanderungssaldos die Stadt Königslutter , die
Samtgemeinden Grasleben und Velpke sowie die Gemeinde Lehre insgesamt gesehen positive
Wanderungsgewinne zu verzeichnen, die anderen Kommunen hatten dagegen geringe bis relativ
eindeutige Wanderungsverluste zu verzeichnen. Vor allem die Stadt Schöningen und die Gemeinde
Büddenstedt haben starke Fortzüge in Kauf nehmen müssen.
Nach der Grenzöffnung im Zeitraum von 1989-1991 haben alle Kommunen des Landkreises
positive Wanderungssalden aufzuweisen. Insbesondere die Stadt Schöningen, vor allem aber die
Samtgemeinde Grasleben haben immense Zuwächse erfahren, die wesentlich über dem
niedersächsischen Schnitt liegen. Die Samtgemeinde Heeseberg hat ebenfalls hohe
Zuwanderungsgewinne in diesem Zeitraum erfahren.
Betrachtet man Tab. II. 5, so wird noch einmal offensichtlich, wo genau die demographischen
Probleme des Landkreises Helmstedt liegen. In dieser Tabelle sind die Wanderungen nach
Altersjahren aufgeführt und man erkennt sofort, daß vor allem die junge Generation bis 1988 zu den
stärksten Abwanderungsgruppen gehörte. Nach der Grenzöffnung sind vor allem in den
Hauptgruppen der Erwerbstätigen hohe Zuwächse zu verzeichnen gewesen. Auffallend sind hierbei
die hohen Werte der unter 18 jährigen und der 20-30 jährigen. Den Entscheidungsträgern in
Wirtschaft, Kultur und Verwaltung des Landkreis könnte man aus dieser Sachlage heraus
empfehlen, sich stark um diesen Zuwanderungsüberschuß, wahrscheinlich zu einem wesentlichen
Teil aus dem nahen Sachsen-Anhalt, zu kümmern und "Bestandspflege" zu betreiben und für dieses
Zuwanderungspotential Arbeitsplätze zu schaffen und zu sichern.
Denn betrachtet man Tab. II. 6 wird klar, daß trotz der hohen Zuwanderungsgewinne ein negativer
Wanderungssaldo bei den Erwerbspersonen vorliegt, und das auch, wenn man den speziellen Zeitabschnitt 1989-1991 betrachtet. Der Negativtrend bei den Erwerbspersonen zeichnet sich seit 1985
durchgehend bis zum Jahr 1991 ab. Ebenso deutlich ist der Zuzug von Nichterwerbspersonen
zumindest seit 1989 relativ stark. Er scheint sich bereits 1991 aber wieder abzuschwächen. In der
Ausländergruppe sind dagegen Steigerungen zu verzeichnen. In dieser Gruppe ist ein positives
Wanderungssaldo bei den Erwerbspersonen zu verzeichnen.
Für die Wirtschaftsförderung sind diese demographischen Daten insofern von Interesse, als sie die
Problemstandorte des Landkreises Helmstedt noch einmal deutlich aufzeigen. Desweiteren ist es
von Bedeutung, welche Altersgruppen ”problematisch” sind. Sie sind erkannt und so sollte sich die
Wirtschaftsförderung stark darum bemühen und mithelfen, den Standort für diese Altersguppen
qualitativ zu ändern. Dazu kann auch gehören, daß insbesondere Existenzgründerprogramme, die
auf junge Unternehmer und Unternehmerinnen zugeschnitten sind zur Anwendung gebracht
werden. Der Dienstleistungsbereich ist für junge Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen sehr
attraktiv und es besteht im Landkreis diesbezüglich noch eine Ausbauchance.
- 35 -
3. Wirtschaftliche Entwicklung im Landkreis Helmstedt
3.1 Wirtschaftsstruktur und Strukturwandel
3.1.1 Einleitung
Der Landkreis Helmstedt ist ein integrierter Bestandteil der Region Südostniedersachsen, der
außerdem die Städte Braunschweig, Salzgitter und Wolfsburg sowie die Landkreise Gifhorn,
Goslar, Peine und Wolfenbüttel umfaßt. Diese Region ist ein industriell geprägter
Verdichtungsraum mit einem Anteil an der Landesfläche Niedersachsens von weniger als 10 v. H.,
bei einem Anteil an der Bruttowertschöpfung von ca. 19 v. H.
Im Mittelpunkt der Region Südostniedersachsen steht die Industrieverdichtung von Wolfsburg,
Braunschweig, Peine und Salzgitter, die zugleich zweitgrößter Agglomerationsraum von
Niedersachsen ist und für den Landkreis Helmstedt eine starke sozialökomonische Orientierung auf
das Mittelzentrum Wolfsburg mit oberzentraler Teilfunktion und das Oberzentrum Braunschweig
aufweist.
Besonders im Hinblick auf die Aussagekraft dieser regionalen Strukturanalyse erscheint es
erforderlich, im folgenden die spezifischen Strukturmerkmale dieses Teilraumes „Landkreis
Helmstedt“ der Region Südostniedersachsen zu erfassen. Grundüberlegung für die Auseinandersetzung mit regionalen Wirtschaftsstrukturen ist die Annahme räumlicher Ungleichgewichte
in der Entwicklung.
Seit Anfang der 70er, 80er und 90er Jahre vollzogen sich tiefgreifende Einbrüche in der
ökonomischen Entwicklung und auf dem Arbeitsmarkt der gesamten Bundesrepublik. Diese
Entwicklungstendenzen führten zu starken Disparitäten zwischen den einzelnen Landkreisen der
Regionen, die sowohl von Aufschwung als auch Rezessionsphasen geprägt waren und eine in sich
veränderte Reihenfolge von regionalen Gewinnern als „Aufsteiger“ und regionalen Verlierern als
„Absteiger“ zur Folge hatten. Im Gliederungsteil "Arbeitsmarkt" wird diese Thematik aufgegriffen
und vertieft.
Im Rahmen dieser Analyse sollen die Ursachen der regionalen Entwicklungsunterschiede
untersucht werden, deren Bestimmungsgründe komplex sind und nicht allein von den
divergierenden Branchenstrukturen her abgeleitet werden können.
Auch für die Wirtschaft im Landkreis Helmstedt stellt sich unter anderem die Frage des
Wettbewerbs mit den Niedriglohnländern und der Produktionsverlagerung durch die Wende in
Osteuropa. Es ist deshalb nicht ausgeschlossen, daß dadurch die Industrie in der gesamten
Bundesrepublik Deutschland mit direkten Auswirkungen auch für den Landkreis Helmstedt auf eine
(noch) schmalere Basis zusammenschmilzt. Auf Grund dessen wird diese Problematik im folgenden
punktuell mit berücksichtigt. Auch wird beispielhaft darauf hingewiesen, daß der durch die
Veränderungen in Osteuropa bei uns ausgelöste, beziehungsweise verstärkte Strukturwandel nicht
nur als "Bedrohung" angesehen werden muß.
Untersuchungsmethoden
Der Aufgabenstellung entsprechend wurde die Auswertung sekundär - statistischer Daten
erforderlich.
Hierzu
lieferten
das
Arbeitsamt
Helmstedt,
das
niedersächsische
Landesverwaltungsamt für Statistik, das niedersächsische Institut für Wirtschaftsforschung und die
Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung aufgrund der Vielzahl an
Veröffentlichungen umfangreich gegliedertes Material. Desweiteren waren Gespräche mit
Angehörigen von Fachbehörden, Institutionen und Unternehmen erforderlich und hilfreich.
Ein erster Schritt zur Vergleichbarkeit wirtschaftlicher Entwicklung wurde mit der
Systematisierung der Daten vorgenommen. Die Gliederung in Wirtschaftsabteilungen erlaubt es, für
die einzelnen Branchen Zeitreihen mit Betriebs- und Beschäftigtenzahlen aufzustellen. Die nach
einheitlichen Kriterien geordneten Merkmale bilden die Grundlage für interregionale Vergleiche,
eine Indizierung ermöglicht zudem die Gegenüberstellung mit einem Basisjahr.
- 36 -
Die Daten gewinnen besonders dann an Aussagekraft, wenn sie miteinander verknüpft werden.
Indizes und Kennziffern bieten in ihren Abweichungen zu Entwicklungen auf Bundes- bzw.
Landesebene oder zu anderen Landkreisen eine Möglichkeit, die Wirtschaftsstruktur in ihrem
Wandel zu beurteilen.
Außerdem wurde durch eine Feinuntergliederung der verschiedenen Wirtschaftsabteilungen und
Wirtschaftszweige im Landkreis vorhandene Branchen aufgelistet, um so Hinweise auf fehlenden
bzw. zusätzlichen Bedarf an Produktionsmöglichkeiten und Dienstleistungs-angeboten zu geben.
Desweiteren ist darauf hinzuweisen, daß weitgehend eine interdisziplinäre Form inhaltlicher
Aufarbeitung erfolgen wird. Nur wer globale Teilzusammenhänge und Erklärungsansätze einordnen
kann, ist annähernd in der Lage, die daraus resultierenden Problemstellungen und
Handlungsableitungen auch auf die regionale Ebene zu übertragen und gegebenenfalls (sofern es
die Rahmenbedingungen ermöglichen) umzusetzen.
3.1.2 Historischer Rückblick der Wirtschaftsentwicklung
Wer als Gebietseinheit zukünftig in wirtschaftlichen Entwicklungsverläufen eine günstige
Ausgangsposition schaffen will, kommt nicht daran vorbei, sich mit der Gegenwart eingehend
auseinanderzusetzen. Dies erfordert wiederum, die Wirtschaftsabläufe der Vergangenheit zu
analysieren.
Die negativen Auswirkungen der Grenzziehung im Jahre 1945 bewirkten, daß die Herausbildung
historisch gewachsener und stabiler Binnenkreisläufe abrupt unterbrochen wurde und der Landkreis
Helmstedt nicht nur Randgebiet eine Staates, sondern auch der Europäischen Gemeinschaft wurde.
Die ansässigen Unternehmen waren daher gezwungen, sich neu zu orientieren und neue Märkte zu
erschließen.
Im Erfasssungszeitraum 1960 bis 1964 war die rückläufige Bevölkerungsentwicklung im Landkreis
Anlaß für verstärkte Initiativen zur Bestandspflege in vorhandenen Unternehmen und die
Ansiedlung neuer Betriebe anzustreben.
„Dabei spielte die Tatsache eine Rolle, daß Befragungen innerhalb der Kreisberufsschule das
Ergebnis erbrachte, daß viele Berufsschüler und Berufsschülerinnen angaben, sie strebten einen
Arbeitsplatz in westlicher gelegenen Gebieten an, weil sie dort ein reichhaltigeres Angebot an
Arbeitsplätzen vorfänden.“1
Diese Wirtschaftsinitiative bewirkte, daß 10 neue Betriebe mit insgesamt 1.077 neuen
Arbeitsplätzen im Landkreis entstanden. Die Randlage an der ehemaligen innerdeutschen Grenze
erschwerte dies, zumal innerhalb der Bundesrepublik finanzstärkere Länder wie z. B. NordrheinWestfalen für die Zwecke der regionalen Wirtschaftsförderung unvergleichlich mehr Landesmittel
einsetzen konnten als das finanzschwächere Niedersachsen.
Der Erfassungszeitraum 1964 bis 1968 brachte die erste tiefergehende Rezession der
bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte, welche für den Landkreis Helmstedt einen erheblichen
Beschäftigtenrückgang zur Folge hatte. Das drückte sich vor allem in einer Arbeitslosenquote aus,
die erheblich über den Durchschnittswerten im gesamten Bundesgebiet lag.
Der kontinuierliche Beschäftigtenanstieg der Braunschweigischen Kohlebergwerke AG2 wurde
1967 erstmals gestoppt und es wurde erkennbar, daß die bevorstehende Umstrukturierung des
größten im Landkreis ansässigen Unternehmens in absehbarer Zeit zu einem wesentlichen
Rückgang der Arbeitsplätze führen würde.
Im Frühjahr 1968 wurde die Absicht bekannt, daß die Saline Schöningen mit etwa 200
Arbeitsplätzen in den folgenden zwei Jahren geschlossen werden soll. Dieser Beschäfti1
2
Siehe: Landkreis Helmstedt. Verwaltungsbericht 1960 bis 1964. Seite 69.
Anmerkung: Braunschweigische Kohlen-Bergwerke AG im folgenden BKB AG genannt.
- 37 -
gungseinbruch führte zur Institutionalisierung eines "Wirtschaftsförderungsbeirates", der sich am
18.05.1967 konstituierte und die aktuellen Probleme der Wirtschaftsförderung aufarbeitete. Es
wurde auf regionaler Ebene eine "Wirtschaftsförderungsgesellschaft" angestrebt, deren Gründung
nicht vollzogen werden konnte, weil die beteiligten Großstädte in Südostniedersachsen dagegen ihr
Veto einlegten.
Die geplante Gründung dieser Wirtschaftsförderungs GmbH für den Bereich Südostniedersachsen
wurde vom Landkreis durch einen Beschluß in der Kreistagssitzung am 21.06.1967 aktiv
unterstützt.3
Die Stadt Helmstedt wurde zum Bundesausbauort erklärt und zählte damit zu den zehn Städten in
der Bundesrepublik, die für industrielle Investitionen Zuschüsse von 25 Prozent erhielten. In dem
Erfassungszeitraum konnten 11 Betriebsneugründungen und 9 Betriebserweiterungen (2 davon außerhalb der jetzigen Kreisgrenze) vorgenommen werden.
Flankiert durch erhebliche Wirtschaftsförderungsprogramme besaß der Landkreis Helmstedt als
Produktionsstandort besonders für Zweigbetriebe in den 60er Jahren mit dem vorhandenen un- und
angelernten Arbeitskräftereservoir einige Standortvorteile. Wegen dieser starken Ausrichtung auf
einfache Fertigungstätigkeiten im verarbeitenden Gewerbe erhielten die Distribution und
höherwertige Dienstleistungen aber kaum Impulse.
Im Erfassungszeitraum 1968 bis 1972 führte der konjunkturelle Aufschwung zunächst in den Jahren
1968 und 1969 zu einer verstärkten Investitionsfreudigkeit der Industrie, die aber in den folgenden
Jahren zunehmend stagnierte. Dabei bestätigte sich die Erkenntnis, daß sich ein konjunktureller
Rückgang in wirtschaftlich schwächeren Gebieten verstärkt auswirkte. So wurden die strukturellen
Probleme des Landkreises durch den konjunkturellen Aufschwung zwar zunächst verdeckt, traten
jedoch in der Folgezeit in zunehmendem Maße zutage und führten zu einer Reihe von Stillegungen
namhafter Betriebe, vor allem im Helmstedter Südkreis:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
Norddeutsche Salinen GmbH, Saline Schöningen,
Schöninger Kleiderfabrik R. Bull & Co., Schöningen,
Schöninger Maschinenfabrik Bruschke & Co., Schöningen,
Decofaltglas Bierbrauer & Co. KG, Schöningen,
Nordzement AG, Werk Hoiersdorf,
Helmstedter Dachsteinwerke Artur Stegmann KG,
Graaff & Co., Süpplingen,
Braunschweig-Schöninger Eisenbahn.
Die Zahl der Betriebsstillegungen seit 1965 stieg auf 34. Außerdem war ein weiterer Rückgang der
Belegschaft der BKB AG im Rahmen der Umstrukturierung dieses größten
Wirtschaftsunternehmens im Kreisgebiet zu verzeichnen.
Seit Anfang der 50er Jahre hatte sich die Anzahl der Beschäftigten der BKB AG bis 1987 um über
54 Prozent reduziert.4 Als Reaktion auf diese für den Landkreis ungünstige Entwicklung wurde eine
überregionale Anzeigenkampagne durch eine professionelle Werbeagentur geschaltet, die in
überregionalen Tageszeitungen und einschlägigen Wirtschaftsblättern, unterstützt durch die
Industrie- und Handelskammer, zu beachtlichen Betriebsneugründungen führte:
- Prakma Maschinen GmbH., Büddenstedt,
- Wennerscheid KG., Transformatorenfabrik, Schöningen,
- Modisch-Aktuell, Schöningen (das Unternehmen wurde später von der Firma Alois Heinze
übernommen),
- Richard Weber, Stahlbau GmbH, Schöningen,
- Roto-Werke, Zweigwerk Schöningen,
- Sengewald KG., Kunststoffabrik, Süpplingen,
- Menzel, Likörfabrik, Königslutter,
3
4
Siehe: Landkreis Helmstedt. Verwaltungsbericht 1964 bis 1968. Seite 75.
Siehe: Becher, G. Regionale Strukturprobleme und ihre Folgen: Das Beispiel Südostniedersachsen,
Wirtschaftsstrukturprobleme in Südostniedersachsen. Band 2. Braunschweig 1987. Seite 117.
- 38 -
- Lenox KG., Jersey-Produktionsgesellschaft mbH., Helmstedt,
- Allerglas, Grasleben,
- Metro-Funk (Kabel Union) Schöningen.
Diese quantitativen Teilerfolge ließen bisher unberücksichtigt, daß es sich hierbei mehrheitlich um
angeworbene Unternehmen handelte, die den damaligen spezifischen Standortvorteilen des
Landkreises von tendenziell niedrigen Löhnen und mobilen Arbeitsplätzen Rechnung trugen. Es
erscheint offensichtlich, daß die Wirtschaftsförderung im Landkreis mit diesem spezifischen
Anreizsystem auch in ihren überregionalen Werbeaktionen suggestiv operierte.
Insbesondere durch die erfolgreiche Initiative zur Ansiedlung der Firma Phönix AG in Büddenstedt
konnte zunächst eine arbeitsmarktpolitische Teilstabilisierung erreicht werden. An die Standortwahl
Helmstedt des Zweigwerkes der Siemens-AG wurden Erwartungen geknüpft, die von einer
erheblichen Stabilisierung der heimischen Wirtschaftskraft ausgingen.
Die Tatsache, daß der Landkreis Helmstedt zu den wenigen Landkreisen in Niedersachsen gehörte,
in denen bereits im Zeitraum von 1961 bis 1970 die Zahl der Beschäftigten um 7,2 v. H. rückläufig
gewesen ist, verdeutlicht das strukturschwache Gefüge trotz erheblicher Fördermittelzuschüsse.
Für den Zeitraum bis 1972 ist es durch allgemeine Wirtschaftsförderungsmaßnahmen gelungen, daß
die aufgrund von Betriebsstillegungen verlorengegangenen Arbeitsplätze annähernd durch Betriebsneuansiedlungen kompensiert werden konnten.
Mit Inkrafttreten des "Investitionszulagengesetzes" vom 18.08.1969, dem Gesetz über die
„Gemeinschaftsaufgaben zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ vom 6.10.1969 und
dem „Zonenrandförderungsgesetz“ vom 05.08.1971, waren die Voraussetzungen geschaffen, eine
zunehmende Konzentration der Wirtschaftsförderung auf entwicklungsfähige Schwerpunktbereiche
anzustreben. Das „Regionale Aktionsprogramm Niedersächsisches Zonenrandgebiet“ verschaffte
den Städten Helmstedt und Schöningen eine erhöhte Förderungspräferenz von 25 Prozent.
Maßnahmeziel dieser Zusatzförderung war die Konzentration auf lokale Ballungszentren, von
denen die Wirtschaftskraft des ganzen Landkreises partizipieren sollte.
Das Regionale Aktionsprogramm „Niedersächsisches Zonenrandgebiet“ umfaßte insgesamt ein
Investitionsvolumen von 190.199.939,00 DM. Davon entfielen auf den Landkreis Helmstedt
Investitionszuschüsse von 19.621.756,00 DM.5
Außerdem trat am 01.01.1971 das Gesetz über „Grunderwerbssteuerbefreiung bei Maßnahmen zur
Verbesserung der Wirtschaftsstruktur“ in Kraft.
Mit diesem "Förderungsmaßnahmebündel" war der Landkreis Helmstedt zum höchsten Fördergebiet in Niedersachsen aufgestiegen. Was den wirtschaftspolitischen Effekt dieser
Fördermöglichkeiten anbetrifft, konnten die entwickelten Maßnahmen zur beabsichtigten
Stabilisierung und Stärkung der Wirtschaftskraft nicht beitragen.
Beschleunigt durch die zweite Rezession Anfang der 70er Jahre, stellten im Erfassungszeitraum
1972 bis 1976 folgende Betriebe einen Konkursantrag:
-
Eisengießerei Helmstedt GmbH, Helmstedt,
Kammgarnspinnerei Ludwig Hampe, Helmstedt,
R. Lüddecke, Maschinenbau, Helmstedt,
Helmstedter Kartonagefabrik, Helmstedt,
Hubert Frühauf, Bekleidungsfabrik, Helmstedt,
Alois Heinze, Bekleidungsfabrik, Schöningen,
Roto-Werke GmbH, Zweigwerk Schöningen,
Prakma Maschinenfabrik GmbH, Büddenstedt,
Wattefabrik Ideal GmbH,
Zuckerfabrik Watenstedt AG.
5
Siehe: Landkreis Helmstedt. Verwaltungsbericht 1968 bis 1972, Seite 59.
- 39 -
Bemühungen um neue Betriebsansiedlungen, die im Dezember 1972 und im Oktober/November
1974 durchgeführte Anzeigenserien einer Werbeagentur über das Industriegebiet Helmstedt und
Schöningen, blieben diesmal ohne Resonanz. Infolge der ausgebliebenen Investitionsneigungen im
Landkreis Helmstedt konnten konkrete Verhandlungen über Neuansiedlungen aufgrund dieser
Anzeigenserie nicht geführt werden.
Trotz der ökonomischen Rezession und der oben genannten Firmenzusammenbrüche erreichte die
Antragsberatung auf Gewährung von öffentlichen Mitteln aus diversen "Finanztöpfen" im Amt für
Wirtschaftsförderung eine Hochkonjunktur:
Von 1972 bis 1976 wurden 27 Anträge auf Erteilung einer Bescheinigung nach dem
Investitionszulagengesetz bearbeitet, die ein Gesamtinvestitionsvolumen von ca. 42 Millionen
umfaßten.
Außerdem wurde zu 33 Anträgen der gewerblichen Wirtschaft und kommunaler Behörden auf
Befreiung von der Grunderwerbssteuer Stellung genommen und 2 Anträge auf Kapitalisierung der
Frachthilfe mit einem Investitionsvolumen von insgesamt ca. 6 Mio. DM befürwortet. Im Rahmen
der „Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ erhielten
gewerbliche Produktionsbetriebe und das Fremdenverkehrsgewerbe außerdem Zuschüsse in Höhe
von 261.700 DM.
Weitere Finanzmittel wurden im Herbst 1974 in dem Sonderprogramm zur regionalen und lokalen
Abstützung der Beschäftigung bereitgestellt. Im Herbst 1975 wurden im Rahmen des Sonderprogrammes zur Stärkung von Bau- und anderen Investitionen dem Landkreis Helmstedt 14 Vorhaben
mit einem Gesamtinvestitionsvolumen in Höhe von 7.028.000,00 DM zur Stellungnahme
vorgelegt.6
Entscheidend für die heutige Beurteilung der ökonomischen Entwicklungstendenz war die
Branchenstruktur in den 70er und 80er Jahren: Sie war mehrheitlich geprägt von einem hohen
Anteil von Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes, die bereits damals zu den relativ
schrumpfenden Wirtschaftsbereichen gehörten.
Diese Investitions- und Subventionsbeispiele ließen sich beliebig fortsetzen und sie zeigen
exemplarisch auf, daß ihr Maßnahmeziel einer ökonomischen Konsolidierung im Landkreis trotz
erheblicher Förderpräferenzen und hoch eingesetzter Finanzmittel nicht erreicht werden konnte. Die
Finanzierungshilfen konnten noch nicht einmal bewirken, daß die negativen Folgewirkungen von
konjunkturellen Rückschlägen abgemildert wurden.
Anpassungsstrategien und der Versuch von Potentialzuwächsen für periphere, strukturschwache
Räume nahmen aber auch überregional seit 1973/74 erheblich und kontinuierlich ab.7
1980 fanden noch zwei überdurchschnittliche Kapitalanlageninvestitionen im Landkreis Helmstedt
statt: Der mit überregionaler Resonanz verfolgte Ausbau des Braunkohlekraftwerkes Buschhaus
und die betriebliche Umstrukturierung des Zweigwerkes der Phönix AG in Reinsdorf zu einer
reinen Kunststoffteileproduktion.8
Im Erfassungszeitraum von 1981 bis 1986 wurden nach heutigen Maßstäben noch erhebliche
öffentliche Finanzierungsbeihilfen an die gewerbliche Wirtschaft im Rahmen der regionalen
Wirtschaftsförderung im Landkreis Helmstedt gewährt. Es wurden beispielsweise 17 Anträge von
Investitionszulagen von 10% der Investitionskosten mit zusätzlichen Finanzierungsbeihilfen
gefördert: "Sie umfaßten ein Investitionsvolumen von 66.764.000,00 DM. Für weitere
Erweiterungs- und Rationalisierungsvorhaben wurden sowohl Bescheinigungen nach § 2 des
Investitionszulagengesetzes erteilt als auch Zuschüsse in Höhe von 6.108.200,00 DM gewährt.
Außerdem wurden 14 Anträge auf Erteilung einer Bescheinigung nach § 2 des
6
7
8
Siehe: Ebenda, Seite 25/26.
Siehe: Windelberg, J. Innovationsorientierte Regionalpolitik zur Entwicklung strukturschwacher
Peripherräume. In: Informationen zur Raumentwicklung. Heft 1/2. Bonn 1984. Seite 63.
Siehe: Lompe,u.a., Regionale Bedeutung und Perspektiven der Automobilindustrie.Düsseldorf 1991. Seite
95.
- 40 -
Investitionszulagengesetzes bearbeitet, deren Investitionssumme 40.530.340,00 DM betrug.
(Zahlenangaben ohne die Stadt Helmstedt)." 9
Parallel dazu verschlechterten sich die ökonomischen Rahmendaten Anfang der 80er Jahre und
führten zur 3. Rezession, in deren Verlauf auch das reale Bruttosozialprodukt schrumpfte. Die oben
aufgeführten regionalen Wirtschaftsförderungsmaßnahmen waren trotz hoher Förderbeträge nicht in
der Lage, durch ein gezieltes antizyklisches Verhalten effektive Gegensteuerungsmaßnahmen
einzuleiten, die diese konjunkturelle Talfahrt reduzieren oder auch in Ansätzen aufhalten konnten.
Die Bestandspflege ansässiger Unternehmen schlug gerade in dieser Zeitphase weitgehend fehl.
„tiefe Narben“ für die Wirtschaftsstruktur des Landkreises hinterließen folgende Konkursverfahren:
Die Firmen Siemens-AG, Roto-Werke GmbH, Poroton-Werk GmbH & Co.KG, Klinkerwerk
Hintzen und Alois Heinze.10
Nur mit einer äußerst aufwendigen öffentlichen Hilfe konnten die Firmen Amino GmbH und die
Norddeutsche Zuckerraffinerie GmbH, die in Frellstedt Zuckerrübenmelasse entzuckern bzw.
Flüssigzucker herstellen in ihrem Fortbestand gesichert werden. Durch den Einbau einer
Entzuckerungsanlage, die weitgehend automatisiert ist und mit weit weniger Energie betrieben
wird, konnte ein Teil der Arbeitsplätze erhalten werden. Erhebliche Investitionen in den
Folgejahren schafften die Grundlage, daß sich das Unternehmen, das aus der sogenannten
"Restschlempe" mit Hilfe neuer Trenntechnologien Aminosäuren gewinnt, sich wieder allmählich
konsolidieren konnte.
Rückblickend betrachtet, konnten von dem durchaus kapitalkräftigen Förderungsprogrammen im
Erfassungszeitraum 1981 bis 1986 nur zwei Unternehmen bis zur Gegenwart eine ununterbrochene
prospirierende Wirtschaftswicklung tätigen: Die Meisterbäckerei Steinecke GmbH & Co. KG in
Mariental und das Park-Hotel Königshof in Königslutter.
Die Wirtschaftsförderung des Landkreises versuchte, im Erfassungszeitraum von 1986 bis 1991
weiterhin eine Bestandspflege ansässiger Unternehmen zu erreichen.
Das
in
diesem
Zeitraum
investierte
Mittelvolumen
für
Erweiterungsund
Rationalisierungsmaßnahmen betrug für 24 Vorhaben zwecks Zulagen und Zuschüsse in einer
Gesamthöhe von 12.779.211,30 DM. 11
Im produzierenden Gewerbe konnten nur Teilbereiche des Konsumgütersektors
(Ernährungsgewerbe und Kunststoff/Gummi) insbesondere in den 80er Jahren eine relativ
kontinuierliche Aufwärtsentwicklung vollziehen.
Die pragmatische Ausrichtung der Wirtschaftsförderung im Landkreis Helmstedt auf die
Ansiedlung von Unternehmen im unteren Arbeitnehmerqualifikationsreservoir (bei einem Verzicht
auf finanzielle Anreize in technologieorientierten Bereichen) förderte diese Entwicklung
maßgeblich.
In einem nicht zu unterschätzenden Ausmaß wirkte sich das überdurchschnittliche Lohn- und
Gehaltsniveau der BKB AG und der VW AG ebenfalls negativ auf die gesamten
Neuansiedlungsinitiativen der Wirtschaftsförderung aus.
Es ist zu vermuten, daß die BKB AG und die VW AG ihrerseits in der Vergangenheit eine
offensichtlich starke Tendenz zur monostrukturellen Ausrichtung des Landkreises indirekt
förderten, um ihre arbeitsmarktpolitische Monopolstellung zu erhalten.
Die Gewerbefläche, die direkt vom Landkreis Helmstedt aufgekauft wurde und erfolgreich
vermarktet werden sollte, kann aufgrund hinreichend bekannter Gründe in absehbarer Zeit nur
teilweise bebaut werden.
9
10
11
Landkreis Helmstedt. Verwaltungsbericht 1981-1986. Seite 153.
Siehe: Landkreis Helmstedt. Verwaltungsbericht 1981-1986. Seite 152/153.
Siehe: Landkreis Helmstedt. Verwaltungsbericht 1986-1991. Seite 167.
- 41 -
Die 1989 erworbene Fläche von 52.000 Quadratmetern für 800.000 DM bei Lehre-Wendhausen,
unmittelbar neben der Autobahn A2, ist altlastgeschädigt.12
Es soll in diesem Zusammenhang nur auf die Bündelung von Verwaltungsfachkräften auf
anhängige Verfahren und dem wirtschaftlichen und politischen Flurschaden hingewiesen werden,
mit dem sich der Landkreis Helmstedt diesbezüglich weiter auseinandersetzen muß.
Allein die Sanierung der Fläche sollte nach einem ersten Sachverständigengutachten rund vier
Millionen Mark, nach einem zweiten Gutachten aber "nur" noch Kosten zwischen 400.000 und 1,7
Millionen Mark verursachen. 13
3.1.2.1 Bewertung und Konsequenzen bisheriger Wirtschaftsförderung
Neben der wirtschaftlichen Wiederaufbauphase in den alten Bundesländern hat sich parallel eine
Verfestigung des Standortsystems an Arbeitsstätten herausgebildet, die rückblickend betrachtet, in
der Gesamtbilanz für den Landkreis Helmstedt äußerst negativ verlief.
Diese herauskristallisierte Standortsstruktur läßt sich im nachhinein nur äußerst aufwendig
korrigieren und nur allmählich durch Gewichtsverschiebung zu wettbewerbsfähigen Branchen
verändern.
Die kommunale Wirtschaftsförderung auf Landkreisebene ist nur begrenzt wirksam gewesen und
verlor zunehmend an Effektivität. Die hohe Förderrate konnte keine entsprechend günstige
Entwicklung bewirken und der tendenzielle Arbeitsplatzrückgang konnte nicht aufgehalten werden.
Rekapituliert man die in der Vergangenheit stattgefundene Wirtschaftsentwicklung, stellt man
außerdem fest, daß die Abhängigkeit des Landkreises von nur zwei "Monopolunternehmen", der
BKB AG und der außerhalb der Kreisgrenze in Wolfsburg ansässigen VW AG, statt kleiner zu
werden, noch gewachsen ist.
Als die Signalfertigungsanlagen aus dem Helmstedter Zweigwerk der Siemens AG nach Braunschweig
(ebenfalls
Signalfertigungsanlagenbau)
ausgelagert
wurden,
ist
ein
"Standorthoffnungsträger" aus dem Landkreis gegangen. Dieses Beispiel verdeutlicht zugleich wie
eine "verlängerte Werkbank" praxisbezogen funktioniert.
Dieser Verlust ist insofern von hoher Tragweite, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die
Produktion von Leit- und Sicherungstechnik der Siemens AG im Zweigwerk Braunschweig stark
prosperiert und sogar zweistellige Zuwachsraten verzeichnet.
Der Standort Braunschweig ist im Siemens-Konzernbereich Verkehrstechnik (zu dem noch die
Standorte Berlin und Erlangen - leider nicht mehr Helmstedt - gehören) weltweit für die gesamte
Leit- und Sicherungstechnik des schienengebundenen Verkehrs zuständig und mit Abstand größter
Hersteller in der Welt.14
Die dem Landkreis zufließenden Mittel für Wirtschaftsförderung sind in der Regel nach dem
„Gießkannenprinzip“ verteilt worden. Nach Ablaufen der Förderprogramme hat häufig auch eine
Verlagerung der Produktionsstätten in andere Regionen stattgefunden. Da ein zu attestierendes
Defizit an Wirtschaftsförderungskonzepten vorlag, hat der seit Anfang der 80er Jahre eingesetzte
technologische Strukturwandel die Unterschiede zu den Verdich-tungsräumen, aber im besonderen
auch zu anderen Landkreisen, eher noch vergrößert als vermindert.
Diese spezifische Standortproblematik beschreibt H. Legler, als Verfasser der "Entwicklungsperspektiven des Wirtschaftsraums Helmstedt", treffend mit folgender Formulierung: „In den
meisten Fällen war Helmstedt ein Standort für Zugvögel. Man nahm die Unternehmen, die kamen,
12
13
14
Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 04.08.1992.
Siehe: Ebenda, 04.08.1992.
Siehe: Braunschweiger Zeitung v. 17.09.1993.
- 42 -
man konnte nicht wählerisch sein und war froh, wenn jemand kam. Eine wesentlich andere
Perspektive hat die Region auch heute nicht.“15
Auch die Dominanz des Mittelzentrums Wolfsburg als Automobilstandort von internationaler
Bedeutung beeinträchtigte die hiesige wirtschaftliche Entwicklung um Ansiedlungs-bemühungen
aufgrund des überdurchschnittlich hohen Haustarifvertrages der VW AG.
Nach großzügiger Bewilligung von Investitionszuschüssen, zum Beispiel aus Mitteln der Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur (GA), die rückblickend zu
keiner wesentlichen Verbesserung der Wirtschaftsstruktur des Landkreises geführt haben, wäre man
durchaus besser beraten gewesen, wenn aus dem gleichen „Fördertopf“ Finanzmittel verstärkt zur
"Schaffung hochwertiger Arbeitsplätze" und zur „Schaffung zusätzlicher Dauerarbeitsplätze“
zielorientiert eingesetzt worden wären.
Die intensiven Förderprogramme konnten die Standortschwächen durch den beabsichtigten
Ausgleich von Nachteilen langfristig gesehen in keiner Weise ausgleichen.
Die Wirkung der bisher entwickelten und eingesetzten Instrumente der kommunalen (aber auch
regionalen) Wirtschaftsförderungsstrategien haben systematisch nachgelassen und ihre Erfolge sind
entsprechend begrenzt gewesen.
Eine der Ursachen heutiger Firmenzusammenbrüche ist rückwirkend betrachtet die einseitige
Orientierung auf den „Niedriglohnsstandort Landkreis Helmstedt“ (in Dauerarbeitsverträgen mit 12
% unterhalb der Bundesdurchschnitts) als ehemaliger wesentlicher Standortvorteil des Landkreises
im Wettbewerb mit anderen Landkreisen und Regionen.
Aus dieser verfehlten (pragmatischen) Ansiedlungspolitik der Vergangenheit resultieren heutige
Probleme für die Zukunft, weil eine funktionale Umstrukturierungsstrategie aus dem bestehenden
Unternehmensbestand heraus beim nicht Vorhandensein technologieintensiver Sektoren und
aufgrund veralteter Produktionstechnologien äußerst problematisch erscheint.
Den Wirtschaftstheoretikern, welche primär von den "Selbstheilungskräften des Marktes" ausgehen,
kann in diesem Zusammenhang geantwortet werden, daß sich rückblickend der Markt entschieden
hat; in der Regel allerdings für benachbarte Landkreise und Regionen.
Angesichts der sich auch weiterhin abzeichnenden ökonomischen Veränderungen in der
Wirtschaftsstruktur und der anhaltenden konjunkturelle Situation, wird es für das Mittelzentrum
Helmstedt und den gesamten Landkreis erheblich schwerer, dringend benötigte Neuansiedlungen zu
fördern und gegebenenfalls Erweiterungsmaßnahmen bestehender Unternehmen finanziell zu
unterstützen.
Der historische Rückblick über die prinzipiell nicht zufriedenstellend verlaufene Wirtschaftsentwicklung zeigt in seiner Konsequenz, auch unter Berücksichtigung heutiger Spar-maßnahmen,
auf, daß „mit dem Ende selbstverständlich erscheinender Wachstumsraten und dem Auftreten
verstärkter
Probleme
wirtschaftlichen
Strukturwandels
auch
bisher
praktizierte
Förderungsstrategien kritischer zu betrachten sind. Ansiedlungsbemühungen, Gewährung
finanzieller Anreize und Infrastrukturausbau lösen keinesfalls mit der erhofften Automatik die
Probleme ländlicher, aber auch im Strukturwandel befindlicher altindustrialisierter Gebiete.“ 16
3.1.2.2 Zukünftige Förderprioritäten
15 Siehe: Legler, H. u.a. Landkreis Helmstedt: Wirtschaftsstruktur und Perspektiven bis 2005, Nieders. Institut
Wirtschaftsforschung e.V. Hannover 1993. Seiten 74/75.
16 Ertel, R. Entwicklungslinien in der Diskussion zur regionalen Wirtschaftsförderung. In: Tätigkeitsbericht
Niedersächsisches Institut für Wirtschaftsforschung, e. V. Hannover 1985. Seite 13.
für
- 43 -
Der ab 1992 drastische Einschnitt bei der Förderung der regionalen Infrastruktur, der eine
Mittelkürzung im Bereich der Gemeinschaftsaufgabe zur Folge hat, wurde vom niedersächsischen
Wirtschaftsminister kritisiert. 17
Im August 1993 wurde der Landkreis Helmstedt von der Bezirksregierung und dem Ministerium für
Wirtschaft, Technologie und Verkehr in Kenntnis gesetzt, daß ab 01. Januar 1994 die Stadt
Helmstedt, die Samtgemeinden Heeseberg und Nord-Elm, aus der Förderung der
Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur herausfallen. Dies
bedeutet, daß die Stadt Helmstedt und die beiden aufgeführten Samtgemeinden ihren Status als
Schwerpunktorte für Investitionskostenzuschüsse verlieren. Der Planungsausschuß für regionale
Wirtschaftsstruktur, dem sowohl der Bund als auch die Länder angehören, hatte auf Verlangen der
EG-Kommision eine Reduzierung des Fördergebietes zu Ungunsten des Landkreises
vorgenommen. Der Wegfall der Möglichkeit bis zu 18% bei Neuinvestitionen gefördert zu
bekommen, hatte unter anderem zur Folge, daß zwischen dem Landkreis Helmstedt und den
angrenzenden Gebieten in Sachsen-Anhalt ein hohes Fördergefälle entstand.
In Folge der deutschen Vereinigung gibt es die bisherige Fördersonderleistungen für den Landkreis
Helmstedt im niedersächsischen Grenzland als ehemaliges Zonenrandgebiet nicht mehr.
Förderpolitisch ergibt sich daraus die Konsequenz, daß diese speziellen Grenzlandhilfen im
Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe keine Grundlage mehr haben. Damit fällt der Landkreis
Helmstedt aus der bisherigen Sondergebietsfördergebietskulisse heraus.
Lediglich die Stadt Schöningen und die Gemeinde Büddenstedt können aufgrund ihrer besonderen
Verflechtungen mit dem Braunkohletagebau der BKB AG auch weiterhin finanzielle Mittel aus
dieser „Gemeinschaftsaufgabe“ erhalten.
Die „Förderungskulisse“ verschob sich somit gravierend: Hatte rückblickend der Landkreis
Helmstedt innerhalb Niedersachsens zeitweise mit die höchste Förderpräferenz, so verlagerte sie
sich heute jenseits der Landesgrenze nach Sachsen-Anhalt, mit dem langfristigen Ziel gleichwertige
Lebensbedingungen im neuen Bundesland herzustellen.
In Anbetracht der umstrittenen europäischen Strukturfonds und ihrer regionalen Bedeutung
erscheint es angemessen, im folgenden die im Brüsseler Fachjargon als „Ziel-1-Gebiete“
bezeichneten Problemregionen kurz zu definieren: Diese Regionen erwirtschaften in der EG ein
Bruttoinlandprodukt pro Kopf, das 75% des EG-Durchschnitts nicht übersteigt. Die neuen
Bundesländer sind aus dieser Perspektive betrachtet der mit Abstand ärmste Teil der Gemeinschaft:
Ostdeutschland erreicht lediglich 40% des Mittelwertes, selbst das EG-“Armenhaus“ Irland kommt
auf rund 60%.
Interpretiert man diese Zahlenwerte mit der Feststellung, daß der deutsche Osten mit Andalusien
oder Kalabrien gleichzustellen ist, verdeutlicht dies zugleich, daß die Bundesrepublik Deutschland
vom einstigen Nettozahler der EG zum Hilfsempfänger degradiert wurde: Drei Viertel der
Fördermittel, die für Ziel - 1 - Gebiete in Frage kommen, waren bereits vorab den vier ärmsten EGMitgliedsstaaten Irland, Portugal, Spanien und Griechenland zugesprochen worden. Gerungen
wurden um den Restbetrag von insgesamt 68 Milliarden Mark, der bis 1999 zu vergeben ist: Auf
ihn fixiert sich nicht nur die deutsche Delegation (für die neuen Bundesländer), sondern auch
Großbritannien (für Nordirland), Italien (für das Mezzogirno) und Frankreich (für seine ÜberseeDepartments).
Fachleute bezweifeln im übrigen die Wirkung dieser Subventionspolitik und verweisen
diesbezüglich auf Erfahrungswerte aus Irland: Finanzmittel aus dem EFRE-Topf (Europäischer
Fonds für regionale Entwicklung) flossen etwa in Straßenbauprojekte, von dem vor allem die
städtische Verdichtungsregion Dublin profitierte.
Deshalb ist es nicht auszuschließen, daß in den sachsen-anhaltinischen Landkreisen der
DEUREGIO Ostfalen identische Entwicklungen ablaufen, in der das dominierende Oberzentrum
Magdeburg von der Ziel-1-Förderung hauptsächlich profitieren könnte.
17
Siehe: Hannoversche Allgemeine Zeitung v. 23.11.1992.
- 44 -
Die Strukturschwächen im Landkreis Helmstedt werden auch weiterhin erhebliche Anstrengungen
zu ihrer Überwindung und zur Ausschöpfung zukünftiger Entwicklungsmöglichkeiten im Rahmen
des Zusammenwachsens erfordern.
Die Einflüsse des EU-Binnenmarktes und die daraus resultierende Konsequenz der
Schwerpunktsetzung im Strukturaufbau in den neuen Bundesländern verändern und erschweren die
notwendigen Anpassungsprozesse für den Landkreis Helmstedt zusätzlich.
Aus diesen Gründen ist zu erwarten, daß das bestehende Fördergefälle sowohl zu einer zusätzlichen
Erschwerung von dringend benötigten Neuansiedlungen von Unternehmen führen wird, als auch die
Tendenz zu Abwanderungserwägungen etablierter Unternehmen im Landkreis ins
Nachbarbundesland Sachsen-Anhalt verstärken kann.
Mit Entschiedenheit soll aber auch darauf hingewiesen werden, daß trotz des Fördergefälles
diesseits der Landesgrenze zukunftsorientierte Impulse durch die neuen Aktivitäten der
DEUREGIO Ostfalen entstehen können, die sich längerfristig aus dem gemeinsamen europäischen
Binnenmarkt gerade für die zentral gelegenen ehemaligen Grenzräume zwischen den
Agglomerationen Braunschweig, Wolfsburg und Magdeburg positiv einstellen können. Auf diese
neuen Entwicklungschancen sollten sich zukünftige Aktivitäten der Wirtschaftsförderung
konzentrieren, die es in der neuen landesgrenzenübergreifenden Region im beiderseitigen Interesse
regional voll zu nutzen gilt.
3.1.3 Entwicklungsverlauf der Arbeitsstätten und der Industriedichte
Mit dem Stichtag 25. Mai 1987 fand im bundesweit eine Arbeitsstättenzählung statt. Nach den
Erhebungen der Jahre 1950, 1961 und 1970 war dies die vierte „totale Erfassung“ aller
nichtlandwirtschaftlichen Arbeitsstätten nach dem 2. Weltkrieg. Wiederum wurde die
Arbeitsstättenzählung zusammen mit einer Volks-, Berufs-, Wohnungs- und Gebäudezählung
durchgeführt, sie war also Bestandteil der „Volkszählung“ von 1987.
Arbeitsstättenzählungen geben als Bestandsaufnahme einen Gesamtüberblick über den
nichtlandwirtschaftlichen Bereich der gewerblichen Wirtschaft sowie über die Organisationen ohne
Erwerbszweck, Gebietskörperschaften und Sozialversicherungen.
Die Arbeitsstättenzählung 1987 läßt einen nahezu uneingeschränkten Vergleich mit den
Ergebnissen der vorherigen Erhebung von 1970 zu. Abgesehen von den starken
Strukturveränderungen und der dazwischen liegenden Gebiets- und Verwaltungsreform, die einen
langfristigen Vergleich über einen Zeitraum von 17 Jahren immer einschränken, gab es keine
wesentlichen methodischen, wirtschaftsystematischen oder regionalen Beeinträchtigungen.
Diese detaillierte Datenanalyse gibt die wirtschaftsstrukturelle Spezialisierung vor Ort wieder und
eignet sich ebenfalls zur Darstellung eines langfristigen Entwicklungsprozesses und daraus
resultierender Strukturveränderungen seit Anfang der 70er Jahre.
Insgesamt läßt sich im Beobachtungszeitraum 1970/1987 (siehe Tabelle III. 4.1.3) ein langfristiger
Schrumpfungsprozeß der Arbeitsstätten (mit der Folge der bereits angesprochenen negativen
Beschäftigtenentwicklung) erkennen:
Stadt Helmstedt:
Stadt Königslutter:
Stadt Schöningen:
Samtgemeinde Grasleben:
Samtgemeinde Heeseberg:
Samtgemeinde Nord-Elm:
Samtgemeinde Velpke:
Gemeinde Büddenstedt
Gemeinde Lehre:
18
minus
minus
minus
minus
minus
minus
minus
minus
minus
22,7 Prozent
22,2 Prozent
31,7 Prozent
39,5 Prozent
47,1 Prozent
30,4 Prozent
16,4 Prozent
36,2 Prozent
23,8 Prozent
Siehe: Niedersächsisches Landesamt für Statistik. Hannover 1989.
18
- 45 -
Eine differenzierte Auflistung der Arbeitsstättenentwicklung ist aus der Tabelle III 2.4 ersichtlich.
Um die Positionen und Positionsveränderungen des Landkreises Helmstedt in Relation zu
vergleichbaren Landkreisen zu bestimmen, werden im folgenden die Landkreise Gifhorn,
Wolfenbüttel und Peine soweit als möglich zum Datenvergleich herangezogen. Soweit der
Aussagewert von Bedeutung ist, werden zur Positionsbestimmung weitergehende regionale, auch
überregionale Vergleiche zu den übrigen Verdichtungsräumen des Bundesgebietes und der
Bundesrepublik insgesamt (alte Länder) als Vergleichswerte herangezogen.
Neben der Beschäftigungsentwicklung definiert der Begriff „Industriedichte“ das Verhältnis der
industriellen Arbeitsplätze zur Bevölkerungszahl. Das heißt, er gibt die Zahl der Beschäftigten je
1.000 Einwohner an. Dadurch werden Gebietseinheiten mit unterschiedlicher Bevölkerungszahl im
Hinblick auf ihre Ausstattung mit industriellen Arbeitsplätzen miteinander vergleichbar. Es läßt
sich in Folge dessen erkennen, ob eine Gebietseinheit stärker oder schwächer industrialisiert ist als
eine vergleichbar andere.
Auch unter Berücksichtigung des Bemessungszeitraumes bis 1992 hielt die negative
Entwicklungstendenz an. Es häuften sich die Arbeitsplatzverluste vom 30.06.1980 bis zum
30.06.1992 im Bergbau und verarbeitenden Gewerbe des Landkreises Helmstedt auf minus 17,1
Prozent an. Als Vergleichswert gehörten die Landkreise Peine (minus 19,8 Prozent) und Goslar
(minus 15,6 Prozent) mit ebenfalls überdurchschnittlichen Arbeitsplatzverlusten (Niedersachsen
insgesamt minus 5,4 Prozent) dazu.19
Die Industriedichte sank im identischen Zeitraum im Landkreis Helmstedt um minus 18,7 Prozent.
Vergleichswerte: Landkreis Peine minus 22,5, Goslar minus 10,7 Prozent, Wolfenbüttel minus 4,2
Prozent zu Niedersachsen insgesamt mit minus 8,9 Prozent.20
Insgesamt läßt sich im Beobachtungszeitraum von 1970 bis 1992 feststellen, daß ein tendenzieller
Schrumpfungsprozeß vor allem im Zuge der Rezessionsphase 1974/75 und deren Nachwirkungen
mit einem bis dahin in der Nachkriegsentwicklung noch nicht stattgefundenen Abbau von
Arbeitsplätzen in der gesamten Bundesrepublik Deutschland stattfand.
Der Beschäftigtenrückgang im Landkreis Helmstedt ist nicht nur auf die Randlage zur früheren innerdeutschen Grenze zurückzuführen. Selbst Landkreise in unmittelbarer Randlage zur früheren innerdeutschen Grenze konnten im Beobachtungszeitraum von 1980 bis 1992 (Grenzöffnung September 1989) in Niedersachsen Arbeitsplatzgewinne verbuchen. Dazu zählten die Landkreise LüchowDannenberg (plus 22,8 Prozent), Uelzen (plus 1,4 Prozent) und Gifhorn (plus 5,5 Prozent. Negative
Veränderungsraten bis Ende 1989 verbuchten die Landkreise Helmstedt (minus 17,1 Prozent) und
Goslar (minus 15,6 Prozent).21
Es kristallisiert sich heraus, daß die ökonomische Entwicklung des Landkreises Helmstedt,
insbesondere von 1980 bis 1992, nur bedingt auf die extreme Randlage in der Bundesrepublik und
der Europäischen Union bis September 1989 zurückzuführen ist.
3.1.4 Entwicklungsverlauf der Bruttowertschöpfung
„Die Bruttowertschöpfung22 gilt auf kleinräumiger Ebene als einzig verfügbarer Indikator für die
wirtschaftliche Leistungskraft. Es kann aus statistischen Gründen eine Berechnung der Kreisergebnisse nicht direkt erfolgen, sondern muß mit Hilfe von Schlüsselverfahren vorgenommen
werden. Dabei stellen Landkreise zugleich die unterste Ebene der räumlichen Gliederung dar.
Insgesamt muß neben dieser Schlüsselung für die Interpretation der Daten vor allem berücksichtigt
werden, daß damit nicht die realen Steigerungswerte der BWS angegeben werden, sondern nur die
19 Siehe: Statistische Monatshefte Niedersachsen. Niedersächsisches Landesamt für Statistik. Hannover 1993
235.
20 Siehe: Ebenda, Seite 235.
21 Siehe: Statistische Monatshefte Niedersachsen, Niedersächsisches Landesamt für Statistik. Hannover 1993
239.
22 Anmerkung: Bruttowertschöpfung im folgenden BWS genannt.
Seite
Seite
- 46 -
unbereinigten Ergebnisse zu jeweiligen Marktpreisen vorliegen. Für einen Vergleich unter diesen
Bedingungen ist der Indikator jedoch dazu geeignet, anhand von Veränderungsraten die
Wachstumsunterschiede zwischen den Regionen, wie auch innerhalb der Regionen zu
verdeutlichen.“23
Die Entwicklungstendenzen der BWS sind nicht nur primäre Indikatoren der zusammenfassenden
wirtschaftlichen Leistungskraft einer Region, sondern reflektieren ebenfalls das regionale Arbeitsplatzangebot, das auch für die Beurteilung der jeweiligen regionalen Erwerbschancen oder auch
Erwerbsrisiken mit entscheidend ist.24
Für die Untersuchungseinheit Landkreis Helmstedt und den übrigen Untersuchungsraum liegen
regionalisierte Daten erst ab 1970 vor. Wie aus der Tabelle III. 3 ersichtlich, konnte in der ersten
Hälfte der 70er Jahre der Landkreis Helmstedt im BWS-Anteil aufgrund des Ausbaues der
Braunkohleförderung der BKB sogar ein überdurchschnittliches Wachstum von 72,5 Prozent
(Bundesdurchschnitt 66,9 Prozent) erreichen.
Im Zeitraum von 1976 bis 1980 ist trotz überdurchschnittlicher Wachstumsraten im produzierenden
Bereich besonders in den Landkreisen Helmstedt (minus 8,6 Prozent) und Peine (minus 3,1
Prozent) eine Stagnation eingetreten. Der Bundestrend von +13,9 Prozent wurde in Wolfsburg
aufgrund der prosperierenden Automobilindustrie deutlich mit +46,2 Prozent übertroffen. Von
dieser Entwicklung konnte ebenfalls der Landkreis Gifhorn mit +19,6 Prozent profitieren.
Die Entwicklungstendenz wäre unproblematisch, wenn das schrumpfende produzierende- und
verarbeitende Gewerbe vom Wachstum im Dienstleistungsbereich zumindest hätte ausgeglichen
werden können.
Die Veränderungen für den Zeitraum von 1980 bis 1986 zeigen folgende Entwicklungstendenzen
der BWS insgesamt pro Einwohner auf: Der Abstand im Landkreis Helmstedt reduzierte sich von
73 % (Südostniedersachsen 98 Prozent) auf 67 % (Südostniedersachsen 102 %).25
Von erheblichen Aussagewert sind die Veränderungen der BWS zu Marktpreisen von 1980 bis
1988 (siehe Tabelle III. 3.1), insgesamt in Prozent: Der Landkreis Helmstedt verzeichnete danach
im Raumvergleich die geringste Steigerungsrate von nur 19,0 %, während die Landkreise Gifhorn
40,2 %, Wolfenbüttel 34,5 %, Peine 23,5 %, die Städte Wolfsburg 62,5 %, Braunschweig 36,0 %,
Niedersachsen insgesamt 39,4 % und die alten Bundesländer insgesamt 43,8 % aufweisen.26
Die innerregionalen Entwicklungsabweichungen mit Wachstumsverlusten, insbesondere in den
Landkreisen Helmstedt und Peine (im Landkreis Peine spiegelt sich hauptsächlich die
Umstrukturierung in der Stahlindustrie zu lasten des Standortes Peine wider), zeigen außerdem die
starke Konzentration auf die strukturbestimmenden Wirtschaftszentren Wolfsburg und
Braunschweig auf.
Von 1980 bis 1988 verläuft das Wachstum des BWS in Südostniedersachsen zum Bundesentwicklungstrend unterdurchschnittlich. Wachstumszentren bleiben die kreisfreien Städte
Braunschweig und Wolfsburg. Die Landkreise liegen fast alle deutlich unter dem
Bundesdurchschnitt, wobei speziell Helmstedt von 73 Prozent (1980) auf 67 Prozent (1986)
überdurchschnittliche Verluste hinnehmen mußte.
Die „bereinigte“ BWS zu Marktpreisen auf je 1000 Einwohner, ebenfalls von 1980 bis 1988, (siehe
Tabelle III. 3.1.2), ergeben folgende Zahlenwerte in Prozent: Hierbei liegt der Landkreis Helmstedt
im identischen Raumvergleich mit 62% erheblich günstiger. Selbst der Landkreis Gifhorn ist
aufgrund der niedrigeren Einwohnerdichte insbesondere des Nordkreises mit 54% unter diesem
Zahlenwert, während die Landkreise Wolfenbüttel 54% und Peine 61% und die Städte Wolfsburg
23
Lompe, K., u.a. Regionale Bedeutung und Perspektiven der Automobilindustrie, Düsseldorf 1991. Seiten
42/43.
24 Siehe: Die Entwicklung in den Regionen des Bundesgebietes. In: Die Städte in den 80er Jahren, J.
Friedrichs
(Hrsg.). Opladen 1985. Seite 214 ff.
25 Siehe: Lompe, K., u.a., Ebenda, Seite 45.
26 Siehe: Niedersächsisches Institut für Wirtschaftsforschung e. V. Hannover 26.04.1993.
- 47 -
mit dem Spitzenwert von 217%, Braunschweig 113%, Niedersachsen mit 85% und die alten
Bundesländer insgesamt 100% aufweisen.
Die Spitzenstellung der Städte wird hierbei der Agglomeration zugeschrieben und obwohl sich die
Steigerung aus Helmstedter Perspektive mit erfreulichen 62% niederschlägt, bleiben die Abstände
zum Land Niedersachsen mit 85% und zum Bund mit bereinigten 100% Prozent jedoch deutlich
bestehen.27
Aktualisierte Daten im Zehnjahresvergleich zwischen 1980 und 1990 ermittelte das
Niedersächsische Landesamt für Statistik auf Basis der BWS zu Marktpreisen als zentraler
Indikator für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Landkreises oder Region. Hierbei sind als
Ergänzung zu den vorherigen Zeitraumvergleichen die Jahre 1989 und 1990 mit berücksichtigt
worden.
Danach hat sich die BWS in Südostniedersachsen weiterhin sehr unterschiedlich weiterentwickelt:
Am stärksten war das Wachstum im Landkreis Gifhorn (plus 61,2%) und in Salzgitter (plus 60,2%).
Es folgen die Städte Wolfsburg (plus 54%), Braunschweig (plus 50%), Landkreis Wolfenbüttel
(plus 47%), Landkreis Peine (plus 40,5%), der seinen erwähnten Umstrukturierungsprozeß von der
Stahlindustrie zu den Dienstleistungen erfolgreich fortsetzt und der Landkreis Goslar (plus 36%).
Regionales Schlußlicht unter Zugrundelegung dieser aktualisierten Daten der letztendlichen Summe
aller produzierten Güter und Leitungen (abzüglich der Vorleistungen durch Zulieferungen) ist
wiederum der Landkreis Helmstedt, in dem es nur einen Zuwachs von rund 8% gab.
Diese Zahlenwerte ergeben einen weiteren Indikator für die Annahme eines innerregionalen
Gefälles innerhalb Südostniedersachsens, zwischen dem als "Schlußlicht" aufgeführten Landkreises
Helmstedt im Südosten mit 8% und dem Spitzenwert von 61,2% des Landkreises Gifhorn im
Norden.
Unter Zugrundelegung dieses Zehnjahresvergleiches (1980 bis 1990) der BWS zu Marktpreisen,
kann von einem regionalen Gewinner mit erhöhtem Aufwärtstrend (Landkreis Gifhorn) und einem
regionalen Verlierer mit deutlichen Abwärtstrend (Landkreis Helmstedt) gesprochen werden
Die Garanten des Erfolges basieren im Landkreis Gifhorn auf folgenden Faktoren: Eine zielstrebige
Wohnungspolitik unter Ausnutzung auch extensiver Förderungsmöglichkeiten insbesondere in der
Stadt Gifhorn, eine günstige infrastrukturelle Anbindung zu den Städten Wolfsburg und
Braunschweig, die Erschließung der direkten Verbindungsstraße K114 (Nordtangente) zwischen
der Stadt Gifhorn und der VW Wache West, die rechtzeitige und systematische Ausweisung von
Gewerbe- und Industrieflächen sowie in Teilbereichen „weiche“ Standortfaktoren, wie
Wohnumfeldmaßnahmen, Freizeit- und Erholungsmöglichkeiten.
Schwachpunkte in der wirtschaftlichen Entwicklung des Landkreises Gifhorn sind im (bisherigen)
Fehlen eines gezielten Wirtschaftsförderungskonzeptes zu konstatieren, das in der Konsequenz
dazu führte, daß sich eine überwiegende Orientierung auf die Automobil-zulieferindustrie einstellte
und deshalb auch mit einem mittelfristigen Einbrechen dieses Aufwärtstrends zu rechnen ist.
Auch die ökonomische Konsolidierung des Landkreises Peine sollte hierbei nicht unberücksichtigt
bleiben: Nach einer erfolgreichen Wiederverwertung von Industriebrache in einem zweiten
„Unternehmenspark“ mit 25.000 Quadratmeter Gesamtfläche entstand in der Stadt Peine nach
dreijähriger Projektphase eine zusätzliche Gewerbefläche, die durch eine umfassende Begrünung
aufgewertet wurde.
Auf dem Gelände siedelten sich bereits elf Firmen an, deren Spektrum vom Meßgerätehersteller bis
hin zur Teutloff-Schule reicht. Die erste ebenfalls erfolgreiche Gewerbefläche wurde bereits 1989
eröffnet. Die zweite Projektphase (Unternehmenspark II) verursachte Kosten von rund 33 Millionen
DM, die zur Hälfte die Stadt Peine trug, zur anderen Hälfte aus Mitteln des Landes Niedersachsen
und der Europäischen Gemeinschaft finanziert wurde.
Der Landkreis Peine liegt im wirtschaftsgeographischen Spannungsfeld zwischen den Oberzentren
Hannover und Braunschweig. Die industrielle Wirtschafts- und Arbeitsmarktstruktur ist
zurückblickend wesentlich durch die Entwicklung der ehemals dominierenden Eisen- und
27
Siehe: Niedersächsisches Institut für Wirtschaftsforschung e. V. Hannover 26.04.1993.
- 48 -
Stahlerzeugung bestimmt worden. Der Konjunktureinbruch zu Beginn der 80er Jahre führte zu
starken Arbeitsplatzverlusten in diesen strukturprägenden Bereichen. Die Gebietskörperschaften der
Region haben in den letzten 10 Jahren versucht, einen wirtschaftlichen Wandel bzw. eine
wirtschaftliche Umstrukturierung zu unterstützen.
Allerdings können aufgrund des verschiedenartigen Strukturgefüges zwischen den Landkreisen
Helmstedt und Peine Vergleichsmerkmale nur äußerst bedingt herangezogen werden. Peine als
industrieller Kern eines historisch gewachsenen Verdichtungsgebietes der stagnierenden Eisen- und
Stahlindustrie hat mit Helmstedt nur die Wirtschaftsachse BAB - A2 gemeinsam. Aber auch hier
besteht für Peine als integrierter Bestandteil der Industrieachse in Südostniedersachsen und der
kurzen Entfernungsdistanz zu Hannover eine wesentlich günstigere Ausgangsposition.
In absoluten Zahlen der Wertschöpfung in Südostniedersachsen sieht die „Rangfolge“ von 1980 bis
1990 folgendermaßen aus: Es führt die Großstadt Braunschweig mit 10,3 Milliarden DM vor
Wolfsburg mit 7,8 Milliarden DM. Am Ende liegen die Landkreise Gifhorn mit 2,6 Milliarden DM,
Wolfenbüttel mit 2,3 Milliarden DM und Helmstedt mit 1,9 Milliarden DM.
Auf Basis dieses Zehnjahresvergleiches ist überregional festzustellen, daß Südostniedersachsen
einen Industrieanteil innerhalb der BWS zu Marktpreisen von insgesamt 20,2% (Großraum
Hannover 16,8%), im Dienstleistungsbereich hingegen nur einen Anteil von 14,9% (Großraum
Hannover 23,6%) erreicht.
Die Tabellenanalysen veranschaulichen aber auch deutlich, daß die gesamte Region Südostniedersachsen schon seit Beginn der 70er bis in die 80er Jahre im Vergleich zum übrigen Bundesgebiet insbesondere Süddeutschland - nur unterdurchschnittliche wirtschaftliche Leistungen zu erbringen
vermochte. Das BWS-Gesamtprodukt je Einwohner bleibt im Durchschnitt deutlich unter dem
Bundesdurchschnitt.
Ursachen der für die ab Mitte der 70er Jahre tendenziell ungünstigere Entwicklung der BWS im
Landkreis Helmstedt gegenüber die im Raumvergleich herangezogenen Beispiele sind zum einen
die zunehmenden Disparitäten zwischen den Teilräumen, die sich auch innerhalb
Südostniedersachsens aufgrund der unterschiedlichen Entwicklungen der Branchenstrukturen
herauskristallisierten. Zum anderen leiten sich daraus unterschiedliche Entwicklungstendenzen der
Erwerbsstrukturen und der Bevölkerungsentwicklung ab. Die auf den Landkreis Helmstedt
bezogenen Auswirkungen auf die ungünstigere Altersstruktur der Bevölkerung und die damit
wiederum verbundene relative Entleerung insbesondere des Südkreises, bei gleichzeitigem
Wachstum im Norden Südostniedersachsens zugunsten des Landkreises Gifhorn kann deshalb aus
der Sichtweise eines räumlichen Erklärungsansatzes als regionales „Südost-Nord-Gefälle“
bezeichnet werden.
Ein weiterer entwicklungshemmender Faktor für den Südkreis ist die allmähliche Erschöpfung des
großflächigen Braunkohlenabbaues in einer letztendlich weitgehend „ausgeräumten Landschaft“.
Die Erschöpfung und mangelnde Konkurrenzfähigkeit von Bodenvorkommen wie dem
Braunkohleabbau als Basis der industriellen Entwicklung im Südkreis, bedeutet auch die Gefahr
eines weiteren Absinkens der zentralörtlichen Bedeutung des Grundzentrums Stadt Schöningen, der
Gemeinde Büddenstedt sowie der Samtgemeinde Heeseberg.
Berücksichtigt man die unmittelbaren Auswirkungen der Grenzziehung auf die Wirtschaftsstruktur
im Landkreis Helmstedt, so haben sich die veränderten Rahmen-bedingungen vor allem auf den
Südkreis, besonders negativ ausgewirkt: Von 1945 bis 1952 lag „der geographische Schwerpunkt
der Industrie in der Südhälfte des Landkreises Helmstedt. Von 30 Betrieben mit 49 und mehr
Mitarbeitern lagen 25 in der Südhälfte ...“28
Der Landkreis Helmstedt gehört - das deutete sich bereits seit Mitte der 70er Jahre durch
einschneidende Veränderungsrate der BWS an - im besonderen Maße mit zu den Verlierern
Strukturwandels.
Zeitweilige konjunkturelle Wachstumsschübe (primär
durch
Automobilindustrie und ihre regionale Sogwirkung) konnten diese negative Trendentwicklung
teilweise verdecken.
28
Siehe: Mund, K. Der Landkreis Helmstedt als Grenzgebiet 1945 - 1952. Fachbereich für Philosophie und
Sozialwissenschaften der TU Braunschweig. Braunschweig 1993. Seite 114.
die
des
die
nur
- 49 -
Die aus Datenvergleichen tendenziell positive Entwicklung im Landkreis Gifhorn resultiert
hauptsächlich aus dem Muster regionaler Entwicklungen, wonach die größten Wohn- und
Beschäftigungsentwicklungen in den Umlandgemeinden der Zentren zu finden sind. Die gegenüber
dem Landkreis Helmstedt günstigeren infrastrukturellen Bedingungen verschafften dem Landkreis
Gifhorn diesbezüglich erhebliche Vorteile. Von der ökonomischen Prosperität des VW
Stammwerkes in Wolfsburg konnte insbesondere in den 70er und 80er Jahren (sieht man von
Rezessionsunterbrechungen
ab)
der
Landkreis
Gifhorn
hauptsächlich
seinen
Entwicklungsvorsprung ableiten, der auf den Landkreis Helmstedt bezogen, in seiner vollen
Bandbreite nur die zu Wolfsburg peripheren Gemeinden Lehre und Velpke erfaßte.
Der negative Entwicklungsverlauf der BWS verdeutlicht für den Landkreis Helmstedt eine
Abkopplung von der dynamischen Entwicklung im Bundesgebiet (alte Bundesländer) und in
Südostniedersachsen, wobei sich dabei die Monostruktur, die geringe Branchendichte und die
Technologiedefizite auswirken.
3.1.5 Wirtschaftsstruktur im Landkreis Helmstedt
Die Grundlage der Wirtschaftsstruktur im Landkreis Helmstedt ist die Branchenanalyse auf Basis
von Statistiken des Arbeitsamtes Helmstedt. Das tiefgegliederte Datenmaterial des Arbeitsamtes
vom „Stichmonat“ März 1993 wird üblicherweise nicht veröffentlicht.
Die Tiefe der Gliederung hat bei der Bestimmung der Branchenstruktur gegenüber anderen
Veröffentlichungen den Vorteil, daß hierbei alle Betriebe (ab 10 Beschäftigten) jeder
Größenordnung berücksichtigt werden. Die „Rohdaten“ des Arbeitsamtes wurden nach
Wirtschaftsbereichen innerhalb des primären-, sekundären- und tertiären Sektors, Anzahl der
Betriebe und Beschäftigten, nach Ort und Namen gegliedert und übersichtlich systematisiert.
Trotz dieser tiefgreifenden Branchenanalyse muß realitätsbezogen darauf hingewiesen werden, daß
der Gesamtbeschäftigtenstand sowohl die Beamten und Selbstständigen sowie alle
Personengruppen
mit
geringfügigen
Beschäftigungsverhältnissen,
die
nicht
der
Sozialversicherungspflicht unterliegen, nicht erfaßt.
Die wirtschaftliche Basis des Landkreises stellt der sekundäre Sektor dar. Insbesondere die in ihrer
Bedeutung stark abnehmende BKB stellt den noch größten Anteil der Beschäftigten.
Neben dem Braunkohletagebau stellt das Nahrungs- und Genußmittelgewerbe mit zusammen 28
Unternehmen und insgesamt 1.729 Beschäftigten eine weitere wirtschaftliche Basis dar. Ihnen folgt
die Industriegüterproduktion mit 23 Unternehmen und insgesamt 1.654 Beschäftigten folgt bereits
das Baugewerbe (Bauhaupt- und Ausbaugewerbe) mit 44 Unternehmen und insgesamt 1.418
Beschäftigten. Danach folgen die Verbrauchs-güterproduktion (15 Unternehmen mit 646
Beschäftigten), die Grundstoff- und Güterproduktion (9 Unternehmen mit 515 Beschäftigten) und
das verarbeitenden Gewerbe (16 Unternehmen mit 366 Beschäftigten).
Im direkten Vergleich der Gesamtbeschäftigtenanzahl des sekundären mit dem tertiären Sektor ab
10 Beschäftigten überwiegt die Sachgüterproduktion mit 9.398 gegenüber 7.821 im
Dienstleistungsbereich.
„In einer marktwirtschaftlichen Ordnung werden dabei Gewicht und Wachstum der einzelnen
Sektoren durch Entscheidungen von Unternehmen und Haushalten bestimmt“.29
Sowohl die Erwerbstätigenzahlen der beiden Volkszählungen von 1970 und 1987 als auch die
Zahlen der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten nach Wirtschaftsabteilungen spiegeln wider,
daß auch der Landkreis Helmstedt dem allgemeinen Trend einer Tertiarisierung, d. h. dem
Strukturwandel vom primären über den sekundären hin zum tertiären Sektor unterliegt, verbunden
29 Willms, M. Strukturpolitik. In: Vahlens Kompendium der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, Band
München 1992. Seite 373.
2.
- 50 -
mit Verlusten in der Land- und Forstwirtschaft, im Bergbau, im produzierenden bzw.
verarbeitenden Gewerbe und mit Ausnahme des Handels, mit tendenziellem Zuwachs im gesamten
sonstigen Dienstleistungsbereich, der aber in seiner Entwicklungstendenz hinter dem Landes- und
Bundestrend aber deutlich zurückliegt, (vgl. Tabellen III. 2.3 und III. 2.3.1).
So
hat
beispielsweise
in
der
dienstleistungsbegünstigten
Kreisstadt
Helmstedt
(Landkreisverwaltung, Stadtverwaltung, Arbeitsamt und Kreiskrankenhaus) zwischen 1970 und
1987 eine Erhöhung des Dienstleistungsbereiches um 11,0 Prozent stattgefunden. Im gleichen
Zeitraum jedoch expandierte dieser Bereich im Land Niedersachsen mit 35,6 Prozent und in der
gesamten Bundesrepublik (alte Länder) mit 41,8 Prozent.30
Die absoluten Zahlen der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in der Stadt Helmstedt im
Dienstleistungsbereich konnte sich auch weiterhin von 1987 (3.494), 1988 (3.513), 1989 (3.583),
1990 (3.729) und 1991 (3.869) nur unwesentlich verändern.31
In absoluten Zahlen zusammengefaßt veränderte sich die Gesamtanzahl aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten auf Landkreisebene im produzierenden Gewerbe zum Vergleich im
Dienstleistungsbereich ohne Handel und Verkehr (in Klammern)
1987:
1988:
1989:
1990:
1991:
10.055
9.940
9.950
10.269
11.192
(6.585),
(6.634),
(6.702),
(7.076),
(7.447). 32
Es bestätigt sich somit, daß der gesamte Dienstleistungssektor eine relativ geringe Gewichtung in
der Gesamtbeschäftigtenstruktur aufweist.
Das produzierende Gewerbe stellt in seiner Gesamtheit den Hauptwirtschaftzweig im Landkreis
dar. Insbesondere die Sektoren Energie/Bergbau, Maschinen- und Straßenfahrzeugbau,
Elektrotechnik, Steine/Erden, Holz/Papier/Druck und auch das Baugewerbe sind im
Betrachtungszeitraum von 1980 bis 1989 in ihrer Entwicklung in keiner Weise begünstigt worden
und unterlagen einem zumeist stark ausgeprägten Schrumpfungsprozeß.
Der Konsumgüter-, Nahrungs- und Genußmittelsektor hingegen konnte im identischen Zeitraum
ökonomisch prosperieren und mit positiven Beschäftigungseffekten aufwarten. Aus der
Interpretation der Tabellen (III. 2.8 bis III. 2.8.3) können zunächst Betriebsgrößen nach
Beschäftigtenanzahl und in einer anschließenden eingehenden Betrachtung daraus die
Spezialisierungsstruktur der Landkreiswirtschaft abgeleitet werden.
Im produzierenden Gewerbe führt die BKB AG mit 2.422 Beschäftigten (Anfang 1994 nur noch
1.970), zusammen mit ihrem Tochterunternehmen Überland-Zentrale Helmtstedt (ÜZH) mit 313
Beschäftigten die Betriebsgrößenordnung an.
Hinter einem Vakuum folgen zwei mittelgroß produzierende Unternehmen: Der
Automobilzulieferer Phönix-AG aus dem Ortsteil Reinsdorf der Gemeinde Büddenstedt mit 754
Beschäftigten und die im Nahrungsmittelgewerbe ansässige Meisterbäckerei Steinecke aus dem
Ortsteil Mariental der Gemeinde Grasleben mit 614 Beschäftigten.
Es folgen in einem deutlichen Abstand zwei Unternehmen mit jeweils knapp über 200
Beschäftigten: Die Polstermöbelfabrik Franz Link und Sohn GmbH aus Helmstedt mit 237
Beschäftigten und die im Genußmittelgewerbe ansässige Zigarren- und Zigarillofabrikation Arnold
André aus Königslutter mit ebenfalls 237 Beschäftigten.
Die Größenklasse zwischen 100 und 208 Beschäftigten ist durch folgende Landkreisunternehmen
besetzt:
30
31
32
Quellen: Statistisches Bundesamt und Niedersächsisches Landesamt für Statistik. Hannover 1992.
Quelle: Niedersächsisches Institut für Wirtschaftsforschung e. V. Hannover 1993.
Quelle: Niedersächsisches Institut für Wirtschaftsforschung e. V. Hannover 1993.
- 51 -
Salzbergbau Kali und Salz GmbH, Grasleben, 208 Beschäftigte,
Anlagebaufirma Ahrens und Bode, Schöningen, 199 Beschäftige,
Gummiwerk Allerthal-Werke AG, Grasleben, 188 Beschäftigte,
Zuckernährmittelfirma Amino GmbH, Frellstedt, 181 Beschäftigte,
Tiefbaufirma Otto Rohr, Helmstedt, 180 Beschäftigte,
Zucker AG, Uelzen-Braunschweig, Königslutter, 153 Beschäftigte,
Textilfabrik Solida aus Helmstedt, 135 Beschäftigte,
und die Saatzuchtfirma Strube, Heeseberg, Ortsteil Söllingen mit 120 Beschäftigten.
Die Spezialisierungsstruktur der Wirtschaft im Landkreis ist primär geprägt vom
Tagebergbau/Energie, Ernährungs- Kunststoff- und Textilindustrie, dem Baugewerbe und
zugeordneten Bereichen wie Steine/Erden, dem öffentlichen Dienst, Sozial- und Gesundheits-sektor
und den persönlichen Dienstleistungsbereichen.
Bei der Kurzinterpretation ist diesbezüglich hervorzuheben, daß eine relativ hohe Ausrichtung auf
rohstoffintensive Produktionsweisen, ein insgesamtes Defizit an überregionaler Verflechtung
(Ausnahmen beispielsweise Phönix-AG, Meisterbäckerei Steinecke, Weber und Seeländer und Kali
und Salz), wachstumsschwächere Branchen mit zum Teil Technologiedefiziten und wenig Knowhow und in der Regel mit ungünstigen Wettbewerbspositionen anzutreffen sind.
In Gesamtüberblick ist hierbei besonders auffällig, daß der technologieorientierte Sektor wie
beispielsweise Elektrotechnik und Maschinenbau nur äußerst schwach vertreten ist.
Im Wirtschaftssektor der Investitionsgüterproduktion befinden sich in dem Wirtschaftszweig
Maschinen- und Anlagebau anzahlmäßig geringe, in ihrer spezifischen Bedeutung aber einige
kleine Unternehmensgrößen, die teilweise erfolgreich operieren, zum Teil überregional verflochten
sind, sowie größtenteils über innovative Elemente verfügen und sich im Markt bisher erfolgreich
behaupten konnten und durchaus ausbaufähig sind.
Dazu zählen im einzelnen das erwähnte Unternehmen Ahrens und Bode aus Schöningen
(Anlagenbau für Transportfahrzeuge und der Reinigungstechnik), sowie die Unternehmen Weber
aus Velpke (spezialisiert in der Steuerungstechnik für Aufzugsbau und sonstige
Steuerungskomponenten) mit 59 Beschäftigten, Peter Zeilfelder Pumpenfabrik GmbH aus
Helmstedt (Pumpen- und Maschinenfabrik) mit 23 Beschäftigten, Till GmbH und Co. KG aus
Helmstedt (Hydraulik- und Steuerungskomponeten) mit 96 Beschäftigten und Weber und Seeländer
(Seifenmaschinenanlagenbau) aus Helmstedt mit 95 Beschäftigten.
Das Ingenieurbüro Spitzer GmbH aus Schöningen mit 30 Mitarbeitern (Steuerungstechnik) und die
Hensel Datentechnik GmbH aus Helmstedt sind zwei weitere innovationsorientierte Unternehmen
im Landkreis.
Diese in der Tendenz technologieorientierten Unternehmen sind in ihrer Gesamtheit aber zu gering,
überdurchschnittlich klein und es liegen fast keine Kooperationen in Richtung
Forschungsaktivitäten vor.
Der Wirtschaftssektor „Nahrungs- und Genußmittelgewerbe“ stellt im Vergleich zu anderen
unmittelbar angrenzenden Landkreisen hier eine ausgeprägtere Verdichtung dar.
Dazu zählen im einzelnen neben den erwähnten Unternehmen Arnold André, Meisterbäckerei
Steinecke, Zucker AG Uelzen-Braunschweig, Amino GmbH und Strube (Wirtschaftssektor
allgemeine Landwirtschaft), ab 50 Beschäftigten die Unternehmen Dieter Bruns aus Frellstedt
(Bäckerei) mit 52 Beschäftigten, Hermann Danehl GmbH und Co. KG aus Süpplingen
(Schlachterei und Fleischverarbeitung) mit 57 Beschäftigten und die Norddeutsche Zuckerfabrik
GmbH aus Frellstedt mit 55 Beschäftigten.
Gewicht und Wachstum der einzelnen Wirtschaftssektoren sind primär unter Zugrundelegung der
ausgearbeiteten Tabellen in der Gesamtbeurteilung von Indikatoren geprägt, in der die
Unternehmensdichte und die Gesamtbeschäftigtenanzahl insgesamt als zu niedrig einzustufen sind.
Die Ziffer 7 der Tabelle III. 2.3.2 verdeutlicht die Entwicklungstendenz im sekundären Sektor von
1985 bis 1989 und ermöglicht Rückschlüsse auf die Dynamik der Sachgüterproduktion. Hierbei
- 52 -
schneidet der Landkreis im Vergleichsraumbezug mit -0,2 Prozent am ungünstigsten ab. Der
Landesdurchschnitt in Niedersachsen beträgt hierbei +3,9 Prozent und aufgrund der zunehmenden
Tertiarisierungstendenz kommen die alten Bundesländer insgesamt auf einen Durchschnitt von +2,9
Prozent.
Bevor aber die Strukturschwächen und deren erforderliche Anpassungsprozesse näher definiert
werden, sollte relativierend darauf hingewiesen werden, daß im Bundesland Niedersachsen und
insbesondere in peripheren Gebieten im Vergleich zu den meisten alten Bundesländern traditionell
wirtschaftliche Gegebenheiten bestehen, die nahezu von identischen Ausgangsbedingungen geprägt
sind.
„Dazu gehört das traditionell hohe Gewicht der Land- und Forstwirtschaft, sowie der Fischerei
einschließlich der ihr nachgeordneten Nahrungsmittelindustrie, die relativ starke Präsenz von
Wirtschaftszweigen, die zu den Verlierern im Strukturwandel zählen, die hohe
Konjunkturempfindlichkeit der Wirtschaft, die niedrige Arbeits- und Kapitalproduktivität sowie die
geringere Forschungs- und Entwicklungsintensität in der Industrie , die unzureichende
Investitionstätigkeit der Unternehmen bis weit in die 80er Jahre hinein und die schwache
Finanzkraft der öffentlichen Hände (Land und Kommunen).“ 33
Obwohl diese Strukturschwächen in Niedersachsen in den letzten Jahren reduziert werden konnten,
sind sie nicht überwunden und global gesehen sind diese aufgelisteten Negativindikatoren
außerhalb von Verdichtungszentren sowohl vielerorts in ganz Niedersachsen als auch im Landkreis
Helmstedt vorhanden.
3.1.5.1 Sachgüterproduktion und Dienstleistungsbereiche im Detail
Im folgenden soll auf Basis der analysierten Informationshintergründe, eine Vertiefung und
Bewertung erfolgen, in der Abweichungen und Besonderheiten des wirtschaftlichen
Entwicklungsprozesses im Landkreis aufgelistet und aktuelle Problemfelder skizziert werden
können.
Das bundesrepublikanische Wirtschaftsgefüge ist unter zunehmenden Preiswettbewerb geraten. Die
politische Öffnung Ost- und Südeuropas beschleunigt diesen radikalen Prozeß der
Produktionsverlagerung nicht mehr konkurrenzfähiger heimischer Produkte. Dies geschieht auch im
Landkreis Helmstedt, wo das Zerbrechen alter Produktionsstrukturen durch die momentane
Rezession beschleunigt wird, die das dünne Fundament der regionalen wirtschaftlichen
Entwicklung weiter auseinanderbrechen läßt. Zu den Verlierern dieses rasanten Strukturwandels
zählen in erster Linie Hersteller einfacher Konsum- und Investitionsgüter:
Die seit 1989 in Helmstedt ansässige Firma Reika-Technik GmbH z. B. produzierte als
Subunternehmen (Zulieferer für die Zulieferindustrie) für die Kabelmetallwerke in Rheinshagen
Kunststoffkomponenten für die Auto- und Elektroindustrie. 1990 wurden etwa 180
Mitarbeiter/innen beschäftigt. Nach dem Personalabbau in mehreren Schüben, 1991 und 1992, sind
bis zum gestellten Konkursantrag noch ca. 98 beschäftigt gewesen.
„Die IG-Metall vermutet, daß die Produktion in Billiglohnländer nach Osteuropa verlagert
wurde.“34
Davon betroffen sind vorwiegend ältere Mitarbeiter/innen bei einem hohen Frauenanteil, die angesichts fehlender Vermittlungsaussichten eine düstere soziale Perspektive vor sich haben.35
Die Samtgemeinde Nord-Elm konnte sich der Rezessionsauswirkung auf die Automobilindustrie
ebenfalls nicht entziehen. Die negativste Variante einer ganzen Werksschließung der Frellstedter
Firma Naue KG zeichnete sich im Dezember 1992 ab. Der Automobilzulieferer zum US-Konzern
33
34
35
Raumordnungsbericht Niedersachsen 1992. Hannover 1993. Seite 20.
Braunschweiger Zeitung, Helmstedter Ausgabe, 27.04.1993.
Siehe: Braunschweiger Zeitung, Helmstedter Ausgabe, 29.04.1993.
Kommentar [P8-01]: Seite: 45
Anmerkung: Die in Frellstedt ansässige
Firma "Naue" KG" mit 206 Beschäftigte,
die ebenfalls von einem Konkursantrag
betroffen wurde, ist bereits im Abschnitt .....
erwähnt worden.
- 53 -
„Johnson Control“ gehörend, verlagerte die Fertigung von Frellstedt nach Großbritannien und
Slowenien. 36
Der Aufforderung von Belegschaft, Politikern und Verwaltung an die Geschäftsleitung der Firma
Naue, über Alternativen zur Betriebsschließung zu verhandeln, blieben ergebnislos.37 Eine zu dieser
Thematik einberufenen Sondersitzung des Wirtschaftsausschusses mit der Zielvorstellung, den
„Abbau des Firmenstandortes mit allen zur Verfügung stehenden Kräften zu verhindern“, konnte
die Schließung nicht verhindern.38 Am 05.11.1992 wurde der Betriebsrat von der Geschäftsleitung
verspätet informiert, daß die Stillegung des Werkes bevorstehe und damit 125 Arbeitnehmer/innen
ihren Arbeitsplatz verlieren.39
In der erwähnten außerordentlichen Wirtschaftsausschußsitzung wurde u.a. betont, daß es auch um
die gesamte wirtschaftliche Situation im Landkreis Helmstedt gehe, in der die Firma Naue nicht der
einzige Volkswagen-Zulieferer sei, bei dem es ernste Probleme gebe.40)
Auch die Traditionsfirma „Helmstedter Spinnerei GmbH“ mit ca. 249 Beschäftigten, zuletzt im
Besitz der französischen Firma Phildar, meldete im Januar 1993 Konkurs an. Die Schließung der
Firma ist mit der stark rückläufigen Nachfrage nach Handstrickgarn, dem alleinigen Produkt des
Betriebes, begründet worden.41 Die Entscheidung über die Betriebsschließung kam für
Geschäftsführung und Mitarbeiter gleichermaßen unerwartet. Der Maschinenpark ist auf einem
technologisch hohen Stand unter voller Kapazitätsauslastung im Schichtsystem gefahren worden.42
Vor allem Frauenarbeitsplätze sind von der Betriebsstillegung betroffen.
Anhand der Firmenzusammenbrüche wird nochmals ersichtlich, daß Standorte der ländlichen und
peripheren Räume in der Branchenstruktur vorwiegend mit Fertigungsfunktionen belegt sind. Trotz
zum Teil erheblicher Subventionen geraten diese Firmen unter ganz besonderen Rationalisierungsund schließlich Verlagerungsdruck, insbesondere, wenn es sich um einfachere und standardisierte
Tätigkeiten handelt, die mit wenig qualifizierten Mitarbeiter/innen gefahren werden.
Diese im sekundären Sektor der Sachgüterproduktion feststellbaren Schrumpfungsprozesse
verliefen nicht immer spektakulär: In den Firmen Naue KG, Reika Technik GmbH und Helmstedter
Spinnerei
GmbH
vollzogen
sich
entsprechend
des
Kostendruckes
identische
Beschäftigungsreduzierungsmaßnahmen. Die Schließungsrate an Arbeitsplätzen war am Ende der
vollzogenen Konkurse nicht mehr so hoch, weil ein großer Anteil dieser Arbeitsplätze schon in den
Vorjahren im Schrumpfungsprozeß verlorengingen.
Die eingetretenen Konkurse verdeutlichen auch, daß eine Vielzahl ansässiger Unternehmen im
Landkreis als „Konjunkturpuffer“ und „verlängerte Werkbänke“ fungieren, die bei anhaltender
konjunktureller Talfahrt in starke Bedrängnis geraten.
„Auf der kommunalen Ebene schlagen sich diese Entwicklungen in unterschiedlichen
Schrumpfungs- und Wachstumsprozessen und unsicheren zukünftigen Entwicklungsaussichten
nieder. Bestehende Produktionsstandorte sind gefährdet, Anforderungen an Standorte und Flächen
verändern sich. Die Gemeinden finden sich dabei in der Regel in der Rolle des Opfers, ihre
Möglichkeiten zur aktiven Einflußnahme - soweit überhaupt vorhanden - sind sehr begrenzt.“43
Aus dem Anteil der Betriebe und sozialversicherungspflichtig Beschäftigten nach
Wirtschaftsabteilungen geht außerdem hervor, daß die Investitionsgüterproduktion im
verarbeitenden Gewerbe fast ausschließlich reinen Fertigungsfunktionen entspricht. Vor allem ist
die ansonsten tendenziell zunehmende Tertiarisierung innerhalb des sekundären Sektors kaum
36
Siehe: Braunschweiger Zeitung, Helmstedter Ausgabe, 06.11.1992.
Siehe: dto. 14.11.1992.
38 Siehe: Helmstedter Blitz, 09.12.1992.
39 Siehe: Helmstedter Blitz, 18.11.1992.
40 Braunschweiger Zeitung, Helmstedter Ausgabe, 28.11.1992.
41 Siehe: Braunschweiger Zeitung, Helmstedter Ausgabe, 17.02.1993.
42 Siehe: Braunschweiger Zeitung, Helmstedter Ausgabe, 21.01.1993.
43 Kahnert, R. Rahmenbedingungen kommunaler Gewerbepolitik. In: Informationen zur Raumentwicklung,
Seite 277.
37
5/88.
- 54 -
vertreten und die an sich qualitativeren Dienstleistungsfunktionen im tertiären Sektor des Landkreis
(ohne Berücksichtigung von gesellschaftsbezogenen Dienstleistungen) sind stark unterrepräsentiert.
Das Konsumgüter- und Nahrungs- und Genußmittelgewerbe konnten sich nicht zuletzt durch die
Öffnung der innerdeutschen Grenze stabilisieren und in dieser zeitlich befristeten
Wachstumsdynamik der Einheitskonjunktur bis zum Rezessionsausbruch positiv entwickeln. Die
übrigen Wirtschaftszweige im produzierenden Gewerbe konnten mit dem Konsumgüter-, Nahrungsund Genußmittelsektor nicht mithalten und mußten systematisch abbauen. Trotz des tendenziellen
Rückganges im produzierenden Gewerbe ist dieser mit zur Zeit annähernd 10.000
sozialversicherungs-pflichtigen Beschäftigten noch relativ stark vertreten.
Die Industriestruktur ist fast ausschließlich von Produktionsbetrieben geprägt, die einfache und
standardisierte Produkte ohne hochwertige Produktionsdienste anbieten und so als typische
Zulieferer auftreten.
Im sekundären Sektor der Sachgüterproduktion führt mit abnehmender Tendenz im
Beschäftigungsniveau der Braunkohlentagebau, danach folgen in der Gesamtanzahl der
Beschäftigten die Ernährungsindustrie, das Bauhauptgewerbe, die Kunststoffverarbeitung, der
Straßenfahrzeugbau (inkl. Reparaturen), das Ausbaugewerbe, der Maschinenbau, die Holzverarbeitung, Energie und Wasser, Textil, Steine/Erden und an letzter Stelle der Kalibergbau.
Die Standortkonzentration des produzierenden Gewerbes beträgt in Büddenstedt 28%, gefolgt von
Helmstedt mit 25%, Königslutter mit 13 % und Schöningen mit 11%.
Die Anzahl von Betrieben im technologieorientierten Bereich ist äußerst gering. Der
unterdurchschnittliche technologische Standard der produzierten Produkte läßt mehrheitlich nur
eine vom Umsatzvolumen geringfügige binnenwirtschaftliche Orientierung oder die
Teilezulieferung vom Zweig- zum Hauptwerk außerhalb der Kreisgrenze zu.
Die bestehende, schwach ausgeprägte Branchenstruktur erzeugt keinen „Synergieeffekt“, d.h., daß
Verflechtungen zwischen den Betrieben kaum bestehen. Realistisch gesehen, ist weder eine
Innovationsdynamik noch ein Veränderungspotential für zukünftig günstige ökonomische
Entwicklungen aus dem bestehenden Bestand heraus abzuleiten.
Die erforderliche „Modernität“ der industriellen Struktur ist nicht ausgeprägt. Der allgemein hohe
Bestand von überwiegend niedriger Produktivität und fehlender Modernität innerhalb der
Sachgüterproduktion ist mit der Tendenz eines strukturellen Gefährdungspotentials klassischer
Produktionsbereiche verbunden. Das verarbeitende Gewerbe weist einen niedrigen Anteil von
Arbeitskräften im technischen Bereich und in der Verwaltung auf, bei gleichzeitig höherem Anteil
von Beschäftigten im jeweiligen Fertigungsbereich derselben Betriebe.
Das bundesdurchschnittliche Branchenniveau von ca. 21% höherqualifizierten Beschäftigten wird
im Landkreis (ausgenommen BKB AG und öffentlicher Dienst) mit unter 10% deutlich
unterschritten.
Die Auslagerungen von Konstruktionstätigkeiten und der zentralen Verwaltung im gewerblichen
Bereich aus den hier angesiedelten Zweigwerken sind als Ursache für diesen „Ausdünnungsprozeß“
höherwertiger Tätigkeiten aus dem Landkreis anzusehen.
Die heimische Wirtschaftsstruktur bietet in der Tendenz ein unterdurchschnittliches
Arbeitskräfteangebot von zumeist un- und angelernten Tätigkeiten. Wenig berufliche
Spitzenqualifizierung wird von der ansässigen Wirtschaft abgefordert.
Außer der BKB AG überwiegt in Folge dessen der Leichtlohnbereich mit relativ sinkender Tendenz
zu anderen Landkreisen. Die durchschnittliche Lohn- und Gehaltssumme je Industriebeschäftigten
im produzierenden Gewerbe liegt in Folge dessen mit einem monatlichen
Durchschnittsbruttoverdienst (Stand: 30.06.1989) von 3.611,00 DM im Vergleich zum Landkreis
Gifhorn 4.625,00 DM, Landkreis Peine 3.558,00 DM Landkreis Wolfenbüttel 3.862,00 DM, Stadt
Wolfsburg 4.625,00 DM regional am zweitniedrigsten. Die alten Bundesländer kommen hierbei
insgesamt auf einen Durchschnittwert von 4.213,00 DM, während die Bundesländer Bayern mit
- 55 -
3.902,00 DM und Baden-Württemberg mit 4.598,00 DM die höchsten Länderdurchschnittswerte
einnehmen.44
In der Gesamtsumme des Landkreises Helmstedt ist die überdurchschnittliche Lohn- und
Gehaltssumme der BKB AG enthalten, ohne die der bereits niedrige Durchschnittswert extrem nach
unten sinken würde. Aus diesem Zusammenhang ist bereits ersichtlich, daß das durchschnittliche
Lohn- und Gehaltsniveau einen engen Zusammenhang mit der Produktivität besitzt und darauf
verwiesen wird, daß der Landkreis eine negative Arbeitsplatzdisparität aufweist.
Im Nahrungs- und Genußmittelgewerbe fällt die im Ortsteil Mariental der Samtgemeinde Grasleben
ansässige Meisterbäckerei Steinecke mit ca. 614 Beschäftigten positiv auf, die eine überregionale
Verflechtung aufweist. Aus arbeitsmarktpolitischer Sichtweise trägt dieser Bestand von größtenteils
Frauenarbeitsplätzen mit dazu bei, Erwerbstätigkeiten für diese Zielgruppe anzubieten.
Die Zigarrenfabrik Arnold André aus Königslutter mit ca. 230 zumeist Arbeitnehmerinnen stellt als
Traditionsunternehmen Zigarren und Zigarillos her. Das Unternehmen operiert in seinem
spezifischen Marktsegment überregional erfolgreich und Standorterweiterungspläne mit einer
Erhöhung der Beschäftigungsanzahl erscheint für die zukünftige Geschäftsentwicklung nicht
ausgeschlossen zu sein.
Die am 30.06.1989 überdurchschnittliche Quote von 12.9% beim Anteil der sozialversicherungspflichtigen Teilzeitarbeit gegenüber dem Bundeswert (alte Bundesländer) von 8,5% und
Niedersachsen von 9,8% (siehe Ziffer 9 der Tabelle III. 4) in der Arbeitsplatzstruktur kann
unterschiedlich interpretiert werden:
Einerseits ist die Teilzeitarbeit mit einem hohen Frauenanteil als Indikator für moderne
Strukturbedingungen und Flexibilität anzusehen, das die Vereinbarkeit von Familien- und
Erwerbsarbeit ermöglicht. Andererseits als Indikator eines lokalen unterdurchschnittlichen Lohnund Gehaltsniveaus, wo Doppelarbeit aus existentiellen Gründen erforderlich wird, um die relativ
hohen Lebenshaltungskosten (insbesondere bei Einzelverdienern) zu finanzieren.
Der zuletzt genannte Indikator kann unter Bezugnahme der monatlichen Lohn- und Gehaltssumme
je Indurstriebeschäftigten im produzierenden Gewerbe (Betriebe mit mehr als 20 Beschäftigte) und
der Entwicklung der monatlichen Lohn- und Gehaltssumme von 1985 bis 1989 im Vergleich
aufgrund der Ziffer 11 aus der Tabelle III. 4 angenommen werden.
Es kann vermutet werden, daß im Nahrungs- und Genußmittelwirtschaftszweig geringere
Lohnkosten und im Durchschnitt weitaus höhere Frauen- und Teilzeitbeschäftigungsanteile
anzutreffen sind als beispielsweise in der metallverarbeitenden Industrie.
Andererseits belegt das im Dienstleistungsbereich eingegliederte Bank- und Versicherungsgewerbe
ein hohes Niveau an Gehaltskosten, mit einem hohen oder zumindest durchschnittlichen Ausmaß an
Frauen- und Teilzeitbeschäftigung.
Bezüglich des Frauenbeschäftigungsanteils in den Wirtschaftszweigen kann insgesamt davon
ausgegangen werden, daß geradezu Unternehmen in den obersten Größenklassen durchschnittlich
hohe Frauenanteile mit niedrigen Lohnkosten beschäftigten.
Von einer qualitativen Beschäftigungsentwicklung ist der Landkreis (bisher) weitgehend
abgekoppelt. Altindustrielle Außenstände als verlängerte Werkbänke und Konjunkturpuffer haben
sich teilweise als Zweigwerke im Landkreis angesiedelt, um auf unterdurchschnittlichem
Produktionsniveau industrietechnische Fertigungsprodukte von Teilefertigungen vorzuproduzieren.
Zu den erwarteten weiteren Rationalisierungsmaßnahmen kommt die latente Tendenz zur
Auslagerung weiterer Fertigungsbereiche und ganzer Unternehmen hinzu. Die Öffnung in
Osteuropa hat zudem die Konkurrenz in den Wirtschaftssektoren des Landkreises, insbesondere bei
Textil- und Bekleidung und der Automobilzulieferindustrie, extrem verschärft.
44 Siehe: Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung. Materialien zur Raumentwicklung,
47. Bonn 1992. Seite 156 ff.
Heft
- 56 -
Die sich überwiegend in Privatbesitz befindlichen Allerthal-Werke aus Grasleben, die technische
Gummiwaren herstellen, verzeichneten bis zum Konjunktureinbruch September 1992 eine
befriedigende Auslastung der Produktion. Im letzten Quartal sank dann der Auftragseingang
deutlich und das Unternehmen hat Preiserhöhungen nicht entsprechend den Kostensteigerungen
durchsetzen können. Die Umsatzrückgänge werden zu einer Anpassung der Belegschaft führen.45
Die ebenfalls im Privatbesitz und in überregionaler Verflechtungen erfolgreich operierende
Seifenmaschinenanlagenfabrik "Weber und Seeländer" aus Helmstedt konnte unlängst ihr 100
jähriges Jubiläum feiern. Der Umsatz betrug 1992 mit ca. 100 Mitarbeitern rund 25 Millionen DM.
46
Dieses expandierende Unternehmen als Ausnahmebeispiel produziert pro Jahr vier bis fünf
komplette Seifenfabriken für weltweite Abnehmer. Eine Hochleistungspresse am Ende einer
„Seifenstraße“ kann bis zu 25000 Stück Seife in einer Stunde produzieren. 1992 konnten
zusätzliche Großaufträge, unter anderem aus der Ukraine, den Jahresumsatz nochmals deutlich nach
oben drücken.
In der Nahrungsmittelindustrie war im Landkreis Helmstedt die Sparte der Zuckerindustrie stark
vertreten: Zu nennen wären hier die Norddeutsche Zuckerrafinerie in Frellstedt, sowie die
Zuckerfabriken in Groß Twülpstedt, Königslutter und Söllingen. 47
Bis jetzt übriggeblieben sind nur zwei Standorte: Königslutter und Frellstedt.
Die Zucker AG Uelzen-Braunschweig, nach eigenen Angaben viertgrößter deutscher Zuckererzeuger,48 übernahm die Zuckerfabrik Königslutter-Twülpstedt AG. Die international schwierige
Absatzsituation wird den Strukturwandel in der deutschen Zuckerindustrie weiter beeinflussen.49
Von den neun Werken in Westdeutschland, die sich im Besitz der Zucker AG UelzenBraunschweig befinden, dürften noch zwei bis drei geschlossen werden.50 Aber auch eine Fusion
mit dem Zuckerverbund Nord AG ist mittelfristig nicht ausgeschlossen.51 Im Gegensatz zur
Situation in den anderen landwirtschaftlichen Produktionsbereichen ist der Zuckerrübenanbau für
die Landwirtschaft die letzte sichere Ertragsbasis, obwohl auch in diesem Sektor langfristig über die
EU-Agrarpolitik Eingriffe zu befürchten sind.
Der Investionsaufwand der Zucker AG Uelzen-Braunschweig von rund 300 Millionen DM für die
Zuckerfabrik Güstrow in Sachen-Anhalt52 verdeutlicht zukünftige Standortpräferenzen, die sich bei
Standortkonsolidierungen für oder gegen bestehende Werke in Westdeutschland, in der Konsequenz
auch als eine Bestandsgefährdung der im Landkreis verbliebenen Zuckerrübenfabriken in
Königslutter und Frellstedt negativ auswirken könnten.
Die Verhandlungen zu einer Fusion zwischen dem Zuckerverbund Nord AG (ZVN) in
Braunschweig und der Zucker-AG Uelzen-Braunschweig, in Uelzen, sind weit fortgeschritten.
„Eine Fusion böte außerdem die Möglichkeit, ein weiteres Werk zu schließen.“53
In der Stadt Helmstedt kommen die Dienstleistungsbereiche Landkreisverwaltung und
Kreiskrankenhaus mit jeweils 603 und 627 Beschäftigten zusammen hinter der BKB AG bereits auf
den zweiten Platz in der Gesamtbeschäftigungsstatistik.
45
46
47
48
49
50
51
52
53
Siehe: Handelsblatt, 23.06.1993.
Siehe: Braunschweiger Zeitung, Helmstedter Ausgabe, 12.08.1993.
Siehe auch: Mund, K. Der Landkreis Helmstedt als Grenzgebiet ..., Ebenda, Seite 114.
Siehe: Handelsblatt, 17.09.1992.
Siehe: Handelsblatt, 09.10.1992.
Siehe: Handelsblatt, 07.07.1992.
Siehe: Das Landvolk. 01.10.1992.
Siehe: Das Landvolk. 01,10.1992.
Siehe: Handelsblatt. 07.07.1993.
- 57 -
Hervorzuheben für Helmstedt ist ferner das Arbeitsamt Helmstedt mit 224 Beschäftigten im
Hauptamt des Arbeitsamtsbezirkes Helmstedt, zu dem auch die Dienststellen Gifhorn und
Wolfsburg zählen, und in Königslutter das Landeskrankenhaus mit 670 Beschäftigten.
Im Dienstleistungssektor stellt einen weiteren relativ ausgeprägten Bereich das Gast- und
Beherbungsgewerbe dar.
Die Expansionsmöglichkeiten von haushaltsorientierten Dienstleistungen und öffentlichen
Einrichtungen werden sich, bedingt durch die Engpässe der kommunalen Haushalte, kaum
weiterentwickeln.
Für die Gesamtentwicklung der Wirtschaftsstruktur kann aus diesem Grund dem Fremdenverkehr
nur eine Ergänzungsstrategie zugesprochen werden, in der es um die Fragestellung gehen könnte,
welche zielgruppenorientierte Fremdenverkehrsvermarktung anvisiert werden sollte.
Insgesamt stellt sich auch die Frage, inwieweit eine erfolgreiche Bestandspflege ansässiger
Unternehmen aussehen könnte, die aufgrund ihres allgemeinen niedrigen technologischen
Entwicklungsstandes überwiegend als Zweigwerke vor Ort operieren und durch die momentane
Rezession akut gefährdet sind, (im Hauptamt Helmstedt waren im Januar 1994 10 Betriebe von
Kurzarbeit betroffen).
In wachsenden Wirtschaftssektoren (z.B. Chemie, Straßenfahrzeugbau, Textil- und Baugewerbe)
wächst die Tendenz, daß diverse Unternehmen mit der wirtschaftlichen Entwicklung
(Strukturwandel) nicht Schritt halten können.
Wie können diese Unternehmen die Rezession und den beschleunigten Strukturwandel überstehen?
Erhaltungssubventionen wären aufgrund der geringen Branchendichte zwar eine Ausnahmeerscheinung, aber gegebenenfalls vor Ort zu prüfen!
Es kommt hinzu, daß in einigen Fällen eine Substanzerhaltung und Revitalisierung
volkswirtschaftlich kaum sinnvoll erscheint.
Es besteht die Gefahr, daß in einigen technologieorientierten Unternehmen der Innovations- und
Qualitätsvorsprung nicht mehr ausreichen könnte, um anstehende Herausforderungen zukünftig zu
meistern.
Dringend erforderliche Arbeitsplätze, die aus Betriebsneugründungen hervorgehen sollten, steht
zunächst einmal die Befürchtung gegenüber, daß weitere Betriebe schrumpfen oder vielleicht
gänzlich schließen.
Die beschleunigte Intensität des ökonomischen Strukturwandels hat den Landkreis Helmstedt voll
erfaßt!
3.1.5.2 Automobilzulieferverflechtungen
Nachdem die beiden Zulieferer Reika Technik GmbH und Naue KG dem Strukturwandel in der
Automobilindustrie zum Opfer fielen (siehe Kapitel 3.1.5.1), zählen zur Investitionsgüterproduktion
im Wirtschaftszweig Kunststoffverarbeitung die beiden Automobilzulieferer Phönix AG in
Büddenstedt mit ca. 754 Beschäftigten und die Hellac GmbH in Helmstedt mit ca. 113
Beschäftigten.
Das Zweigwerk Reinsdorf der in Hamburg ansässigen Phönix AG ist zweitgrößtes Unternehmen im
produzierenden Gewerbe und zugleich zweitgrößte Firma an sozialversicherungspflichtig
Beschäftigten außerhalb des Dienstleistungsbereiches im Landkreis Helmstedt. Zur
Produktionspalette gehören Kunststoffteile aus Polyurethan (PU) und Spritzguß auf EPPFertigungstechnologie. Das letztere sind energieabsorbierende Schäume, die in den Pkws
hauptsächlich für Seitenaufprallschutz und in den Spoilern verwendet werden. Die PVC Stoßstangen werden inklusive Lackierung für die Automobilindustrie produziert.
- 58 -
Kapitalintensive Maschinenanlageninvestitionen wie die vollautomatische Spritzgießfertigung,
Spritzgußmaschinen verschiedener Größen, elektronisch geregelte Schaummaschinen und die
Beflämmroboterfertigung, stehen für technologisches Know-how.
Die Kunststoffeinzelkomponenten werden bereits in Modulbauweise/Komponentenfertigung
produziert und montiert. Das Phönix Zweigwerk im Reinsdorf hat sich auf diesen
Entwicklungstrend frühzeitig eingestellt und ist ein kompetenter Zulieferer für die
Automobilindustrie von anbaufertigen Kunststoffmodulen.
Im September 1992 verdichteten sich Gerüchte, wonach das Zweigwerk Reinsdorf der Firma
Phönix geschlossen werden sollte, was aufgrund einer offiziellen Stellungnahme dementiert
wurde.54
Ob dieser Bericht als strukturelle Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen oder bereits als
eine akute Bestandsgefährdung interpretiert werden muß, dazu sollen folgende
Hintergrundinformationen zur augenblicklichen Situation beitragen, um diesbezüglich Chancen,
Perspektiven und Strategien auszuloten.
Die von Kurzarbeit betroffenen Mitarbeiter/innen können die seit Ende 1992 installierte 4.000
Tonnen schwere Spritzgußmaschinenanlage, die zur Herstellung von energieabsorbierenden
Schaum für Autotüren als Aufprallschutz benötigt wird, als Standortinvestition begrüßen.55
Der Standort Helmstedt stellt trotz räumlicher Enfernungsdistanz zu den Geschäftspartnern
Mercedes-Benz, Audi, BMW, Porsche oder Volvo in Holland keinen Hinderungsgrund, um flexibel
an sie zu liefern. Der "Just-in-time" Abruf kann innerhalb 22 Stunden erfolgen.
Die Struktur der erwähnten Abnehmerkette innerhalb der Automobilbranche ist diversifiziert, so
das die Auftrags- und Kostenkalkulation etwas flexibler gestaltet werden kann. Die Spannbreite des
Auftragsbestandes verläuft (Stand 12/93) von 2% bei VW bis 45% bei Mercedes-Benz.
Trotzdem ist der Einkaufsdruck der konzentrierten Automobilkonzere auch auf den Zulieferer in
Reinsdorf hoch. Der Automobilzulieferer konnte an den Preissteigerungen der Automobilhersteller
ebenfalls nicht partizipieren und sieht sich teilweise gezwungen, diverse Aufträge mit
betriebswirtschaftlicher Negativkalkulation anzunehmen, um im Markt zu bleiben.
Die überproportional hohe Lagerhaltung in Reinsdorf an fertigen und abrufbereiten Stoßstangen
verdeutlicht die Just-in-time Praxis der Monopolabnehmer bezüglich dem Abwälzen von
Lagerhaltungskosten.56
Eine in Erwägung gezogene Produktdiversifikation außerhalb der Automobilbranche erscheint
unrentabel, weil erst ein zu erzielender Mengeneinsatz Rendite verschafft.
Die „Entschlackung“ der Produktionsstukturen erscheint in Reinsdorf bereits bis zur
Maximumgrenze ausgeschöpft zu sein. Die verbliebenen 720 Beschäftigten (Stand: 11/93) arbeiten
im Dreischichtsystem, größtenteils auf Akkord- und Prämienbasis. Eine Qualifizierungsoffensive
der zumeist nur angelernten Arbeitstätigkeiten ergibt sich nach Einschätzung der Werksleitung
aufgrund der Anforderungsmerkmale in den Verarbeitungstätigkeiten nicht. Die Ankündigung der
Phönix AG für 1994 in ihrem Reinsdorfer Zweigwerk keine Auszubildenden mehr aufzunehmen,
kann zumindest theoretisch als allmähliche Standortauslagerungstendenz interpretiert werden.
Auszubildende nicht zu übernehmen und zukünftig nicht mehr auszubilden, heißt, auf Potentiale zu
verzichten.
Personalanpassungen an veränderte Auftragslagen wurden bisher nicht über betriebsbedingte
Kündigungen, sondern über das Nichtersetzen der Fluktuationsrate, der Nichtverlängerung von
Zeitarbeitsverträgen und der Kurzarbeit erreicht.
54
Siehe: Braunschweiger Zeitung, Helmstedter Ausgabe, 01.09.1992.
Dto.
56 Anmerkung: Das Kapitel III. .2.10 "lean production - Anspruch und Wirklichkeit", verdeutlicht die
der Kostenabwälzung der Automobilindustrie auf die Zulieferer.
55
Problematik
- 59 -
Die Ankündigung der Geschäftsleitung der Phönix AG, trotz starkem Umsatzrückgang und hoher
Verluste für 1993 auf Konzernebene ein ausgeglichenes Ergebnis anzustreben, deuten an, daß
sozialverträgliche Lösungen einvernehmlich mit dem Betriebsrat zu erzielen, weitaus schwieriger
werden. 57
„Der Hersteller ist von der katastrophalen Entwicklung in der Automobilindustrie weiterhin stark
betroffen. Das Unternehmen (Phönix AG) verzeichnete (bundesweit) in den ersten fünf Monaten
des laufenden Geschäftsjahres gegenüber dem gleichen Vorjahreszeitraum einen Umsatzrückgang
von 23%.“ 58
Die Befürchtungen, so äußerte Betriebsratsvorsitzender U. Schräder, betreffen für Reinsdorf die
Jahre 1994/1995, welches für die heutige Marktsituation jedoch nicht ungewöhnlich ist.59
Problematisch war, das Anschlußaufträge für demnächst auslaufende Arbeit auch Ende 1993 noch
nicht vorlagen:
„In den vergangenen vier Jahren konnte aufgrund permanenter Rationalisierungen ein positives
Betriebsergebnis erwirtschaftet werden (...). Sollte 1994 für die beendeten Aufträge nichts folgen,
dann müsse man sich von Leuten trennen.“ 60
Ab April 1994 werden 170 betriebsbedingte Kündigungen wirksam, weil erhoffte Anschlußaufträge
von BMW, Daimler-Benz und Porsche ausgeblieben sind. Erst ab 1996 würden neue Aufträge
vorliegen.61
Absichtserklärungen von Werksleitung und Politikern, auf Aufträge von VW aus Wolfsburg zu
spekulieren, ist aufgrund des Umstrukturierungsprozesses in der VW AG (der die gesamte
industrielle Infrastruktur aller Teilehersteller in der Bundesrepublik existentiell gefährdet), als nicht
erfolgversprechend zu bewerten. 62
Die unverklausulierte Absichtserklärung vom VW Vorstandsvorsitzenden F. Piëch, die bisherige
Anzahl von 1.500 Zulieferer für VW auf 100 zu reduzieren, zeigt die Strategie einer ökonomischen
Konsolidierung hauptsächlich auf Kosten der Automobilzulieferer deutlich auf. Insbesondere die
Kunststoffherstellerbetriebe geraten als Automobilzulieferer in der jetzigen Zeitphase unter
besonders starken Preisdruck der Automobilproduzenten. 63
Die Tendenz bei der Phönix AG ist dahingehend, daß Produktlinien, die aufgrund des
Kostendruckes eine Rentabilitätsgefährdung verursachen, ins europäische Ausland verlagert
werden. Einige Produktgruppen für die Automobilindustrie werden demnächst in der CSFR und in
der Türkei gefertigt.64
Die Internationalisierung des Einkaufs der Automobilkonzerne wird den Standort Reinsdorf
vermutlich weiter schwächen und es ist davon auszugehen, daß nachhaltige Kostenvorteile oder
bewußte Dumpingpreise europäischer Zulieferkonkurrenten im gleichen Marktsegment zu
erheblichen Verlusten führen können.
Die spezifischen Probleme des Zweigwerkes Phönix in Reinsdorf sind in einem engen
Zusammenhang mit der sich verschärfenden Konkurrenzsituation auf dem nationalen und
internationalen Zuliefermarkt zu sehen. Einiges deutet darauf hin, daß sich die Konkurrenzsituation
des überregional operierenden Zweigwerkes (insbesondere nach Süddeutschland) durch den
Standort im Landkreis Helmstedt verschlechterte, was auf eine nachlassende Wettbewerbsfähigkeit
57
58
59
60
61
62
63
64
Siehe: Handelsblatt, 18./19.06.1993.
Handelsblatt, 18./19.06.1993.
Siehe: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 28.05.1993.
Werksleiter H. Lehmann. In: Braunschweiger Zeitung, Helmstedter Ausgabe 15.12.1993.
Siehe: Helmstedter Blitz, 26.01.1994.
Siehe: Braunschweiger Zeitung, Helmstedter Ausgabe, 15.12.1993.
Siehe: Die Welt, 09.07.1993 und Braunschweiger Zeitung, 10.07.1993.
Siehe: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.11.1992 und Handelsblatt, 23.11.1992.
- 60 -
hinweist. Die doch kritische Zukunftsbeurteilung reflektiert letztendlich die ungünstige
Standortbeurteilung. Diese Aspekte lassen insgesamt vermuten, daß dieses Produktionswerk auch
zukünftig mit überdurchschnittlichen Entwicklungsproblemen zu rechnen hat.
Auch dieses zweitgrößte Unternehmen im verarbeitenden Gewerbe weist zur übrigen
Landkreiswirtschaft geringe Verflechtungsbeziehungen auf.
Die Verlagerung der Automobilstrukturprobleme auf die Zulieferer, wobei die Automobilkonzerne
ihre „Marktmacht eindeutig zu unverhältnismäßigem Druck auf ihre Lieferanten mißbrauchen,“65
läßt in der Konsequenz die Annahme weiteren Personalabbaues im Zweigwerk Reinsdorf der
Phönix AG, sowie einer anscheinend nicht unkritischen Ertragssituation der Firma Hellac GmbH
zu, weil diese nicht den Status eines Komponentenfertigers einnimmt, und fast ausschließlich für
die VW AG produziert.
Dem Zweigwerk der Phönix AG scheint nur wirkungsvoll geholfen, wenn neben der problematisch
gewordenen Kunststoffsparte ein zweites Komponentenfertigungsstandbein (im Idealzustand
unabhängig von der Automobilbranche) in Reinsdorf aufgebaut werden könnte.
Voraussetzungen hierfür wären unter anderem aber auch die einvernehmliche Zustimmung der
Konzernmutter, sowie die Anhebung des vermuteten geringen Qualifikationsniveaus der
vorwiegend un- und angelernten Mitarbeiter/innen.
Die Helmstedter Firmen Siebenaller (Abnehmer VW AG) und in einem ebenfalls geringeren
Mengenvolumen die Firma Lieder GmbH, Maschinenbauerzeugnisse mit 28 Mitarbeiter/innen, sind
weitere Automobilzulieferbetriebe. Die Firma Lieder erreichte eine erfolgreiche Anpassung an
veränderte Abnehmerbedingungen: Vom Automobilabnehmer Mercedes-Benz konnte eine
rechtzeitige Umstrukturierung zum neuen Vertragspartner AEG in der Sparte Haushaltsgeräte
aufgebaut werden.
Sekundäre
Verflechtungsbeziehungen
zur
Automobilindustrie
ergeben
sich
im
Dienstleisungsbereich: Zu nennen ist hierbei der Hotel-Park Königshof in Königslutter, wo u.a.
auch VW-Lehrgänge und Konferenzen abgehalten werden, sowie das im Besitz der VW AG
befindliche Haus Rhode, im Ortsteil Rhode, der Stadt Königslutter.
3.1.5.3 Die BKB AG und das Braunkohlerestaufkommen
Neben der einfachen Investitionsgüterindustrie sind ebenfalls die energie- und rohstoffintensive
Produktion, sowie umweltbelastende Produktionszweige die Verlierer des beschleunigten
Strukturwandels. Für das regionale Monopolunternehmen BKB AG ist hierbei anmerkenswert, daß
die Grenzöffnung den Braunkohlevorrat der Eignerin Preussen-Elektra deutlich erhöhte und daß das
Überangebot an der ökologisch bedenklichen und wirtschaftlich unter starker Konkurrenz zu
anderen Energieträgern stehenden Braunkohle etwaige Erweiterungspläne in Richtung Emmerstedt
unwahrscheinlich macht. Außerdem besteht die Gefahr, daß Energieanbieter aus Osteuropa mit
nicht vorhandenen Umweltauflagen und Dumpingpreisen in der Preisangebotsstruktur das BKBBraunkohlerestaufkommen (inklusive der Vorräte unter Emmerstedt) gänzlich aus den Markt
werfen können.
Die Preussen-Elektra AG (zur Energieunternehmensgruppe VEBA gehörend), besitzt eine 99,9
Prozent Mehrheitsbeteiligung an der BKB AG in Helmstedt.66
Die VEBA investierte nach eigenen Angaben im ersten Quartal 1993 912 Millionen DM. Den
Schwerpunkt dieser Investitionen im Strombereich bildeten die Vorhaben zum Bau von
Braunkohlekraftwerken in Schkopau und Kirchmöser in den neuen Bundesländern.67
65
66
67
Handelsblatt, 15.04.1993, Seite 15.
Siehe: Preussen-Elektra Unternehmensprofil S. 30, Herausgeber Preussen Elektra Aktiengesellschaft
Treschowstraße 5, 3000 Hannover 91.
Siehe: Hannoversche Allgemeine Zeitung 28.05.1993.
- 61 -
Diesbezüglich sind mittelfristig folgende Entwicklungsprognosen denkbar:
- Ein überregionales Energieüberangebot und die Möglichkeiten von weiträumigen
Energievernetzungen machen letztendlich die verbliebenen Tagebaukapazitäten der BKB AG
überflüssig.
- Der Landkreis Helmstedt hätte auf diesen (möglichen) Entscheidungsablauf keine politischen
Einflußmöglichkeiten mehr, da das eigentliche Entscheidungsgremium
(VEBAEnergiekonzern) außerhalb des Landkreises ist und auf die im Landkreis spezifischen
Strukturproblemen keine Rücksichtnahme nehmen müßte.
- Es ist zu vermuten, daß das Management der Preußen Elektra AG in energiepolitischen
Dimensionen strategisch plant und handelt, welche das Restbraunkohleaufkommen der
BKB AG völlig unberücksichtigt läßt.
- Es ist bereits mittelfristig denkbar, daß die Eignerin Preussen Elektra AG ihr
Tochterunternehmen BKB AG aus dem Handelsregister streichen könnte und die
anvisierte
Sparte Entsorgung mit neuen Unternehmen weiter ausbaut.
In den alten Bundesländern spielt die Braunkohle mit einem Gesamtanteil von 8 Prozent nur eine
untergeordnete Rolle. Hier liegen Heizöl (43 Prozent) und Erdgas (33 Prozent) eindeutig in der
Spitzenstellung.68
Dieser Entwicklungstrend ist auch für die Zukunft prägend: Die Zahl der Beschäftigten wird in der
Energieversorgung und im Bergbau (einschließlich Tagebau), im Vergleich von 1991 zu 2010 nach
„Prognos“-Schätzungen um minus 19 Prozent, bzw. minus 62 Prozent weiter schrumpfen.69
In Anlehnung an dieses Prognos - Gutachten erstellte das niedersächsische Wirtschafts-ministerium
eine Studie, nach der der Anteil der Braunkohle um 58,4% bis zum Jahr 2005 gegenüber 1989 in
Niedersachsen weiter sinken wird.70
Zur Sicherung des Wirtschaftsstandortes Niedersachsen zählt sicherlich auch die vorrangige
Aufgabe einer umweltverträglichen, kostengünstigen und zukunftsorientierten Energiever-sorgung.
Der Energieträger Braunkohle kann unter Zugrundelegung dieser Faktoren für das Bundesland
Niedersachsen als altindustrielle Hinterlassenschaft und als umweltbelastender Produktionszweig
zum Verlierer des beschleunigten Strukturwandels eingestuft werden.
Bereits zum Jahresende 1993 wurden mit der Stillegung zweier Blöcke des Kraftwerkes in Offleben
weitere rund 400 Arbeitsplätze in der BKB AG sozialverträglich abgebaut.71
Bereits im Raumplanungsgutachten Südostniedersachsen von 1965 ist vorausschauend vom
allmählichen Erschöpfen der Braunkohlevorräte die Rede, womit sich in der „mittleren planerischen
Zukunft“ diesbezüglich die Frage des Arbeitsplatzersatzes stellt.72
Diese vorausschauende arbeitsmarktpolitische Prognose ist bezüglich ihrer Relevanz anscheinend
nicht in dem erforderlichen Maße einer Priorität berücksichtigt worden.
Die Beschäftigungsentwicklung im Bergbau und im verarbeitenden Gewerbe veränderte sich im
Landkreis Helmstedt (Vergleichsdaten Süd-Ost-Niedersachsen insgesamt in Klammern) von 1978
bis 1982 minus 7,9 Prozent (minus 2,5 Prozent), von 1982 bis 1986 minus 6,9 Prozent (minus 1,3
Prozent), 1986 bis 1989 minus 6,0 Prozent (minus 3,6 Prozent) und insgesamt von 1978 bis 1989
minus 19,4 Prozent (minus 7,2 Prozent).73
68
69
70
71
72
73
Siehe: "Globus", Nr. 1525. In: Süddeutsche Zeitung, 25.11.1993.
Siehe: Prognos-Gutachten, Basel 1992, In: Der Spiegel, Nr. 36, 06.09.1993, Seite 37.
Siehe: Niedersächsisches Ministerium für Wirtschaft, Technologie und Verkehr. Für eine kernenergiefreie
Elektrizitätsversorgung in Niedersachsen. Hannover 1993. Seite 96.
Siehe: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 08.07.1993.
Siehe: Raumplanungsgutachten. Hannover 1965, Teil IIa, Monographie, Seite 3.
Siehe: Lompe, K., Rehfeld, D. Regionale Bedeutung und Perspektiven der Automobilproduktion. Seite 92.
- 62 -
Die Endphase des für den Landkreis historischen Braunkohletagebaues wird sozialverträglich
durchgeführt, in dem ein schrumpfungsbedingter Bestand an Restarbeitsplätzen unaufhaltsam
weiter abgebaut wird.
Als Ausnahmefall innerhalb der alten Bundesländer ist das erhebliche Braunkohlevorkommen in
rheinischen Revier, das zusammen mit der Braunkohleverstromung in den neuen Bundesländern
rund 30% der öffentlichen Stromerzeugung ausmacht, anzusehen.
Unter Zugrundelegung dieser gewaltigen Kapazitäten und einer Steigerung der Wirkungsgrade
konnten zur Zeit wettbewerbsfähige Preise erreicht werden, die die Braunkohle im
wiedervereinigten Deutschland zu einem wichtigen heimischen Energieträger hochkatapultierten.74
Diese optimistische Prognose ist allerdings abhängig von der internationalen Preispolitik und von
der
Wirtschaftlichkeitskalkulation
des
Braunkohlemengenvorkommens,
welche
das
Restaufkommen unter Helmstedt hierbei völlig unberücksichtigt läßt.
Das Angebot an reichlich vorhandenen Braunkohlemeilern und Gruben ist in den neuen
Bundesländern bedeutend höher als die dortige Nachfrage: Je mehr die ostdeutsche Industrie und
damit der Strom- und Wärmebedarf schrumpfen, desto mehr sinken Umsätze und kurzfristige
Ertragsaussichten.
Außerdem werden zwei Steinkohlekraftwerke mit zusammen 3000 MW in Rostock und Stendal
gebaut, welche Konkurrenz und Absatzbremse für die dortige Braunkohleförderung bedeuten.75
Auch aus den neuen Bundesländern bekommt die Braunkohle zunehmend Konkurrenz von
alternativer Stromgewinnung: Beispielsweise wurde in Sachsen ein Windpark mit einer
Gesamtleistung von einem Megawatt in Betrieb genommen, von dem ca. 300 Haushalte einer
Gemeinde mit Strom versorgt werden. Auch die Wasserkraft erlebt eine Renaissance: Diese
Energieform hat in Sachsen mit seinen 70 Talsperren eine alte Tradition. 1929 zählte man mehr als
3500 kleine Anlagen, von denen 1989 gerade einmal 147 übriggeblieben waren. Jetzt sollen acht
stillgelegte Mühlen und Sägewerke wieder in Funktion gesetzt werden und quasi nebenbei
Elektrizität für Wohngebiete und kleine Gemeinden liefern.76
Würde diese Energie aus Braunkohlebriketts erzeugt, müßte die Atmosphäre pro Jahr 7900 Tonnen
mehr Kohlendioxid verkraften.77
Man erkennt, daß die Braunkohle auch in Ostdeutschland allmählich aber kontinuierlich, neben Öl
und Erdgas, auch durch alternative Formen Konkurrenz bekommt.
Die Möglichkeit, das Überangebot an ostdeutschen Braunkohlestrom Richtung Westen zu leiten,
wird zur Zeit noch „erfolgreich“ blockiert: „Zu teuer, zu unrentabel, technisch aufwendig und
kurzfristig nicht zu machen, wiegelt das RWE ab, das selbst Energie durch die ganze Republik
schickt. Das heiße Eisen will niemand anpacken - ginge doch bei sinkendem Stromverbrauch jede
Lieferung aus dem Osten zu Lasten heimischer Kraftwerke und Kohlengruben.“78
Die Förderung von Braunkohle sank in den neuen Bundesländern 1993 von 300 Millionen
Jahrestonnen auf fast ein Drittel, während im Abbaugebiet Rheinland die Braunkohleförderung mit
rund 100 Millionen praktisch konstant blieb.79
Im Hinblick auf die Braunkohlegruben in der Lausitz und in Sachsen (die im übrigen keine
finanzielle Förderung durch den Staat oder Stromkunden braucht), ist in Bezug auf eine
74
75
76
77
78
79
Siehe: Blick durch Wirtschaft und Umwelt, Zeitschrift für Ressourcenmanagment und strategische Planung.
März 93, Nürnberg 1993, Seite 21 ff.
Siehe: Frankfurter Rundschau, 30. 10.1993, Seite 11.
Siehe: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 09.10.1993.
Ebenda.
Frankfurter Rundschau, 30.10.1993, Seite 11.
Siehe: Frankfurter Rundschau, 30.10.1993, Seite 11.
- 63 -
gesamtdeutsche Energiepolitik grundsätzlich kein Handlungsbedarf für eine Aufschließung von
Emmerstedt abzuleiten.
Erschwerend für die Gesamtperspektive des Energieträgers Braunkohle kommt hinzu, daß die
gegenwärtige Wettbewerbsfähigkeit deutscher Braunkohlenverstromung gegenüber anderen
Stromerzeugungsalternativen durch die in der Diskussion befindliche EU-weite CO²/Ernergiesteuer
bedroht ist.
Außerdem hat die Bundesregierung 1992 beim Umweltgipfel in Rio zugesagt, den für den
Treibhauseffekt verantwortlichen CO²- Ausstoß bis zum Jahr 2005 um mindestens 25% gegenüber
dem Wert von 1987 zu senken.80
Importsteinkohle ist der Preisparameter, an dem sich die Braunkohle permanent messen lassen
muß!
Die Importsteinkohle ist im Vergleich zur Braunkohle extrem kostengünstiger. Das ungünstigere
Abraumkohleverhältnis unter Emmerstedt, sowie dessen niedrigen Wirkungsgrad würde zu
Kostensteigerungen führen, die aus betriebswirtschaftlicher Sichtweise kaum vertretbar wären.
Daß die wesentlich günstigere Importsteinkohle (gegenüber der Emmerstedter) angeblich einen
politischen Energieunsicherheitsfaktor darstellen soll („ ...die Energiegewinnung mit der
Emmerstedter Braunkohle sicherer zu kalkulieren ist, als ein Projekt, das in hohem Maße auf dem
Preis der Importsteinkohle basiert“) 81, erscheint unter nüchterner Abwägung der Faktoren kaum
nachvollziehbar.
Die strategische Vorgehensweise einiger Akteure zielt auf eine defensive Sanierungsstrategie zur
Verlängerung der Bestandserhaltung mit staatlichen Erhaltungssubventionen ab.
Die IG Bergbau und Energie setzte hierbei unter anderem ihr traditionelles Instrument einer
Regionalkonferenz mit der Zielvorstellung ein, politische Mehrheiten für die Aufschließung der
Emmerstedter Braunkohle zu erwirken.
Die in diese Diskussion mit eingebrachten Einflußgrößen können auch von der unbestrittenen
Notwendigkeit des dringend benötigten Strukturwandels ablenken. Eine aufschiebende Wirkung
des für den Landkreis existentiellen Strukturwandels durch die Aufschließung Emmerstedts
beinhaltet die Gefahr, von den innovativen Elementen zukünftig gänzlich abgekoppelt zu werden.
Unter Abwägung nüchterner Aspekte sollte das Ablaufen des "Braunkohlezeitalters" akzeptiert
werden, von dem der Landkreis über ein Jahrhundert als ökonomische Basis profitierte.
Im Spannungsfeld zwischen Ökonomie und Ökologie sollte eine realitisch vorausschauende
Abwägung zwischen einigen zeitlich befristeten hundert Arbeitsplätzen (die unter
arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunkten nur eine aufschiebende strukturkonservierende Wirkung
hätten) und den Folgewirkungen, insbesondere umweltpolitische Langzeitfaktoren erfolgen.
Der Ergiebigkeitseffekt neuer Arbeitsplätze dürfte sich in engen Grenzen halten, weil aufgrund
vorhandener Infrastruktur der BKB AG wenig vor- und nachgelagerte Arbeitsplätze neu entstehen
würden.
Umweltprobleme und die Überschneidung von Maßnahmezielen (z. B. weiche Standort-faktoren,
Fremdenverkehr, Umweltverträglichkeitsprüfung und erforderliche Ausgleichs-maßnahmen) sind
Stichworte, die zur diesbezüglichen Grundsatzfrage führen: Gibt es in Bevölkerung, Wirtschaft und
Politik überhaupt eine Akzeptanz und letztendlich politische Mehrheiten für dieses Projekt? Schon
aus dem Aspekt einer zunehmenden Sensibilisierung der Bevölkerung für ökologische Themen
erscheint dies mehr als fraglich.
80
81
Siehe: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 09.10.1993.
ISA Consult. Entwicklungsperspektiven des Raumes Helmstedt, Ergebnisbericht. Hamburg 12/1993, Seite
15.
- 64 -
Der anvisierte Braunkohletagebau Emmerstedt hat unter ökonomischen, ökologischen und
strukturpolitischen Gesichtspunkten wenig Realisierungschancen.
Die Erschöpfung des Südkreises auf großflächigen Braunkohletagebau in einer letztendlich
weitgehend ausgeräumten Landschaft zeigt im nachhinein die mangelnde Konkurrenzfähigkeit und
Entwicklungshemmnisse von Bodenvorkommen exemplarisch auf.
Die Braunkohle ist in der Gegenwart und insbesondere in der Zukunft keine Basis einer
industriellen Entwicklung.
Die regionalspezifische Aufgabenorientierung von Wirtschaft und Politik sollte sein, ein tragfähiges
Konzept zu entwickeln, das die soliden finanziellen Rücklagen der BKB AG im Landkreis
Helmstedt verbleiben läßt, z. B. durch neue ausbaufähige Sparten im Bereich der
Umwelttechnologie, aber auch verstärkt und zielorientiert nach weiteren Marktnischen Ausschau
hält, die ebenfalls zukunftsfixiert sind und einen Grundkonsens im Landkreis beinhalten.
Die Einbindung der BKB AG in komplexe Konzernstrukturen könnte vor Ort etwaige
Entscheidungen aufgrund der dafür notwendigen Koordinationsabsstimmungen erschweren.
Es deuten sich vor Ort bereits Probleme und Zielkonflikte mit der Sanierung der Braunkohleindustriebrache verstärkt an.
Bei allem Wohlwollen bezüglich der notwendigen Bestrebungen der BKB AG, neue
Tätigkeitsfelder im Landkreis aufzubauen, sind neben den anvisierten bereits nicht unkritischen
Projekten eines Kompostierwerkes und der Bauschuttaufbereitungsanlage, die weiteren
Planungsabsichten einer Altreifenverbrennung sowie der Deponierung von Asbestzement und
Asbestabfall 82 zu kritisieren, die sich im Hinblick auf den notwendigen ökonomischen
Strukturwandel als kontraproduktiv erweisen könnten.
Die überregionale Akzeptanz industrieller Altstandorte für Neuansiedlungen hängt davon ab, daß
sie nicht der typischen „Industriekulisse“ entsprechen und vor allem, daß Verwerterunter-nehmen
nicht das Bild bestimmen.
Wer über ein derartiges breit gefächertes Potential wie die BKB AG, im Verbund mit der Preußen
Elektra und der VEBA AG verfügt, sollte für die Landkreisentwicklung in neue Wege und
zukunftsorientierte Produktbereiche investieren, die durch Innovationstätigkeiten, gerade im
Forschungs- und Entwicklungssektor neuer Umwelttechnologien, dem Energieunternehmen
angemessene Möglichkeiten verschaffen, den notwendigen Wandel der bisherigen
Wirtschaftsstruktur im Landkreis konstruktiv und vorausschauend mitzugestalten.
3.1.6 Unternehmensorientierter Dienstleistungsbereich
Die unternehmensbezogenen Dienstleistungszweige (Rechts- und Wirtschaftsberatung, Technische
Beratung und Planung, Werbung und Ausstellungswesen) verzeichnen bundesweit (neben den
Organisationen ohne Erwerbscharakter) das stärkste Beschäftigungswachstum, wobei sicherlich
durch die Auslagerung diverser Funktionen aus den Produktionsunternehmen, dieser Trend
allgemein beschleunigt wurde. Die unternehmensbezogenen Dienstleistungen konzentrieren sich
dabei insbesondere in Zentren hochverdichteter Standorte. Erwartungsgemäß sind daher in teils
ländlich geprägten Räumen mit Verdichtungsansätzen (wie im Landkreis Helmstedt) diese
Dienstleister insgesamt unterrepräsentiert.
Trotzdem besteht eine gewisse Erwartungshaltung im Hinblick auf den unternehmensbezogenen
Dienstleistungsbereich, da ein Vorhandensein dieser „Betriebs-infrastruktur“ gleichzeitig als
wichtiger Indikator für etwaige Standortentscheidungen innovativer Unternehmen zu bewerten ist.
Insbesondere deshalb soll im folgenden auf die einzelnen Sparten der unternehmensbezogenen
Dienstleistungen im Landkreis näher eingegangen werden:
82
Siehe: Braunschweiger Zeitung, Helmstedter Ausgabe, 09.03.1994.
- 65 -
Die aus der Tabelle III. 2.7 ersichtliche Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten nach
Wirtschaftsbereichen, aus der u. a. hervorgeht, daß die vorwiegend wirtschaftsbezogenen
Dienstleistungen mit insgesamt 1.535 angegeben werden, überlappt sich mit Berufsgruppen aus
dem vorwiegend gesellschaftsbezogenen Dienstleistungsbereich. Hierzu zählen die
Mitarbeiter/innen aus Kinder-, Ledigen-, Alters- und Tagesheimen. Aufgrund einer ungenügenden
Klassifizierung konnte eine statistische Trennung nur ansatzweise vorgenommen werden. Es
überwiegen hierbei die Wirtschaftsuntergruppen Kredit- und Finanzierungsinstitute (Banken) mit
896, die Architektur-, Ingenieurbüros, Laboratorien und ähnliche Einrichtungen, mit den erwähnten
Heimen, mit zusammen 871 sozialversicherungs-pflichtig Beschäftigten.
Die statistische bereinigte Gesamtanzahl aller vorwiegend auf den Wirtschaftskreislauf bezogenen,
marktwirtschaftlich orientierten Dienstleistungen ergeben insgesamt bei Betrieben ab 10 bis 49
sozialversicherungspflichtig Beschäftigten eine Betriebsanzahl von 18 mit 425 Beschäftigten und
bei Betrieben ab 50 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten eine Betriebsanzahl von 2 mit 222
Beschäftigten. Das sind insgesamt 20 Betriebe mit 647 Beschäftigten.
Analysiert man davon die Wirtschaftsunterabteilungen, kristallisieren sich (ab 50 Beschäftigten)
ausschließlich Banken und (ab 10 bis 49 Beschäftigten) die Zweige Banken, Rechtsanwälte und
Steuerberater heraus.
Hervorzuheben ist die Deutsche Technische Akademie 83 mit 48 Beschäftigten und zwei
Ingenieurbüros (eines für Steuerungstechnik) in Schöningen mit 30 und in Königslutter mit 10
Beschäftigten.
Innovative Dienstleistungsunternehmen, die mitunter weniger als 10 Beschäftigten haben, bleiben
hierbei unberücksichtigt.
Im Raumvergleich der Landkreise lag Helmstedt 1991 mit 498 (davon 269 Stadt Helmstedt)
sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im unternehmensbezogenen Dienstleistungsbereich an
letzter Stelle, gefolgt von Peine (1107), Gifhorn (1145) und Wolfenbüttel (1434), (siehe Tabelle III.
2.4.7).
Es kristallisiert sich heraus, daß der Landkreis Helmstedt aufgrund seines teils ländlich geprägten
Strukturgefüges (wie erwähnt) erwartungsgemäß eine geringe unternehmens-orientierte
Dienstleistungstiefe aufzuweisen hat. Trotzdem muß erwähnt werden, daß dieser wichtige
„Baustein“ im Gefüge der Wirtschaftsstruktur des Landkreises unterrepräsentiert ist.
Zu wirtschaftsbezogenen Dienstleistungen gehören auch zwei Zeitarbeitsfirmen, die auf
Rechtsbasis des Arbeitsnehmerüberlassungsgesetzes in Helmstedt operieren und zusammen
insgesamt ca. 83 Mitarbeiter zur Koordinierung dieser Aufgabenstellung beschäftigen. Dies ist ein
Indikator für ein vorhandenes und stark ausgeprägtes Arbeitnehmerreservoir, das nicht in festen
Arbeitsvertragsverhältnissen steht und tendenziell Un- und Angelerntentätigkeiten zeitlich befristet
verrichtet.
„Nach Untersuchungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) verdienen
Elektriker, die bei einer Verleihfirma beschäftigt sind, 41 % weniger, Schweißer 25 % und
Ingenieure 25% weniger als ihre festangestellten Berufskollegen.“84
Zusammenfassend ist hervorzuheben: Wenn es beispielsweise um Ansiedlungsabwägungen
höherwertiger Industrieproduktionen geht, gehören neben Infrastrukturabwägungen und
sozialdemografischen Faktoren auch das Technologiepotential zum Standortprofil eines
Landkreises dazu.
Der unternehmensorientierte Dienstleistungsbereich darf hierbei quasi als „Bindeglied“ für
technologieintensive Industriezweige nicht fehlen. Ein hierbei zu attestierendes Defizit im
Landkreis ist zugleich ein „Hemmnisfaktor“ zukünftiger Entwicklungstendenzen.
83
84
Anmerkung: Deutsche Technische Akademie im folgenden DTA genannt.
IG Metall. Zeitung der Industriegewerksschaft Metall, 06.08.1993, Nr. 16, Seite 9.
- 66 -
Zu den Rahmenbedingungen innovativer unternehmensorientierter Dienstleistungsbereiche zählen
auch die sogenannten „weichen“ Standortfaktoren wie Wohnumfeldqualitäten, kulturelles Klima.
Hoch-, Fachhochschulanbindungen und Landkreisimage. Ein nicht unerheblicher Teil der
„Ausstrahlung“ ist davon abhängig, ob der Landkreis seinerseits Wohnmöglichkeiten, Freizeit- und
Erholungsmöglichkeiten und auch Erweiterungsmög-lichkeiten für Unternehmen bereitstellen kann.
Zusammenfassend kann hierzu ergänzt werden, daß der unternehmensbezogene
Dienstleistungsbereich in seiner Gesamtheit zukünftig eine Entstehung derjenigen
Unternehmensfunktionen bewirken müßte, die der eigentlichen Produktion vor - (z.B. forschungsund entwicklungsintensive Betriebe) und nachgelagert sind (z.B. Marketing).
Das weitgehende Fehlen dieser Unternehmensfunktionen bewirkt eine Abkoppelung von
innovationsorientierten Entwicklungsansätzen.
Ansätze einer neuen Marktorientierung für die DTA
Weil die erwähnte DTA im Landkreis eine Ausnahmeposition einnimmt (das einzige Unternehmen
für den Bereich Wissenschaft und Forschung), soll im folgenden auf dessen spezifische Situation
und mögliche Entwicklungstendenz eingegangen werden.
Die DTA bildet in- und ausländische Fachkräfte in den Bereichen Meß- und Prüfwesen, Normung
und Qualitätssicherung in praxisnahen Kursen weiter, darunter auch Stipendiaten aus
Entwicklungsländern. 1991 wurden insgesamt rund 150 Kurse mit 2.000 Teilnehmern veranstaltet,
davon kamen 25 Prozent aus dem Ausland (aus 47 Ländern).
Darüber hinaus orientiert sich das Leistungsspektrum der DTA zukünftig an folgenden
Schwerpunkten: Dem Aufbau von Qualitätsmanagementsystemen, Qualitätssicherungssysteme für
Labore, Motivations- und Kostensenkungsprogramme; im Bereich Dienstleistungen die
Überwachung/ Prüfung der firmeneigenen Prüfmittel und -methoden oder auch im Bereich
Zertifizierung für Prüfpersonal oder ganze Qualitätsmanagementsysteme.
Zielvorstellung dieses Konzeptes ist ein nationales Zentrum für die Qualitätssicherung.
Doch diverse Strategien erweisen sich in der Umsetzung als problematisch und auf dem Weg dahin
ist das bestehende Rentabiliätsdefizit eine schwere Hürde.
Nachdem Verhandlungen über die Eingliederung der DTA in die Fachhochschule BraunschweigWolfenbüttel und dem TÜV-Hannover ergebnislos verliefen, veräußerte das Land Niedersachsen
seinen 90-%-Anteil an der DTA an die deutsche Tochter des internationalen Konzerns Societe
Generale de Surveillance (SGS), mit Geschäftssitz in Genf (Schweiz).85
Die Wirtschaftlichkeitskalkulation der DTA war ein Zuschußgeschäft: Pro Jahr mußte die
Landesregierung zwischen 1,5 und 2 Millionen Mark aufbringen, um das DTA-Geschäftsergebnis
auszugleichen. Insgesamt wurden seit 1985 in die DTA rund 14 Millionen Mark investiert.86
Die deutsche Tochter der SGS Holding mit Sitz in Genf zahlte einen Kaufpreis von nur einer
Millionen Mark und gab dafür als Gegenleistung eine auf nur zwei Jahre befristete
Beschäftigungsgarantie bis März 1995 für die unter 50 angegebene Mitarbeiteranzahl. Eine
mittelfristige Bestandsgarantie über die zwei Jahre hinaus muß als kritisch bewertet werden, da die
neue Eignerin prinzipiell wirtschaftlich orientiert handelt und Weiterbildungsmaßnahmen auf
Stipendiatenbasis Verlustrechnungen zur Folge haben.
Dies ist Kernproblem der DTA: „Nach einer Anschubfinanzierung habe sie sich selbst tragen
sollen, sei aber im Bereich der roten Zahlen geblieben.“ 87
85
86
87
Siehe: Braunschweiger Zeitung, Helmstedter Ausgabe, 15.07.1992.
Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 23.06.1992.
Wirtschaftsminister P. Fischer, In: Helmstedter Blitz, 29.12.1993.
- 67 -
Es besteht die Gefahr, daß sich der im Umsatzvolumen bisher größte Geschäftspartner, die VW AG,
einerseits aus Kostengründen, andererseits aufgrund der geplanten VW-Entwicklungsfertigungstätte
in Nordspanien als Auftraggeber weitgehend zurückziehen könnte.
Ein weiterer Aspekt einer Bestandsgefährdung für die DTA besteht darin, daß die Drittländer nicht
mehr an die technologischen Normen der Europäischen Union gebunden sind.88
Es ist nicht ausgeschlossen, daß flankierende Hilfen in Form von Bürgschaften und Kooperationen
weiterhin nötig sein werden, um den Bestand der DTA abzusichern.89
Die folgenden Möglichkeiten sollen neue Marktsegmentierungen für die DTA skizzieren:
Die gezielte Spezialisierung auf die Technologieberatung und den Technologietransfer wären für
die DTA attraktive Tätigkeitsfelder. Ein maßgeblicher Teil dieser Aufgabenbereiche entfällt auf
Prüfaufträge, die nicht gesetzlich vorgeschrieben sind. Diese "freiwilligen" Prüfungen werden von
kleinen und mittleren Unternehmen erteilt, die damit nicht nur Qualitätsnachweise gegenüber ihren
Auftraggebern erbringen, sondern mit den Prüfergebnissen auch das Know-how der
Materialprüfung in ihre Produkte einfließen lassen.
Eine langfristige Perspektive für die DTA kann nur gesehen werden, wenn Möglichkeiten stärker in
Angriff genommen werden, bisherige Geschäftsfelder der qualitativ hochwertigen
Serviceleistungen, speziell in den Bereichen Meßtechnik, Prüf- und Normwesen und der
Qualitätssicherung mit neuen Kooperationspartnern konsequent weiter auszubauen. Zur
Bestandsfestigung der DTA könnte ebenfalls beitragen, wenn ansiedlungsinteressierte
Unternehmen einen Branchenbezug zur DTA aufweisen würden.
Eine regionale Forschungsverflechtung zur Fachhochschule Braunschweig/Salzgitter wäre
dahingehend erstrebenswert, die DTA zu einem Fachbereich dieser Fachhochschule auszubauen.
Der neue, noch nicht erschlossene osteuropäische Markt wäre für die Serviceleistungen der DTA
ein weiterer Anknüpfungspunkt, sowie die Möglichkeit, sich auf die Sektoren Abfall- und
Energietechnik der im Umstrukturierungsprozeß befindlichen BKB AG zu konzentrieren.
Auch für die erforderlichen beruflichen Qualifizierungsmaßnahmen wäre die DTA ein geeigneter
Kooperationspartner, insofern die Angebotsstruktur auf den Bedarf abgestimmt wird und
wettbewerbsfähige Angebotspreise offeriert würden.
Die aufgezeigten Problemfelder der DTA verdeutlichen aber auch, daß diese Institution zur Zeit
weder als Träger, noch als Kooperationspartner für eine im Landkreis benötigte
Qualifizierungsoffensive in Frage kommen kann.
Hieraus ist eine weitere Ausbaumöglichkeit für das Unternehmen abzuleiten, indem die DTA
ihrerseits Voraussetzungen für ein regionales und überregionales Ausbildungsangebot (z.B. in der
Sparte Umwelt) eröffnet, um in der Trägerlandschaft als innovativer Ansprechpartner zur
Verfügung zu stehen.
Der Veränderungs- und Anpassungsprozeß von einer behüteten Existenz im Schutze einer
Landesbürgschaft zur rentabilitätsorientierten Marktwirtschaft ist für die DTA noch nicht
überwunden.
3.1.7 Eigenständigkeit ansässiger Unternehmen
Ein weiterer Ansatzpunkt für die Entwicklung eines Landkreises ist, wenn ein Wirtschaftsraum
eigenständige und unabhängige Unternehmen aufweisen kann oder im Idealfall über
Unternehmens- und Konzernzentralen verfügt. Ungünstiger bewertet wird, wenn im Landkreis
88
89
Siehe: Braunschweiger Zeitung, Helmstedter Ausgabe, 10.07.1993.
Siehe: Helmstedter Blitz, 02.02.1994.
- 68 -
ansässige Betriebe als Zweigwerke oder konzerngebundene Unternehmen in hohem Maße von
außen gesteuert werden.
An dem Helmstedter Traditionsunternehmen BKB AG hält die Preussen Elektra eine 99,9
prozentige Mehrheitsbeteiligung, mit Geschäftssitz in Hannover. Die Preussen Elektra ist wiederum
in der VEBA AG eingegliedert. Die in Büddenstedt ansässige Phönix AG ist Bestandteil der Phönix
AG mit Geschäftssitz in Hamburg. Die Hellac (Helmstedter Lack- und Chemische Fabrik GmbH),
gehört der Höchst AG in Frankfurt am Main. Die in Grasleben ansässige Kali und Salz AG ist dem
BASF Konzern angegliedert. Die Zuckerfabrik Königslutter-Twülpstedt AG ist im Firmenbesitz der
Zucker AG Uelzen-Braunschweig.
Die SGS Société Générale de Surveilance mit Firmensitz in Genf (Schweiz) ist seit 1992 mit 90
Prozent an der DTA in Helmstedt mehrheitsbeteiligt.
Trotzdem diese Auflistung keinen Anspruch auf Vollwertigkeit beansprucht, wird bereits
ersichtlich, daß die beschäftigungsintensivsten Betriebe in ihren Entscheidungsprozessen von
außerhalb des Landkreises gesteuert werden.
Folgende Einschränkungen können aus diesem Sachverhalt geschlossen werden:
- Grundlegende unternehmerische Entscheidungen, von denen die Landkreispolitik direkt
betroffen sein kann, werden an Standorten außerhalb der Region getroffen.
- In den Konzernstrukturen eingebundenen Betrieben oder Zweigwerken existiert mitunter
verschärfter Wettbewerb zwischen den konkurrierenden Standorten.
ein
Der negative Trend auf dem Arbeitsmarkt, daß Stammpersonal durch Arbeitnehmer mit
Zeitverträgen, Leih- und Werkvertragsarbeitnehmer ersetzt wird, ist in Zweigwerken ausgeprägter
als in konzernintegrierten Unternehmen.
Wenn in einem Zweigwerk ein niedriges Lohnniveau dominiert, ist die Bestandserhaltung des
Standortes langfristig gefährdet.
- Die Entscheidung für oder gegen den Ausbau eines bestimmten Werkes ist dabei von
lokaler Ebene kaum beeinflußbar. Informationen über die Firmenstrategie sind der Politik und
Verwaltung nur schwer zugänglich.
- Ein Ausnahmefall liegt vor, wenn Erweiterungsabsichten am Standort von der
Geschäftsleitung geäußert werden und hinsichtlich der verfügbaren Flächenreserven ein
aktives kommunales Handeln erforderlich wird.
- Dieser Ausnahmefall ist aber nicht der Regelfall. Deshalb kommt es bei der Übernahme
von
Betrieben in die organisatorische und technologische Einbindung in Konzernstrukturen
erfahrungsgemäß zu einer Bereinigung der betrieblichen Funktionen. Die „Tertiarisierungshöhe“ wird in Zweigwerken des sekundären Sektors meistens abgebaut, was eine
Ausdünnung dispositiver Funktionen zur Folge hat.
Da die Kontrollinstanzen der Unternehmen diesbezüglich nicht mit, sondern ohne
Einwirkungsmöglichkeiten des Landkreises über "ihn" letztendlich auch entscheiden, sind
Standorte als Zweigwerke, deren Produkte auch in anderen Werken gefertigt werden können, als
höchst gefährdet einzustufen.
Es kann festgestellt werden, daß hierbei die Entscheidung über Produktionsverlagerungen und
Standortzusammenlegungen (siehe Negativbeispiele anhand der Firmen Naue KG, Reika Technik
GmbH und der Helmstedter Spinnerei GmbH; Tabelle III. 2.8.4) auf lokaler Ebene nicht
beeinflußbar waren.
Die Kritiker einer Ansiedlungskonzentration von Zweigwerken wurden durch diese 1992 und 1993
hervorgerufenen Konkurse prinzipiell bestätigt.
- 69 -
Daß über drei Viertel aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im sekundären
Wirtschaftssektor der Landkreiswirtschaft in Zweigwerken, beispielsweise in konzernangehörigen
Unternehmen beschäftigt sind, unterstreicht die Problematik der Uneigenständigkeit ansässiger
Unternehmen in der Wirtschaftsstruktur.
Rückblickend führte die „negative Zweigwerktradition“ im Landkreis Helmstedt insbesondere in
der 82er Rezession zu reihenhaften Betriebszusammenbrüchen: Die ehemalige Roto Werke GmbH
wurde als Zweigwerk der Pelikan-Informationstechnik GmbH in den Konkurs hineingerissen. Die
Verlagerung der Fernkopiererproduktion von Braunschweig nach Berlin leitete die endgültige
Schließung des Zweigwerkes der Siemens AG in Helmstedt ein. Vor dieser
Produktionsumgestaltung wurden im Siemens Zweigwerk Helmstedt Signalfertigungsanlagen durch
Aufträge der Bundesbahn gefertigt, die ebenfalls nach Braunschweig ausgelagert wurden.
Außerdem stellte das Zweigwerk Alois Heinze den Betrieb ein.90
Von der weiteren Globalisierung der Märkte, inbesondere durch Einbeziehung des „begehrten
Standorts Osteuropa“, sind in erster Linie solche heimischen Standorte betroffen, deren Betriebe
vorwiegend als Zweigwerke oder konzerngebundene Unternehmen von außerhalb gesteuert werden.
So erhöhte sich der Kapitalfluß in Richtung Osteuropa von 446 Millionen Dollar (1989) auf 4550
Millionen Dollar (1990) für Direktinvestitionen in der ehemaligen Tschechoslowakei, in Ungarn,
Polen und Slowenien.91
Die Gründe scheinen klar: Die Lohn- und Lohnnebenkosten liegen in den „teuersten“
osteuropäischen Ländern nur bei einem Zehntel dessen, was tariflich in der Bundesrepublik
Deutschland bezahlt wird. Die Arbeitnehmer/innen sind in der Regel auch noch gut ausgebildet.
Für die in der Regel bestehenden Abhängigkeiten dominierender Unternehmen im wirtschaftlichen
Landkreisgefüge Helmstedts ergeben sich für zukünftige Entwickungstendenzen folgende
Risikofaktoren: Mit der ökonomischen Öffnung der Außengrenzen und der Realisierung des EUBinnenmarktes wird sich der ex- und interne Wettbewerb von Branchen auch zwischen Standorten
und Regionen radikal verschärfen.
Die dabei wachstums- und strukturschwächeren Branchen sind überwiegend in benachteiligten
peripheren Regionen angesiedelt und werden auch weiterhin mit beschleunigter Intensität
Reduzierungsmaßnahmen hinnehmen müssen, die eine Bestandsgefährdung der Restgröße
beinhalten können.
Insbesondere der südostasiatische- und mit Abstand der erwähnte osteuropäische Wachstums-markt
wird durch die erzwungene stärkere Öffnung der EU-Außengrenzen den Kostendruck auf die
industrielle Kernproduktion extrem erhöhen.
Von dieser Globalisierung der Weltmarktstruktur ist der heimische Wirtschaftsraum potentiell
gefährdet. Diese veränderten Rahmenbedingungen bewirken in erster Linie eine
Auslagerungstendenz weiterer Firmen, die als Zweigwerke „ferngesteuert“ sind und eine
standardisierte Prodkuktionspalette aufweisen.
Eine koordinierte Gegensteuerung erscheint kaum erfolgversprechend. Weil in der Tendenz
unternehmerische Konzentrationsprozesse und Konzernstrukturen zunehmen, die sich zu immer
größeren Wirtschaftseinheiten entwickeln und deren Produktionsstätten weltweit operieren, wird
die regionale Wirtschaftsentwicklung erheblich fremdbestimmt.
Diese wohl zutreffenden Argumente sind aus volkswirtschaftlicher Sichtweise insofern
relativierbar, weil den dortigen im Aufbau befindlichen Volkswirtschaften in Osteuropa auch die
politische Chance gegeben werden muß, sich ökonomisch zu entwickeln. Anderenfalls würde dort
aus der ökonomischen eine politische Instabilität größerer Dimension entstehen, die auf die gesamte
Europäische Union eine äußerst negative Rückwirkung hätte.
90
91
Siehe: Landkreis Helmstedt. Verwaltungsbericht 1981 bis 1986. Seite 152.
Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 28.07.1993 und Süddeutsche Zeitung, 30.07.1993.
- 70 -
3.1.7.1 Technischer Fortschritt und Landkreisentwicklung
Der niedersächsische Wirtschaftsminister P. Fischer hielt sich im September 1993 mit
Unternehmern aus Niedersachsen in der Tschechischen Republik auf. „Innerhalb Deutschlands hat
Niedersachsen die führende Rolle in der Kooperation mit den Tschechen übernommen. 688
Millionen DM sind von Januar 1990 bis März 1993 von Niedersachsen aus in den Nachbarstaat
Deutschlands investiert worden.“ 92
Ziel der Informationsreise sollte es sein, auch kleinen und mittleren Unternehmen aus
Niedersachsen Investitionen in der Tschechischen Republik zu ermöglichen.
Um Investitionen weiterer Firmen abzusichern, hat das Wirtschaftsministerium ein 250 Mio. DM
Programm aufgelegt. Das Land gibt dabei Bürgschaften zur Finanzierung von Beteiligungen etwa
in der Tschechischen Republik. 93
Auf Basis des technischen Fortschritts vollzog sich in anderen Regionen Niedersachsens eine
ökonomische Entwicklung (z.B. Großraum Hannover, Braunschweig oder Oldenburg) die nicht nur
eine Antriebskraft des Strukturwandels der Wirtschaft einleitete, sondern ebenso zu durch
technischen Fortschritt verursachte ökonomische Transformationsprozessen führte, die dort zu
intraregionalen, interregionalen und anhand des Beispiels auch zu internationaler Verlagerung
wirtschaftlicher Aktivitäten aus den jeweiligen Standorten heraus führten.
Die Voraussetzungen zu einer erfolgversprechenden Partizipation heimischer Unternehmen an
diesem Entwicklunsprozeß sind grundsätzlich nicht gegeben.
Der fehlende technische Fortschritt, sowie der geringe Technologiebestand bei ausgebliebener oder
abgekoppelter Technologieintensität bewirken insgesamt, daß bereits im regionalen Vergleich kaum
wettbewerbsfähige Produkte, weder in Spitzentechnologie, noch in den Gebrauchstechnologien im
Landkreis entwickelt oder hergestellt werden, die eine wettbewerbsfähige Vermarktung
hervorrufen.
Dieses Beispiel verdeutlicht zum einen, daß heimische Unternehmen spürbar höherwertige
Produkte aufweisen müßten, um neue Märkte zu erschließen und zum anderen, daß nur in
überregionaler Verflechtung und durch internationale Arbeitsteilung sich der Wirtschaftsstandort
Landkreis Helmstedt langfristig erfolgreich sichern läßt.
Nimmt man die „Produktzyklus-Hypothese“ als Vergleichsmaßstab hinzu, nach der sich neue
Produkte und neue Branchen in vier Phasen aufgliedern:
1. Entwicklungs- und Einführungsphase
2. Wachstumsphase
3. Reifephase
4. Schrumpfungsphase 94
so sind die Zukunftsaussichten von Unternehmen, die vorrangig „ältere“ Güter in stagnierenden
Branchen produzieren, als äußerst problematisch einzustufen. Bereits ab 1967 vollzog sich in der
BKB das Ende der Reife- in die Schrumpfungsphase und die Westeuropäische Automobilindustrie
vollzog diesen identischen ökonomischen Transformationsprozeß 1992/93.
Das gilt ebenso für die meisten Wirtschaftszweige im produzierenden Gewerbe der
Sachgüterproduktion des Landkreises, die in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung stagnierenden und
einen Bedeutungsverlust erleiden.
Ein anderer Aspekt ist die Standortdauer und Verlagerung entsprechender Branchen. In Folge
dessen verschieben sich die Standortzyklen von Produkten aus dem Zentrum in die Peripherie.
92
93
94
Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 03.09.1993.
Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 03.09.1993.
Siehe, Schätzl, L. Wirtschaftsgeographie 1, Theorie, 4. Auflage. Paderborn/München 1992. S. 193.
- 71 -
Beispielhaft für die Landkreisentwicklung kann diesbezüglich herangezogen werden, daß es sich,
rückwirkend betrachtet, z.B. im Ansiedlungszeitraum 1968 bis 1982, offensichtlich größtenteils um
Unternehmen handelte, die aufgrund der überwiegend einfacheren Güterherstellung damals bereits
aus dem intraregionalen Produktionszentrumsstandort zur interregionalen Peripherie in den
Landkreis Helmstedt ver- oder ausgelagert wurden.
Die erwähnte Förderpräferenz und die ebenfalls analysierte Praxis von tendenziell niedrigen
Löhnen und mobilen Arbeitsplätzen förderten diese Entwicklung erheblich.
Heute in der Gegenwart vollzieht sich im Ablaufmuster der Produktionsstandortzyklen die letzte
Etappe, in der eine Verlagerungsgefahr und -praxis gerade dieser Betriebe zur internationalen
Dezentralisierung der Produktion erfolgt. Dabei verlagern sich in der Regel nicht ganze
Unternehmen, sondern ihre Betriebsteile. Im Zentrum bleiben Geschäftsleitung, Forschung- und
Entwicklungsinvestitionen, das übrige Innovationspotential und qualifizierte Arbeitskräfte.
In die Peripherie verlagern sich Betriebsteile, die von einer zunehmenden Standardisierung des
Herstellungsverfahrens gekennzeichnet sind und dem sich verschärfenden Qualitäts- und
Preiswettbewerb unterliegen.
Veränderte Standortanforderungen - anhand der praktischen Beispiele „Reika-Technik GmbH“,
„Helmstedter-Spinnerei GmbH“ und „Naue KG“ verdeutlicht - bewirkten nach der funktionalen
Standortsspaltung oder Zweigbetriebsgründungen der 60er, 70er und 80er Jahre, die letzte Phase
der Abwanderung in die neuen Niedriglohnländer außerhalb nationaler Grenzen.
Die Bewältigung der zukünftigen Herausforderungen an den Landkreis dürften ohne eine enge
Kooperation und Bündelung aller Kräfte kaum möglich sein.
Es muß hiermit wiederholt werden, daß die beschleunigte Intensität des ökonomischen
Strukturwandels den Landkreis Helmstedt voll erfaßt hat.
3.1.7.2 Stadtumlandentwicklung von Helmstedt
Seit mehreren Generationen wachsen die größeren Städte über ihre Grenzen hinaus, bilden mit
Umlandgemeinden ein geschossenes Siedlungsgebiet und lassen in weiteren Gemeinden die
Siedlungsdichte beachtlich steigen.
Der Einzugsbereich von Städten dehnt sich tendenziell vor allem durch die Umlandwanderungen
mehr und mehr über die Stadtgrenzen in ihr unmittelbares Umland aus. Bevölkerungsentwicklung,
Industrie- und Dienstleistungsdichte verlagern sich ebenfalls aus der Kern- in die neuen Randzonen.
Diese „Stadt-Umland-Entwicklungstendenzen“ ließen Verdichtungsräume (z. B. Großraum
Hannover) entstehen. Auch die Stadt Wolfsburg konnte durch die Gebiets- und Verwaltungsreform
von 1972 eine beschleunigte Stadt-Umland-Entwicklung vollziehen. So wurde die Stadt
Fallersleben aus dem Landkreis Gifhorn ausgegliedert und zum Stadtteil von Wolfsburg erklärt.
Eine identische Veränderung erfolgte im Ostteil des Stadtgebietes, wo die Stadt Vorsfelde aus dem
Gefüge des Landkreises Helmstedt ausgegliedert und ebenfalls der Stadt Wolfsburg als Stadtteil
zugeführt wurde. Eine grundsätzlich nachvollziehbare raumordnungspolitische Entscheidung, die
den veränderten Bedingungen Rechnung trug.
Auf die Stadt Helmstedt bezogen, ergibt sich hieraus jedoch ein Problem und zugleich ein weiterer
Erklärungsansatz für die festgestellten ökonomischen Entwicklungsdiskrepanzen, weil ein
vergleichbarer räumlicher Entwicklungsvorgang in Helmstedt nicht stattfand.
Das Defizit in der Stadtumlandentwicklung von Helmstedt wäre unter Umständen nicht so
gravierend, wenn die „historisch verpaßte Chance“ einer beabsichtigten Großansiedlung der VW
Transporterfertigung (Standort: Hannover, Stadtteil Stöckheim) Mitte der 50er Jahre zwischen
Helmstedt und Emmerstedt eingetreten wäre. Vermutlich ist dieses bedeutende
- 72 -
Investitionsvorhaben aufgrund eines Einspruches der BKB AG nicht zustande gekommen, welche
diesbezüglich Schürfrechte geltend machen konnte. 95
Dieses Managerverhalten war in den 50er bis 60er Jahren typisch, wobei auch in anderen Regionen
Ansiedelungskonkurrenten von den vor Ort operierenden Unternehmen daran erfolgreich gehindert
wurden, sich niederzulassen.
Die entwicklungshemmende deutsch-deutsche Grenze bis September 1989 ist die Hauptursache
dafür, daß die traditionelle Industrieachse innerhalb der Region Südostniedersachsen von
Wolfsburg im Norden über Braunschweig und Peine sich nach Osten Richtung Helmstedt nicht
entwickeln konnte.
Die Industriealisierungsschwerpunkte der Nachkriegsentwicklungsphase haben das industrielle Entwicklungsband der Ost-West-Achse unterbrochen und neue zentralörtliche Wirtschaftsräume
entstehen lassen. In Folge dessen sind fünf von sieben Städten Südostniedersachsens über ihre
ursprünglichen Verwaltungsgrenzen hinausgewachsen. Zu den Ausnahmen gehört die Stadt
Helmstedt.96
Ganz Niedersachsen ist von Verdichtungen unterschiedlichster Größe durchsetzt. Die Gliederung
zwischen Kernstädten und Ergänzungsgebieten kann in drei Zonen aufgeteilt werden:
- hochverdichtetes Zentrum
- Zentrum/Nebenzentrum
- übriges Kerngebiet
„Kleine Mittelstadtregionen“ wie die Kreisstadt Helmstedt mit Mittelzentrumfunktion überhaupt als
Agglomeration zu betrachten, erscheint zweifelhaft. Auch die hierbei als zusätzliche
Bemessungsgrenze herangezogene „Einwohener-Arbeitsplatz-Dichte“ (EAD), in der ein räumlicher
Zusammenhang zwischen Einwohner und Arbeitsplatzdichte hergestellt wird, sollte nicht
unvoreingenommen verwandt werden.
Trotzdem kann unter Berücksichtigung der problematisch erscheinenden äußeren Abgrenzung und
inneren Gliederung von Verdichtungsgebieten dieser methodischen Agglomertionstheorie als
Ergebnis aufgeführt werden, daß die Stadt Helmstedt bei der durchschnittlichen EinwohnerArbeitsplatz-Dichte (hier als mittlere Kleinstadtregion), im Jahresvergleich 1970 und 1987, die
Gesamtsumme von 0,6% einnimmt.
Vergleichswerte hierzu zeigen im direkten Raumvergleich eine Bandbreite von 0,5% bis 1,4%
auf.97
3.1.8 Grenzöffnung - wirtschaftliche Entwicklung und Strukturwandel im
Landkreis Helmstedt
Wirtschaftsraum
Bevor der ökonomische Prosperitätsschub durch die Öffnung der innerdeutschen Grenze dargestellt
wird, soll auf die in der Vergangenheit entwicklungshemmende Charakteristik der Gemeinden an
der innerdeutschen Ostgrenze in Niedersachsen im Vergleich zu Nordhorn an der Westgrenze
eingegangen werden.
Helmstedt als größte niedersächsische Stadt an der ehemaligen geschlossenen Ostgrenze im
Vergleich zu Nordhorn an der offenen Westgrenze zu den Niederlanden zeigten exemplarisch
gegenläufige Entwicklungen:
95
Informationen aus einem persönlichen Hintergrundgespräch mit dem Zeitzeugen Herrn Werner Wulf †.
Siehe: Raumplanungsgutachten Südostniedersachsen, die großen Städte im Planungsraum Südostniedersachsen,
Teil II a, Hannover 1965, Seite 4.
97 Siehe: Schneppe, F. Agglomerationen 1970 und 1987, Abgrenzung und Gliederung. In: Nieders. Landesamt
für
Statistik, Statistisches Monatsheft 10. Hannover 1992. Seite 314 ff.
96
- 73 -
„Während die Beschäftigtenanzahl Nordhorns um 2,7 % auf 17.242 wuchs, nahm diejenige
Helmstedts im gleichen Zeitraum (von 1981 bis 1989, jeweils am 30.06.) um 6,8% auf 10.369 ab.“
98
Beide Städte sind von gravierenden Strukturkrisen geprägt: Helmstedt von dem Braunkohlebergbau und Nordhorn von der Textilindustrie.
Die Grenzlage von Nordhorn wirkte sich durch die engen wirtschaftlichen und politischen
Kooperationen und Verflechtungen positiv aus, während hinter Helmstedt die Grenzziehung zweier
rivalisierender Weltsysteme lag.
Insofern begünstigte die Grenzlage Nordhorns einen dortigen positiven Struktureffekt, während die
Grenzlage Helmstedts ein eindeutiger Standortnachteil darstellte.
Auch die Bevölkerungszahl, Zusammensetzung und Entwicklung ist ein Spiegelbild der
ökonomischen Situation. Der Landkreis ist bis September 1989 von einer ausgeprochenen
ungünstigen Bevölkerungsentwicklung geprägt gewesen (siehe Tabellen III. 2.5.4 und III. 2.5.4.1)
und verzeichnete in den 80er Jahren eines der höchsten Geburtendefizite in Niedersachsen.
Vor dem Hintergrund einschneidender Veränderungen durch die Öffnung der innerdeutschen
Grenze und der fortschreitenden ökonomischen Integration Europas mit Auswirkungen auf den
beschleunigten Strukturwandel in der Bundesrepublik Deutschland, sollen im folgenden die
wirtschaftlichen Auswirkungen der Grenzöffnung auf den Landkreis Helmstedt dargestellt werden.
Zunächst geht es um die Fragestellung, ob sich die analysierten eher ungünstigen
Entwicklungsperspektiven der 70er und 80er Jahre durch die veränderten Bedingungen seit
September 1989 im Zuge der Wiedervereinigung für die ökonomische Landkreisentwicklung
nachhaltig verbessert und gegebenenfalls langfristig positiv ausgewirkt haben?
„Nur wenn die Kapazitäten selbst erhöht werden, scheint es sinnvoll, von Wachstum
auszugehen.“99
Durch das in der Tat eingetretene Wirtschaftswachstum konnte bei den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zum 30.06. eines Jahres für 1991 der Beschäftigtenstand von 1981 wieder
übertroffen werden. Bei der Veränderungsrate für 1990 im überregionalen Vergleich zu 1991
konnte der Landkreis Helmstedt von allen 38 niedersächsischen Landkreisen, im Vergleich zu den 4
Regierungsbezirken, zum Land und zum Bund mit 8,7 Prozent die höchste positive
Veränderungsrate aufgrund der deutschen Einheit erzielen.
Durch die Einheit Deutschlands wurde die heimische Wirtschaft begünstigt, weil die räumliche
Nähe zu den neuen Absatzmärkten durch die expansiven Nachfrageimpulse aus Sachsen-Anhalt
besonders dem Landkreis Helmstedt zugute kamen:
Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte im Landkreis Helmstedt im produzierenden Gewerbe,
Stand jeweils am 30.06.
1990
10.269
1991
1.192
1992
11.291
Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte im Landkreis Helmstedt in der Energiewirtschaft,
Bergbau und verarbeitenden Gewerbe, Stand jeweils 30.06.
98
1990
1991
1992
8.845
9.602
9.598
Siehe: Statistische Monatshefte 10/1992. Niedersächsisches Landesamt für Statistik. Hannover 1992, Seite
324.
Siehe: Pätzold, J. Stabilisierungspolitik, Grundlagen der nachfrage- und angebotsorientierten Wirtschaftspolitik.
Bern/Stuttgart 1991. Seite 38.
99
- 74 -
Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte im Landkreis Helmstedt im verarbeitenden Gewerbe,
Stand jeweils 30.06.
1990
1991
1992
5.675
6.449
6.491
Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte im Landkreis Helmstedt im Dienstleistungssektor, Stand
jeweils 30.06.
1990
10.320
1991
11.186
1992
11.688
(Datenquellen jeweils Niedersächsisches Institut für Wirtschaftsforschung e.V. ,Regional-bericht
1989/ 90/ 91 und vom 30.06.1992, Hannover 1992 und 1993).
Die Folgewirkung einer Konsolidierung bei der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung
bewirkte (trotz angespannter Wohnsituation) auch eine Stabilisierung der Bevölkerungsentwicklung des Landkreises Helmstedt. Seit der Volkszählung vom 13.03.1950 bis zum
niedrigsten Wert im Jahre 1986 von 96.011 Einwohnern, ist die Bevölkerungsentwicklung durch
einen permanenten Rückgang gekennzeichnet gewesen, der insbesondere durch Geburtendefizite
und vor allem Wanderungsverluste hervorgerufen wurde. Die neue allmähliche Aufwärtstendenz
verdeutlichen folgende Zahlenwerte: Anstieg von 98.541 Landkreisbewohnern (1989) auf 100.184
(1990), wobei der Stand von 100.247 (1978) nicht ganz erreicht wurde, (siehe: Tabelle III. 2.5.3).
„Als Auswirkungen der Herstellung der deutschen Einheit auf die Geschäftslage registrierten die
Betriebe aller Branchen im Zonenrandgebiet bereits aufgrund der innerdeutschen Grenzöffnung
eine kräftige Wachstumsdynamik. In besonderem Maße profitierten hiervon die konsumnahen
Bereiche des Nahrungs- und Genußmittelgewerbes sowie des Handels. Jeweils über 80 Prozent der
Betriebe dieser Branchen konnten eine leichte oder gar starke Verbesserung ihrer Geschäftslage
feststellen.“100
Mit der Öffnung der innerdeutschen Grenze hat sich für den Dienstleistungssektor die
wirtschaftliche Ertragssituation noch nachhaltiger verbessert als für das produzierende Gewerbe.
Gerade der Handel konnte vom Einheitsboom beachtlich profitieren.
Insbesondere die Kaufkraftbindung des Mittelzentrums Helmstedt hat davon eindeutig profitiert.
Handel und Handwerk des Landkreises Helmstedt erhielten ihren ursprünglichen Wirtschaftsraum
zurück.
Kaufkraftrückgänge durch die stagnierende ökonomische Entwicklung, aber auch der forcierte
Ausbau der Dienstleistungsinfrastruktur in Sachsen-Anhalt haben den unerwarteten Höhenflug im
nachhinein deutlich reduziert.
Infolgedessen hat die Nachfrage aus dem neuen Bundesnachbarland Sachsen-Anhalt auch unter
dem Eindruck enormer Struktur- und Arbeitsmarktprobleme vor Ort bereits wieder erheblich an
Schubkraft verloren. Auch westdeutsche Konsumgüterproduzenten haben eigene Filialen und
Produktionsstätten in den neuen Bundesländern übernommen bzw. aufbauen lassen, von denen zum
Teil wachsende Konkurrenz auf die alten Bundesländer ausgeht.
Außerdem ist zu berücksichtigen, daß die Faszination westlicher Markensegmente und
Werbungsmechanismen in den neuen Bundesländern immer mehr verblassen. Nach der ersten
großen Bedarfswelle normalisieren sich die Verhältnisse zunehmend und die Konsumgewohnheiten
gleichen sich zwischen den neuen- und alten Bundesländern an.101
100 Offner,
M. Das Zonenrandgebiet nach der deutschen Einigung. Studien des Forschungsinstituts für
Wirtschaftspolitik an der Universität Mainz, Mainz 1991, Seite 252.
101 Siehe: Handelsblatt, 22.07.1992.
- 75 -
Durch die ökonomische Landkreisentwicklung hat sich das Wirtschaftswachstum zunächst
insgesamt stark beschleunigt, aber auch verschoben. Besonders günstig waren aufgrund des
Nachfrageschubs aus Sachsen-Anhalt die Wirkungen auf den Einzel- und Großhandel, die
Kreditinstitute und Versicherungen. Im sekundären Sektor profitierte in erster Linie die
konsumgüterproduzierenden Industriezweige und deren Zulieferer, zum Beispiel das
Ernährungsgewerbe, die Bauwirtschaft und die von der Baunachfrage abhängigen Zulieferindustrien.
Seit Öffnung der innerdeutschen Grenze und des allmählich aber kontinuierlich verlaufenden
ökonomischen Integrationsprozesses zwischen Niedersachsen und Sachsen-Anhalt erhielt auch das
produzierende Gewerbe im Landkreis Helmstedt eine vorübergehende Schubkraft, die kurzfristig
eine überdurchschnittliche Dynamik aufwies.
Das in der Tat eingetretene Wirtschaftswachstum ist als quantitatives Wachstum zu definieren und
hat in Folge dessen keinen wirtschaftlichen Strukturwandel herbeigeführt. Auch ein ansatzweiser
Erneuerungsprozeß der Wirtschaft ist im Landkreis Helmstedt ausgeblieben.
Diese aufschiebende Wirkung brachte für die ökonomische Landkreisentwicklung einen
kurzfristigen und spürbaren Boom. Die Wiedervereinigungskonjunktur begünstigte auch
wettbewerbschwache Industrien im Landkreis Helmstedt und im übrigen in ganz Niedersachsen,
was beim bisherigen Muster des technologischen Strukturwandels mit seiner Innovations- und
Qualifikationsneuorientierung nur eine „Atempause“ bewirkte.
Trotz des zwischenzeitlichen Anstieges sozialversicherungspflichtig Beschäftigter konnte der hohe
Arbeitslosensockel nicht reduziert werden.
Nach der Vereinigungskonjunktur kristallisierte sich das vorherige Muster einer stagnierenden
Branchenstruktur in einer insgesamt ungünstigeren Wettbewerbspostion wieder verstärkt heraus.
Es ist auf Grund dessen davon auszugehen, daß der Stand sozialversicherungspflichtig
Beschäftigter von 1992 durch steigende Arbeitsplatzverluste in der mittelfristigen Entwicklung
nicht wieder erreichbar sein wird.
Bezüglich der Bevölkerungsentwicklung, die rückblickend bis zur Grenzöffnung von einer
ungünstigen Wanderungsbilanz geprägt war (siehe Tabellen III. 2.5 bis III. 2.5.2), wird die
zukünftige Entwicklung wieder einen negativen Wanderungssaldo aufweisen, der auch den
dringend benötigten innovativen Strukturwandel zusätzlich erschweren wird.
Die vorliegenden Ergebnisse der Bevölkerungsfortschreibung zum 30.06.1993 weisen für
Niedersachsen einen deutlichen Bevölkerungsanstieg im ersten Halbjahr 1993 aus. Ein Blick auf
die regionale Bevölkerungsentwicklung zeigt jedoch, daß in den drei Landkreisen Helmstedt,
Goslar und Osterode (alle an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze), eine stagnierende
Bevölkerungsentwicklung eingetreten ist.102
Handel und Handwerk
Auch das Handwerk in den alten Bundesländern profitierte insgesamt von der Vereinigung der
beiden deutschen Staaten: Der neue ostdeutsche Absatzmarkt trug mit dazu bei, daß der reale
Umsatz um 6,2 Prozent gesteigert werden konnte.103
Von der Öffnung der innerdeutschen Grenze konnten im Handel die Unterhaltungselektronik im
unteren bis mittleren Preissegment und die Automobilhändler am meisten profitieren. Das
Handwerk konnte durch den Nachfrageschub insbesondere in den Bereichen Elektroinstallationen,
Heizungs- und Sanitärgewerbe und Dachdeckerei seine Position überdurchschnittlich ausbauen.
1992 wurden im Landkreis Helmstedt 25 vollhandwerkliche Betriebe neu eingetragen, denen 48
Löschungen gegenüberstanden. Daraus ergibt sich insgesamt eine Bestandsverringerung um 23
102 Siehe:
103 Siehe:
Niedersächsisches Landesamt für Statistik, Statistische Monatshefte. Hannover 2/1994. Seite 61.
Hannoversche Allgemeine Zeitung, 28.07.1992.
- 76 -
Betriebe.104 Insgesamt wurden jeweils am 31.12. des Jahres 1991 539 und 1992 516
vollhandwerkliche Betriebe im Landkreis Helmstedt gezählt.105
Die Spezialisierungsstruktur des Handwerks zielt auf persönliche Dienstleistungen und hat
insgesamt eine relativ niedrige Dichte aufzuweisen, die jedoch an der gesamten Wirtschaftsdichte
des Landkreises gemessen, einen Mittelwert aufweist.
Im dritten Quartal des Jahres 1992 verzeichnete der Handel in der Region eine deutliche
Verschlechterung des Geschäftsklimas. Der IHK-Konjunkturindikator für den Einzelhandel sank
von minus 9 im Vorquartal auf minus 25 im dritten Quartal 1992.106
Insbesondere Helmstedt wird für eine längere Übergangszeit als Einkaufsstadt insbesondere für die
Landkreise der DEUREGIO Ostfalen attraktiv sein. Der Einzelhandel wird vor allem im Bereich
preisgünstiger Angebote profitieren, in der längerfristig eine verstärkte Nachfrage nach
längerlebigen Gütern der mittleren Preisklasse zu erwarten ist.
Zu den Trends im Konsumbereich ist bezüglich der Kaufgewohnheiten in Ost- und
Westdeutschland zu beachten, daß „die Verbraucher in West- und Ostdeutschland offensichtlich
auch angesichts des Konjunkturtiefs 1993 immer enger zusammenrücken. So verhalten sich die
Konsumenten in beiden Teilen Deutschlands zunehmend ähnlicher. Dies gilt von der Geldanlage
bis zum Kauf von Lebensmitteln. Ein Zusammenwachsen der Verbraucherwünsche aus den alten
und neuen Bundesländern erfolgt in den einzelnen Branchen allerdings in unterschiedlichem
Tempo. Zu diesen Ergebnissen kommt eine Verbraucheranalyse des Bauer Verlags, Hamburg,
sowie der Axel Springer AG, Hamburg/Berlin.“107
Mittelfristig werden sich Handel und Handwerk darauf einstellen müssen, daß sich Bau- und
Verbrauchermarktbereiche von westdeutschen Unternehmen verstärkt im sachsen-anhaltinischen
Raum ansiedeln werden, die aufgrund der dortigen begrenzt vorhandenen realen
Kaufkraftmöglichkeiten auch verstärkt um Käufer aus Niedersachsen werben. Dies hätte auch
unmittelbare Auswirkungen auf das Nachfrageverhalten im Landkreis Helmstedt.
Das Handwerk operiert (fast ausschließlich) innerhalb des Landkreises. Filialen oder Kooperationen
außerhalb des Landkreises sind die Ausnahme. Lediglich in wenigen Helmstedter Unternehmungen
hat sich nach dem Abflachen des Einheitsboomes die Erkenntnis durchgesetzt, daß die neue
Nachfragekaufkraft aus Sachsen-Anhalt langfristig angebotsorientiert nur vor Ort gehalten werden
kann.
Die Entwicklung der innerstädtischen Bereiche von Helmstedt, Königslutter und Schöningen, die ja
trotz Fortschritte durchweg sanierungsbedürftig sind, sollten durch eine ausreichende
Revitalisierung alter Bausubstanzen und kultureller Baudenkmäler eine Urbanisierung herstellen,
die ein symbiotisches Verhältnis zwischen Warenhäusern, Textilhäusern, Boutiquen und dem
Facheinzelhandel fördern.
Diese Strategie erscheint schon deshalb vorausschauend und notwendig, um einem weiteren
Abdriften der Kaufkraft zu den Stadträndern (beispielsweise Elbe-, Flora- und Saalepark)
erfolgreich entgegenzuwirken.
Daß sich der gesamte Dienstleistungssektor zum bisherigen Volumen überhaupt entwickeln konnte,
ist ein Indiz dafür, in welch hohem Maße die Einkommens- und Kaufkraftbindung der VW AG und
mit Abstand der BKB AG dazu beigetragen hat.
Die Hauptschubkraft des heimischen Handels und Handwerk resultiert hauptsächlich aus dem
hohen Lohn- und Gehaltsniveau der VW AG. Der tendenzielle Personalabbau im VW-Werk in
Wolfsburg und der weiter anhaltende Bedeutungsverlust der BKB AG wird sich auch auf die
Konsumnachfrage im Landkreis Helmstedt verstärkt auswirken.
104 Siehe:
Handwerkskammer Braunschweig, Jahresbericht 1992. Seite 10.
Ebenda, Seite 10.
106 Siehe: Braunschweiger Zeitung, Helmstedter Ausgabe, 20.10.1992.
107 Handelsblatt, 07.07.1993.
105 Siehe:
- 77 -
Anknüpfend am bestätigten Wirtschaftstrend, daß sich ein konjunktureller Rückgang in
wirtschaftlich schwächeren Gebieten besonders verstärkt auswirkt, ist diesbezüglich davon
auszugehen, daß der bereits eingetretene Umsatzrückgang im Handel und Handwerk sich nachhaltig
auf Umsatz, Rendite und letztlich auch Arbeitsplätze negativ auswirken wird.
Die Wirtschafts- und Steuerkraft des Landkreises wird beispielsweise durch die permanente
Reduzierung des Auspendleranteils ins Wolfsburger VW-Werk und die mit der Vier-Tage-Woche
verbundenen weiteren Einkommensreduzierung bei VW ab 01.01.1994 an Kaufkraft gravierende
Verluste verkraften müssen. Insbesondere der Handel und das Handwerk werden ein reduziertes
Umsatzvolumen haben.
Beispielsweise sind die Geschäfte in der Helmstedter Karutz-Markt-Passage zur Zeit nur zu 65%
ausgelastet und die Finanzierungsprobleme des Schuldners C. Karutz KG veranlaßten die
Gläubigerbank einen Zwangsverwalter einzusetzen.108
Die dynamische Entwicklungstendenz der EG bewirkt insbesondere für den heimischen Handel und
das Handwerk Risiken und Chancen zugleich. Typisch mittelständisch strukturierte Bereiche
werden unter zunehmenden Anpassungsdruck geraten und unter den Bedingungen veränderter
Wirtschaftsbeziehungen überregionale Verflechtungen (eventuell mit Kooperationspartnern)
verstärkt aufbauen müssen. Wer nicht über das Kapital oder „Know-how“ verfügt, gerät in erhöhter
Gefahr, den Anschluß an veränderte Bedingungen des Marktes zu verlieren.
Hierbei wären Perspektiven durch einen gezielten Kapazitätsausbau zu sehen, in der parallel zur
überwiegenden Nahabsatzorientierung eine regionale Verflechtung mit Marktspezialisierung auf
höherwertige Handwerksleistungen aufzubauen ist.
Eine diesbezügliche Gewerbeflächenbereitstellung für Unternehmen mit Erweiterungsabsichten
sollte vorausschauend zur Verbesserung der kommunalen Wirtschaftsstruktur rechtzeitig in Angriff
genommen werden. Diese Maßnahmen verlangen eine intensive Beratung und Betreuung der
ansässigen Betriebe und eine kontinuierliche Begleitung dieser Entwicklungsprozesse.
3.1.9 Ökonomische Indikatoren
Die tendenzielle Landflucht aus den Gemeinden hinterläßt verfallene Höfe. Der Restbestand von
landwirtschaftlicher Erwerbstätigkeit führt mit unter zu der Situation, daß Tätigkeiten und
Arbeitsabläufe sehr oft an wenigen, nicht selten sogar nur an einer einzigen Person hängen.
Eine negative Beeinträchtigung des Standortprofiles Stadt Helmstedt wird durch das
Atommüllendlager Morsleben bei Helmstedt gesehen. Erhebliche sicherheitstechnische Einwände
gegen den Weiterbetrieb des Atommüllendlagers Morsleben, insbesondere der Gefahrenverdacht
jenseits der genehmigten Betriebsphase, also nach dem 30.06. des Jahres 2000 und das
Gefährdungspotential einer vermuteten schleichenden Trinkwasserverseuchung, beinhalten
unkalkulierbare Gefährdungen der Wohn- und Arbeitsbevölkerung.
Als nicht vorteilhaft wird bewertet, daß der Landkreis Helmstedt über keine „Wasserstraße“
verfügt. Nördlich vorbei außerhalb des Landkreisterritoriums durchläuft der ca. 280 km lange
Mittellandkanal zwischen Hannover und Berlin Wirtschaftsräume, in denen ein Viertel aller
niedersächsischen Industriestandorte plaziert ist und in Sachsen-Anhalt steigt mit dem Ausbau
dieses Kanals auch die Zahl ihrer Anrainer.
Bis zum Jahr 2002 wird diese Schiffahrtsstraße vertieft und auf 42 Meter verbreitert werden. Bis
zum Jahr 2000 wird nicht nur der Güterverkehr zwischen Ost und West auf das Achtfache steigen,
sondern der Verkehr auf den Binnenwasserstraßen wird eine Renaissance erleben und um 85
Prozent zunehmen.109 (Siehe auch: Anmerkung110)
108 Siehe:
Braunschweiger Zeitung, Helmstedter Ausgabe, 18.02. 1994.
Hannoversche Allgemeine Zeitung, 02.07.1993.
110 Anmerkung: Der Mittellandkanal verbindet als zentraler Teil die Stromgebiete Rhein-Weser-Elbe-Oder. Er
stellt
die Verbindung der beiden deutschen Seehäfen her. Er besitzt damit eine große nationale und
europäische Bedeu109 Siehe:
- 78 -
Die Fahrplanänderungen der Deutschen Bundesbahn ab Sommer 1992 bewirkten für die Stadt
Helmstedt, daß die Intercity Haltestelle fortan gestrichen wurde.
Als wirtschaftliche Benachteiligung wird empfunden, daß Helmstedt über keine eigene
Tageszeitung verfügt, lediglich der redaktionelle Lokalteil der „Helmstedter Nachrichten“, als
Beilage in der "Braunschweiger Zeitung", erscheint in Anbetracht der eigenständigen Ausgaben
„Wolfsburger Nachrichten“ und „Salzgitter Zeitung“ (alle Braunschweiger Zeitungsverlage) als
lokale Benachteiligung. Ein ausgewiesenes Mittelzentrum, daß seine Bestimmungsfunktion als
solches prinzipiell erfüllt (siehe z. B. im Abschnitt Pendleranalyse), müßte den Mittelzentren
Wolfsburg und Salzgitter in der redaktionellen Präsenz und Priorität diesbezüglich gleichgesetzt
werden.
Wenn von einem „Negativimage“ des Landkreises gesprochen werden kann, so sind dessen
Ursachen vermutlich durch das Braunkohlerevier und das Kraftwerk Buschhaus, insbesondere
durch die zunächst nicht vorhandene Rauchgasentschwefelung, überregional begünstigt.
Ein weiterer vermuteter Negativindikator bestand durch den überregional bekannten
Grenzkontrollpunkt Helmstedt/Marienborn. Der Landkreis ist daher mit Assoziationen belegt, die
mit der Deutschen Teilung und die damit verbundenen Wartezeiten und anderen
Unannehmlichkeiten verbunden waren.
Folgende Anhaltspunkte können als positiv herausgestellt werden:
Die (noch) attraktivere Infrastruktur, vor allem im Wohnbereich, zu den Nachbarlandkreisen
Sachsen-Anhalts.
Die in Teilbereichen durchaus vorhandene ländliche Lage, insbesondere der Elm und Lappwald,
bildet für das Fremdenverkehrsgewerbe eine solide Ausgangsbasis ihrer erfolgreichen Aktivitäten.
Als ländlicher Raum mit Verdichtungsansätzen bietet der Landkreis für diejenigen
Bevölkerungsgruppen, welche nicht innerhalb urbaner Agglomerationen leben möchten,
weitgehend zufriedenstellende bis gute Standortqualitäten. Insofern kann diese Plazierung zwischen
den dominierenden Produktions- und Dienstleisungszentren von Wolfsburg, Braunschweig und
(zukünftig) Magdeburg als günstig bewertet werden.
Von einem „Erdrückungssyndrom“ dieser umliegenden Ober- und dem Mittelzentrum auf den
Landkreis kann nicht die Rede sein, insofern die Qualitäten dieser zentralen Plazierung erkannt und
anhand einer konzeptionellen Strategie die hier analysierten Defizite kontinuierlich abgebaut
werden.
Die räumlich direkte Anbindung zur europäischen Ost-West-Wirtschaftsachse als zukünftig wohl
bedeutendstes europäisches Entwicklungsband eröffnet dem Landkreis langfristig noch ungeahnte
Entwicklungsmöglichkeiten.
3.1.10 Zusammenfassung
Erklärungsansätze zur ökonomischen Problemstellung des Landkreises sind auch vor dem
Hintergrund gesamtwirtschaftlicher Entwicklungen von Deutschland, Norddeutschland,
Niedersachsen und Südostniedersachsen zu sehen.
Hieraus kann eine insgesamt problematische Ausgangslage für die traditionell strukturschwächeren
Teilräume abgeleitet werden, insbesondere in ländlich peripheren Landkreisen mit
Verdichtungsansätzen wie im Landkreis Helmstedt.
tung, die mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten gestiegen ist. Der Ausbau des Kanals dient dem
Gütertransport mit dem wirtschaftlichsten, energiesparsamsten, umweltfreundlichsten und sichersten Verkehrsträger.
In Niedersachsen liegt ein Viertel der Industriebetriebe und die Hälfte aller
Arbeitsplätze der Industrie an diesem
Kanal (Strom, Eisen, Stahl, Zement, Dünger, Baustoffe, Brennstoffe, Getreide). Momentan werden jährlich 16 Mio t.
Güter umgeschlagen, und man rechnet mit 33 Mio. to. im
Jahr 2000.
- 79 -
Die wirtschaftsstukturellen Gegebenheiten in der Landkreisentwicklung sind vorwiegend von einer
starken Präsenz von Wirtschaftszweigen gekennzeichnet, die zu den „Verlierern“ im
Strukturwandel zählen: Insbesondere im Bergbau, im verarbeitenden Gewerbe (Kunststoff- und
Gummiverarbeitung, Automobilzulieferer, Textilindustrie und Baugewerbe), sowie im
Dienstleistungsbereich (haushalts- und gesellschaftsbezogene Dienstleistungen), sind für die
zukünftige Entwicklung eher ungünstige Beschäftigungsmöglichkeiten zu erwarten.
Die hohe Konjunkturempfindlichkeit der Gesamtwirtschaft, die niedrige Arbeits- und Kapitalproduktivität, die hohe „Fernsteuerung“ von außen auf die heimischen Zweigwerknieder-lassungen,
sowie die äußerst geringe Forschungs- und Entwicklungsintensität, die unzureichende
Investitionstätigkeit der Unternehmen und die unter extremen Strukturanpassungsprozeß im
Straßenfahrzeugbau nebst zugeordneter Zulieferbranchen stehende Automobilindustrie, lassen in
ihrer Gesamtheit auch für die Zukunft eine negative konjunkturelle und strukturelle wirtschaftliche
Entwicklung prognostizieren.
Zusammenfassend ist eine geringe Branchendichte im Landkreis Helmstedt zu verzeichnen.
Problematisch sind die in erster Linie wachstumsschwachen Branchen, in denen die
Unternehmensstruktur auf überwiegend produzierende Funktionen (Montagebetriebe) ausgerichtet
ist, die kurzfristig hinsichtlich der Qualität der Arbeitsplätze eher eine weitere Vertiefung der
Landkreisdiskrepanzen auslösen und mittelfristig vermutlich auch nicht konkurrenz- und
überlebensfähig sind, weil mehrheitlich
- international nicht wettbewerbsfähige
Zweigwerksbasis anbieten;
Produkte,
teilweise
Vormontagetätigkeit
auf
- einige Betriebe als „verlängerte Werkbänke und Konjunkturpuffer“ fungieren;
- „Muttergesellschaften“ in der Regel außerhalb des Landkreises angesiedelt sind;
- Defizite im tertiären Sektor, insbesondere im wirtschaftsorientierten Dienstleistungsbereich
aufweisen;
- eine nur ungenügende Wirtschaftsdiversifizierung und zu geringen Verflechtungstendenzen von
ansässigen Unternehmen vorweisen und
- eine schwach ausgeprägte Entwicklung der Wirtschaftssektoren mit jeweils äußerst
wachstumsstagnierender Strukturen, (Ausnahmen: Komsumgüter-, Nahrungs- und
Genußmittelsektor) im Wirtschaftsgefüge besitzen.
In der Bruttowertschöpfung fällt der Landkreis Helmstedt ab der zweiten Hälfte der 70er Jahre
zunehmend zurück und muß in den Untersuchungszeitabschnitten 1980/86 überdurchschnittliche
Verluste und von 1980/88 unter Zugrundelegung der Marktpreise die geringste Steigerungsrate im
aufgeführten Raumvergleich verbuchen.
Diese negative Entwicklungstendenz setzte sich im Zehnjahresvergleich von 1980 bis 1990
weiterhin fort, wo der Landkreis Helmstedt als regionales „Schlußlicht“ innerhalb
Südostniedersachsen den letzten Platz einnimmt.
Es kristallisierte sich heraus, daß die ökonomische Entwicklung des Landkreises, insbesondere von
1980 bis 1992, nur bedingt auf die extreme Randlage in der Bundesrepublik und der Europäischen
Gemeinschaft bis September 1989 zurückzuführen ist.
Interpretiert man die negativen Entwicklungsverläufe der Gesamtbeschäftigtenanzahl und der
niedrigen Industriedichte und unterstellt man einen Zusammenhang von Produktivität und
unterdurchschnittlichen Lohn- bzw. Gehaltsniveau, dann weisen diese Indikatoren eindeutig auf
eine Arbeitsplatzdisparität zu Ungunsten der Wirtschaftsstruktur im Landkreis Helmstedt hin,
(siehe auch Ziffer 11 und 12 aus der Tabelle III. 4).
- 80 -
Insgesamt kann aus der Interpretation von Tabellen, Analysen und Befragungsergebnissen davon
ausgegangen werden, daß die im Landkreis Helmstedt angesiedelten Unternehmen zumeist am
unteren Ende der Produktivitäts- und Qualitätsskala angesiedelt sind.
Das Entwicklungsdefizit des Wirtschaftsraumes Landkreis Helmstedt beruht daher weitgehend auf
die zu geringe Bestandsdichte, der Wachstumsschwäche und des niedrigen technologischen
Entwicklungsstandards der heimischen Wirtschaft.
Der ökonomischen Landkreisentwicklung können zwei weitere Aspekte hinzugeführt werden:
Die attestierte geringe Branchendichte zementiert die traditionelle Problematik eines „ZentrumPeripherie-Gefälles“ zwischen dem ökonomisch strukturbestimmenden Kernen Wolfsburg (mit
abnehmender Tendenz) und Braunschweig ( mit aufsteigender Tendenz), und den
Nachbarlandkreisen (Gifhorn und Wolfenbüttel) gegenüber dem ausgesprochen struktur-schwachen
Landkreis Helmstedt.
Die Abhängigkeit der ökonomischen Landkreisentwicklung von nur zwei „Monopol-unternehmen“
(BKB AG und VW AG) ist anstatt kleiner, noch größer geworden.
Ein ökonomisches Kompensationsinstrumentarium zum Bedeutungsverlust der BKB AG und des
einschneidenenden Personalabbaus in der VW AG steht nicht zur Verfügung.
Der noch größte Arbeitgeber im Landkreis Helmstedt - die BKB AG - zeigt (außer bei der
Energieversorgung) exemplarisch die zu geringe Verflechtungstendenz in der Regional-wirtschaft
auf.
Weder aus betriebswirtschaftlicher, volkswirtschaftlicher und strukturpolitischer Sichtweise
ergeben sich objektivierende Gründe für eine Aufschließung des Braunkohlerestaufkommens unter
Emmerstedt.
Das Absinken der zentralörtlichen Stellung der Stadt Schöningen und übriger Gemeinden im
gesamten Südkreis des Landkreises Helmstedt ist hauptsächlich auf die Erschöpfung des
monostrukturierten, großflächigen Braunkohleabbaues als Basis der industriellen Entwicklung
zurückzuführen.
Die heutige mangelnde Konkurrenzfähigkeit der Restbraunkohle in einer letztendlich
„ausgeräumten Landschaft“ stellt für den gesamten Südkreis einen entwicklungshemmenden Faktor
dar, der zugleich ein Erklärungsansatz für das innerregionale „Nord-Südost-Gefälle“ in
Südostniedersachsen darstellt.
Die diesbezüglich relative Entleerung, ungünstigere Alterstruktur und äußerst geringe
Branchendichte im Südkreis kontrastiert deutlich zum Nordteil Südostniedersachsens, wo bedingt
durch die (zurückliegende) ökonomische Prosperität des VW Standortes in Wolfsburg direkt
umliegende Gemeinden und in seiner Gesamtheit der Landkreis Gifhorn besonders begünstigt
wurden.
Durch den Wegfall der innerdeutschen Grenze sind zwar langfristig beurteilt qualitativ neue
Chancen und Entwicklungsperspektiven für die Landkreisentwicklung gegeben. Kurzfristig
vermochte die spürbare Aufwärtsentwicklung aber nur vorübergehend sein, welche die strukturellen
Probleme dieser Gegend verdecken, jedoch nicht lösen konnten.
Die großräumige Problemlage der Braunkohleförderung ist insgesamt als altindustriell zu
klassifizieren und geht ihrer endgültigen Schließungsphase entgegen. Ferner zeigen die neuen
Produktions- und Organisationskonzepte in der VW AG ihre ersten personalpolitischen Wirkungen.
Das Wirtschaftgefüge im Landkreis wird auch in Zukunft überdurchschnittliche
Strukturanpassungen vor allem in den Branchen der verbliebenen industriellen Restbasis verkraften
müssen.
- 81 -
Der Wirtschaftsraum Landkreis Helmstedt kann auch als Ausgleichgebiet, quasi als flankierender
Bestandteil für das am Wertschöpfungszuwachs orientierte Mittelzentrum Wolfsburg und das
Oberzentrum Braunschweig eingeordnet werden.
Diese Untersuchung weist auf die mangelnde Wirksamkeit von Wirtschaftsför-derungsmaßnahmen
in der Vergangenheit hin, obwohl die Hauptprobleme nur in begrenzter Weise auf regionaler Ebene
lösbar waren. Trotzdem sind die bestehenden Handlungsspielräume zum Beispiel einer
„vorausschauenden Wirtschaftsförderungs-konzeption“ offensichtlich nicht genutzt worden.
Nach Ablauf der Fördermittelzuschüsse, die nach dem „Gießkannenprinzip“ verteilt wurden, hat in
der Regel auch eine Verlagerung der Produktionsstätten in andere Regionen stattgefunden.
Die Förderpräferenzen bewirkten rückblickend betrachtet keine Initialzündung sondern primär
Mitnahmeeffekte.
Unter Zugrundelegung der Indikatoren einer schwach ausgeprägten wirtschaftlichen
Gesamtdynamik im Landkreis und eines Strukturwandels in der Automobilbranche und des übrigen
produzierenden Gewerbes, konnten sich die Impulse durch die Einheitskonjunktur für Wirtschaft
und Beschäftigung auch nur als vorübergehend und kurzfristig erweisen.
Die Rezession zieht „sparsamere Bürger“ nach sich: Vier-Tage-Woche bei VW, weniger öffentliche
Aufträge und ein dichter werdendes Händler- und Handwerksnetz in Sachsen-Anhalt minimieren
das hiesige Umsatzvolumen. Handel und Handwerk werden die Rezession sicherlich überstehen,
vermutlich auf niedrigerem Niveau.
Etwaige Potentialfaktoren, auf der Grundlage von vorhandenen effizienten Teilwirtschaftsstrukturen oder einer gezielte Engpaßbeseitigung von diesbezüglichen Fehlentwicklungen, sind
aufgrund der analysierten geringen ökonomischen Substanz von den Umsetzungsmöglichkeiten und
der Effizienz her als relativ gering einzuschätzen, zumal produktionsnahe, an der wirtschaftlichen
Prosperität orientierte Dienstleistungen kaum angesiedelt sind.
Der Standort von primär „verlängerten Werkbänken“ gerät schon deshalb in Gefahr, weil sich diese
durch die Wirtschaftsöffnung Osteuropas in der Tendenz dorthin verlagern.
Die bisherigen Ergebnisse reichen zu der Feststellung, daß der Landkreis Helmstedt Gefahr läuft,
die aus der veränderten Situation der Deutschen Einheit resultierenden Anpassungsschwierigkeiten
nur bruchstückhaft bzw. ansatzweise zu lösen und für die Zukunft den Anschluß an vergleichbare
sozialökonomische Bedingungen (im direkten Vergleich zu anderen Landkreisen) endgültig zu
verlieren.
In Folge des wirtschaftlichen Zusammenbruchs in den neuen Bundesländern und der momentan
anhaltenden tiefen Rezession in den alten Bundesländern, muß mit einer weiteren Abnahme der
industriellen Arbeit im Landkreis Helmstedt insgesamt gerechnet werden.
Der Landkreis Helmstedt zeigt exemplarisch auf, daß sich die Probleme von traditionell
strukturschwächeren Räumen tendenziell eher vergrößern, statt sich dem notwendigen Ausgleich
anzunähern.
Die Annahme einer räumlichen Ungleichgewichtigkeit ist aufgrund der ökonomischen
Teiluntersuchung anhand der aufgezeigten Indikatoren und Analysen bestätigt worden. Das
ökonomische Gefüge des Landkreises Helmstedt ist in seiner Gesamtheit als strukturschwach
einzustufen und es kann unterstellt werden, daß hemmende Faktoren in Form einer Landkreistypenbedingten funktionalen Unterentwicklung existieren.
Die funktionale Arbeitsteilung in der Wirtschaftsstruktur ist vorwiegend dadurch geprägt, daß sich
in den Unternehmenszentralen die Forschungs- und Entwicklungsaktivität konzentrieren, während
die Fertigungsaktivitäten in die ländlich-peripheren Räume, beispielsweise in den Landkreis
Helmstedt, ausgelagert wurden. Die zunehmende Internationalisierung der Wirtschaftszweige
beeinträchtigt in erster Linie diese produktionstechnischen Randgebiete.
- 82 -
Die analysierten Strukturentwicklungsdefizite in der Wirtschaft im Landkreis können allein durch
die Kräfte des freien Marktes nicht behoben werden. Das enorme Ausmaß des erforderlichen
Strukturwandels erfordert eine überregionale Koordination durch die „öffentliche Hand“ und
erscheint ausschließlich auf Basis marktwirtschaftlicher Einzelmaßnahmen auch in Ansätzen nicht
lösbar zu sein.
Die aufgezeigten ökonomischen Disparitäten lassen anscheinend nur eine Möglichkeit zu, nämlich
den Strukturwandel beschleunigt einzuleiten.
Der für den Landkreis Helmstedt existentiell notwendige ökonomische Strukturwandel kann in
Folge dessen aber nur gelingen, wenn die hiesige Wirtschaft und die Gebietskörperschaften von der
niedersächsischen Landesregierung auch die Verbindlichkeit bekommen, daß sie
schwerpunktmäßig und zielorientiert Unterstützungen und Förderungen erhalten, die den Landkreis
insgesamt attraktiver und unabhängiger von der Automobilindustrie in seinem zukünftigen
Entwicklungsverlauf gestalten.
Das Amt für Wirtschaftsförderung sollte in Koordination mit den Städten und Gemeinden im
Landkreis unkonventionelle und flexible Strategien entwickeln, die darauf abzielen, eine
ausreichende Basis für den notwendigen Strukturwandel herbeizuführen, (siehe Kapitel 17.6) der
aus eigener Kraft und ohne Koordinierungsgrundlage nicht bewältigt werden kann.
3.1.11 Szenario
Bewältigung des regionalen Strukturwandels
Die kurzfristigen Wachstumsimpulse, die bedingt mit der Öffnung der innerdeutschen Grenze
zustande kamen, überdeckten und verschoben den langfristig sektoralen Strukturwandel,
insbesondere im Landkreis Helmstedt.
Bereits ab Mitte 1992 setzte auch hier wieder die gleiche Grundtendenz des prägenden Musters
einer stagnierenden Wirtschaftsentwicklung ein und es ist davon auszugehen, daß die
entwicklungsschwache Industriestruktur und gering ausgeprägte Industriedichte durch eine
zukünftig ungünstige ökonomische Entwicklung geprägt sein wird.
Es ist zu befürchten, daß Standorte, die agglomerationsbezogen ungünstiger liegen und aufgrund
ihrer peripheren Lage erhebliche Strukturschwächen aufweisen, von den zunehmenden
ökonomischen Verflechtungen äußerst gering profitieren werden.
Um so mehr werden zukünftige Entwicklungsmöglichkeiten entscheidend davon abhängen, ob
eigene regionale Mobilitätsfaktoren zur erfolgreichen Bewältigung des ökonomischen
Strukturwandels eingeleitet werden können, die sowohl in der Lage sind, die erforderlichen
technologischen Potentiale aufzubauen und zu stabilisieren, als auch die anvisierte Innovationskraft
langfristig für die wirtschaftliche Landkreisentwicklung abzusichern.
3.2 Ursachen, regionale Auswirkungen der wirtschaflichen Krise und Perspektiven der
VW -AG, unter Einbeziehung der Automobilzulieferer
3.2.1 Einleitung
Rezession, allmähliche Marktsättigungsgrenzen, globale Umweltbelastungen und Chaos im
tagtäglichen Verkehr auf verstopften Straßen führen dazu, daß die Anzahl der zugelassenen Pkws in
den Industrieländern kaum noch zunimmt. Die Hersteller kämpfen im wesentlichen nur noch um die
Verschiebung der Marktanteile, wobei neuerdings sogar der Gerichtssaal strategisch genutzt wird
(siehe Rechtsstreit zwischen A. Opel AG und VW AG), um Marktchancen der Konkurrenten zu
minimieren.
- 83 -
Für die deutsche Automobilindustrie und insbesondere die Volkswagen AG111 sieht es dabei
besonders negativ aus, weil zum Absatzeinbruch die Strukturkrise hinzugekommen ist. Es erscheint
nicht ausgeschlossen, daß die Prognose vom Verband der Automobilindustrie112 Realität werden
könnte, die nochmals einen Verlust von 90.000 Arbeitsplätzen in der deutschen Automobilindustrie
befürchtet.113 Bereits 1992 hat die gesamte Automobilindustrie in der Bundesrepublik Deutschland
einschließlich der Zulieferer die Belegschaft um 40.000 auf 733.000 Beschäftigte reduziert.114
Die Hauptursache der Rentabilitätsproblematik ist nicht das hohe Lohnniveau, sondern die Haltung
der Automobilmanager, die es offensichtlich verpaßten, in der Erfolgsphase die Strukturweichen für
die Zukunft auf Grundlage von Innovationen und den Gesetzmäßigkeiten der internationalen
Konkurrenz zu stellen. Konzepte aus den 50er, 60er und 70er Jahren haben keine Chance mehr,
insbesondere gegen die japanische Industrie, die erforderliche Wettbewerbsfähigkeit zu erreichen.
Global geht es dabei auch um den Industriestandort Bundesrepublik Deutschland und als Teileinheit
betrachtet um die Zukunft der Wirtschaftsregion Südostniedersachsen.
Der deutliche Umbruchprozeß industrieller Arbeit verdeutlicht gleichzeitig, daß das Produkt
Kraftfahrzeug im Grunde genommen den Höhepunkt seines „Lebenszyklus“ (s.o. 3.1.7.19 in
hiesigen Breitengraden erreicht hat und sich bereits in der Schrumpfungsphase befindet, ja sich
sogar unter Zugrundelegung der Teilbetrachtung einer Nettobeschäftigungsentwicklung deutlich in
Richtung Teilschließungsphase bewegt.
Das Untersuchungsinteresse an der VW AG in Wolfsburg basiert aufgrund einer deutlichen
Abhängigkeit des Landkreises Helmstedt sowie der ganzen Region Südostniedersachsen von der
Entwicklung dieses zentralen VW - Werkes.
Das Werk in Wolfsburg mit Marken- und Konzernvorstand der VW AG ist mit über 47.700
Beschäftigten (Stand Ende 1993) der weltweit größte Produktionsstandort in der
Automobilindustrie.
Die ausgeprägte und einseitige Pendlerbewegung (arbeitstäglich 9300 (1991) und 8.756 (1992)
Berufsauspendler115) aus dem Landkreis Helmstedt ins Wolfsburger VW Zweigwerk, als größter
Arbeitgeber außerhalb der Kreisgrenze, zeigt die besonders abhängige interregionale Verflechtung
exemplarisch auf.
Mit dem Käfer der einst die ganze Welt eroberte und lief und lief (das historische Orginalzitat hieß:
und läuft und läuft ...) entstand eine Legende. Mit dem Nachfolger Golf (der statusneutral und damit
schichtübergreifend aller Käufergruppen erfaßt und einer ganzen Autoklasse den Namen gab)
wurde die Erfolgsgeschichte fortgeschrieben. Doch jetzt scheint die Marke VW in Turbulenzen
geraten zu sein. Produktionsabsatz und Verkaufszahlen, von denen sich auch VW Manager blenden
ließen, könnten tatsächlich bis zum Herbst 1992 kaum besser sein. Dennoch brachte der
Autoverkauf der VW AG selbst im Rekordjahr 1992 den Verlust von mehr als einer Milliarde Mark
ein.
Nach acht Jahren ungebrochenen Wachstums in der Automobilindustrie setzt ab Herbst 1992 ein
Abschwung ein, der sich auch in den nächsten Jahren vermutlich fortsetzten wird. Internationale
Konkurrenz, eine verschlechterte Absatzlage sowie eine zunehmend konzerninterne
Standortkonkurrenz bewirken für Wolfsburg, als Konzerngeschäftssitz, eine Neubewertung der
Standortproblematik, deren Auswirkungen auch den Landkreis Helmstedt direkt betreffen.
Der aktuelle Konjunktureinbruch in der Automobilindustrie machte tiefgreifende Strukturprobleme
in der VW AG sichtbar, die man seit Jahren vor sich hergeschoben hatte. Wachsende
Überkapazitäten und ruinöse Preiskämpfe, ungelöste Verkehrs- und Umweltprobleme: Der
111
Anmerkung: Volkswagen AG im folgenden VW AG genannt.
Anmerkung: Verband der Automobilindustrie im folgenden VDA genannt.
113 Siehe: Frankfurter Rundschau, 26.08.1993.
114 Siehe: Handelsblatt, 02.07.1993.
115 Siehe: VW interne Personalstatistik, Einzugsbereich Werk Wolfsburg, 31.12.1991 und 31.12.1992.
112
- 84 -
renditeschwache Automobilkonzern in der Verschwendung von Organisation und Management
förderte Beschäftigungsprobleme und neue Standortkonkurrenz herauf.
Da sich die Rezession in der Automobilindustrie ohne Zeitverzögerung auf die Zulieferindustrie
übertrug und aufgrund der Verringerung der Fertigungstiefe die Zulieferindustrie durch ein
größeres Fertigungsvolumen einen höheren Bedeutungsumfang erhält, werden im folgenden auch
die direkten Auswirkungen dieser veränderten Produktionsstrukturen auf die Region
Südostniedersachsen und deren mögliche Konsequenzen auf den Landkreis Helmstedt untersucht.
Es wäre inkonsequent, die bereits vor Jahren prognostizierte Strukturkrise in der
Automobilindustrie zu ignorieren. Die tiefgreifenden arbeitsmarkt- und strukturpolitischen
Veränderungen werden auch den Landkreis Helmstedt nachhaltig beeinflussen.
Ursachen und Hintergründe, deren beschäftigungs- und regionalpolitische Auswirkungen, werden
systematisch im folgenden analysiert.
3.2.2 Personalabbauplanungen
Nach einem Personalabbau Mitte der 70er Jahre konnte durch eine günstige Nachfrage-entwicklung
(speziell des Absatzbooms durch Golf, Jetta bzw. Vento und Polo) wieder der
Gesamtbeschäftigungsstand von Anfang der 70er Jahre erreicht werden. Zur vorläufigen
Stabilisierung des Beschäftigungsstandes trug auch der Ausbau werksübergreifender Aufgaben
(Forschung und Entwicklung, Controlling, Vertrieb, Rechnungswesen, Marketing und
Kundendienst) im gewerblichen Bereich bei.
Aufgrund konjunktureller und struktureller Anfällligkeiten der Automobilbranche konnte diese
Entwicklung
einer
vorübergehend
relativen
Personalkonstanz
keine
individuelle
Arbeitsplatzsicherheit garantieren. Die durch eine Automobilmonostruktur gekennzeichnete
krisenanfällige Region umliegender Städte und Landkreise in Südostniedersachsen, ist permanent
von überdurchschnittlich hoher Konjunkturanfälligkeit der Automobilindustrie (inklusive
Zulieferindustrie) geprägt.
Personalpolitische Anpassungsmaßnahmen während der Rezessionsphase 1974/75 bewirkten eine
höhere Abwanderungsquote vornehmlich qualifizierter und jüngerer Arbeitsmarkt-kräftegruppen,
die sich in den Wanderungsbilanzen und der Altersstruktur Südostniedersachsens auswirkten.116
Im folgenden soll auf diesen Teilzusammenhang näher eingegangen werden: Durch das
Personalplanungsinstrument der „Aufhebungsverträge“ sind während der Rezessionsphase 1974/75
bei VW betriebliche Anpassungsmöglichkeiten bei überschüssigem Arbeitsvolumen umgesetzt
worden.
Die Aufhebungsverträge dienten der Durchsetzung spezifischer Selektionsinteressen beim gezielten
Personalabbau. Strategisch sollte die sogenannte "Randbelegschaft" mit eher weniger
Qualifikationsniveau abgebaut werden. Statt dessen machten von den befristeten
Aufhebungsverträgen
größtenteils
die
qualifizierteren
Arbeitsmarktgruppen
der
"Stammbelegschaft" Gebrauch.117
Deren Abwanderung in vornehmlich industriell prosperierende Regionen führte in seiner
Gesamtheit mit zu einer negativen Bevölkerungsentwicklung: Die Bevölkerung nahm von 1970 bis
1987 in Südostniedersachsen um 4,2% ab, im Landkreis Helmstedt dagegen war ein Rückgang von
9,5% zu verzeichnen.118
116
Siehe: Schultz-Wild, R. Betriebliche Beschäftigungspolitik in der Krise. Frankfurt/New York 1978. Seite
56ff.
Siehe: Schultz-Wild, R. Ebenda, Seite 62ff.
118 Siehe: Lompe, K., Rehfeld, D., u.a. Regionale Bedeutung und Perspektiven der Automobilindustrie, Düsseldorf
1991. Seite 31.
117
- 85 -
Gründe für diese negative Bevölkerungsentwicklung „spiegeln die extreme Randlage der Region
mit hohen Abwanderungsquoten wegen geringer Erwerbsmöglichkeiten besonders bei Menschen
im erwerbsfähigen Alter wider.“119
Dadurch wird die Abhängigkeit umliegender Kommunen auch von Managerentscheidungen
exemplarisch sichtbar. Jüngere und durchschnittlich höherwertig ausgebildete Arbeitnehmer mit
Kernqualifikationen (Facharbeiter, Angestellte) waren deutlich flexibler als un- und angelernte
Arbeitskräfte.
Diese Fluktuationen trugen außerdem dazu bei, daß sich in den betroffenen umliegenden
Landkreisen Erwerbstätige mit überdurchschnittlichen „Randqualifikationen“ und einer
ungünstigen Altersstruktur ohne wesentliche Suburbanisierungsimpulse gerade in ländlichen
Räumen in mittlerer Entfernungsdistanz zum VW Zweigwerk Wolfsburg, wie z.B. in dem im
Südosten liegenden Landkreis Helmstedt, konzentrieren.
Die Bevölkerungsentwicklung der Städte, Einheits- und Samtgemeinden im Landkreis Helmstedt
verzeichnete von 1971 bis 1985 einen negativen Wanderungssaldo.120
Die Strukturschwäche des Landkreises kann insofern nicht nur bedingt durch die Randlage des
ehemaligen Grenzgebietes, sondern auch durch die Automobilmonostruktur und dem nicht
Vorhandensein alternativer Wachstumsbranchen gedeutet werden.
Andererseits konnten Arbeitnehmer/innen in den 80er Jahren durch zeitlich befristete
Einstellungsschübe bei VW (die aufgrund von Nachfragespitzen in Boomphasen auftraten) eine
relative Teilentlastung des regionalen Arbeitsmarktes bewirken. So konnten massive Entlassungen
in den Bereichen Optik, Unterhaltungselektronik, der feinmechanischen Industrie und in der
Verpackungsindustrie Südostniedersachsens noch zum Teil durch die Automobilindustrie
aufgefangen werden, die einen Teil der entlassenen Arbeitnehmer/innen übernahm.
In Südostniedersachsen weisen Bevölkerungsentwicklungen und Erwerbsstrukturen auf eine
primäre Abhängigkeit von der Automobilindustrie hin. Abwanderungen und höhere
Bevölkerungsrückgänge im Vergleich zum Bundesdurchschnitt durch den Teilverlust des
mehrheitlichen dynamischen Bevölkerungspotentials zeigen die negativen Seiten dieser einseitig
bedingten wirtschaftlichen Gesamtsituation.
Eine Auflockerung dieser krisenanfälligen Monostruktur konnte nie erreicht werden.
1974/75 ging es primär um die Fragestellung, ob es sich um einen vorübergehenden
konjunkturellen Einbruch handelte, oder ob ein struktureller Veränderungsprozeß in Gang
gekommen war, durch den das Gewicht dieses Industriezweigs in der Volkswirtschaft gemindert
würde.121
Die Konjunkturkrise konnte durch eine neue und zeitgemäße Modellpolitik (der „Käfer“ war nicht
mehr konkurrenzfähig) erfolgreich überwunden werden. Das gelang der VW AG allerdings nur
durch das bei Fusionen (Audi und NSU) hinzugewonnene „Know-how“. VW war in den 70er und
in der ersten Hälfte der 80er Jahren nicht in der Lage, trotz der mit hohem finanziellen Aufwand
konzipierten und personalintensiven „Forschung und Entwicklung“, selbständig ein
konkurrenzfähiges Produkt auf den Markt zu bringen. Das Arbeitsplatzstabilisierende
Erfolgsmodell „Golf“ basierte auf Audi/NSU-Ingenieurleistungen, der „Passat“ war ein „Audi 80“
Schrägheckmodell und der „Polo“ ein „Audi 50“ Parallelmodell. Der zuvor auf dem Markt
eingeführte „K-70“, für den 1970 in Salzgitter ein neues Zweigwerk gebaut wurde, (erster
wassergekühlter Motor von VW mit Vorderradantrieb) stammte von NSU.
119
Lompe, K., Rehfeld, D., u.a. Ebenda.
Siehe: Landkreis Helmstedt. Regionales Raumordnungsprogramm 1987. Seite 74 ff.
121 Siehe: Schultz-Wild, R. Ebenda, Seite 190.
120
- 86 -
Die zukünftigen Entwicklungstrends im Automobilbau mit ihren tiefgreifenden Konsequenzen
wurden mit fachweltweiter Resonanz exemplarisch von „Massachusetts Institute of technology“
untersucht.122
Die tiefgreifenden Veränderungen werden als „die zweite Revolution in der Automobilindustrie“
definiert. Ein „Schock für die deutschen Automobilhersteller“, kommentiert die „Frankfurter
Allgemeine Zeitung“ und der „Spiegel“ kommt zum alarmierenden Ergebnis: „Die herkömmliche
Massenfertigung hat kaum noch Zukunft.“
Die Fertigungstiefe wird durch das Konzept einer lean production in die Zulieferindustrie
ausgelagert, die sich in umliegende Regionen auf just-in-time Basis niederlassen.
Rückblickend überdeckte die unerwartet positive Branchenkonjunktur der 80er Jahre die Tatsache,
daß ab 1985 bereits wieder strukturelle Abbautendenzen auf der Ebene der betrieblichen
Arbeitsorganisation bei VW wirksam wurden.123
Während 1975 hauptsächlich Arbeitskräftegruppen mit geringen spezifischen Qualifikationen
gefährdet waren, ihren Arbeitsplatz zu verlieren,124 ist die betriebliche Beschäftigungspolitik der
Gegenwart von dem Erscheinungsbild geprägt, daß auch Facharbeiter und besonders
kaufmännische und technische Angestellte von Arbeitslosigkeit im gleichen Ausmaß betroffen sind.
So werden beispielsweise bei der geplanten Auslagerung von komplexen Produktionsbereichen
Bereichs- oder Unterabteilungsleiter genauso betroffen sein wie un- und angelernte
Mitarbeiter/innen.
Auch die im industriellen Kernbereich verbleibenden Produktionsbereiche werden von
einschneidenden Reduzierungen der Hierarchieebenen betroffen sein.
„Insgesamt beschäftigt VW rund 1000 Führungskräfte, davon rund 100 Bereichsleiter, etwa 250
Hauptabteilungsleiter und rund 650 Abteilungsleiter. Schätzungen laufen darauf hinaus, daß etwa
20 Prozent dieser Stellen künftig wegfallen.“125
Im Zeitalter des „Lean-Management“ werden in Folge dessen sogar oberste Hierarchiestufen vom
Personalabbau nicht verschont.
Innerhalb eines Zeitrahmens von 5 Jahren beabsichtigt der neue VW Vorstandsvorsitzende F. Piëch,
die bei VW bis zu acht existierenden Hierarchieebenen bis auf drei abzubauen:
- „Oberer Führungskreis“:
Vorstand und Bereichsleiter.
- „Führungskreis“:
Haupt- und Abteilungsleiter.
- „erweiterter Führungskreis“: Unterabteilungsleiter, Abteilungsleiter und Meister.126
Nach Vorstandsplänen sollen die Fertigungs- und Dienstleistungstiefen drastisch gesenkt, die
Fertigungszeiten gekürzt, die Betriebsnutzungszeiten auf drei Schichten ausgedehnt, außerdem die
Lagervorräte abgebaut und die Teilevielfalt pro Motor und Auto verringert werden.127
Diese Maßnahmeschritte verdeutlichen das damit verbundene erhebliche Freisetzungspotential von
direkt betroffenen VW Mitarbeiter/innen.
122 Siehe: Womack, James P., u.a., Die zweite Revolution in der Automobilindustrie. Campus Verlag.
1992. S. 24ff.
123 Siehe: Lompe, K., .Rehfeld, D. Ebenda, Seite 126.
124 Siehe: Schultz-Wild, R. Ebenda, Seite 61.
125 Siehe: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 15.07.1993.
126 Siehe: Wolfsburger Allgmeine Zeitung, 03.04.1993.
127 Siehe: Manager-Magazin, Nr. 4, 1992, Seite 42.
Frankfurt
- 87 -
„Allein im Werk Wolfsburg sollen 15.800 Stellen verschwinden, die Arbeitsproduktivität (je
theoretischer Fertigungseinheit) soll um 61 Prozent, die Kostenproduktivität (je theoretischer
Fertigungseinheit) soll um 26 Prozent steigen.“128
Auf dem Weg dahin soll die Fertigungsproduktivität im Wolfsburger VW-Werk für 1994 um 25
Prozent gesteigert werden.129
Diese radikale Minimierung der Kostenstrukturen ist unter der Annahme eines Absatzbooms
konzipiert. Anders formuliert: Wenn die Absatz- und Ertragsziele durch eine Verschlechterung der
Rahmenbedingungen (Konjunktureinbruch) verfehlt werden, droht ein personalpolitischer Absturz
mit tiefgreifenden Folgen für die gesamte Region Südostniedersachsen.
Auch die zeitweise beabsichtigte vorzeitige Streichung der bis Ende 1994 auslaufenden und bei
VW bewährten „58er-Regelung“, einer vorzeitigen Verrentung, würde den sozialverträglichen
Sozialabbau erheblich erschweren. Der Spielraum des Management, die Anzahl der Beschäftigten
sozialverträglich zu verringern, wird sich durch den Wegfall der „58er-Regelung“ allein auf das
Instrument der Fluktuationsrate beschränken.130
Der vom VW Management zunächst beabsichtigte Personalabbau in den inländischen Werken in
einer Größenordnung von offiziell 12.500 Beschäftigten bis 1994 „sei ohne die 58er Regelung nicht
realisierbar“131 meinte VW Gesamtbetriebsratsvorsitzender K. Volkert und fügte hinzu: „Wenn
dieses sozialverträgliche und geräuschlose Möglichkeit des Personalabbaus (seit 1974 sind rund
45.000 Beschäftigte vorzeitig ausgeschieden) nicht mehr läuft, müssen wir Ausschau halten, wie
wir die Arbeitsplätze sichern können.“132
Seit Anfang 1991 ist die VW Belegschaft in den inländischen VW Werken bis Juli 1992 um 4.000
Arbeitsplätze reduziert worden, davon allein um 1.500 im Werk Wolfsburg, wo (Stand 7/92) 59.000
beschäftigt waren. „Und das ging in erster Linie dank der 58er-Regelung ohne Entlassungen oder
soziale Härten....“133
Spätestens 1995 wird eine flächendeckende Altersregelung nach bisherigen Muster für VW nicht
mehr
finanzierbar,
weil
die
Finanzierungszuschüsse
durch
die
Rentenund
Arbeitslosenversicherung entfallen und die vollen Kosten auf die VW AG übertragen werden.
Ob die Altersregelung auch 1994 zu attraktiven Konditionen für die Betroffenen durchgeführt
werden kann, ist noch nicht entschieden.
Das Wegfallen dieses wesentlichen Personalplanungsinstrumentes wirft für die Standorte- und
Beschäftigungssicherung neue und veränderte Problemstellungen auf.
Der beabsichtigte Personalabbau in einer Größenordnung von 12.500 bis 1994 für alle inländischen
VW Werke in Niedersachsen stellte nur eine offizielle „Richtgröße“ dar. Der zeitliche
Bemessungsraum ist ursprünglich von 1995/96 auf 1994 verkürzt worden. Die tatsächliche Anzahl
wird weit höher anzusetzen sein, (intern 12.500 plus x) und ca. 50 Prozent dieser
Personalabbauzahlen betreffen das Wolfsburger VW Werk direkt.
Sofern es die konjunkturelle Situation zuläßt, sollte die Personalabbauplaung „sozialverträglich“,
unter weiterer Hinzuziehung der bewährten 58er-Regelung und durch das Instrument der
Aufhebungsverträge umgesetzt werden.
Auch der Landkreis Helmstedt muß sich diesbezüglich darauf einstellen, daß durch
Aufhebungsverträge verstärkt jüngere Arbeitnehmer in der hiesigen Arbeitslosenstatistik
auftauchen werden.
128
Siehe: Manager-Magazin, a. a. O. Seite 42.
Siehe: Wolfsburger Kurier, 05.12.1993.
130 Siehe: Braunschweiger Zeitung, 07.07.1992.
131 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 07.07.1992.
132 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 07.07.1992.
133 Siehe: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 07.07.1992.
129
- 88 -
Auch die normale Fluktuationsrate ist für das Management eine weitere Möglichkeit, den
Personalabbau ohne zusätzliche Maßnahmen zu gestalten. Selbst wenn alle Personalabbaustrategien
„sozialverträglich“ (ohne Massenentlassungen) durchgeführt werden können, sind damit weder die
allgemeinen ökonomischen Probleme der Volkswirtschaft (Konjunkturkrise), noch die spezifischen
Strukturprobleme von VW gelöst, deren Schwierigkeiten durch hohe Verkaufszahlen bis Ende 1992
überdeckt wurden.
Der überstrapazierte Begriff „sozialverträglich“ heißt „im gegenseitigen Einvernehmen mit den
Betroffenen“ und deutet darauf hin, eine Personalpolitik zu praktizieren, die ohne offizielle
Massenentlassungen (betriebsbedingte Kündigungen) auskommen soll. Alternativ werden
Instrumente wie die erwähnte vorzeitige Verrentung, das Nichtersetzen der durchschnittlichen
Fluktuationsrate und Aufhebungsverträge angewendet. Gleichwohl sind die praktischen
Auswirkungen auf die Region Südostniedersachsen (unter Berücksichtigung der
Automobilmonotruktur und dem nicht Vorhandensein von Alternativarbeitsplätzen) in ihren
Folgewirkungen annähernd gleichbedeutend mit Massenentlassungen.
Die diversen „Ausscheidungsvereinbarungen“ können auch als geräuschlose Form einer
konsequenten Personalabbaupolitik interpretiert werden, durch die das Markenimage nach außen
nicht beeinträchtigt wird.
In diesem Zusammenhang erscheint es erwähnenswert, daß das renommierte Niedersächsische
Landesamt für Statistik in ihrer veröffentlichten Tabelle über „Veränderungen der tätigen Personen
im verarbeitenden Gewerbe und der Industriedichte vom 30.06.1992“134 ihre differenzierte Stadtund Landkreisentwicklungsstatistiken speziell für Wolfsburg und Emden nicht veröffentlichen
durfte, weil „besondere Entwicklungsabläufe einzelner Betriebe L das Geheimhaltungsverbot einer
Veröffentlichung im Wege standen.“ 135 So mußten die Zahlenwerte für Wolfsburg mit dem
Nachbarlandkeis Gifhorn und für Emden entsprechend dem angrenzenden Landkreis Aurich
entnommen werden.
Einen hierbei unterstellten Abwägungsprozeß zwischen dem allgemeinen Informationsbedürfnis der
niedersächsischen Bevölkerung und der besonderen Öffentlichkeitspolitik der VW AG ist hierbei
offensichtlich zu Gunsten von Volkswagen entschieden worden.
Bereits 1993 sind im VW Zweigwerk Wolfsburg mindestens 3.500 Aufhebungsverträge
abgeschlossen worden und bei weiteren ca. 1500 Arbeitnehmer/innen wurde die Kündigung
ausgesprochen. Dieser kontinuierliche Personalabbau wird nur „scheibchenweise“ veröffentlicht
und erfaßt bereits auch Arbeitskräftegruppen, die nicht nur über eine Altersregelung die VW AG
verlassen.
Obwohl das Instrument „Aufhebungsverträge“ bisher von den Mitarbeiter/innen gut angenommen
wurden, wird es sich allmählich verbrauchen. Diese Arbeitsmarktzielgruppe setzt sich aus jüngeren
Arbeitnehmern zusammen, die mobil und flexibel sind und zum Teil Weiterbildungsmaßnahmen
anvisieren, desweiteren aus Ehepartnern, die beispielsweise finanziell als Zweitverdiener
abgesichert sind,136 aber auch vorwiegend aus Arbeitnehmer/innen, die aus der bereits
ausgelagerten „Kabelstrangfertigung“ kamen und von der innerbetrieblichen Möglichkeit einer
angebotenen Umsetzung keinen Gebrauch machten.
Im Zuge der permanenten Kosteneinsparungsstrategien durch die VW AG ist bereits ein genereller
Auftragsstopp für „Fremdfirmen“, die vornehmlich im Dienstleistungsbereich für die VW AG in
Wolfsburg tätig waren, veranlaßt worden. Das verschafft zunächst den VW-eigenen
Facharbeiterabteilungen (z.B. Elekroinstandhaltung) „Luft“, die ebenfalls durch das Nichtersetzen
von Fluktuationen bei gleichem Arbeitsvolumen stark abgebaut und gegen die „Fremdfirmen“ quasi
ausgespielt wurden.
134
Siehe: Niedersächsisches Landesamt für Statistik. Statisches Monatshefte, Niedersachsen. Nr. 6/93, Seiten
233 und 235.
135 Statisches Monatshefte, Ebenda, Hannover, Nr. 6/93, Seiten 233 und 235.
136 Siehe: Sudholt, B. Zur aktuellen Situation bei VW. In: Wolfsburger Kurier, 24.10.1993.
- 89 -
Im Sog der VW Strukturkrise brechen weitere Vertragsfirmen, die für die VW AG tätig sind,
reihenweise zusammen: Personalabbau, Kurzarbeit und Entlassungen sind der Regelfall.
Beispielsweise beantragte die Firma Velte Electrik aus Sandkamp mit 170 Arbeitnehmern einen
Konkursantrag. Seit 1957 montierte, installierte und wartete diese Spezialfirma im Auftrag der VW
AG Transferstraßen, Pressen und Datentechnik.137
Die IVM aus Fallersleben zählte 1992 über 300 Arbeitnehmer, im Januar 1994 gab es dort nur noch
rund 160 Stellen, die seit 15 Monaten von Kurzarbeit begleitet sind. Ebenfalls von Kurzarbeit
betroffen ist das Ingenieurbüro Fleischbauer. Von einst 65 Arbeitnehmern sind nur 25
übriggeblieben.138
Kurzfristig bis Ende 1994 werden schätzungsweise über 1.500 weitere Arbeitsplätze, die
vornehmlich im Dienstleistungsbereich für die VW AG tätig sind, verloren gehen.
Das äußerst wichtige arbeitsmarktpolitische Instrument der Kurzarbeit (um Entlassungen zu
vermeiden) soll in seiner Bedeutung keinesfalls relativiert oder heruntergespielt werden. Doch die
Häufigkeit der beantragten und genehmigten Kurzarbeit deutet gleichzeitig auf einen Gebrauch als
Lohn- und Gehaltskosteneinsparungsinstrument für das VW Management hin.
Da die maximale Bezugsdauer von Kurzarbeitergeld von 18 auf 24 Monate vom Bundesarbeitsministerium bis Ende 1994 ausgedehnt wurde,139 ist davon auszugehen, das die VW AG
dieses Instrumentarium entsprechend intensiv ausnutzen wird. Außerdem ist zu erwarten, daß neben
dem permanenten Personalabbau parallel arbeitsmarktpolitische Flexibiliesierungs-instrumente
eingebaut und plaziert werden (befristete Arbeitsverträge, Umstrukturierung von Dienstleistungsund Produktionsbereiche in eigenständige Tochterunternehmungen, Veräußerungen von
Abteilungen oder Bereiche an Zulieferunternehmen, spätere Fremdfirmenerweiterungen auf dem
Werksgelände, etc.) die ein größeres Arbeitsplatzvolumen aus dem Stamm- in die Randarbeitsplätze
(Bedarfsarbeitsplätze) abdrängen.
Da die Rezession nach jetzigen Prognosen bis Ende 1994/Anfang 1995 anhält und die damit
verbundenen Erwartungen für den PKW-Absatzmarkt nochmals nach unten korrigiert werden
müssen, legte der Vorstand der VW AG dem Gesamtbetriebsrat eine weitere „Szenario-Planung“
vor, in der der bisher vereinbarte Mitarbeiterabbau von offiziell 12.500 bis Ende 1994 erweitert
wird.140
Wie verlautet, sei nun geplant, das die Belegschaft der sechs inländischen VW - Werke bis Ende
1994 von zur Zeit 114.000 auf 100.000 weiter reduziert werde.141
„Man durchlebe derzeit eine der schwierigsten Perioden in der Geschichte von VW (...), schnell und
kurzfristig müßten Kostensenkungen erreicht werden und dies sei auch der Grund, warum J.I.
Lopez in den Vorstand berufen worden ist.“142
Die sozialökomonischen Folgen dieser Umstrukturierung werden jedoch verheerende
Auswirkungen haben: So bestätigte F. Piëch in einem Gespräch, daß allein bei den
niedersächsischen Zulieferern mindestens 20.000 Arbeitsplätze abgebaut werden.143
Vergegenwärtigt man sich, daß 1986 in den sechs inländischen Werken der VW AG noch 130.000
Arbeitnehmer/innen (in Wolfsburg über 65.000) arbeiteten, waren es im Oktober 1993 bereits
112.000, bis zum Jahresende 1993 reduzierte sich der Personalbestand auf 104.000 (Wolfsburg
47.700)144
137
Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 05.01.1994.
Ebenda.
139 Siehe: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 21.08.1993.
140 Siehe: Frankfurter Rundschau, 11.06.1993 und Presseagentur Reuters, 10.06.1993.
141 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 12.06.1993.
142 Volkert, K. Anläßlich einer VW-Betriebsversammlung,In: Wolfsburger-Kurier, 19.09.1993.
143 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 11.08.1993.
144 Siehe: Wolfsburger Kurier, 24.10.1993.
138
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Man erkennt, daß das vorrangige Ziel der neuen Arbeitsorganisation in der VW AG die
Produktivitätssteigerung ist, deren Gestaltungsformen sich unmittelbar auf eine radikale
Personalreduzierung auswirken. Es ist ferner davon auszugehen, daß die Produktivität schneller als
das zukünftige Marktvolumen ansteigen wird. Deshalb wird auch der Personalbedarf in der VW AG
deutlich weiter sinken. Wobei der Vorstand der VW AG bis Ende 1993 die "Zielgröße" von
100.000 Mitarbeiter/innen mit dem Betriebsrat „einvernehmlich“ anvisiert.
Wie diese „magische Zahl“ sozialverträglich erreicht werden kann, war auch vom
Gesamtbetriebsrat der VW AG nicht eindeutig beantwortbar.145
Die Differenz von minus 30.000 Arbeitsplätzen ab 1986 bis Ende 1993 in den sechs inländischen
Werken verdeutlicht praktisch praktizierte Massenentlassungen in der VW AG.
Es muß davon ausgegangen werden, daß die anvisierte (Zwischen) Zielgröße von 100.000 spürbar
weiter unterschritten wird.
Inwieweit die Massenentlassungen unterhalb dieser 100.000 „Marke“ kontinuierlich,
scheibchenweise und indirekt (beispielsweise sozialverträglich) weiterhin durchgeführt wird, ist
abhängig von der konjunkturellen Entwicklung, des Erfolges einer Gesamtkostenreduzierung und
der Kreativität der „Sozialpartner“.
Um auf die Automobilstrukturkrise flexibel reagieren zu können, sind arbeitsmarktpolitsche
Alternativen dringend gefragt. Ohne eine Verkürzung der Arbeitszeit auf eine Vier-Tage-Woche
beabsichtigte der Vorstand der VW AG für 1994 und 1995 rund 30.000 Mitarbeiter zu entlassen.
Darüber wurde der Betriebsrat und die Belegschaft in den sechs inländischen Werken Ende Oktober
1993 informiert. Der Betriebsrat reagierte sehr verhalten auf diese Pläne.146
Für den VW Standort Wolfsburg ergeben sich folgende Zahlen: Die Mitarbeiter in der Produktion
müßten aus Sichtweise des Vorstandes von 36.393 auf 21.329 (minus 41%) reduziert werden,147
sofern die vom Vorstand der VW AG alternative Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich ab
Januar 1994 nicht erfolgen würde.
Einen
derartigen
beabsichtigten
„Kahlschlag“
von
insgesamt
52,05
Prozent
Gesamtbeschäftigtenabbau bis Ende 1995 im VW Werk Wolfsburg verlangt dringend nach
„sozialverträglichen“ Konzepten.
Vergegenwärtigt man sich den reduzierten Auspendleranteil aus dem Landkreis Helmstedt ins
Wolfsburger VW Werk (siehe Einleitung), ist unter Berücksichtigung obiger Personalabbauprognosen bis 31.12.1995 mit einer weiteren (theoretischen) Reduzierung des Gesamtauspendleranteils bis auf die Untergrenze von ca. 5.300 auszugehen.
Ohne Einigung der Tarifvertragsparteien auf eine Verkürzung der Arbeitszeit würden die
Massenentlassungen wahrscheinlich greifen.
Wesentlicher Baustein dieses Arbeitgeberarbeitszeitmodells ist dabei die Verkürzung der
Wochenarbeitszeit auf vier Tage bei fünf Fabriköffnungstagen. Die Zahl der Wochenarbeitsstunden
würde damit von bisher 36 auf 28,8 sinken. Nach den Vorstellungen des Vorstandes der VW AG
sollen die Löhne und Gehälter im gleichen Umfang gekürzt werden, also um 20 Prozent.
„Vor die knallharte Alternative gestellt, ob VW Tausende von Arbeitsplätzen abbaut oder einen
intelligenteren Weg einschlägt, hat die Gewerkschaft IG-Metall und der VW Gesamtbetriebsrat
keine andere Wahl.“148
Bei dieser Form der Arbeitszeitverkürzung geht es um die zentrale Fragestellung, „wie macht man
sie und zu wessen Lasten macht man sie.“149
145
Siehe: Uhl, H.-J. In: Wolfsburger Kurier, 24.10.1993.
Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 28.10.1993.
147 Siehe: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 29.10.1993.
148 Siehe: Frankfurter Rundschau, 29.10.1993.
146
- 91 -
Für den Betriebsrat stellte der Vorsitzende des Gesamt- und Konzernbetriebsrates K. Volkert fest,
„daß das so nicht mit uns zu machen ist“. Ein Lohnausgleich „Null“ sei nicht für alle
Beschäftigtengruppen hinnehmbar.150
Unter Abwägung unterschiedlicher Faktoren ist die Umverteilung von Arbeit aus Sichtweise der
direkt Betroffenen weitaus günstiger als Arbeitslosigkeit. Durch die Initiative der VW AG ist die
Möglichkeit einer Flexibilisierung der Arbeitzeitgestaltung eingeführt worden, nach der die
Wirtschaft lautstark verlangt.
Schon die Auflockerung der Diskussion um Arbeitszeitverkürzung zeigt, daß dieser Vorstoß etwas
zur Entzerrung der ideologischen Auseinandersetzung zwischen Gesamtmetall und IG-Metall
bewirken könnte.
Die von „Gesamtmetall“ initiierte Strategie von Arbeitszeitverlängerungen ist durch den VW
Vorstand (der aufgrund des Haustarifvertrages nicht Mitglied im Arbeitgeberverband ist), mit dem
Modell „Arbeitszeitverkürzung gegen Arbeitslosigkeit ohne vollen Lohnausgleich“ um ein
akzeptables Alternativmodell erweitert worden.
Die Verhandlungskommision der VW AG und die Tarifkommission der IG-Metall vereinbarten am
24.11.1993 für die sechs deutschen Volkswagen Werke vom 01. Januar 1994 an die Vier-TageWoche mit 28,8 Arbeitsstunden, zunächst befristet auf zwei Jahre. Die VW AG kann so nach
eigenen Angaben 18 Prozent der Personalkosten einsparen und verpflichtet sich, in dieser Zeit
keinen Beschäftigten aus betrieblichen Gründen zu entlassen.151
Die Schnelligkeit mit welcher der Abschluß von den Tarifparteien vollzogen wurde, läßt ahnen, daß
beide Seiten ein hohes Interesse daran hatten, kurz und bündig Tatsachen zu schaffen. Das
Teilzeitmodell mit verkürzter Wochenarbeitszeit ohne vollen Lohnausgleich ist eine intelligente
Antwort auf die momentane Konjunkturkrise, in der weniger Aufträge mit weniger Arbeitszeit
ausgeglichen wird. Das gegenwärtige Kernproblem einer Strukturkrise ist damit aber nicht zu lösen.
Der Zwang zum Handeln ergab sich auch aus der Situation, weil nach den Frühpensionierungen
auch das Instrument der Kurzarbeit (nach Arbeitsförderungsgesetz längstens 2 Jahre) in den
Werken bis zur Jahreswende 1994/95 ausgelaufen wäre.152
Diese „Novembervereinbarung“ brachte für die betroffenen Arbeitnehmer und ihre
Interessenvertretung eine dringend benötigte Atempause, zumindest für zwei Jahre. Allerdings ist in
dem neuen Vertragswerk kein Personalbestand festgeschrieben. Die VW AG hat zwar für die
kommenden zwei Jahre auf die Möglichkeit zu betriebsbedingten Kündigungen verzichtet, wobei
aber andere Formen von Personalabbau zwischenzeitlich nicht ausgeschlossen sind.
4 Tage Arbeitszeit unter Beibehaltung der 5 Fabriköffnungstage (insofern der Markt es hergibt)
verdeutlichen das zukünftig anstehende weitere Rationalisierungs-einsparungspotential. Wenn die
VW AG z.B. einzelne Fahrzeugkomponenten nicht mehr selbst herstellen wird, sondern von
Zulieferer bezieht, wird das eine nochmals geringere Kapazitätsauslastung im VW-Werk Wolfsburg
nach sich ziehen.
Permanente Produktionsverbesserungen mit der Zielmarke von 60 Prozent bewirken, daß
Zehntausende von Arbeitsplätzen überflüssig werden.153
Bereits eine Woche nach Vertragsvereinbarung argumentierte VW Personalvorstandsmitglied P.
Hartz anläßlich einer Betriebsversammlung: „Die Verringerung der Arbeitszeit für alle
Arbeitnehmer/innen auf 28,8 Wochenstunden reicht nicht aus, um den Personalüberhang von
149
W. Riester, stellv. IG-Metall Vorsitzender, In: Frankfurter Rundschau, 30.10.1993.
Siehe: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 29.10.1993.
151 Siehe: Frankfurter Rundschau, 25.11.1993.
152 Siehe: Metall, Nr. 23.12.1993, Seite 9.
153 Siehe: Stern, Nr. 49, 02.12.1993, S. 216.
150
- 92 -
30.000 in den Jahren 1994 und 1995 auszugleichen und die Beschäftigung für 100.000 Mitarbeitern
In den westdeutschen VW Werken zu sichern.“ 154
Er schlug überraschend den darüber konstatierten Arbeitnehmer/innen
Flexibilisierungsmodelle, wie das sogenannte Block- und Staffelmodell, vor.
zusätzliche
In der VW AG operiert man mit Belegschaftszahlen, die für 1994 einen weiteren Personalüberhang
von 18.000 und für 1995 von 12.000 ausmachen.155
Der Abschluß verhindert (zunächst) erfolgreich angestandene Massenentlassungen von 30.000
Arbeitnehmer/innen. Diese zeitlich befristete Vereinbarung ist aber auch ein psychologisches
Signal eines Einschnittes, den unendlichen Wachstum eines haustarifvertraglichen Lohn- und
Gehaltsniveaus der VW AG im gegenseitigen Einvernehmen nach unten zu novellieren.
Ein arbeitsmarktpolitisches Patenrezept kann diese Arbeitszeitverkürzung nicht sein, weil kein
neuer Arbeitsplatz dadurch geschaffen, wohl aber vorerst gehalten wird. Die bestehende Arbeit
wird mit diesem Instrument lediglich neu verteilt oder versucht zu erhalten.
Der Abschluß der Vier-Tage-Woche entlastet außerdem in ungewöhnlicher Weise die
„Bundesanstalt für Arbeit“. Durch die Arbeitszeitverkürzung wird es 1994 nicht mehr zur
Kurzarbeit kommen und im Falle von Massenentlassungen hätte die Bundesanstalt jährlich 900
Millionen Mark für Arbeitslosengeld auf Basis des Arbeitsförderungsgesetzes für die 30.000 VW
Arbeitslosen überweisen müssen.156
Der Vertragsabschluß entlastet in gewisser Weise die VW AG selbst. Das von einigen
Unternehmen einfallslos praktizierte Hauruckverfahren von Massenentlassungen (siehe: MercedesBenz) wäre für VW allerdings auch eine teure Lösung gewesen: Bis zu 2 Milliarden DM hätte die
VW AG für „Sozialpläne“ veranschlagen müssen.157
„Die Vier-Tage-Woche ist aber trotz der Unwägbarkeit ein zeitlich begrenzter Versuch, aus der Not
heraus die vorhandene Arbeit auf möglichst viele Menschen zu verteilen.“158
Trotz formulierter Einschränkungen sollte positiv hervorgehoben werden, daß ein bisheriges Defizit
an politischer sowie „intellektueller“ Kraft für gesellschaftlich akzeptable Lösungsansätze zur
Aufrechterhaltung von hier 30.000 Arbeitsplätzen mit der erzielten Modellvariante erfolgreich
ausgeglichen wurde.
Hiermit ist zugleich der Durchbruch zu mehr Flexibilität am Arbeitsplatz zweifelsfrei eingeleitet
worden, deren langfristige Konsequenz für die IG-Metall einen (weiteren) Bedeutungsverlust
einleiten könnte. Die einstigen „Vorkämpfer“ der 35-Stunden-Woche mit Lohnausgleich befinden
sich heutzutage in einem aufgezwungenen Abwehrkampf, in dem sie sich Arbeitszeit durch
Lohnverzicht regelrecht erkaufen müssen.
Das Kernproblem der VW AG, über dem Preis wieder konkurrenzfähig zu werden, ist mit diesem
„Werkvertrag“ in keiner Weise entschärft worden:
„VW habe 30 Prozent zuviel Mitarbeiter/innen. Man werde an weiteren Modellen arbeiten müssen,
um diesen Überhang flexibel zu beschäftigen.“ 159
Diese 30 Prozent an Mitarbeitern stehen auch nach dem 28,8 Stunden pro Woche Vertragsabschluß
bei VW im doppelten Wettbewerb: Sie müssen sich messen lassen an den Leistungen der VW
Mitarbeiter/-innen in ausländischen Zweigwerken aber auch den Kostenvergleich mit der
Belegschaft aller in- und ausländischen Zulieferbetriebe erfolgreich bestehen, um ihre Arbeitsplätze
halten zu können.
154
Braunschweiger Zeitung, Helmstedter Ausgabe, 03.12.1993.
Siehe: Autogramm, 02.11.1993, 23. Jahrgang, Seite 1.
156 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 04.12.1993.
157 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 06.12.1993.
158 Stern, Nr. 49, 02.12.1993, Seite 216.
159 Piëch, F. In: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 04.12.1993.
155
- 93 -
Unabhängig von diesem zeitlich befristeten Erfolg der relativen Absicherung von betriebsbedingten
Kündigungen für zwei Jahre wird der Vorstand der VW AG zielstrebig und konsequent die
„schlanke“ Fahrzeugherstellung (lean production) nach japanischen Leitmustern systematisch
ausbauen.
„Im Hinblick auf den EG-Binnenmarkt und den sich damit verschärfenden Wettbewerb ist zur
Sicherung der Unternehmensposition am Markt (...) die Suche nach kostengünstigen
Produktionsverfahren unabdingbar. Einen der Schwerpunkte der Aktivitäten zur Verbesserung der
Wettbewerbsfähigkeit bildet die konsequente Hinwendung zur schlanken Produktion....“160
Die veränderte Arbeitsorganisation wird die Fertigungstiefe reduzieren und damit auch die
Beschäftigtenanzahl erheblich verringern. Parallel dazu wird auch die Automobilzulieferindustrie
umstrukturiert, deren Vielzahl kleinerer Betriebe wird drastisch reduziert und die Zulieferindustrien
werden zunehmend größere Komponenten und Systeme fertigen, um als Systemzulieferer bzw.
Komponentenhersteller zu dienen.
In der Umsetzungsphase zur „just-in-time“ Produktion werden sich im Planungszeitraum bis zur
Einführung des Golf, Type IV. ca. September 1996, verstärkt Komponentenzulieferer im näheren
Umfeld des Stammwerkes unter den diktierten Bedingungen der VW AG ansiedeln. Diese
minimalen Beschäftigungsgewinne werden die einschneidenden Verluste des Personalabbaues in
den Kernfertigungsbereichen bei weitem nicht kompensieren können.
Die zukünftig neuen Formen der Arbeitsorganisation im VW-Werk Wolfsburg zielen auf die
Intensivierung der Produktionssteigerungen, in der außer den Kernfertigungsbereichen wie
Preßwerk, Rohbau, Lackiererei und Endmontage alles zur internen Disposition ansteht.
Nach der erfolgten Auslagerung der Kabelstrangfertigung ist damit zu rechnen, daß die
Fertigungsbereiche Polsterei, Näherei und das Kleinpreßwerk demnächst ebenfalls ausgelagert oder
aus der VW AG unter Beibehaltung ihres jetzigen Standortes juristisch ausgegliedert werden.
Ein endgültiges betriebswirtschaftliches Abwägen über Kosten und Nutzen dieser
Operationalisierung ist zur Zeit noch im internen Entscheidungsprozeß des VW Vorstandes, was
u.a. zur Folge hat, daß eindeutige Zielvorgaben bisher ausgeblieben sind.
Dieser primäre Umstrukturierungsprozeß wird sich wahrscheinlich innerhalb der nächsten drei
Jahre vollziehen, wobei der zeitliche Quantensprung durch die Einführung von „Golf Typ IV“
gesetzt wird, der bereits ein Jahr früher als geplant Anfang 1997 vom Band laufen soll.
Diese Zielmarke scheint aber bereits schon für Oktober 1996 anvisiert zu werden, wo die
Markteinführung der Produktionsreihe „Chico“ auf konsequenter „lean-produktion-Basis“ durch
komplett angelieferte Modulteile äußerst personalextensiv montiert werden soll.
Verbleibende Kernfertigungs- und Verwaltungsbereiche könnten z.B. in einer weiteren Stufe zu
„unabhängigen Rechtsformen“ umstrukturiert werden, die mit dem Maßnahmeziel der geringsten
Kosten gegenseitig konkurrieren.
Die Entscheidung zur Ausgliederung von Betriebsfertigungskapazitäten ist abhängig von der
„Differenz zwischen den standortbedingten Erträgen und den standortabhängigen
Aufwendungen.“161
Ist zwischen der analysierten Kostenfrage und der Ertragslage eine Differenz zuungunsten der
Ertragslage, wird in der Regel eine Ausgliederung auch vollzogen.
Die systematische Verringerung der Fertigungstiefe auf schätzungsweise unter 30 Prozent wird ein
hohes Personaleinsparungspotential zur Folge haben und die monostrukturierte Region
Südostniedersachsen wird keine Arbeitsplatzkompensation in einem erforderlichen Maße anbieten
160
161
Geschäftsbericht der Volkswagen AG 1992. Seite 19/19.
Handelsblatt Nr. 27, 07.02.1989.
- 94 -
können. Die Annahme, daß die ausgelagerten Arbeitsplätze hier in der Region weitgehend gehalten
werden können, wird sich als Fehleinschätzung herausstellen.
Das Rationalisierungspotential ist daher über einen längeren Zeitraum im Wolfsburger VW
Stammwerk als außerordentlich hoch einzuschätzen und erfaßt alle personalintensiven Bereiche.
Einschneidende Standortveränderungen bei VW Wolfsburg erfolgen langfristig in Form verdeckter
Strategien und selektiver Auswahlkriterien. Obwohl sie sich somit auch stärker der politischen
Aufmerksamkeit entziehen, werden die regionalen Folgewirkungen für Südostniedersachsen
weiterhin geprägt sein durch Beschäftigungseinbrüche und eine negative Bevölkerungsentwicklung.
Auch die nach außen propagierten „sozialverträglichen Lösungsmuster“ bewirken eine weitere
tendenzielle arbeitsmarktpolitische Entleerung in der Region. Ob offizielle Massenentlassungen
oder sozialverträglicher Personalabbau (die sogenannten „harten“ oder „weichen“ Methoden): Sie
sind in ihren personal- und struktur-politischen Auswirkungen nahezu identisch.
Es ist nicht auszuschließen, daß die Mitarbeiter/innen trotz des kommentierten Konzeptes zur
Vermeidung betriebsbedingter Kündigungen bis Ende 1995 auch weiterhin mit einem
kontinuierlichen Personalabbau konfrontiert sein werden und in Kombination mit den bisherigen
Personalabbauinstrumenten ab 1996 eine Situation entstehen kann, in der eine wirkungsvolle
sozialverträgliche Abfederung für die Betroffenen zukünftig nicht mehr gewährleistet ist.
„Ohne den (erfolgreich) ausgehandelten 28,8-Stunden-Tarifvertrag (bis Ende 1995) würde das
Unternehmen jetzt schon mitten in der Diskussion über Auswahlkriterien für Massenentlassungen
stecken.“162
Wieviel Arbeitsplätze davon auf das Einzugsgebiet des Landkreises Helmstedt anfallen, ist
prozentual kaum erfaßbar, da bei den Maßnahmen zukünftiger Personalabbaupolitik der regionale
Proporz grundsätzlich nicht berücksichtigt wird.
Sollte sich der Personalabbau im Wolfsburger VW-Werk auf Basis der Vier-Tage-Woche für 1994
auf 47.000 reduzieren, ist für den Landkreis Helmstedt mit ca. weiteren 1.000 Auspendlern in die
VW AG weniger zu rechnen. Die Hälfte davon könnte wahrscheinlich noch über die 1994
auslaufende vorgezogene Verrentung ausscheiden.
Der Landkreis Helmstedt wird sich aufgrund der hohen Abhängigkeit vom VW-Werk in Wolfsburg
auf ein längerfristig anhaltendes niedrigeres Niveau seiner ökonomischen Entwicklung und auf eine
weitere Erhöhung der Arbeitslosigkeit einstellen müssen.
Summiert man die gesellschaftlichen Kosten in Form von Arbeitslosengeld und -hilfe, beruf-lichen
Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen, Sozialhilfe, Kaufkraftreduzierung und das Absinken
der Bruttowertschöpfung, reduziertes Gewerbesteueraufkommen und die Bereitstellungskosten für
Industrie- und Gewerbeflächenvorratshaltungen, kann aufgrund dessen vermutet werden, daß diese
politischen Folgekosten des beabsichtigten und aus strategischen Gründen schubweise
umzusetzenden Umstrukturierungsprozesses in der VW AG in ihrer bilanzierten Gesamtheit höher
ausfallen werden, als die anvisierten Einsparungskosten im VW-Werk Wolfsburg selbst.
Auf der Ebene „strategischer Konzeptionen“ plante und operierte das VW Management traditionell
betriebswirtschaftlich, ohne volkswirtschaftliche Gesichtspunkte in die Entscheidungsabläufe mit
einzubeziehen.
Seit dem Amtsantritt von J.I. Lopez und der personellen Umstrukturierung, insbesondere der
Bereiche Beschaffung und Produktionsoptimierung, hat sich diese nur betriebswirtschaftliche
Denk- und Handelsweise extrem verhärtet.
Die Absichtserklärung vom VW Arbeitsdirektor P. Hartz, eine Personalpolitik umzusetzen, „die ein
ungebremstes Produktivitätstempo, einen nachhaltigen Kostenabbau und (zugleich) eine
menschliche Lösung des Beschäftigungsproblems ermögliche“, 163 ist ein hoher Anspruch, deren
Umsetzung alle Kräfte und Kreativität der Sozialpartner beanspruchen wird.
162
163
Volkert, K. In: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 18.02.1994.
Wolfsburger Kurier, 20.02.1994.
- 95 -
3.2.3 Wertschöpfung der VW AG
„Die von Herstellung, Vertrieb und Nutzung des Automobils abhängige Bruttowertschöpfung 164
macht (mit abnehmender Tendenz) etwa ein Fünftel des Sozialprodukts in der Bundesrepublik
Deutschlands aus.“ 165
Der Beschäftigungseffekt in der gesamten Region Südostniedersachsen geht unmittelbar auf das
Wolfsburger VW Werk zurück. Im Umkreis von ca. 30 Kilometern sind etwa 90.000 Arbeitnehmer
direkt oder indirekt durch das Automobilunternehmen beschäftigt. Dabei erzielt die VW AG ein
jährliches Umsatzvolumen von etwa 1,2 Milliarden DM. 50 Prozent aller niedersächsischer Exporte
und 25 Prozent aller Investitionen im Bundesland Niedersachsen werden durch die VW AG
getätigt.166
Durch die Gesamtbeschäftigungsanzahl, einschließlich aller vor- und nachgelagerten Bereiche,
bestimmt dieses Unternehmen dadurch den Großteil der regionalen Einkommens- und
Nachfragesituation, sowohl in Südostniedersachsen als auch im Landkreis Helmstedt.
Hinweise über die intra- und interregionale Verteilung der Wirtschaftskraft (gemessen an der BWS)
der VW AG für die regionale Wirtschaftsleistung im Zweckverband Großraum Braunschweig (dem
auch der Landkreis Helmstedt angehört), ergaben folgende Zahlenwerte:
„Mit einer aus dem niedersächsischen Anteil der VW AG (9 Mrd. DM) der Region Braunschweig
zugeschlüsselten Wertschöpfung von 7,5 Mrd. DM verteilen sich hier 26,8% der BWS des
Unternehmenssektors bzw. 50% der BWS des Verarbeitenden Gewerbes allein auf diesen
Automobilhersteller (Landesanteil: 15%). Die industrielle Leistungskraft der Region wird somit
entscheidend von der Automobilproduktion der Volkswagen AG geprägt.“167
Hiermit tritt die Bedeutung der VW AG und zugleich die Abhängigkeit der Region von ihr sehr
deutlich hervor. Von den 7,5 Mrd. DM (die im Großraum Braunschweig durch die VW AG
erwirtschaftet werden) fallen nur 16,3 % dieser BWS im verarbeitenden Gewerbe auf die
Landkreise Gifhorn, Helmstedt, Peine und Wolfenbüttel.
Die noch in den 80er Jahren stattgefundene Prosperitätsentwicklung der Automobilbranche im
Großraum Braunschweig konnte im Vergleich zu anderen niedersächsischen Großräumen eine
überdurchschnittliche Wachstumsphase erreichen, die mit dem Beginn der Konjunktur- und
Strukturkrise in der VW AG ab September 1992 ebenfalls einen Einbruch in der BWS zur Folge
haben wird.
Daß die Leistungen der VW AG der Werke Wolfsburg, Braunschweig und Salzgitter an die
Mitarbeiter/innen von Löhnen, Gehältern, Sozialausgaben des Arbeitgeberanteils, dem
Versorgungsanteil einschließlich Pensionsrückstellungen, eine Gesamtsumme von 11,5 Mrd. DM
(das entspricht einer BWS von rund 75% des gesamten Großraums Braunschweig) betragen, 168
verdeutlicht auch die Dimension der daraus resultierenden Kaufkraft.
Bei einem durchschnittlichen Nettoeinkommen eines Arbeitnehmers pro Jahr bei VW
(einschließlich der Vorstandsbezüge) von 61.700 DM (Quelle: VW AG), ergibt das auf den
Landkreis Helmstedt übertragen, bei einem 15,4 prozentualen Belegschaftsanteil im VW-Werk
Wolfsburg, das sind 9.173 Mitarbeiter/innen, einen monatlichen Gesamtbetrag von mehr als 47
Millionen DM.
164
Anmerkung: Bruttowertschöpfung im folgenden BWS genannt.
Institut der deutschen Wirtschaft. Produzieren am Standort Deutschland. Herausgeber: Verband der
Automobilndustrie e.V. (VDA). Frankfurt a. M. 15.06.1993, Seite 3.
166 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 21.01.1993.
167 Günter, H. Zur Abhängigkeit der Region Braunschweig von der VW-AG. Institut für
Wirtschaftswissenschaften, Abt.Volkswirtschaftslehre, Technische Universität Braunschweig 1993. Seite
168 Siehe: Günter, H. Dto. Technische Universität Braunschweig 1993. Seite 20.
165
20.
- 96 -
Der Wirtschaftsraum Landkreis Helmstedt wird vorwiegend aus dieser Kaufkraft gespeist. Das
haustarifspezifische Gehalts- und Lohnniveau der VW AG schaffte die Voraussetzung für diese
beachtliche Wertschöpfungshöhe, der Summe aus geleisteten monatlichen Gesamteinkommen
unselbständiger Arbeit.
Die in Höhe von dreistelligen Millionenbeträgen verminderte Umsatz- und Körperschaftssteuer
bereiten dem niedersächsischen Finanzministerium aufgrund der gegenwärtigen Absatzkrise der
VW AG Schwierigkeiten.
Die VW AG mit ihren fünf Werken in Niedersachsen und die niedersächsischen Zulieferbetriebe als
insgesamt größte Steuerzahler des Landes haben beim Finanzministerium eine Herabsetzung ihrer
Steuervorauszahlung als Reaktion einer Anpassung an die rückläufige Umsatzentwicklungen
beantragt. 169
Die Gewerbesteuer, die sich am Gewinn eines Unternehmens orientiert, kommt zu rund 85 Prozent
den Gemeinden zugute, während der Rest an den Bund geht. Von den Gewerbesteuerzahlungen des
Unternehmens hat die Stadt Wolfsburg als Geschäftssitz des Automobilkonzerns bislang am
stärksten profitiert und ist deshalb auch am härtesten betroffen, wenn diese Steuereinnahmen sich
nun verringern.
Die VW Absatzkrise führte dazu, daß sich die Gewerbesteuereinnahmen der Stadt Wolfsburg auf
weniger als die Hälfte reduzieren.
Der Gewinneinbruch bei Volkswagen hat ein riesiges Loch in die Wolfsburger Stadtkasse gerissen.
Der Haushalt 1993 mußte wegen des sinkenden Gewerbesteueraufkommens kräftig abgespeckt
werden. Die fatale Abhängigkeit Wolfsburgs von der VW AG zeigte sich durch ein Schreiben vom
27.10.1992 der Konzernspitze an die Stadtverwaltung, in dem mitgeteilt wurde, daß die Stadt nicht
mehr mit der erwarteten Gewerbeertragssteuer von 36 Millionen rechnen könne. Insgesamt sank in
Wolfsburg das Gewerbesteueraufkommen von 1988 bis 1993 von 177 auf 90 Millionen DM.170
„Auch die Stadt wird sich von ihren Standards trennen, um sich der finanzwirtschaftlichen
Normalität anzupassen, weil die Basis für eine üppige Anormalität für immer entfallen ist.“ 171
Rat und Verwaltung der Stadt Wolfsburg sind auf die jetzt so spärlich sprudelnden Quellen aus der
VW AG geradezu fixiert gewesen. Die Äußerung des Stadtkämmerers verdeutlicht, daß Wolfsburg
hinsichtlich der Mobilisierung von Sparpotentialen und einer Reform der Haushaltswirtschaft noch
am Anfang steht.
3.2.4 Golf Parallelproduktion und Standortpräferenz
Die zukünftige Stellung des Werkes Wolfsburg als Hauptproduktionsstandort im Konzern-verbund
scheint langfristig nicht ausreichend gesichert zu sein. Nach Auslagerung der Polo Produktion nach
Spanien im Juli 1992 ist die Abhängigkeit von nur einem Basismodell im VW Standort Wolfsburg
weltweit in dieser produzierten Größenordnung am ausgeprägtesten.
Seitdem versucht das VW Management die ganze Bandbreite des absatzpolitischen
Instrumentariums mit nur einem Basismodell im Wolfsburger VW-Werk abzudecken.
„Wie zu den Zeiten des „Käfer-Erfolges“ stützt sich der Marktanteil von VW (22 Prozent in
Deutschland) heute vor allem auf einen Typ: 54 Prozent aller im Inland verkauften Volkswagen
sind Autos der Modellreihe Golf/Vento.“172
Nur ein Modell auf Basis vom Typ Golf in der produzierten Größenordnung - im Segment der
„unteren Mittelklasse“ - mit dem anvisierten Ziel von maximal täglich 3800 Produktions-einheiten
169
Siehe: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 26.06.1993.
Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 03.02.1993.
171 Berenskötter., M. (Stadtkämmerer), Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 17.06.1993.
172 Stern, Nr. 52, 1992, Seite 102.
170
- 97 -
in Wolfsburg, und mit aufsteigender Tendenz von 380 in Mosel 173 lassen Risikofaktoren erkennen,
die weit über konjunkturell-spezifische Trends hinausgehen.
„Im gesamten deutschen Automobilbau soll die Fertigungstiefe, Kennziffer für den Arbeitsanteil
des Autokonzerns am Endprodukt, von derzeit 40 auf 30 Prozent gedrückt werden.“174
„In Wolfsburg werden noch rund 43 Prozent aller Autoteile selbst produziert.“175 Die Konzentration
auf die erwähnte Kernfertigung in der Fertigmontage des Wolfsburger VW Werkes konkurriert ab
Januar 1994 direkt mit dem VW Werk im sächsischen Zwickau. Die dort entstehende „schlanke
Fabrik“ mit anfänglich täglich ca. 1000 Golf Typ III - Modellen, soll die modernste in Deutschland
werden, in der die „effektive Wertschöpfung“ an jedem Auto nur noch 25 Prozent betragen soll.176
Zwickau wird hierbei durch den gesamtproduktionstechnologischen Vorteil der neuesten
Fertigungsanlage und Arbeitsorganisation ein ernsthafter Konkurrent im internen Konzernverbund.
Insgesamt verfügt die VW AG weltweit über 40 Produktionsstätten, davon sind zur Zeit 12 im Ausoder Umbau, die „nun in einem intelligenten Verbund von Kapazitäten und Kosten geführt werden
müssen.“177
Der
Aufbau
der
Produktionsstätte
in
Zwickau
bedeutet
für
Wolfsburg
Parallelproduktionskapazitäten für den Golf Typ III mit der Konsequenz, daß Kapazitäten
kurzfristig zwischen den Standorten verlagert werden können. Speziell bei Nachfrageeinbrüchen
kann damit die Konkurrenz zwischen den Standorten vom Management strategisch genutzt werden.
Das Zweigwerk Mosel bei Zwickau halten VW Manager für gänzlich überflüssig. Sie bestätigen,
daß durch das Montagewerk Mosel die Beschäftigungslage in der Wolfsburger Produktion auf
Dauer schwer beeinträchtigt werden könnte.178
Ende Oktober 1992 berichtete die Zeitschrift „Manager-Magazin“, daß Volkswagen aufgrund
zukünftiger Überkapazitäten die Halbierung der Fertigungskapazität des im Ausbau befindlichen
Werkes in Mosel beschlossen habe. Statt bei geplanten 250.000 Golf Typ III soll die Kapazität auf
jährlich 125.000 reduziert werden.179
Im Ergebnis würde das eine vorübergehende Standortstabilisierung für Wolfsburg bedeuten,
obwohl bei der internen Konkurrenz zukünftig ausschreibungspflichtiger Sondermodelle der
Standort Mosel vor Wolfsburg aufgrund günstiger Kostenvorteile weiterhin den Vorrang erhalten
könnte.
Nach den Planzahlen von 12/92 soll die VW Fabrik im neuen Bundesland Sachsen erst im Jahr
1997 auf die beabsichtigte Größe ausgebaut werden. Im VW Vorstand ist man sich intern wohl klar,
daß die Kapazitäten gar nicht mehr gebraucht werden. Bei der ursprünglichen Expansionsplanung
ist der deutliche Konjunktureinbruch in der gesamten Automobilbranche nicht berücksichtigt
worden.
„In Mosel produzierte VW im Dezember 1992 mit 2.000 Beschäftigten täglich 380 VW Golf. „Von
1994 an sollen dort rund 5.500 Beschäftigte täglich 1.200 Autos bauen“. Ein VW Sprecher erklärte,
„an dem Projekt selbst wolle VW auf jeden Fall festhalten.“180
Der Betriebsratsvorsitzende Volkert fügte diesbezüglich hinzu: „Derzeit steht im Vordergrund, das
Erreichte in Mosel mit den insgesamt 2.000 Mitarbeitern zu sichern und durch den jetzt
beginnenden Sturm zu bringen.“181
173
Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 25.07.192.
WirtschaftsWoche Nr. 21, 15.05.1992, Seite 135.
175 Stern, Nr. 52, 1992, Seite 102.
176 Siehe: Hannoversche Allgemeine, Wirtschaftsteil, 04.07.1992.
177 Hahn, C. In: Braunschweiger Zeitung, Wirtschaftsteil, 03.07.1992.
178 Siehe: Spiegel. Nr. 40, 28.09.1992, Seite 159.
179 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 24.10.1992.
180 Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 11.12.1992.
174
- 98 -
Das nach dem „Sturm“ der Automobilkonjunkturkrise die Milliardeninvestition in Mosel und
Chemnitz (Motorenwerk) den beschriebenen "Druck" auf das Wolfsburger Zweigwerk nur
kurzfristig aussetzt und auf einen späteren Zeitpunkt verschiebt, verdeutlicht folgende
Veröffentlichung: "Wenn von Januar 1994 an täglich etwa 1.000 Autos der Golfserie vom Band
laufen, genießt die Fabrik den Ruf der Mittelgröße, die derzeit als wohl wirtschaftlichste angesehen
wird."182
Die ab 1994 modernste Automobilfabrik in Deutschland wird von Planungsstäben auf folgendes
Konzept laufend verfeinert: „Auf die Zulieferer legt VW in Zwickau besonderen Wert. Als
schlanke Fabrik soll das Werk weitgehend ohne Vorratshaltung arbeiten. Autositze, Frontpartien
mit Kühlergrill und später auch das Cockpit mit Lenkrad, Meßgeräten und Handschuhfach müssen
von den Spezialfirmen als komplett vorgefertigte Komponenten-fertigungssysteme pünktlich zum
Einbau in die Karosserie angeliefert werden. VW will die Teile weder lagern noch die Qualität
prüfen. Der Konzern spart so Geld für eine große Materialsammlung.“183
Die permanente Gefahr, daß die Investitionen in neuen Standorten (wie das Beispiel Mosel zeigt)
auch zur Infragestellung bestehender Standorte führen kann, ist mittelfristig nicht auszuschließen.
Durch eine eigene Rechtsform des Zwickauer VW-Werkes (Tochter-gesellschaft der VW AG), sind
die dortigen Mitarbeiter vom Wolfsburger Haustarifvertrag und diversen Betriebsvereinbarungen
abgekoppelt. Die daraus resultierenden Kostenvorteile für Mosel bedeuten ebenfalls eine
Konkurrenz für die Golf III Parallelproduktion in Wolfsburg.
Das die interne Standortkonkurrenz zwischen Wolfsburg und Mosel keine Vision, sondern bereits
zum gegenwärtigen Zeitpunkt Gegenstand tagespolitischer Entscheidungsfindung ist, verdeutlicht
folgendes Zitat: „Unterdessen haben Sachsens Sozialdemokraten die Weiterführung des VW
Projektes in Mosel bei Zwickau gefordert. Sie reagierten auf Äußerungen von Niedersachsens
Ministerpräsident Gerhard Schröder, wonach VW Investitionen in Mosel nicht zu Lasten von
Arbeitsplätzen in den alten Ländern gehen dürften und deshalb wegen der schlechten
Absatzsituation gestreckt werden müßten.“184
Für die VW AG besteht außerdem die Gefahr, daß sich die Aufgabenstellung der Marken
überschneiden. Aber auch innerhalb der Marken existieren Produktüberschneidungen, die weit über
die „Überlappung“ von Modellen zu einzelnen Zielgruppen hinausgehen, z.B. wird der neu im
Markt eingeführte Golf-Variant mit Sicherheit in das Nachfragesegment des traditionellen PassatVariant einbrechen.
Desweiteren werden in den Markt neu eingeführte Modelle von Seat und Skoda zu Lasten der
inländischen VW Zweigwerke führen, die insbesondere eine weitere Aushöhlung der
Existenzgrundlage in Wolfsburg bewirken könnten. VW produzierte 1993 im Zweigwerk
Wolfsburg nur noch 614.000 Einheiten, 25 Prozent weniger als 1992.185
Die Überkapazitäten und der daraus resultierende Kostendruck haben den konzernintensiven
Konkurrenzkampf extrem verschärft. 1993 produzierte die VW AG im Ausland erstmals mehr
Pkws (u.a. VW Polo in Spanien, Seat und Skoda) als im Inland mit VW und Audi.
Die Mitarbeiter/innen in den deutschen Werken müssen sich gegen die Betriebe in Mexiko,
Südafrika und Spanien, aber auch gegen Skoda in der Tschechien und der Slowakei erfolgreich
behaupten.
Zur Sicherung der Standortpräferenz gehört auch der Verbleib des Geschäftssitzes in Wolfsburg.
Aus der Sichtweise des VW Markenvorstandes gab es interne Präferenzen und diesbezügliche
Abwägungsprozesse nach der Suche eines „idealen und repräsentativen“ Standortes.
181
Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 14.12.1992.
Wollbaum, K. In: Hannoversche Allgemeine, 04.07.1992.
183 Wollbaum, K. Dto.
184 Hannoversche Allgemeine, 14.12.1992.
185 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 04.12.1993.
182
- 99 -
Die Präferenz für die Wirtschaftsmetropole Frankfurt am Main wurde aufgrund der
Wiedervereinigung und der damit verbundenen Stärkung des Wolfsburger Standortes vom
Konzernvorstand verworfen. Langfristig könnte die neue deutsche Hauptstadt Berlin intern
favorisiert werden. Dem Vorbild von Mercedes und Sony entsprechend, ihre Geschäftszentren nach
Berlin zu verlagern, wird sich längerfristig auch die VW AG wohl nicht entziehen wollen.
Kostenaspekte werden hierbei mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kein Kriterium
darstellen.
Die Attraktivität des Wolfsburger Mittelzentrums mit oberzentraler Teilfunktion würde bei der
Ausgliederung des gesamten Verwaltungsvorstandes nicht nur Kaufkraftverluste, sondern weitere
gravierend Imageeinbußen bevorstehen. Durch den internen Konkurrenzkampf zwischen den VW
Produktionsstandorten, in der es bei der Kostenkalkulation um Pfennige gehen kann, würde durch
die „neutrale Verlagerung“ des Konzernvorstandes an einen „Imagestandort“ die
betriebswirtschaftliche Kalkulation noch konsequenter gegen Wolfsburg umgesetzt werden können.
Aus Sichtweise des Management hat es sich als Vorteil erwiesen, den Geschäftssitz von den
Produktionsstätten abzukoppeln (Beispiel Adam Opel AG).
Solange das Bundesland Niedersachsen seinen 20 prozentigen Anteil am VW Aktienpaket behält
und sich der politischen Willensbildungsprozeß zu dieser Fragestellung nicht verändert, werden
etwaige (vermutete) Pläne kaum umgesetzt werden können.
„Nach der Privatisierung des Bundesanteils an der Volkswagen AG und der geforderten
Privatisierung des Landesanteils will die Bonner Koalitionsregierung jetzt das 1960 in
Zusammenhang mit der ersten Privatisierung geschaffene VW-Gesetz aufheben. Ein entsprechender Initiativantrag wurde im Bundestag eingebracht.“186
Das VW-Gesetz garantiert besondere Schutzfunktionen und Mitbestimmungsrechte für die
Arbeitnehmer/-innen. Dazu gehört unter anderem eine Stimmrechtsbeschränkung der Aktionäre,
durch die nicht mehr als 20 Prozent aller Stimmrechte auf der Hauptversammlung ausgespielt
werden dürfen.
Eine weitere bedeutsame Besonderheit des VW-Gesetzes besteht darin, daß die Einrichtung
beziehungsweise Verlegung einer Produktionsstätte eine Mehrheit von zwei Dritteln im
Aufsichtsrat erfordert.
Insbesondere hierin ist aus Sichtweise der Arbeitnehmer/innen und ihrer betrieblichen
Interessenvertretung eine weitere zentrale Schutzbestimmung für die Standort- und
Beschäftigungssicherung in Gefahr.
3.2.5 Marktperspektiven und Qualitätsprobleme
Marktperspektiven sind in der Vergangenheit aufgrund der Schnelligkeit und Sprunghaftigkeit von
mittel- und langfristigen Entwicklungstendenzen im Marktsegment Automobil ungenau
vorhergesagt worden. Tendenzielle Fehleinschätzungen über Auswirkungen konjunktureller
Absatzeinbrüche und unvorhergesehene Exporterfolge im europäischen Markt der 80er Jahre
hinterließen in der Vergangenheit unzutreffende Prognosen in der Beurteilung nationaler und
internationaler Marktperspektiven.
„Wie zu den Zeiten des Käfer-Erfolges stützt sich der Marktanteil von VW Deutschland (22
Prozent) heute vor allem auf einen Typ: 54 Prozent aller im Inland verkauften Volkswagen sind
Autos der Modellreihe Golf/Vento.“187
Für die bisher kontinuierlich hohe Golf-Nachfrageakzeptanz zum dauerhaften Zulassungs-bestseller
Nummer eins in der Bundesrepublik Deutschland bedeutet diese außerordentliche Erfolgsstory
186
187
Wolfsburger Kurier, 27.03.1994.
Siehe: Stern, Nr. 52, 1992, Seite 102.
- 100 -
keinesfalls eine unbefristete Langzeitgarantie. So wird sich der Golf IV in noch extremerer
Konkurrenz zu Mitbewerbern in nochmals engeren Märkten behaupten müssen.
Obwohl die Nachfrage nach dem neuen Golf (Typ III) für 1992 Spitzenwerte aufwies, unterliefen
erhebliche Anlaufschwierigkeiten und arbeitsorganisatorische Pannen in der Fertigmontage, die es
erforderlich machten, das Tausende von Fahrzeugen nachgebessert werden mußten.188
Die komplizierte Produktionslogistik aufgrund der individuellen Ausstattungsvielfalt 189, der trotz
eines Personalüberhanges bestehende tendenzielle Mangel an Mitarbeiter/innen und interne
Probleme bei der Umstellung zur „lean production“, führen offensichtlich zu Qualitätseinbußen.
„Das Erfolgsmodell Golf rangiert im »TÜV Auto Report 92« bei den bis zu drei Jahre alten Autos
auf Platz 36 - weit hinter den japanischen Konkurrenten. Jedem 23. Golf-Fahrer wurde schon bei
der ersten TÜV-Hauptuntersuchung wegen »erheblicher Mängel« die Plakette verweigert.“190
Nach einer Kundenbefragung des amerikanischen Marktforschungsunternehmens J. D. Power &
Associates schnitt VW in allen drei Vergleichen - Zufriedenheit der Kunden nach dem Kauf, nach
90 Tagen und nach einem Jahr - schlechter als der Branchendurchschnitt ab.191 Der Druck aus
Fernost wächst, speziell in der Automobilbranche.
Es hat den Anschein, daß Made in Germany im internationalen Wettbewerb qualitativ nicht mehr
„erste Wahl“ ist, dafür aber in den Gesamtkosten den ersten Platz einnimmt.
Die von der EG ausgehandelte Höchstquotenregelung für japanische Automobile ist noch wirksam,
obwohl doch ein Golf-Angreifer aus Fernost mit DIN-Verbrauchswerten wirbt, die auch unter
realistischen Praxisbedingungen deutlich unter Golf-Niveau liegen.192
Außerhalb Europas haben japanische Automobilproduzenten mit besserer Qualität, erheblich
niedrigeren Fertigungskosten und günstigeren Preisen den harten Konkurrenzkampf (speziell USAMarkt) klar für sich entschieden.
„Echte Neuerungen, sagte VW Chef Toni Schmücker, gibt es in japanischen Autos nicht. Der
Wolfsburger Konzernherr gestand den blechernen Schrecken aller westlichen Automanager zwar
nette kleine Ideen zu, allein die will der deutsche Käufer oft gar nicht haben.“193
Die Entwicklungstendenzen in der internationalen Automobilindustrie sind an dieser
oberflächlichen Fehleinschätzung des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der VW AG, T.
Schmücker, gänzlich vorbeigezogen.
z.B. investierte Nissan im britischen Sunderland umgerechnet 2,7 Mrd. DM, um dort ab 1993 von
4.600 Mitarbeitern jährlich 270.000 Autos der Typen Primera und Micra vom Band rollen zu
lassen. Gleichzeitig erweitert der zweitgrößte japanische Automobilkonzern, dem im eigenem Land
eine akute Finanzschwäche nachgesagt wird, sein spanisches Förderband auf 104.000
Geländewagen im Jahre 1993. Nun steigt auch der Branchenführer Toyota offensiv groß in Europa
mit einem Investitionsvolumen von umgerechnet 2,4 Mrd. DM ein. Es entstehen zwei britische
Fertigungsstrecken - ausgelegt auf jährlich 200.000 Motoren und die Serienproduktion der
Modellvariante Carina. Bis zur Mitte des Jahrzehnts will der Automobilkonzern seine europäische
Kapazität auf jährlich über 200.000 Fahrzeuge heraufgefahren haben. Das Unternehmen Honda
plant bis 1995 im britischen Swindon die Fertigung von 100.000 Concerto pro Jahr - eine
Investition von rund einer Mrd. DM. Volvo und Mitsubishi beabsichtigen etwa zum selben
188
Siehe: Spiegel, Nr. 40, 28.09.1992, Seite 152.
Siehe: Autogramm, VW-Mitarbeiterzeitung, Sonderbeilage, 07.12.1992.
190 Stern, Nr. 52, 1992, Seite 104.
191 Siehe: Stern, Nr. 52 1992, Seite 104.
192 Siehe: Stern, Nr. 31, 23.07.1992, Seite 118.
193 Siehe: Der Spiegel, Nr. 44, 27.10.1980.
189
Kommentar [AL2]: Seite: 95
Um die Ausstattungsvielfalt erheblich zu
reduzieren, ist im Golf-Typenprogramm
eine "normentierte Fahrzeugreihe" (GolfEurope) entwickelt worden. In dieser
Programmkombination wurde bei diesem
Wagen von theoretisch möglichen maximal
rund 90 Millionen bzw. 80 Millionen auf 16
bzw. 32 (CL bzw. GL) reduziert. Das bringt
erhebliche Vorteile für die Fertigung:
- die Teilevielfalt an der Linie wird
abgebaut
- wiederkehrende Arbeitsabläufe, hoher
Übungsgrad
- bessere Materialbereitstellung.
- 101 -
Zeitpunkt die gemeinsame Produktion in Holland aufzunehmen, "Daihatsu" beginnt 1993 im
italienischen Pisa, "Suzuki" beabsichtigt, in Ungarn zu investieren.194
Die
Investitionsoffensive
japanischer
Automobilkonzerne,
die
sich
vorwiegend
arbeitsmarktpolitische Problemregionen als Standort wählen und sich für Großbritannien aufgrund
des dort vorherrschenden niedrigen sozialen Standards und wirkungsschwacher Gewerkschaften
entschieden haben, wird als „Euro-Japaner“ einen ruinösen Verdrängungs-wettbewerb auslösen.
Diesbezüglich kommt nach einer Modellrechnung der Industriegewerkschaft Metall (IGM) im
günstigen Fall in Westeuropa im Jahr 2000 zu Überkapazitäten von 2,4 Millionen PKW innerhalb
eines Jahres. Die pessimistische Variante kommt zu dem Ergebnis, daß die Nachfrage sogar um 4,7
Millionen PKW hinter dem Produktionsmöglichkeiten herhinkt.195
Dieser Einblick in die Exportoffensive der „Euro-Japaner“ in einem insgesamt enger werdenden
Automobilmarkt verdeutlicht, unter Berücksichtigung ökologischer Grenzwerte, in einem Europa
der EU ohne Grenzen die anstehenden und zukünftigen Probleme des größten
Industrieunternehmens in Niedersachsen und Marktführer Europas.
„Weltweit bestehen Überkapazitäten in Höhe von rund 10 Millionen, die auf Dauer keinerlei
Chance zu einer wirtschaftlichen Auslastung haben werden. Allein in Europa müsse man von 2,5
bis 3 Millionen Fahrzeugen ausgehen, die produziert werden könnten, aber keine Abnehmer
fänden.“196
Die deutsche Autoindustrie muß sich darauf einstellen, daß die Neuzulassungen von PKW und
Nutzfahrzeugen im Inland in naher Zukunft auf das Normalniveau der 80er Jahre, ergänzt um den
nachhaltigen Absatz in Ostdeutschland, zurückfallen werden, so die Prognose des
Bundeswirtschaftsministeriums.197
Bis 2010 wird laut Einschätzung des Baseler Forschungsinstituts "Prognos AG" der Automobilbau
zum gesamtdeutschen Bruttosozialprodukt nur unterdurchschnittlich beitragen.198
Marketing Systems (MS) das renommierte Beratungsunternehmen für die Automobilindustrie, hat
eine Studie über die Nachfragekonkurrenz und Produktionsentwicklung der Automobilhersteller
erstellt: Danach wird sich die harte Wettbewerbssituation im weltweiten Automobilmarkt Anfang
der 90er Jahre mit spektakulären Verlusten in den USA, schrumpfenden Unternehmensgewinnen in
Japan, Zusammenschlüssen großer Hersteller, einer Krisenstimmung in der Zulieferindustrie und
einer umfangreichen Personalfreisetzung zeigen.199
Das weltweite Wachstum der Pkw-Nachfrage soll danach noch bis zum Jahr 2.000 weiterhin knapp
über 2 Prozent pro Jahr liegen, in Zahlen über 43 Millionen PKW, betragen. Der weltweite,
expansive Ausbau japanischer Marktanteile bis zum Jahr 2.000 zielt in Richtung Westeuropa auf 20
Prozent.
„In internen Analysen rechnet VW damit, jährlich bis zu 150.000 Kunden an die Euro-Japaner zu
verlieren.“200
In den 90er Jahren, die von einem stärkeren Anstieg des Verkehrsaufkommens in Westeuropa durch
die Schubwirkungen der deutschen Vereinigung und des EG-Binnenmarktes gekennzeichnet sind,
werden Personen- und Güterverkehr stark expandieren. In der Bundesrepublik Deutschland dürfte
sich das aufgrund der zentralen geographischen Lage besonders bemerkbar machen. Sowohl
194
Siehe: Süddeutsche Zeitung, 04.03.1993.
Siehe: Frankfurter Rundschau, 28.08.1993, Seite 9.
196 Volkert, K. In: Wolfsburger Allgemeine, 25.05.1993.
197 Siehe: Studie des Wirtschaftsministeriums.In: Handelsblatt, 02.07.1993.
198 Siehe: Handelsblatt, 09.06.1993.
199 Siehe: Beratungsunternehmen "Marketing System" (MS). In: Handelsblatt, 17.12.1992, Seite 23.
200 Stern, Nr. 52, 1992, Seite 106.
195
- 102 -
Bevölkerungsentwicklung als auch Wirtschafts- und Einkommenswachstum sprechen eindeutig für
ein noch steigendes Personenverkehrs-aufkommen.201
Diesen Grenzwerten einer maximalen Belastbarkeit sollen folgende Faktoren hinzugefügt werden:
Die erwähnten weltweiten Überkapazitäten, konjunkturelle Nachfrageausfälle der PKW als
Mitverursacher globaler Umweltkrisen durch Ozonloch und Treibhauseffekt, Risikofaktoren in der
Energiegewinnung und die tagtägliche Immobilität auf bundesdeutschen Straßen lassen in ihrer
Gesamtheit auch strukturelle Veränderungsprozesse einer tendenziellen Reduzierung der vormals
uneingeschränkten Akzeptanz des Automobils erkennen.
Außerdem verstärkt sich die Tendenz, daß „Geld und Macht mittels Automobil zur Schau zu
stellen, an Wertigkeit verliert.“202
Es verstärken sich die Indizien, daß ein zukünftiges verändertes Wachstum auch ein anderes
Mobilitätsverständnis mit sich bringt.
Die Marktstrategie des VW Managements hat sich definitiv auf den Kernbereich der
Automobilproduktion festgelegt. Alternative Möglichkeiten zu einer Produktdiversifizierung (wie
der Daimler-Benz Konzern, bestehend aus Deutsche Aerospace DASA, AEG und Daimler-Benz
203) sind vom Vorstand der VW AG verworfen worden.
Aus eigener Initiative heraus schaffte es Mercedes-Benz nicht, ein multinationaler Mischkonzern zu
werden. Zur Realisierung dieses bedeutenden Vorhabens kaufte man sich am Aktienmarkt bis zum
Stand erreichter Mehrheitsbeteiligungen ein und ließ es offiziell vom Bundeskartellamt absegnen.
Zaghafte Versuche in der Wolfsburger Forschung und Entwicklung zur Produktdiversifizierung
sind in der Vergangenheit fehlgeschlagen. In einem übersättigten Markt erfolgversprechende
Nischen für absatzfähige Produkte zu finden, ist die Problematik an sich. Der entscheidende
Unterschied beider Automobilkonzerne ist in der Tatsache zu sehen, daß sich Mercedes gerade
noch rechtzeitig mit erwirtschafteten Rücklagen und staatlicher Subvention in andere "Standbeine"
einkaufte, während VW sein Kapital ausschließlich in der Produktsparte Automobil (zuletzt Seat
und Skoda) investierte.
Speziell die Mitarbeiter/innen im Bereich Forschung und Entwicklung sollten sich in Wolfsburg
verstärkt Gedanken um den langfristigen Erhalt der eigenen Arbeitsplätze machen, indem sie in
Eigeninitiative in Form von Arbeitsgruppen (z.B. die Marktchancen einer sinnvollen Verknüpfung
der Verkehrssysteme) über Möglichkeiten und Chancen selbstentwickelter Technologien
gemeinsam nachdenken. Es wäre eine verpaßte Chance, deren zum Teil hochwertiges Wissen
diverser Fachbereiche nur im Bereich der Automobilsparte einseitig "verpuffen" zu lassen
VW Geschäftsleitung und Betriebsrat sollten auf Basis der bewährten „kooperativen Konfliktbewältigung“ dieses Arbeitskräftepotential aus der „F. + E.“ als Entwicklungschance begreifen und
betriebsorganisatorische
Schritte
umsetzen,
die
dem
Abbau
des
technischen
Dienstleistungsbereiches entgegenwirken. Insbesondere dieses Entwicklungspotential müßte in
seiner Gesamtheit gehalten werden, um im internationalen Wettbewerb auch längerfristig
erfolgreich zu sein.
Auch auf Basis kommerzieller Antriebstechnik sind bereits heute Verbrauchswerte zu erzielen, die
eine wesentliche Minderung des Treibhausgases Kohlendioxid und der verkehrsbedingten
Luftschadstoffe bewirken:
Die Umweltorganisation „Greenpeace“ demonstrierte mit ihrem 1987 bei Renault entwickelten
„Sparmobil Vesta“ (Verbrauch bei konstanten 100 km/h lediglich 1,9 Liter) das bereits
technologisch Realisier- und Machbare der Gegenwart.204
201
Siehe: "Verkehr 2000". Europa vor dem Verkehrsinfarkt?, Hrsg: Deutsche Bank. Mai 1990.
Automobil, Nr. 1, Mai 1993, Seite 20.
203 Siehe: Daimler-Benz Konzernverflechtungen. Siehe: Stern Nr. 29, 09.07.1992, Seite 33.
204 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 20.10.1993.
202
- 103 -
Die Automobilproduzenten hingegen praktizieren eine ökologische Hinhaltetechnik und fahren
einen verwirrenden Zickzackkurs um die Entwicklung kleinerer und sparsamerer
Personenkraftwagen herum205
Die Anzeichen verdichten sich, daß zur Zeit aus marktstrategischen Gesichtspunkten kein PkwProduzent ernsthaft interessiert ist, eine umweltfreundliche Modellgeneration in Serie vom Band
laufen zu lassen.
1991 kündigte sich überraschend eine Zusammenarbeit zwischen dem Schweizer Uhren- und
Telefonproduzenten N. Hayek und der VW AG an, um gemeinsam das Projekt „Swatch-Auto“ zu
entwickeln.206
Auch eine weitere Absichtserklärung eines gemeinsamen Kleinwagenprojekts zwischen der VWKonzerntochter SEAT und der GM-Konzerntochter Suzuki, unterhalb der Polo Klasse zu
entwickeln, ist fehlgeschlagen.
Die Auflösung beider Verträge zählten zu den ersten Amtshandlungen von F. Piëch.207
Prof. Dr. U. Steger, ehemaliges Vorstandsmitglied der Marke Volkswagen, Zuständigkeits-bereiche
Umwelt, Verkehr und Recycling, äußerte sich in einem Referat, daß „die deutsche
Automobilindustrie alle Anstrengungen unternehme, die ökologischen Folgen des Automobils auf
ein Mindestmaß zu reduzieren.“208
Tatsächlich hat die deutsche Automobilindustrie ihre Selbstverpflichtungserklärung zur
Reduzierung des Kohlendioxidausstoßes um 25 Prozent bis zum Jahr 2005 nicht erfüllen können.
Ganz im Gegenteil: Die CO2-Emission wird gegenüber 1987 noch um 10 Prozent steigen. Das gilt
selbst dann, wenn alle technischen Möglichkeiten zur Verbrauchssenkung ausgeschöpft werden.209
Trotz aller Diskussionen um Hybridantriebe, Solarmobile oder Elektroautos - Alternative
Kraftstoffe haben auf mittlere Sicht nur begrenzte Chancen. Zu dieser realistischen Einschätzung
gelang eine „Shell-Studie“ zur Entwicklung auf dem internationalen Kraftstoffsektor.210
Die Hauptursache für die geringe Verbreitung alternativer Kraftstoffe liegt nach den Ergebnissen
der Studie darin, daß sie vom Autofahrer zu viele Zugeständnisse verlangen. Zu den Nachteilen
zählen u.a. die hohen Preise auf Grund der hohen Produktionskosten, der Mangel an speziellen
Tankeinrichtungen, die Kosten eines Fahrzeugumbaus, geringere Motorleistungen, ein zu kleiner
Aktionsradius, Aspekte der Sicherheit im Umgang mit diesen Kraftstoffen sowie die Notwendigkeit
besonderer Schmierstoffe.
Außerdem muß immer berücksichtigt werden, daß eine ganze Reihe von alternativen Kraftstoffen
und Antriebssystemen in ökologischer Hinsicht nicht zwangsläufig die Vorteile besitzen, (z.B.
Primärenergieanteil bei Elektromotoren), die ihnen zugeschrieben werden.
Zwischenzeitlich hat sich das VW Management dafür entschieden, den bereits erwähnten
Stadtwagen „Chico“ ab 1995 auf den Markt zu bringen. Die technischen Details stehen noch nicht
205
Siehe: Der Spiegel, Nr. 06.09.1993, Seite 245.
Anmerkung: Das Swatch-Auto des Schweizer Unternehmens Nicolas Hayek soll nun doch in
Zusammenarbeit mit der Daimler-Tochter Mercedes-Benz gebaut werden. „Der Daimler-Vorstand gab am
Dienstag grünes Licht für eine Zusammenarbeit mit dem Schweizer Uhrenkonzern SMH. Mercedes verspricht
sich von der Kooperation zukunftsweisende Möglichkeiten für die Entwicklung, Herstellung und
Vermarktung
von Automobilien, die besonders für den Einsatz in Ballungsgebieten geeignet sind.“ (Wolfsburger Allgemeine
Zeitung, 23.02.1994).
207 Siehe: Der Spiegel, Nr. 06.09.1993, Seite 246.
208 Helmstedter Blitz, 16.12.1992.
209 Siehe: Handelsblatt, 09.09.1992.
210 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 15.08.1992.
206
- 104 -
fest. Als Produktionsstandort sei mit Wolfsburg das größte inländische Werk ausgewählt worden.
Mehrere Werke des Konzerns hätten sich um die Realisierung des Chico-Projekts beworben.211
Auf keinen Fall ist der Chico in der Lage, den ausgelagerten Polo abzulösen. Ziel ist es, in
Wolfsburg zu zeigen, daß auch an einem alten Standort ein zukunftsweisendes, ökologisches Auto
wettbewerbsfähig hergestellt werden kann.
Damit erhält der Standort Wolfsburg, der trotz betriebswirtschaftlicher Inflexibilität in der VW
internen Standortkonkurrenz benachteiligt ist, eine weitere Chance zum Erhalt des Werkes.
Ein zukünftiges Einstiegsmodell für ca. 15.000 DM im VW Werk Wolfsburg zu fertigen, ist
ehrgeizig und wird kein bequemer Weg.212
Produktionstechnisch und arbeitsorganisatorisch wird der in Wolfsburg beabsichtigte „Chico“
äußerst schmal (lean) produziert. Nur noch vergleichsweise wenig Mitarbeiter/innen werden die
fertig angelieferten Modulteile montieren. Der anvisierte Marktpreis wird für arbeitsintensive
Produktionsformen
keinen
Gestaltungsspielraum
offen
lassen
und
die
enge
Wirtschaftlichkeitskalkulation offenbart das Dilemma des Produktionsstandortes Wolfsburg: Die
Markteinführung kommt für das VW Werk mindestens fünf Jahre zu spät, weil in der
internationalen Standortkonkurrenz (speziell in Südosteuropa oder im „Mega-Wachstums-markt“
Südostasien) bei dem anvisierten Endpreis dort effizientere Wertschöpfungspotentiale zu erzielen
sind als im Bundesland Niedersachsen.
Die Konzernleitung plant, den Kleinwagen im Vergleich zu anderen Modellen in wesentlich
kürzerer Bauzeit zu fertigen, die Arbeitsorganisation und Technik sollen mit modernsten Methoden
optimiert werden. Der Chico ist als besonders kurzer, aber geräumiger Kleinwagen konzipiert und
soll sich durch hohe Umweltfreundlichkeit auszeichnen. Unter anderem wird darüber nachgedacht,
das Fahrzeug mit einem sogenannten Hybridantrieb - einer Verbindung von Verbrennungs- und
Elektromotor - und einem Solarzellendach auszustatten.
Außerdem wird die VW AG einen neuen Versuch mit dem „Öko-Golf“, ebenfalls im Werk
Wolfsburg produziert, wagen: Der „Öko-Golf“ wurde 1983 als verbrauchsarmes Fahrzeug
präsentiert213 und ist vom Markt aufgrund der hohen Preiskalkulation nur ungenügend akzeptiert
worden. Diese neue 1993 vorgestellte Version wurde jedoch nicht mit dem zur Zeit sparsamsten
Seriendieselmotor kombiniert.
Unter ökologischen Gesichtspunkten wird ein Massenhersteller wie VW nicht umhinkönnen,
stärker im Kleinwagenbereich einzusteigen. "Umweltkraftfahrzeuge" wie der Chico sind für den
Standort Wolfsburg eine Herausforderung. Management, Betriebsrat und Belegschaft erhalten die
Chance, den Beweis anzutreten, ein derartiges Auto am vermeintlich teuren Standort
Bundesrepublik relativ kostengünstig zu produzieren. Dieser Versuch in eine neue Produktpallette
zeigt, daß der Erhalt und der Ausbau von Marktanteilen auch in der Automobilindustrie nur mit
zukunftsträchtigen Produkten möglich ist, wobei auch flexibles Reagieren auf Marktnischen von
großer Bedeutung sein wird.
„Das Auto 2000 wird zudem gezielt auf eine einfache und kostengünstige Fertigung hin konstruiert.
Es besteht nicht mehr aus vielen Einzelteilen, sondern aus vergleichsweise wenigen Modulen,“214
die von Komponentenzulieferern gefertigt werden.
Beim Automobilbau der Zukunft werden sich die Gestaltungsspielräume auf die Aufgabenstellung
konzentrieren, inwieweit die Fertigungsmontage in weitaus kürzeren Zeitspannen verwirklicht
werden kann und die Mengenkonkurrenz wird sich hauptsächlich an dem jeweils günstigsten Preis
der Marktkonkurrenten orientieren, d. h. wer im entsprechenden Marktsegment inklusive
Komplettaussstattung zum günstigsten Preis anbieten kann. Daraus läßt sich ein zukünftiger
211
Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 24.10.1992.
Siehe: Volkert,K. "Riesenchance Chico". In: Autogramm, 23.Jahrgang, 05.10.1993, Seite 9.
213 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 16.10.1992.
214 ADAC Motorwelt, 9/1993, Seite 26.
212
- 105 -
„Verdrängungsprozeß der Superlative“ ableiten, der über strategische Allianzen (Kooperationen),
Fusionen und Produktionsstättenverlagerungen weit hinausgehen wird.
Für die Marktperspektiven der Zukunft ist deshalb die Projektion des erwähnten „Chico“ für den
Automobilproduktionsstandort Deutschland und insbesondere für Wolfsburg eine Chance,
konstruktive Herausforderung und schwerwiegende Problematik zugleich.
Die aufgezeigten Problemstellungen verdeutlichen auch, daß von der gesamten Automobilindustrie
ein schlüssiges ökologisches Konzept für die Zukunft des Automobils bisher fehlt und dringend
konzipiert werden müßte.
Die zukünftige Mobilitätsentwicklung wird verstärkt im Spannungsfeld zwischen Ökonomie und
Ökologie stehen. Es kristallisiert sich deutlich heraus, daß die veränderten gesellschaftlichen,
ökonomischen und ökologischen Rahmenbedingungen die Automobilmanager zwingen, sich mit
selbigen Fragen und Problemstellungen auseinanderzusetzen, um sich zukünftige
Marktperspektiven nicht gänzlich zu verbauen.
Marktanteile in den USA
Aus dem mexikanischen VW Werk „Puebla“ planen die VW Manager die Rückgewinnung der
USA-Marktanteile, weil die mit viel Optimismus im USA-Staat Pennsylvania gestartete GolfProduktionsstätte aufgrund falscher Marktstrategien und Qualitätsfertigungsdefiziten 1988
schließen mußte.
Sein bislang größtes Debakel erlebte Volkswagen in den USA. Bereits seit Mitte der 80er Jahre
rutschte der größte deutsche Autokonzern in den USA mit zunehmendem Tempo ins Abseits. Im
letzten Jahr verkaufte VW dort nur noch knapp 97.000 Autos, weniger als die Hälfte des Absatzes
von 1985, ein Sechstel der Rekordverkäufe von 1970 und die niedrigste Zahl seit den 50er
Jahren.215
Als Mitte der 80er Jahre der Dollar fiel und die Autopreise explodierten, war die Loyalität der VW
Kunden dahin. Inkonsequent wurden in Westmoreland Golfs produziert, obwohl die USVerbraucher längst den Jetta bevorzugten, der aber kam aus Deutschland, womit sich VW voll den
Wechselkursschwankungen aussetzte. Die Amerikaner finden an einem PKW ohne Stufenheck
wenig gefallen. Im November 1987 verkündete VW die Aufgabe der längst unrentablen USMontage als Hersteller, der als erste ausländische Marke den Sprung in eine Fertigung in den
Staaten gewagt hatte. Der Rückzug vollzog sich in einer Zeitphase, als der Dollarkurs nach wie vor
eine Fertigung in den USA geraten erscheinen ließ und die Japaner zielgerichtet und in großer
Expansion begannen, US-Werke zu errichten. VW bot der Konkurrenz ein negatives Lehrstück
Auch mit dem 1990 eingeführten Passat hatte VW keinen Erfolg, und der in Osnabrück gebaute
Typ Corrado fiel völlig durch: Ein Teil der nach den USA ausgelieferten Corrados mußte wieder
nach Deutschland zurücktransportiert werden,216 wurden umgerüstet und mit überproportionalen
Verlust an die inländischen Mitarbeiter zum (Gelegenheits-) Verkauf angeboten.
In der Automobilbranche besteht auf internationaler Ebene folgende ausgeprägte These: „Wer den
USA-Markt verliert, verliert den Weltmarkt“.217
„Obwohl VW letztes Jahr (1991) mit 100 Millionen DM Verkaufshilfen das Geschäft (in den USA)
ankurbelte, kauften nur 100.000 Amerikaner einen VW, 1985 waren es noch 200.000.“218
„Volkswagen fand im Juli 1992 in den USA nur noch 6.593 Käufer, ein Viertel weniger als vor
einem Jahr. Das Siebenmonatsergebnis von 47.442 blieb um 21,9 Prozent hinter dem Vorjahr
zurück.“219
215
Siehe: Handelsblatt, Nr. 109, 09.06.1992.
Siehe: Handelsblatt. Dto.
217 Siehe: Auto-Aktuell, In: Auto, 16/1992.
218 Siehe: Auto-Aktuell, In: Auto, 17/1992.
216
- 106 -
Um den Absatz nicht völlig einbrechen zu lassen, muß die Zentrale den amerikanischen Kunden
großzügige Rabatte geben. Ergebnis: Rund eine Milliarde Mark Verlust 1992 in den USA.220
Einen vorläufigen „Schlußstrich“ ist aus der Absichtserklärung zu interpretieren, VW ziehe sich
angesichts dramatischer Verluste aus dem US-Markt gänzlich zurück.221
Laut Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ haben die Marken VW und Audi in den ersten neun
Monaten 1993 in den USA trotz hoher Subventionen nur noch 43.000 Fahrzeuge verkaufen können,
das sind nochmals 39% weniger als im Vergleich zum Vorjahr und der Marktanteil ist auf klägliche
0,4% geschrumpft.222
Die VW AG dementierte offiziell derartige Vorstandspläne.223
Tatsache ist aber auch, daß die eventuellen Kosten eines Rückzuges vom USA-Markt geringer
ausfallen als die in den kommenden Jahren in den USA noch zu erwartenden Verluste.
3.2.6 Rentabilitätsproblematik
Trotz einer offiziell ausgewiesenen Umsatzerhöhung im ersten Halbjahr 1991 von rund 44
Milliarden DM224 regiert in der Konzernzentrale der "Rotstift", sind die Mitarbeiter verunsichert
und die Betriebsräte befinden sich in Krisenstimmung.225
Nachfrageboom und Überstundenarbeit in der ersten Jahreshälfte 1992 beim Golf Typ III, können
VW spezifische Problemstellungen und die Fakten der internationalen Automobilkonkurrenz nicht
verdecken: Die Produktivität des Wolfsburger Automobilwerkes liegt mit bis zu 30 Prozent unter
den japanischen Mitbewerbern.
Der Arbeitsaufwand pro Auto bei Nissan in Sunderland/England (Euro-Japanern) liegt bei 20
Stunden. Bei den übrigen europäischen Herstellern beträgt die Produktionszeit pro Fahrzeug im
Schnitt 36 Stunden.226
Wenn im internationalen Maßstab die Stunden verglichen werden, die „zum Bau eines in hoher
Stückzahl gefertigten Autos benötigt werden, ist die Produktivität der Europäer insgesamt nur halb
so hoch wie die der Japaner und etwas mehr als Zweidrittel der amerikanischen Hersteller. Unter
Berücksichtigung japanischer Durchschnittstandards bei der Autoherstellung beschäftigten die
europäischen Hersteller nach derzeitigem Stand fast 150.000 Arbeitskräfte oder 17 Prozent
zuviel“227
„Den Break even, jenen Punkt also, ab dem ein Unternehmen Geld verdient, erreicht VW erst bei
über 90 Prozent Kapazitätsauslastung. 75 Prozent gelten in der Branche als üblich.“228
„In der McKinsey-Studie über die europäische Automobilindustrie von 1991 lagen die
Fertigungskosten des VW Konzerns mit einem Rekordindexwert von 140 - Honda und Nissan
beispielsweise lagen bei 100. Selbst General Motors schnitt mit 135 Punkten noch besser ab. Die
Analyse blieb ohne erkennbare Folgen: In den ersten neun Monaten 1992 betrug der Anteil der
Herstellungskosten im Konzern immer noch 90,8 Prozent der Umsatzerlöse, bei Opel lag der Anteil
schon 1991 nur bei 82,8 Prozent“229
219
Siehe: Handelsblatt, 6.8.1992.
Siehe: Spiegel, Nr. 18.10.1993. Seite 138.
221 Siehe: Dto., Seite.139.
222 Siehe: Dto., Seite 139.
223 Siehe: Braunschweiger Zeitung, Helmstedter Nachrichten, 18.10.1993.
224 Siehe: Braunschweiger Zeitung - Helmstedter Ausgabe, 03.07.1992.
225 Siehe: WirtschaftsWoche, Nr. 21, 15.05.1992, Seite 134.
226 Siehe: Braunschweiger Zeitung - Helmstedter Ausgabe, 28.01.1993.
227 Siehe: Hannoversche Allgemeine, 30.09.1992.
228 Der Spiegel. Nr. 36, 06.09.1993, Seite 118.
229 Stern, Nr. 52, Seite 104.
220
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Milliardeninvestitionen in die Wolfsburger Produktionsanlagen haben die Rentabilitätsprobleme
nicht lösen können, sie wurden durch das gigantische Automationskonzept eher noch vergrößert.
Die teure Technik lohnt nur, wenn die Anlagen zu mehr als 90 Prozent ausgelastet sind. Sobald die
Produktion unter diese Marke sinkt, erwirtschaftet die Golffabrik Verluste.
„Es ist ein offenes Geheimnis, daß (...) in der Autoproduktion mit der Marke VW seit Jahren kaum
noch Geld verdient wird, obwohl der Absatz Rekordhöhen erreicht hat.“230
Das Hauptproblem ist, daß Volkswagen zu teuer produziert. Der Konzern ist auf Dauer nicht in der
Lage, mit seinen Konkurrenten mitzuhalten. Nur die bisherigen Geschäftsergebnisse einiger
Tochtergesellschaften, so der Marke Audi und der VW Bank, ermöglichten es der VW AG,
insgesamt
noch
einen
offiziellen
Gewinn
auszuweisen.
Ab
1993
ist
die
Wirtschaftlichkeitsrentabilität auch in diesen Marken nicht mehr gewährleistet.
„Selbst 1991 im Boomjahr der Branche verdiente Volkswagen bei voller Kapazitätsauslastung
keine Rendite mit dem Autoverkauf.“231 Für die kommenden schwierigen Jahre ist die VW AG, von
allen europäischen Massenherstellern am schlechtesten gerüstet. Im Produktivitätsvergleich mit
seinen Konkurrenten landet VW auf dem letzten Platz.
„Die Kapitaldecke des Unternehmens ist dünn und die Schuldenlast drückend.“232
In der jährlichen Hauptversammlung und diversen Bilanzpressekonferenzen werden die erwähnten
Umsatzzahlen öffentlichkeitswirksam vermarktet. Über das effektive Ergebnis vor Steuern dagegen
wird nur intern diskutiert. Das reale „operative Ergebnis“, eine interne Rechengröße der
renditeschwachen VW AG, die nicht in der veröffentlichten Bilanz auftaucht, gibt Aufschluß
darüber, wieviel Geld mit dem Verkauf von Autos erzielt wird oder verloren geht.
Der Verlust sackte 1991 auf minus 720 Millionen DM233 meldete das „Manager-Magazin“ im April
1992, während der „Spiegel“ in seiner Septemberausgabe noch 50 Mio. DM drauflegte. Zum
drittenmal in Folge wurden bei VW derart verheerende Zahlen addiert, das Betriebsergebnis sackte
hintereinander auf folgende Minuszahlen:
1990: - 690 Millionen
1991: - 770 Millionen
1992:
- 850 Millionen.234
Diese entscheidenden Zahlen, die über das tatsächliche Geschäft von VW reale Auskunft geben,
wurden im Planungspapier der Ende 1992 stattgefunden Aufsichtsratssitzung für das Geschäftsjahr
1992 nochmals nach oben korrigiert: „Das operative Ergebnis der Volkswagen AG weist für 1992
einen Verlust von 1,11 Milliarden Mark aus.“235
Bereits für das erste Quartal 1993 ist ein operativer Verlust in Höhe von 1 Milliarde eingetreten236
und diese in den ersten drei Monaten 1993 eingetretenen Verlustquoten fielen bereits so hoch aus
wie das Minus im gesamten Geschäftsjahr 1992.237
„In den ersten drei Monaten dieses Jahres (1993) wird der größte Autokonzern Europas mit rund
einer Milliarde Mark den wohl höchsten Quartalsverlust in seiner Unternehmensgeschichte
verbuchen. In der Volkswagen AG ist der Jahresabschluß für 1992 binnen eines Jahres von 447
230
Stern, Nr. 42, 08.10.1992, Seite 24.
Stern, Ebenda, Seite 102.
232 Der Spiegel, Nr. 36, 06.09.1993, Seite 115.
233 Siehe: Manager-Magazin, Nr. 4, 1992, Seite 35.
234 Siehe: Spiegel Nr. 40, 28.09.1992, Seite 35.
235 Spiegel, Nr. 49, 30.11.1992, Seite 136.
236 Siehe: Süddeutsche Zeitung, 01.03.1993, Seite 18.
237 Siehe: Der Spiegel, Nr. 9, 01.03.1993, Seite 89.
231
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Millionen auf 132 Millionen Mark weggebrochen, die Verluste aus dem reinen Autogeschäft sollen
sich im vergangenen Jahr konzernweit auf zwei Milliarden Mark verdoppelt haben“238
Insgesamt gesehen ist jedes inländische Werk der VW AG (Standort Niedersachsen) unter
betriebswirtschaftlichen Aspekten ein Subventionsunternehmen.
Als Vergleichswert wird ebenfalls auf das interne Betriebsergebnis - als Maßstab für
Unternehmenserfolg - bei Mercedes-Benz hingewiesen: 1992 ist das dortige „operative Ergebnis“
auf null gesunken. Im vergangenen Jahr erwirtschaftete das Unternehmen noch ein Ergebnis von
600 Millionen DM, vor fünf Jahren waren es noch 3,7 Milliarden DM.239
Nach Expertenmeinung können in der gesamten Automobilbranche bis zu 20.000 Arbeitsplätze
verlorengehen.240
Die stagnierende konjunkturelle Gesamtentwicklung und der ins Stocken geratene
Automobilabsatz, ab November 1992 mit dramatischen Auftragsrückgängen, rechtfertigt den
Begriff „Automobilstrukturkrise“ mit erheblichen Auswirkungen auf das Wolfsburger
Volkswagenwerk. Der riskante Expansionskurs der VW AG konnte nur erfolgreich sein, solange
die Automobilkonjunktur boomte. Flaut die Nachfrage auch nur auf „Normal“ ab, kommt der
Konzern in Bedrängnis. Bei einem starken Einbruch, wie nun eingetreten, bricht der unterste
Rentabilitätssockel zusammen.
Die wirtschaftliche Situation des VW AG wurde speziell im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“
detaillierter dargestellt. Im folgenden wird auch unter Zugrundelegung dieses Berichtes näher auf
die Gesamtsituation der VW AG eingegangen. Hier repräsentative Tagespressestimmen deutscher
Zeitungen als Resonanz auf diese Veröffentlichung:
Frankfurter Rundschau:
„Carl Hahn, scheidender VW-Chef, hinterläßt seinem
Nachfolger
Ferdinand Piëch einen Sanierungsfall: In der
Führung herrscht Chaos, die Volkswagen AG
erwirtschaftet im
Automobilverkauf ein Milliardenminus, der Konzern leidet
unter 25 Milliarden Mark Schulden."241
Neue Presse Hannover:
„Der VW-Konzern steckt offenbar tiefer in der Krise, als es die
offiziellen Zahlen vermuten lassen (...) In der Branche gilt VW
längst als Sanierungsfall, da der Gewinn schneller sinkt als der
Umsatz steigt.“242
Die Welt:
„Spekulationen um Volkswagen reißen nicht ab ...Zum
„operativen
Ergebnis“ will sich VW (...) nicht äußern. Diese interne Rechengröße habe nur bedingte
Aussagekraft.“243
Süddeutsche Zeitung:
„Die
Volkswagen
AG
hat
einen
Bericht
des
Nachrichtenmagazins Der Spiegel über einen dramatischen
Ertragseinbruch im wesentlichen nicht dementiert ... Nach dem
Bericht nahm die Verschuldung des Konzerns in diesem Jahr
dramatisch auf 25 Milliarden DM zu.“244
Nachdem die VW AG aufgrund der in 9 Jahren hintereinander stattgefundenen
Automobilhochkonjunktur auch Marktführer im Umsatz produzierter PKW in Europa wurde, kam
238
WirtschaftWoche Nr. 12, 19.03.1993, Seite 184.
Der Spiegel, Nr. 49, 30.11.1992, Seite 138.
240 Siehe: Neue Züricher Zeitung und Schweizerische Handelsblatt. 15.07.1992.
241 Frankfurter Rundschau, 01.12.1992.
242 Neue Presse Hannover, 01.12.1992.
243 Die Welt, 01.12.1992.
244 Süddeutsche Zeitung, 01.12.1992.
239
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der Einbruch um so deutlicher: Im Vergleich zwischen November 1991 und 1992 sind die
Bestellungen beispielsweise in den USA um 16,5%, in England fast um 10 und in Japan um 11%
zurückgegangen. Europaweit meldete der Vertrieb minus 19% für den Golf. In der Bundesrepublik
liegt der Auftragsrückgang besonders beim Golf mit 55,6% in spektakulärer Höhe (allerdings hinkt
in diesem Fall ein Vergleich mit dem Vorjahr, weil der neue Golf gerade im November 1991 auf
dem Markt kam.)245
Die Konsequenz bedeutet Kurzarbeit, (letztes personalpolitisches Instrument vor Entlassungen)
auch im Wolfsburger VW Werk. Besondere Bedeutung kommt hierbei der Äußerung zwischen
Geschäftsleitung und Betriebsrat zu, „in Zukunft keinesfalls auf Halde produzieren zu wollen.“246
Bei einem Schuldenberg von ca. 30 Milliarden DM ist das renditeschwache Unternehmen
anscheinend nicht mehr in der Lage, die negativen Folgewirkungen von Konjunktureinbrüchen
durch verstärkte Lagerungshaltung etwas abzuschwächen. Ein frühzeitiges Anzeichen dafür, daß
die für die 1. Jahreshälfte 1993 beantragte und vom Arbeitsamt genehmigte Kurzarbeit nicht die
letzte im Gesamtjahr 1993 sein wird.
Gegen das Herbeireden einer Krise in der VW AG äußerte sich der niedersächsische
Wirtschaftsminister P. Fischer. Durchaus verständlich, wenn man sich die Abhängigkeit
Niedersachsens von nur einem industriellen Standbein vergegenwärtigt. In Folge dessen
argumentierte P. Fischer: „VW sei kein Sanierungsfall trotz der temporär ungünstigeren Ergebnisse
sei der Automobilkonzern im Kern gesund.“247
P. Fischer steigerte sich, in dem er als niedersächsischer Wirtschaftsminister faktisch freiwillig die
Funktion eines Pressesprechers der VW AG auf sich nahm und vorheriges Zitat folgendermaßen
begründete: „Daß das bilanzierte Eigenkapital rund 18 Milliarden DM betrage, die
Eigenkapitalquote über 25 Prozent liege. Er warnte davor, das operative Ergebnis als
Schlüsselgröße für die unternehmerische Tätigkeit insgesamt bei VW zu nehmen. Das ist eine
Binsenweisheit. Wenn ein Unternehmen kräftig investiert und dabei Sonderbedingungen für
Abschreibungen nutzt, wie etwa in Mosel, dann muß das ordentliche Ergebnis schlechter
ausfallen.“248
Der Minister gab sich zuversichtlich, daß die VW AG für die Zukunftsanforderungen des globalen
Wettbewerbs gerüstet sei.249 Nachvollziehbar, denn wenn VW „hustet“, bekommt die jeweilige
Landesregierung in Hannover bereits eine „Lungenentzündung“ angesichts der Tatsache, daß die
jahrzehntelange monostrukturelle Abhängigkeit niedersächsischer Automobilstandorte nicht
reduziert werden konnte und in Niedersachsen 250.000 Arbeitsplätze vom Produkt Auto abhängen davon entfällt die Hälfte auf Zulieferbetriebe.
Anlehnend an die Argumentation Fischers äußerte sich ebenfalls der VW Konzerngesamtbetriebsratsvorsitzender K. Volkert: "Der VW Konzern hat wie die gesamte Autobranche, derzeit
einige Probleme, ist aber bei allen Schwächen keineswegs ein Sanierungsfall. Nach den
vergangenen Boom-Jahren normalisiere sich jetzt die Autonachfrage."250
Grundsätzlich anders sah es die renommierte Fachpresse:" Der Konzern ist bedrohlich verschuldet.
Flüssigen Mitteln von 9,4 Milliarden Mark stehen in diesem Jahr bereits Kredite von 25 Milliarden
gegenüber. Im nächsten Jahr, so sieht die Planung vor, werden die Schulden auf 30,7 Milliarden
und 1994 auf 32,9 Milliarden Mark steigen. In Zeiten hoher Zinsen hat Volkswagen sich einen
gefährlichen Ballast aufgeladen."251
Am Ende der Ära C. Hahn wird immer mehr zur Gewißheit und Realität, daß der niedersächsische
Autogigant vor seiner wohl schwersten Strukturkrise steht. Volkswagen, Symbol des deutschen
245
Siehe: Wolfburger Allgemeine Zeitung, 12.12.1992.
Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 11.12.1992.
247 Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 11.12.1992.
248 Braunschweiger Zeitung - Helmstedter Ausgabe, 11.12.1992.
249 Siehe: Ebenda, 11.12.1992.
250 Braunschweiger Zeitung - Helmstedter Ausgabe , 09.12.1992.
251 Der Spiegel, Nr. 49, 30.11.1992 , Seite 136.
246
- 110 -
Wirtschaftswunders, ist zu einem Sanierungsfall geworden, dessen Auswirkungen auf die Region
Südostniedersachsen unübersehbare Folgen mit sich bringen.
„Insgesamt machen die von Hahn auf den Weg gebrachten Investitionen bis 1997 die Summe von
51 Milliarden Mark aus.“252
Auch mit Zustimmung des ehemaligen ersten Vorsitzenden der IG-Metall und damaligen
Aufsichtsratsmitglieds der VW AG, F. Steinkühler, wurde noch vor zweieinhalb Jahren der Vertrag
des pensionsreifen C. Hahn verlängert. 253
Diese von Hahn angeschobene Expansionspolitik hätte ohne die im nachhinein zurückgezogenen
und gestreckten Investitionsmaßnahmen in den kommenden Jahren zusätzliche Milliarden Verluste
eingefahren.254
Ein insgesamt unrealistisches Gesamtprojekt, von der Tatsache ausgehend, daß der VW AG dafür
ohnehin das nötige Kapital fehlt und daß die damit zu erwartenden Überkapazitäten aufgrund von
Marktsättigungen und Kaufkraftverlusten keinen betriebswirtschaftlich positiven Effekt erzielen
und nebenbei die bestehenden Arbeitsplätze in den inländischen Zweigwerken existenziell
gefährden.
Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ kommt infolge dessen zur Prognose: „Das Unternehmen ist
so angeschlagen, daß nur noch radikale Maßnahmen helfen. Hahns Nachfolger Piëch, scheint
offenbar dazu entschlossen. Massenentlassungen, heißt es in Wolfsburg, werden unvermeidlich
sein. Piëch werde bis zum Äußersten gehen und vor Werksschließungen nicht zurückschrecken.“255
„Der Riese VW wankt, und Piëch bleibt nicht die Zeit, die Probleme nacheinander zu lösen.“256
Am 31.12.1992 begann im Wolfsburger Management eine neue Zeitrechnung: Die „WAP Zeit“
„Warten auf Piëch“, wie es VW Manager intern formulierten, dürfte vorbei sein. Mit gemischten
Gefühlen wartete man in der Geschäftsleitung auf den Stabwechsel an der Spitze zum Jahresende
1992/1993. Vor allem in den Führungstagen wuchs die Unruhe. Es galt als sicher, daß der neue VW
Chef Piëch alle Führungsebenen ausdünnt. Vor allem an der Spitze dürfte F. Piëch Funktionsträger
ausgemacht haben, die für die Krise mitverantwortlich sind.257
Piëch: „80 Prozent unserer Standortnachteile sind Managementfehler. Zulange wurde auf
Fließbandarbeit und starre Massenfertigung gesetzt. Die Japaner mit schlanker Produktion, weniger
Hierarchiestufen und Gruppenarbeit konnten ihren Wettbewerbsvorsprung festigen und
ausbauen.“258
Die Logistik in der VW AG ist insgesamt zu ineffizient und die Struktur der Vernetzung verharrt in
einem verhängnisvollen Kästchendenken innerhalb der Betriebsebenen.
In der Gerüchteküche rund um die VW Vorstandsetage brodelte es weiterhin kräftig. Für den
„Spiegel“ stand bereits fest: Der neue Vorstandsvorsitzende der VW AG F. Piëch, beabsichtigte den
Spanier de Arriortua, Chefeinkäufer von General Motors (GM), nach Wolfsburg holen.259
Es ist zu befürchten, daß die anvisierten Maßnahmeschritte zur Konsolidierung vielleicht zu spät
umgesetzt werden. Das vom vorherigen Vorstandsvorsitzenden C. Hahn initiierte gigantische
Investitionsprogramm (das größte der Firmengeschichte) belastet die VW AG in seiner Substanz.
Auch in den nächsten Jahren wird sich das Unternehmen davon nicht erholen. Mit 30,7 Milliarden
Mark Schulden und mit sinkender Automobilnachfrage und verschärftem nationalen- und
252
Der Stern, Nr. 52, 1992, Seite 106.
Siehe: Der Siegel Nr. 19, 10.05.1993, Seite 144.
254 Siehe: Top-Business, Industriemagazin, Nr. 3, 1993, Seiten 18/19.
255 Der Spiegel, Nr. 49, 1992, Seite 138.
256 Der Stern, Nr. 52, 1992, Seite 108.
257 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 03.12.1992.
258 Der Spiegel, Nr. 49, 1992, Seite 139.
259 Siehe: Der Spiegel, Nr. 7, 15.02.1993, Seite 48.
253
- 111 -
internationalen Wettbewerb scheint das geschwächte Unternehmen denkbar schlecht gerüstet zu
sein. Die Gefahr, daß die Region Südniedersachsen sich demnächst zu einer Krisenregion mit
gigantischem Ausmaß entwickeln könnte, ist anhand dieser Faktoren nicht auszuschließen.
In der VW Betriebsversammlung in Wolfsburg sprach der VW Konzern- und Gesamtbetriebsratsvorsitzender K. Volkert in seinem Rechenschaftsbericht unverklausuliert: „Die Situation ist
wirklich ernst. Wer jetzt nicht begreift, daß härtere Zeiten Änderungen und auch Abstriche von
allen erfordern, der muß wissen, daß dies verantwortungslos ist.“260
Die Kollektiveinstimmung auf eine grundlegend veränderte Gesamtsituation kann als eine
pädagogische Vorbereitung an die Mitarbeiter/innen gewertet werden, auch auf die objektiven
Grenzen von Betriebsratsarbeit hinzuweisen.
K. Volkert sprach in seinem Referat von „ernsten inneren Problemen, die Volkswagen habe und die
bisher durch hohe Verkaufszahlen überdeckt worden seien. Nun seien sie durch den Abschwung
um so deutlicher zutage getreten. Die Personalabbaupläne - 12.500 Beschäftigte bis 1994 - seien
nur ein Teil dieser inneren Probleme.“261
Der Betriebsrat könne sich nicht der Tatsache verschließen, "daß Einschnitte möglich sind, die über
das bisher gewöhnte Maß hinausgehen."262
In seinem Abschlußreferat (ebenfalls auf der VW Betriebsversammlung) sprach der ehemalige VW
Vorstandsvorsitzende C. Hahn von Herausforderungen, die im besonderen im VW Werk Wolfsburg
darauf ausgerichtet sind, „über den schon 1992 erzielten Produktivitätsfortschritt von zehn Prozent
hinaus weitere große Schritte schnell zurückzulegen. Nur dadurch wird es möglich, der weiteren
Verschärfung des weltweiten Wettbewerbs zu begegnen und eine bessere Ertragssituation wieder
herzustellen.“263
Ob in diesem „geschönten“ Abschlußbericht der darin enthaltene „Appell“ angesichts der aufgelisteten Defizite realisierbar erscheint und die VW AG insgesamt, besonders ihr traditionelles
Werk in Wolfsburg, alle Voraussetzungen für Zukunftsaufgaben erfüllt, die schwierige Situation zu
beherrschen und die Position des Stammwerkes im Unternehmen national sowie international zu
sichern und auszubauen, erscheint angesichts bisheriger Faktoren fraglich.
Eine der Hauptursachen sind die hohen Personalkosten. „28.000 Mitarbeiter rechnete (der
zwischenzeitlich verstorbene) Konzernpersonalvorstand Martin Posh dem Aufsichtsrat vor, seien
bei VW zu viel an Bord.“264
Die Hauptursachen der ökonomischen Ineffizienz liegen in der zu hohen Fertigungstiefe, zu langen
Montagezeiten, in der zu kostenintensive Qualitätssicherung mit nachlassender Effektivität und vor
allem ist die im internationalen Wettbewerbsvergleich nach heutigen Maßstäben zu groß
dimensionierten Produktionskapazität im VW-Werk Wolfsburg.
Durch die maximale Auslastung der Produktionskapazitäten können im Wolfsburger VW-Werk
tagtäglich maximal fast 4.000, jedes Jahr theoretisch deutlich über 800.000 Pkws gefertigt werden.
Diese Tatsache erweist sich heute als größtes Problem für die VW AG: Als Vergleichswert gelten
die neuen Fabriken, die japanische Konkurrenten jetzt in Europa aufbauen: Sie können allenfalls
200.000 oder 300.000 Fahrzeuge im Jahr herstellen. Das hat gute Gründe: Größere Stückzahlen, so
glauben sie, sind an einem Ort nicht effizient herzustellen. Im VW-Werk Wolfsburg zeigt sich
beinahe täglich, das die Wettbewerber in ihrer Einschätzung richtig liegen. Die gigantische
Produktionsmaschinerie ist offenbar nicht zu steuern. Ständig fehlen Teile, die Fertigungsmontage
ist produktionstechnisch kaum steuerbar.
260
Autogramm, Nr. 12, 07.12.1992, Seite 3.
Dto., Seite 3.
262 Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 04.12.1992.
263 Dto., 04.12.1992.
264 Stern, Nr. 52, 1992, Seite 108.
261
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Nach „Insideraussagen“ passierten in der zweiten Jahreshälfte 1992 nur noch ca. 30 Prozent aller
fertigen Golfs unbeanstandet die Fertigungsbänder. Alle anderen müßten zur teuren Nacharbeit
noch einmal zurück in die Produktion. Fehlende Fertigungsteile, die später auf den Parkplätzen
nachgerüstet werden müssen, verursachten ein organisatorisches Chaos. Es ist ein offenes
Geheimnis, daß ein relativ hoher Anteil fertiggestellter Golfs und Ventos bis Anfang 1993 ans
Händlernetz ausgeliefert wurden, deren Nachbesserungskosten auf Kulanz der VW AG Millionen
DM zusätzliche Kosten verursachen und die Akzeptanz der Kunden zur Marke VW erheblich
beeinträchtigten. Das Desaster produktionstechnischer Pannen und Fehlentscheidungen kann
beispielhaft fortgesetzt werden: So ließ übertriebenes Technikvertrauen auch die neue Lackiererei
im VW Werk Wolfsburg zum Flop werden. Die Planer glaubten offenbar, wenn Computer die
Rohkarosserien vollautomatisch durch die Anlage steuern, werden die Fahrzeuge tadellos lackiert.
Doch die komplizierte Technik produziert allzu häufig Technikausschuß. So wächst in der Fabrik
täglich ein teurer Blechhaufen: Motorhauben mit Lackfehlern konnten nicht mehr ausgebessert
werden, weil am Personal für die Nacharbeiten gespart wurde. Anfang Februar 1992 setzte die
Lackiererei produktionstechnisch gänzlich aus, so daß von den etwa 3.500 täglich produzierten
Pkws, gerade 400 lackiert werden konnten.265
In Notfällen wurde von VW sogar der Hubschrauber angefordert, um Materialengpässe in der
Produktionszulieferversorgung zu beseitigen. Besonders bei der Einführung des Golf Typ III war
der Helikopter oft bis zu zehnmal pro Woche im Einsatz.266
Eine stufenweise Reduzierung der Fertigungstiefe von derzeit rund 43 Prozent auf die zunächst
anvisierten 30 Prozent sind nicht mehr mit den "klassischen Regeln" der Einkaufspolitik zu
managen. Der Integrationsprozeß der komplexen Systematik zwischen Lieferanten und Hersteller
ist anscheinend erst im organisatorischen Aufbau.
Die Konzernleitung hat in der Vergangenheit, als der Automarkt boomte, die innerbetrieblichen
Strukturen stark vernachlässigt und nur auf quantitativen Massenausstoß gesetzt.
Ein Seitenblick nach Japan erscheint deshalb angebracht: Dort haben die „Führungskräfte“ das
Stadium des Taylorismus bereits hinter sich gelassen. Für sie besteht Management im
intellektuellen Einsatz sämtlicher Mitarbeiter, ohne funktionelle Klassenschranken.
Deutsche Automobilmodelle wie der VW Polo erreichen Laufzeiten von zwölf Jahren und mehr.
„Bei den Japanern dagegen sind Forschung, Entwicklung, Einkauf und Produktion so aufeinander
abgestimmt, daß sie für die Entwicklung eines neuen Modells nicht einmal drei Jahre benötigen.
Deutsche Produzenten brauchen durchschnittlich doppelt so lange.“267
Als z. B. C. Hahn 1991 die neue Organisation der VW AG vorstellte, kamen selbst die Experten des
Manager-Magazin ins Grübeln: „Diese Konstruktion ist so eigentümlich, daß sie in keinem
Lehrbuch steht.“268 Kernpunkt der Neuordnung war die Schaffung eines eigenen Markenvorstands
für VW, in dem Kompetenzrangeleien anhand des folgenden Beispieles vorprogrammiert sind: „Für
den Vertrieb von VW etwa können sich der VW Chef, sein Vertriebsmann im Markenvorstand und
der Vertriebsmann im Konzernvorstand gleichzeitig zuständig fühlen. Nach diesem Muster
summieren sich die Vorstände von Konzern und den Marken Audi, Seat, Škoda, VW auf 30
(überdimensional bezahlte) Topmanager.“269 Die weitere Umsetzung von Strategie in Handlung
läuft den langen Weg äußerst schwerfällig über sieben Hierarchiestufen in die unteren Ebenen. In
Folge dessen gehen „mindestens zwei Milliarden Mark nach Schätzungen von Finanzmanagern
dem Konzern jährlich durch Schlampereien und Pannen in Produktion und Einkauf verloren.“270
Diese Fehlentwicklungen sind ebenfalls eine Hauptursache dafür, weshalb VW auf Dauer nicht in
der Lage ist, mit seinen Hauptkonkurrenten mitzuhalten. In der Führungsspitze fehlte es an
265
Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 06.02.1993.
Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 29.08.1992.
267 Der Spiegel, Nr. 19,10.05.1993, Seite 143.
268 Manager-Magazin, 5/1991.
269 Siehe: Stern, Nr. 52, 1992, Seite 106.
270 Der Spiegel, Nr. 49, 1992, S. 138.
266
- 113 -
Entscheidungsfreudigkeit
und
Fachkompetenz.
Das
„Paradebeispiel“
klassischer
Managementfehlentscheidungen bei VW kann in der Person C. Hahn und seiner unkontrollierten
Expansionspolitik aufgezeigt werden. Befürworter des immensen Investitionsprogrammes
argumentieren, daß strategische Entscheidungen nicht von der jeweiligen Konjunkturlage abhängig
gemacht werden sollten. Sie übersehen aber, daß die finanziellen Rücklagen für derartige
Investitionen nicht vorhanden und zukünftige Absatzprognosen von eklatanten Fehleinschätzungen
geprägt waren.
Der anvisierte „Megamarkt Osteuropa“ erweist sich kurz- und mittelfristig in Folge dessen als
Utopie. Im veralteten tschechischen Škoda-Werk werden mindestens 10 Milliarden DM investiert
oder auch verpulvert. Auf Hahns Nachfolger Piëch, der ab 04.01.1993 seine Tätigkeit aufnahm und
der, wie alle Spitzenmanager in den japanischen Automobilkonzernen, ebenfalls Techniker ist
(Dipl.-Ing.), wartet „nicht nur bei der Neuorganisation der Führung eine Herkulesarbeit. Die
ehrgeizigen Ausbaupläne Hahns wird er, wo es noch geht, drastisch kürzen müssen. Im Werk
Bratislava wird der Ausbau der Passatmontage gestoppt, bei Škoda soll die großzügige Erweiterung
des Zweigwerkes Mladá Boleslav gestrichen werden.“271
Trotzdem wird sich die unaufhaltsame Tendenz zur Internationalisierung der Produktionsstandorte
weiter fortsetzen und für das Wolfsburger VW-Werk besteht langfristig die Gefahr, daß speziell
durch die Öffnung des osteuropäischen Marktes arbeitsplatzintensive Bereiche des verbleibenden
Kernfertigungsanteils, ganz oder zumindest teilweise, in die Niedriglohnländer Osteuropas
ausgelagert werden.
Ein praktisches Beispiel für die Internationalisierungsbestrebungen der VW AG, insbesondere im
zukünftigen osteuropäischen Markt, stellt die Standortentscheidung des neuen Audi-Motorenwerkes
in Ungarn dar, das nach der Aufnahme seiner Produktion sicherlich auch Motoren für die
heimischen Automobilstandorte produzieren wird.
„Damit sind die mehr als zweijährigen intensiven Bemühungen gescheitert, die Motorenfabrik nach
Magdeburg zu holen.“272
Der osteuropäische Markt befindet sich weiter im permanenten ökonomischen Zusammen-bruch:
Der Bürgerkrieg in Jugoslawien ließ den stärksten Exportmarkt für Škoda auf null
zusammenbrechen. In Polen ging der Verkauf um 34 Prozent zurück. In der GUS, wo VW 1992
offiziell mehr als 5.000 Stück absetzen wollte, fanden bis Oktober nur 1.400 Autos einen Käufer.
Aufgrund dessen orientiert sich die Marke Škoda verstärkt nach Westen, wo ein Drittel der
heruntergefahrenen Produktion abgesetzt werden soll, mit der Konsequenz, daß sie besonders der in
Deutschland operierenden Marke Seat die Marktanteile streitig macht.
Aber auch der Seat-Konzern, den C. Hahn offiziell als „Perle unter seinen Zukäufen pries“273, hat
sich ebenfalls als eklatante Fehleinschätzung mit unabsehbaren Folgewirkungen erwiesen: Die
spanischen Werkshallen sind zu groß dimensioniert und im iberischen Markt engagierte sich Seat
mit mageren Verkaufsergebnissen: „Im spanischen Inland (1991: minus 23,6 Prozent) und in ihren
wichtigsten Exportmärkten (Italien: minus 16,4 Prozent, Frankreich: minus 19,9 Prozent)“,274 dafür
um so erfolgreicher auf den Deutschen Markt, mit der Parallelkonkurrenz zu Škoda, so daß die
Markenvorstände wechselseitig in die Marktsegmente (hier primär auf Kosten des VW Polo)
einbrechen.
Die spanische 100 prozentige VW Tochter Seat ist kaum noch zu sanieren. Es muß mit einem
Verlust von insgesamt 1,25 Milliarden Mark gerechnet werden. Spekulationen, nach denen das
Stammwerk „Zona Franca“ in Barcelona geschlossen und die Produktion in das neue vier
Milliarden Mark teure Zweigwerk nach „Martorell“ verlagert wird, sobald die VW AG für 1,5
Milliarden Mark das Zweigwerk „Landaben“ mit der Polofertigung übernimmt, verdichteten
sich.275
271
Der Spiegel, Nr. 49, 1992, S. 142.
Siehe: Volksstimme, Haldenslebener Ausgabe, 21.11.1992.
273 Siehe: Der Spiegel, Nr. 49, 1992, Seite 142.
274 Frankfurter Rundschau, 13.11.1992.
275 Siehe: WirtschaftsWoche, Nr. 41, 08.10.1993, Seiten 188-190.
272
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Das sich die VW AG von unrentablen Zweigwerken löst, ist keine Zukunftsvision: Seat
beabsichtigte auf der Entscheidungsgrundlage von F. Piëch die Produktionsstätte in Barcelona zu
schließen.276
Die massive Intervention des VW Vorstandsvorsitzenden beim spanischen Industrieminister
Eguigaray, zur Sanierung dieses Zweigwerkes staatliche Subventionen in Milliardenhöhe zu
überweisen, sind offensichtlich fehlgeschlagen.
Der spanische Industrieminister J.M. Egigaray forderte den Vorstand der VW AG offiziell auf,
klare Zukunftspläne für die Marke Seat vorzulegen. Der Minister äußerte offiziell, es gäbe
„gewissen Konfusionen“ hinsichtlich der Absichten von VW, die 1993 mit Verlusten von 100
Milliarden Peseten oder rund 1,25 Milliarden DM bei Seat rechnet.277
Unterstellt man ein weiteres Expansionsmotiv, nämlich den Wolfsburger Konzern auf mehrere
"Markenstandbeine" zu stellen, um ein Risikoausgleich zu erreichen, ist durch den zusätzlichen
Einbruch der Marken Audi, Seat und Skoda, auch dieses Maßnahmeziel gescheitert.
Weitere Beispiele für die Ursachenzusammenhänge eines „operativen Verlustes“ von über 1,1
Milliarden DM für 1992 sind unter anderem der vorgezogenen Ruhestand (ohne dieses effektive
sozialverträgliche Personalinstrument der 58er Betriebsvereinbarungen wäre es zu
Massenentlassungen gekommen), das Werk in Sarajevo, das seit längerer Zeit aufgrund des Krieges
in Jugoslawien stillsteht und täglich hohe Verluste bringt, sowie die Währungsveränderung im
Europäischen Währungsfond. Es kann als gesichert gelten, daß auf fast allen europäischen Märkten
sich die Nachfrage nach neuen Pkws über das hohe Produktionsvolumen von 1992 mit einem
Marktanteil von 17,6 Prozent in Europa (VW, Audi, Seat und Škoda)278 kaum steigern läßt.
Die von C. Hahn wohl ehrgeizig geplante Großinvestition im Gesamtvolumen von ca. 81 Milliarden
DM ist nicht nur die teuerste, sondern auch die riskanteste Expansion eines europäischen
Automobilkonzerns, die unter Berücksichtigung zu hoher Produktionskosten, fehlender Rücklagen
und nicht mehr zu erwirtschaftender Renditen, nur durch einen leichten Absatzrückgang einen
riesigen Absturz in die Verlustzone bewirkt.
Aus einem internen Vermerk der niedersächsischen Landesregierung ist bereits im März 1993
hervorgegangen, daß VW im Geschäftsjahr 1993 europaweit 200.000 Autos weniger bauen wird als
geplant.279
Erschwerend kommt hinzu, daß auch für das Gesamtjahr 1994 laut einer Prognose des VDA mit
einem weiteren Rückgang der Pkw-Neuzulassungen im Inland zu rechnen ist.280
Rentabilitätserschwerend wirkt sich der aktuelle Preisverfall auf den europäischen Märkten aus, so
daß Neuwagen durch die selektiven Vertriebsverbindungen vielfach nur noch mit erheblichen
Preisreduzierungen veräußert werden können. 281
Das Standardargument der zu hohen Lohn- und Lohnnebenkosten relativiert sich, wenn man
Lohnkosten als einen Teil der Gesamtkosten analysiert.
H. Henzler, Unternehmensberater bei McKinsey, weist auf die eigentliche Problematik hin: „Zwei
Drittel aller Kostennachteile deutscher gegenüber japanischen Unternehmen werden nicht durch
höhere Lohn- und Materialkosten, sondern im wesentlichen durch Mängel in der
fertigungsgerechten Konstruktion, der Arbeitsorganisation, durch eine wenig vorteilhafte
Fertigungstiefe verursacht.“282
276
Siehe: Braunschweiger Zeitung, 09.10.1993.
Siehe: Braunschweiger Zeitung, Helmstedter Ausgabe, 18.10.1993.
278 Siehe: Auto, Motor und Sport. Heft 3. 29.01.1993, Seite 8.
279 Siehe: Neue Presse, 02.03.1993, Seite 9.
280 Siehe: Süddeutsche Zeitung, 28.01.1994 und Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.01.1994.
281 Siehe: Süddeutsche Zeitung, 28.01.1994.
282 Vorwärts, 2/1993, Nr. 2, Seite 7.
277
- 115 -
Auf die Fragestellung zu den vergleichsweise hohen Lohn- und Sozialleistungen bei VW antwortete
F. Piëch in einem Interview: „Zu 80 Prozent sind unsere Kostenprobleme Organisationsprobleme,
zu weniger als 20 Prozent sind es Löhne und Lohnnebenkosten.“283
Daimler-Benz Vorstandsvorsitzender E. Reuter: „Die Ursachen der gegenwärtigen Krise liegen
eben nicht allein bei den Kosten (unter anderem Lohnkosten) ... sondern seien vielmehr Folgen der
Globalisierung des Wirtschaftens und des Wettbewerbs.“284
Die Rentabilitätsprobleme liegen zusammenfassend in der (noch) zu hohen Fertigungstiefe und der
nach heutigen internationalen Rentabilitätsmaßstäben zu groß dimensionierten Fertigungsfabrik und
zu langen Montagezeiten im VW Werk Wolfsburg. Insbesondere die Milliardeninvestitionen in
Automationsfertigungsstraßen haben die Probleme nicht lösen können, sie haben sie eher noch
vergrößert. Die ebenfalls unkontrollierte Expansionspolitik bei einer dafür nicht vorhandenen
Kapitaldecke mit eklatanten Fehleinschätzungen in den Marktprognosen trugen in ihrer Gesamtheit
mit dazu bei, daß sich die renditeschwache VW AG bereits Anfang der 80er Jahre trotz
Boomphasen aus der rentabilitätsorientierten Gewinnzone systematisch herauskatapulierte.
Je nach parteipolitischen Couleur, wird auch auf einen zusätzlichen Ursachenzusammenhang „mit
dem Zeigefinger“ auf die spezifischen „Wolfsburger Machtverhältnisse“ verwiesen. Gemeint ist die
Hausmacht des Betriebsrates und sekundär die Vertreter des Landes Niedersachsen, das mit
verbleibenden 20 % an VW beteiligt ist, nachdem die Bundesbeteiligung mit ebenfalls 20 Prozent
durch einen Beschluß des ehemaligen Aktionärs Bundesregierung auf dem privaten Aktienmarkt
veräußert wurde. Anhand der analysierten Auswirkung der VW Krise auf das Bundesland
Niedersachsen, geht es hierbei verständlicherweise auch um den elementaren Erhalt der
Arbeitsplätze. Es darf auch darauf verwiesen werden, daß unter CDU-Landesregierungszeiten die
äußerst marktwirtschaftlich orientierte B. Breuel 285 (in ihrer ehemaligen Funktion als VW
Aufsichtsratsmitglied) einer (zwischenzeitlich erfolgten) Verlagerung der Poloproduktion ins
spanische Seat Zweigwerk seinerzeit erfolgreich mit blockierte.
3.2.7 Betriebsrats- und Gewerkschaftspolitik
Tatsache ist sicherlich auch, daß der Betriebsratsapparat bei VW im Interessenausgleich eine
bedeutendere Rolle spielt, als vergleichsweise in anderen bundesdeutschen Unternehmen der
Automobilindustrie. Dieses Sonderverhältnis ist aber keineswegs konfliktträchtig, sondern
prinzipiell sozialpartnerschaftlich einzuordnen und läuft bei VW unter der spezifischen
Bezeichnung „kooperative Konfliktbewältigung“. Wobei der Begriff „Konflikt“ eher eine
theoretisch abstrakte Definition darstellt.
Die Betriebsratsstrukturen (ähnlich aufgebaut wie die Geschäftsleitung) können als prinzipiell
kooperativ interpretiert werden. Bisher konnte im Außenverhältnis die ökonomische Prosperität für
Tarifvertragsabschlüsse und Betriebsvereinbarungen auf Basis eines Haustarifvertrages erfolgreich
genutzt werden und im Innenverhältnis wird darauf geachtet, die Mitarbeit der Vertrauensleute
innerhalb eines vorgegebenen Rahmens zu beschränken, ohne sie in ihrem Engagement
auszuschalten.
Dieses Wechselverhältnis zwischen Integration und begrenzten Konflikten unter der Regie
bürokratischer Betriebsrats- und Gewerkschaftsarbeit, wobei eine prekäre Balance zwischen aktiver
Beteiligung und passiver Folgebereitschaft286 im unteren und mittleren Funktionsbereich erzielt
wurde, vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, daß der formal außerordentlich hohe
gewerkschaftliche Organisationsgrad zugleich wenig Aussagekraft über die tatsächlich
283
Stern Nr,. 15, 07.04.1993, Seite 235.
Der Spiegel, Nr. 36, 06.09.1993, Seite 35.
285 Anmerkung: Die Wirtschaftspolitik von Fr. Breuel erscheint aus der Sichtweise des Verfassers zu Marktoptimistisch, d. h., Fehlentwicklungen aufgrund von Divergenzen des Marktsystems werden weitgehend
ignoriert.
286 Siehe: Erd. R., Verrechtlichte Gewerkschaftspolitik. In: Beiträge zur Soziologie der Gewerkschaften, Frankfurt
a.M.,S. 165f.
284
- 116 -
gewerkschaftliche Orientierung aussagt. Aus diesen Gründen heraus wird verständlich, warum es
besonders für den Betriebsrat von elementarem Interesse ist, daß „vom neuen Konzernchef F. Piëch
erwartet wird, daß er die bei VW bisher erfolgreich geübte kooperative Konfliktbewältigung
zwischen Management und Betriebsrat fortsetzen werde.“ 287
Die Betriebsratspolitik bei VW verhält sich in der jetzigen Krisenbewältigungsphase weitgehend
wie in der ökonomischen Krisensituation 1974/75: Als Arbeitnehmerin-teressenvertretung an die
weitgehende Friedenspflicht des Betriebsverfassungsgesetzes (Betr.-V.G) gebunden und primär
durch die Gewerkschaft in „nur“ marktwirtschaftliche Konfliktlösungen integriert,288 verzahnt sich
deren Engagement mit der VW Geschäftsleitung noch enger als bisher.
In Folge dessen sehen der geschäftsführende Betriebsrat und das Management bei VW in
Wolfsburg das neue werksinterne Kriseninstrumentarium, das sich „Werkssymposium“ nennt, als
hervorragendes Mittel an, um noch enger über anstehende Vorhaben intern und offen zu
informieren.289
Dieses Werksmanagement auf hoher Ebene im gegenseitigen Einvernehmen, sozusagen als
verlängerter Arm der Geschäftsleitung schließt die Option gänzlich aus, sich als Betriebsrat die
Möglichkeit kollektiver Widerstandsmaßnahmen von der Betriebsbasis her offen zu halten.
Auch die viel zitierte „Hausmacht“ der Betriebsräte würde gefährlich ins Wanken geraten, wenn sie
als gewähltes Interessenorgan der Mitarbeiter (auf Rechtsbasis des Betriebsverfassungsgesetzes)
unter den Bedingungen einer spezifischen Automobilkrise bei VW nicht mehr erfolgreich operieren
könnte.
Die dramatische Abwärtsentwicklung der realen Gewinnrate in der VW AG beinhaltet die Gefahr,
daß die bewährte kooperative Konfliktbewältigung einseitig von der Geschäftsleitung gekündigt
werden könnte. Bei der extremen Automobilmonostruktur in Südostniedersachsen würden die
Folgewirkungen eines nicht mehr sozialverträglich arrangierten Personalabbaues sich dahingehend
auswirken, daß die Massenarbeitslosigkeit in der Region Südostniedersachsen politisch außer
Kontrolle geraten könnte.290
Das Gefahrenpotential bei einem nicht Vorhandensein von Alternativarbeitsplätzen könnte sich z.
B. aufgrund der ungesicherten Risikofinanzierung einer "Wüstenrothkultur verschuldeter
Eigenheime" auch in einem vermuteten Rechtsruck artikulieren, der politisch schwer beherrschbar
wäre.
Die nächsten Jahre werden zweifellos Aufschluß darüber bringen, inwieweit der zu erwartende
weitere Personalabbau in der VW AG sich auf das Klima am hiesigen Arbeitsmarkt auswirken
wird.
Weil der Beziehungsaustausch zwischen Betriebsrat und Geschäftsleitung letztendlich von
pragmatischen Sachzwängen diktiert wird, ist eine verhandlungsstarke, konfliktfähige und
lösungsorientierte soziale Partnerschaft ein akzeptables Lösungsmodell zur Reduzierung der
Massenarbeitslosigkeit.
Zukünftige Entwicklungstendenzen werden zeigen, ob die Industiegewerkschaft Metall (IGM)
langfristig gesehen in der Lage ist, die differenzierten Lebenslagen und unterschiedlichen
Lebensverhältnisse291 ihrer Mitglieder aufzugreifen und Lösungen durchzusetzen, die auch
287
Braunschweiger Zeitung - Helmstedter Ausgabe, 09.12.1992.
Siehe: Dombois, R. Massenentlassungen bei VW. In: Leviathan, Heft 4/1976.
289 Siehe. Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 10.12.1992.
290 Anmerkung: Als exemplarisches Beispiel kann der Bremerhavener Stadtteil Leherheide mit einer
durchschnittlichen Arbeitslosenquote von 30% für 1992 herangezogen werden (Siehe: Stern, Nr. 50, 03.12.1992,
S. 136). Der hauptsächlich durch die Strukturkrise im Schiffsbau seit Jahren sozialpolitisch
heruntergekippte
Problemstadtteil artikulierte sich durch die letzte Landtagswahl mit 14% für die
rechtsradikale "DVU".
Größtenteils ehemalige Stammwähler der SPD dückten damit ihren irrationalen
Protest und Hilferuf zugleich
aus.
291 Siehe: Kemke, M. Perspektiven der Gewerkschaftsbewegung in Deutschland, Düsseldorf 1990, Seite 112.
288
- 117 -
individuelle Gestaltungsfreiräume in der betrieblichen und gewerkschaftlichen Mitbestimmung
erweitern.
„Die Strukturen dürfen bei uns nicht die Entscheidungswege vorgeben“",292 argumentierte der
ehemalige HBV Vorsitzende Schwegler, auch mit der Konsequenz vom „Abschied der Allmacht
der Gewerkschaftszentrale.“293
Bundesweit verliert die Industriegewerkschaft Metall (IGM) Monat für Monat ca. 20.000
organisierte Arbeitnehmer durch Gewerkschaftsaustritte. Die größte Einzelgewerkschaft der Welt
hatte Ende 1993 über 400.000 Betragszahler weniger als vor zwei Jahren.294
Und das in einer ökonomischen Zeitphase, in der aus Arbeitnehmersicht die Schutzfunktion ihrer
gewerkschaftlichen Interessenvertretung als besonders zweckmäßig einzustufen ist.295
Trotz dieses organisationskritischen Ansatzes an etablierter Arbeitnehmerinteressenvertretung sollte
die zentrale Problematik des Rentabilitätsdefizites in der VW AG keinesfalls den Arbeitnehmern
und ihren Betriebsräten/Gewerkschaften angelastet werden, weil das eine gezielte Ablenkung von
den eigentlichen Ursachen darstellen würde.
3.2.8 Managerqualitäten
Das Nachrichtenmagazin „Focus“ attackierte den neuen Vorstandsvorsitzenden der VW AG, F.
Piëch, mit unterstellten Merkmalen wie „Ehrgeizling“ und „Machtbesessenheit“
„Auch Piëchs Produkte sind keine Renner mehr. 50 Prozent der Audis werden Vierradantrieb sein,
prophezeite der Autoguru. Kaum zehn Prozent sind es. Der Angriff in der Oberklasse mit dem
Audi-Flaggschiff V8 blieb stecken. Kaum 10.000 Kunden kaufen das Edelauto.“296
Piëchs bisherige Produktstrategien (als Vorstandsvorsitzender der Marke Audi) einer Parallelentwicklung von „Audi 80“ und „VW Passat“ (vorherige Basismodelle) oder die hohen "F. u. E."
Zusatzkosten für zwei verschiedene Sechszylindermotoren, der Audi V8 Millionenflop der
Superlative und der von Piëch favorisierte Vierradantrieb mit extrem hohen Material-, Gewichtund Energieaufwand, würden unter Zugrundelegung seiner eigenen hohen Bewertungsmaßstäbe
vermutetermaßen eine fristlose Entlassung bewirken.
In seiner Oktoberausgabe 1993 kritisierte das „Manager-Magazin“ die Firmenpolitik von F. Piëch:
Demnach sackte Absatz und Ertrag bei der 100% igen VW Firmentochter Audi bereits ab August
1992 steil nach unten, die Ursache sei nicht nur konjunkturell, sondern primär auf
Managerfehlverhalten zu begründen. Das Wirtschaftsmagazin lastete ihm Fehlentscheidungen zu,
die weit über bisherige Publikationen hinausgingen.297
Ende Januar 1993 stellte das Manager-Magazin den VW Markenvorstandsvorsitzenden und PiëchStellvertreter, Goeudevert, als „Minusmann“ dar, dessen Bilanz negativ sei. „Er verzichtete auf
wirksame Reformen, plante prächtige Gewinne und meldete horrende Verlust“, heißt es in dem
Wirtschaftsblatt.298
In seiner letzten Rede in der Funktion des VW Markenchefs äußerte D. Goeudevert anläßlich einer
VW Betriebsversammlung, in Stellvertretung für F. Piëch: „Wir werden auch aus der dritten Krise
292
Stern, Nr. 46, 1992.
Stern, Nr. 46, 1992.
294 Siehe: Stern, Nr. 3, 13.01.1994, Seite 120 und Spiegel, Nr. 3, 17.01.1994, Seite 63.
295 Anmerkung: Arbeitslosigkeit ist automatisch nicht mit einem Gewerkschaftsaustritt verbunden und ein
hoher Anteil von austrittsvollzogenen Arbeitnehmern ist weiterhin in Beschäftigungsverhältnissen tätig.
296 Focus, Nr. 11, 15.03.1993, Seite 131.
297 Siehe: Manager-Magazin, 10/1993.
298 Siehe: Manager-Magazin, 02/1993.
293
- 118 -
unserer Geschichte genauso stark herauskommen, wie aus den ersten zwei. Haben Sie (an die VW
Mitarbeiter/-innen gerichtet) dafür bitte Vertrauen... Mit diesem Appell schloß D. Goeudevert
seinen Bericht in der Wolfsburger Betriebsversammlung am 17. Juli.“299
Kurz darauf schied D. Goeudevert aus der VW AG „im gegenseitigen Einvernehmen“ aus.
Zwei Aspekte sollen in dem vermuteten unfreiwilligen Ausscheiden des designierten VW
Markenchefs hierbei unterstellt werden: Die Chancen für einen sozialverträglichen Personalabbaues
könnten damit weiter sinken und die von D. Goeudevert favorisierte strategische Zielrichtung eines
Pkw-orientierten ökologischen Gesamtkonzeptes wird bewußt weiter vernachlässigt.
Der scheinbar kritische Vordenker und mit seiner Veröffentlichung „Die Blechlawine zerstört die
Umwelt“ selbst ernannte Umweltschützer galt längere Zeit als einziger Nachfolgekandidat für den
VW Vorstandsvorsitzenden, seit im September 1989 der damalige Vorstands-vorsitzende C. Hahn
ihn als Einkaufsvorstand nach Wolfsburg holte.
„Aber es kam anders, obwohl Goeudevert die stark im VW Aufsichtsrat vertretenen
Gewerkschaften einschließlich des damaligen stellvertretenden Aufsichtsratschefs und IG-Metall
Vorsitzenden F. Steinkühler hinter sich wußte.300“
Unter weitgehendem Ausschluß der Öffentlichkeit beabsichtigte F. Piëch, der neue
Vorstandsvorsitzende der VW AG, den Konzern offenbar durch die gegenwärtige Krise zu führen.
Seit er in Wolfsburg die Regie übernommen hat, wurden wichtige Meldungen über das
Unternehmen in der Regel nur noch von zweiter Hand verbreitet.301
Daß ausgerechnet der niedersächsische Ministerpräsident G. Schröder verkündete, der Verlust des
ersten Quartals 1993 werde bei VW bereits die Höhe des für das gesamte Jahr erwarteten Verlustes
erreichen, gibt einen Eindruck der Atmosphäre zwischen dem Unternehmen und dem Land
Niedersachsen, das 20 % des Kapitals besitzt.
„Schröder ist Mitglied des VW Aufsichtsrates. Seine Äußerung ist nicht als politische
Geschwätzigkeit abzuhaken, sondern eher als Unmutsbekundung des Großaktionärs über die
Informationspolitik der neuen VW Vorstandspolitik unter der Regie von F. Piëch zu deuten.“302
Mittlerweile hat sich diese „Zweckgemeinschaft“ nicht zuletzt aufgrund der
Medienauseinandersetzung zwischen GM/Opel und VW nach außen hin stabilisiert und gefestigt,
während sie im inneren Gefüge weiterhin labil erscheint.
Für das VW-Mangement scheint der „Krieg“ ausgebrochen zu sein! Originalzitat aus der VW
Mitarbeiterzeitung Autogramm: „Eine Schlacht führt man, um einen Krieg zu gewinnen. Und Krieg
haben wir am Automarkt aus dem Grunde, daß eine Nation - Japan - erkennbar danach strebt, die
Automobilindustrie strukturell in allen großen Weltregionen zu beherrschen. Ebenfalls seit langem
ist klar, mit welcher Waffe der Krieg im wesentlichen geführt wird, der des Preises.“303
Die ersten Maßnahmeschritte zur wirtschaftlichen Konsolidierung wurden von F. Piëch bereits
eingeleitet:
„- die wichtigsten Rollen im Sanierungsstück besetzt;
- eine Reorganisation des lahmen Vertriebs konzipiert;
- für alle vier Konzerntöchter (VW, Audi, Seat und Škoda) eine Gleichteile-Politik definiert;
299
Autogramm, VW-Mitarbeiterzeitung, 29.07.1993, 23.Jahrgang , 7/8, Seite 1.
Hannoversche Allgemeine Zeitung, 05.07.1993.
301 Siehe: Süddeutsche Zeitung, 25.02.1993, Seite 22.
302 Süddeutsche Zeitung, 25.02.1993, Seite 22.
303 Autogramm, 08.06.1993, Nr. 6, Seite 1.
300
- 119 -
- einen drastischen Schnitt in die Fertigungstiefe mit dem Ziel deutlicher Produktivitätssteigerung verordnet und
- eine Harmonisierung der Modellpolitik der einzelnen Konzernmarken vorgegeben.“304
Die immer geringeren Wachstumsspielräume in den jetzigen Hauptabsatzmärkten und die größere
Wettbewerbsfähigkeit der Konkurrenten (z.B. Euro-Japaner) zwingen die bundesdeutsche
Automobilindustrie (insbesondere die renditeschwache VW AG), zu strukturellen Änderungen auf
sämtlichen Stufen des Produktionsablaufes.
Die Maßnahmeschritte zur Ergebnisoptimierung gingen sogar soweit, daß der Verdacht geäußert
wurde, daß Spitzenmanager von General Motors systematisch abgeworben würden.
Bislang sollen von vierzig bei General Motors und Tochterunternehmen der „Adam Opel AG“
umworbene Manager sieben das Wolfsburger Angebot angenommen haben. Auf Grund dessen
erwirkte das Landgericht Frankfurt auf Antrag von Opel eine einstweilige Verfügung gegen die
Volkswagen AG.305 Die Erfolgsbilanz der GM-Tochter Opel im Umbau auf die „schlanke
Produktion“ verschaffte dem Unternehmen aus einem 27 Milliarden Umsatz einen respektablen
Jahresüberschuß von 1,1 Milliarden DM für 1991.306 Auf dieses „Know-how“ der
Gewinnmaximierung scheint es F. Piëch in erster Linie abgesehen zu haben. Die Umfunktionierung
aus dem Personalbestand des eigenen Unternehmens mitten im europäischen
Automobilkonjunkturtief kostet offenbar zuviel Zeit. Mit einem 20 Millionen Dollar schweren
Fünfjahresvertrag ist der Vizepräsident von General Motors, J.I. Lopez von F. Piëch nach VW für
den Konzernvorstand (Aufgabenbereich: Produktionsoptimierung und Beschaffung) mit
Zustimmung des Aufsichtsrates „abgeworben“ worden.
Mittlerweile hat die Adam Opel AG „mit dem klaren Urteilsspruch des Landgerichts Frankfurt eine
herbe Niederlage erlitten. Im Kern sagt das Gericht, daß die Abwerbung der sieben Opel-Manager
durch Volkswagen lediglich die Ausnutzung einer sich am Arbeitsmarkt bietenden Chance
darstellte. Unlauteres Verhalten konnte das Gericht nicht feststellen ...“307
Daraufhin ist die Adam Opel AG nach zwei erfolglosen Anläufen im Verfügungsverfahren in die
Berufung gegangen. Es wird vermutet, daß es sich hierbei weitgehend um materielle
Schadensersatzansprüche handelt, weil ein Verzicht auf die Berufung sich nachteilig auf eventuelle
zivilrechtliche Forderungen auswirken könnte.308
Der ohne Rücksicht auf Kosten abgeworbene Lopez ist in der Automobilbranche international
berühmt und berüchtigt zugleich.309 Die „rauhen Geschäftsmethoden“ von Lopez sind international
umstritten. Er soll dem neuen VW Chef helfen, den „schärfsten Abschwung seit dem Zweiten
Weltkrieg“ (Piëch) bei VW zu stoppen.310 F. Piëch setzt offensichtlich auf die Schockwirkung
seiner Maßnahmen, Verkrustungen und Erstarrungen lassen sich aus seiner Sicht anscheinend
anders nicht beseitigen.311
Was letzteres konkret bedeutet, wird man angesichts des großen Organisationen gesetzmäßig
innewohnenden Beharrungsvermögens mit Spannung abwarten dürfen. Offensichtlich beabsichtigt
Lopez, die VW AG vor allem auf Kosten der Automobilzulieferer erfolgreich zu sanieren. Folgende
„Preisdrückerstrategie“ ist Basis der Lopez-Konzeption:
"1.Die Gefahr besteht in einem weltweiten Verdrängungswettbewerb auf Kostenbasis. Die
europäische Automobilindustrie darf diesen Kampf nicht verlieren. Eine zweite Chance
es nicht.
304
"Top-Business", Industriemagazin, Nr. 3, 1993, Seite 20.
Siehe: Braunschweiger Zeitung - Helmstedter Ausgabe, 07.04.1993.
306 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 10.04.1993.
307 Süddeutsche Zeitung, 03.02.1994.
308 Siehe: Süddeutsche Zeitung, 04.03.1994.
309 Siehe: Süddeutsche Zeitung, 18.03.1993, Seite 33.
310 Siehe: WirtschaftsWoche Nr. 12, 1903.1993, Seite 184.
311 Siehe: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.03.1993.
305
gibt
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2. Die Investitionen pro Autoeinheit müssen reduziert werden.
3. Kostengünstiger Input ist vor allem durch Kostensenkung bei Zukaufteilen und Abbau der
Bestände zu erreichen. Da eingekaufte Teile 60 bis 70 Prozent der Gesamtherstellungskosten ausmachen, führt eine Verbesserung des Einkaufskonzepts zwangsläufig
auch zur direkten Verbesserung des Preises."312
„Verlieren werden durch Lopez alle deutschen Zulieferer, profitieren wird dagegen eine Reihe von
Ausländern. Der Einfluß des Landes Niedersachsen als wichtigster Aktionär von VW hat bisher
dafür gesorgt, daß Volkswagen rund 80 Prozent seiner Zulieferungen aus dem Inland bezieht. Bei
Opel hat Lopez dagegen durchgesetzt, daß jedes zweite bei Opel zugekaufte Teil aus dem Ausland
kommt.“313
Bundesdeutsche Automobilzulieferbetriebe haben ihre Kosten in den vergangenen Jahren bereits
um ca. 30 Prozent gesenkt. Ein Dispositionsspielraum nach unten ist kaum mehr vorhanden, so daß
bei veränderter Einkaufsstrategie mit einer deutlichen Internationalisierung der Zulieferer gerechnet
werden kann und ein Großteil bundesdeutscher Zulieferer zu austauschbaren Unterlieferanten
degradiert wird.
„Fast 130.000 Menschen sind in Niedersachsen in der Automobilzuliefererindustrie beschäftigt.
Und allein 2.450 Unternehmen in Niedersachsen sind für VW tätig.“314
Auf den Zweckverband Großraum Braunschweig (Braunschweig, Salzgitter, Wolfsburg und die
Landkreise Gifhorn, Helmstedt, Peine und Wolfenbüttel) entfallen von allen Zulieferbetrieben der
VW AG rund 1000 Lieferanten, das sind 40 % der niedersächsischen Zulieferbetriebe.315
Es ist davon auszugehen, daß sich dieser Anteil niedersächsischer Zulieferer deutlich reduzieren
wird und eine Reihe von Zulieferbetrieben auch nicht das benötigte Kapital für erforderliche
Produktinnovationen besitzt.
Der VW Konzernvorstand hat bereits den italienischen Reifenkonzern Pirelli nach Jahren
gemeinsamer Geschäftstätigkeit von der Liste der Zulieferer gestrichen. „Bei Fragen des Preises
und der Logistik habe es unüberbrückbare Differenzen gegeben“.316 Ein Pressesprecher von Pirelli
teilte mit, der Wegfall bisheriger Lieferungen an VW bedeute eine jährliche Umsatzeinbuße von
zehn Millionen DM.317 Es kann vermutet werden, daß Pirelli der erste, aber keinesfalls der letzte
Automobilzulieferer ist, dem die Geschäftsbasis nach dem Motto entzogen wird: Wer als Zulieferer
nicht „preisgefügig“ ist, dem wird gekündigt! Wie wird es den hauptsächlich in Niedersachsen
angesiedelten mittelständisch geprägten Zulieferern zukünftig ergehen? Wird es für sie eine
realistische betriebswirtschaftliche Kostenkalkulation und Abnahmegarantien geben, die ein
Überleben am Markt ermöglichen? Die Landesregierung wird sicherlich im Rahmen ihrer
Möglichkeiten, ihren Einfluß über ihre VW Aktienbeteiligung dahingehend geltend machen, daß
die Umstrukturierung in der niedersächsischen Zulieferindustrie keinen Wirtschaftseinbruch zur
Folge haben wird. Es ist davon auszugehen, daß dabei im „Spannungsfeld“ zwischen
Kostenoptimierung der VW AG und Existenz der Zulieferer noch einige Entscheidungen offen sind.
Die Landesregierung wird bei der Durchsetzung ihrer Interessen keinen leichten Stand haben!
J.I. Lopez beabsichtigt, in fünf Jahren acht bis zwölf Milliarden Mark in der VW AG
einzusparen.318 Bisherige Erfahrungswerte zeigen, daß zur Wiedererlangung der
Wettbewerbsfähigkeit im Weltmarkt die Verringerung der Fertigungstiefe einen bedeutenden
Beitrag leisten kann. Der Volkswagenkonzern kann sich aber nicht nur über den Einkauf sanieren,
sondern wird auch seine Strukturen und Prozesse intern verbessern müssen, um im internationalen
Maßstab wieder eine Wettbewerbsfähigkeit zu erlangen.
312
WirtschaftsWoche, Nr. 14, 02.04.1993, Seite 159.
WirtschaftsWoche, Nr. 14, 02.04.1993, Seite 160.
314 Svetlik, W. (ehemaliges Vorstandsmitglied der Marke Volkswagen für das Ressort Beschaffung zuständig
gewesen) In: Wolfsburger Kurier, 28.03.1993.
315 Siehe: Günther, H. Ebenda, Seite 37.
316 Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 10.04.1993.
317 Siehe: Ebenda, 10.04.1993.
318 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 26.03.1993.
313
- 121 -
„Zu Vorsicht mahnt auch Daniel Jones, Mitautor der berühmten MIT-Studie über die Weltautoindustrie. Jones rät dem VW Vorstand: Er müsse sich auf interne Schwächen konzentrieren.
Denn das Werk Wolfsburg sei das entscheidende Problem, denn 60.000 Mitarbeiter an einem
Standort ließen sich nicht managen, Jones: VW braucht Männer wie Piëch und Lopez, um unter
diesen industriellen Dinosaurier eine Bombe zu legen.“319
Die bereits attestierte ökonomische Ineffizienz der im internationalen Wettbewerbsvergleich nach
heutigen Vergleichsmaßstäben zu groß dimensionierten Automobilfabrik in Wolfsburg ist ebenfalls
nach Einschätzung von D. Jones die größte Problematik der VW AG.
Die betriebswirtschaftliche Konsequenz dieser Prognose würde eine weitgehende
Bestandsgefährdung für die im VW-Werk Wolfsburg beschäftigten Mitarbeiter/innen zur
unmittelbaren Folge haben, wenn die eingeleiteten Maßnahmeschritte zur Ergebnisoptimierung
nicht greifen.
Der Erfolg seiner Einkaufsstrategie von J.I. Lopez wird mehr und mehr bezweifelt: „Über eine
effiziente Produktion lassen sich die Kosten bei den Zulieferern nicht mehr drücken... eine
ausgequetschte Zitrone gibt keinen Saft mehr,“320 äußerte R. Thieme, Chef des Karosseriebauers
Karmann in Osnabrück, stellvertretend für die Situation aus Sicht der Auto-mobilzuliefererbranche.
Die Möglichkeiten von weiteren Produktionskostensenkungen bei den Zulieferern sind weitgehend
erschöpft. „In den letzten Jahren ... hätten die deutschen Lieferanten ihre Produktivität im
Durchschnitt doppelt so stark gesteigert wie die Automobilindustrie ... und können (heute) zu den
gleichen Preisen abgeben wie vor fünf Jahren“321
VW hat noch fünfzig Prozent Einsparungsmöglichkeiten, wir aber nicht,322 lautet die
Stellungnahme eines Zulieferers.
In Folge dessen wird in Fachkreisen die Sanierungsstrategie von J.I.Lopez in seiner Effizienz
immer mehr in Frage gestellt, zumal sich die GM-Strukturen in ihrer Gesamtheit nur bedingt und
bruchstückhaft auf VW übertragen lassen.
Andererseits werden im VW-Werk Wolfsburg unter aktiver Beteiligung der Mitarbeiter/innen
zweifellos neue Maßstäbe der Produktivitätsentwicklung auf der Basis der „KVP² -Prozesses“
erfolgreich und vielversprechend umgesetzt.
KVP² setzt insbesondere auf die verantwortliche Einbeziehung der Mitarbeiter/innen, um
Verschwendung zu erkennen und zu beseitigen. Mit dieser Strategie wird beabsichtigt, die
Wettbewerbsfähigkeit des Werkes zu verbessern, indem die Organisation, die Arbeitsabläufe und
die Produkte verändert werden. Dazu benötigte man vor allem die langjährigen Erfahrungen der
Mitarbeiter, denen durch KVP² mehr Möglichkeiten gegeben werden, selbst zu handeln.323
Diese systematisch durchgeführten Workshops sind eine Chance, die betrieblichen
Gestaltungsspielräume von denen zu gestalten, die den Produktionsprozeßablauf am besten kennen
und infolgedessen zu ihrer Umgestaltung und Verbesserung als „interne Hauptdarsteller“ am
produktivsten beitragen können: Die Arbeitnehmer/innen.
„Die KVP-Workshops hätten Steigerungen von im Durchschnitt 20 bis 25% gebracht.“324
Großvolumige Kosteneinsparungen können aber erst in der Entwicklung neuer Modelle (Golf IV ab
1996) realisiert werden. Obwohl die Modelländerung ein Jahr früher als ursprünglich geplant
319
WirtschaftsWoche Nr. 14, 02.04.1993, Seite 160.
Stern, Nr. 28, 08.07.1993, Seite 130.
321 VDA-Geschäftsführer M. Herzog, In: Stern, Nr. 28, 08.07.1993, Seite 130.
322 Siehe: Stern, Nr. 28, 08.07.1993, Seite 131.
323 Siehe: Wolfsburger Kurier, 24.10.1993.
324 Wolfsburger Kurier, 20.02.1994.
320
- 122 -
umgesetzt werden soll, käme sie für den unter Erfolgsdruck stehenden J.I.Lopez zu spät, zumal das
Vorstandsressort Entwicklung nicht unter seinen Zuständigkeitsbereich fällt.
In dieser für den neu konstituierten VW Vorstand kritischen Zeitphase greift F.Piëch zur
Entlastungsstrategie und behauptete in einem Zeitungsinterview:
„Daß VW bereits zum Jahresende aus den roten Zahlen kommen werde... hochgerechnet aufs Jahr
schreiben wir eine schwarze Null. 1993 wird VW verlustfrei sein.“325
Weitere „Einsparungen von acht Milliarden Mark seien sofort in Angriff genommen, bereits 90
Prozent dieser Maßnahmen sind realisiert worden.“326
In dieser fatalen Situation heißt die Devise anscheinend „Zweckoptimismus“:
„Die Auftragseingänge bei der Marke VW hätten in den vergangenen sechs Wochen deutlich
angezogen, sagte F. Piëch. Der Markt scheint wieder anzuspringen. Nach dem jetzt beendeten
Werksurlaub sei keine Kurzarbeit mehr bei der Marke geplant.“327
Doch schon kurz danach wurde für 1993 der volle Rahmen für Kurzarbeit beantragt und trotz der
geschönten branchenunüblichen Einmonatsabsatzberichte kamen neutrale Marktbeoachter zu
entgegengesetzten Prognosen:
„In der Europäischen Gemeinschaft sind im September 1993 mit 795.030 Autos rund 9,5% weniger
Neuwagen zugelassen worden als im gleichen Vorjahresmonat. Wie die Vereinigung der
Europäischen Autohersteller mitteilte, mußte der Marktführer VW EG-weit mit 133.570
Fahrzeugen einen überdurchschnittlichen starken Rückgang von 16,6% hinnehmen - der VW
Marktanteil schrumpfte dadurch von 18,2 auf 16,8 Prozent... Der GM-Absatz verringerte sich mit
4,8% unterdurchschnittlich auf 103.350 Wagen, der Marktanteil stieg von 12,4 auf 13,0 %“328 (
September 1992: 12,4 % ).
Der Versuch, die Konjunktur- und Strukturkrise mit kosmetischen Mitteln öffentlichkeits-wirksam
zu lösen, erscheint angesichts aufgezeigter Rentabilitätsdefizite nicht überzeugend.
Das Nachsehen haben hierbei in erster Linie die Arbeitnehmer/innen, die solche Managerstrategien
durch eine nachträgliche und um so konsequenter durchgeführte Personalabbaupraxis nachhaltig
und konkret zu spüren bekommen.
Auch die Marke „Audi“ gerät ins „Strudeln“, wobei die Gründe dafür umstritten sind.
„Schon zu Beginn der Autokrise und kurz vor seinem Wechsel von Audi zu VW (ließ F. Piëch) die
Produktion auf Hochtouren laufen und damit die Probleme bei Audi selbst verschärfte.“ 329
„Die Audi AG in Ingolstadt wird 1993 rund ein Viertel ihres Umsatzes verlieren und mit rund 200
Millionen DM Verlust vor Steuern abschließen.“ 330
F. Piëch beabsichtigte mit den fünf Vorstandsvorsitzenden der Audi AG für zwei Tage in Klausur
zu gehen, um „das angespannte Verhältnis zwischen ihm und den Managern der Tochtergesellschaft
(zu schlichten). Eine Psychologin sollte moderieren. Das Treffen ist geplatzt.“331
Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ konstatierte zur Seat-Krise: „Der Absturz bei Seat aber
zeigt, daß F.Piëch mit der Führung des Unternehmens offenbar überfordert ist.“332
325
Die Welt, 09.07.1993.
Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 10.07.1993.
327 Wolfsburger Allgemeine Zeitung , 11.08.1993.
328 Wolfsburger Allgemeine Zeitung und Hannoversche Allgemeine Zeitung, 15.10.1993.
329 Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 05.02.1994.
330 Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 22.12.1993.
331 Manager Magazin, 24. Jahrgang, 3/1994, Seite 16.
332 Der Spiegel, Nr. 36, 06.09.1993, Seite 116.
326
- 123 -
Der VW Aufsichtsratsvorsitzende K. Liesen übte in diesem Zusammenhang öffentliche Kritik, weil
der Aufsichtsrat erst verspätet, Mitte August 1993, über die Milliardenverluste der VW Tochter
Seat vom Vorstandsvorsitzenden informiert worden sei. Orginalzitat: „Das ist ein Problem!“333
Mittlerweile soll die Senkung der Gewinnschwelle von vormals über 100 Prozent auf unter 80
Prozent der Kapazitätsauslastung und die Reduzierung der Montagezeit pro PKW von 38 auf 33
Stunden nach Angaben vom VW Vorstandsvorsitzenden F. Piëch erreicht worden sein.334
Andererseits produzierte die VW AG im Wolfsburger Zweigwerk 1993 „nur“ noch 614.000 PKW,
25 Prozent weniger als 1992.335
Diese Minderauslastung der Produktion im Wolfsburger VW-Werk bewirkt eine Eliminierung der
erzielten Produktionsfortschritte und der daraus resultierende Kostendruck verschärft den
konzerninternen Konkurrenzkampf zwischen den in- und ausländischen Standorten der VW AG
erheblich. 1993 produzierte die VW AG im Ausland erstmals mehr PKW (u.a. VW Polo in Spanien,
Seat und Skoda) als im Inland mit den Marken VW und Audi.
Diese Wettbewerbskonkurrenz unter den in- und ausländischen Zweigwerken in der VW AG
überträgt sich aber auch auf die Zulieferindustrie, wo VW Abteilungen permanent effektivere
Kostenvergleichsergebnisse erzielen müssen, um die Teilefertigung erfolgreich im Kernbereich der
VW AG zu halten.
Die Strategie des Managements, einen konsequenten Weg der internen Optimierung auf allen
Ebenen und in allen Bereichen permanent fortzusetzen, wird sich auf das Beschäftigungs-volumen
nachhaltig auswirken.
Die Absichtserklärung von F. Piëch, der mitten im Zentrum des größten Automobilmarktes der
Welt, in Detroit, die VW Modellvariante „Concept 1“ offiziell vorstellte, läßt langfristig Hoffnung
aufkommen und kurzfristig den VW Aktienkurs ansteigen. 336
Die „Wiedergeburt“ des einstigen Erfolgsmodells „Käfer“ für die Fahrzeugkonzeption der 90er
Jahre, das äußerst preiswert und trotzdem rentabel produziert werden soll, setzt eine neue nach
unten orientierte Preismarke von ca. 15.000 DM.
Eine anvisierte minimale Rekordzeit von unter zwölf Stunden Produktionsdauer für dieses
Fahrzeug soll dazu beitragen, daß die Produktivität deutlich höher sein wird als die der japani-schen
Konkurrenz.
Es ist anzunehmen, daß aufgrund dieser vorgegebenen Werte und der Internationalisierungs-praxis
der VW AG der Standort Wolfsburg für dieses Projektvorhaben kaum in Erwägung gezogen wird.
Doch wie auch immer diverse Managerstrategien in ihrem Ergebnisfindungsprozeß letztendlich zu
bewerten sind, sie werden keinen Spielraum für arbeitsintensive Gestaltungsformen offen lassen.
Selbst wenn alle spektakulär verlaufenen personellen „Anwerbungsmaßnahmen“ für spätere
Kostenminimierungsaktionen notwendig wären, um den Restbestand zu halten, kommen auch unter
Berücksichtigung folgender Überlegungen Zweifel auf: Auch unterstellte Spezialquali-fikationen
sind selbst auf der Ebene von Spitzenmanagern jederzeit austauschbar. Jedes Qualifikationsniveau
ist heutzutage personell auf allen Hierarchieebenen reichhaltig vorhanden.
Das VW-Werk Wolfsburg mit Konzernsitz ist neben den analysierten Strukturdefiziten schon
deshalb problemorientiert, weil hier weniger humankapitalintensive Tätigkeiten dominieren und die
erwähnten
personalintensiven
Kernfertigungsbereiche
ein
hohes
Auslagerungsgefährdungspotential beinhalten.
333
Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 01.10.1993.
Siehe: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 03.12.1993.
335 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 04.12.1993.
336 Siehe: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.01.1994.
334
- 124 -
Die weitere Globalisierung von Investitionen, Handel und Finanzströmen wird den Wettbewerb
extrem intensivieren. Diese verstärkte Internationalisierung wird die Standortdiskussion in
Niedersachsen extrem verschärfen und einzelne Standorte könnten gänzlich in Frage gestellt
werden.
So wird beispielsweise die strategische Bedeutung des Zweigwerkes Emden als exportorientierter
Standort an der Nordseeküste durch die Internationalisierungspraxis der VW AG erheblich an
Bedeutung verlieren und diese hoch subventionierte Produktionsstätte in ihrem Gesamtbestand
überdurchschnittlich gefährdet sein.
Die technologische und betriebswirtschaftliche Neuorganisation der VW AG in Richtung „Profit
Center“ kann letztendlich für das Wolfsburger VW-Werk Gestaltungsformen annehmen, die aus
dem Werksgelände einen großvolumigen Industriepark mit juristisch unabhängigen Unternehmen
macht, die gegebenenfalls gegenseitig konkurrieren und auch externe Aufträge (z.B. von Ford-AG
oder Opel-AG) annehmen könnten.
Aus diesen neu entstehenden Organisationsformen ergeben sich dann verschiedenartige
Tarifverträge, noch effizientere Abschreibungsmöglichkeiten und ein Höchstmaß an Flexibilität und
einer effektiveren Steuerung der Produktionsabläufe.
Längerfristige Entwicklungstendenzen in der Automobilindustrie zeichnen sich durch eine
strukturelle Schrumpfung dieses Industriezweiges insgesamt aus, wobei die eigentliche Brisanz
dieser zentralen Problematik nicht das Zerbrechen „alter“ Produktionsstrukturen darstellt (da aus
Erfahrung resultierend im dynamischen Entwicklungsprozeß neue Branchen entstehen und sich den
veränderten Verhältnissen erfolgreich anpassen können, wenn die ökonomischen
Rahmenbedingungen dafür eine Möglichkeit geben) sondern die Tatsache der primär fehlenden
Arbeitsplatzkompensation.
Der zukünftige Megamarkt in Osteuropa erscheint für Investoren verlockend: Unendliche
Bedürfnisse sind vorhanden, aber es existiert noch keine Kaufkraft, um die Bedürfnisse zu
realisieren. Was liegt näher, als die Wertschöpfung vor Ort zu bringen, damit eine
Wirtschaftszirkulation entsteht?
Gleichzeitig kann ein Teil der dort produzierten Produkte nach Deutschland importiert werden,
welches die längerfristige Konsequenz beinhaltet, daß die inländische PKW Nachfrage (außer dem
gehobenen Marktsegment) auch aus osteuropäischen Produktions-stätten beliefert werden kann.
Auch hierbei stellt sich die Frage, ob eine Vier-Arbeitstage-Woche bei fünf Produktionstagen als
Beschäftigungssicherungsinstrument unter dem Aspekt weiterer permanenter Kosten-anpassungen,
insbesondere ab 1996 dauerhaft gehalten werden kann.
Im Endeffekt wird es sich hierbei wahrscheinlich „nur“ um eine Zwischenlösung handeln, die zwar
sinnvoll, konstruktiv und zweckmäßig ist, aber die die zentrale Problemstellung des dramatischen
Falles der Gewinnrate zum quasi „Subventionsunternehmen“ in einer nicht mehr
wettbewerbsfähigen Konzernstruktur nicht verhindern kann und innerhalb eines extrem enger
werdenden Automobilmarktsegmentes noch weitere Anpassungsstrategien nach sich ziehen wird.
In dieser spezifischen Situation zeichnen sich Manager dadurch aus, daß sie in Zeiten schwindender
Marktanteile in der Lage sind, ein Höchstmaß an organisatorischer Flexibilität und Kompetenz auch
für den Erhalt von Arbeitsplätzen erfolgreich zu investieren.
Der japanische Unternehmensberater M. Jmai stellte sein Konzept „Kaizen“ (kontinuierliche
Verbesserungen) vor, das eine Balance zwischen Qualität, Kosten und Kunden darstellen soll. In
Anspielung auf die europäische Automobilindustrie argumentierte Jmai: „Europäische Manager
verstehen Kostenreduzierungen oft nur als Hauruckaktionen in Form von Personal-abbau,
Werksschließungen oder schnellen Druck auf die Zuliefer ... So verbaut man sich eher seine
Zukunft.“337
337
Braunschweiger Zeitung, Helmstedter Ausgabe, 12.05.1993.
- 125 -
Es kristallisiert sich hierbei heraus, daß das Erhalten von Arbeit und Gewinnen die wichtigste
Priorität für den Betriebsrat der VW AG und eine beschäftigungssichernde Verteilung von
Restbeschäftiungsverhältnissen zukünftig die größte Herausforderung für die betroffenen
Arbeitnehmer/innen sein wird.
Das Betriebsverfassungsgesetz (Betr.-V.G.) als rechtliche Ausgangsbasis der betrieblichen
Arbeitnehmerinteressenvertretung bietet m. E. hierzu nur unzureichende bis fehlende
Handlungsmöglichkeiten.
Ein weiterer Gesichtspunkt zur Thematik „Managerstrategien“ sollte neben den etablierten
Kriterien wie Rentabilität oder Liquidität auch den wichtigen Aspekt des gesellschaftlichen und
regionalen Nutzens für Südostniedersachsen in zukünftigen Entscheidungsfindungen mit
berücksichtigen.
Es ist davon auszugehen, daß die neuen anvisierten Produktionsabläufe und Organisationsmethoden
in der VW AG sich in Bezug auf das zukünftige Arbeitsplatzvolumen (inklusive der
Zulieferindustrie) äußerst negativ auswirken, wovon auch der Landkreis Helmstedt nachhaltig
betroffen sein wird.
Die Kehrseite von Effizienzsteigerungen zur Wiederherstellung der Rentabilität sind die
Personaleinsparungsmaßnahmen und die vermuteten Arbeitsverdichtungen betroffener
Arbeitnehmer in der VW AG. Wie der politisch sicherlich umstrittene und aus Unternehmersicht
betriebswirtschaftlich begründbare Beschäftigungsabbau volkswirtschaftlich aufgefangen werden
kann, ist die große ungelöste Frage- und Problemstellung.
Diesen arbeitsmarktpolitischen Abbauprogrammen müßten alternative Aufbaukonzepte parallel
gegenüberstehen, um einen für ganz Niedersachsen existenziell notwendigen Strukturwandel
einzuleiten.
3.2.9 Automobilzulieferer am Anfang des (erzwungenen) Anpassungsprozesses
Die im Abschnitt „Rentabilitätsproblematik“ analysierten Defizite erfordern sicherlich konsequente Maßnahmen zur Gegensteuerung.
Es verdichten sich Indizien, wonach die Automobilproduzenten und in der jetzigen Zeitphase,
insbesondere die VW AG, aufgrund eigener Versäumnisse in der gegenwärtigen Absatzkrise sich
hauptsächlich über die Automobilzulieferindustrie sanieren wollen.
„Wenn einige Zulieferer heute klagten, der Umstrukturierungsprozeß bei VW gehe zu schnell, so
habe er zwar Verständnis dafür, doch müsse er auch sagen: Das muß so rasch gehen, sonst geht
alles den Bach runter.“338
Die „Schlankheitskur“ der Automobilindustrie hat die Zulieferbranche kräftig durcheinandergewirbelt. Trotz Kooperationen, Fusionen und strategischer Allianzen mit den Herstellern,
erscheinen Personalabbau und Fabrikverlagerungen ins Ausland unvermeidlich. Mit dem
Strukturwandel bei den Automobilherstellern werden auch die Zulieferer zu Anpassungsprozessen
gezwungen, die nicht konfliktfrei ablaufen.
Zwischen der VW AG und der Zulieferindustrie ist ein weiterer brisanter Konflikt aufgetreten:
„Wenn Lopez so weitermacht, ruiniert er die gesamte industrielle Infrastruktur der Bundesrepublik,
werfen ihm die Teilehersteller bereits jetzt unverhohlen vor.“339
Auf diversen Gesprächen zwischen der VW AG und den Zulieferern, die initiativ vom VDA
zustande kamen, äußerte VW Vorstandsmitglied J.I.Lopez: „Die Zulieferfirmen müßten ihre Kosten
senken und mit den Preisen deutlich zurückgehen.“ 340
338 Schröder,G. Niedersächsischer Ministerpräsident und Mitglied im Aufsichtsrat der VW-AG. In:
Hannoversche Allgemeine Zeitung, 24.11.1993.
339 Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 12.05.1993.
340 Hannoversche Allgemeine Zeitung, 13.05.1993.
- 126 -
Aus der Sicht des VDA ist die Ausgangslage der Zulieferer bereits jetzt äußerst kritisch, da die
meisten Unternehmen mit Verlusten arbeiteten. 341
„Schon in den vergangenen fünf Boomjahren konnten die meist mittelständischen Betriebe
gegenüber den mächtigen Autokonzern nur eine magere Preiserhöhung von rund 1,4 Prozent
durchsetzen. Die durchschnittliche Umsatzrendite fällt seit Jahren und erreichte Anfang 1992 nach
einer Branchenanalyse der Düsseldorfer IKB gerade noch magere 1,5 Prozent. Die
Großunternehmen wälzen überdies im just-in-time Verfahren die Lagerhaltungskosten auf die
Lieferanten ab und betreiben zunehmend „Global Sourcing“ - bedienen sich weltweit des günstigen
Angebotes." 342
Das Preisdiktat der Automobilhersteller gegenüber den Lieferanten ist als extrem einzuordnen. So
wurden im Januar 1993 zahlreichen Zulieferern von VW mitgeteilt, daß VW einseitig und mit
sofortiger Wirkung die Preise um 5 Prozent reduzieren wird. 343
"Wenn VW in Einzelfällen von heute auf morgen Preisnachlässe von 28 Prozent von seinen
Zulieferern verlange und parallel dazu den Anteil der Zulieferungen aus Spanien von jetzt 18 auf 67
Prozent ausweiten wolle," 344 bedeutet das Stellenreduzierungen, die im Jahresdurchschnitt 1993 bei
mehr als 20 Prozent lagen und Ertragseinbrüche, die fast in der gesamten Zulieferbranche
Niedersachsens zu roten Zahlen führten.345
Der Geschäftsführer vom VDA, J. Diekmann, erklärte zur Situation der Zulieferer-unternehmen:
„Sorge bereitet dem Verband die Flucht vor allem der Zulieferer ins Ausland. So planen einer
Umfrage zufolge rund 65 Prozent aller Teilehersteller, Produktionsstätten nach außerhalb zu
verlegen. Für die Industriestruktur Deutschland sei eine solche Entwicklung schädlich. Was hier
wegschmilzt, kommt nicht mehr zurück.“346
Im Hinblick auf den EU-Binnenmarkt prüft die Automobilzulieferindustrie verstärkt die
Möglichkeit der Minimierung von Gesamtkosten mit der Tendenz, „daß auch die Zulieferer eine
stärkere Internationalisierung unter Ausschöpfung der jeweiligen Standortvorteile anstreben.“ 347
Die Kommission der Europäischen Gemeinschaft hat das Gemeinschaftsunternehmen von VW und
Ford zu einer gemeinsamen Montagefabrik in Portugal gebilligt. Das EG-Subventionsvolumen
umfaßt 1,1 Milliarden DM.348 Um dieses Werkgelände werden sich Automobilzulieferfirmen in
einem Volumen ansiedeln, der weit über den Bedarf der dort produzierten Großraumlimousinen
geht. Solche großvolumigen Investitionsmaßnahmen beschleunigen die Verlagerungen der unter
starkem Kostendruck stehenden Automobilzulieferindustrie ins europäische Ausland.
Diesbezügliche Zielvorstellungen der Europäischen Union, ökonomische Diskrepanzen langfristig
anzugleichen, werden sich in ihrer Gesamtheit nicht zu Gunsten deutscher Automobilproduktionsstandorte und der heimischen Zulieferindustrie auswirken.
Die Strukturkrise in der Automobilindustrie überträgt sich zeitgleich auf die von ihr abhängige
Zulieferindustrie. „Die Zulieferer müssen noch viel mehr rationalisieren als die Automobilindustrie
... So werden auch hier die Jobs im Tausender-Pack gestrichen.“349
Nach einer veröffentlichten Studie der „Price Waterhouse Corporate Finance Beratung GmbH“,
wird die Anzahl der Automobilzulieferer von rund 3000 auf etwa 500 drastisch schrumpfen.350 Der
341
Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 12.05.1993.
WirtschaftsWoche, Nr. 7, 12.02.1993, Seite 113.
343 Siehe: WirtschaftsWoche, ebenda, Seite 114.
344 Hannoversche Allgemeine Zeitung, 04.12.1993.
345 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 04.12.1993.
346 Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 26.08.1993.
347 Handelsblatt, Nr. 27, 07.02.1989.
348 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 24.12.1992.
349 WirtschaftsWoche, Nr. 21, 15.05.1992.
342
- 127 -
tiefgreifende Strukturwandel innerhalb der Zulieferer wird verstärkt zu Firmenschließungen, für
den Rest zu Kooperationen, Fusionen und Übernahmen führen.
Das VW-Werk Wolfsburg unterhält derzeit, zusammen mit den Zweigwerken Braunschweig und
Salzgitter, zu über 12.000 Zulieferbetriebe aus dem gesamten Bundesgebiet und europä-ischen
Ausland vertragliche Geschäftsbeziehungen. Zukünftig läuft die Beschaffungsstrategie der VW AG
auf eine deutliche Reduzierung der Lieferantenanzahl (single sourcing) hinaus,351 die zu einer
ausgeprägten Straffung der Anzahl und organisatorischer/produktionstechnischer Umstrukturierung
der Beschafffungswege führen wird.
Unverklausuliert äußerte sich der VW Vorstandsvorsitzende F. Piëch, zu dieser zentralen
Problematik : „Um einen Volkswagen zu bauen, benötigte man bisher 1500 Zulieferer. Diese Zahl
der „Logistik-Partner“ werden auf wir auf 100 drücken.“352
Zu alledem verschlechtert sich die Lage der Zulieferer, weil die VW AG noch auf das sogenannte
„Single-Sourcing-System“ umgeschaltet hat, das die einzelnen Fahrzeugkom-ponenten nur von
einem einzigen Lieferanten beziehen will.
Diese „Logistik-Partner“ oder auch „Modulhersteller“ genannt, werden von der VW AG als
Systemführer nur akzeptiert, wenn sie für das Risiko und die Kosten für Ansiedlung, die
Vorentwicklung und Montage komplett vorgefertigter Komponenten und für die Lagerungs- und
Transportkosten einseitig aufkommen.
Bei der von der Automobilindustrie zukünftig geforderte Erhöhung der Gesamteffizienz von
Zulieferfirmen anhand von Qualität, Kostenposition, Entwicklungskompetenz, Logistikvoraussetzungen und Produktionsflexiblität 353 sind mittelständisch geprägte Zulieferer nicht mehr in
der Lage, diesen Anforderungskriterien auch hinsichtlich der zunehmenden Internationalisierung zu
entsprechen.
Von den derzeit 2300 niedersächsischen Zulieferern, die bisher VW direkt versorgen, dürften
lediglich noch 100 übrig bleiben. Der Rest könnte wiederum den rund 400 Systemzulieferern von
VW eventuell zuarbeiten. Bei dem Prozeß würden wohl nicht alle Zulieferer mit insgesamt 70.000
Mitarbeitern in Niedersachsen überleben,354 äußerte der niedersächsische Wirtschaftsminister P.
Fischer in einer Pressekonferenz.
Die im Auftrag der niedersächsischen Landesregierung von R. Berger und Partner GmbH erstellte
Studie über die „Handlungsempflehlungen... zur Unterstützung des Strukturwandels in der
Automobilindustrie“ umfaßte 44 beteiligte Unternehmen mit einem 1992 erzielten Umsatz von 12,1
Mrd. DM am Standort Niedersachsen bei einer Mitarbeitergesamtzahl von 51.360
Arbeitnehmer/innen.355
Die hohe Resonanz dieser Studie bei den betroffenen Unternehmen verdeutlichte die
problematische Lage der niedersächsischen Automobilzulieferindustrie. Der Landesregierung
wurde empfohlen, durch gezielte Schwerpunktsetzung den Strukturwandel bei den Zulieferern
frühzeitig zu fördern und mitzugestalten, anstatt spätere Sanierungsfälle zu bearbeiten.356
Als Defizit der niedersächsischen Zulieferindustrie wird in der Studie die große Abhängigkeit von
sehr wenigen oder einem einzigen Kunden (VW AG) genannt. Zu den Schwachstellen werden auch
eine zu geringe Internationalität und Mängel in der Mitarbeiterqualifizierung gezählt. Die
Strukturanpassungen seien bisher nur vereinzelt eingeleitet worden. Wenn Maßnahmen ergriffen
350
Siehe: Handelsblatt, 26.04.1993.
Siehe: Günter, H. Ebenda, Seite 9.
352 Die Welt, 09.07.1993 und Braunschweiger Zeitung, 10.07.1993.
353 Siehe: Handelsblatt, 26.04.1993.
354 Siehe: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 10.05.1993 und Braunschweiger Zeitung, 10.05.1993.
355 Siehe: Berger, R. und Partner GmbH, Studie: Handlungsempfehlungen an die Niedersächsische
Landesregierung zur Unterstützung des Strukturwandels in der Automobilzulieferindustrie. Hannover
Seite 23.
356 Siehe: Dto.,Seiten 23 und 35.
351
27.10.1993,
- 128 -
worden seien, dann seien sie vorrangig mit den klassischen Methoden (Entlassungen) getätigt
worden.357
Nach Einschätzung der niedersächsischen FDP-Landtagsfraktion sind von den rund 120.000
Arbeitsplätzen der Zulieferindustrie ein Fünftel in der näheren Zukunft äußerst gefährdet.358
So beschlossen die beiden Automobilzulieferer Teves und SWF, an der Internationalen
Automobilausstellung im Herbst 1993 nicht teilzunehmen. Die Töchter des US-Konzerns IFF haben
sich zu diesem Schritt auf Grund der aktuellen Absatzlage in der Automobilindustrie, die mit einer
Verschlechterung der Preissituation für die Zulieferer einhergeht, entschlossen.
„Es müßten im Personal- und Sachkostenbereich unpopuläre Entscheidungen getroffen werden, um
die Ertragslage der Zulieferindustrie zu stützen.“359
In der Branche wird dies als Signal für die rigide Preisverhandlungsstrategien der Autohersteller
gewertet.
Der Pkw-Zulieferer Mittelmann Guß GmbH in Velbert bei Düsseldorf schloß zum 30.09.1993
endgültig seine Werkstore. Von der Schließung waren 600 Arbeitnehmer/innen betroffen. Der
Konkursverwalter der Gießerei habe erklärt, ruinöse Preisforderungen des Mittelmann
Hauptabnehmers VW AG zwängen das Unternehmen zur Aufgabe. Orginalzitat: "Wir sind das erste
Lopez-Opfer!" 360
Sicher nicht der erste, aber zweifelsfrei kein Ausnahmefall und nicht der letzte mittelständisch
geprägte Zulieferer, der dem ruinösen Preisdiktat der VW AG zum Opfer fallen könnte.
Dies ist ein weiteres Indiz für die Annahme, daß mehrere Gesprächsrunden, die landesweit,
teilweise unter Anwesenheit von F. Piëch und J.I. Lopez, vom Ministerpräsidenten G. Schröder
geleitet wurden, nicht den erhofften Effekt einer Bestandssicherung auf den Großteil der Zulieferer
unter veränderten Lieferbedingungen haben könnten. In einer dieser Gesprächsrunden aus
betroffenen Firmenleitungen, Banken und Vertretern der VW AG, (an dem auch die Firma
Mittelmann Guß GmbH beteiligt war) wurde gemeinsam ein Fortführungskonzept speziell für die
mittelständischen Familienbetriebe in Erwägung gezogen.
Entgegen dieser Absichtserklärung habe die VW AG im Juni 1993 der Mittelmanngeschäftsführung mitgeteilt, daß das Unternehmen sich nicht mehr an dieses Konzept gebunden
fühle. „Für das kommenden Jahr erwartete VW Preisnachlässe von 28 Prozent für rund ein Drittel
der Mittelmann - Produkte oder die Aufträge würden nach Spanien gehen. Die VW
Preisvorstellungen deckten nicht einmal die Lohn- und Materialkosten.“361
Die Präzisionswerkzeugindustrie ringt ebenfalls ums wirtschaftliche Überleben. Der Vorsitzende
der Fachgemeinschaft Präzisionswerkzeuge im VDMA, W. Kelch, äußerte anläßlich der HannoverMesse: „... der ausgeübte Preisdruck führt zu einem verschärften Wettbewerb ... der Lopez-Effekt
greife wie ein Virus um sich und bewirke eine totale Erosion der Erträge...
Konstruktionszeichnungen und Fertigungsunterlagen würden an konkurrierende Mitwettbewerber
weitergegeben.“362
Es ist positiv zu werten, daß sich die Wirtschaftspolitik der strukturellen Veränderungen in der VW
AG annimmt und diesen Prozeß nicht gänzlich dem „freien Spiel der Kräfte“ überläßt. Trotzdem ist
anzumerken, daß auch die vom Wirtschaftsministerium initiierten Gesprächsrunden zwischen
niedersächsischen Zulieferbetrieben und VW Management sich anscheinend nur auf eine
Moderatorenfunktion der Landesregierung beschränken. Politik soll auch keine Wirtschaft ersetzen,
nur der Prozeß einer drastischen Schrumpfung der Automobilzuliefereranzahl und das Wegbrechen
357
Siehe: Dto., Seite 20 ff.
Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 01.10.1993.
359 Siehe: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 01.12.1993.
360 Siehe: Volksstimme, Oscherslebener Ausgabe, 05.07.1993.
361 Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 06.07.1993.
362 Kelch, W., In: Braunschweiger Zeitung, 21.09.1993.
358
- 129 -
einer hohen Anzahl von Arbeitsplätzen werden durch diese Gesprächsrunden vermutlich weder
aufgehalten, noch die anvisierte Größenordnung reduziert werden können.
„Die sich drastisch verschlechternde Ausgangslage der niedersächsischen Zulieferindustrie verlangt
nach einem Konzept zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit, statt der Behebung von
Einzelproblemen.“363
Die niedersächsische Landesregierung hat eine Standort-, Qualifzierungs- und Kooperationsoffensive eingeleitet, mit der Zielvorstellung, den Strukturwandel bei den Zulieferern zu fördern.364
Wie sollen diese „Handlungsempfehlungen“ der R. Berger Studie in wirtschaftspolitische
Maßnahmen umgesetzt werden, wenn sich VW hauptsächlich auf Kosten der Automobilzulieferer
saniert und seitens der betroffenen Zulieferer sich die Kostenstruktur auf Basis des bestehenden
Gefüges nicht mehr reduzieren läßt?
Die Antwort auf diese Fragestellung wird durch einen verstärkten Konzentrations- und
Zentralisierungsprozeß innerhalb der Automobilzulieferindustrie geprägt sein. Vom Teile-, zum
Komponenten-, zum System- und letztendlich zum Modulhersteller wird sich die Zulieferkette
verändern.
Der Gestaltungsspielraum dieser Kompetenzerhöhung von letztendlichen Modullieferanten
(Logistik-, Standort- und Technologiekompetenzinhaber) wird gegenüber der monopolartigen
Einkaufsmacht von Automobilherstellern aber nur zum Tragen kommen, wenn dadurch Kosten vom
Abnehmer (VW) zum Lieferanten (Automobilzulieferer), z.B. durch Lagerhaltungskosten verlagert
werden.
Welchen Stellenwert werden die Modulproduzenten und -lieferanten in ihrem quantitativen
Bedeutungszuwachs letztendlich haben, wenn der Abnehmer VW eine marktorientierte Preis- und
Abnahmegarantie verweigert oder beispielsweise von vornherein ausschließt ?
Der arbeitsmarktpolitische Gesichtspunkt ist hierbei in der Tendenz die Segmentierung in
Kernarbeitsplätzen (VW AG) und Randarbeitsplätzen (Modulzulieferproduzenten).
Das nicht vorhandene oder nur begrenzte Innovationspotential von mittelständisch geprägten
Unternehmen kann eine erfolgreiche Umstrukturierung zum System- oder Komponenten-lieferanten
kaum bewerkstelligen.
Die Konsequenz des veränderten Zuliefervererhältnisses von System- und Komponentenlieferanten wird sich dahingehend entwickeln, daß künftige Subunternehmen verstärkt in Süd- und
vor allem Osteuropa ihre Teilevorfertigung produzieren und damit die einheimischen Anbieter
umgehen bzw. ökonomisch ausschalten. Den verbleibenden Zulieferern bleibt diesbezüglich keine
andere Wahl, weil der Kostendruck sie zwingt, neue kostengünstigere Kundenbeziehungen
aufzubauen und parallel interne Rationalisierungsprojekte zur Erhaltung der eigenen
Wettbewerbsfähigkeit durchzuführen.
Bei den „unabhängigen“ Autozulieferern ist die wirtschaftliche Existenz davon abhängig, ob es den
Unternehmen gelingt, die zum Teil vollständige Umsatzabhängigkeit von wenigen oder einem
Abnehmer zu mindern. Wenn es richtig ist, daß die Überlebensrisiken und Strukturprobleme vieler
mittelständischer Autozulieferer in den vergangenen Jahren nur durch die einzigartige
Autokonjunktur zugedeckt worden war,365 dann verheißt der eingetretene Nachfragerückgang auf
dem Automobilmarkt nichts Positives. Eine Risikominderung wird daher für viele nur durch eine
mit Augenmaß betriebene Diversifikation der Produktion und die Stärkung bereits vorhandener
autounabhängiger Standbeine zu erreichen sein. Einige wenige Unternehmen haben hierbei
aufgrund ihrer traditionellen Produktions- und Qualifikationsstruktur bessere Chancen.
363
Siehe: Berger, R. und Partner GmbH. Ebenda, Seite 2.
Siehe: A. Tacke, (Staatssektretär im niedersächsischen Wirtschaftsministerium), In: Metall, Zeitung der
Industriegewerkschaft Metall, 25.02.1994, Seite 20.
365 Siehe: Süddeutsche Zeitung, 14.04.1992 und Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.04.1992.
364
- 130 -
Die verschärfte Konkurrenz der Automobilzulieferindustrie untereinander um kostengünstigere
Herstellung spielt eine wesentliche Rolle, sich durch Angebote in unmittelbarer Nähe zum
Hersteller in Verbindung mit just-in-time Anlieferung eine günstigere Ausgangsposition in einem
fest umkämpften Markt zu schaffen. Gleichzeitig tendieren die Zulieferer unter dem von der
Automobilindustrie diktierten Abgabepreisen dahin, unter Ausschöpfung der jeweiligen
Standortvorteile sich verstärkt nach Süd- und Osteuropa zu verlagern. Der Druck auf die Erträge
der Zulieferindustrie nimmt extrem zu, so das Anhaltspunkte für Knebelungsverträge gegeben sind.
„Erhebliche nachteilige Wirkungen sind bei kleineren und mittleren Zulieferunternehmen auch
hinsichtlich ihrer Autonomie und Gestaltungsfreiheit zu erwarten. Insbesondere die informative
Vernetzung mit dem Autohersteller, die strikte Erfüllung auch kurzfristiger Lieferabrufe und die
absolute Einhaltung hochgeschraubter Qualitätsstandards (Null-Fehler-Qualität) degradieren den
normalen Zulieferer zu einem reinen Befehlsempfänger.“366
Die Zulieferbranche wird dem Kostendruck „um Pfennigkalkulationen“ verstärkt mit Fusionen
einerseits und Betriebszusammenbrüchen andererseits (größtenteils mittelständisch orientierter
Unternehmen) begegnen. Um den Kostendruck annähernd aufzufangen, werden die verbleibenden
Zulieferbetriebe ihre Produktionsstätten im zunehmenden Maße ins Ausland verlagern und parallel
die eigene Fertigungstiefe auf Sublieferanten übertragen.
„Im Zuge eines sich beschleunigenden Ausleseprozesses unter den Zulieferern stelle sich sowohl
für den Teile- als auch für den Komponentenhersteller stärker als zuvor die Frage, ob der weitere
Weg alleine oder in Zusammenarbeit mit anderen Unternehmen beschritten werden soll. Nicht nur
unter Kostenminimierungsaspekten, sondern auch vor dem Hintergrund einer durch steigende
Produktverantwortung der Zuliefer notwendigen Bündelung von Know-how und finanziellen
Ressourcen primär im Forschungs- und Entwicklungsbereich, seien die Vorteile größerer
Produktionseinheiten evident.“367
Den ungewöhnlich starken Druck der Automobilproduzenten auf die Zulieferbetriebe haben
Sprecher der IG-Chemie, Papier und Keramik und des Verbandes der kunstoffverarbeitenden
Industrie scharf kritisiert.368
Dem Anspruch von VW, ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen Hersteller und Zulieferern zu
entwickeln, um aus dieser Kooperation heraus die Wettbewerbsposition des Automobilstandortes
Deutschland zu festigen,369 scheint diese Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu
widersprechen.
Als exemplarisches Beispiel für den Zukunftsperspektiven der Automobilzulieferindustrie in der
Region Südostniedersachsen kann das als „Experiment“ angesehene Projekt angesehen werden, als
1982 das VW Werk Wolfsburg seine Kunststoffteilefertigung in eine Braunschweiger Firma
auslagerte: Trotzdem der Kunststoffanteil z.B. vom Golf II von rund 62 Kilogramm auf 79
Kilogramm beim Golf III erhöht wurde und die „selbständige“ Zulieferfirma von dieser
Entwicklung profitierte (und monatlich rund 12 Millionen Teile von 106 Maschinen mit 300
Arbeitnehmern herstellt), sind die Zukunftsaussichten nicht optimistisch. Anläßlich des 10jährigen
Betriebsjubiläums kam bei den Mitarbeitern und der Geschäftsleitung gemeinsam keine „Freude“
auf, weil Pessimismus die Geburtstagsfeier überschattete, da angesichts des verstärkten
Kostendrucks vom Auftraggeber das Werk in seiner Substanz gefährdet und der weitere
Fortbestand fraglich geworden ist.370
Auch die im Landkreis Gifhorn angesiedelten Automobilzulieferfirmen (z.B. Teves GmbH,
Triangel und Rockwell Golde) sind Beispiele einer äußerst krisenanfälligen Monostruktur:
Das Gifhorner Zweigwerk der Teves GmbH als traditioneller Komponentenhersteller von
Trommelbremsen für VW Wolfsburg ist ebenso von den Auswirkungen der PKW Stukturkrise
366 Strutynski, P. Autohersteller und Zulieferer im Umbruch.In: Blätter für deutsche und internationale Politik,
Heft 4/92 Bonn, 11/92, Seite 1376.
367 Hannoversche Allgemeine Zeitung, 28.01.1993.
368 Siehe: Handelsblatt, 15.04.1993, Seite 15.
369 Siehe: Wolfsburger Kurier, 14.02.1992.
370 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 17.10.1992.
- 131 -
betroffen wie die Triangel Dämmstoffwerke bei Gifhorn. Bis 1994 soll die Mitarbeiterzahl bei
Triangel von ursprünglich 900 auf ein Drittel reduziert werden. In der Bremsenfabrik Teves wurden
außerdem 40 befristete Arbeitsverträge aufgrund der Automobilflaute nicht verlängert und für die
Gießerei ist Kurzarbeit beantragt worden.371 Im Triangeler Werk wird die Schrumpfung mit der
Rezession in der Autoindustrie und der kritischen Ertragslagen der Tatsache, daß das Werk
innerhalb des französischen Mutterkonzerns Sommer-Allibert die größten Verluste habe begründet,
teilte die Geschäftsführung mit. Der Autragsrückgang um 20 Prozent verschlechtere die Ertragslage
weiter. 372
Insbesondere Triangel kann beispielhaft als Zweigwerk angesehen werden, das als eine Art
„verlängerte Werkbank“ eingerichtet wurde. Treten konjunkturelle Einbrüche verstärkt auf, stehen
diese automatisch zur Disposition. Ein weiteres Abhängigkeitsmerkmal sind die jeweiligen
Firmensitze außerhalb dieser Region.
Ebenfalls einen spürbaren Umsatzrückgang hat die Rockwell Golde GmbH, einer der führenden
Automobilzulieferer, in ihrem Gifhorner Zweigwerk zu verzeichnen.373 Das im Herbst 1991 neu
eröffnete Werk in Gifhorn (Investitionen von 100 Millionen DM) produziert mit rund 250
Mitarbeitern im abgelaufenen Geschäftsjahr 360.000 Schiebedächer vorwiegend für Volkswagen.
Dabei wird direkt in die Fertigung von VW hinein (just-in-time) nach Wolfsburg geliefert.374
Aus diesen Fallbeispielen lassen sich folgende Rückschlüsse ziehen:
- Die Strategien der gesamten Automobilindustrie tendieren dahin, sich hauptsächlich auf Kosten
der Zulieferindustrie finanziell zu konsolidieren. Sie zerstören damit einen leistungsfähigen,
traditionell eingefahrenen Verbund von größtenteils mittelständischen Zulieferunternehmen.
- Die systematische Reduzierung des Umsatzerlöses hinterläßt bei den mittelständisch
Zulieferern einen arbeitsmarktpolitischen Flurschaden und zerstört das
Innovationspotential der Unternehmen.
geprägten
erworbene
- Sich dem „Diktat“ weiterer Preiszugeständnisse gegenüber der VW AG zu unterwerfen ist
gleichbedeutend mit Konkursanträgen der zumeist mittelständisch geprägten Zulieferindustrien.
- Durch den kontinuierlichen Personalabbau in der VW AG und dem Arbeitsplatzeinbruch bei den
Zulieferbetrieben in Südostniedersachsen, verliert die mono-strukturierte Region weitere zum Teil
hochqualifizierte Facharbeiter, die aufgrund fehlender alternativer Beschäftigungsmöglichkeiten
in andere Regionen abwandern.
Neben der niedersächsischen Landesregierung und dem VDA, hat zwischenzeitlich auch der
Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) in der Auseinandersetzung zwischen der Automobilund der Zulieferindustrie eine Moderatorenrolle übernommen. Nach intensiven Diskussionen hat
der BDI-Arbeitskreis „Zulieferfragen“ einstimmig in einem Leitsatz festgestellt, daß vertraglich
vereinbarte Kaufpreise nicht durch nachträgliche Kostenüberprüfungen des Bestellers beim Zuliefer
in Frage gestellt werden dürfen.375
Wenn nachträglich in bestehende Preisvereinbarungen eingegriffen wird, liegt eine rechtswidrige
Handlungsweise vor. Der BDI erklärte in seiner offiziellen Stellungnahme weiter:
„Eine solche Einflußnahme sei innerhalb regulärer Kaufverträge auch angesichts der derzeitigen
scharfen Preiskonkurrenz nicht zulässig. Abnehmer und Zulieferer müßten strikt unterscheiden
zwischen Kaufverträgen mit festgelegten Kaufpreisen und Kooperationsverträgen mit
gemeinschaftlicher Kosten- und Produktplanung.“376
371
Siehe: Braunschweiger Zeitung - Helmstedter Ausgabe, 21.11.1992.
Siehe: Dto. 12.12.1992.
373 Siehe: Braunschweiger Zeitung - Helmstedter Ausgabe , 06.11.1992.
374 Anmerkung: Die Automobilzulieferverflechtungen im Landkreis Helmstedt werden im Kapitel 3.1.5.2 aufgelistet.
375 Siehe: Handelsblatt, 15.07.1993.
376 Frankfurter Rundschau, 17.07.1993 und Hannoversche Allgemeine Zeitung, 17.07.1993.
372
- 132 -
Die „normative Kraft des Faktischen“ scheint unter extremster Ausnutzung einer ökonomi-schen
Machtposition trotzdem weiter der Regelfall zu bleiben:
„In den Einkaufsstäben der Konzerne sitzen lauter Lopez, klagt ein Betroffener. Es werde in
Verträge eingegriffen und die Preise rigoros um bis zu 20 Prozent gekappt. Die Drückerei geht
weiter.“377
Das ausschließliche Ziel einer Kostenminimierung über den Einkauf scheint sich zum Aspekt der
Qualitätssicherung „kontraproduktiv“ zu entwickeln.
VW Vorstandsvorsitzender F. Piëch betonte: „Alle Anstrengungen zur Erhöhung der
Wettbewerbsfähigkeit müßten an den Wünschen der Autokäufer ausgerichtet werden. Es gelte, die
Begeisterung der Kunden für Erzeugnisse des VW Konzerns mindestens genauso lange zu erhalten,
wie sie die Fahrzeuge nutzen... Preis, Qualität und Service müssen optimal sein.“378
Das Ziel der Qualitätssicherung scheint hierbei dem des günstigsten Einkaufspreises in der
Unternehmenspraxis untergeordnet zu sein, was zur Folge haben könnte, daß auftretende
Qualitätsprobleme das Markenimage beeinträchtigen würden.
In der Adam Opel AG mehren sich die Anzeichen, daß ab Baujahr 1990 (in der die drastischen
Kostenreduzierung von J. Lopez in der Serie griffen) in der gesamten Typenpalette zum Teil
schwerwiegende Ausfallerscheinungen durch technische Defekte auftreten, die zum Teil
gravierende Qualitätsmängel signalisieren.
Die bundesdeutschen Automobilmanager beurteilen die Automobilzulieferindustrie als „zu teuer, zu
langsam und zu phantasielos... Nur wer die neuen Spielregeln beherrscht, bleibt im Geschäft.“ 379
Am Beispiel der Robert Bosch GmbH, Geschäftssitz Stuttgart, werden diesbezügliche Maßnahmen
zur Kostensenkung forciert, um die Ertragskraft und internationale Wettbewerbsfähigkeit aufgrund
der direkten Geschäftsbedingungen langfristig zu sichern. Der Umsatzeinbruch in der
Kraftfahrzeugausrüstung reduzierte sich im Januar 1993 um 18 Prozent des entsprechenden
Vorjahreswertes. Personalabbau in den inländischen Werken sind die Konsequenz. Bei einigen
Bosch-Erzeugnissen liegen die Kosten z.Zt. um 30 Prozent über denen führender Wettbewerber.380
Die unmittelbare Verlagerung der Automobilkrise auf die Zulieferindustrie verdeutlicht
exemplarisch dieser Stuttgarter Elektronikkonzern (Europas größter Automobilzulieferer): In der
hiesigen Region sind durch die Zentralisierung der Zweigwerke nicht zur Produktionsstätten und
Arbeitsplätze, sondern auch Komponentenzulieferer ebenfalls betroffen. Der Bosch-Konzern
erwägt z. B., ausgerechnet die Produktion der Steuergeräte für die Air-Bag Komponentenfertigung
aus dem Zweigwerk Wolfenbüttel nach Ansbach zu verlagern. 381
Bundesweit sollen 1993 rund 10.000 Arbeitsplätze in der Robert Bosch GmbH Stellen wegfallen.
Davon betroffen sind auch die Zweigwerke in Salzgitter und Wolfenbüttel, bei weiterem Abbau
kann auch eine Bestandsgefährdung des Zweigwerkes in Wolfenbüttel nicht mehr ausgeschlossen
werden.382
Das die Geschäftsbeziehungen zwischen Zulieferern und Abnehmern auch unter veränderten
Produktionsbedingungen „kultivierter“ ablaufen können, zeigt das Kooperationsmodell der Fiat-AG
mit Zulieferfirmen:
„Der Turiner Fiat-Konzern hat mit 80 zum Verband der italienischen Automobilindustrie in Turin
gehörenden Autozulieferern ein Kooperationsabkommen geschlossen. Das Abkommen sieht nach
377
Focus, Nr. 28, 12.07.1993, Seite 111.
Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 25.10.1993.
379 Manager Magazin, 3/93, 23. Jahrgang, Seite 100.
380 Siehe: Süddeutsche Zeitung, 04.03.1993.
381 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 25.06.1993.
382 Siehe: Dto., 25.06.1993.
378
- 133 -
den Angaben von Fiat eine enge Informationsvernetzung vom Beginn der Modellplanung an
vor.“383
Preisgarantien sind ebenso Bestandsgrundlage dieser kooperativen Vertragsvereinbarung wie ein
gegenseitiges Vertrauensverhältnis.
Angesichts des dramatischen Arbeitsplatzabbaues besonders in der Automobilzulieferindustrie
sollten sich die Akteure nicht nur einseitig auf den industriellen Restbestand von
Kernfertigungsbereichen in der Automobilindustrie konzentrieren, sondern die wegschmelzenden
Arbeitsplätze bei den Zulieferern ebenso berücksichtigen und Gegensteuerungsmaßnahmen
einleiten.
Die Beschäftigungspolitik der Landesregierung sollte sich nicht nur auf Krisenmanagement für
Großbetriebe beschränken, sondern auch mittelständischen Unternehmen wirkungsvoll helfen - z.
B. mit Risikobeteiligungen.
In die strategischen Überlegungen sollte ebenfalls mit einfließen, ob die zukünftig neuen
Komponentenhersteller auch einen längerfristigen Bestandteil der veränderten Produktionsorganisationen darstellen oder nur als kurzfristiger Übergang einer permanenten
Logistikdiversifikation einzustufen sind.
Letztendlich sollte eine industriepolitisch koordinierte Gemeinschaftsanstrengung aller deutschen
Automobil- und Zulieferindustrien gemeinsam mit den betroffenen Bundesländern durchgeführt
werden, um die notwendigen Innovationsprozesse für Produkte und Organisationen zu
beschleunigen, die den Wettbewerbsanforderungen und damit veränderten Marktbedingungen für
die Zukunft des Industriestandortes Bundesrepublik Deutschland Rechnung tragen.
3.2.10 Lean production - Anspruch und Wirklichkeit
„In der deutschen Industrielandschaft vollzieht sich derzeit das spektakuläre Zusammentreffen
zweier Megatrends: Eine durch massive Struktur- und Konjunkturprobleme entflammte Diskussion
um den Wirtschaftsstandort Deutschland vermischt sich mit einem aus Japan importierten
Rationalisierungskonzept. Es firmiert unter lean production bzw. Lean Management und wurde
inzwischen als schlankes, mageres, straffes Management bzw. als Fitneßmanagement bereits
eingebürgert.“384
Welche Organisationsmodelle können unserer Betriebswirtschaft helfen, angesichts hektischer
Innovationszyklen und beängstigender Unkalkulierbarkeit von Entwicklungen, den ver-schärften
Wettbewerb zu meistern?
Aus betriebswirtschaftlicher Sicht erscheinen japanische Produktionsmethoden auf Basis von lean
production effizienter und qualitativ besser als herkömmliche Produktionsmethoden.385
Zielvorstellung ist dabei die Ausrichtung „...auf das Wesentliche, ... durch den gleichfalls
kontinuierlichen Verbesserungsprozeß auf allen Ebenen ... ,Vermeidung von organisatorischen
Schnittstellen im Unternehmen und damit konsequente Ausrichtung auf den
Wertschöpfungsprozeß, Realisierung des Fließprinzips, also keine Lager und Beherrschung einer
beliebigen Produktvielfalt.“386
Mit diesem Konzept verspricht sich die europäische Automobilindustrie verbesserte
Wettbewerbsvorteile gegenüber der japanischen, deren ganzheitliche Strategie und Vorgehensweise
von den Europäern kopiert wird.
383
Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 05.02.1994.
Handelsblatt, 26.07.1993.
Anmerkung: Allerdings sei Lean Management keine japanische Erfindung: Es ist dort höchstens die konsequente
Umsetzung vieler Einsichten aus Industrieforschung und Arbeitswissenschaft.
385 Siehe: Handelsblatt, 04.03.1993.
386 Struck. J. just-in-time, In: Insider - Publikationen, 50 Jahre Stadt Salzgitter ..., Salzgitter 1992, S. 44.
384
- 134 -
Durch die systematisch ausgelagerten Fertigungsbereiche bei VW ergeben sich veränderte
Standortmuster bei den Zulieferbetrieben. Die Standortwahl von Zulieferern ist zum einen abhängig
von der Art der Teile und zum anderen von der Einbindung in das Materialflußkonzept. Bei
komplexeren Teilen Komponentenherstellung (A- und B-Teile) mit hohem Technikgehalt (z.B.
High-Tech-Produkte wie ABS, Airbag oder das Armaturenbrett) ist das Fertigungskonzept darauf
abgestimmt, die Zulieferer in ein zeit- und somit distanz-empfindliches just-in-time - Konzept
einzubeziehen. Bestimmte Baugruppen (Systemteile) werden daher ausgelagert und zukünftig
direkt vom Zulieferer an das Band geliefert.
Wie just-in-time in der Praxis funktioniert, zeigt das in Gifhorn ansässige Rockwell Gold
Zweigwerk exemplarisch auf: Von dem Zeitpunkt, da der Rechner aus dem Wolfsburger VW Werk
meldet, für welches Automobil welches Schiebedach benötigt wird, bis zur Lieferung des
gewünschten Teils ans Fließband in der Wolfsburger VW Endmontage vergehen exakt 136
Minuten. In diesem knappen Zeitraum ist das Beladen des LKW, die Fahrt von Gifhorn nach
Wolfsburg, vom Werkstor zur Montagehalle bis ans Band enthalten.387
Es wird beabsichtigt, daß Qualitätskreise und Qualitätszirkel durch Mitarbeiter von Herstellern und
Modullieferanten gemeinsam eingerichtet werden, um Schwachstellen und Probleme, die bei der
Herstellung von Modulen auftreten, gemeinsam frühzeitig zu erkennen, zu analysieren und zu
lösen.388
Um den massiven Innovationsdruck und die Notwendigkeit zur zeitlichen Straffung im Forschungsund Entwicklungsbereich realisieren zu können, sollen spezielle Teams aus Mitarbeitern des
Automobilherstellers und des Modullieferanten gebildet werden, die entweder gemeinsam oder aber
arbeitsteilig nach bestimmten Vorgaben komplette Module entwickeln. Die informatorische
Verknüpfung im Forschungs- und Entwicklungsbereich durch beiderseitige Nutzung von CADSystemen ermöglicht schnelle und kostengünstige Entwicklungen.389
Weitere wesentliche Charakteristiken der schlanken Produktion sind: Entscheidungen werden im
wesentlichen an die Stellen verlagert, wo sie auch umgesetzt werden müssen. Kurze
Informationswege und Dezentralisierung implizieren logischerweise flachere Hierarchien.
Gruppenarbeit, Dezentralisierung und flache Hierarchien können daher als die erste Säule der
Philosophie der schlanken Produktion bezeichnet werden.
Das von den Japanern „abgekupferte Modell“ einer angeblich neuen, erfolgversprechenden Formel
für Beschaffung, Produktion, Lagerhaltung, Vertrieb ( „just-in-time“ genannt), kann jedoch nicht
uneingeschränkt als effiziente Logistik angesehen werden.
Neben den Kostenvorteilen für die Marktmonopolisten stellt sich hierbei die Frage, ob die Kosten
wirklich reduziert werden oder nur woanders anfallen, bzw. verlagert werden.
Die vermehrten Transportvorgänge, reduzierten Sendungsgrößen, häufige Be- und Entladungsvorgänge sind für die Zulieferer intensive Kostenverursacher. Lagerhaltungskosten in
zumeist groß dimensionierten Pufferlagern tragen dazu bei, eine Kostenabwälzungsstrategie zu
Ungunsten der Automobilzuliefererindustrie zu praktizieren. Die Lieferanten werden gezwungen,
um ihr eigenes wirtschaftliches Überleben zu sichern, die für sie nun zusätzlichen Kosten im Preis
einkalkulieren zu müssen.
Die erwähnten Transportgänge führen andererseits zum „Verkehrsinfarkt“.
Vor diesem Hintergrund wird ein Dilemma besonders deutlich: Einerseits trägt just-in-time zur
Erhöhung der Transportvorgänge und damit des gesamten Verkehrsaufkommens bei. Dieses
erhöhte Transportaufkommen wiederum ist die zentrale Ursache für die immer häufigeren
Staubildungen. Andererseits gefährdet aber der Verkehrsstau die pünktliche und auf den gesamten
Materialfluß abgestimmte Belieferung.
387
Siehe: Aller-Zeitung, 04.02.1993.
Siehe: Handelsblatt, 22.06.1992.
389 Siehe: Betriebswirtschaftslehre, WISU Heft 8-9, Frankfurt a. M. 1992, Seite 29.
388
- 135 -
Ein funktionsfähiges just-in-time Konzept setzt eine Termingenauigkeit voraus, die angesichts der
heutigen Transportbedingungen kaum noch gewährleistet werden kann. Kontinuierliche
Lieferengpässe und dadurch bedingte Produktionsausfälle im VW Zweigwerk im Wolfsburg
bestätigen diese praktische Inflexibilität.
Eine weitere Problematik aus Sicht der Industrie betrifft die Anfälligkeit des Produktionsablaufes
bei gezielten und beabsichtigten Störungen. Je perfekter das just-in-time Konzept funktioniert, um
so intensiver ist das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Industrie und Zulieferbetrieben. Die
Gewerkschaften haben diese Situation längst erkannt. Durch Streikmaßnahmen bei einigen wenigen
Zulieferern kann heutzutage beispielsweise die gesamte Automobilindustrie lahmgelegt werden.
Die Industrie ist somit besonders anfällig für gezielte Streikmaßnahmen geworden. Hinzu kommt,
daß aus Sicht der Gewerkschaften solche gezielten Streiks besonders effektiv sind: Erstens ist die
gesamte Branche von ihnen betroffen, zweitens ist der Aufwand für die Gewerkschaften gering, da
nur relativ wenige Arbeiter bei den Zulieferern in Streik zu treten brauchen.
In den USA zeigten sich außerdem unlösbare Konflikte von lean production und gewerkschaftlicher
Interessenvertretung ab und in Japan wird bereits eine Post-lean-production in der
Automobilbranche (insbesondere bei Mazda) propagiert, die ein optimales Zusammenspiel von
Mensch und Technik favorisiert.390
Bei Mercedes-Benz werden diese Erkenntnisse durch die Propagierung von „europäischer Technik
und fernöstlichen Geist“ umgesetzt. Dieser mehr pragmatische Umsetzungs-Mix ist prägend für die
neue Standortpolitik der Lean-Reformunternehmen,391 welche auch den Ausgleich und Konsens
zwischen Unternehmen und Kommunen im Hinblick auf die Industrieflächenvorratspolitik
beinhalten sollten.
Es erscheint in der Tat irritierend, daß im Standort Deutschland anscheinend nur japanische
Konzepte kopiert werden, die dort im Ursprungsland aufgrund erweiterter Erkenntnisse bereits
verändert oder grundlegend modifiziert wurden.
Die lean production allein wird die deutsche Automobilindustrie jedenfalls nicht wieder in die
ursprüngliche Spitzenstellung bringen. Es gibt wohl nur eine Möglichkeit, die verbleibenden
Arbeitsplätze gegenüber den japanischen Mitwettbewerbern erfolgreich zu erhalten: Eigenständige
und kreative Innovationen.
Hier fehlt anscheinend die überzeugende Vision.
Zum Beispiel könnten umfangreiche Fortschritte im Produktions- und Kostenmanagment mit einem
minimalen Aufwand an Koordination, einer geringen Hierarchie, einem zeitgemäßen
Arbeitszeitsystem und neuen Eingruppierungsstrukturen ein völlig neues Kapitel der Arbeits- und
Betriebsorganisation in der VW AG einleiten.
Es erscheint sogar wahrscheinlich, daß durch die Wiederentdeckung und Ausschöpfung der
Ressource Mensch die Automatisierung betrieblicher Abläufe nicht mehr so wie früher im
Mittelpunkt stehen wird. In vielen Fällen wird sie sicherlich sogar zurückgehen, da Gruppenarbeit
bei der schlanken Produktion mit ihrer Transparenz, ihren kurzen Informationswegen und ihrer
flachen Hierarchie in ihrer Funktionalität durch manche Formen der Automatisierung eher
behindert wird, (siehe: VW Zweigwerk Mosel). Plötzlich ist der Mensch wieder in den Mittelpunkt
gerückt, als die vollautomatisierte und zentralgesteuerte Fabrik sich als zu starr und kostenträchtig
entpuppte (siehe: VW-Werk Wolfsburg).
Die zentrale Fragestellung ist: Kann das Managementkonzept lean production als Kern einer neuen
Unternehmenskultur und einer innovativen und sozialen Arbeitsorganisation eingestuft werden?
Auf einer Tagung der IG-Metall und Hans-Böckler-Stiftung hat der Erfahrungsaustausch von
Wissenschaftlern und Experten aus der Praxis, Gewerkschaftsfunktionären und Betriebsräten sowie
Managern aus der Metallindustrie eines deutlich gemacht: lean production als Mangementkonzept
390
391
Siehe: Handelsblatt 20.07.1993.
Siehe: Dto., 26.07.1993.
- 136 -
zielt auf Rationalisierung und Produktivitätssteigerung und nicht primär auf Humanisierung der
Arbeit!392
Ob die angestrebte neue Unternehmensorganisation ein Ansatz zur Verbindung von
Wirtschaftlichkeit, Demokratisierung und Humanisierung des Arbeitslebens sein kann oder ob es
um eine Reorganisation der Machtverteilung geht, ist nicht Untersuchungsgegenstand dieser
Strukturanlyse. Trotzdem sollte folgende Erkenntnis nicht vorenthalten werden: Alle
Betriebssysteme haben technologische und betriebswirtschaftliche Grenzen. Alle Systeme können
nur unter bestimmten ökonomischen, ökologischen und gesellschaftlichen Bedingungen
funktionieren. Wenn ein Teilsystem seine Voraussetzung verliert, ist auch seine Effektivität
verloren.
„Nach Informationen der japanischen Automobilarbeitergewerkschaft leisten die dortigen AutoWerker im Schnitt 350 Überstunden pro Jahr. Zudem wird ein Teil des Urlaubsanspruches für
kurzfristige Krankheiten genutzt, da die Geschäftsleitung für Abwesenheit oftmals große Summen
von den Prämienzahlungen abzieht. Japanische Zulieferungsunternehmen, das eigentliche Rückgrat
der just-in-time Philosophie, bringen es auf 500 Überstunden pro Jahr, und das Personal im
Maschinenbau rekrutiert sich zu einem Viertel aus Teilzeitarbeitskräften. Sie müssen mit 20 bis 50
Prozent der Löhne des Stammpersonals auskommen.“393
Ein weiterer wesentlicher Konkurrenzvorteil der Japaner liegt immer noch in den sehr viel längeren
regulären Arbeitszeiten der Beschäftigten. Zwar gibt es auch in Japan ansatzweise eine Tendenz
zum eher hedonistischen, freizeitorientierten Lebensstil. Die fernöstliche Haltung zum Betrieb als
„zweiter Familie“ ist auf deutsche Verhältnisse aber nicht übertragbar.
Es kristallisiert sich heraus, daß spezifische Fertigungskostenvorteile der lean production
entscheidend mit den japanischen Arbeits- und Lebensbedingungen zusammenhängen. Außerdem
ist die dortige historisch ausgeprägte „Harmonieideologie“ unter dem Gesichtspunkt der Negation
von Persönlichkeitsstrukturen keineswegs auf abendländische Kulturkreise übertragbar.
Es wird deutlich, daß das „Leitbild“ einer neuen Fabrik, für neue Arbeitsorganisationen und
Gruppenarbeit auf den sozialökonomischen Gegebenheiten der eigenen Gesellschaft aufbauen muß
und nicht nur aus Japan „abgekupfert“ werden kann.
Teamarbeit, flache Hierarchie und kurze Wege können nicht dazu führen, den Arbeitsprozeß im
Sinne der lean production zu harmonisieren. Allerdings gehört zu diesem Veränderungsprozeß auch
„das Einstellungungsverhalten der Mitarbeiter zu verändern. Wenn die Egoismen der einzelnen zu
Kooperation mit den anderen gewandelt werden können, dann fällt die Umsetzung durch
Umstrukturierung etc. leicht. Wir erleben dann, daß jeder voll dahintersteht, alle haben ein Ziel. Es
entfallen weitgehend die inneren Reibereien, die jetzt immer wieder auftreten, wenn Veränderungen
erforderlich sind.“394
Ob diese Prognose auch unter VW-spezifischen Bedingungen und Problemstellungen bis ins Detail
realisierbar ist, wird die Zukunft zeigen. Nach jahrzehntelanger monotoner Arbeitstätigkeit mit
einem ausgeprägten Hierarchisierungsgrad werden die Mitarbeiter/innen jetzt auf neue Formen der
Arbeitsorganisation getrimmt. Die notwendige Anpassung an eine veränderte Wirtschaftslage und
die drastische Verschärfung des nationalen und vor allem internationalen Wettbewerbs, zwingen die
Manager parallel zu den klassischen Maßnahmebündeln (forcierter Personalabbau und weitere
Rationalisierungsmaßnahmen) eine neue Strategie umzusetzen: Die direkte Einbindung der
Mitarbeiter/innen zur Verbesserung der Produktionsabläufe soll als neues Instrument greifen.
Konsequent analysiert geht es dabei aber auch um das Aufbrechen alter Strukturen, um engere
Zusammenarbeit und um eine ständige Verbesserung der Arbeitsabläufe. Das würde auch einen
Wandel und die Abkehr von bisherigen traditionellen Führungsprinzipien bedeuten. Dies ist nur mit
dem scheibchenweise Abgeben von Macht und Verantwortung realisierbar. Für eine konsequente
Einbeziehung der Mitarbeiter in Gestaltungs- und Entscheidungsprozesse ist dieser Weg
392
Siehe: Hans-Böckler-Stiftung (Hrsg.). Lean production - schlanke Produktion, Düsseldorf, Mai 1992 , S.48.
VDI - Nachrichten, 13.11.1992.
394 Handelsblatt, 25./26.09.1992.
393
- 137 -
unumgänglich. Ob die inhaltliche und nicht nur formale Einbindung der Mitarbeiter/innen in diesen
Struktureingriff eines Entwicklungsprozesses dieser Größenordnung des Unternehmens letztlich
gelingt, hängt entscheidend auch davon ab, ob vom Markenvorstand Volkswagen Impulse
ausgehen, die ein neues Verständnis für den Umgang miteinander ermöglichen.
Die Aufgabenstellung des Managements wäre es hierbei, Hindernisse für diesen Prozeß
auszuräumen und somit notwendigen Freiraum innerhalb der Betriebsorganisation zu schaffen,
damit die neuen Organisationsstrukturen praktisch greifen.
Der VW spezifische Schwachpunkt bei der organisatorischen Umstrukturierung unter Einbeziehung
der Betroffenen scheint sich folgendermaßen darzustellen: Wie können aufgrund der
Überkapazitäten unbegrenzt und konfliktfrei Lösungsmuster erarbeitet werden? Unter
Berücksichtigung des kontinuierlichen Personalabbaues und der damit verbunden Unsicherheit des
eigenen Arbeitsplatzes kann das Engagement der Mitarbeiter/innen im „Keim erstickt“ werden.
Außerdem würde eine konsequent durchgeführte schlanke Produktion die Qualifikationsanforderungsmerkmale an die verbleibende Stammbelegschaft extrem erhöhen. Langfristig hätte
das Belegschaftssegment der un- und angelernten Produktionsarbeiter weniger Chancen, die
benötigten Weiterbildungsmaßnahmen erfolgreich zu bestehen.
Für den gewerblichen Bereich kommt insbesondere zum Tragen, daß zukünftig multifunktio-nale
computervernetzte Arbeitsplätze den Wissensvorsprung der Vorgesetzten und Konzern-zentrale
aufheben. Die Ausrichtung an organisatorischen Leitbildern beinhaltet aber noch das Denken in
Geschäftsprozessen anstatt in Organisationsstrukturen.
Gestaltungskonzepte
für
den
verbleibenden
industriellen
Kernbereich
reduzierter
Stammarbeitsplätze bei VW sollten darauf abzielen, bei der Umsetzung Strategien zu entwickeln,
die eine Verbindung zwischen internationalen Wettbewerb und innerbetrieblicher Reformfähigkeit
beinhalten.
Ungeachtet der aufgezählten Argumente vollzieht sich die Umsetzung fernöstlicher
„Autobaukultur“ in die Strukturen des VW AG am Beispiel der neu errichteten Seat Montagefabrik
Martorell bei Barcelona im katalanischen Spanien unaufhaltsam weiter:
Japan stand Pate bei der neuen Arbeitsorganisation, für die der von Nissan in Großbritannien
abgeworbene technische Direktor Grifiths verantwortlich ist. Nach japanischen Vorbild ist auch der
Produktionsablauf konzipiert. Der eigene Fertigungsanteil macht nur rund 30 Prozent aus. Für diese
just-in-time Produktion steht in 2,5 Kilometer Entfernung ein Zulieferzentrum mit 15 Firmen zur
Verfügung, die 30 verschiedene Komponenten liefern und über einen Datenverbund ständig
informiert werden , was gerade benötigt wird. Ein ins Werk integriertes Zentrum koordiniert die
Zusammenarbeit mit den insgesamt 400 Zulieferern. Insgesamt ist die Kapazität auf 1.500 Autos
täglich ausgelegt. Die Endstufe mit 6.000 Beschäftigten soll Ende 1993 erreicht sein.395
Die Seat Montagefabrik ist ein weiterer Beleg dafür, daß sich die Strukturen der Automobilproduktion international angleichen. Die Umsetzungsprobleme dieser Angleichung auf die
regionalen Bedingungen niedersächsischer Verhältnisse zeigen im Folgenden die Schwierig-keiten
der Vorratshaltung an Gewerbe- und Industrieflächenbedarf für die Belange der VW AG am
exemplarischen Beispiel der Stadt Wolfsburg und der Landkreise Helmstedt und Gifhorn auf.
3.2.11 Flächennutzung für die Automobilindustrie ?
„Über die Planung und Erschließung von Industrie- und Gewerbeflächen in Wolfsburg ist in der
zurückliegenden Zeit viel diskutiert und geschrieben worden, ohne dabei aber wesentliche
Fortschritte gemacht zu haben.“ 396
Die Gewerbeflächenentwicklung ist in Wolfsburg bereits an ihre Kapazitätsgrenze gestoßen. Die
Auffassung von VW Management und Betriebsrat, auch den ökologisch sensiblen Bereich des
395
396
Siehe: Frankfurter Rundschau, 23.02.1993, Seite 15.
Wolfsburger Kurier, 10.10.1993.
- 138 -
„Barnbruch“ gewerblich-industriell zu nutzen, weil zu wenig potentielle Alternativflächen zur
Verfügung stehen, 397 stoßen im Willensbildungsprozeß parteiübergreifend auf zum Teil deutliche
Ablehnung.
Über fehlende Industrieansiedlungsflächen in unmittelbarer Werksumgebung für die logistischen
Erfordernisse bei just-in-time Vorhaben ist im erforderlichen Umfang in der Vergangenheit
hingewiesen worden. Aufgrund der notwendigen Liefergeschwindigkeit ist die Forderung nach
räumlicher Nähe der anzusiedelnden Unternehmen auch nachvollziehbar.
Im Gegensatz zu anderen VW-Werken verfügt die unmittelbare Umgebung des Wolfsburger
Werkes ungünstigere Voraussetzung für die Ansiedlung von Zulieferern.
So ist die Ausweisung neuer Industrie- und Gewerbeflächen in und um Wolfsburg aus der Sicht des
Gesamtbetriebsrats eine der langfristig lebensnotwendigen Voraussetzungen für die
Standortsicherung des Werkes Wolfsburg. 398
Verschwiegen wird u.a., daß die Entwicklungsmöglichkeiten auf dem jetzigen Werksgelände noch
nicht vollständig ausgeschöpft sind und darüber hinaus wird in öffentlicher Form auf den
Willensbildungsprozeß Einfluß genommen: „Das von der Stadt Wolfsburg ins Auge gefaßte
Gewerbegebiet Roiwekamp nördlich von Warmenau sei ein sehr guter Standort für
Zulieferbetriebe.“ 399 Desweiteren forderte VW Gesamt- und Konzernbetriebsrat K. Volkert die
Gremien des Rates auf, „bei der Beratung der Belange des Naturschutzes, die Dringlichkeit der
Ansiedlung neuer Fertigungsstätten und somit neuer Arbeitsplätze entsprechend zu gewichten.“400
Unverklausuliert äußerte sich K. Volkert anläßlich der Regionalkonferenz der IG-Metall: „Dazu
gehöre auch eine regionalorientierte Zuliefer- und Ansiedlungsstrategie. Hierbei werde es aber auch
darauf ankommen, im Rahmen von Ansiedlungskonzepten politischen Druck zu entfalten und
strukturelle Voraussetzungen z.B. durch die Ausweisung von Gewerbe- und Industrieflächen zu
schaffen.“ 401
H.-J. Uhl, Geschäftsführer des VW Konzernbetriebsrates ergänzt diese Forderung anläßlich eines
Pressegeprächs: „Wenn es zu Auslagerungen komme, müsse dafür Sorge getragen werden, daß vor
den Toren Wolfsburg sich neue Zulieferer ansiedeln.“402
Gewerbeflächen für die Belange der VW AG im Wolfsburger Stadtgebiet zu reservieren, ist nicht
nur als reine Bestandspflege zu interpretieren. Es erscheint auf den ersten Blick auch
überlebenswichtig, weil die einzelnen Zweigwerke nur dann eine Chance haben, wenn es ihnen
gelingt, durch veränderte Organisationsstrukturen Vorteile gegenüber anderen Standorten (interne
Standortkonkurrenz) zu erarbeiten.
Die Ratsmitglieder aus dem Wolfsburger Wirtschafts- und Stadtentwicklungssausschuß zeigten sich
enttäuscht über die langen Planungszeiten der Verwaltung und verlangten dringend eine
beschleunigte Ausweisung von Gewerbeflächen.403
„Weitere Zeit dürfte, insbesondere unter Berücksichtigung der Entwicklungen bei Volkswagen,
nicht verlorengehen.“404
Der Engpaß in der Gewerbeflächenplanung ist aus der spezifischen Wolfsburger
Entstehungsgeschichte und Stadtstruktur zu erklären: Die Lagen, die traditionell und auch noch
heute die größte Eignung für eine gewerbliche Nutzung aufweisen, nämlich verkehrsgünstige
Standorte in unmittelbarer Nähe des Volkswagenwerkes nördlich des Mittellandkanals, sind aus
397
Siehe: Wolfsburger Kurier, 10.10.1993.
Siehe: Wolfsburger Kurier, 26.05.1993 und Braunschweiger Zeitung, 26.05.1993.
399 Wolfsburger Kurier, 26.05.1993 und Braunschweiger Zeitung, 26.05.1993.
400 Volkert, K. In: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 25.02.1992.
401 Wolfsburger Kurier, 26.05.1993.
402 Braunschweiger Zeitung, 26.05.1993.
403 Siehe: Wolfsburger Kurier, 14.11.1993.
404 Wolfsburger Kurier, 14.11.1993, Seite 1.
398
- 139 -
ökologischer Perspektive, genauer aus Sicht des Natur- und Landschaftsschutzes, als problematisch
einzuschätzen oder stehen außerdem in Konflikt mit Wohnnutzungen. Entsprechend kontrovers
wird seit längerer Zeit die Diskussionen insbesondere um das Gebiet Barnbruch geführt.
„Nachdem die Stadt Wolfsburg auf die im Barnbruch schon im Flächennutzungsplan festgelegten
180 Hektar großen Flächen für die Gewerbeansiedlung in den 80er Jahren verzichtet hatte, war es
schwer, dafür Ersatzflächen zu finden.“405
Hierbei ist der klassische Zielkonflikt zwischen Ökonomie und Ökologie zu attestieren. Dem Erweiterungsvorhaben stehen zum Teil auch Umweltverträglichkeitsstudien entgegen, 406 die durch
Schutzgebietsfestsetzungen aus der Sichtweise von VW Lobbyisten nicht zu einer „Strangulierung“
von VW führen dürfen.
Tatsächlich ist eine Ausdehnung des Werkes Wolfsburg nur noch nördlich des Aller-Kanals in dem
Gebiet zwischen Warmenau und Kästorf möglich. Der Sandkämper Raum ist bereits durch einen
Bebauungsplan aus dem Jahre 1986 vollständig verplant. Zwar ist das Gebiet noch nicht gänzlich
bebaut worden, hiermit ist aber mittelfristig nach den Vorgaben im Bebauungsplan zu rechnen.
Südlich des Mittellandkanals grenzt das Stadtzentrum an. Im Osten befindet sich der Allerpark, der
nach Abriß des Bürozentrums Ost mittelfristig nur noch als ein erweitertes Erholungsgebiet als
Ersatzmaßnahme zur nördlichen Werkserweiterung ausgewiesen ist. Aus diesen Faktoren heraus ist
eine Ausdehnung des Werksgeländes nur in nördlicher Richtung möglich.
Auch kann prinzipiell davon ausgegangen werden, daß ein Produktionsunternehmen zur
Bestandssicherung ca. 10 Prozent Reservefläche benötigt, um flexibel reagieren zu können. Bei
einer Werksgröße von ca. 600 ha hält sich das für die VW AG vorgesehene Vorratsgelände von 57
ha sogar im angemessenen Rahmen.
Der Bedarf an Gewerbe- und Industrieflächen innerhalb der Stadtgrenzen Wolfsburgs und der
angrenzenden Landkreise Helmstedt und Gifhorn ist als Folgewirkung der analysierten
Strukturveränderungen im Wolfsburger VW Werk unübersehbar. Anforderungsmerkmale an die
kommunale Gewerbeentwicklung sind überwiegend von der Entwicklung bzw. den Veränderungen
der Unternehmensstrategie in der dominierenden Automobilbranche abhängig. Um permanente
Produktionsverbesserungen mit der Zielmarke um 60 Prozent zu erreichen, zeichnen sich bei VW
folgende Strukturveränderungen ab:
-
Abbau der Lagerhaltung auf dem Werksgelände,
die Zulieferbetriebe müssen die Lagerhaltung übernehmen und sind für die
termingerechte Anlieferung der Einbauteile am Produktionsband verantwortlich.
Verringerung der Fertigungstiefe,
diverse Produktionseinheiten, die sich bisher im Fertigungsverbund der VW AG
befanden, werden ausgelagert.
Sowohl die Verringerung der Fertigungstiefe als auch neue Überlegungen in der Logistik stellen
besondere Anforderungen an die Gewerbeflächennutzung Wolfsburgs und den in räumlicher Nähe
mit günstigeren Straßenanbindungen befindlichen Landkreis Gifhorn, sowie an den Landkreis
Helmstedt.
Unter diesem Gesichtspunkt haben verfügbare Flächen eine hohe strategische Bedeutung für die
Entwicklungschancen eines Standortes, der sich zunehmend einer größer gewordenen
konzerninternen Standortkonkurrenz ausgesetzt sieht. Einerseits wäre es fatal, wenn ein Mangel an
vorhandenen Flächen Strukturveränderungen blockieren würde, die an anderen Standorten
umgesetzt werden können. In diesem Fall würde der Standort Wolfsburg weiteres Fertigungs- und
Entwicklungspotential verlieren. Im Zusammenhang mit veränderten Zulieferstrategien ist weiter zu
405
406
Siehe: Wolfsburger Kurier, 10.10.1993.
Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 18.02.1992.
- 140 -
berücksichtigen, daß Modulzulieferung immer auch eine eigene Produktionsstätte des Zulieferers
erfordern, da der Zulieferumfang für das VW Werk Wolfsburg extrem hoch ist. Andererseits
beinhaltet diese Strategie eine weitere Zementierung und Abhängigkeit von der monostrukturierten
Automobilindustrie, indem man auf zukunfts-orientierte Branchendifferenzierung weitgehend
verzichtet und somit regionale Entwicklungs-chancen vergibt, um die Kernfertigungs(rest)arbeitsplätze im VW-Werk Wolfsburg zu stabilisieren. Industrie- und Gewerbeflächen werden
dringend für die aus VW Sichtweise erforderliche Verringerung der Fertigungstiefe, die in ihrer
Konsequenz immer mehr Produk-tionseinheiten aus dem Volkswagenwerk Wolfsburg
ausgegliedert, benötigt.
Mit der Ausweisung geeigneter Industrieflächen für Zulieferbetriebe soll angestrebt werden, den
Standort Wolfsburg über den Preis wieder konkurrenzfähig zu gestalten. Die niedersächsische
Landesregierung beabsichtigt, in Zusammenarbeit mit der VW AG, ein abgestimmtes Konzept zu
erarbeiten, um Zulieferbetriebe nach Niedersachsen zu holen. Der niedersächsische
Wirtschaftsminister P. Fischer verkündete diesbezüglich: Im Umkreis der niedersächsischen
Produktionsstandorte von VW mehr als 20 Firmen mit etwa 2500 Arbeitsplätzen neu
anzusiedeln.407
Das sei auch erklärtes Ziel der Förderpolitik des Landes. Er habe VW angeboten, in Kooperation
mit den Standortkommunen ein spezielles Ansiedlungsprogramm für Zuliefer-betriebe zu
entwickeln, das dann von der neu gegründeten Agentur für Industrieansiedlungen des Landes
betreut werden soll.408
Die niedersächsische Landesregierung schlägt ein sogenanntes Innovationspaket vor, mit der
Zielvorstellung, die Automobilfertigung einschließlich Zulieferindustrie in diesem Land zu
halten.409
Wie kann dieses Dilemma zwischen einer dringenden Notwendigkeit von Automobilarbeitsplatzerhaltungsinvestitionen auf einem allerdings unteren Beschäftigungsniveau und der
damit weitgehend vergebenen Chance einer Industriediversifizierung aufgrund fehlender Industrieund Gewerbeflächen im Großraum Wolfsburg gemindert werden ?
Manager und Betriebsräte von VW, die ausschließlich auf die unmittelbaren Bedürfnisse dieses
Unternehmens ausgerichtet sind, argumentieren folgendermaßen: Wenn der Standort Wolfsburg mit
anderen VW Standorten konkurrenzfähig bleiben will, müssen dem VW-Werk in der Region
ausreichend Flächenreserven zugebilligt werden. Nur so kann VW auf die Weiterentwicklung der
Produktionsabläufe oder auf Ansiedlungsforderungen neuer aufgegliederter Produktionseinheiten
schnell und flexibel reagieren.
Durch den institutionalisierten „VW-Stadt-Arbeitskreis“ erhält die Wolfsburger Stadt-verwaltung
die Möglichkeit, sich in der Stadtentwicklung auf die Rationalisierung, Organi-sationsänderung und
Arbeitsplatzreduzierung im VW-Werk einzustellen410, da die (wie festgestellt) äußerst begrenzt
städtischen Industrie- und Gewerbeflächen einen höchst-möglichen „Nutzeffekt“ an (von der VW
AG) ausgesuchten Automobilzulieferern im Komponentenfertigungsbereich erzielen sollen und die
Entwicklung des Büroflächenbedarfs in diesem Arbeitskreis ebenfalls abgestimmt wird.
Dies sind Eckdaten, die bei der Aufstellung eines Gewerbeflächenkonzeptes in Wolfsburg von
Bedeutung sind und bei deren Ausarbeitung „verantwortliche Spitzenkräfte der VW AG“ 411 eine
„beratende“ Funktion einnehmen. Die „beratende Funktion“ kann als Richtlinien-kompetenz
interpretiert werden. So wird z.B. die architektonische Umgestaltung des Bahnhofsvorplatzes mit
zukünftigen ICE-Halt (durch einen Privatinvestor) verwirklicht und es entstehen Büro- und
Verkaufsflächen, die als attraktive Bürostandorte schon mittelfristig genutzt werden können, sofern
ein Bedarf aufgrund des Rezessionseinbruches überhaupt vorhanden ist.
407
Siehe: Braunschweiger Zeitung, 16.02.1992.
Siehe: Braunschweiger Zeitung, Helmstedter Ausgabe, 11.12.1992.
409 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 04.12.1993.
410 Siehe: Wolfsburger Kurier, 07.04.1993.
411 Siehe: Dto., 07.04.1993.
408
- 141 -
Dieser Einblick in die Wolfsburger Stadtentwicklung verdeutlicht nicht nur die enge und
zielgerichtete Zusammenarbeit zwischen Werk und Stadt. Sie läßt auch die Vermutung zu, daß die
Aufteilung des „verbleibenden Restkuchens“ für den umliegenden ländlich geprägten Raum mit
Verdichtungsansätzen (z. B. Landkreis Helmstedt) reserviert werden könnte.
Die Vertiefung dieser Problematik soll im folgenden anhand der Gewerbeflächenplanung unter
Berücksichtigung der speziellen Situation der Stadt Wolfsburg und den umliegenden Landkreisen
Gifhorn und Helmstedt untersucht werden:
Die Veränderung der Zulieferbeziehungen spiegeln neue Logistikkonzepte in Verbindung mit der
just-in-time Strategie wider, die sich entsprechend der Art der Teile in die Einbindung in
Materialflußkonzepte klassifiziert.
Zwar gilt für alle Teile das just-in-time Prinzip, d.h. die schnellstmögliche Zulieferung um
spätmöglichsten Zeitpunkt, jedoch ergeben sich entsprechend der Teile (ABC-Klassifikation)
unterschiedliche zeitliche Restriktionen bei der Zulieferung und damit unterschiedliche
Standortmuster der Zulieferindustrie.
„VW unterscheidet zwei Zulieferungsarten, die zu unterschiedlichen Standortmustern der
Zulieferbetriebe führen:
-
zeitpunkt- und reihenfolgegerechte Sequenzanlieferung mit zahlreichen
fahrzeugspezifischen Varianten (A- und teilweise B-Teile);
-
bedarfsgerechte Anlieferung mit geringerer Variantenzahl im Block (C- und teilweise BTeile).“412;
Es lassen sich vier Bedarfskategorien unterscheiden:
1.
Erweiterungsfläche für VW;
2.
Industrieflächen für Zulieferbetriebe, A- und teilweise B-Teile ;
3.
Gewerbeflächen für Zwischenlager und Vormontage, C- und teilweise B-Teile;
4.
Flächen für örtliches Gewerbe;
Entfernungsdistanzen zum VW Werk:
A-Teile nach dem just-in-time System maximal 10 km;
B-Teile nach dem just-in-time und Sequenzsystem maximal 25 km;
C-Teile nach dem Sequenzsystem maximal 50 km;
Dementsprechend besitzt jede Kategorie von Automobilzulieferern (A, B und C-Teile)
unterschiedliche Erforderungsfaktoren:
A-Teilehersteller (Modulproduzenten und - lieferanten):
- Integrationskompetenz
- Logistik
- Standort
- Technologiekompetenz
- Preis
B-Teilehersteller (System- und Komponentenproduzenten bzw. -lieferanten):
412 Siehe: Gewerbeflächenbedarf der Stadt Wolfsburg, (Gutachten). Institut für Stadtforschung und
Strukturpolitik GmbH. Berlin Dezember 1992. Seite 6.
- 142 -
- Technologiekompetenz
- Logistik
- Preis
Komponentenproduzenten:
- Logistik
- Preis
C-Teilehersteller (Teileproduzenten bzw. -lieferanten).
- Preis413
Man erkennt aus dieser Zuordnung, daß am untersten Ende nur der Preiswettbewerb mit der
Konsequenz dominiert, daß diese Produktionsstätten im Inland nicht mehr wettbewerbsfähig sind.
Am oberen Ende der Rangskala überwiegt der Technologie- und Logistikwettbewerb als eine
Ursache für den stark zunehmenden Konzentrationsprozeß innerhalb der Zulieferindustrie.
Zu 1. Erweiterungsfläche für VW
Diese unterschiedlichen Bedarfskategorien haben unterschiedliche Standortanforderungen. So kann
z. B. eine VW eigene Produktionsausweitung aus produktionstechnischen Gründen nur auf dem
vorhandenen Werksgelände oder in direkter Umgebung stattfinden. Die Stadt Wolfsburg hat anhand
eines Grundsatzbeschlusses bereits ein Flächennutzungsplanverfahren eingeleitet, daß eine VW
Flächenerweiterung in nördlicher Richtung anstrebt. Im internen Willensbildungsprozeß der
Ratsfraktionen der Stadt Wolfsburg ist diese nördliche Flächenerweiterung schon deshalb
umstritten, weil eine eindeutige Absichtserklärung in schriftlicher Form von der VW AG zu diesem
Flächenerweiterungsprojekt nicht vorliegt.
Der Landtagskandidat der Grünen, S. Wilhelm, warf der Verwaltung diesbezüglich „vorauseilenden
Gehorsam gegenüber dem VW Konzern vor, obwohl dieser gar keine weiteren Flächen erwarte.“414
Tatsache ist, daß diverse Turbulenzen im VW Management eine eindeutige Absichtserklärung
bisher vermissen ließen und Flächenerweiterungsabsichten nur über bestimmte Informationskanäle,
bzw. informelle Kontakte (VW-Stadt-Arbeitskreis) und Einzelpersonen zustande kamen, die den
Verdacht entstehen ließen, daß eine „Unterdrückung von Informationen“ für die meisten
Ratsmitglieder besteht.
Außerdem ist zu bedenken, daß Ausbaupläne im Wolfsburger VW-Werk angesichts geringer
gewordener Verteilungsspielräume, und der Diskussion mit welchen Instrumenten Sozialpläne und
Massenentlassungen zu verhindern sind, zwischenzeitlich gegenstandslos geworden sind.
Zusammenfassend kann hierzu vermutet werden, daß aufgrund der bereits erwähnten laufenden
Rücknahme der Produktionseinheiten die Kapazitätsauslastung weiter reduziert wird und deshalb
die VW AG für ihren verbleibenden Kernfertigungsbereich in absehbarer Zeit keine weiteren
Flächen in Wolfsburg benötigt.
Zwischenzeitlich wurde im Rat der Stadt Wolfsburg über die Änderung des Flächennutzungsplanes
im nördlichen Bereich Kästorf-Warmenau zugunsten der VW Erweiterungsfläche mehrheitlich
abgestimmt.415 Die Aussprache über diesen Tagesordungspunkt verlief erwartungsgemäß
kontrovers: „VW ist an dieser Erweiterung gar nicht mehr interessiert. Sie wird nicht benötigt und
ist zu teuer.“416
Durch die einschneidenden Reduzierungen von Arbeitszeit, Beschäftigungsvolumen und
Kapazitätsauslastung werden „bestimmte Ausbauplanungen zu den Akten“ gelegt.417
413
Berger R. und Partner, Ebenda. Seite 18.
Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 26.10.1993.
415 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 16.12.1993.
416 Ebenda.
417 Siehe: VW-Personalvorstand P. Hartz, In: Autogramm, 02.11.1993, 23. Jahrgang, Seite 1.
414
- 143 -
Anhand der sich abzeichnenden Veränderungen in den Produktionsstrukturen könnte diese
Vorratsfläche beispielsweise für Modulhersteller aufgrund der direkten räumlichen Anbindung zur
Kernfertigung reserviert werden.
Zu 2. Industrieflächen für Zulieferbetriebe, A- und teilweise B-Teile
Industrieflächen für Modulautomobilzulieferer benötigen eine verkehrsgünstige Lage in kurzer
Entfernungsdistanz, auf die sich die Stadt Wolfsburg ebenfalls einzustellen versucht.
Folgende Anforderungsmerkmale sind für diese Bedarfskategorie „zwingend“ vorgeschrieben:
-
Sie müssen im engen Umkreis um das VW Werk angesiedelt sein müssen, um die just- intime Produktion zu gewährleisten,
-
es muß einen Gleisanschluß zur Lkw-Einfahrt des Volkswagenwerkes liegen müssen
und
sie sollen siedlungsfern und günstig zu der vorherrschenden Hauptwindrichtung liegen, um
mit den auftretenden verkehrs- und produktionsbedingten Emissionen keine
Wohngebiete zu
beeinträchtigen.
Bei der Analyse dieser aufgestellten Kriterien wird bereits ersichtlich, daß in Bezug auf die
räumliche Entfernung und die Straßenverkehrsanbindung der Landkreis Helmstedt gegenüber der
Stadt Wolfsburg und dem Landkreis Gifhorn insgesamt nicht die optimalen Voraussetzungen hat,
diese Bedingungen zu erfüllen.
Eine gezielte Ansiedlung von großvolumigen Zulieferbetrieben auf nördlichem und nord-östlichem
Landkreisgebiet würde zu einer extremen Zunahme der Straßenverkehrsbelastungen führen, welche
in ihren Folgewirkungen nicht nur die VW-Logistik beeinträchtigen, sondern einen gänzlichen
Verkehrszusammenbruch bewirken könnten. Lediglich der Landkreis Gifhorn kann aufgrund seiner
günstigen Anbindung, hauptsächlich durch die „Nordtangente“ K144, die Bedarfskategorie für
Industrieflächen an Zulieferbetriebe überwiegend erfüllen.
Die für die Automobilproduktion relevanten Zulieferer werden sich im verstärktem Maße in
unmittelbarer Nähe des VW-Werkes Wolfsburg ansiedeln, wodurch eine deutliche Zunahme
regionaler Verflechtungen zu erwarten ist. Einzelne Kommunen (speziell im standort-günstigeren
Landkreis Gifhorn) haben frühzeitig verstärkt Gewerbegebietsstandorte für Automobilzulieferer
akquiriert.
Zu 3. Gewerbeflächen für Zwischenlager und Vormontage C und teilweise B-Teile
Aufgrund der reihenfolgengerechten Zulieferung von A- und teilweise B-Systemteilen ist die
räumliche Nähe des Zulieferers erforderlich. Dies gilt nicht für geringerwertige C-Teile. Sie werden
bedarfsgerecht über ein Materialversorgungszentrum angeliefert. Die unmittelbare Nähe des
Absatzmarktes ist demzufolge aus logistischen Gründen nicht notwendig, so daß keine wesentliche
Veränderung des bisherigen traditionellen Standortmuster zu erwarten ist. Aufgrund der
Gewerbeflächenengpässe in Wolfsburg ist daher mit einer unmittelbaren Ansiedlung von nicht in
zeitkritische just-in-time Intervallen eingebundenen Zulieferbetrieben außerhalb Wolfsburgs z.B. in
der Entfernungdistanz des Landkreises Helmstedt zu rechnen.
Die Gewerbeflächenvergabe für diese Zwischenlagerungshaltung und ggf. Vormontage kann
arbeitsmarktpolitisch nur als quantitatives Beschäftigungsvolumen im geringen Umfang
eingeordnet werden. Die Zulieferindustrie wird eine größere Anzahl Zwischenlagerhallen auf
Gewerbeflächen erstellen, um den logistischen Auflagen zu entsprechen. Deren Funktion wird
hauptsächlich sein, quasi als Zwischenlager, vormontierte Zulieferteile für die Endliefer-segmente,
speziell in den Bereichen Kfz-, Elektrik und Kunststoffteilefertigung, als Bindeglied zur
pünktlichen just-in-time Anlieferung direkt zu den Fertigmontagebändern bei VW oder als
Komponentenzulieferant für die System- und Modulautomobilzulieferer bereit zu halten.
Entsprechend gering wird die Anzahl der in diesen Montagewerken Beschäftigten sowie deren
Qualifizierungsgrad sein. Lediglich die arbeitsmarktpolitische Verlagerung eines äußerst geringen
- 144 -
Teils der vom zukünftigen Personalabbau betroffenen in die neuen Zwischenlager kann als
geringfügiger Beschäftigungsbeitrag gewertet werden, der in keinem realistischen Verhältnis zum
überproportionalen Flächenverbrauch steht.
Der gegenüber dem Landkreis Gifhorn in Bezug auf Industrie- und Gewerbeflächenplanungen ins
planerische Defizit geratene Landkreis Helmstedt, wird durch seine räumlich nicht so optimale
Entfernung zum VW Zweigwerk Wolfsburg wohl als potentieller Gewerbeflächenlieferant für CTeile
seinen
„regionalpolitischen
Beitrag“
leisten.
Durch
die
beschriebene
Zwischenlagerungshaltung bis zur abrufbereiten Endmontageproduktion werden die
wirtschaftlichen Probleme in der Region Südostniedersachsens und im Landkreis Helmstedt durch
die Automobilzulieferindustrie weiter verfestigt.
Trotzdem (oder gerade deshalb) ist zu vermuten, daß sich die Ansiedlungskonkurrenz zwischen den
Kommunen innerhalb dieser Region Südostniedersachsen (auch zwischen den Landkreisen Gifhorn
und Helmstedt und zwischen den Gemeinden eines Landkreises), auch um die
gewerbeflächenintensiven „Zwischenlager“, drastisch verschärfen könnte. Bei der Beurteilung von
auszulagernden Produktionseinheiten bei VW ist es äußerst wichtig, die dabei entstehenden
arbeitsmarkt- und strukturpolitischen Gesichtspunkte zu berücksichtigen.
Die Gefahr einer sozialen Schieflage durch die verbleibenden „Stammarbeitsplätze“ innerhalb der
stark heruntergefahrenen Kernfertigung bei VW in Wolfsburg und die Randarbeitsplatzkonzentration in der Zulieferindustrie um das VW-Werk herum, verkörpert ebenfalls eine neue
industrielle Arbeitsteilung, in der die regionale Chancenungleichheit weiter verfestigt wird.
Die Annahme, daß die quantitative und flächenverzehrende Lagerhaltungsvormontage mit
geringfügigen Arbeitskräftevolumen und repetitiven Arbeitstätigkeiten möglicherweise der erste
Baustein einer anschließenden qualitativen Nutzungsveränderung sein könnte, läuft Gefahr, die in
der Region Beschäftigten und Lebenden einer möglichst günstigeren Wirtschaftsentwicklung
langfristig zu entziehen. Ein anderer Aspekt ist die wesentlich geringere tarifvertragliche
Eingruppierung in der Zulieferindustrie gegenüber dem VW Haustarifvertrag. Kaufkrafteinbußen
und Ängste der Betroffenen, die um ihren „sozialen Status“ fürchten, Verunsicherungen durch den
Verlust der „sozialen Mitte“, Abwanderungs-absichten und Infrastruktureinbrüche wären außerdem
Hemmnisse für ein günstiges Investitionsklima potentieller Investoren im Landkreis Helmstedt.
Zu 4. Flächen für örtliches Gewerbe
Flächenbereitstellung für örtliches regionales und überregionales Gewerbe schließt in der
Überlegung bewußt ein, geeignete Gewerbegebiete auch für nicht VW abhängige
Gewerbeunternehmen vornehmlich bereitzustellen.
Hierbei hat anscheinend die Stadt Wolfsburg ihre Probleme: Sie verfügt derzeit über insgesamt 908
Hektar Industrie- und Gewerbeflächen. 175 weitere Hektar sind rechtskräftig beschlossen, aber
nicht erschlossen und sofort verfügbar. 418
Die Wolfsburger Mittelstandsvereinigung (MIT) benötigt für Erweiterungsvorhaben innerhalb der
Stadtgrenze dringend Gewerbeflächen, die im erforderlichen Ausmaß nicht zur Verfügung stehen,
weil die Stadt Wolfsburg diverse Gewerbeflächen für VW Zulieferer freihält. Vier betroffene
Unternehmen, deren Gewerbeflächen gekündigt wurden, beabsichtigen ins Umland (Landkreis
Gifhorn und Oebisfelde) abzuwandern.419
3.2.11.1 Beurteilung und Konsequenzen
Kommunalpolitiker sollten in ihrem Abwägungsprozeß berücksichtigen, daß das Fertigungskonzept „lean production“ äußerst Flächenintensiv ist. Der allgemeine Trend in Richtung des
vermehrten Flächenbedarfs pro Beschäftigten gilt insbesondere in der Automobilindustrie. Gründe
418
419
Siehe: Wolfsburger Nachrichten, 27.01.1994.
Siehe: Wolfsburger Kurier, 24.10.1993.
- 145 -
dafür sind insbesondere die veränderte Arbeitsorganisation, die Produktions-technologien und die
Logistikkonzeption. Dies führt zu einem größeren Bedarf an Lager-flächen.
- Das VW-Stammwerk in Wolfsburg reduziert sich in der Tendenz allmählich auf die
Endmontage anzuliefernder Teile (Kernfertigung), die aus Zwischenlagern mit
vormontierten Fertigteilen als Bindeglied zur Reduzierung der Fertigungstiefe in
punktgenauer just-in-time Anlieferung direkt zu den Fertigmontagebändern bei VW angeliefert
werden.
- Die beschäftigungspolitische Brisanz dieser Umstrukturierung bei VW wird sich nochmals
verschärfen, wenn die konjunkturelle Entwicklung weiter an Dynamik verliert. Deshalb
sollte unbedingt eine Wirtschaftsförderungstrategie angestrebt werden, die wenigstens
konjunkturelle Kompensationsmöglichkeiten- zur Durchsetzung einer Diversifikationsstrategie auf Landkreisebene beinhalten.
Die in dieser Strategie verfestigte funktionale Arbeitsteilung eines größtenteils nur noch
produzierenden Montagestandortes, beinhaltet eine Abkopplung fast aller innovativer
Funktionsbereiche, die (sofern sie anfallen) fremdvergeben werden.
Die „Logistik-Partner“ der VW AG oder auch Modulzulieferer werden sich größtenteils als
Zuliefererwerke etablieren. Vormontierte Teile werden für die Endmontage bei VW komplettiert.
Der
extreme
Gewerbeflächenverbrauch
von
Automobilzulieferern
mit
geringer
Beschäftigungsquote und durchschnittlich niedrigen Anforderungsprofilen werden das seit Jahren
in der gesamten Region rückläufige industrielle Ansiedlungs- und Umverteilungspotential
verfestigen.
Die „einseitige Vergabe an flächenintensive Lager- und Speditionsbetriebe ohne Beachtung
geringer Arbeitsmarkteffekte und der enorm steigenden Verkehrsbelastungen“420 zeigt in ihrer
Gesamtheit auf, daß die räumliche Größenordnung von Lagerhallen zu ihrer minimalen
Beschäftigungsanzahl unverhältnismäßig ist.
Es ist festzuhalten, daß eine Flächennutzung für die Automobilzulieferindustrie im Landkreis
Helmstedt insgesamt weniger erstrebenswert erscheint.
Die Stadt Wolfsburg wird ihre Erweiterungs- und Vorratshaltungspolitik von Industrie- und
Gewerbeflächen prinzipiell und bedingungslos an VW orientieren. Durch die historische
Entwicklung von Werk und Stadt, faktischer Bedingungen und sozialökonomischer Abhängigkeit
ist diese Kommunalpolitik letztendlich ein Resultat pragmatischer Sachzwänge, zu der es aus
Wolfsburger Eingebundenheit heraus kaum Alternativen gibt.
Durch die begrenzte Anzahl von Nutzungsflächen im Wolfsburger Stadtraum kann nur eine
begrenzte Gesamtfläche für die VW Auslagerungsstrategien bereitgestellt werden. Das hat zur
Folge, daß die Wolfsburger Wirtschaftsförderungsmaßnahmen gezwungenermaßen auf jegliche
Wirtschaftsdiversifikation verzichten muß und sich damit mittel- und langfristig der Chance
entzieht, eine notwendige Flächenbereitstellung für Wachstumsbranchen parallel zur
monostrukturierten Automobilbranche zu plazieren. Durch die indirekten Vorgaben des VW
Managements zumeist über Einzelpersonen an die Kommunen zwecks Gewerbe- und
Industrieflächenbedarfes kann vermutet werden, daß die Gemeinden bis an die Grenze ihrer
finanziellen und organisatorischen Möglichkeiten gehen, mitunter bis zur Restausschöpfung
vorhandener und noch dafür zu erschließender Flächen, um diesbezüglichen Voraussetzungen zu
schaffen.
Hier kann vermutet werden, daß die umliegenden Landkreise durch ihre räumliche Plazierung im
Logistikkonzept der just-in-time Strategie indirekt dazu beitragen, den Standort Wolfsburg auf
Kosten der eigenen Landkreisentwicklung zu stabilisieren.
Die Automobilzulieferindustrie schafft weder neue Arbeitsplätze im erforderlichen Ausmaß, noch
bietet sie ausreichende Ersatzarbeitsplätze für den Arbeitsplatzabbau bei VW und erzeugt aufgrund
420
Lompe, K. u.a. , Ebenda, Seite 390.
- 146 -
einer hauchdünnen Kostenkalkulation aufgrund des „Preisdiktates“
Arbeitsplatzsicherheit der im Zuliefersegmet beschäftigten Mitarbeiter/innen.
keine
relative
Ungeachtet dieser Argumente wird sich bei konsequenter Umsetzung des just-in-time
Fertigungskonzeptes im Raum Wolfsburg eine veränderte räumliche Produktionsordung einstellen,
diese führt zur Herausbildung „regelrechter Produktionscluster. ... Östlich von Hannover hat sich
ein solches Produktionscluster bereits in Ansätzen entwickelt: im Kern steht der
Produktionsverbund der VW Werke Wolfsburg, Braunschweig, Salzgitter und Kassel, um den sich
Zulieferbetriebe wie Bosch in Salzgitter und Hildesheim ansiedeln.“421
Die großvolumigen Produktionskapazitäten im VW-Werk Wolfsburg werden sicherlich identische
Logistikkonzepte in unmittelbarer Umgebung des Werksgeländes benötigen.
Durch die anstehende einschneidende Veränderung, die sich aus der reduzierten Fertigungstiefe bei
VW und die tendenzielle Fremdvergabe von Fertigungsprozessen an Zulieferer ergibt, werden die
umliegenden Kommunen eingestimmt, die flächenintensive Ausweisung von Industrie- und
Gewerbeflächen für eine Flächenvorratspolitik zu investieren, die dem logistischen
Umsetzungsspielraum des strukturellen Wandels in der Automobilbranche in dieser Region
Rechnung trägt.
Es ist anzunehmen, daß die um Wolfsburg neu anzusiedelnden Modulzulieferer einen hohen
Fertigungsanteil auf Sublieferanten übertragen werden. Durch größere Gütermengen und kürzere
Lieferabstände wird das Verkehrsaufkommen im Raum Wolfsburg nochmals ansteigen, was die
Lebensqualität der unmittelbar und mittelbar betroffenen Bevölkerung durch die extrem steigenden
Anforderungen an die Verkehrsanbindung spürbar einschränken wird.
Standortkonkurrenz innerhalb der VW AG (z.B. die aufgezeigte Golf-Parallelproduktion in Mosel)
verdeutlichen exemplarisch, daß der Entscheidungsspielraum von Kommunen, sich dieser
Entwicklung zu widersetzen, in der Praxis kaum gegeben ist.
Die den Kommunen letztendlich aufgezwungene Funktion eines praktischen „Erfüllungsgehilfen“
für die Renditesteigerung der VW AG, bei Gegenleistung der Erhaltung von Restarbeitsplätzen in
den Kernfertigungsbereichen bei VW, verdeutlichen die einseitigen Macht- und
Entscheidungsstrukturen.
Die allgemeine und grundsätzliche Notwendigkeit zur Standortsicherung der VW AG als
„ökonomisches Rückgrat“ des in der Tendenz sich abzeichnenden Restbestandes soll hiermit nicht
in Frage gestellt werden.
Parallel erscheint es aber ebenso notwendig, ein strukturpolitisch wirkungsvolles Konzept für
Südostniedersachsen zu erarbeiten, daß nicht nur und ausschließlich die Interessensphäre der VW
AG berücksichtigt.422 Die Zielvorstellung, einen möglichst großen Teil der bei VW durch
personelle Ausdünung und Auslagerung von Betriebsteilen wegfallenden Arbeitsplätze in der
Region Südostniedersachsen zu halten, gelingt nur, wenn gleichzeitig automobilunabhängige
Branchen erfolgreich angesiedelt werden können.
Neben einer notwendigen Unterstützung des Automobilstrukturwandels sollten innovationsorientierte Konzepte anvisiert werden, die auf den technologischen Wandel humankapital-intensiver
Güter- und Dienstleistungen abzielen und eine Langzeitperspektive beinhalten.
Regionalpolitisch wird sich die Stadt Wolfsburg der Standortpolitik einer ausschließlichen
Bestandssicherung wohl am wenigsten entziehen können und auch nicht wollen. Die traditionell
historische Verknüpfung zwischen „Werk und Stadt“ lassen anscheinend auch keine anderen
Alternativen zu.
421
Siehe: Gewerbeflächenbedarf der Stadt Wolfsburg, (Gutachten). Ebenda, Seite 10.
Anmerkung: Beispielsweise beabsichtigt die niedersächsische Landesregierung nach Angaben eines Sprechers des
Wirtschaftsministerium 10 Millionen DM bereitzustellen, um in Emden die PKWStellflächen für die VW AG
großzügig zu erweitern. Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 26.08.1993.
422
- 147 -
Unter Berücksichtigung der räumlichen Entfernungsdistanz sollte jedoch der Landkreis Helmstedt
partei- und interessenübergreifend versuchen, weitgehend von VW unabhängige Betriebe (außer für
den Bürobedarf) anzusiedeln, die in Folge dessen möglichst nicht der Automobibranche zuzuordnen
sind.
Daß der Landkreis Helmstedt aufgrund räumlicher und infrastruktureller Bedingungen nicht primär
zur Standortsicherung des VW Zweigwerkes in Wolfsburg beitragen kann, ist unter Abwägung
analysierter Faktoren langfristig sicherlich nicht als Nachteil anzusehen.
Aus diesem Grund ergibt sich aus der ungünstigeren räumlichen Entfernungsdistanz des
Landkreises zu VW in Wolfsburg eine Chance, sich aus der „Umklammerung“ einer
„Eingebundenheit“ zu lösen, welche letztlich darauf abzielt, daß sich die VW AG primär auf
Kosten des Einkaufes saniert und die Kommunen als „Erfüllungsgehilfen“ die dafür notwendige
Flächenvorratspolitik betreiben zu lassen.
Durch das bisherige Fehlen eines Flächennutzungskonzeptes im Landkreis Gifhorn kann
desweiteren vermutet werden, daß der Entwicklungsvorsprung in der gezielten Flächenausweisung
gegenüber dem Landkreis Helmstedt mittelfristig kaum erfolgversprechend umgesetzt werden kann,
weil die prinzipielle Ausrichtung auf die Automobilzulieferindustrie aufgrund der damit
verbundenen negativ aufgezeigten Entwicklungstendenzen sich nicht an den Erfordernissen einer
vorausschauenden Wirtschaftsförderung orientiert.
3.2.11.2 Alternativlösungsansatz
Der Preis ausschließlicher Gewerbe- und Industrieflächenbereitstellung für die Interessensphäre der
VW AG erscheint mangels vorhandener Flächenreserven als sehr hoch. Spätere Optionen auf
existentiell notwendige Flächenvorratshaltungen für dringend benötigte (innovative)
Branchenansiedlungen werden mangels eingeschränkter Flächen in einem ausreichenden Umfang
speziell für Wolfsburg, aber auch für die umliegenden Landkreise Helmstedt und Gifhorn, im
erforderlichen Umfang vermutlich nur eingeschränkt möglich sein.
Der Gefahr konkurrierender Nutzungsinteressen mangels geeigneter Industrieflächen für die
Automobilzulieferindustrie könnte deutlich entschärft werden, wenn einerseits die noch 30 Hektar
Fläche auf dem Werksgelände der VW AG in Wolfsburg 423 sowie die erwähnte VW
Erweiterungsfläche Nord von ca. 50 Hektar für Zulieferer zur Verfügung stehen würde und
andererseits nutzungsintensive Gestaltungsmöglichkeiten auf den groß dimensionierten VW
Parkplätzen um das Werksgelände in Wolfsburg konzipiert würden.
Die im Eigentum der VW AG befindlichen Parkplätze wären aufgrund ihrer hervorragenden
Anbindung ans Werk geeignete Industrieflächen für Modulhersteller.
Die im Rahmen der „Expo 2000“ in die interne Diskussion eingebrachte Magnetschwebebahn
könnte als Zubringer von der in die Randbereiche des Großraumes Wolfsburg ausgegliederten
Parkplätze direkt ins Werksgelände fungieren.
Außerdem wird durch die kontinuierliche Ausgliederung von weiteren Produktionseinheiten aus
dem Wolfsburger VW-Werk die Kapazitätsauslastung tendenziell zurückgehen, so daß
freiwerdende Flächen in den Werkshallen im größeren Umfang für Automobilzulieferer zur
Verfügung stehen.
Schon deshalb erscheint die Einbindung und Integration von Modulkomponentenherstellern in die
Fahrzeugentwicklung und - fertigung erstrebenswert.
Mit dieser Integrationsdichte ist der Produktionsablauf weniger komplex, fehlerfreier, kostengünstiger und verschafft der VW AG sowie den Modulkomponentenherstellern elementare
Standortvorteile, die sich insbesondere für Wolfsburg positiv auswirken könnten.
423
Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 26.10.1993.
- 148 -
Die hierbei benachteiligte soziale Interessengruppe ist vermutlich der VW Betriebsrat und die
Gewerkschaft IG-Metall:
Das Dilemma von unterschiedlichen Tarif- und Manteltarifverträgen auf engsten Raum beinhaltet
sozialen Konflikt- und Sprengstoff, welcher die betriebliche- und gewerkschaftliche
Interessenvertretung (unabhängig ob kooperativ oder konfliktorisch) in eine extreme Randlage
katapultieren könnte.
Mit diesem Maßnahmeziel einer Integrationsdichte von Kern- und Randfertigungsarbeitsplätzen ins
Wolfsburger VW Zweigwerk werden aber andererseits für die Stadt Wolfsburg und deren
Stadtumfeld entwicklungsnotwendige Flächenkapazitäten weitgehend freigehalten, die zur
Ansiedlung von arbeitsplatzintensiven Wachstumsbranchen unumgänglich erscheinen.
Weil sich zukünftige Standortsicherungsmaßnahmen des industriellen Restbestandes der
Automobilindustrie mit dem Maßnahmeziel einer vorausschauenden Gewerbe- bzw.
Industrieflächenplanung anhand aufgezeigter Faktoren weitgehend überschneiden, ist unter
Abwägung dieser Zielkonflikte im Rahmen dieses Untersuchungsabschnittes ein Lösungsmodell zu
favorisieren, das auf Integrationsdichte abzielt.
„Der bessere Weg sei es, die Zuliefer näher an die VW Werke heranzurücken, ja in die Produktion
zu integrieren.“424
Es ist damit zu rechnen, daß sich bereits mittelfristig Modulzulieferfirmen auf dem Werksgelände
ansiedeln, um die räumliche Nähe aus den erwähnten Gründen rationell zu nutzen.
3.2.11.3 Prioritätensetzung an die kommunale Gewerbeflächenplanung
Die
zunehmende
Fremdbestimmung
der
Gemeindeebenen
durch
dominierende
Wirtschaftsinteressen führte dazu, daß immer mehr Gemeinden und Landkreise in die gleichen
räumlichen Wirtschaftsverflechtungen eingebunden wurden.
Aufgrund dieser aufgezeigten Sachlage erscheint es erstrebenswert, wenn beispielsweise der
Wirtschaftsausschuß des Landkreises Strategien der Innenentwicklung bestehender und zukünftiger
Gewerbe- und Industrieflächen konzipiert.
Es geht inhaltlich um einen qualitativen und quantitativen Vergleich verschiedener
Nutzungskonzepte, in der Überlegungen für die in der Planung befindlichen Gewerbeflächen des
Landkreises Helmstedt erstellt werden.
Neue Gewerbeflächenkonzeptideen in der Landkreisentwicklungsplanung schließen in der
notwendigen Konsequenz auch ein abgestimmtes Planungsvorgehen für die zukünftige Entwicklung
ein.
Selbstverständlich wird die Ausweisung von gewerblichen Bauflächen und deren Erschließung
weiterhin im alleinigen Verantwortungsbereich der Landkreisgemeinden und - städte liegen. Die
letztendliche Entscheidung, an welcher Stelle in Gemeinde- und Stadtgebiet zu welchem Zeitpunkt
bauleitplanerischen Voraussetzungen für die Ansiedlung von welchen Betrieben geschaffen
werden, treffen die Gemeinden und Städte im Rahmen ihrer Planungshoheit nach wie vor
selbständig.
Trotzdem erscheint darüber hinaus eine abgestimmte Vorgehensweise für die zukünftige
Landkreisentwicklung nicht zuletzt aufgrund herausgestellter Flächennutzungskonflikte als äußerst
wichtig und sinnvoll.
Durch die dynamische Landkreisentwicklung der nächsten Jahre wird der Druck auf das im
Landkreisgebiet zur Verfügung stehende Flächenpotential zunehmen. Da in der Regel
unterschiedliche Nutzungsinteressen denselben Standort beanspruchen, treten immer häufiger
424 Tacke, A. Staatssektretär im niedersächsischen Wirtschaftsministerium. In. Wolfsburger Allgemeine
Zeitung, 04.12.1993.
- 149 -
Nutzungskonflikte auf. Welche Nutzung sich letztendlich durchsetzt, ist auch eine politische
Entscheidung, die vorausschauend entschieden werden sollte.
Um diese Entscheidungsfindung vorzubereiten, könnten beispielsweise Fachpläne für einzelne
flächenbeanspruchende Branchen erstellt werden, die in ihrer Gesamtheit die unterschiedlichen
Nutzungskonzepte für das begrenzte Flächenpotential verdeutlichen.
Die einzelnen Fachpläne könnten in ein räumlich-funktionales Entwicklungskonzept integriert
werden. Die Ressortpläne würden dann nicht mehr isoliert betrachtet, sondern unter Abwägung der
verschiedenen Nutzungsansprüche zusammengefügt. Das Landkreisentwick-lungskonzept erscheint
als vorbereitendes Instrument für die Fortschreibung des Flächen-nutzungsplanes notwendig. Es
könnte auf den Zeitraum der nächsten 10 Jahre ausgerichtet sein.
Anhand skizzierter Problemstellungen und Hintergrundinformationen ist es absehbar, daß durch die
Gewerbeflächenreservierungen für Automobilzulieferer für den Landkreis Helmstedt keine
zusätzlichen Wachstumsimpulse entstehen.
Deshalb könnten angesichts des proportional ansteigenden Gewerbeflächenbedarfes im Interesse
einer langfristig stabilen Wirtschaftsstruktur (im Rahmen der Wirtschaftsförderung) in
Koordination mit den betroffenen Gemeinden zwecks anzusiedelnder Unternehmen
Vergabekriterien für Nutzungskonzepte vereinbart werden. Damit können die zur Verfügung
stehenden Flächenressourcen optimaler ausgenutzt und zukünftig ein konsequentes
Flächenrecycling und Flächenmanagement, sowie eine Verkürzung von Genehmigungs-verfahren
einvernehmlich angestrebt werden.
Strukturkonzept zur Gewerbeflächenentwicklung:
Zielvorstellung
Umsetzungsschritte
Grundkonsens
Welche Auflagen sind mit der Bereitstellung von Gewerbeflächen zu
verbinden sind und wie kann die Einhaltung solcher Auflagen
verbindlich gesichert werden?
herstellen
Verwaltungsabläufe
transparenter
gestalten, unter
Einbeziehung
programmatischer,
strategischer und
politischer Planungen
(verwaltungsintern)
Wie können die Ziele kommunaler Wirtschaftsförderung mit anderen
planerischen Zielsetzungen (Verkehrsanbindung, Wohnungsbau,
Verkürzung der Planungsverfahren) in einem kontinuierlichen
Verwaltungsarbeitskreis interdisziplinär vorbereitet werden?
Als Alternativstrategien könnten folgende Förderungskriterien diskutiert werden:
Anstatt lagerungs- und flächenintensive Zulieferbetriebe sollten für die im Rahmen der
Wirtschaftsförderung
zu
entwerfende
Nutzungskonzepte
für
Gewerbeflächen
an
Produktionsbetriebe der Hochtechnologie, Forschungs- und Entwicklungsbetriebe oder
Wissenschafts- und Forschungseinrichtungen anvisiert werden.
Hiermit kann eine stärkere differenzierte Belegungspolitik und eine Abstimmung von
Gewerbebetrieben nach Kriterien der Gleichartigkeit und der gegenseitigen Ergänzung besser
aufeinander abgestimmt werden.
Die Bereitstellung von Gewerbeflächen sollte ausschließlich durch eine gezielte Flächenbelegungspolitik erfolgen.
Infolgedessen können die gegenwärtigen Probleme der Wirtschaftsstruktur auch als Chance für
einen planerischen Neuanfang genutzt werden!
- 150 -
Es ist davon auszugehen, daß z.B. die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien auch
für Landkreise, die in strukturschwachen peripheren Regionen liegen, zukünftig Chancen
beinhalten. Obige Zielvorstellungen und Umsetzungsschritte sind förderlich, um den Ausbau der
informationsorientierten und auf Technologietransfer ausgelegten zukünftigen Infrastruktur
voranzutreiben und damit lagebedingte Nachteile durch rechtzeitigen Anschluß an die
Wirtschaftszentren auszugleichen.
Parallel als „Stützungsfunktion“ könnten außerdem der spätere Büroflächenbedarf (für die aus dem
innerbetrieblichen Bereich bei VW ausgegliederten Dienstleistungsbereiche) strategisch anvisiert
werden.
Bei einer erfolgreichen Sanierung von VW ist trotz der momentanen Stagnationsphase mit einem
Anstieg von Planungsbüros, z.B. für Logistiktätigkeiten, zu rechnen.
Wirtschaftsförderungsmaßnahmen des Landkreises sollten diesbezüglich sich auf den
beschäftigungspolitisch qualitativen Teil der aus der reduzierten Dienstleistungstiefe heraus
resultierenden Tätigkeitsbereiche konzentrieren, die nicht an Enfernungsdistanzen und
Produktionszeitvorgaben gebunden sind.
Innovative Ingenieurbüros oder Forschungsinstitute sind eigenständige Lieferanten, die mit ihrem
Potential mitunter eine marktführende Stellung einnehmen, die weit über den engen Bereich der
Automobilproduktion hinausgehen. Höherwertige Dienstleister, z. B. in den Bereichen von
Forschungs-, Entwicklungs- und Planungsaufträgen. sind Träger einer Produktdiversifikation auf
innovativer Ebene. Diese Unternehmen tragen desweiteren zu einer höherwertigen überregionalen
Dienstleistungs- und Produktionsverflechtung aktiv bei.
Eine Sekundärstrategie könnte, in indirekter Anlehnung an die Automobilbranche, im gewerblichen
Bereich die Ansiedlung der Produktion von Mikroelektronik, Meß- und Regeltechnik, Druckluftund Hydraulikkomponenten oder die Produktionssparte elektrotechnischer und elektronischer
Bereiche darstellen, die auch innerhalb der Zulieferindustrie eigenständig Orientierungen aufweisen
und zu einer Ausweitung der überregionalen Produktionsverflechtungen beitragen.
Zum Umstrukturierungsprozeß der von der VW AG betroffenen Bereiche gehören auch
unternehmensbezogene Dienstleistungen, die in der Vergangenheit eine positive Entwicklung
vollzogen. Dazu zählen neben Rechts-, Steuer- und Wirtschaftsberatung vor allem Dienstleistungen
im Bereich technischer Beratung, Planung und Entwicklung. Ein weiteres Argument für den
Dienstleistungsbereich ist der relativ geringe Flächenbedarf: Während im Bürobereich von einem
Flächenbedarf je Arbeitsplatz von 35 qm Bruttogeschoßfläche auszugehen ist, liegt der Bedarf etwa
in den Bereichen Fertigung und vor allem Lagerhaltung um ein Vielfaches höher.
Ein praktisches Beispiel ist die hundertprozentige VW Tochtergesellschaft „VW Gedas“
(Gesellschaft für technische Datenverarbeitungssysteme mbH), mit Firmensitz in Berlin. Bedingt
durch die beschriebene reduzierte Dienstleistungstiefe entstand eine expandierende Gesellschaft,
deren strategische Ausrichtung auf eine führende Marktposition bei hochwertigen, innovativen
Aufgabenstellungen im Umfeld der technisch-wissenschaftlichen und technisch-administrativen
Informationsverarbeitung abzielt.
Mit Errichtung eines diesbezüglichen Softwareproduktionszentrums konnte das dynamische
Unternehmen bereits 38 Prozent des Umsatzes durch Aufträge von Unternehmen erwirtschaften, die
nicht zur VW AG gehören.425 Trotz der damit auch weiterhin verbundenen hohen Abhängigkeit zur
Automobilbranche bliebe der Anschluß an die technologische Weiterentwicklung erhalten und die
Möglichkeit, qualifizierte Arbeitsmarktgruppen im Landkreis zu halten und gegebenenfalls sogar
auszubauen, könnte eventuell steigen
Die Softwareentwicklung ist besonders in der hiesigen Region zukunftsorientiert, weil sämtliche
VW Zulieferer und deren Subunternehmen in absehbarer Zukunft auf den Datenfluß über ein
elektronisches Kommunikationssystem angewiesen sind.
425
Siehe: Wolfsburger Kurier, 09.08.1992.
- 151 -
Aus der reduzierten Dienstleistungstiefe heraus (die nicht an produkionstechnische Zeitvorgaben
gebunden ist) ergeben sich auch für den Landkreis Helmstedt Möglichkeiten zur
beschäftigungsintensiven Ergänzung. Im Trend bilden sich dabei dauerhafte Arbeitsteilungen
zwischen Herstellern und eigenständigen Ingenieurbüros heraus, in der Tendenz Großraum-büros.
Damit wird der Koordinationsaufwand zwischen Auftraggeber und -nehmer exter-nalisiert .
Für die Gesamtbewertung kommt hinzu, daß diese leistungsfähigen und flexiblen Unternehmen
flächeneinsparend sind und die Rückverlagerung ausgelagerter Kapazitäten ermöglichen.
Neuansiedlungen sollten das innovative Potential anvisieren, das den technologischen und
gesellschaftlichen Bedarf an Sicherung und den Ausbau von sozialversicherungspflichtigen
Beschäftigungsverhältnissen und deren angemessenen Qualifizierungsstrukturen erfüllt.
Im Gegensatz zu Managementmethoden läßt das öffentliche Dienstrecht markwirtschaftliche
Unternehmensführungsmodelle nicht zu. Trotzdem ist die kommunale Wirtschaftsförderung in der
Lage, sich Prinzipien der Unternehmensführung bei der Umsetzung genannter Alternativstrategien
anzuzeigen und persönliches Engagement bis zum „operativen Ergebnis“ umzusetzen.
Für die Wirtschaftsförderung ist im Hinblick auf den europäischen Binnenmarkt ab 1993 vieles
vom strukturbedingten Wettbewerb vor Ort abhängig. Die Übertragung vieler Entscheidungen auf
die europäische Ebene darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß wichtige Detailentscheidungen
weiterhin auf regionaler Ebene getroffen werden. Daher sollten Kommunalpolitiker und
Verwaltung aus Sichtweise der besonderen Interessenlage des Landkreises Helmstedt bei der
vorausschauenden Gewerbe- und Industrieflächenplanung weitgehend unabhängig von
Automobilzulieferbetrieben planen und alternativ auf Produkti-onsdiversifikation setzen, indem
man sich auf zukunktsorientierte, arbeitsplatzintensive und wettbewerbsfähige Branchen orientiert.
Ein Landkreis, der in seiner bisherigen Wirtschaftsentwicklung weitgehend als „Konjunkturpuffer“
und „verlängerte Werkbank“ ökonomisch funktionierte (siehe auch Kapital 3.1.10), sollte die
Gelegenheit eines notwendigen Umstrukturierungsprozesses auch sinnvoll nutzen, um
diesbezügliche Initiativen vorausschauend einzuleiten.
3.2.11.4 Überregionale Handlungsempfehlungen
Die niedersächsische Landesregierung wird im Hinblick auf die Erhaltung von (Rest-)
Arbeitsplätzen des niedersächsischen Monopolunternehmens offensichtlich von nachvoll-ziehbaren
Sachzwängen geleitet. Hierbei wäre eine Doppelstrategie angemessen, die einerseits für den
notwendigen Strukturwandel in der Automobilindustrie unter Einbeziehung betroffener
Arbeitnehmervertretungen, dem Management aus Teileherstellerfirmen und der VW AG, möglichst
arbeitplatzintensive Perspektiven anhand von modellartigen innovativen Bereichen kooperativ
entwickelt und zum anderen zukunftsorientierte Projekte in neuen Wachstumsbranchen außerhalb
der Automobilbranche eine ihrer Bedeutung angemessene Berücksichtigung finden läßt .
Anmerkungen zum ersten Teil der Doppelstrategie:
Im Hinblick auf den zukünftigen Gestaltungsablauf erscheint es unabdingbar, daß die
Automobilzulieferindustrie für die zu treffenden einschneidenden Entscheidungen auch die innere
Freiheit besitzt und nicht - wie bisher - weitgehend vor vollendete Tatsachen gestellt wird.
Dies beinhaltet finanzielle Unterstützungsmaßnahmen seitens der Landesregierung für die
Teilehersteller um ihnen Fusionen und Kooperationen zu System- und Komponenten-herstellern zu
ermöglichen,
mit
der
Gegenleistung
der
Zulieferfirmen,
entsprechende
Arbeitsplatzerhaltungsgarantien in ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereichen zu geben.
Dieses Maßnahmebündel erscheint aber nur ökonomisch relevant und erfolgversprechend, wenn die
VW AG ihrerseits eine Abnahme- und Preisgarantie für einen angemessenen Zeitrahmen
verbindlich gewährleistet.
- 152 -
Anmerkung zum zweiten Teil der Doppelstrategie:
Die Begründung für die notwendige Aufmerksamkeit und Konzentration auf alternative
Wachstumsbranchen ergibt sich bereits aus der Tatsache, daß obige Maßnahmen in ihrer
Wirksamkeit begrenzt und zeitlich befristet erscheinen, weil diese Investitionen aufgrund des sich
reduzierenden Bedeutungsumfanges der Automobilindustrie in Deutschland und Westeu-ropa
zunehmend an Effektivität verlieren.
Hohe Förderraten fließen in eine stagnierende Branche, deren Rationalisierungen bis auf die
jeweiligen Kernfertigungsbereiche und mittelfristige Verlagerungen von Produktionsstätten in
Richtung osteuropäischer und südostasiatischer Wachstumsmärkte hier zukünftig zu ungünstigen
Entwicklungstendenzen führen werden.
3.2.11.5 Arbeitsplatzbeschaffung durch ein Projekt „Industriepark“?
Im folgenden soll der Vorschlag untersucht werden, einen gemeinsamen „Industriepark“ (Stadt und
Landkreisübergreifend) zwischen Calberlah, Sülfeld und dem zur Gemeinde Lehre gehörende
Essenrode außerhalb der Landkreisgrenze Helmstedts zu konzipieren.
3.2.11.5.1 Positive Betrachtung
- Probleme zu bündeln und kreisübergreifend zu lösen, ist durchaus positiv.
- Dieses Gemeinschaftsprojekt kann sicherlich wirkungsvoll mit dazu beitragen,
Standortkonkurrenzverhalten zwischen den Kommunen abzubauen und hat den Vorzug, daß es
ansiedlungswilligen Betrieben erschwert wird, kommunale Gebietskörperschaften bezüglich von
Konditionen gegeneinander auszuspielen.
- Die infrastrukturelle Anbindung des beabsichtigten „Industrieparks“ ist hervorragend.
- Diese äußerst günstige Ausgangslage würde anstehende Gemeinschaftskosten zur Realisierung
dieses Projektes grundsätzlich rechtfertigen.
- Da es existentiell notwendig ist, den Automobilproduktionsstandort Wolfsburg langfristig
konkurrenzfähig zu halten, sollte im Hinblick auf die beabsichtigte Flächennutzung folgendes
Entwicklungskonzept gefahren werden: Eine 50 prozentige Flächenreservierung für potentielle
Automobilzulieferer der Komponentenfertigung und die Nutzung der verbleibenden Hälfte für
alternative auf Produktdiversifikationen, die zukunftsorientierte, arbeitsplatzintensive,
wettbewerbsfähige und umweltfreundliche Kriterien erfüllen. Unter Berücksichtigung der
proportionalen Erschließungskosten könnte die Stadt Wolfsburg eine 50 prozentige Beteiligung,
die Landkreise Gifhorn und Helmstedt anteilig 25 Prozent übernehmen.
- Der anstehende Gewinn aus dem Verkauf der erschlossenen Flächen und aus der Ansiedlung der
Gewerbesteuerzahler könnte unter Berücksichtigung eines Ausgleiches von Disparitäten auf je ein
Drittel festgelegt werden. Ein solches Pilotprojekt, in dem ein gemeinsamer Industriepark von drei
Gebietskörperschaften bei der Planung, Erschließung und zukünftiger Vermarktung erfolgt, wäre
ein praktischer Ansatzpunkt, gewerbliche Flächen in inter-kommunaler Abstimmung.konzentriert
zu entwickeln, die auch dem entstehenden Regionalbewußtsein Rechnung trägt.
- Die positiven Erfahrungswerte von drei fränkischen Gemeinden (Nürnberg, Führt und Erlangen),
die ebenfalls in kooperativer Zusammenarbeit eine Gewerbefläche zusammen erschlossen und
vermarkten426, können als praktisches Beispiel in der Entscheidungsfindung herangezogen
werden.
426
Siehe: WirtschaftsWoche, Nr. 7, 12.02.1993, Seite 32.
- 153 -
- Sofern die planungsrechtlichen Aufgabenbereiche bei den Gebietskörperschaften verbleiben
sollen, könnten für die nichthoheitlichen Aufgaben der Erschließung, Vermarktung und
Bewirtschaftung dieses Gewerbegebietes auch privatrechtliche Organisationensformen gewählt
werden.
3.2.11.5.2 Negative Betrachtung
- Die Entfernungsdistanz zu den Kerngebieten des Landkreises Helmstedt, insbesondere zum
Südkreis, ist zu weit.
- Der beabsichtigte Industriepark trägt dazu bei, das sogenannte Achsenkonzept - die Stärkung der
Wirtschaftszentren von Wolfsburg und Braunschweig weiter auszubauen. Die weitere
ökonomische Zentralisierung dieses Verdichtungsraumes würde aus der Sichtweise des
Landkreises Helmstedt dazu führen, von den Entwicklungschancen weiterhin abgekoppelt zu sein.
- Strukturprobleme prinzipiell mit großvolumigen Industrieansiedlungen lösen zu wollen, gehören
der Vergangenheit an. Die effektive Wirksamkeit dieser Maßnahme sollte prinzipiell nicht
überschätzt werden.
- Ein Schwachpunkt dieses Konzeptes ist die (bewußt) vernachlässigte Nutzungsdiskussion dieser
Fläche auch für Branchen außerhalb der Automobilzulieferer. Diesbezügliche Planungsabsichten
tendieren dahin, die Industrieflächennutzung ausschließlich als Instrument der
Automobilzulieferindustrie zu reservieren.
- Neue Industrie- und Gewerbeflächen für Automobilzulieferer sind weitgehend auf dem
Werksgelände der VW AG reichhaltig vorhanden. Freiwerdende Nutzungskapazitäten von
ausgelagerten Fertigungsabteilungen und die zusätzlich reservierte VW Erweiterungsfläche Nord
schaffen ideale Voraussetzungen für eine logistische Integrationsdichte zwischen Modul-, Systemund Komponentenproduzenten sowie der VW Montagefabrik. Ein dringender Handlungsbedarf
zur Flächenvorratshaltung für Automobilzulieferer im beabsichtigten Volumen des
Industrieparkpojektes ist daher nicht ableitbar.
- Trotz aller medienfixierten Veröffentlichungen um den Industriepark wurden zwischenzeitlich
weder die Abwicklung der Planungen, die voraussichtlichen Kosten für den Grunderwerb und die
bauliche Erschließung für die zum Landkreis Gifhorn gehörende Fläche in Angriff genommen ,
noch ist ein diesbezüglicher Antrag an die Verwaltung (Stand 10/93) und eine offizielle
Abstimmung der Stadt Wolfsburg mit dem Landkreis Gifhorn zustande gekommen. 427
- Außerdem wäre die Möglichkeit, einen regionalen Gewerbe- und Industriepark in einer
Größenordnung von beispielsweise 150 ha zu planen, angesichts der hierfür bedeutsamen
Rahmenbedingungen nur schwer zu verwirklichen. Dazu zählen die notwendigen
Planungsverfahren wie das Raumordungsverfahren, der Flächennutzungungsplan und der
Bebauungsplan. Alle genannten Verfahren sind mit einem erheblichen Zeitaufwand verbun-den.
Planungsträger wäre nicht der Landkreis Gifhorn, sondern der Zweckverband Großraum
Braunschweig und die betroffene Samtgemeinde und Gemeinde. Diese Träger haben bisher keine
Planungsabsicht bekundet.
- Da das zwischenzeitlich geplante Industrie- und Gewerbegebiet in Isenbüttel im Landkreis
Gifhorn mit 90 ha durch seine Größenordnung, Nähe und Anbindung an die Kreisstraße K 114
(Nordtangente) direkt auf Wolfsburg hin orientiert ist und somit vollendete Tatsachen schafft,
stellt sich die grundsätzliche Frage , ob die Notwendigkeit von weiteren Gewerbeflächenplanungen, insbesondere für das Industrieparkprojekt im Raum Sülfeld-West, noch besteht.
- Im Abwägungsprozeß regionaler Wirtschaftsaspekte und der spezifischen Interessenlage des
Landkreises Helmstedt sprechen wenige Argumente für eine aktive Beteiligung an diesem
beabsichtigten zentralen Industrieparkprojekt außerhalb seiner Kreisgrenze.
427
Siehe: Wolfsburger Kurier, 10.10.93.
- 154 -
- Ein Finanzierungsmodell aus der Sichtweise des Landkreises Helmstedt kann unter
Zugrundelegung des in Erwägung gezogenen Standortes außerhalb seiner Kreisgrenze nur dahin
tendieren, sich an den vorgeschlagenen Erschließungskosten prinzipiell nicht zu beteiligen.
- Da die Wirtschaftspolitik des Landkreises gezwungen ist, mit knappen Mitteln höchst effektiv
umzugehen und diese optimal zu nutzen, ist, in Abwägung mehrerer Optionen, eher eine
Investition für die Verkehrsanbindung des Gewerbegebietes in Harbke (Sachsen-Anhalt)
vorzuziehen.
3.2.11.5.3 Beurteilung unter strukturpolitischen Gesichtspunkten
Der anvisierte „Industriepark“ bei Sülfeld kann keinen schnellen und kurzfristigen Ersatz für die in
der VW AG entfallenden Arbeitsplätze schaffen. Insbesondere die Automobil-zulieferindustrie wird
diese Erwartungshaltung nicht erfüllen können. Statt dessen sollte es nicht nur um
Gewerbeflächendiskussionen, sondern parallel auch um Gewerbeflächen-nutzungskonzepte gehen.
Angesichts des konstatierten monostrukturellen Wirtschaftsgefüges Südostniedersachsens sollte die
zentrale Frage der Gewerbeflächennutzung nicht dem „freien Spiel der Kräfte“ unterliegen.
Infolgedessen müßte neben Gewerbeflächenplanungen eine intensive Industriepolitik mit
Produktionsdiversifizierungen eingeleitet werden, die von „Qualifizierungsoffensiven“ begleitet
sein sollten, um einen arbeitsmarktpolitisch positiven Effekt sicher zu stellen.
Angesichts der dramatisch knapper werdenden Haushaltsmittel erscheint es prinzipiell sinnvoll, die
Kräfte gemeinsam zu bündeln, um gebietskörperschaftsübergreifend zukunfts-stabilisierende
Maßnahmen einzuleiten, damit sowohl Industrie- und Gewerbeflächen, als auch diesbezügliche
Industrie- und Gewerbeflächennutzungskonzepte integriert in Angriff genommen werden, um die
Automobilstrukturkrise mittelfristig zu bewältigen.
Deshalb ist es bedauerlich, wenn eine „Projektskizze“ wie der beabsichtigte Industriepark
geographisch im Wirtschaftszentrum zwischen Wolfsburg und Braunschweig plaziert wurde, was
der sozialökonomischen Problemlage des Landkreises Helmstedt in keiner Weise gerecht wird.
Diese geplante Fläche würde aus der Sichtweise Helmstedts den Berufsauspendleranteil erhöhen
und die ökonomische Funktionsbestimmung des Landkreises als Reservoir und Peripherie
(insbesondere des Südkreises) weiter verfestigen.
Als Vergleichsmaßstab für die Sülfelder „Projektskizze“ kann das 40 Hektar neue Gewerbegebiet
„Schwarze Heide“ bei Hannover herangezogen werden. Diese Fläche wird vom dortigen
Wirtschaftsdezernent ausschließlich für kapitalintensive Zuliefer reserviert, um dem Stöckener VW
Zweigwerk Wettbewerbsvorteile zu verschaffen.428
Trotz der zuvor grundsätzlich kritisierten einseitigen Ausrichtung auf die Zulieferindustrie ist dieses
hannoversche Projekt entgegen dem „Sülfelder Industrieparkmodell“ konzeptionell abgestimmt und
zeigt detaillierte Konturen: Bereits für die zweite Jahreshälfte 1994 wird die Fläche zur planungsund genehmigungsreifen Ansiedlung von Zulieferbetrieben zur Verfügung gestellt werden. In einer
direkten Gemeinschaftsaktion mit VW sollen in den kommenden fünf Jahren auf diesem Gelände
„modernste Zulieferkonzepte“ umgesetzt werden.
Praktisch als Zugabe wird den Zulieferern die Aussicht auf ein „bisher einmaliges“
Qualifizierungsprogramm ermöglicht. Der von der Stadt gemeinsam mit Siemens, Wabco und IBM
entwickelte Fortbildungskatalog für Produzenten und Zulieferer der Automobilbranche wird vom
Sozialministerium unterstützt und als EG-Modellprojekt ab Mitte 1994 starten können.
Im direkten Vergleich fällt hierbei auf, daß die Koordination mit VW in Wolfsburg nicht direkt,
sondern nur über „informelle Kanäle“ erfolgt und die beabsichtigte Realisierung dieses Projektes
bei Sülfeld innerhalb der Planungszeitabläufe bis zum Modellbeginn VW Typ Golf IV nicht greifen
kann, da es bis dahin nicht umsetzbar erscheint.
428
Siehe: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 11.11.93.
- 155 -
Das Alternativbeispiel, daß auch andere Möglichkeiten zur Ansiedlung von Zulieferern existieren,
verdeutlichen die Ford-Werke: Für diesen Zweck habe der Automobilkonzern 400 Hektar des
eigenen Werksgeländes im belgischen Genk an die Zulieferer verkauft. 429
Hervorzuheben ist ferner, daß sich ein dringender Handlungsbedarf für die Belange Wolfsburgs
aufgrund der aufgezeigten Flächennutzungskonflikte nicht unmittelbar ergibt, weil die dafür
benötigten und notwendigen Flächen bereits weitgehend auf dem Werksgelände der VW AG zur
Verfügung stehen.
Die Initiatoren des Sülfelder Industrieparkmodells (VW Betriebsrat und IG-Metall
Verwaltungsstelle Wolfsburg), könnten auch in Bezug auf ihre im Mai 1993 initiierte
Regionalkonferenz, die in Braunschweig stattfand, folgende Argumente in ihrer zukünftigen
Entscheidungsfindung mit berücksichtigen:
- Bisherige Strukturkrisen (Bergbau, Eisen- und Stahlindustrie, sowie Schiffbau) konnten in ihren
inneren Umstrukturierungsprozessen durch veränderte Bedingungen im wesentlichen
ebensowenig aufgehalten werden, wie gegenwartsbezogen die Automobilindustrie in der jetzigen
Veränderungsphase.
- Südostniedersachsen wird langfristig nur eine Chance erhalten, wenn es gelingt, unabhängig von
der dominierenden und erdrückenden Automobilindustrie ein zweites, zukunftsorientiertes,
arbeitsplatzintensives und wettbewerbsfähiges Standbein zu installieren.
- Eine einseitige Industrie- und Strukturpolitik, die nur darauf abzielt, dem Automobilstandort
Restbeschäftigungsperspektiven sichern zu wollen (Erhalt der verbleibenden „Stammarbeitsplätze“ durch die Schaffung von „Randarbeitsplätzen“ in der umliegenden
Automobilzulieferindustrie), gerät in Gefahr, die langfristigen Konsequenzen des
Beschäftigungsabbaues im Hinblick auf die Verfestigung monostruktureller Bedingungen zu
unterschätzen.
- Eine gewerkschaftlich orientierte „vorausschauende Arbeitsmarktpolitik“ sollte sich nicht nur
primär auf eine Industrieflächenvorratspolitik für die Automobilbranche reduzieren.
Andererseits sollten „nur“ marktwirtschaftlich orientierte und operierende Interessengruppen in
ihren Entscheidungsfindungen mit berücksichtigen, daß der Versuch der Bewältigung der
einschneidenden Strukturkrise in der Automobilindustrie und der analysierten VW spezifischen
Probleme im Wolfsburger Produktionszweigwerk allein durch marktwirtschaftliche Regulationen,
katastrophale Folgen haben könnte. Hier ist die aktive Einmischung aller gesellschaftlichen Kräfte
gefordert und auch erforderlich, um für diese Region (einschließlich dem Landkreis Helmstedt)
sozial annehmbare und volkswirtschaftlich effektive Lösungen zu erzielen.
Auch die politischen Entscheidungsträger sind verantwortlich und müssen in Zusammenarbeit mit
der Automobilzuliefer- und Automobilindustrie sowie mit anderen Verkehrsträgern, die
Rahmenbedingungen für die gesicherte Zukunft erarbeiten. Beispielsweise sollten neue
Verkehrssysteme und -netze konzipiert werden, um die Automobilregion in eine „Verkehrskompetenzregion“ umzugestalten.
Das anvisierte Forschungsvorhaben für „zukünftige Verkehrstechnologien als Schwerpunkt einer
Neuorientierung der Strukturpolitik in Südostniedersachsen“,430 das im Rahmen eines
Projektstudiums am braunschweiger TU Seminar unter Leitung von K. Lompe favorisiert wird
(„wir sehen eine Chance für die Entwicklung des Wirtschaftsraumes von einer Automobil- zu einer
Verkehrskompetenz“431), sollte im Rahmen einer wirtschaftlichen Neuorientierung nicht das einzige
Schwerpunktprojekt in dieser Region darstellen.
Ein integriertes Verkehrskonzept setzt eine breit angelegte Grundlagenforschung voraus, die in
Südostniedersachsen im Vergleich zum Süddeutschen Raum bisher nur unzureichend vorhanden ist.
429
Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 03.12.1993.
Siehe: Lompe, K., u.a., Regionale Bedeutung und Perspektiven der Automobilindustrie, Seite 347 ff.
431 Siehe: Braunschweiger Zeitung, 26.06.1993.
430
- 156 -
Innovationsprozesse und Steuerungspotentiale im Bereich neuer Verkehrstechnologien und
Verkehrssysteme sind bereit in der Mercedes Benz AG reichhaltig vorhanden, die in diesem
Zukunftsprojekt in Kooperation mit der Siemens AG und in der eigenen diversifizierten
Konzernstruktur über hervorragende technologische Voraussetzungen zur Realisierung dieses
Projektvorhabens verfügt.
Der Personalabbau auch im Bereich der Forschung und Entwicklung in der Wolfsburger VW AG
wird die regionale Ausgangsbasis für dieses Vorhaben eher schwächen und zukünftige
Finanzierungsmaßnahmen werden unter Berücksichtigung engerer öffentlicher Fördermittel aus
dem Bundesministeriums für Forschung und Technologie sicherlich nicht mehr nach dem
„Gießkannenprinzip“ vergeben.
Die mit dem Projekt beabsichtigte und grundsätzlich erforderliche ökonomische Teilstabilisierung
der Region Südostniedersachsen, auch im Rahmen späterer Entwicklung und Herstellung von
Verkehrsleitsystemen, hat eine hohe Priorität. Doch wenn sich Industriepolitik an regionalen
Problemlagen orientiert, müßten parallel dazu weitere Maßnahmen auf Branchen außerhalb der
Automobilindustrie hin erfolgen, die erst in ihrer Gesamtheit wirksame Entlastungen auf die
zukünftige Arbeitsmarktentwicklung bringen würden.
Zusammenfassend kann dieses für die Region Südostniedersachsens anvisierte Zukunftsprojekt als
umsetzbar angesehen werden, aber ihm müssen realistischerweise im Vergleich zum süddeutschen
Wirtschaftsraum aufgrund der dort wesentlich günstigeren Voraussetzungen weniger Chancen
eingeräumt werden.
Die allerdings notwendige regionale Kooperation von Herstellern im Fahrzeugbau (VW, MAN,
LHB, Siemens, diverse Zulieferer und Forschungsinstitute), hätte inhaltlich in der Region eine
Zukunftsperspektive, wenn parallel zum dominierenden Fahrzeugbau in kooperativer
Zusammenarbeit eine vorausschauende Produktdiversifikation in neue Marktsegmente zustande
käme.
Die Wertschöpfungskette Verkehr sollte sich nicht nur auf das Automobil beschränken. Um die
Monostruktur erfolgreich zu überwinden, sollten auch Schienen- und Nutzfahrzeuge, die Luft- und
Raumfahrt in die Projektarbeit mit einbezogen werden.
Zwischenzeitlich ist auf Initiative von vier IG Metall Verwaltungsstellen Braunschweig, Peine,
Salzgitter und Wolfsburg eine regionale Entwicklungsagentur für Südostniedersachsen (RESON)
gegründet worden.432 In enger Zusammenarbeit mit der Technischen Universität Braunschweig
wurde ein Konzept für eine regionale Entwicklungsagentur entworfen, dessen Zielvorstellung in der
Schwerpunktsetzung eine „Standort- und Beschäftigungssicherung mit Hilfe von regionaler
Industriepolitik, gezielter Qualifizierungspolitik sowie Betriebs- und kommunenübergreifender
Kooperation“ 433 anstrebt.
Dieses Maßnahmebündel erscheint nur erfolgversprechend, wenn Ansätze und Konzepte zur
tatsächlichen Überwindung der negativen Auswirkungen der automobilbestimmten Monostruktur
verwirklicht werden könnten.
Eine ausschließliche Konzentration auf die Förderung zur Anpassungsfähigkeit der
Automobilbranche an veränderte Rahmenbedingungen hätte für Südostniedersachsen zur Folge,
eine Strukturkonservierung mit Mitteln zu betreiben, die zur Bewältigung und Gestaltung des
industriellen Wandels nicht wirkungsvoll beitragen würde.
Südostniedersachsen muß auf Dauer ein hohes Lohnniveau mit guten Beschäftigungschancen
eingeräumt werden. Zielvorstellung sollte auch hier sein, daß sich die im harten internationalen
Wettbewerb stehenden Unternehmen selbst Entfaltungsspielräume öffnen, um vor allem in den
Wachstumsbranchen neue Perspektiven zu suchen und Marktnischen zu besetzen. Der
432
Siehe: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 04.03.1994 und Braunschweiger Zeitung, 04.03.1994.
Thesenpapier "Regionale Entwicklungsagentur RESON". Hrsg. IG Metall Verwaltungsstellen
Braunschweig, Peine, Salzgitter und Wolfsburg, November 1993, Seite 4.
433
- 157 -
wachstumsnotwendige Strukturwandel sollte trotz Rezession und Transformationskrise in
Südostniedersachsen systematisch vorankommen.
Personalpolitische Abbauprogramme diverser Unternehmen zu moderieren, erscheint auch aus
regionalpolitischer Sichtweise perspektivlos. Es müßten endlich Modelle eines konstruktiven
industriellen Umbaues, anstatt eines kontinuierlichen Abbaues in Südostniedersachsen konzipiert
und wirkungsvoll umgesetzt werden.
3.2.12 Zusammenfassung
Die folgende Zusammenfassung wird auf Basis von Prognosen, weiteren Handlungsempfehlungen
und Alternativlösungsansätzen in Thesenform dargelegt. Auch das qualitative Instrument der
Szenarienbildung wird hierbei angewendet, um ein möglichst realistisches Verhältnis zu den
Perspektiven regionaler Entwicklungstendenzen aufzuzeigen:
- Aufgrund der Hauptproblematik einer nicht vorhandenen Arbeitsplatzkompensation in
zukunftsorientierte und beschäftigungsintensive Branchen hat sich die gesamte Region
Südostniedersachsen mit den Spätfolgen regionaler Monostruktur auseinanderzusetzen.
- Die Frage nach den Chancen industrieller Arbeit in der Bundesrepublik Deutschland wird in
Gegenwart und Zukunft verstärkt durch den strukturellen Wandel geprägt sein: In der
Automobilbranche werden diesbezügliche Strategien überlagert von der zentralen
„Standortdiskussion“, in der die Zukunft der Arbeit von der Restgröße des verbliebenen
Arbeitsvolumens, der Beseitigung von vermeintlichen Standortnachteilen, wie beispielsweise
inflexiblen Arbeitszeiten und die im Vergleich zu den Mitwettbewerbern ungenügende Effizienz
der Produktion Themen sein werden.
- Aus betriebswirtschaftlicher Perspektive wird die VW AG ihre Wettbewerbsfähigkeit nur
wiederherstellen und erhalten können, wenn in kürzester Zeit eine Produktivitätssteigerung
erfolgreich vollzogen wird, bei der die zu hohe Fertigungstiefe, die zu langen Montagezeiten, die
zu kostenintensive Qualitätssicherung und die in der Bundesrepublik Deutschland und in Spanien
zu hohen Überkapazitäten erfolgreich abgebaut werden.
- Die umfangreichen Investitionen der 80er Jahre haben in der deutschen Automobilindustrie bisher
nicht zu einem beschleunigten Produktivitätsanstieg geführt. Um sich im internationalen
Wettbewerb künftig effizienter behaupten zu können, werden die Automobilproduzenten ihre
vergleichsweise hohen Produktionskosten im Inland drastisch senken. Ohne einschneidende
Maßnahmen im Personalbereich erscheint dieses Ziel nicht realisierbar.
- Das Leitmotiv Wachstum um jeden Preis mit einem geplanten Gesamtinvestitionsvolumen von 81
Milliarden DM in den europäischen VW-Werken ist als riskanteste Expansion eines europäischen
Automobilkonzerns vorläufig gescheitert. Die Bestandssicherung der Arbeits-plätze im Inland ist
nicht zuletzt deshalb in Gefahr. Der ins Stocken geratenen Automobilabsatz brachte insbesondere
VW im Vergleich zu anderen Automobilkonzernen bei ungenügender Effektivität der Produktion
in den offenen Absturz.
- VW ist ab der zweiten Jahreshälfte 1992 bereits in eine Phase geraten, in der der Wettbewerb auch
in Europa so stark geworden ist, wie beispielsweise auf dem nordamerikanischen Markt. Das
bedeutet zunehmender Druck auf Preise, Erlöse und Ergebnisse.
- Die in Wolfsburg nach heutigen Rentabilitätsmaßstäben zu groß dimensionierte Automobilfabrik
müßte um die Hälfte reduziert werden, um international konkurrenzfähig zu sein.
- Entscheidend für die weitere Entwicklung der Autobmobilproduktion im VW-Stammwerk
Wolfsburg wird sein, ob sich zukünftig die Rentabilität der Produktion unter Berücksichtigung
verschärfter
Konkurrenzbedingungen
managen
läßt.
Die
Grundstrukturen
der
Automobilproduktion werden sich international zu Ungunsten Niedersachsens angleichen.
- 158 -
- Das Automobilproduktionswerk in Wolfsburg wird in seiner jetzigen Produktions- und
Organisationsform keinen Bestand haben. Die Folgewirkungen einer finanziellen Konsolidierung
der VW AG werden sich auf die Region Südostniedersachsen äußerst negativ auswirken.
- Die Region Südostniedersachsen befindet sich von der VW AG (Zweigwerke Wolfsburg,
Braunschweig und Salzgitter), in einem noch höheren Abhängigkeitsverhältnis als der Großraum
Detroit (USA) von General Motors, Corp., Detroit/Michigian.
- Die von einem Haupt- auf ein Zweigwerk herabgestufte Automobilfabrik in Wolfsburg wird bis
auf die anvisierte Kernfertigungstiefe von deutlich unter 30 Prozent reduziert werden, so daß sie
sich im Konzernverbund von Kapazitäten und Kosten dem internen Wettbewerb auch mit
ausländischen VW Zweigwerken sowie mit der in- und ausländischen Zulieferindustrie verschärft
stellen muß.
- Wenn die VW AG es kurzfristig nicht schafft, bei Kosten und Produktivität zu den übrigen
Automobilmitwettbewerbern aufzuschließen, wird die „Gesetzmäßigkeit des Marktes“ die VW
AG verdrängen.
- Einerseits ist in den Absatzmärkten nicht zuletzt aufgrund der Überkapazität von weltweit zehn
Millionen Pkws und der zusätzlichen Konjunkturflaute kaum mit einer Erholung zu rechnen,
andererseits ist die VW AG gezwungen, die eigene Produktivität im gnadenlosen
Verdrängungswettbewerb schnell auf Weltniveau zu steigern. Beide Faktoren führten zum
Resultat eines Personalüberhanges von über 30.000 Arbeitnehmer/innen in den sechs deutschen
Volkswagenwerken.
- Strukturkrise, Rezession und der damit einhergehende Zwang, Kosten zu senken, haben zu
folgenden Vereinbarungen zwischen den Tarifvertragsparteien in der VW AG geführt: Anpassung
der Arbeitszeit und der Personalkosten an die gesunkene Produktion nicht über Entlassung eines
Teils der Belegschaft, sondern durch die Verkürzung der betrieblichen Arbeitszeit ohne vollen
Lohnausgleich. Im Mittelpunkt steht dabei eine Reduzierung der Wochenarbeitszeit um 20
Prozent auf 28,8 Stunden und im Gegenzug dazu eine Verringerung des Jahreseinkommen um 15
Prozent, dafür eine Beschäftigungsgarantie für alle Mitarbeiter/innen vorerst bis Ende 1995. Die
Alternative wäre ein Personalabbau (Massenentlassungen) von 30.000 Beschäftigten gewesen.
- Neben parallel dazu laufenden Personalabbaustrategien wird ein weiterer Schwerpunkt in der
Flexibilisierung der Arbeit liegen, um den Weg freizumachen für einen erweiterten
Handlungsspielraum des Unternehmens bei der Gestaltung von individuellen Arbeitszeiten.
- Aufgrund der konjunkturell schwachen Verkaufsaussichten für 1994 und 1995 ist zudem mit
weiteren Produktionsrückgängen für die fünf niedersächsischen VW Standorte zu rechnen. Dieser
weitere Absatzeinbruch katapultiert die VW AG erneut in eine weitere „Kostenfalle“
(Beschäftigungsgarantie bei betriebsbedingten Kündigungen bis Ende 1995). Auch bei leichten
Volumensteigerungen bleibt der Konkurrenz- und damit der Preis- und Kostendruck unverändert
stark.
- Weiterer kontinuierlicher Personalabbau und die Auslagerung ganzer Fertigungsbereiche werden
in Zukunft mit der Zielvorstellung zur Disposition stehen, internationaler zur produzieren um
gegenüber Konkurrenten wettbewerbsfähig zu bleiben.
- Bei einer weltweiten Überkapazität von rund zehn Millionen PKW wird ein heftiger
Verdrängungswettbewerb unter den Automobilkonzernen geführt, der rezessionsbedingt extrem
ist und aus europäischer Sicht weitere Fusionen (z.B.: Opel und Saab oder BMW und Rover),
strategische Bündnisse und Kooperationen (z.B.: VW und Ford in Portugal), Lean-Management,
Personalabbaumaßnahmen, Zweigwerksschließungen und Verlagerungs-tendenzen nach
Osteuropa nach sich zeihen wird. Der zukünftig weltweit größte Pkw Absatz wird im asiatischpazifischen Wachstumsmarkt stattfinden.
- Der Trend zur internationalen Arbeitsteilung von Forschungs- und Entwicklungspriorität in
Deutschland und der Produktion im Ausland wird insbesondere von der Automobilindustrie
favorisiert. Die renditeschwache VW AG wird hierbei wahrscheinlich eine „Vorreiterfunk-tion“
einnehmen. Wenn beispielsweise in Südosteuropa Kapazitäten ausgebaut werden, wird sich die
Auslastung inländischer VW Zweigwerke tendenziell verringern.
- 159 -
- Es ist desweiteren davon auszugehen, daß auch die Modulzulieferanten mit Fertigungsfilialen auf
dem Wolfsburger Werksgelände zukünftig vertreten sein werden, um die räumliche Nähe aus
erwähnten Gründen rationell zu nutzen und diese Zusammenarbeit zwischen der VW AG und
Lieferanten bereits bei der Konstruktion sowie der Produktion neuer Modelle zu koordinieren.
- Die erhöhte Bedeutung der zentralisierten Automobilzulieferindustrie wird sich nicht positiv auf
die Region Südostniedersachsen auswirken. Die anzusiedelnden Zulieferer werden in ihrer
Gesamtheit keine ausreichende Arbeitsplatzkompensation schaffen, flächenverzehrend sein, das
regionale Verkehrsaufkommen extrem erhöhen, für die Kommunen eine äußerst geringe
Wertschöpfung bilden und eine vorausschauende notwendige Alternativflächenbereitstellung
parallel zur monostrukturierten Automobilbranche weitgehend verbauen. Desweiteren wird die
vor allem unter starken Kostendruck stehende Automobilzulieferindustrie ihrerseits
Fertigungskapazitäten ins Ausland und an Subunternehmen überregional verlagern.
- Nicht hauptsächlich auf Kosten der Automobilzulieferindustrie wird sich VW erfolgreich sanieren
können, sondern nur gemeinsam mit der Innovationskraft der Zulieferer hat VW die Chance, im
weltweiten Wettbewerb zu bestehen.
- Die politischen Kosten eines umfangreichen regionalen Beschäftigungsabbaus bei der VW AG
sind (möglicherweise) gravierender als die betriebswirtschaftlichen Vorteile.
- Von dem Augenblick, wo die Betriebsräte der VW AG keine Erfolgsleistungen mehr vorweisen
können, wird ihr politischer Einfluß tendenziell zurückgehen und ihre betriebliche
Interessenpolitik gefährdet sein. Es ist damit zu rechnen, daß nach abgeschlossener Auslagerung
erwähnter Produktionseinheiten und einer deutlich reduzierten Beschäftigtenzahl letztendlich auch
der Haustarifvertrag bei VW zur internen Disposition stehen wird.
- Die ökologischen Probleme, hauptsächlich durch den CO²-Ausstoß verursacht, werden immer
drückender. Sie erfordern technologische Umwälzungen, deren Konsequenzen weit in die
Fahrzeugkonzepte, Produktionsstrukturen und Verkehrsverhältnisse der Automobilindustrie
hineinreichen werden. Die künftige Mobilitätsentwicklung wird verstärkt im Spannungsfeld
zwischen Ökonomie und Ökologie stehen.
- Zur Lösung dieses Kernproblems kann nur ein Verkehrssystem wirkungsvoll beitragen, das nicht
nur ökonomische, sondern auch ökologische Kriterien gleichermaßen erfüllt. Nur ein zukünftiges
Gestaltungskonzept, das alle Verkehrsträger angemessen einbezieht, kann zur Problemlösung
beitragen. Es sollte leistungsfähig, kostengünstig und weniger umweltbelastend sein. Das
erscheint aber nur realisierbar, wenn die individuelle Mobilität auf das absolut Notwendige
eingeschränkt wird. Die Konsequenz einer zwangsläufig damit verbundenen erheblichen
Reduzierung des produzierten Volumens an Pkws ist Voraussetzung dafür, die qualitativen
Anforderungen der Bürger und der Wirtschaft an Schnelligkeit, Flexibilität und Zuverlässigkeit
des Verkehrssystems auch für die Zukunft zu gewährleisten.
- Die betroffenen Kommunalparlamente in Südostniedersachsen sollten angesichts des industriellen
Wandels der automobilbestimmten Monostruktur neue Entwicklungspfade definieren und auch
betreten. Die Region sieht sich einem dramatischen, strukturellen Anpassungszwang ausgesetzt,
der nur durch einen gesamtgesellschaftlichen Dialog zwischen den politischen und
wirtschaftlichen Akteuren bewältigt werden kann. Bisher hat das Prinzip Hoffnung regiert, doch
die Automobilkrise seit der zweiten Jahreshälfte 1992 ist in ihren strukturellen Folgewirkungen
dermaßen dramatisch, daß die Turbulenzen der „Schlankheitskur“ bei VW und den Zulieferern die
Region kräftig „durcheinanderwirbeln“.
- Es sollte unter Mitwirkung der kommunalen Spitzenverbände eine realistische Bestands-aufnahme
bestehender Risiken im gegenseitigen Interesse vorgenommen werden, in der auch die
Verlagerung der Abhängigkeit vom traditionellen Arbeitsreservoir zum Flächenvorratsreservoir
zur Sprache kommen und Diskussionsgegenstand sein sollte mit der Zielvorstellung, ein
Strukturgesamtkonzept für die Region Südostniedersachsen zu entwickeln, in der verstärkte
Ansiedlungsbemühungen um tatsächlich innovativ operierende Unternehmen unabhängig von der
Automobilindustrie unabdingbar erscheinen.
- 160 -
- Die Entscheidungsträger kommunaler Gebietskörperschaften sollten dabei durchaus selbstbewußt
auftreten und in Bezug auf die analysierte Problematik Positionen vertreten, die keine
„anachronistische Tendenz“ beinhalten.
- Der seit Jahrzehnten propagierte und inhaltlich praktizierte Schulterschluß zwischen Kom-munen
und VW Management verliert seine Bestandswirkung aufgrund des analysierten systematischen
Arbeitsplatzabbaues.
- Der unausweichliche Umstruktierungsprozeß in der Automobilindustrie kann für den Landkreis
Helmstedt langfristig nur sozialverträglich gelöst werden, wenn ausreichend qualitative
Ersatzarbeitsplätze geschaffen werden, die (wenn möglich) von der Automobilbranche
unabhängig sind.
- Hohe Förderraten fließen in eine stagnierende Branche, die zukünftig eine ungünstige
Entwicklungstendenz aufweisen wird und in Westeuropa zunehmend an Effektivität verliert.
- Den öffentlichkeitswirksam begleiteten Moderationen von Abbauprogrammen in der VW AG
müßten parallel Aufbauprogramme gegenüberstehen, wobei ein gesellschaftlicher Bedarf an
Konzeption und Realisation besteht.
- Die Automobilstrukturkrise zeigt insbesondere für Südostniedersachsen eine beschleunigte
Deindustriealisierung auf, die beschäftigungspolitisch zu steigender Massenarbeitslosigkeit und
gesellschaftspolitisch zu sozialen Spannungen führen wird. Auf Basis des strukturellen Wandels
werden sich diese ungelösten Problemkonstellationen zuspitzen und verlangen nach
Initialfunktionen, die angemessene Zielbestimmungen und Umsetzungsstrategien der
gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gruppen erfordern.
3.2.13 Szenarien
Szenario: Radikale Roßkur oder Trabbischicksal?
Die
Alternativen
erscheinen
aufgrund
des
Problemdruckes
der
internationalen
Automobilkonkurrenz für die renditeschwache VW AG klar und zugleich trostlos: Entweder wird
die „Lopez und Co.“ - Strategie favorisiert: Dies hat die Konsequenz zehntausender Arbeitsloser,
insbesondere in der Automobilzulieferindustrie und der weiteren konsequenten Ignorierung der
Umweltproblematik. Die VW AG wird wieder wettbewerbsfähig durch konsequente
Ausgliederungen bis auf Kernfertigungsbereiche und (langfristig) betreibt neue Montagestandorten
in Osteuropa, von denen auch der bundesrepublikanische Markt beliefert wird. Oder alle
Innovationen werden mit der Konsequenz ignoriert, daß die Bundesrepublik Deutschland
tendenziell zum technologischen Entwicklungsland zurückfällt, die Arbeitsplätze ebenso
verlorengehen und die Umwelt dennoch „umkippt“.
Entwicklungsperspektive der VW AG, Zweigwerk Wolfsburg
Die zu groß dimensionierte, kostenträchtige und organisatorisch schwerfällige Wolfsburger Golf/
Vento-Produktion wird in der internen Standortkonkurrenz weiter zurückfallen. Die eingeleiteten
Maßnahmeschritte zur einschneidenden Rentabilitätssteigerung der Produktions-struktur werden
sowohl im internen Standortwettbewerb als auch unter den sich weiter verschärfenden
Rahmenbedingungen
der
internationalen
Konkurrenz
trotz
durchgeführter
Konsolidierungsmaßnahmen, (Produktivitätsverbesserungen, Kapazitätsverringerungen, Arbeitszeit- , Block- und Staffelmodelle), die anvisierten Zielvorstellungen nicht erreichen.
Die arbeitsmarktpolitische Konsequenz wäre ein weiterer Personalabbau, der sich nicht mehr
einvernehmlich, geräuschlos und relativ sozialverträglich gestalten ließe.
Innerhalb der großflächigen Betriebsstätten werden kleinere Produktionseinheiten gebildet, deren
Maschinenpark es zuläßt, ein zukünftig breites Spektrum verschiedener Produkte kostengünstiger
- 161 -
und mit weniger Arbeitskräften herzustellen. Einzelne Produktionsprozesse werden intern
verselbstständigt, beispielsweise Zulieferern überlassen, und die Fertigungstiefe erheblich
verringert.
Alternativszenario:
Entwicklungssperspektive der VW AG, Zweigwerk Wolfsburg
Die VW AG mit ihren qualifizierten und ebenso motivierten Mitarbeiter/innen wird die derzeitigen
Strukturprobleme aufgrund ihres vorhandenen Know-how erfolgreich lösen und gestärkt aus der
Automobilkrise hervorgehen.
Der konsequente Weg der internen Kostenoptimierung hat bereits den „Break-even-Punkt“ um etwa
20 Punkte verbessern können434 und die KVP²-Workshops bewirken weitere Produktionssteigerungen.
Das Zweigwerk in Wolfsburg wird in der Konzernstruktur auch weiterhin die wichtigste Funktion
einnehmen, weil es für 50 Prozent des Erfolges der Marke VW und zu 20 Prozent des
Konzernerfolges steht.
Szenario: „Sozialverträglicher“ Personalabbau
Der Gestaltungsanspruch, daß Konzepte für den verbleibenden industriellen Kernbereich
reduzierter Stammarbeitsplätze bei VW darauf abzielen sollen, bei der Umsetzung Strategien zu
entwickeln, die eine Verbindung zwischen internationalen Wettbewerb und innerbetrieblicher
Reformfähigkeit beinhalten, kollidiert mit der sozialökonomischen Wirklichkeit: Mit der zeitlich
befristeten Arbeitsgarantie bis Ende 1995 suchen VW Mitarbeiter/innen in den rund 5000
Workshops weiterhin nach Einsparungs- und Umsetzungsmöglichkeiten für notwendige
Rationalisierungsmaßnahmen. Auf der anderen Seite machen sie sich damit überflüssig. Sie
rationalisieren ihre eigenen Arbeitsplätze weg, und zwar je mehr, desto erfolgreicher sie in ihren
Sparaktivitäten sind.
3.3 Arbeitsmarkt
3.3.1 Pendler
3.3.1.1 Einleitung
Die Pendlerzahlen verdeutlichen besonders die strukturelle Verflechtungen eines Raumes. Die
Pendlerdaten werden nur im Rahmen von Volkszählungen erhoben. Basis dieser Pendleranalyse ist
die Volks- und Arbeitsstättenzählung 1970 und 1987. Aus diesem Grunde können die Daten nicht
laufend fortgeschrieben werden.
Die absoluten Zahlen beziehen sich daher auf die „Stichtage“ vom 27. Mai 1970 und vom 25. Mai
1987, die in der Gesamttendenz trotzdem aussagekräftig sind, obwohl der Datenerhebungstermin
bekanntlich vor der Grenzöffnung lag und somit im besonderen die Einpendlerzahlen aus den neuen
Bundesländern noch keine Berücksichtigung finden konnten.
Eine Aktualisierung der Daten erfolgte aus den statistischen Erhebungen der „Bundesanstalt für
Arbeit“ und über das Arbeitsamt Helmstedt (Stand vom 30.09.1991 und 30.06.1992), zum Teil
ohne die Gemeinde Lehre. Damit können im folgenden auch aktuelle Daten erfaßt und hiermit
veröffentlicht und es kann interpretiert werden, wie sich rückblickend die veränderten Bedingungen
seit der Öffnung der innerdeutschen Grenze auf die Pendlerverflechtungen auswirkten.
434
Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 18.02.1994.
- 162 -
Diese Daten wurden auf Basis eines datenverarbeitungsgestützten Regionalisierungssystems der
Beschäftigungsstatistik erstellt, das als Quelle Daten aus dem integrierten Meldeverfahren zur
Sozialversicherung nutzt.
Die aktualisierten Daten von 1991 und 1992 haben im Vergleich zu den Volkszählungsdaten von
1970 und 1987 dahingehend den Nachteil, daß über die Häufigkeit der Pendlerbe-wegungen
aufgrund des Datenmaterials keine Aussage getroffen werden kann.
3.3.1.2 Definition
Zu den Pendlern zählen:
- Erwerbstätige, die nicht in ihrer Wohngemeinde, sondern in einer anderen Gemeinde
arbeiten (Berufspendler),
- Schüler und Studierende, die aufgrund ihrer Ausbildung einen Ausbildungsort außerhalb
ihrer Wohngemeinde aufsuchen (Ausbildungspendler).
Erwerbstätige, Schüler und Studierende, die täglich zwischen Wohngemeinde und Arbeits- bzw.
Ausbildungsort pendeln, sind von der Wohngemeinde aus betrachtet Auspendler. Von der Zielgemeinde (Sitz der Arbeits- oder Ausbildungsstätte) aus gesehen, sind sie Einpendler. (Erwerbstätige
mit Reisetätigkeit wie Handels- und Versicherungsvertreter, ambulante Händler usw. gelten ebenso wie die Wochenendpendler - nicht als Pendler)
Bekanntlich haben die meisten Einpendlergemeinden auch Ausspendler und die meisten
Auspendlergemeinden auch Einpendler. Es gibt sogar fast alle denkbaren Mischungsverhältnisse in
den Gemeinden, also eine lückenlose Reihe von den Einpendlergemeinden mit unbedeutender
Auspendlerzahl bis zu Auspendlergemeinden mit geringen Einpendlern. Dieses vorhandene
Mischungsverhältnis wird im folgenden in seiner Häufigkeit für den Landkreis Helmstedt
untersucht.
3.3.1.3 Auspendler
Wichtigster Bestimmungsgrund für Pendlerbewegungen ist die im hohen Maße eingetretene
Trennung von Wohn- und Arbeitstätten.
Von 35.533 wohnortbezogenen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Landkreis Helmstedt
waren am 30.06.1992 17.154 Auspendler, die einem Beschäftigungsverhältnis außerhalb des
Landkreises nachgingen. Dieser prozentuale Anteil von 51,7 Prozent offenbart im direkten
Vergleich mit den Einpendlerdaten ein Negativsaldo eines insgesamt erheblich defizitären
Arbeitsmarktes im Landkreis Helmstedt.
Im Vergleich zur Volkszählung von 1987 ist das eine rund zehnprozentige Erhöhung des
Auspendleranteils.
Von diesen insgesamt 17.154 Auspendlern fahren arbeitstäglich 11.302 zum Zielort Stadt
Wolfsburg, 3.619 zur Stadt Braunschweig, 474 in den Landkreis Wolfenbüttel, 296 in den
Landkreis Gifhorn und 203 in die Stadt Salzgitter.
Aus der von VW durchgeführten „internen“ Personalstatistik von 1991 geht hervor, daß insgesamt
9.227 Mitarbeiter (15,4 Prozent der Gesamtbelegschaft)* aus dem Einzugsbereich des Landkreises
Helmstedt täglich ins VW-Werk nach Wolfsburg pendeln. Davon stammen aus Helmstedt 1.531
(2,6 Prozent),* aus der Samtgemeinde Velpke 2.342 (3,9 Prozent)*, der Einheitsgemeinde Lehre
1.756 (2,9 Prozent)* und aus den Städten Königslutter 1.579 (2,6 Prozent)* und Schöningen 631
(1,1, Prozent)*. Aus dem Landkreis Helmstedt pendeln täglich 131 Mitarbeiter (1,9 Prozent)* ins
Braunschweiger VW-Werk und 29 (0,3 Prozent)* ins VW-Werk in Salzgitter.
*
Anmerkung: * In Klammern ist jeweils der prozentuale Anteil an der Gesamtbelegschaft angegeben.
Kommentar [AL3]: Seite: 161
* prozentualer Anteil jeweils der
Gesamtbelegschaft aus dem VW
Zweigwerk in Wolfsburg
- 163 -
Die arbeitsmarktpolitische Dominanz des VW Werkes in Wolfsburg mit der für
Südostniedersachsen typischen Automobilmonostruktur, dessen Standort sich außerhalb der
Landkreisgrenze
Helmstedts
befindet,
charakterisieren
die
bekannten
einseitigen
Verflechtungstendenzen.
Berufsauspendlerorientierungen
Wie in ganz Niedersachsen stiegen die Pendlerzahlen zwischen den beiden letzten Volkszählungen
auch im Landkreis Helmstedt deutlich an. Die beiden Gemeinden mit dem höchsten
Auspendleranteil, die Samtgemeinde Velpke und die Gemeinde Lehre, steigerten ihren
Berufsauspendleranteil von 1970 im Vergleich zu 1987 um 25,5 Prozent bzw. 36,6 Prozent. (siehe
Tabelle III. 5.1.1). Während die höchste Abnahme der Berufsauspendler mit minus 32,4 Prozent
von der Gemeinde Büddenstedt verzeichnet wurde (siehe ebenfalls Tabelle III. 5.1.1). Hier zeigte
sich, daß die Ansiedlung der Phönix AG eine zunächst spürbar arbeitsmarktpolitische Stabilisierung
bewirkte. In der Samtgemeinde Heeseberg ist die rückläufige Tendenz des Auspendlerüberschusses
von minus 12,0 Prozent (siehe Tabellen III. 5.1.1 und III. 5.1.5) auf folgende Faktoren
zurückzuführen: Die Orte Jerxheim, Söllingen und der Ortsteil Watenstedt der Gemeinde
Gevensleben sind reine Agrargemeinden. Durch Umstrukturierung der Landwirtschaft in den
letzten Jahren und Stillegungen der Zuckerfabriken Watenstedt und Söllingen sind die meisten
Arbeitsplätze innerhalb der Samtgemeinde Heeseberg verloren gegangen. Hinzu kommt das
Aufgeben vieler ehemaliger Kleinbetriebe, die in den Dörfern (besonders Jerxheim) Arbeits- und
Ausbildungsplätze boten. Diese Entwicklung führte in den letzten Jahrzehnten auch in der
Samtgemeinde Heeseberg ebenfalls zu einem starken Anstieg der Auspendlerquoten. Jedoch
reduzierte sich diese Trendentwicklung von 1970 bis 1987 auf minus 12,0 Prozent, weil der
tendenziell hohe Bestand von Nichterwerbstätigen, wie Rentnern, Pensionären
(Überalterungstendenzen) und der Arbeitslosenanteil in der Bevölkerung eine Stagnation der
Mobilität bewirkte.
3.3.1.4 Einpendler
Von den insgesamt 5.246 Personen, die arbeitstäglich in den Landkreis Helmstedt einpendeln,
kamen am 30.06.1992 bereits 3.015 aus den neuen und 2.231 aus den alten Bundesländern.
Dieser innerhalb von 5 Jahren (von 1987 und 1992) hinzugewonnene Einpendleranteil von 3.946
auf 5.246 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten spiegelt den Effekt der Einheitskonjunktur
wider, ist aber zugleich ein Indiz dafür ist, daß der kurzfristig angestiegene Arbeitskräftebedarf
vornehmlich von außerhalb des Landkreises, insbesondere aus dem neuen Bundesland SachsenAnhalt, aufgestockt wurde.
Reallohnunterschiede und günstige Beschäftigungsperspektiven führten zu einer ausgeprägten OstWest-Wanderung sowie zu einem Anstieg der Einpendler, insbesondere aus Sachsen-Anhalt, auch
im Landkreis Helmstedt. Die Ausprägung der Wanderung war am stärksten für qualifizierte
Arbeitskräfte.
Trotz dieses Hinzugewinnes ist der Negativsaldo der Ein- und Auspendlerbilanz von minus 11.908
Personen für 1992 weiterhin erheblich. Die Grundstruktur eines defizitären Arbeitsmarktes ist trotz
der durch die Grenzöffnung bedingten geographischen Verlagerung von einer Rand- in die
Mittellage in einem hohen Ausmaß weiterhin erhalten geblieben.
Das gewonnene Einpendlerpotential aus dem neuen Bundesland Sachsen-Anhalt von 3.015
Personen setzt sich hauptsächlich aus folgenden Landkreisen und Städten im Regierungsbezirk
Magdeburg zusammen: 955 aus dem Landkreis Haldensleben, 822 Landkreis Oschersleben, 372
Landkreis Wanzleben, Landkreis Halberstadt 178, Stadt Magdeburg 157, Landkreis Wolmirstedt
47, Landkreis Burg 36, Landkreis Schönebeck 25, Landkreis Wernigerode 22, Landkreis Stendal 20
und aus dem Landkreis Staßfurt 14 Personen, (siehe Tabelle III. 5.2.3).
Aus dem alten Bundesland Niedersachsen kommen die Einpendler aus den Städten Braunschweig
599, Wolfsburg 302 und Salzgitter 87, den Landkreisen Wolfenbüttel 600, Gifhorn 167, Peine 77
und Goslar 56 (siehe Tabelle III. 5.2.3).
- 164 -
In diesen Zahlen diesseits und jenseits der Landesgrenze sind die Pendler erfaßt, die einer
sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgehen. Darüber hinaus existiert noch eine
unbekannte Anzahl von Ein- und Auspendlern mit Einkommen bis 520 DM im Monat
(geringfügige Beschäftigungsverhältnisse).
Die Kreisstadt Helmstedt konnte trotz ihrer stagnierenden Entwicklung bis September 1989 ihrer
Funktion als Mittelzentrum durchaus gerecht werden und nach 1989 weiter ausbauen.
Bei den Berufseinpendlern ist es der Stadt Helmstedt durch die Öffnung der innerdeutschen Grenze
ab September 1989 gelungen, im Vergleich von 4.712 (1987) zu 6.452 (1991), insgesamt 1.740
Berufseinpendler zu gewinnen (siehe Tabelle III. 5.2.2), von denen 1.138 aus dem Einzugsgebiet
Sachsen-Anhalt kommen. Mit dem „Rutsch“ aus der regionalen Randlage in die zentrale Mittellage
verschaffte sich der gesamte Landkreis Helmstedt eine Steigerungsrate von 3.577
Berufseinpendlern (1987 insgesamt 8.671 und 1991 insgesamt 12.248), davon kamen 1991 aus
Sachsen-Anhalt 2.470 Berufseinpendler.
Hierbei stellt sich die zentrale Frage, mit welchem Maßnahmebündel der gewonnene Bestand an
Einpendlern, insbesondere aus Sachsen-Anhalt, langfristig für den Landkreis Helmstedt gesichert
werden kann? Zu den 2.470 Berufseinspendlern (Stand: 06.1991) aus Sachsen-Anhalt, die den
Landkreis Helmstedt als Zielgebiet anfahren, kommen arbeitstäglich noch mindestens 5.000 - 8.000
Arbeitnehmer/innen als „Durchpendler“ aus Sachsen-Anhalt hinzu, deren Zielgebiete unter
anderem Braunschweig, Wolfsburg, Wolfenbüttel, Salzgitter, Gifhorn und Hannover sind.
Beispielsweise gibt das Arbeitsamt Braunschweig für die Stadt Braunschweig eine Anzahl von
3.850 Arbeitnehmer/innen aus Sachsen-Anhalt an, wobei 1.181 aus Magdeburg, 1.815 aus
Halberstadt, 217 aus Stendal und 83 aus Sangershausen kommen. Für den Arbeitsamtsbezirk
Braunschweig (einschließlich Salzgitter und Wolfenbüttel) werden 8.206 Arbeitnehmer aus
Sachsen-Anhalt angegeben.435 Der Arbeitsamtsbezirk Magdeburg meldete insgesamt ca. 10.000 bis
12.000 Auspendler nach Niedersachsen.436
Da die Binnenwanderung von Ost nach West aufgrund des engen Wohnungsmarktes weiter
abnehmen und die regionalen Arbeitsmärkte mit wenig Zugangschancen eine weitere Reduzierung
der Binnenwanderung nach sich zieht, wird eine weitere Zunahme der Pendlerbewegungen durch
dauernden oder vorübergehenden Verzicht auf Wohsitzwechsel von Berufstätigen aus den östlichen
in die westlichen Bundesländern eintreten. Der Landkreis Helmstedt bekommt durch die BAB-A2
die Funktion eines faktischen Transitlandkreises zugewiesen.
Inzwischen ist eine Stagnation der Einpendler aus Sachsen-Anhalt in den Landkreis Helmstedt
festzustellen (siehe Tabelle III. 5.2.2), im übrigen auch ein Rückgang der Zuwanderer. Diese
Entwicklung hängt mit der allgemeinen Konjunkturabflachung zusammen. Sie darf jedoch nicht
vorschnell als nachhaltige Erholung auf dem sachsen-anhaltinischen Arbeitsmarkt interpretiert
werden.
„Für den Arbeitsmarkt im Westen bedeuten die Einpendler eine Erhöhung des Angebotes, gerade
auch an qualifizierten Kräften: Nur 17% der Ostpendler übten eine un- oder angelernte Tätigkeit
aus, 62% benötigten an ihrem Arbeitsplatz eine Techniker- oder Meisterqualifikation, 18% eine
Fachhochschul- oder Hochschulausbildung.“437
Es ist zu erwarten, daß eine erneute starke Ost-West-Orientierung von Arbeitskräften auf den
hiesigen Arbeitsmarkt hin auftreten wird. Aufgrund der mangelnden Ergiebigkeit des heimischen
Arbeitsmarktes ist davon auszugehen, daß Beschäftigungspersektiven in westlicher Orientierung
ausgeprägter sein werden, die den Landkreis Helmstedt als Transitraum benutzen.
Insbesondere für interkommunale Pendler und Auspendlerorientierungen zwingt diese zusätzliche
Nutzung der vorhandenen Infrastruktur zu noch höheren Zeitverlusten durch weitere
Immobilitätstendenzen. Die Verkehrsproblematik im Landkreis stellt sich in neuer Dimension dar,
435
Quelle: eigene Nachfrage beim Arbeitsamt Braunschweig.
Siehe: Volksstimme Haldenslebener Ausgabe, 06.03.1993.
437 Eichhorn, L. West-Pendler aus den neuen Bundesländern. In: Statistische Monatshefte Niedersachsen,
Hannover 10/1992, Seite 328.
436
- 165 -
da die absehbaren zukünftigen Verkehrsbelastungen im vorhandenen Netz nicht mehr aufzunehmen
sind (der Ausbau der BAB-A2 auf sechs Fahrspuren wird noch mehr Verkehrsbelastungen
bewirken und keine Entlastung hervorrufen) und ein allgemeiner Ausbau übriger
Hauptverkehrsachsen nur in sehr beschränkten Umfang vertretbar ist.
Eine andere Sichtweise der Einpendlerströme vermitteln die Daten vom Oberzentrum
Braunschweig (30.06.1992): Von den 42.900 Einpendlern nach Braunschweig kamen aus den
Landkreisen Wolfenbüttel 12.000, Peine 7.000, Gifhorn 4.800, Salzgitter 4.200 und Helmstedt
3.619. Gleichzeitig gab es 17.500 Auspendler, die Saldodifferenz betrug 25.400. Insofern
verzeichnet Braunschweig einen deutlichen Einpendlerüberschuß.438
3.3.1.5 Interkommunale Pendlerverflechtungen
Innerhalb des Landkreises betrug die Pendlerverflechtung am 30.06.1992 insgesamt 7.340
Personen. Die Pendlerströme konzentrieren sich auf Helmstedt und mit Abstand auf Königslutter,
Schöningen und Büddenstedt. Alleine Helmstedt als ausgewiesenes Mittel-zentrum hat aufgrund
der ausgeprägten Dienstleistungsfunktionen einen positiven Pendlersaldo aufzuweisen:
Mit einem Einpendlerplus von 2.855 Personen kann die Mittelzentrumsfunktion herausgestellt
werden, während Schöningen und Königslutter Einpendlerdefizite von minus 2.696,
beziehungsweise 2.615 verzeichnen.
Es ist auffallend, daß die Pendlerbeziehungen zwischen den nördlichen und nordwestlichen
Gemeinden, zu den Gemeinden des südlichen Landkreises (inkl. Kreisstadt Helmstedt) äußerst
gering sind (siehe Tabellen III. 5.1 und III. 5.1.4).
Beispielsweise fahren auf Datenbasis der 87er Volkszählung mehr Berufsauspendler von Lehre zur
Kreisstadt Gifhorn (24) als zur eigenen Kreisstadt Helmstedt (15). Von Lehre nach Wolfsburg
arbeitstäglich 2.331 und nach Braunschweig 1.239. Nach den Zielgemeinden innerhalb des
Landkreises fahren von Lehre nach Königslutter 15 Personen. Mit dem erwähnten Zielort
Helmstedt sind das aus der Einheitsgemeinde Lehre insgesamt nur 30 Personen, die eine
intrakommunale Verflechtung auf Landkreisebene aufweisen. Die Pendlerverflechtungen der Stadt
Königslutter mit den übrigen Städten, Samt- und Einheitsgemeinden des Landkreises sind im
Vergleich zu Lehre deutlich ausgeprägter: Insgesamt 624 Personen, davon 436 in die Kreisstadt
Helmstedt, pendeln arbeitstäglich intrakommunal. Trotzdem ist auch hier ein deutlicher
Auspendlerüberschuß von 2.481 Personen zu verzeichnen: Aus Königslutter fahren arbeitstäglich
3.108 erwerbstätige Personen eine Zielgemeinde außerhalb des Landkreises an. Davon nach
Wolfsburg 1.891 und nach Braunschweig 1.012. (siehe Tabelle III. 5.1.4)
Intrakommunale Pendlerverflechtungen konzentrieren sich hauptsächlich auf den Südkreis. Diese
Pendlerverflechtungen zeigen eine deutliche Trennung der Nord- und Nordwestgemeinden von den
Südgemeinden und Städten innerhalb des Landkreises auf. Selbst wenn berücksichtigt wird, daß in
der permanenten Raumentwicklung der Landkreise, Städte und Gemeinden, die Wirtschaftsräume
kaum mit den Regionalräumen übereinstimmen, ist die festgestellte überproportionale Diskrepanz
einer unterstellten ökonomischen Trennungslinie zwischen den Nord- und Südgemeinden ein Indiz
dafür, daß sich die räumliche Entwicklung im Landkreis deutlich auseinanderdividiert.
Weil die Pendlerbeziehungen zwischen den Gemeinden des nördlichen und nordwestlichen
Gemeinden zum südlichen Landkreis äußerst gering sind, haben beide eine eigenständige Dynamik
aufzuweisen, deren Gemeinsamkeit der deutliche Berufsauspendlerüberschuß und die extreme
Abhängigkeit von der Automobilindustrie ist.
Insbesondere die Samtgemeinde Velpke und die Einheitsgemeinde Lehre weisen besonders unter
Zugrundelegung der Pendlerverflechtungen sozialökonomische Strukturdaten auf, die in ihren
funktionalen Beziehungen und Zuordnungen nicht auf den Landkreis Helmstedt ausgerichtet sind.
438
Siehe: Arbeitsamt Braunschweig, Statistische Berichte, Nr. 69/1993, Seite 2.
- 166 -
Die Stadtumlandentwicklung von Braunschweig und Wolfsburg hat die beiden Gemeinden Lehre
und Velpke aus dem Strukturgefüge des Landkreises herausgedriftet und in das Stadtumland des
Industriezentrums faktisch eingefügt.
Aus diesen interkommunalen Pendlerverflechtungen ist insgesamt zu schließen, daß die
ökonomische Struktur des Landkreises Helmstedt heterogen ist.
3.3.1.6 Entfernungsdistanzen
Aufgrund nicht ausreichend vorhandener Arbeitsplätze pendeln arbeitstäglich 17.154 Arbeitnehmer/innen zu einem Arbeitsplatz außerhalb der Kreisgrenze.
Unproblematisch ist die Entfernung von der Samtgemeinde Velpke nach Wolfsburg. Die
Samtgemeinde Velpke mit 3.977 Berufsauspendler, ist bereits ein integraler Bestandteil der
Verdichtungsregion um die Kernstadt Wolfsburg.
Eine ebenfalls relativ kurze Entfernungsdistanz zu ihren Arbeitsorten haben die Einwohner der in
der Mitte zwischen den Kernstädten Braunschweig und Wolfsburg gelegenen Einheitsgemeinde
Lehre mit 3.735 Berufsauspendlern.
Bei den übrigen Samt-, Einheitsgemeinden und Städte im Landkreis Helmstedt wird die Entfernungsdistanz der Pendlerwege von Wohn- zum Arbeitsort ein entscheidendes Kriterium.
Witterungsbedingt risikoreiche Strecken tagtäglich in Kauf zu nehmen, ist zeitraubend und geht
langfristig an die Substanz der unmittelbar betroffenen „weiträumigen“ Pendler: Von Heeseberg
pendeln arbeitstäglich 150, von Schöningen 703, von Büddenstedt 175, von Nord-Elm 581, von
Königslutter 1.891, von Grasleben 684 und von Helmstedt aus 1.776 nach Wolfsburg.
Bei der Wahl des Wohnortes spielen für Pendler nicht immer die Wegeentfernungen die
entscheidende Rolle, sondern die unterschiedlichen zeitlichen und standörtlichen Ansprüche an die
Mobilität. Das heißt, daß es Möglichkeiten geben muß, notwendige Wege mit Erledigungen zeitlich
und standörtlich zu bündeln. Hinzu kommt, daß auch die zeitliche Verfügbarkeit von
Verkehrsträgern (Auto, Bus, Mitfahrgelegenheiten) ausschlaggebend ist für den Spielraum,
Mobilitätszwänge räumlich und zeitlich zu bündeln.
Es kann davon ausgegangen werden, daß sich die individuellen Kosten der Berufspendler in
Zukunft drastisch erhöhen. Diese langen Anfahrtzeiten sind für Berufspendler faktisch eine „zweite
Arbeitszeit“, die z.B. Arbeitszeitverkürzungen zunichte macht. Die Mobilität von Berufspendlern
wird oft teuer erkauft: Durch zusätzlichen Streß und langfristig erhöhte Krankheits- und
Unfallrisiken.
Unter Aspekten der Sozialverträglichkeit ist der hohe Zwang zur räumlichen und zeitlichen
Mobilität, das räumliche und zeitliche Auseinanderfallen von Lebensbereichen und die hohen
Kosten für Mobilität - gemeint ist auch der Zeitaufwand, die Kosten für Kauf und Unterhaltung der
Kraftfahrzeuge und die Energiekosten - für viele soziale Gruppen der Gesellschaft nicht tragbar, so
daß sich für die Betroffenen eine eindeutige gesellschaftliche Benachteiligungen ergibt.
3.3.1.7 Ökonomische Ursachen
Die aus der Tabelle III. 5.1.9 zu entnehmenden Berufsauspendler über die Gemeindegrenzen im
Raumvergleich aufgeführten Landkreise zeigt auf, daß die vier Landkreise Südostniedersachsens in
ihrem gemeinsam hohen Berufspendlerüberschuß die traditionell niedersächsische
Landkreisproblematik eines Zentrum-Peripherie-Gefälles exemplarisch dar-stellen.
Der weitere proportionale Anstieg der Berufsauspendlerzahlen im Vergleich von 1987 und 1991
(siehe Tabelle III. 5.1.2) aller Wohnsitzgemeinden des Landkreises Helmstedt, in der prozentualen
Spannbreite von 3,8 bis 14,6 Prozent, verdeutlicht exemplarisch die einseitigen
- 167 -
Pendlerorientierungen aus dem ökonomisch strukturschwächeren Landkreis Helmstedt in die
ökonomisch strukturbestimmenden Zentren Wolfsburg und Braunschweig.
Ursache steigender Pendlerzahlen sind ungenügende Arbeitsmarktbedingungen im heimischen
Landkreis. Die Mobilität wird gewissermaßen erzwungen durch eine geringe Betriebsdichte,
erfolgte Betriebsstillegungen, niedrigem Lohnniveau und schlechteren Arbeits- und Aufstiegschanchen innerhalb des Landkreises Helmstedt.
Aus der Berufsauspendlerorientierung auf Zielgebiete außerhalb des Landkreises läßt sich ableiten,
daß aufgrund des hier niedrigen Arbeitsplatzangebotes rund 50% der Erwerbsbeteiligten (in Zahlen
17.154 Arbeitnehmer/innen) außerhalb des Landkreises - 11.302 mit Richtung Wolfsburg und mit
über 3.700 mit Richtung Braunschweig - einem Beschäftigungsverhältnis nachgeht. Daraus wird
ersichtlich, daß die Erwerbsmöglichkeiten hier vor Ort zu gering und größtenteils zu unattraktiv
sind, weshalb ein hoher Anteil Arbeitnehmer/innen außerhalb des Landkreises ein
Beschäftigungsverhältnis (insbesondere im VW Zweigwerk in Wolfsburg) aufnahm. Rückschlüsse
auf die innerregionale Verflechtung von Südostniedersachsen, sowie die Abhängigkeit des
Landkreises Helmstedt als Untersuchungsbeispiel in seiner ökonomischen Funktionsbestimmung
als weitgehend arbeitsmarktpolitisches Reservoir, können aus der Interpretation der
Berufsauspendlertabellen von 1970, 1987, 1991 und 1992 im Vergleich (siehe Tabelle III. 5.1.3)
gezogen werden.
Daß die Hälfte der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ein Arbeitsverhältnis außerhalb des
Landkreises nachgeht, offenbart die strukturellen Schwächen von Monostruktur, geringer
Industriedichte und dem allgemeinen Technologiedefizit.
Die Reduzierung von Arbeitsplätzen in dem dominierenden Produktionszentrum Wolfsburg und
dem Produktions- und Dienstleistungszentrum Braunschweig wird zu einer spürbaren Verjüngung
sowie Veränderung des heimischen Arbeitskräfteangebotes führen, weil über die Hälfte aller
Auspendler (inklusive Binnenpendler) unter 35 Jahre alt sind (siehe Tabelle III. 5.1.8). Es ist zu
vermuten, daß durch den tendenziellen Arbeitsplatzabbau Arbeitnehmer/innen mit
Berufsqualifikationen freigesetzt werden, für die im Landkreis Helmstedt kaum
Beschäftigungsmöglichkeiten bestehen.
Geht man vom Suburbanisierungseffekt aus, aus dem hervorgeht, daß die großen Städte in der
Regel Bevölkerungsverluste verzeichneten, aber im unmittelbaren Umland dieser Städte
Bevölkerungsgewinne erzielt wurden 439, so konnten die Städte Helmstedt, Königslutter und
Schöningen an dieser Entwicklung nicht partizipieren, weil deren Distanzen zu den Kernstädten
Braunschweig und Wolfsburg zu groß sind.
Die Bevölkerungsverschiebung vom Zentrum in die Umlandbereiche eines Ballungsgebietes
werden vor allem darauf zurückgeführt, daß die Zahl der Arbeitsplätze im Stadtgebiet Hannover
zum Beispiel zurückgegangen ist, im unmittelbar angrenzenden Landkreis Hannover jedoch
zugenommen hat.440 In Hannover führte das zu der Konsequenz, daß die Pendleranzahl in den
Innenstadtbereich abnahm 441. Auf den Landkreis Helmstedt bezogen ist hier eine gegenläufige
Entwicklung eingetreten, weil die Auspendlerquote mit Zielorten außerhalb des Landkreises
tendenziell weiter zunahm. Durch die räumliche Entfernung zum Industriezentrum ist der Kern- und
Südbereich des Landkreis Helmstedt von der Stadtumlandentwicklung Wolfsburgs und
Braunschweigs abgekoppelt.
Für die zukünftige Landkreisentwicklungsplanung hat das die Konsequenz, daß sie von der
tendenziellen Verlagerung von Betrieben aus diesen Stadtkernen in die Umlandbereiche nicht
profitieren wird und daß infolgedessen die Pendlerquoten auch zukünftig weiter ansteigen werden,
sofern sich der Bevölkerungsanteil des Landkreises Helmstedt nicht rückläufig entwickeln wird.
439
Siehe: Materialien zur Raumentwicklung, laufende Raumbeobachtung. Hrsg: Bundesforschungsanstalt für
Landeskunde und Raumordnung, Heft 47. Seite 3.
440 Siehe: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 20.03.1993.
441 Siehe: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 20.03.1992.
- 168 -
Aus dem Sachverhalt dieser Beurteilung heraus kann eine langfristige Stabilisierung des
Mittelzentrums Helmstedt nur gelingen, wenn auch in Helmstedt eine kontinuierliche
Stadtumlandentwicklung eingeleitet wird, von der der gesamte Landkreis profitieren könnte.
Problematisch sind im Landkreis Helmstedt in erster Linie die wachstumsschwachen Branchen,
(Montagebetriebe) in der die Unternehmensstruktur auf überwiegend produzierende Funktionen
ausgerichtet sind, die langfristig hinsichtlich der Qualität der Arbeitsplätze eher eine weitere
Vertiefung der Landkreisdiskrepanzen auslösen und in deren Konsequenz der tendenziell hohe
Berufsauspendleranteil weiter ansteigen wird.
3.3.1.8 Ost-West-Verkehr und Lösungsansätze
Angesichts des ungebrochenen Wachstums im Verkehr fordert das Deutsche Institut für
Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin eine neue europäische Verkehrspolitik.442
Als Ursachen der Verkehrszunahme werden die Internationalisierung der Wirtschaft und steigende
Zersiedelung genannt.
Die Experten erwarten für 1995 ein Gesamtverkehrsaufkommen, das um 40% über dem von 1990
liegt. Sollte dies tatsächlich eintreffen und keine nennenswerte Verlagerung des Verkehrs auf die
Schiene gelingen, so sind die mitteleuropäischen Autobahnen Mitte der neunziger Jahre gänzlich
„dicht“.
So existieren für die Zunahme des Güterverkehrs auf der Straße fundierte Prognosen, in denen aus
verschiedenen Gründen ein 40%iger Anstieg gegenüber heute vorhergesagt wird. Im Raum
Wolfsburg ist dieser Wert vor dem Hintergrund weiterer Zulieferbetriebe auf „Just-in-time“ Basis
unbedingt ernst zu nehmen.443
„Schätzungen zufolge wird der Verkehr in Ost-West-Richtung über die bisherigen Grenzen zur
ehemaligen DDR bis zum Jahre 2010 im Personenverkehr auf das Fünffache und im Güterverkehr
auf das Vierfache ansteigen bezogen auf das Jahr 1989. Der Ost-West-Verkehrsstrom wird dann die
gleiche Stärke aufweisen, wie künftig der Nord-Süd-Strom in den alten Bundesländern. Im
niedersächsischen Grenzbereich hat der Verkehr bereits jetzt ein Ausmaß erreicht, das vielerorts zu
Engpässen führt. Die Autobahn Hannover-Berlin ist inzwischen bis an die Grenze ihrer
Leistungsfähigkeit belastet.“444
Als Gegenstrategien sollten hierzu Elemente der Verkehrsvermeidung durch die Erhöhung der
realen Kosten und eine vorausschauende Gestaltung regionaler Raumstrukturen erfolgen.
Um den räumlichen Auswirkungen zukünftig extrem ansteigender Mobilitätskosten und damit in
der Konsequenz weitere regionale Entleerungstendenzen (wie vor der Grenzöffnung)
entgegenzuwirken, sollte der Landkreis Helmstedt zum Beispiel die Chance von
„Bedeutungsveränderungen der Branchen“ vorausschauend für die Landkreispolitik nutzen.
Die Veränderungen einzelner Branchen zur verstärkten Tertiarisierung, durch den ein
arbeitsmarktpolitischer Dezentralisierungsprozeß eingeleitet wird, entsteht, weil z. B. die
Einführung neuer Kommunikationstechnologien auch eine räumliche Trennung verschiedener
Betriebsfunktionen ermöglicht. Das setzt natürlich auch erhöhte Anforderungen an die Qualität der
Gewerbeflächen und Standorte voraus.
Von der Tertiarisierungstendenz der Wirtschaft wird als Region begünstigt, wo ein hoher Wohnund Freizeitwert vorzufinden ist. An diesen vorausschauenden Anforderungsmerkmalen sollte sich
Kommunalpolitik vor Ort orientieren und diesbezüglich die Qualität der Flächen und Standorte
442
Siehe: Handelsblatt, 12.08.1993.
Siehe: Dr. M. Wermuth. IVV Verkehrsforschung und Infrastrukturplanung, TU-Braunschweig,
Positionspapier 1993, Seite 20.
444 Raumordungsbericht Niedersachsen, Hannover 1992, Seite 8.
443
- 169 -
weiter auszubauen, damit ein Arbeitskräftereservoir auch unter veränderten Mobilitätsbedingungen
im Landkreis gehalten werden kann.
Weitere Lösungsansätze aufgrund der Stadt-Umland-Entwicklungen von Braunschweig und
Wolfsburg zu den umliegenden Landkreisen erfordern einen gemeinsamen Planungsraum
(Aufgabenbereich Zweckverband Großraum Braunschweig), der als diesbezügliche Zielvorstellung
in etwa den Pendlereinzugsbereich durch die täglichen Wohn-, Arbeitsplatzbeziehungen näher
analysiert. Planerisch geht es dabei um eher restriktiv wirkende Ordnungsaufgaben bei der
Steuerung einer expansiven Siedlungs- und Infrastruktur-entwicklung. Die Ausarbeitung von
gemeinsamen Flächennutzungsplanungen über Stadt- und Kreisgrenzen hinaus wäre erstrebenswert,
indem Ober- und Mittelzentren Kooperationen für eine „flächenordnende“ Stadtumlandplanung im
gegründeten Großraumverband entwickeln.
Die Pendlerverkehrsströme aus Sachsen-Anhalt durch den Landkreis Helmstedt in Richtung
Wolfsburg und Braunschweig haben durch die deutsche Vereinigung für den Landkreis eine
erhebliche Vergrößerung des verkehrswirksamen Pendleraufkommens bewirkt. Im Zusammenhang
mit dieser Pendleranalyse ist dazu anzumerken, daß für den Landkreis Helmstedt ein mittelfristig
erforderlicher Verkehrsentwicklungsplan445 als zusätzlicher Lösungsansatz eingeleitet werden
sollte. Die Erhöhung des verkehrswirksamen Pendleraufkommens und die gravierenden Mängeln in
der Verkehrsinfrastruktur, wobei der Landkreis teilweise die Rolle eines Transitraumes erfüllt, kann
durch eine zu erstellende verkehrspolitische Konzeption Zielrichtungen und wichtige
Vorsorgemaßnahmen treffen, die in der Umsetzung stufenweise erfolgen sollten.
Ein VEP könnte im ersten Umsetzungsschritt darin bestehen, umfangreiches Datenmaterial zu
erfassen und zu definieren. Der VEP soll Möglichkeiten aufzeigen, wie die verschiedenen
Verkehrsarten Fußgänger, Radfahrer, motorisierter Individualverkehr und öffentlicher
Personennahverkehr an einer sinnvollen und effektiven Steuerung des vernetzten
Gesamtverkehrssystems beitragen könnten.
Die Planung beinhaltet z. B. das Aufzeigen von Möglichkeiten, unerwünschten oder unnötigen KfzVerkehr zu reduzieren, oder wie durch eine Kombination von Fahrrad- und Busnutzung (bike and
ride) der ÖPNV stadtweit stärker genutzt werden kann. Es geht darum, mit einem Bündel von
unterschiedlichen konkreten Maßnahmen, die parallel, aber koordiniert realisiert werden könnten,
die negativen Auswirkungen des Kfz-Verkehrs abzubauen.
Da der VEP fortschreibungsfähig ist, liegt der Nutzen auch darin, alle zukünftigen Ideen-ansätze
zur Verbesserung der Verkehrsverhältnisse beurteilen zu können, also auch solche, die heute noch
nicht einmal angedacht sind. Dabei kann z. B. beurteilt werden:
- Auswirkungen von Modellen zur Systematik des ruhenden Verkehrs,
- Auswirkungen der Verkehrserzeugung alternativer Standorte neuer Siedlungsstrukturen
(Wohnen oder Arbeiten.),
- positive und negative Auswirkungen von angedachten Investitionen in der Verkehrsinfrastruktur,
- Auswirkungen eines
Verkehrsarten etc.
grundlegend
anderen
Zusammenwirkens
der
verschiedenen
Mit dem VEP kann so bei weiterer Verschärfung der Verkehrsproblematik angemessen, fundiert,
rationell und ausgewogen reagiert werden.
Bei VW in Wolfsburg werden neben den schon lange üblichen Fahrgemeinschaften neuerdings
Nahverkehrs-Sammelbusse angeboten. Diese dürfen die Werkstore passieren. Die Buspendler
gewinnen eine halbe Stunde durch den Wegfall der langen Fußmärsche auf dem Werksgelände.
Eine allgemeine Verbesserung der Lebenssituation könnte sich daher für alle in ihrer räumlichen
Mobilität eingeschränkten Bevölkerungsgruppen, sowohl durch ein ihren Bedürfnissen angepaßtes
445
Anmerkung: Verkehrsentwicklungsplan im folgenden VEP genannt.
- 170 -
Verkehrsangebot, als auch durch eine gezielte Verringerung von Mobilitätszwängen als Folge
raumstruktureller Änderungen bewirken lassen.
Die Notwendigkeit für die Landkeisbevölkerung zu handeln, ergibt sich aus ökonomischen,
städtebaulichen, ökologischen und gesellschaftlichen Gründen.
Empfehlungen:
- Die künftige Landkreispolitik sollte darauf hinwirken, den hohen Auspendlerüberschuß zu
reduzieren. Die beruflichen Mobilitätsanforderungen von Arbeitnehmer/innen sollten bis
auf
eine vertretbare Restgröße abgebaut werden.
- Diesbezüglich kann die kommunale Wirtschaftspolitik ein wichtiger Impulsgeber und
Koordinator für Dezentralisierungsstrategien im Bereich „Arbeit und Wohnen“ sein.
- Das Ziel einer Reduzierung der Ausspendlerquoten ist durch Ansiedlungen innovativer
Unternehmen anzustreben.
- Ein VEP mit begleitender Öffentlichkeitsarbeit und darin eingebundenen konkreten Verbesserungsmaßnahmen für den ÖPNV sollte erarbeitet werden.
3.3.1.9 Zusammenfassung
Die hierzu entworfenen kombinierten Gliederungen nach Pendlerintensität und Hauptpendlerrichtungen (Aus- und Einpendlertabellen) machen wesentliche Strukturen und Entwicklungstendenzen wie z. B. die derzeit ausgeprägte Verteilung der Städte und Gemeinden mit
kontinuierlich ansteigender Auspendlerorientierung Richtung Wolfsburg (und mit Abstand
Braunschweig), sowie die Bewertung des innerregionalen Pendleraustausches zwischen den Städten
und Gemeinden erkennbar. Auch die Konzentration der neuen Einpendler aus Sachsen-Anhalt
konnte aufgrund aktueller Daten aufgezeigt werden.
Diesbezüglich ergeben sich aus der Pendleranalyse folgende Schwerpunkte:
Die anhaltend tendenzielle Verknappung von Arbeitsplätzen führte im Landkreis Helmstedt dazu,
daß die Berufsauspendlergesamtzahlen in den Jahresvergleichen von 1970, 1987, 1991 und 1992
weiter zunahmen. Diese negativen Salden verdeutlichen exemplarisch die einseitigen
Pendlerorientierungen aus dem wirtschaftlich strukturschwächeren Landkreis Helmstedt in den
wirtschaftlich strukturbestimmenden Industriekern nach Wolfsburg und Braunschweig. Die
Gesamtbilanz ergab, daß am 30. Juni 1992 als aktuellstem statistisch zur Verfügung stehendem
Datum 51,7% beispielsweise 17.154 Personen der erwerbstätigen Landkreisbevölkerung als
Auspendler einer Beschäftigung außerhalb des Landkreises nachgingen.
Die ausgeprägtesten Hauptverflechtungen der Berufsauspendler bestehen zur Stadt Wolfsburg mit
11.302 und zur Stadt Braunschweig mit 3.619 berufstätigen Einwohnern aus dem Landkreis
Helmstedt.
Da aber nur 5.246 Personen mit einem Wohnsitz außerhalb des Landkreises arbeitstäglich
einpendeln (davon 2.231 aus Niedersachsen und 3.015 aus Sachsen-Anhalt), hat der Landkreis
Helmstedt ein Negativsaldo von 11.908 als Folge eines defizitären Arbeitsmarkt aufzuweisen.
Diese Pendlerzahlen verdeutlichen, daß im Landkreis ein Arbeitsangebot im nicht aus-reichendem
Maße vorhanden ist.
Die interkommunalen Pendlerbewegungen innerhalb des Landkreises betragen insgesamt 7.340.
Desweiteren zeigt diese Pendleranalyse deutlich auf, daß die Pendlerbeziehungen zwischen den
Gemeinden des nördlichen und nordwestlichen Kreisgebietes mit den südlichen Gemeinden sehr
gering sind. Man kann infolgedessen davon ausgehen, daß speziell der nördliche Landkreis eine
- 171 -
eigenständige Dynamik besitzt und eine interpretierte ökonomische Trennungslinie zwischen Nordund Südkreis gleichzeitig eine geographische Trennlinie darstellt.
Es zeigte sich ferner, daß insbesondere die Samtgemeinde Velpke und die Einheitsgemeinde Lehre
unter Zugrundelegung der Pendlerverflechtungen sozialökonomische Strukturdaten aufweisen, die
in den funktionalen Beziehungen und Zuordnungen nicht auf den Landkreis Helmstedt ausgerichtet
sind.
3.3.1.10 Szenario
Zum Einpendleranteil aus Sachsen-Anhalt:
- Der für den Landkreis Helmstedt gewonnene Bestand an Einpendlern aus Sachsen-Anhalt
kann mittelfristig kaum gehalten werden, weil die dafür erforderliche ökonomische Infrastruktur im Landkreis nicht ausreicht, eine Bestandssicherung auf Dauer zu gewährleisten.
- Wenn ein Teil der heutigen Einpendler die Einwohner von morgen sein sollten, wird dieses
Potential an durchschnittlich jüngeren, qualifizierten und mobilen Arbeitsmarktgruppen
mangels Arbeitsplätzen und Wohnraum den Landkreis Helmstedt nur als
„Durchlauferhitzer“ oder „Etappenziel“ in Anspruch nehmen, um letztendlich in die
ökonomisch bestimmenden Regionen umzusiedeln.
- Sofern das neue Oberzentrum Magdeburg langfristig eine ökonomische Stabilisierung
erfährt, wird unter Zugrundelegung des heutigen Bestimmungsfaktors einer anhaltend
stagnierenden kommunalen Wirtschaftsentwicklung im Landkreis Helmstedt, sich die
Saldodifferenz der Pendlerbewegungen aus dem Landkreis in die ökonomisch
bestimmenden Zentren Braunschweig, Wolfsburg und zukünftig auch nach Magdeburg
weiter orientieren und verfestigen.
3.3.2 Arbeitsangebot
3.3.2.1 Gesamtbeschäftigtenentwicklung
Einen Überblick über die Beschäftigungsentwicklung von 1974 bis 1992 ist aus der Tabelle III. 2
der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im AA-Bezirk Helmstedt ersichtlich.
Die zweite Rezession in der Bundesrepublik führte 1974/75 zu einer konjunkturellen Talfahrt, die
mit einem etwas verzögerten Einbruch 1975 ihren vorerst tiefsten Beschäftigungsstand erreichte.
Der Landkreis Helmstedt konnte nach dem Konjunkturaufschwung erst verspätet ab 1978 fast
annähernd seinen durchschnittlichen Beschäftigungsstand von 1974 wieder erreichen.
Die gleiche Entwicklungtendenz wiederholte sich in der dritten Rezessionsphase 1982/83 im
Arbeitsamtsbezirk Helmstedt. Auch hier setzte die Talfahrt etwas verspätet ein, dafür verzögerte
sich die Aufschwungentwicklung im Vergleich zu den Bundesländern und konnte sich erst ab 1986
deutlich stabilisieren.
Im Landkreis Helmstedt konnte der verspätete Konjunkturaufschwung erst 1987 an Dynamik
gewinnen wobei, der Landkreis durch die ökonomischen Folgewirkungen des politischen
Einigungsprozesses Ende 1989 (Einheitskonjunktur), eine ausnahmebedingte und zeitlich befristete
ökonomische Prosperität erfuhr.
Die gegenüber dem Bundestrend verspäteten konjunkturellen Aufschwungphasen (ebenso in
Wolfsburg und im Landkreis Gifhorn) zeigen die ungünstigen Branchenstruktur eines
Automobilstandortes deutlich auf. Desweiteren sind die Ursachen einer besonderen
- 172 -
Wachstumsschwäche des Landkreises Helmstedt in der geringen Branchendichte mit ungünstigen
Wettbewerbspositionen zu sehen.
Für die jetzige vierte Rezessionsphase kann als Konsequenz vorheriger Konjunkturverläufe
geschlossen werden, daß die momentane Konjunkturkrise mit ihrem insgesamt strukturellen
Anpassungsprozeß den tendenziellen Zerfall traditioneller Produktionsstrukturen im verarbeitenden Gewerbe beschleunigen und sich dies auf die ökonomische Landkreisentwicklung
auswirken wird, so daß sich die Beschäftigtenentwicklung ebenfalls wieder mit zeitlicher
Verzögerung entwickelt, die dann aber dem rückläufigen Produktionsvolumen angepaßt sein wird.
Diese Trendentwicklung deutet sich bereits durch die Beschäftigtenentwicklung für 1993 an:
Erstmals seit 1989 gab es zum Stand Juni 1993 wieder einen Abbau sozialversicherungspflichtig
Beschäftigter. Am 30.06.1993 wurden 135.321 Beschäftigte im Arbeitsamtsbezirk Helmstedt
registriert, 6.199 oder 4,4% weniger als im Jahr zuvor.446
Das sind die ersten Auswirkungen der Rezession und der strukturellen Veränderung in einzelnen
Wirtschaftsbereichen, besonders in der Automobilindustrie und deren Zulieferer.
Außerdem ist davon auszugehen, daß zukünftige Wachstumsphasen auch überregional mit einer
Entkoppelung von Wachstum und Beschäftigung (jobloses Wachstum) verstärkt geprägt sein
werden.
An der prognostizierten konjunkturellen Aufschwungphase ab vermutlich Ende 1994/Anfang 1995
in der Bundesrepublik Deutschland wird der Landkreis Helmstedt aufgrund der analysierten
Strukturschwäche (die bis dahin keinesfalls überwunden sein wird), nur zeitverzögert, in einem
geringen Mengenvolumen und nur ungenügend partizipieren können.
Die Gesamtbeschäftigtenanzahl in nichtlandwirtschaftlichen Arbeitsstätten reduzierte sich im
Vergleichszeitraum von 1970 bis 1987 (Volkszählbasis) im Landkreis Helmstedt auf insgesamt
minus 13,5 Prozent. Vergleichsdaten im gleich Zeitraum: Niedersachsen +10,6 Prozent und
Bundesrepublik insgesamt +6,8 Prozent.447
Um das Standortprofil des Landkreises näher zu bestimmen, soll auch die Entwicklung dezentraler
ökonomischer Indikatoren auf Städte und Samtgemeindeebene mit herangezogen werden. Folgende
Veränderungen ergaben sich für die Gesamtbeschäftigtenanzahl in nichtlandwirtschaftlichen
Arbeitsstätten von 1970 bis 1987 in Prozent448.
Stadt Helmstedt:
Stadt Königslutter:
Stadt Schöningen:
Samtgemeinde Grasleben:
Samtgemeinde Heeseberg:
Samtgemeinde Nord-Elm:
Samtgemeinde Velpke:
Gemeinde Büddenstedt:
Gemeinde Lehre
minus
minus
minus
minus
minus
minus
minus
minus
minus
5,8 Prozent
12,4 Prozent
32,9 Prozent
18,9 Prozent
29,6 Prozent
17,1 Prozent
1,9 Prozent
8,6 Prozent
11,9 Prozent
Insbesondere dem Südkreis ist eine bedenkliche Abwärtsentwicklung zu attestieren. Der
langfristige Schrumpfungsprozeß ist vor allem kritisch, wenn der in dieser prozentualen
Gesamtsumme mit enthaltene Dienstleistungsbereich ebenfalls deutlich stagniert. Das trifft speziell
auf die Gemeinde Büddenstedt (-22,5 Prozent), die Stadt Schöningen (- 6,7 Prozent) und die
Samtgemeinde Heeseberg (-17,8 Prozent) zu.
446
Siehe: Arbeitsamt Helmstedt. Arbeitsmarktberichte, Sonderheft 8/94. Seite 3.
Siehe: Statistisches Bundesamt und Niedersächsisches Landsamt für Statistik, Hannover 1992.
448 Siehe: Niedersächsisches Landesamt für Statistik, Hannover 1989.
447
- 173 -
Eine diesbezüglich positive Entwicklungstendenz des Dienstleistungsbereiches verzeichnet dagegen
die Stadt Königslutter mit 35,7 Prozent aufgrund des Landeskrankenhauses mit ca. 670
Beschäftigten und des „Hotel-Park Königshof“ mit ca. 165 Beschäftigten.
3.3.2.2 Erwerbsbeteiligung
„Geht man für die alten Bundesländer von einem geringfügigen Rückgang der Erwerbsquote nach
1990 aus, so liegt in jahresdurchschnittlicher Rechnung das Erwerbspersonenpotential des Jahres
1992 bei voraussichtlich 32,2 Millionen. Das wären dann 1,74 Millionen mehr als 1989, die aber
vor allem in die Stille Arbeitsmarktreserve eingehen werden.“449
Ursache dieser Steigerungsrate war die erhöhte Zuwanderung aus den neuen in die alten
Bundesländer, dessen bevorzugten Ziele vor allem die industriell verdichteten Regionen im Süden
der Bundesrepublik waren.
Aus den Volkszählungsdaten von 1987 geht für die Erwerbsbeteiligung (Bevölkerung nach der
Beteiligung am Erwerbsleben vom 25.05.1987) hervor, daß die durchschnittliche Erwerbsquote im
Landkreis Helmstedt bei Männern aufgrund der höheren Erwerbsneigung in den Gemeinden Lehre
und Velpke (durch die hohe Zahl der Berufsauspendler), Grasleben und Nord-Elm, insgesamt mit
60,5 Prozent leicht über dem niedersächsischen Landesdurchschnitt von 59,8 Prozent lag. Bei
Frauen im erwerbstätigen Alter hingegen lag die Landkreisquote mit 32,3 Prozent unter dem
Landesdurchschnitt (insbesondere in Büddenstedt, Heeseberg und Schöningen) von 33,9 Prozent.450
Die Erwerbsbeteiligung erfaßt die gesamte im Erwerbsleben stehende Landkreisbevölkerung, die
sowohl im, als auch außerhalb des Landkreises einer Erwerbstätigkeit nachgeht.
Man unterscheidet hierbei sozialversicherungspflichtig Beschäftigte nach Arbeitsort (alle Personen,
die in der Gemeinde beschäftigt sind, aber auch außerhalb wohnen können) und
sozialversicherungspflichtig Beschäftigte nach Wohnort (allen Personen, die sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind und in der Gemeinde wohnen).
Desweiteren wurde die sozialversicherungspflichtig Beschäftigte Landkreisbevölkerung, je-weils
für Arbeits- und Wohnort, nach Städten und Gemeinden, Personengruppe und Merkmalsgliederung
(Stand: 30.07.1992) einzeln aufgelistet, (siehe Tabelle III. 1).
Diese im Landkreis Helmstedt bisher noch nicht aufgearbeitete Datenbasis vom Arbeitsamt
Helmstedt bis auf die unterste Gemeindeebene bietet die spätere Möglichkeit, Anforderungs- und
Bedarfsprofile zukünftiger Arbeitsmarktentwicklungen miteinander abzustimmen.
Die Differenz zwischen den Arbeits- und Wohnortbeschäftigten (23.400 zu 35.533) zeigt hierbei
den defizitären Arbeitsmarkt auf, in denn ein hoher Anteil der Erwerbsmöglichkeiten liegt
außerhalb des Landkreises.
In den Städten und Gemeinden Königslutter, Schöningen, Mariental, Querenhorst, Grasleben,
Ingeleben, Jerxheim, Twieflingen, Velpke und Lehre übertrifft die Frauenbeschäftigung den
Männeranteil.
Die Gesamtsumme sozialversicherungspflichtig Beschäftigter nach Arbeitsort ist fast von einem
„Patt“ geprägt: 12.178 Männer und 11.222 Frauen. Die der „Wohnbeschäftigten“ beträgt hierbei
21.779 zu 13.754.
Die Frauenerwerbsbeteiligung lag am 30.06.1989 im Landkreis um 5,9% höher als im
Bundesdurchschnitt, (siehe Ziffer 1 aus der Tabelle III. 4).
449
450
Institut der deutschen Wirtschaft (IW). In: Handelsblatt, 17.12.1992.
Siehe: NIW, Niedersächsisches Institut für Wirtschaftsforschung e.V., Hannover 1992.
- 174 -
Mittlerweile liegt die Frauenerwerbsbeteiligung knapp unter dem Bundesdurchschnitt im Gegensatz
zu den Männern, die aufgrund der Auspendlerorientierungen , insbesondere durch die Orte Velpke
und Lehre, leicht darüber liegen.
Im Landkreis ist eine etwas niedrigere Frauenerwerbsbeteiligung als im Bundesdurchschnitt, aber
eine etwas höhere Frauenerwerbsquote anzutreffen, die sich durch den Auspendlerüberschuß
erklärt.
Darunter fällt auch die Teilzeitarbeit, die im Landkreis hauptsächlich von Frauen (3.407 zu 121
Männern) wahrgenommen wird.
Aus der Merkmalsgliederung ist weiter entnehmbar, daß hinsichtlich des Bevölkerungsanteils mit
Hochschul- und Fachhochschulabschluß der Landkreis einen beträchtlichen Rückstand aufzuweisen
hat.
Der Anteil von hochqualifizierter Berufsausbildung (Abschluß an höherer Fachschule,
Fachhochschule, Hochschule und Universität) ist als Indikator für Arbeitsplätze mit
vergleichsweise hoher Arbeitsplatzsicherheit zu interpretieren und weist diesbezüglich für den
Landkreis aus, daß hierbei ein eindeutiges Defizit besteht.
Günstiger ist die Position bei den mittleren Schul- bzw. Berufsabschlüssen, wie Realabschluß oder
Anschluß von Berufsfach- und Fachschulen.
3.3.2.3 Bildungsangebot
Das Bildungsangebot umfaßt im Landkreis Helmstedt 40 allgemeinbildende Schulen, darunter 19
Grundschulen, 2 Hauptschulen mit Orientierungsstufen, 2 Haupt- und Realschulen mit
Orientierungsstufe, 2 Orientierungsstufen, 4 Realschulen, 2 Gymnasien und 1 reines
Oberstufengymnasium. Des weiteren 4 Sonderschulen für Lernbehinderte und 1 Schule für geistig
Behinderte.
Dazu kommen eine berufsbildende Schule (Berufsschule in Voll- und Teilzeitform, 1 und 2 jährige
Berufsfachschule) in Helmstedt, eine berufsbildende Steinmetzschule in Königslutter und die
Bergberufsschule Büddenstedt der BKB AG in Helmstedt.
Diese allgemeinbildenden Schulen im Landkreis verfügten am 01.09.1992 insgesamt über 479
Klassen, 712 Lehrkräfte und 10.191 Schülerinnen und Schüler.451
Neben dem Bildungszentrum für das Steinmetz- und Bildhauerhandwerk in Königslutter, der
politischen Bildungsstätte in Helmstedt mit rund 18.000 Übernachtungen pro Jahr, der OskarKämmer-Schule in Helmstedt, der Teutloff-Schule in Königslutter und der Musikschule Helmstedt
e.V., ist der zentrale Bildungskristallisationspunkt die Kreisvolkshochschule Helmstedt452 mit ihren
vierzig Außenstellen.
Mit einigen der genannten Bildungsträgern führt die KVHS Kooperationsprojekte, dazu zählen:
- Braunschweigische Kohlen-Bergwerke AG, Helmstedt
(berufliche Weiterbildung für die Mitarbeiter der BKB und weitere Projekte),
- DTA Helmstedt
(Weiterbildung für Teilnehmer und Ingenieure),
- Teutloffschule Königslutter
451
Siehe: Statistische Berichte, Niedersächsisches Landesamt für Statistik. Kreisfreie Städte und Landkreise in
Zahlen, Hannover 2/1994, Seite 18.
452 Anmerkung: Kreisvolkshochschule Helmstedt im folgenden KVHS genannt.
- 175 -
(Weiterbildung in Kooperation in Abendform).
Als Kooperationspartner für die breit angelegte Bildungsoffensive der KVHS zählen:
- Universität Hildesheim/Fernuniversiät Hagen
Außenstelle KVHS Helmstedt (Studienzentrum)
- KVHS 2000
Weiterbildungsangebote der KVHS Helmstedt, besonders im Bereich der beruflichen Bildung
- Deutsche Angestellten Akademie
Pädagogische Leitung von Weiterbildungsmaßnahmen in Helmstedt: KVHS Helmstedt
- Betriebe, Verwaltungen des Landkreises
Weiterbildung für Mitarbeiter im Rahmen der „Bildung auf Bestellung“ der KVHS
Helmstedt
- Verschiedene Maßnahmen nach Ziel 2 (Regionen, die von rückläufigen industrieller
Entwicklung schwer betroffen sind) und Ziel 4 (Erleichterung der Anpassung der Arbeitskräfte an die industriellen Wandlungsprozesse /Veränderung der Produktionssysteme Europäischer Sozialfond).
- Arbeitsamt Helmstedt
(Verschiedene Auftragsmaßnahmen für Arbeitslose, Integrationskurse für besondere
(Spätaussiedler)).
Gruppen
- Sozialamt des Landkreises
Weiterbildung für Langzeitarbeitslose (Sozialhilfeempfänger) in Kooperation mit der KVHS
Helmstedt (Konzeption und Durchfühung der Maßnahme).
- Mütterzentrum Helmstedt
Angebote für Frauen.
Die Erwachsenenbildung der KVHS hat in den letzten Jahren eine bemerkenswerte Steigerung
quantitativer und qualitativer Art erfahren, die mit einem neuen Verständnis von
Erwachsenenbildung einher geht. So hat sich von 1985 bis 1992 die Zahl der Unterrichtsstunden in
Helmstedt von 17.383 auf 34.872 erhöht, was einer Steigerung von 100% entspricht.
Die Weiterbildungsangebote der KVHS sind im Landkreis Helmstedt zum bedeutsamen Faktor der
wirtschaftlichen Entwicklung geworden. Hier sind in den letzten Jahren zukunftsweisende
Investitionen vorgenommen worden, (CNC-Technik, EDV usw.), die es auch zukünftig auszubauen
gilt, will der Landkreis nicht den Anschluß an die wirtschaftliche Entwicklung verlieren.
So begreift sich die KVHS heute zunehmend auch als Wirtschaftsförderungsfaktor, um durch die
Bereitstellung einer Bildungs- und sozialen Infrastruktur Betriebe zur Ansiedlung in Helmstedt zu
motivieren.
Man kann diese Bildungseinrichtung als einen effizienten weichen Standortfaktor im
Landkreiswirtschaftsgefüge einordnen.
Durch die Einrichtung weiterer EDV-Räume und die bereits zuvor durch institutionelle Förderung
des Arbeitsamtes angeschaffte CNC-Maschine der KVHS, die in den Berufsbildenden Schulen
installiert wurde, konnte dieser wichtige Weiterbildungsbereich auch entsprechend der großen
Nachfrage ausgestattet werden.
Seit Winter 1992/93 verfügt die KVHS auch über CAD-Ausbildungsplätze (computerunterstütztes
Konstruieren) und ist damit in der Lage, bis zur CIM-Ebene (computerunterstütztes Konstruieren
- 176 -
bis zur computergesteuerten Produktion) Ausbildungen auf höchstem technischen Niveau
anzubieten.
Hauptsächlich aus diesen Gründen ist es gelungen, den im Landkreis überdurchschnittlichen Anteil
unqualifizierter Arbeitnehmer zu reduzieren und damit die mittleren Qualifikationen zu stärken.
Als eine spezifische Form der beruflichen Bildung an der KVHS ist abschließend die Errichtung
eines Studienzentrums der Fernuniversiät Hagen/Universität Hildesheim in der KVHS im Februar
1991 zu erwähnen. Das Angebot der KVHS im Bereich der beruflichen Bildung wird damit bis zum
Hochschulstudium komplettiert. Durch die Verzahnung mit der universitären Weiterbildung sind
auch engere Verbindungen zur wissenschaftlichen Forschung möglich, die sich auf alle Bereiche,
besonders aber auch auf die sich wandelnde berufliche Bildung auswirken.
Diese ergebnisorientierten Aktivitäten rechtfertigen einen Einblick in die Finanzierungsproblematik: Daß all’ diese Aufgaben Geld kosten, ist unbestritten. Aber obwohl die KVHS
Helmstedt in den letzten Jahren qualitativ und quantitativ ständig weiterentwickelt wurde, ist der
kommunale Zuschußbedarf sowohl relativ als auch absolut stark gesenkt worden. Dies steht im
Gegensatz zu allen anderen Volkshochschulen der Bundesrepublik, deren Zuschußbedarf ständig
gestiegen ist und nach der neuesten DVV Statistik bei über 30% liegt. Dies bedeutet für 1993:
801.750 DM Zuschußbedarf, den die KVHS Helmstedt nach Bundesdurchschnitt bean-spruchen
könnte.
349.000 DM tatsächlich eingeplanter Zuschußbedarf der KVHS Helmstedt.
Einsparungen gemessen am Bundesdurchschnitt: 452.750 DM.
Berücksichtigt man, daß die KVHS Helmstedt sowohl besonders arbeitsintensive Angebote (z.B.
Ausbildungsgänge für Sozialhilfeempfänger bis hin zu arbeitslosen Diplomingenieuren) als auch
Zusatzaufgaben (z.B. Universitäre Erwachsenenbildung/ Fernuni usw.) wahrnimmt und trotz
ländlichen Raumes zu den großen Volkshochschulen gehört, wird dieses sehr gute
Haushaltsergebnis noch deutlicher. Aber mittelfristig wird man nicht umhinkönnen, den
Zuschußbedarf der KVHS zu erhöhen, um die Qualität der Aus- und Weiterbildung an der KVHS
zu erhalten.
3.3.3 Erwerbslosenentwicklung
3.3.3.1 Einleitung
Die Erwerbslosenquote ist ein Spiegelbild einer Region und eines Landkreises, aus der sich
individuelle Chancen für Arbeitnehmer nach Arbeitsplatzsicherheit als Eckwert für relativ
gesicherte Lebensabschnittsplanungen ableiten lassen. Auch die allgemeine wirtschaftliche
Leistungkraft einer Region spiegelt sich in einer Arbeitslosenstatistik wieder.
Die regionale Entwicklung der Arbeitslosigkeit ist sowohl ein wesentlicher Indikator der
konjunkturellen, wirtschaftlichen und sozialökonomischen Veränderungen der Arbeits- und
Lebensbedingungen der Bevölkerung als auch der raumstrukturellen Veränderung der Verteilung
der Arbeitsplätze und der damit einher gehenden funktionalen Verflechtungen und
Standortbeziehungen in den Teilräumen einer Region.
Unterbeschäftigungsentwicklungen schlagen sich in einer entsprechenden Arbeitslosigkeit nieder.
Allerdings ist dabei zu berücksichtigen, daß sich Beschäftigungsverluste nicht unmittelbar in den
Arbeitslosenquoten wiederfinden. Die Beziehung zwischen Beschäftigungs- und Arbeitslosigkeit ist
vielmehr durch die demographische Entwicklung, das Verhalten der Betroffenen oder durch
entlastende Maßnahmen der Arbeitsverwaltung geprägt.
Arbeitslosigkeit ist das beherrschende Schwerpunktthema gesellschaftlicher Problemstellungen der
80er und 90er Jahre. Seit sich die Anzahl gemeldeter und registrierter Arbeitsloser gegenüber den
- 177 -
70er Jahren versechsfacht und sich auf einen Stand von deutlich um teilweise auch über 3,5
Millionen einpendelte, ist sie zunehmend in den Mittelpunkt des wirtschafts- und sozialpolitischen
Interesses gerückt.
Infolgedessen erscheint es notwendig, den Entwicklungsverlauf der Unterbeschäftigung zunächst
abweichend von der Landkreisentwicklung auch überregional zu skizzieren und im folgenden zu
untersuchen.
3.3.3.2 Strukturen des Arbeitslosenbestandes
Eine unterschiedliche Betroffenheit einzelner Bevölkerungsgruppen durch das Problem der
Arbeitslosigkeit besteht in der Bundesrepublik jedoch nicht nur hinsichtlich ihrer regionalen
Verteilung. Sowohl das Beschäftigungsrisiko als auch die Chancen zur Einstellung werden darüber
hinaus durch eine Reihe persönlicher Merkmale beeinflußt, wie Alter, Geschlecht,
Gesundheitszustand sowie vor allem auch durch die erworbenen beruflichen und betrieblichen
Qualifikationen. Die dringend notwendige genauere Betrachtung des Arbeitsmarktes erfordert von
daher differenzierungen, wobei die unterschiedlichen Dimensionen des Problems der
Unterbeschäftigung beachtet werden müssen: die soziale Dimension, da Arbeitslosigkeit für die
Betroffenen fast immer mit großen finanziellen und psychischen Problemen verbunden ist; sowie
die ökonomische Dimension, da Arbeitslosigkeit immer die Unterauslastung des
„Produktionsfaktors Arbeit“, d.h. Verzicht auf an sich mögliche Produktion und Wertschöpf-ung
bedeutet; sowie nicht zuletzt die finanzielle Dimension, die in der wachsenden Belastung der
Kassen der Arbeitslosen- und Sozialversicherungen sowie der öffentlichen Haushalte durch
notwendige finanzielle Unterstützungsleistungen zum Ausdruck kommen.
„Bei steigendem Niveau und zunehmender Dauer der Unterbeschäftigung führen
Selektionsprozesse zu einer Strukturalisierung des Arbeitslosenbestandes. In Niedersachsen weist
der überproportionale Anteil an Langzeitarbeitslosen besonders bei Frauen auf unzureichenden
Umschlag auf dem Arbeitsmarkt hin. Als Folge davon sind in Niedersachsen im Vergleich zum
Bundesdurchschnitt Frauen wesentlich stärker als Männer, Arbeitskräfte am Anfang und Ende ihres
Arbeitslebens sehr viel stärker als in mittleren Jahren von der Arbeitslosigkeit betroffen. Darüber
hinaus steigt das Beschäftigungsrisiko mit sinkender beruflicher Qualifikation in Niedersachsen
überproportional an.“453
Risiken und Chancen am Arbeitsmarkt sind damit in sozialer Hinsicht in der Bundesrepublik in
hohem Maße ungleich verteilt, vor allem bei länger anhaltender Unterbeschäftigung führen sie
dabei zu beobachtenden Selektionsprozessen (die sogenannte „Dynamik der Arbeits-losigkeit“454)
und zu einer Strukturalisierung des Arbeitslosenbestandes, die die unter-schiedliche Betroffenheit
der einzelnen gesellschaftlichen Gruppen durch das Problem der Unterbeschäftigung weiter
verstärkt.
Diesbezüglich sind vor allem diejenigen Arbeitsmarktgruppen besonders negativ betroffen, die
auch aus bekannten Gründen sozial benachteiligt sind: Ältere Arbeitnehmer, Jugendliche, Frauen
und Arbeitnehmer mit gesundheitlichen Einschränkungen.
Neben den aufgelisteten Faktoren erscheint das Risiko der Erwerbslosigkeit je nach persönlichen
und beruflichen Qualifikationen sowie nach der jeweiligen Arbeitsmarktsituation äußerst
unterschiedlich. Der rasche berufstrukturelle und qualifikatorische Wandel sowie die
langanhaltende hohe Arbeitslosigkeit seit Anfang der 80er Jahre haben immer mehr Arbeitnehmer
mit geringen oder nicht mehr nachgefragten bzw. veralteten beruflichen Qualifikationen für längere
Perioden bzw. auch dauerhaft aus dem Beschäftigungssystem herausgedrängt.
So lag die durchschnittliche Dauer der bisherigen Arbeitslosigkeit Ende September 1991 im
Bundesdurchschnitt bei 13,4 Monaten und in Niedersachsen sogar 14,4 Monaten. Mit zunehmender
Dauer der Arbeitslosigkeit verlieren die Arbeitslosen aber objektiv oder doch zumindest subjektiv
453
454
Jung, H.-U. Der Arbeitsmarkt in Niedersachsen. Hannover 1983. Seite 19.
Siehe: Freiburghaus, D. Dynamik der Arbeitslosigkeit, Meisenheim am Glan 1978. S. 48 ff.
- 178 -
immer stärker allgemeine und berufliche Qualifikationen, so daß ein Wiedereinstieg in das
Beschäftigungssystem zunehmend schwieriger wird. Die „kritische Schwelle“ wird bei einer Dauer
der Arbeitslosigkeitsperiode von etwa einem Jahr gesehen.
Diese Langzeitarbeitslosigkeit hat beträchtliche Ausmaße angenommen. Von den Arbeitslosen im
September 1991 waren in Niedersachsen etwa 70.000 oder 30% (im Bundesgebiet 28%) länger als
ein Jahr arbeitslos, etwa 38.000 oder 16% (im Bundesgebiet 15%) sogar länger als zwei Jahre.
So hat sich in den letzten Jahren die Situation auf dem Arbeitsmarkt für einige
Bevölkerungsgruppen extrem verschlechtert, so für die Langzeitarbeitslosen, die kaum in neue
Beschäftigungsmöglichkeiten vermittelt werden können. Rund ein Drittel aller Arbeitslosen zählen
dazu. Auch für ältere Arbeitslose und für Personen mit gesundheitlichen Einschränkungen gibt es
am Arbeitsmarkt selbst bei positiver Gesamtentwicklung kaum noch Beschäftigungschancen.
Ein anderer Aspekt ist das allgemeine Erwerbsverhalten:
Auf das Erwerbsverhalten wirken eine Vielzahl von Faktoren ein, wie Bildung, Ausbildungsdauer,
Altersstruktur, Familienstand, Kinderzahl, Arbeitsbedingungen, Lohnhöhe, Familieneinkommen,
Stellung der Frau in Beruf und Gesellschaft, Renteneintrittsalter usw.
Auch hinsichtlich der Beobachtung und Analyse von Entwicklungstendenzen regionaler
Arbeitsmärkte wird die Arbeitslosigkeit zunehmend eine immer wichtigere Aufgabe der
regionalenwirtschaftlichen Strukturforschung.
3.3.3.3 Unterschiedliche Aspekte der Arbeitslosenstatistik
„Im Zentrum der politischen Auseinandersetzung steht die Arbeitslosenstatistik der Bundesanstalt
für Arbeit“.455
In den offiziellen Zahlenanalysen wird grundsätzlich die „stille Reserve“ nicht berücksichtigt. Das
Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit versteht unter stiller
Reserve den Teil des Erwerbspersonenpotentials, der weder erwerbstätig noch bei den
Arbeitsämtern als arbeitslos gemeldet ist, weil die Möglichkeit der Vermittlung einer Arbeit als zu
gering eingeschätzt wird.456 Diese Personen würden aber erfahrungsgemäß bei einem
konjunkturellen Aufschwung und verbesserten Verhältnissen auf dem Arbeitsmarkt um einen
Arbeitsplatz nachsuchen457 und gegebenenfalls auch finden.
Diese Definition „stille Reserve“ weist somit jene Arbeitssuchende auf, die sich z.B. aufgrund
fehlender Leistungsansprüche nach dem Arbeitsförderungsgesetz nicht oder nicht mehr arbeitslos
melden und daher in der Statistik „verschwinden“, bzw. jene Personengruppen, die aufgrund
negativer Arbeitsmarktverhältnisse auf eine Erwerbsbeteiligung verzichten müssen, die aber bei
Besserungstendenzen - auch statistisch erfaßbar - wieder auf dem Arbeitsmarkt in Erscheinung
treten. So kamen 1982 im Bundesdurchschnitt zu den 1,8 Mio. registrierten Arbeitslosen noch
einmal 950.000 Arbeitssuchende aus dieser stillen Reserve hinzu.
Auch in ihren „Überlegungen II, zu einer vorausschauenden Arbeitsmarktpolitik“, geht die
Bundesanstalt für Arbeit auf die statistische Definition der nicht beschäftigten Erwerbsper-sonen
ein und unterscheidet zwischen „registrierten Arbeitslosen“ und der „stillen Reserve“ 458
455
Westerhoff, H.D. Probleme der Arbeitslosenstatitik, Düsseldorf 1982.Seite 103.
Siehe: Institut der deutschen Wirtschaft. Zur Defination der "Stillen Reserve" und einer Beschreibung der
Personenkreise, die dazugerechnet werden vgl. u.a. Brinkmann, Ch. und .Reyker,
L.,Erwerbspersonenpotential
und Stille Reserve. "Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt-und Berufsforschung" Jg.18 (1985), S.7 ff.
457 Siehe: Eine andere Definition der Stillen Reserve findet sich bei Lankau, J. und Lankau-Hermann M.: Die
Rückkehr von Frauen in den Beruf. Arbeitsmarktperspektiven und Wirtschaftseingliederungsstrategien. Deutscher
Beitrag zu einer vergleichenden Studie in der Bundesrepublik Deutschland. Frankreich,
Großbritannien und
den Vereinigten Staaten von Amerika, Teil 1, Bonn 1978. S.73 ff.
458 Siehe: Bundesanstalt für Arbeit. Überlegungen II - zu einer vorausschauenden Arbeitsmarktpolitik.
Nürnberg 1978. Seite 25.
456
- 179 -
Die stille Reserve wurde hierbei bezeichnet als eine „gesamtwirtschaftlich nicht registrierte
Arbeitslosigkeit (die) jenen Teil des vorhandenen Potentials an Erwerbspersonen (erfaßt), der
weder erwerbstätig noch bei den Arbeitsämtern arbeitslos gemeldet ist.“459
Die Tendenz zur allgemeinen Unterschätzung der weiblichen Arbeitslosigkeit durch den hohen
Anteil in der stillen Reserve wird auch aus der Ziffer 11 der Tabelle III. 6.1.4 ersichtlich.
Die offiziellen Arbeitslosenzahlen der Bundesanstalt für Arbeit werden auch von U. Engelen Kefer, ehemalige Vizepräsidentin der Bundesanstalt und stellvertretende DGB-Vorsitzende in Frage
gestellt.460
E. Mann, Pressesprecher der Bundesanstalt für Arbeit bestätigt:
„In unsere reguläre Arbeitslosenstatistik gehen einzig die im Arbeitsförderungsgesetz definierten
Arbeitslosen ein. Jene, die der Vermittlung ohne Wenn und Aber zur Verfügung stehen.“461
So stieg im Februar 1993 die offizielle Erwerbslosenanzahl auf 3,47 Millionen an (2,29 Millionen
in den alten und 1,18 Millionen in den neuen Bundesländern). Doch diese Gesamtanzahl stellt nicht
mal die Hälfte der tatsächlichen Arbeitslosen, weil mehr als sieben Millionen registriert sind.462
Vollkommen unberücksichtigt bleiben auf Grund dessen (Stand: Ende Januar 1993) folgende
Arbeitsmarktgruppen:
- 84300 Arbeitslose, die 58 Jahre und älter sind. Ihnen wird unterstellt, daß sie nicht mehr
vermittelbar sind,
- 756000 arbeitslose Bezieher von Vorruhestandsgeld in West- und Ostdeutschland und
Altersübergangsgeld ab dem 55. Lebensjahr in den neuen Bundesländern;
- 388400 arbeitslose Teilnehmer von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) davon 63400 in
West- und 325000 im Ostdeutschland.
- 802600 Teilnehmer an Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen (F+U).
- Auf 1,7 Millionen Personen schätzt die Bundesanstalt die „Stille Reserve“. Sie sind der
Arbeitsverwaltung ganz offiziell bekannt, auch wenn sie bei ihr weder als Arbeitsuchende
noch als Leistungsempfänger registriert sind.463
Zu den von der Statistik offiziell ausgewiesenen 3.468.600 kommen also nochmals 3.731.300
inoffizielle Arbeitslose hinzu.
Ein anderer Aspekt ergibt sich aus dem Problemen mit der Arbeitslosenstatistik aus dem
Erhebungskonzept der Bundesanstalt für Arbeit. Die dabei angewendete Systematik führt zu
Verzerrungen:
„Arbeitslose und abhängige Erwerbstätige werden nämlich nach dem Wohnortprinzip erhoben; d.h.
die Erwerbspersonen werden den Arbeitsamtsbezirk, in dem sie wohnen, zugerechnet. Die für die
Arbeitsamtsbezirke berechnete Arbeitslosenquote ist folglich so konstruiert, daß den von der
jeweiligen Arbeitsverwaltung zu betreuenden Erwerbslosen im Nenner der gesamte potentielle
"Klientenkreis" gegenübergestellt wird. Sie beantwortet also keineswegs die ökonomisch
interessante Frage nach dem Entstehungsort der Arbeitslosigkeit und dem tatsächlichen regionalen
Beschäftigungsstand.“464
459
Bundesanstalt für Arbeit. Überlegungen II dto. Nürnberg 1978. Seite 23. Anm. 1.
Focus, 15.03.1993, Nr. 11, Seite 46.
461 Ebenda, Nr. 11, Seite 46.
462 Siehe: Ebenda, Seite 46/47.
463 Siehe: Ebenda, Seite 46.
464Westerhoff, H.D. Probleme der Arbeitslosenstatistik. 1982, Seite 128.
460 Siehe:
- 180 -
„So kann angesichts der Tatsache, daß die Arbeitslosigkeit wohnortbezogen erfaßt wird, bei einer
arbeitsortsbezogenen Erfassung die Arbeitslosenquote durchaus in Regionen ansteigen, die eine
Beschäftigungskonzentration aufweisen.“465
Das hätte regional bezogen für die Dienststellen Wolfsburg aufgrund der dort vorherrschenden
hohen Einpendlerüberschüsse die Konsequenz einer extrem höheren ausgewiesenen
Arbeitslosenquote.
Es ist davon auszugehen, daß die rasante Produktivitätsfortschrittstwicklung die Kluft auf dem
Arbeitsmarkt nochmals extrem verschärfen wird.
Daimler-Vorstandsvorsitzender E. Reuter sieht diesbezüglich die Dynamik der Veränderung in der
zukünftigen Arbeitsorganisation mit der Konsequenz ca. sechs Millionen Arbeitslosen, ausgehend
von der offiziellen Arbeitslosenstatisik.466
Zählt man die inoffiziellen Arbeitslosen hinzu, kämen nach dieser Prognose eine Gesamtanzahl in
einer Größenordnung zustande, die vermutlich an den Grundwerten unseres Sozialstaates, ja
möglicherweise sogar an der politischen Verfassung in diesem Land schlechthin rütteln.
Langzeitprognosen zur Arbeitsmarktsituation in der Bundesrepublik Deutschland gehen davon aus,
daß über die Jahrtausendwende hinaus von über 3,5 Millionen offiziell registrierten Arbeitslosen,
das heißt von einer rechnerischen Lücke von 6 Millionen Arbeitsplätzen, auszugehen sei.
Wenn man Statistiken nicht schönt, wird die Arbeitslosenzahl 1994 etwa sechs Millionen erreichen.
Unter der Annahme sinkender Steuereinnahmen erscheint auch die Finanzierbarkeit des
Arbeitslosengeldes auf Dauer gefährdet zu sein.
Das Meinungsforschungsinstitut „Infas“ ermittelte im Auftrag der ARD im Dezember 1993
folgendes Einstellungsverhalten: Danach sind die Bundesbürger in ihren konkreten persönlichen
Perspektiven für die Sicherheit des eigenen Arbeitsplatzes stark verunsichert. Vier von zehn
Deutschen sehen ihren eigenen Arbeitsplatz als gefährdet an. Daß ihre Angst vor Arbeitslosigkeit
wächst, geben insgesamt 22 Prozent an, während es vor einem Jahr 15 und vor zwei Jahren 10
Prozent waren.467
Trotz der ökonomischen Rezession und der dramatisch steigenden Zahl von Erwerbslosen wird es
(zur Zeit) weder von der Bundesregierung, noch von der Niedersächsichen Landesregierung ein
dringend benötigtes Konjunkturprogramm geben.
Diesbezügliche Erklärung der Landesregierung:
Angesichts der Haushaltslage sei ein Programm wie in Hessen nicht finanzierbar, äußerte A. Tacke,
Staatssekretär im Wirtschaftsministerium.468
Ein anderer überregionaler Gesichtspunkt mit lokalen Auswirkungen ist die spürbare Veränderung
der
Arbeitsorganisation
in
firmenspezifische
Stammbelegschaftsund
Randbelegschaftsarbeitsplätzen:
Um den Kern einer höher qualifizierten angestellten Dauerbeschäftigung der
Stammarbeitnehmerschaft bildet sich eine durch Personalplanungsstrategien verursachte
Randbelegschaft, die in der Regel niedriger qualifiziert ist und stark fluktuiert.
Die Rekrutierung der Randbelegschaft erfolgt verstärkt auf der Basis von „Heuern und Feuern“. Sie
ist unmittelbar abhängig von den Marktchancen des Unternehmens, beispielsweise den
465 Siehe:
Klemmer, P. Abgrenzung von Fördergebieten für die regionale Wirtschaftspolitik, Wirtschaft und
Standort, Frankfurt a.M. 1979, Seite 12.
466 Siehe: Süddeutsche Zeitung, 26.06.1993.
467 Siehe: Frankfurter Rundschau, 23.12.1993, Seite 10.
468 Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 08.06.1993.
- 181 -
Veränderungen der jeweiligen ökonomischen Situation. Hauptsächlich ist die Randbelegschaft der
„Träger“ des beschäftigungspolitischen Arbeitsplatzrisikos. Zwei Arbeitsmarkttendenzen lassen
sich in Folge dessen ausmachen: Über die Hälfte aller neuen Arbeitsplätze fallen bereits in die
Kategorie Randbelegschaftsarbeitsplätze und die Tendenz innerhalb bestehender Arbeitsplätze
verlagern sich vom Kern zur Peripherie und zeigen in diesem Bereich die bereits jetzt erkennbare
Erosion von Normalarbeitsverhältnissen exemplarisch auf.
Insbesondere die Beschäftigungsstruktur der Wirtschaft im Landkreis läßt aufgrund des vorher
analysierten Wirtschaftsgefüges von vorwiegend einfacheren und standardisierten
Fertigungstätigkeiten, hoher Zweigwerkkonzentration mit einem unterdurchschnittlich niedrigen
Lohn- und Gehaltsniveau in ihrer Gesamtheit die Annahme von überdurchschnittlichen
Randarbeitsplätzen zu.
Die Strukturdaten dieser Arbeitsmarktanalyse bestätigen die Annahme von Segmentierungsstrategien insofern, weil Arbeiter die Hauptbetroffenen der neuesten Entwicklung im Gegensatz zu
den meisten Angestellten, die ihre betriebliche Position im Landkreis Helmstedt (noch)
einigermaßen halten konnten.
Aus dem Sachverhalt kristallisiert sich ferner eine „gespaltene Arbeitsgesellschaft“ mit einem
bevorzugten Kern und einem vernachlässigten Rand heraus. Die Arbeitslosenhöhe als Auswirkung
bestehender, zuvor aufgezeigter ökonomischen Disparitäten, zeigt durch den Arbeitsmarkt das
Ausmaß der Strukturproblem in einer Region exemplarisch auf. Vor diesem Hintergrund wird im
folgenden Höhe und Ausmaß der Arbeitslosigkeit sowie die Struktur und deren längerfristigen
Entwicklungstendenzen dargestellt.
3.3.3.4 Ausmaß und Entwicklung der Arbeitslosigkeit
Seit 1974 ist das wirtschaftspolitische Ziel der Vollbeschäftigung, wie es das Stabilitäts- und
Wachstumsgesetz vorsieht, nicht erfüllt. Damals stieg die Zahl der registrierten Arbeitslosen
erstmals auf über 1 Million; in der Folgezeit sank sie nur unzureichend. Dramatisch spitzte sich das
Problem in den Jahren 1981 und 1982 zu, als sich mit Steigerungsraten von 43 und 44 Prozent die
Arbeitslosenzahl fast verdoppelte und noch einmal um ca. 1 Mio. zunahm.
Ursache dieses negativen Entwicklungsverlaufes war die vorletzte Rezession von 1980, welche die
Arbeitlslosenzahl mit 0,9 Millionen bis 1983 auf fast 2,3 Millionen anstiegen ließ und sich damit
innerhalb kürzester Zeit fast verdreifachte.
In der ersten Hälfte der 80er Jahre verharrte die Zahl der Arbeitslosen nahezu unverändert auf
einem Niveau von etwas über 2 Millionen. Erst seit dem Herbst 1984 zeigten sich erste
Besserungstendenzen auf dem Arbeitsmarkt, der sich trotz Hochkonjunktur aufgrund der
Sockelarbeitslosigkeit auf ein konstant hohes Niveau der Arbeitslosigkeit stabilisierte.
Dieses Verharren der Arbeitslosenzahlen auf einem hohen Niveau und die teilweise Abkopplung
der Wirtschaftskonjunktur vom Arbeitsmarkt (Sockelarbeitslosigkeit), stellt gleichzeitig die
regionale Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik vor kaum lösbare Aufgaben, 469 auch unter der
Annahme, daß in den kommenden Jahren mit einer extremen Erhöhung dieser Unterbeschäftigung
gerechnet werden muß.
Disparitäten regionaler Arbeitsmarktentwicklung werden noch sichtbarer, wenn Vergleichswerte
von Bundesland zu Bundesland und Unterscheidungsmerkmale der verschie-denen
Raumordnungsregionen herangezogen werden; Fallbeispiel für 1984:
In hochverdichteten Regionen des Bundesgebietes betrug die durchschnittliche Arbeitslosenquote
9%, in Regionen mit Verdichtungsansätzen 10,5% (dazu zählt auch der Landkreis Helmstedt mit
10,9%) und die Region Südostniedersachsen lag mit 12,5% höher als die meisten Bundesländer,
469 Siehe,
Friedrich,W. Arbeitsmarktwirkungen moderner Technologien. ISG-Institut für Sozialforschung und
Gesellschaftspolitik,. Bundesanstalt für Arbeit (Hrsg.) In: Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung,
94. Nürnberg 1986, Seiten 28.ff.
Bd.
- 182 -
wie z.B. Nordrhein-Westfalen 11,8 %; Hessen 8,1%, Bayern 9,5% und Baden-Württemberg mit
6,2%.
Aus den letzten Prozentzahlen kristallisiert sich bereits eine Entwicklungstendenz heraus, die in der
öffentlichen Diskussion als „Süd-Nord-Gefälle“ Einzug erhalten hat. Historische Aspekte der
unmittelbaren Nachkriegszeit trugen in ihrer Gesamtheit dazu bei, eine „Süd-Nord-Diskrepanz“ zu
verfestigen.
Die Tabelle III. 6.1.4 „Arbeitsmarkt und betriebliche Ausbildung“ von der Bundesforschungsanstalt
für Landeskunde und Raumordnung, zeigt die regionale Verteilung des Arbeitsmarktes auf der
Ebene von Raumordnungsregionen exemplarisch auf.
Das viel zitierte Süd-Nord-Gefälle wird hier deutlich sichtbar und zwar sowohl bei der
Arbeitslosenquote, als auch beim Anteil der Dauerarbeitslosigkeit. Letztere Strukturdaten sind aber
auch in den ostbayerischen Grenzregionen von sehr ausgeprägter Bedeutung und weisen auf
Strukturprobleme auch innerhalb des ansonsten prosperierenden Südens hin.
Aus der Tabelleninterpretation ist entnehmbar, daß die Süd-Nord-Kontraste in der Beschäftigungsund Arbeitslosenentwicklung auf die größere Anzahl von Betrieben in Süddeutschland
zurückzuführen ist, die vom Strukturwandel begünstigt wurden und besser im Markt lagen als die
Konkurrenz im Norden der Republik.
Es ist zu vermuten, daß auch weiterhin ein Süd-Nord-Gefälle der Arbeitsmarktprobleme in den
alten Bundesländern bestehen bleiben wird. Insbesondere stellte sich das Arbeitsplatzangebot für
qualifizierte und berufsorientierte Arbeitsmarktgruppen im Süden bis zur vierten Rezession
günstiger dar. Mittelfristig wird dieses Gefälle allerdings abnehmen. Zum Beispiel wachsen die
Standortnachteile in süddeutschen Ballungszentren und es gibt außerdem Indikatoren für eine
steigende Konkurrenzfähigkeit norddeutscher Wirtschaftsstandorte. Zu nennen wäre hier
insbesondere die europäische West-Ost-Wirtschaftsachse, von der auch der Landkreis Helmstedt
langfristig beurteilt erheblich profitieren könnte.
„Das Land Niedersachsen gehört von je her zu den Regionen im Bundesgebiet, die
überdurchschnittlich von der Arbeitslosigkeit betroffen sind. Lag die Arbeitslosenquote zu Beginn
der sechziger Jahre noch etwa 0,5 % - Punkte und im Verlauf der Rezession 1974/75 etwa 1% Punkt über dem Bundesgebiet, so hat sich der Abstand im Verlauf der letzten Jahre kontinuierlich
auf über 2% - Punkte vergrößert.“470
Längerfristiger Entwicklungsverlauf
Die Arbeitsmarktproblematik in Südostniedersachsen hat, neben seiner derzeitigen permanenten
Höhe und diesbezügliche Auswirkungen auf bestimmte Arbeitsmarktgruppen, aufgrund seines
langfristigen Charakters eine negative Tradition.
Tatsache ist, daß die Region bereits seit 1953 zu den Gebieten gehört, die im Bundesvergleich eine
überdurchschnittlich hohe und andauernde Arbeitslosigkeit verzeichnete: 1953 betrug die
Arbeitslosenquote im Bundesdurchschnitt 5,5%, in Helmstedt und Wolfsburg 7,8%, in
Braunschweig und Salzgitter 9% und als Vergleichswert in Baden-Württemberg mit 2,4%. Damit
bestand bereits zu diesem anderen Teilen der Bundesrepublik das heute oft zitierte Süd-NordGefälle im Hinblick auf die räumliche Verteilung der Arbeitsmarktprobleme.471
Dieser Sachverhalt deutet für sich genommen auf eine strukturelle Schwäche der hiesigen
Wirtschaft hin, die sich bereits in den 50er Jahren abzeichnete. Auch die erste größere Rezession
der Nachkriegszeit von 1966/67 traf die Region Südostniedersachsen aufgrund der
Automobilmonostruktur überdurchschnittlich mit 2,1%, in Niedersachsen mit 3,0% und in den
470 Jung,
H.-U. Der Arbeitsmarkt in Niedersachsen, In:Tätigkeitsbericht des Niedersächsichen Institut für Wirtschschaftsforschung e.V., Hannover 1989, Seite 19.
471 Siehe: Becher, G. Das Gefälle und internationale Arbeitsteilung und die Krise der Regionalpolitik,
Braunschweig 1986, s.32 ff.
- 183 -
Dienststellen des Arbeitsamtsbezirkes Helmstedt in Gifhorn mit 3,6%, in Helmstedt ebenfalls
überdurchschnittlich mit 3,6% und in Wolfsburg mit 1,9%.472
Bis Anfang der 70er Jahre zeigten sich im Bundesland Niedersachsen regionale
Beschäftigungsprobleme mit hoher Ausprägung, speziell in den traditionell strukturschwachen,
ländlich peripheren Gebieten.473 Davon ist auch der Landkreis Helmstedt direkt betroffen gewesen.
Erst die überregionale Vollbeschäftigungsphase mit Beginn der 70er Jahre konnte die
Beschäftigungsdisparität allmählich abbauen.
Mit diesem „Arbeitslosensockel“ bekam in der zweiten Hälfte des Jahres 1973 bis 1975 die
Auswirkungen der weltweiten Rezession auch die Bundesrepublik Deutschland tiefgreifend zu
spüren: So belief sich im Jahresdurchschnitt 1975 die Arbeitslosenquote im Arbeitsamtsbezirk
Helmstedt 7,4%, in Niedersachsen 5,5% und im gesamten Bundesdurchschnitt 4,7%.474
Es bleibt festzuhalten, daß die Entwicklungstendenz eines Süd-Nord-Gefälles auch auf einen
diesbezüglich gespaltenen Arbeitsmarkt zutrifft und daß dieser aufgrund seines langfristigen
„Charakters“ eine beunruhigende Dimension angenommen hat, die in der Vergangenheit in
Niedersachsen und im besonderen die Region Südostniedersachsen nicht immer im ausreichendem
Maße beachtet wurde. Auch der Landkreis Helmstedt gehört zu den Landkreisen mit einem Sockel
von überdurchschnittlich hoher Arbeitslosigkeit.
Während sich im Bundesdurchschnitt 1984 die Arbeitslosenzahlen auf einem hohen Niveau
stabilisierten (8,6%), stieg in der Region Südostniedersachsen die Zahl der Arbeitslosen weiterhin
überproportional an: Setzt man die Bundesentwicklung gleich 100, stieg die Anzahl der
Arbeitslosen 1984 gegenüber 1983 im Arbeitsamtsbezirk Braunschweig um 9,3% und im
Arbeitsamtsbezirk Helmstedt sogar um 9,6%.
Umgekehrt ist in diesem Zeitraum in fast allen süddeutschen Arbeitsamtsbezirken die Zahl der
Arbeitslosen deutlich rückläufig. Damit bestätigte sich die Trendentwicklung, daß die Region
Südostniedersachsen von der Arbeitsmarktentwicklung in anderen Bundesgebieten der
Bundesrepublik in noch stärkerem Maße weiter abgekoppelt wurde.475
Die süddeutsche Wirtschaftsprosperität zeigt eine deutlich unter dem Bundesdurchschnitt (alte
Bundesländer) verlaufende Arbeitslosenquote als Ergebnis einer überdurchschnittlichen
Beschäftigungsentwicklung auf. Um diese Diskrepanz des Süd-Nord-Gefälles zu illustrieren, sind
in der Tabelle III. 6.1.4 auch die Bundesländer Bayern und Baden-Württemberg im Raumvergleich
aufgeführt worden.
Der tendenzielle Beschäftigungszuwachs in Niedersachsen von 1987 bis 1991 ging in fast allen
Landkreisen und kreisfreien Städten mit einer Abnahme der Arbeitslosenzahlen einher. Den
stärksten Rückgang hatte Westniedersachsen, dagegen war der Rückgang der Arbeitslosigkeit in
Südostniedersachsen relativ schwach ausgeprägt, trotz eines zum Teil hohen
Beschäftigungszuwachses.476
Das Ausmaß der Arbeitsmarktungleichgewichte ist in den einzelnen Landesteilen Niedersachsens
traditionell unterschiedlich. Gemessen an der Arbeitslosenquote zum Beispiel im Jahresdurchschnitt
von 1991 (1993 in Klammern) reicht die Spannbreite vom Landkreis Lüchow-Dannenberg mit dem
Spitzenwerten von 14,5% (15,5%) auf der einen und dem Landkreis Vechta mit 4,7% (6,5%) auf
der anderen Seite. Dazwischen lag der Landkreis Helmstedt mit 8,2% (11,5%). 477
472 Quelle:
Statistische Angaben des Landesamtes Niedersachsen/Bremen 1976.
Bechler, G. Regionale Strukturprobleme, Band 1. Braunschweig 1987. Seite 50.
474 Siehe: Quelle: Statistischen Angaben des Landesamtes Niedersachsen/Bremen 1976.
475 Siehe: Koller, M. Zur Struktur und Entwicklung regionaler Arbeitsmärkte. In: Mitteilungen aus der
Arbeitsmarktund Berufsforschung, Heft 1, Nürnberg 1978,S.63 ff.
476 Siehe: Raumordungsbericht Niedersachsen 1992. Niedersächsisches Innenministerium. Hannover 1993.
Seite
18.
477 Siehe: Tabellenveröffentlichung vom Niedersächsischen Institut für Wirtschaftsforschung, e.V. Hannover
1992
und Niedersächsisches Landesamt für Statistik, Statistische Monatshefte, Hannover 3/1994, Seite 119.
473 Siehe:
- 184 -
Ende September 1993 betrug die Arbeitslosengesamtanzahl in Südostniedersachsen und der
Wirtschaftsregion zwischen Harz und Heide 58.178. Von einem saisonalen Entlastungseffekt einer
sonst üblichen Herbstbelebung war nichts zu spüren. Für die gesamte Region errechnete sich eine
Arbeitslosenquote von 11,3%, welche deutlich über dem Land Niedersachsen von 9,8% und in den
alten Bundesländern von 7,4% lag.
Im Jahresvergleich September 1992 zu 1993 stieg die Arbeitslosenzahl im o. g. Vergleichsraum
deutlich um 14.300 oder 32%, die Quote von 8,6 auf 11,3%.
Die Anzahl der Kurzarbeiter in dieser Region betrug im Zeitraum 9/1993 rund 39.000, der
Schwerpunkt lag eindeutig in der Automobilindustrie.478
In der Wirtschaftsregion zwischen Harz und Heide vollzog sich Ende Februar 1994 ein Anstieg der
Arbeitslosenzahl auf 69.023, was einer Quote 13,5% entsprach.479
Das Beispiel Südostniedersachsen verdeutlicht, daß die Automobilstrukturkrise diesen
Wirtschaftsraum in ein neues Problemgebiet verwandelt hat: Die traditionelle Peripherie,
beispielsweise vom Verdichtungsgebiet Stadt Wolfsburg zum wirtschaftsschwächeren Landkreis
Helmstedt, wurde im Hinblick auf das Folgeproblem der Arbeitslosigkeit von diesen neuen
Rahmenbedingungen (Arbeitslosenzahlen für Dezember 1993 in den Dienststellen Wolfsburg
14,1%, Helmstedt 13,7% und Gifhorn 13,6%) zu Ungunsten Wolfsburgs nivelliert.480
Die Dienststelle Wolfsburg wies über Jahre hinweg die niedrigste Quote in der Region auf: Im
Februar vor fünf Jahren lag sie bei 8,4%, im Februar 1994 erhöhte sie sich bereits auf 15,4%.
Raumbezogene Arbeitsmarktvergleiche (Tabellen III. 6 bis III. 6.1.3) sollten von ihrer Aussagekraft
primär nur auf Landkreisebene erfolgen, weil beispielsweise auch die Stadt Braunschweig als
räumliche Verdichtung Besonderheiten durch ihre Anziehungskraft auf eher chancenarme
Arbeitsmarktgruppen aufweist, die häufig ihre individuelle Hoffnung auf Verdichtungsräume statt
auf ländliche Räume orientieren. Wenn z. B. Bedrängnislagen und fehlende Lebensperspektiven
durch Dauerarbeitslosigkeit die persönlichen Beziehungsnetze schwächen oder gar zerstören, dann
sinkt auch die soziale Bindung. In Stadtverdichtungen, die diese Gruppen aufnehmen, kommulieren
dadurch die Probleme.
Der direkte Vergleich von Landkreisen untereinander ist auch schon aufgrund des annähernd
identischen Zentrum-Peripherie-Gefälles zur eigenen Standortbestimmungen des Landkreises
Helmstedt aussagefähiger:
Die Landkreise lagen im saisonal günstigen Monat September 1993 in der Spannbreite örtlicher
Quoten zwischen 9,2% im Landkreis Wolfenbüttel und als „Schlußlicht“ der Landkreis Gifhorn mit
12,9 .
Dazwischen lagen die Landkreise Peine mit 9,5%, Goslar mit 10.1% und Helmstedt mit 12,7%.481
Hierbei fällt im Vergleich der Landkreise besonders auf, daß sich Wolfenbüttel bereits seit Jahren
aufgrund eines höheren Dienstleistungsanteils und der direkten Anbindung zum Oberzentrum
Braunschweig, eine vergleichsweise günstigere arbeitsmarktpolitische Position erreichen könnte.
Für den Landkreis Gifhorn ist hingegen anzumerken, daß der bereits konstatierte Schwachpunkt im
Gliederungsteil
„Bruttowertschöpfung“
(überwiegende
Orientierung
auf
die
Automobilzulieferindustrie (z.B. hat die Firma A. Teves in Gifhorn 1993 200 Arbeitnehmer
entlassen) und direkte Auswirkungen des Personalabbaues in den VW-Werken Wolfsburg und
Braunschweig) hier in der Arbeitsmarktinterpretation bereits seine Bestätigung findet.
478 Siehe:
Arbeitsmarktzahlen für September 1993, Arbeitsamtsbezirk Braunschweig.
Arbeitsmarktzahlen für Februar 1994, Arbeitsamtbezirk Braunschweig.
480 Siehe: Arbeitsmarktzahlen für Dezember 1993, Arbeitsamtsbezirk Helmstedt.
481 Siehe: Braunschweiger Zeitung, 08.10.1993.
479 Siehe:
- 185 -
Hinzu kommt die bevölkerungspolitische Zielrichtung der Stadt Gifhorn auf Aussiedler, die sich in
der momentanen Rezession auf die Arbeitslosenstatistik negativ auswirkt, (siehe Tabelle III. 6.3.4).
3.3.3.5 Arbeitsmarktauswirkungen der Grenzöffnung
„In den drei Jahren nach der Wiedervereinigung hat Ostdeutschland einen beispiellosen Kahlschlag
seiner Wirtschaft erlebt. Von 9,86 Millionen Beschäftigten im Jahr 1989 haben bis Ende 1992 3,71
Millionen ihren Arbeitsplatz verloren. Von den 3,5 Millionen Arbeitsplätzen im industriellen
Bereich (1989) gibt es (Ende 1993) nur noch 800.000 Arbeitsplätze.“ 482
„Hohe Arbeitslosigkeit und die verbreitete soziale Verunsicherung haben nach Feststellungen des
Statistischen Bundesamtes zu einer intensiven Abwanderung aus den neuen Bundesländern in das
frühere Bundesgebiet geführt...“483
Auch der niedersächsische Arbeitsmarkt mußte 1990 einen außerordentlich starken Zuwachs des
Erwerbspersonenpotentials verkraften:
„Von Jahresbeginn (1990) bis zur Bildung der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion Anfang
Juli waren etwa 41.000 Personen aus den neuen Bundesländern nach Niedersachsen gekommen“484
Vergleicht man jedoch die Wanderungsbewegungen des Arbeitsmarktes insgesamt im Zeitraum von
1988 bis 1991, stellt man fest, das Süddeutschland das große Wanderungsziel geblieben ist:
„Nach einer Analyse des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) sind im Zeitraum von 1988 bis
1991 in Westdeutschland 3,2 Millionen Menschen mehr zugewandert als weggezogen, das waren
5% der Bevölkerung. Ihre bevorzugten Ziele waren vor allem die industriell verdichteten Regionen
im Süden der Bundesrepublik.“485
Die strukturstarken süddeutschen Zielgebiete konnten im Beschäftigungsboom 1983/91 die
zugewanderten Arbeitskräfte zwar rasch in die Arbeitswelt integrieren. Aber im beginnenden
Konjunkturabschwung ab Mitte 1992 stieg auch die Arbeitslosigkeit in Süddeutschland kräftig an.
Die ökonomische Rezession im Westen schlägt auf die neuen Bundesländer durch. Trotz der
„Subventionsgießkanne“ , mit der die Bundesregierung in Ostdeutschland hantiert, ist die Gefahr
gänzlicher Deindustrialisierung nicht gebannt. Für Unternehmen, die zur Zeit im Westen nicht
einmal ihre Stammwerke auslasten können, machen Erneuerungsinvestitionen und der Aufbau
zusätzlicher Kapazitäten in den neuen Bundesländer wenig Sinn. Massive Absatzprobleme werden
für das Scheitern von beabsichtigten Investitionsprojekten verantwortlich gemacht.
„Der viel beschworene Mittelstand kann eben nicht ohne leistungskräftige Großindustrie existieren.
Die Bundesregierung und ihre Treuhandanstalt weigern sich bisher standhaft, endlich eine gezielte
Industriepolitik in Ostdeutschland zu verfolgen.“486
Die „Selbstheilungskräfte des Marktes“ können es allein nicht richten!
Aus der aus dieser fatalen Situation heraus resultierenden Unterbeschäftigung in Millionen-höhe,
die über den Höchststand in der Weimarer Republik hinausgeht, entstand zusätzlich ein mächtiger
Druck von Arbeitsmarktnachfragern aus den neuen auf die alten Bundesländer.
„Ungleicher hätte die Entwicklung in Ost- und Westdeutschland auf dem Arbeitsmarkt seit Öffnung
der Grenzen kaum sein können.... Die Zahl der Beschäftigten nahm zwischen 1989 und 1992 um
1,2 Millionen (in Westdeutschland) zu. In Ostdeutschland hingegen explodierte die Kurzarbeiterund Arbeitslosenziffer, da mehr als ein Drittel der Arbeitsplätze verloren gingen.“487
482 Handelsblatt,
14.12.1993.
31.12.1992, Seite 3.
484 Gersdorf, M. Der niedersächsiche Arbeitsmarkt nach der Vereinigung. Hannover 1993 ,Seite 47.
485 Handelsblatt, 17.12.199, Seite 3.
486 Siehe: Die Zeit, Nr. 46, 06.11.1992, Seite 22.
487 Adam, W., u.a., In: Gewerkschaftsbuch 1992. Köln 1992. Seite 286.
483 Handelsblatt,
- 186 -
Kurzfristig konnte die westdeutsche Wirtschaft vom Einheitsboom gewaltig profitieren.
Mittelfristig brach diese Sonderkonjunktur in sich zusammen und es entstand ein gespaltener OstWest Arbeitsmarkt mit erheblicher Arbeitsmarktdivergenz bzw. - konkurrenz.
Längst ist der klassische Konflikt zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu einem allgemeinen
Verteilungskampf geworden - zwischen Arbeitsplatzinhabern und Arbeitslosen, Arbeitnehmern
West und Ost, zwischen Besserverdienenden, die nichts hergeben wollen, und
Schlechterverdienenden, die die Hauptlast der deutschen Einheit bezahlen müssen.488
Es scheint die größte Herausforderung seit den Nachkriegsaufbaujahren in der Bundesrepublik
Deutschland zu sein: Tragende Säulen des allgemeinen Wohlstandes brechen kontinuierlich weg
und alternative Ersatzarbeitsplätze in Form neuer Industrien sind nicht in Sicht. Ohne die
Umverteilung von Arbeit in die neuen Bundesländer wird es aber kaum einen raschen Aufbau und
die damit verbundene Entlastung des westdeutschen Arbeitsmarktes geben.
Bisher florierten in Ostdeutschland nur die Bau- und Dienstleistungsbranche. Doch ohne Industrie
wird es auch keine Zukunft für Dienstleistungen geben.489
Viele Arbeitnehmer/innen in den neuen Bundesländern sind enttäuscht, in wachsender Zahl sogar
verbittert, weil eine schnelle Angleichung der Arbeits- und Lebensverhältnisse zwischen Ost- und
Westdeutschland sich nicht erfüllt hat. Der Zusammenbruch der ostdeutschen Industrieproduktion
hat Millionen von Menschen nicht nur die Arbeitsplätze genommen, sondern anscheinend auch die
Lebensperspektive.
Es soll aber auch darauf hingewiesen werden, daß in den alten Bundesländern von vielen die Lasten
der Einheit als übermäßig empfunden werden, weil diese Lasten nicht sozial ausgewogen und zu
Ungunsten der sozial Schwächeren verteilt sind, ferner einher gehen mit der schwersten
Beschäftigungskrise seit 1949.
Die konstatierte extreme Zunahme der Arbeitslosigkeit - auch in den alten Bundesländern - wird,
unter Zugrundelegung einer tiefgreifenden Wirtschaftrezession, die Verschärfung der Konkurrenz
um die Arbeitsplätze nochmals erhöhen. Die ohnehin festzustellende negative Grundstimmung
zwischen „neuen“ und „alten“ Bundesbürgern könnte durch eine Verfestigung einer neuen,
zusätzlichen Variante des „gespaltenen Arbeitsmarktes“ zwischen Ost und West zur „explosiven
Stimmung“ führen.
Obwohl die Anzahl sozialversicherungspflichtig Beschäftigter 1991 in Niedersachsen stark anstieg,
war der Spielraum für einen Abbau der Arbeitslosigkeit infolge der Zuwanderungen und Pendlern
aus den neuen Bundesländern vergleichsweise gering. So war die Arbeitslosigkeit in den ehemals
grenznahen Arbeitsamtsbezirken verhältnismäßig wenig zurückgegangen, bzw. in Helmstedt,
Goslar und Göttingen - entgegen der allgemeinen Entwicklung - sogar angestiegen.490
Am ungünstigsten verlief die Entwicklung im Osten Niedersachsens. Insbesondere in den
Teilräumen des Arbeitsamtsbezirkes Helmstedt (Hauptamt Helmstedt, die Dienststellen Wolfsburg
und Gifhorn), lag das Niveau der Arbeitslosigkeit ab 1991 sogar höher als im Jahr 1987.
Gründe für die ungünstige Arbeitsmarktentwicklung sind im Falle des Landkreises Helmstedt vor
allem die Zuwanderung und der zunehmende Pendlerdruck aus den ostdeutschen Bundesländern.
Die räumliche Entwicklung des Niveaus von Arbeitslosigkeit in allen zwanzig nieder-sächsischen
Arbeitsamtsbezirken in der Zeitspanne von 1988 bis 1991 zeigt regionale Verschiebungen der
Arbeitslosigkeit in „Verlierer- bzw. Absteigerarbeitsamtsbezirke“ deutlich auf.
488 vgl.
Stern, Nr. 19, 06.05.1993, Seite 41.
Schwegler, L. Vorsitzender der Gewerskschaft Handel, Banken und Versicherungen. In: Stern, Nr.
19.11.1992. Seite 312.
490 Siehe: Gersdorf, M., Ebenda ,Seite 49.
489 Siehe:
48,
- 187 -
Das sind die Arbeitsamtsbezirke Wilhelmshaven, Göttingen, Goslar, Lüneburg und insbesondere
Helmstedt, der 1988 vom 1. Platz mit 9,2% Arbeitslosenquote (Niedersachsen 11,2%), 1989 Platz
6. mit 8,5% (Niedersachsen 10,0%), 1990 Platz 9. mit 8,8% (Niedersachsen 9,4%) und 1991 auf
den 11. Platz mit 8,1% (Niedersachsen 8,1% ) am stärksten abrutschte.
Bis auf den Arbeitsamtsbezirk Wilhelmshaven handelt es sich dabei um Arbeitsamtsbezirke im
ostniedersächsischen Raum, auf die sich der Umzug und das Einpendeln von Arbeitskräften aus den
neuen Bundesländern konzentriert.491
Der Helmstedter Arbeitsmarkt, direkt an der „Nahtstelle“ zwischen neuen und alten Bundesländern, ist von dieser Problematik besonders hart betroffen. Es bleibt diesbezüglich festzuhalten,
daß der Beschäftigungsanstieg des Einheitsboomes von 1990/91 nicht aus der heimischen
registrierten Arbeitslosigkeit, sondern vorwiegend durch Zuwanderer und Pendler aus SachsenAnhalt gespeist wurde, was zu einem gewissen Verdrängungseffekt insbesondere zu Lasten der
Langzeitarbeitslosen im Landkreis Helmstedt führte.
Die verhältnismäßig starke Konkurrenz um vorübergehend wieder zu besetzende Arbeitsplätze ist
weitgehend zu Ungunsten ansässiger Arbeitssuchender bzw. Arbeitsloser ausgegangen.
Die einschneidende Veränderung der Grenzöffnung hinterläßt arbeits- und sozialpolitische Folgen,
denen nur durch einen bedarfsgerechten Einsatz der Arbeitsmarktinstrumente wirkungsvoll
begegnet werden kann.
3.3.3.6 Arbeitsbeschaffungs- und berufliche Fortbildungsmaßnahmen
Die Tabelle III. 6.2.1 verdeutlicht die Effizienz von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Es geht dabei
um den Anteil, um den die Arbeitslosigkeit durch den Einsatz von AB-Maßnahmen gesenkt werden
konnte. Beim Vergleich der zwanzig niedersächsischen Arbeitsamtsbezirke stellt sich heraus, daß in
Leer und Emden die beachtlichen Werte von 24,8% und 15,3% erzielt werden konnten. Die ABM
Arbeitsmarktentlastungswirkungen in der Spannbreite zwischen dem höchsten (Leer 24,8%) und
dem niedrigsten Wert (Helmstedt 1,7%) verdeutlichen, wie unterschiedlich das Instrument ABM in
Niedersachsen regional genutzt wird. Der Einsatz dieses ABM-Instrumentes hat zum einen die
Frage der Zielguppenorientierung und zum anderen etwas mit der örtlichen Verfügbarkeit von
Trägern zu tun, über die AB-Maßnahmen eingesetzt werden können.
Der Aussagewert der Tabelle III. 6.2.2 ist insofern von Bedeutung, daß hieraus die Relevanz von
ABM bei der Vermittlung von Arbeitslosen in Arbeit verdeutlicht werden kann. Der Anteil von
Arbeitsvermittlungen, der durch ABM bewerkstelligt wurde, kommt 1991 in Leer auf einen Wert
von 39,8% und in Helmstedt ergibt sich hingegen nur ein Wert von 4,5%. Das läßt die
Schlußfolgerung zu, daß, wenn auf dieses effektive Instrument zur Bekämpfung von
Arbeitslosigkeit weitgehend verzichtet wird, die Arbeitslosenhöhe sprunghaft ansteigt.
Vergleicht man die Streuung vom Eintritt Arbeitsloser in Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen (F. u. U.) sowie vom Eintritt in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM), in Relation
zu den im Laufe eines Jahres erfolgten Abgängen aus Arbeitslosigkeit (siehe Tabelle III. 6.2) ergibt
sich für das Jahr 1991 im Landesdurchschnitt ein Anteilswert von 12,8%, in Helmstedt mit 16,7%
ein über dem Landesdurchschnitt liegender günstigerer Wert.
Man kann daraus schließen, daß die regional differierenden Umsetzungsmöglichkeiten
arbeitsmarktpolitscher Aktivitäten auf den Arbeitsamtsbezirk Helmstedt bezogen, insgesamt zwar
ebenfalls mäßig eingesetzt wurden, er aber auf Landesdurchschnittsebene gesehen (1989 übrigens
noch 21,7%) hinter Leer, Emden und Osnabrück an vierter Stelle anzutreffen war.
Diese positive Trendaussage läßt sich auch auf das Hauptamt Helmstedt übertragen. Nicht zuletzt
durch die Tatsache, daß der ehemalige überdurchschnittliche Anteil von un- und angelernten
491 Siehe:
Heinelt,H., Innerdeutsche Ost-West Migration und regionale Arbeitsmarktauswirkungen
Niedersachsen. Institut für Sozialpolitk und Stadtforschung e.V.(Hrsg.), Hannover 1993, Seite 22.
- 188 -
Arbeitnehmern Anfang der 80er Jahre durch gezielte berufliche Fortbildungs-maßnahmen erheblich
reduziert werden konnte.
Diese „mittlere Qualifikationsstruktur“ mit abgeschlossener Berufsausbildung (Berufsfach- und
Fachschulen) ist zum Teil bereits durch die Ausbildungsleistungen der heimischen Wirtschaft in der
erwerbstätigen Bevölkerung vorhanden und liegt, gemessen an der Gesamtbeschäftigung, um ein
Viertel über dem Bundesdurchschnitt.
Daß jedoch in der Gegenwart bei Facharbeitern die Arbeitslosenquote noch höher anstieg als bei
Nichtfacharbeitern, muß als Alarmsignal gewertet werden.
Ein Indiz dafür, daß die erworbene und ausgeführte Qualifikation offensichtlich im technologischen
Strukturwandel nicht mehr benötigt wird.
„Einmal Erlerntes, das einst jahrzehntelang gültig blieb, veraltet heute rapide. Alle fünf Jahre
verdoppelt sich das technische Know-how.“492
Diese Entwicklungstendenz läßt die Schlußfolgerung zu, daß die Anfang der 80er Jahre erfolgreich
durchgeführten beruflichen Fortbildungsmaßnahmen im Landkreis Helmstedt in ihrer
„Halbwertzeit“ überschritten sind und den neuen fachspezifischen Anforderungs-merkmalen
offensichtlich nicht mehr entsprechen.
Daraus resultiert die Erkenntnis, daß der heimische Arbeitsmarkt für einen zielgerichteten,
innovativen technologischen Strukturwandel nur ungenügend vorbereitet ist. Ohne eine qualitative
Qualifizierungsoffensive würde eine Innovationsstrategie der Wirtschaft im Landkreis Helmstedt
nicht zustande kommen. Im Rahmen des rasanten und dynamischen Strukturwandels werden
traditionelle Berufe mittelfristig entwertet. Flexibilität, Anpassung und Dynamik sind daher gefragt,
insbesondere auf den Gebieten Weiterbildung und Nachqualifizierung. Wer hier Stagnationen
hinnimmt oder es versäumt, Defizite abzubauen, wird auf lange Sicht den Anschluß gänzlich
verpaßt haben.
Die Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen wurden in der zweiten Jahreshälfte 1993 im
Arbeitsamtsbezirk Helmstedt um 40 Prozent heruntergefahren, 493 dies bedeutete eine Reduzierung
von 2.300 auf 1.300 Teilnehmer/innen. Diese drastisch gekürzten Mittel für Fort- und
Weiterbildung zeigen exemplarisch auf, daß der Politik nicht mehr genügend
Gestaltungsmöglichkeiten für arbeitsmarktpolitische Gegensteuerungsmaßnahmen ermöglicht
werden.
Die Vier-Tage-Woche bietet für die VW-Mitarbeiter die Chance, in der hinzugewonnenen Freizeit
notwendige Qualifizierungsmaßnahmen für die berufliche Fortbildung zu nutzen, wenn
zielorientierte Fachlehrgänge denn auch angeboten werden. Eine Qualifizierungsoffensive ist
prinzipiell die beste Strategie gegen Arbeitslosigkeit. Die Finanzierung dieses Aufgabenbereiches
gehört eigentlich zu den klassischen Mitteln der Bundesanstalt für Arbeit, doch das
Arbeitsförderungsgesetz erscheint hierfür zu statisch und inflexibel.
3.3.3.7 Dynamik der Arbeitsplatzentwicklung
Im folgenden wird unter regionalen Gesichtspunkten auf die Strukturverschiebung der
Arbeitslosigkeit eingegangen.
Die Strukturierung der Arbeitslosigkeit wird weitgehend von der Arbeitsmarktdynamik bestimmt.
„Hinter oft nur marginalen Veränderungen der Gesamtbeschäftigung finden ständig erhebliche
Umschichtungen statt. Bis zu einem gewissen Umfang werden diese Umschichtungen schon
sichtbar, wenn man die Beschäftigungsentwicklung sektoral und regional disaggregiert.“494
492 Siehe:
WirtschaftsWoche, Nr. 41, 08.10.1993, Seite 3.
Wolfsburger Kurier, 08.12.1993.
494 Siehe: Cramer, U. Dynamik der Arbeitsplatzentwicklung. In: Informationen zur Raumentwicklung. Heft 1,
Bonn 1990
493 Siehe:
- 189 -
Die Unterscheidungskriterien in expandierende Beschäftigungsgewinne aus Expansion oder
Neugründung und schrumpfende Betriebe (Verluste durch Personalreduzierung) kann noch weiter
differenziert werden, wenn neben den bestehenden auch neu gegründete und schließende Betriebe
erfaßt werden.
Dabei wird sowohl von der Relation der jährlich begonnenen, als auch der jährlich beendeten
Beschäftigungsverhältnisse zur Gesamtzahl der Beschäftigten ausgegangen. Markiert das
Verhältnis der jährlich begonnenen Beschäftigungsverhältnisse zur Gesamtzahl der Beschäftigten
das Ausmaß der neu geschaffenen und personell ersetzten Arbeitsplätze, so kommt im Verhältnis
der jährlich beendeten Beschäftigungsverhältnisse zur Gesamtzahl der Beschäftigten das Ausmaß
der Freisetzungen von Arbeitskräften zum Ausdruck.495
Danach zeichnen sich folgende Charakteristiken des spezifischen Arbeitsmarktgeschehens ab:
Zum einen gibt es in Niedersachsen Arbeitamtsbezirke mit sowohl überdurchschnittlich viel
begonnenen als auch viel beendeten Beschäftigungsverhältnissen. Diese „bewegungsintensiven
Arbeitsmärkte“ verzeichnen einen „hohen Umschlag“ von Arbeitskräften. Diese große
Arbeitsplatzdynamik verdeutlicht ein bewegungsintensives Arbeitsmarktgeschehen, das stark
zwischen Expansions- und Schrumpfungsraten variiert.
Dazu zählen die Arbeitsamtsbezirke Leer, Emden, (hohe saisonale Beschäftigung, z.B. im
Baugewerbe oder Agrarbereich), Lüneburg, Uelzen und Vechta.
Zum anderen gibt es in Niedersachsen Arbeitsamtsbezirke, die zu einem unterdurchschnittlichen bis
hin geringen „Umschlag von Arbeitskräften“ tendieren , als auch einen Arbeitsamtsbezirk mit
nahezu stagnativer Entwicklung.
Dies sind die Arbeitsamtsbezirke Braunschweig, Hannover und Osnabrück, während im
Arbeitsamtsbezirk Helmstedt die mit Abstand höchste „Bewegungsarmut“ zu konstatieren ist.
Insbesondere trifft dies auf das Hauptamt Helmstedt zu, das im September 1993 einen Restbestand
von nur rund 150 offenen Arbeitsstellen aufwies, wobei auf rund 30 Arbeitslose nur eine offene
Stelle kam, so daß der Arbeitsmarkt des Landkreises quasi als „statisch“ zu bewerten war.
Welche Schlußfolgerungen lassen sich aufgrund des äußerst geringen Stellenumschlag-prozesses
und der ausgebliebenen Dynamik im Arbeitsamtsbezirk Helmstedt, insbesondere im Hauptamt
Helmstedt, ziehen?
„Für den Stellenumschlag gibt es drei Ursachen: Konkurrenz zwischen den Betrieben,
Strukturwandel, sowie Wachstum und Konjunktur.“496
Die „Bewegungsarmut“ im Dienstellenbereich Helmstedt liegt im allgemeinen daran, daß zwei
„abgeschottete“ betriebliche Arbeitsmärkte (VW AG in Wolfsburg und BKB AG in Helmstedt)
aufgrund der Monostruktur dominieren.
Die starke Konzentration der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten auf diese größten
Unternehmen reduziert die Arbeitsplatzdynamik im Landkreis Helmstedt erheblich. Desweiteren ist
hierfür ursächlich der nicht sehr ausgeprägte Strukturwandel vom sekundären Sektor zu den
dienstleistungsorientierten Branchen der Grund für die tendenziell stagnierende
Gesamtbeschäftigungsentwicklung im Landkreis.
Ein beträchtlicher und in den letzten Jahren überregional zugenommener Teil des
„Arbeitskräfteumschlags“ ist offenbar im Landkreis Helmstedt weitgehend ausgeblieben. Die sehr
hohe Arbeitsplatzverweildauer bei VW und BKB (beide mit rückläufiger Tendenz), im öffentlichen
Dienst und eine überproportionale Schrumpfungsrate von Betrieben, der keine betriebliche
Neugründungsexpansionsrate gegenüberstand, das Ausbleiben von Betriebs- erweiterungen in
495 Siehe: Heinelt, H. (Universität Hannover). Strukturverschiebungen der Arbeitslosigkeit in Niedersachsen,
Landesgesellschaft zur Beratung und Information von Beschäftigungsinitiativen. Hannover 1992. Seite 6.
496 Siehe: Franke, H., Buttler, F., Arbeitswelt 2000. Frankfurt a.M. 1991. Seite 55.
In:
- 190 -
einem nennenswerten Umfang, sind die Ursachen der sehr geringen, nahezu stagnativen Bewegung
im Helmstedter Arbeitsmarkt.
Diese Erkenntnis bietet einen detaillierten Einblick in die nicht vorhandene Dynamik des
heimischen Arbeitsmarktes, die per Saldo keinen Spielraum für einen positiven Stellenumschlagsprozeß zuließ.
Eine Ausnahmesituation war hierbei durch die Öffnung der innerdeutschen Grenze verbundene
zeitlich befristete Einheitskonjunktur: Sie verschaffte weitgehend an der Arbeitsvermittlung vorbei
eine neue Arbeitsmarktflexibilität von neuen Arbeitsmarktanbietern aus Sachsen-Anhalt. Die
Unternehmen vor Ort haben diese Gelegenheit genutzt, den Arbeitskräftebestand aufzustocken und
gleichzeitig umzustrukturieren. Mit der vierten Rezession hat sich die vorherige statische
Ausgangsbasis wieder eingestellt.
3.3.3.8
Regionale Arbeitslosigkeit
struktureller Aspekte
unter
Berücksichtigung
konjunktureller
und
Vergleicht man die Anzahl Arbeitsloser im gesamten Arbeitsamtsbezirk Helmstedt innerhalb von
12 Jahren (vom Mai 1979 zu September 1991) stellt man hierbei fest, daß sich die Arbeitslosenhöhe
von insgesamt 4719 (1979) auf 12716 (1991) drastisch erhöhte. Im Erhebungszeitraum 1979 betrug
die Anzahl der zwischen 1 und 2 Jahren statistisch erfaßten Langzeitarbeitslosen 607 Personen.
1991 stieg deren Zahl auf 2068 Personen.497
Die kleinsten räumlichen Bausteine zur Erfassung der Arbeitslosigkeit sind die Dienststellen der
Arbeitsamtsbezirke.
Die Arbeitsmarktprobleme im Landkreis Helmstedt waren zwar kontinuierlich höher als der
Bundesdurchschnitt, im Vergleich zum Land Niedersachsen bis Ende 1991 aber weniger
gravierend, (siehe Tabelle III. 6.4).
Die dritte Rezession von 1982 brachte in ihrer Folgewirkung eine Steigerung der Arbeitslosigkeit
von 1565 (1980) auf 3727 (1984) im Hauptamt Helmstedt, wobei sich die Jahresdurchschnittswerte
mit minimalen Schwankungen bis 1992 hielten. Dieser rezessions-bedingte Einbruch setzte zwar
einen neuen Höchstwert in der Arbeitslosenstatistik, doch die Erwerbslosenentwicklung verlief
parallel zu Südostniedersachsen und dem Bundesland Niedersachsen und die direkten
Vergleichswerte von Land und Südostniedersachsen zum Hauptamt Helmstedt, zeigten hier sogar in
der Tendenz etwas günstigere Zahlenwerte für den Landkreis Helmstedt.
Einen weiteren überproportionalen Anstieg der Arbeitslosigkeit ergab sich aufgrund der vierten
Rezession, deren arbeitsmarktpolitische Auswirkungen im Jahresdurchschnitt 1993 im Landkreis
Helmstedt (inklusive Lehre) einen Bestand von 4.944 Arbeitslosen, bei einer Arbeitslosenquote von
11,5%, verursachte.498
Bisherige Erfahrungswerte zeigen, daß nach konjunkturellen Erholungen die Sockelar-beitslosigkeit
jedesmal höher als vor dem Konjunktureinbruch war.
Der Sockel der Arbeitslosigkeit nahm in den letzten beiden Rezessionen bundesweit um 700.000
beziehungsweise 830.000 Arbeitnehmer zu.499
Eine konjunkturelle Belebung wird also die Lage am Arbeitsmarkt kaum verbessern. Diese
tendenzielle Entkoppelung von Konjunktur und Arbeitsmarkt und die besonders im
Arbeitsamtsbezirk Helmstedt traditionell verzögerte Aufwärtsentwicklung der Beschäftigung nach
Konjunktureinbrüchen wird eine zukünftige arbeitsmarktpolitische Konsolidierung in nur kleinen
Schritten ermöglichen, wiederum sichtbar abgekoppelt vom Bundestrend.
497 Siehe:
Veröffentlichungen des Arbeitsamt Helmstedt, Sonderhefte Nr. 11/1979 und Nr. 2 /1992.
Siehe: Statistische Monatshefte, Niedersächsisches Landesamt für Statistik, Hannover 3/1994, Seite 119.
499 Siehe: Handelsblatt, 14.12.1993.
498
- 191 -
Es ist damit zu rechnen, daß ein wirtschaftliches Wachstum allein keine neuen Arbeitsplätze
schaffen wird.
Anders formuliert: Nicht jede positive Wachstumsrate des Bruttoinlandsproduktes wird von einer
Zunahme der Beschäftigten begleitet. Negativ interpretiert sind neue Arbeitsplätze die Restgröße
wirtschaftlichen Handelns.
Erst bei einer Wachstumsrate des Bruttoinlandproduktes oberhalb von 1,7 Prozent nahm die
Beschäftigung in der Vergangenheit allmählich zu. 500
Die im 1. Halbjahr 1993 verlorengegangenen 206 Arbeitsplätze der Firma Naue KG, 249
Arbeitsplätze, der Helmstedter Spinnerei GmbH und 98 Arbeitsplätze der Reika-Technik GmbH,
sowie der stufenweise Abbau von weiteren 400 Arbeitsplätzen bei der BKB für 1993, trugen in
ihrer Gesamtheit zur deutlichen Erhöhung de Arbeitslosigkeit im Landkreis Helmstedt bei.
Der saisonale Entlastungseffekt im Hauptamt Helmstedt kam auch nicht im September 1993
zustande. Insgesamt gab es zum Monatsende 9/93 einen Erwerbslosenstand von 4819 mit einer
Arbeitslosenquote von 12,7%. Im Vergleich zum Vorjahresmonat September 1992 mit 3540
Erwerbslosen stieg die Zahl der Arbeitslosen um 1279 oder 36,1%.
Rein rechnerisch kamen für den Zeitabschnitt 9/93 auf eine im Hauptamt gemeldete offene Stelle
36 Arbeitslose.501
Die erstellte Zeitreihe des Arbeitslosenbestandes im Dienststellenbezirk Helmstedt von Oktober
1992 (3.516) bis Oktober 1993 (4.931) verdeutlicht den extrem hohen Anstieg der Arbeitslosigkeit
(Tabelle III. 6.4.2) um 1.415, das sind 40,24%. Dies ist der zugleich höchste Anstieg im Bereich
des Landesarbeitsamtes Niedersachsen /Bremen.
Im Dezember 1993 nahm die Arbeitslosigkeit im Hauptamt Helmstedt (ohne Lehre) nochmals um
132 oder 2,6 Prozent auf insgesamt 5.202 zum Vormonat zu.
Das überwiegend milde Winterwetter im Dezember hielt hierbei die saisonale Arbeitslosigkeit in
Grenzen. Trotzdem ist der Vergleich zum Vorjahresmonat beträchtlich: Die Arbeitslosigkeit betrug
im Dezember 1992 3.677 Personen und wurde somit um 1.525 oder 41,5 Prozent überschritten. Die
Arbeitslosenquote lag im Dezember 1993 bei 13.7 Prozent, nach 13,3 Prozent im Vormonat und 9,7
Prozent vor einem Jahr.
Im Bereich des Landesarbeitsamtes Niedersachsen/Bremen betrug die Arbeitslosenquote im
Dezember 1993 10,8 Prozent und in den alten Bundesländern 8,1 Prozent.
Diese neuen Eckwerte des Arbeitslosengefüges als Folgewirkung der vierten Rezession
katapultieren den Landkreis Helmstedt (im Gegensatz zur vorherigen Rezession) in eine schlechtere
Situation bezüglich der Arbeitslosenquote als das Bundesland Niedersachsen.
Die durchschnittliche Arbeitslosenzahl des Jahres 1993 betrug im Hauptamt Helmstedt (ohne
Lehre) 4.651 und war damit 1.129 oder 32,1 Prozent höher als im Vorjahresdurchschnitt 1992.
Anhand dieser Arbeitsmarktindikatoren ist für den Landkreis Helmstedt unter Berücksichtigung
einer anhaltenden Konjunktur- und Strukturkrise eine prognostizierte Arbeitslosenquote um 18
Prozent in diesem und nächsten Jahr nicht ausgeschlossen. 502
Die weitere quantitative Entwicklung der Arbeitslosigkeit im Landkreis Helmstedt kann nicht ohne
Berücksichtigung der Situation und Entwicklungstendenz des extremen Strukturanpassungsprozesses im Straßenfahrzeugbau nebst zugeordneter Zulieferbranche und des
angrenzenden Bundesland Sachsen-Anhalts gesehen werden. Es ist zu erwarten, daß der Landkreis
500 Siehe: Siebert, H. Wirtschaftswachstum löst das Problem einer verfestigten Arbeitslosigkeit nicht. In: Handelsblatt,
14.12.1993.
501 Siehe: Arbeitsamt Helmstedt, Arbeitsmarktzahlen für September 1993.
502 Anmerkung: Der Wolfsburger Arbeitsamts-Dienststellenleiter W. Poerschke, prognostizierte für 1994/95
eine
Arbeitslosenquote von bis zu 18 Prozent. Siehe: Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 06.01.1994.
- 192 -
Helmstedt eine Ost-West-Orientierung von Arbeitskräften auf dem hiesigen Arbeitsmarkt auch
mittelfristig zu verkraften hat und in Folge dessen die Konkurrenz- und Verdrängungseffekte (die
branchenspezifisch unterschiedlich hoch sind) weiter anhalten.503
Die Anzahl der zukünftigen Arbeitslosen wird sich 1994 im Arbeitsamtsbezirk Helmstedt in einer
Größenordnung von schätzungsweise 26.000 im Jahresdurchschnitt bewegen. Diese eher
prognostizierte Untergrenze wird untermauert durch die anhaltende Rezessionsphase bis
schätzungsweise Anfang 1995, die deutlich gesunkene Zahl an Zugängen von offenen Stellen, die
rapide angestiegene Kurzarbeit, weitere Kosteneinsparungsstrategien der VW AG, die Gefahr
weiterer
Firmenzusammenbrüche
im
industriellen
Kernbereich
das
Ausbleiben
arbeitsplatzintensiver Firmenneugründungen.
Interpretiert man die Entwicklungstendenz durchschnittlicher Arbeitslosenquoten im Hauptamt
Helmstedt, so ist folgender Sachverhalt zu berücksichtigen:
Die in der Entwicklung fortschreitende Verknappung heimischer Arbeitsplätze erhöhte die
Berufsauspendlerquote. Hinzu kam eine für die Landkreisentwicklung typische Arbeitskräftebewegung: Eine traditionelle hohe Abwanderungsquote von Erwerbspersonen aus dem Land-kreis
Helmstedt in Wirtschaftsregionen mit ökonomischer Expansion. Diese kontinuierliche
Verknappung heimischer Arbeitsplätze bewirkte rückblickend auch eine vergleichsweise hohe
Überalterung der Landkreisbevölkerung. Im Landkreis Helmstedt (ebenso im südöstlichen
Niedersachsen) war deshalb aus Gründen des Altersaufbaus die „demographische Belastung“ des
Arbeitsmarktes deutlich geringer als z.B. in den westlichen und nördlichen Landesteilen
Niedersachsens.
Die folgenden Beispiele verdeutlichen diese Entwicklung:
Bei den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten je 1.000 Erwerbstätigen als „Nährungsmaß der
Erwerbsquote“, Stand am 30.06.1989, ist der Landkreis Helmstedt mit 302 Beschäftigten im
Vergleich zu Niedersachsen mit 438 und den alten Bundesländern mit 496, am untersten Ende der
Bandbreite (siehe Ziffer 3 der Tabelle III. 2.3.3).
Bei der jeweiligen Fortschreibung des Bevölkerungsstandes am 31.12. eines Jahres ist für 1989 der
Anteil der Einwohner aus dem Landkreis Helmstedt, die 75 Jahre und älter sind, im ausgewählten
Raumbezug der Ziffer 1 aus der Tabelle III. 1.2.2 mit 8,4%, gegenüber den alten Bundesländern mit
7,4%, am höchsten. Auch beim Anteil der weiblichen Altersquote der 75jährigen und älteren
Frauen am Gesamtfrauenanteil von 11,3% hat der Landkreis Helmstedt im aufgeführten
Raumvergleich den höchsten Wert, während die alten Bundesländer insgesamt einen Wert von
10,0% aufweisen. Das ist ebenfalls ein Indikator für einen hohen Durchschnittsanteil
alleinstehender Frauen.
Der Binnenwanderungssaldo der 18- bis 25jährigen (Ziffer 8 der Tabelle III. 1.2.4) entsprach je
1.000 Einwohner vom 01.01.1988 bis 31.12.1989 der entsprechenden Altersgruppe, im
Raumvergleich einem Minus von 45% im Landkreis Helmstedt. Der Vergleichswert zu
Niedersachsen ergibt hierbei minus 34%. Die in dieser Altergruppe prinzipiell überdurchschnittlich
hohe Mobilität (Näherungsmaß für schulische und berufliche Ausbildungswanderung bzw.
entsprechende Disparitäten), liegt im Landkreis somit noch 11 Prozent höher als der
Landesdurchschnitt. Da im identischen Bemessungszeitraum der Binnenwanderungssaldo der 50
bis unter 65jährigen je 1.000 Einwohner im Landkreis Helmstedt +2 Prozent war (Ziffer 11), kann
das im Vergleich zum niedersächsischen Durchschnittswert von minus 6 Prozent als Indikator für
einen Altersruhesitz im Landkreis Helmstedt interpretiert werden.
503 Anmerkung:
Von den 2,075 Millionen Industriearbeitsplätzen, die im Januar 1991 in den neuen
Bundesländern gezählt wurden, habe es Ende 1993 nur noch knapp 700.000 gegeben. Die ostdeutsche
Industriedichte sei in dieser Zeit von 132 Beschäftigten je 1000 Einwohner auf 47 gesunken. In
Westdeutschland hätten 1993 noch 106 Beschäftigte (1991 waren es 116) je 1000 Einwohner einen Arbeitsplatz
in der Industrie gefunden. Siehe: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.01.1994.
Bereits aus diesen Zahlen ist ableitbar, daß sich die Ost-West-Orientierung von Arbeitskräften auch auf den
Helmstedter Arbeitsmarkt mittelfristig unverändert hoch anzusetzen ist.
- 193 -
Der in der Vergangenheit kontinuierliche Verlust an Arbeitsplätzen, z.B. mit einem Rückgang von
12% von 1970 bis 1980, schlug sich aufgrund der Abwanderungstendenzen dieser betroffenen
Arbeitskräftegruppen nicht so spürbar in den regionalen Arbeitslosenquoten nieder.
Dieser Trend von Verlagerung durch erhöhte Mobilität wird in Zukunft arbeitsmarktpolitisch
stagnieren, weil Rationalisierungsstrategien, Firmenzusammenbrüche und Betriebsverla-gerungen
ins europäische und außereuropäische Ausland in der Bundesrepublik die Schaffung neuer
Arbeitsplätze erschwert.
Diese auch überregional negative Arbeitsmarktentwicklung wird Konsequenzen für den heimischen
Arbeitsmarkt haben.
Unter Zugrundelegung des in der Nachkriegsindustrie härtesten Rationalisierungsprogrammes in
der Automobilindustrie und der speziellen Problematik der renditeschwachen VW AG, wird der
kontinuierliche Arbeitsplatzabbau direkte Auswirkungen auf die anteiligen 9300 VW
Arbeitnehmer/innen haben, die arbeitstäglich aus dem Landkreis Helmstedt ins Wolfsburger
Zweigwerk pendeln (siehe Kapitel 3.2.2).
Aufgrund
divergierender
Qualifikationsanforderungen
sind
im
Landkreis
kaum
Beschäfigungsmöglichkeiten zu finden und es kann vermutet werden, daß die permanente
Personalreduzierung in der VW AG nicht nur „sozialverträglich“ erfolgen wird.
Die strukturstarken süddeutschen Zielgebiete konnten im Beschäftigungsboom 1983 und 1991 die
zugewanderten Arbeitskräfte integrieren. Aber im jetzigen Konjunkturabschwung steigt die
Arbeitslosigkeit auch dort besonders kräftig an.
Eine weitere Reduzierung von Arbeitsplätzen im industriellen Kerngebiet Südostniedersachsen
(auch außerhalb der Automobilindustrie) würde zur arbeitsmarktpolitschen Konsequenz einer
extremen Erhöhung des Arbeitskräfteangebotes und einer deutlichen Verjüngung und Veränderung
der Qualifikationsstrukturen im Landkreis Helmstedt führen.
Als Folgewirkung der insgesamt unbefriedigend verlaufenden gesamtwirtschaftlichen Entwicklung,
beispielsweise durch eine offenbar weiter nachlassende nationale Wettbewerbs-fähigkeit heimischer
Unternehmen und durch steigende Importkonkurrenz, ist zu erwarten, daß in wirtschaftsschwachen
Gebieten vor allen das Problem erhöhter Arbeitslosigkeit zu den neuen Rahmenbedingungen
hinzugekommen ist und der Landkreis Helmstedt auch davon in Zukunft überdurchschnittlich
betroffen sein wird.
In der hohen Arbeitslosenquote als Resultat der vierten Rezession kommt im Landkreis Helmstedt
des weiteren zum Ausdruck, daß in qualitativer Hinsicht ein Bestand an qualifizierten,
hochwertigen und langfristig sicheren (Stamm-) Arbeitsplätzen mit entsprechenden
Berufsmöglichkeiten Mangelware ist. Da weiterhin ein nur unterdurch-schnittliches wirtschaftliches
Wachstum in der Landkreisentwicklung anhand der analysierten Indikatoren vermutet werden kann,
muß für die Zukunft von anhaltenden Arbeitsmarktproblematiken ausgegangen werden, die vor
allem in einer weit überdurch-schnittlichen Arbeitslosenquoten zum Ausdruck kommen werden.
Schließlich wird diese Entwicklung bei steigendem Niveau und zunehmender Dauer der bereits
jetzt hohen Unterbeschäftigung zu einer weitgehenden Aufspaltung des Arbeitsmarktes führen, in
der Jugendliche, Frauen und Behinderte, ältere Arbeitnehmer und gering qualifizierte Beschäftigte
als Langzeitarbeitslose besonders betroffen sind.
Diese Entwicklungstendenz wirkt sich für den Landkreis Helmstedt besonders aus
arbeitsmarktpolitischer Sichtweise alarmierend aus, weil zwei Negativindikatoren zusammen
addiert werden müssen, die sich in ihrer Wechselwirkung gegenseitig verstärken: Die
überdurchschnittliche Schrumpfung des primären und sekundären Sektors und das nur
unterdurchschnittliche Wachstum des tertiären Sektors.
Der Verlust von Industriearbeitsplätzen wird sich auch in den nächsten Jahren fortsetzen und der
Dienstleistungsbereich wird kaum einen Ausgleich bewirken.
- 194 -
Die Betrachtung der Untersuchungseinheit Hauptamt Helmstedt läßt desweiteren erkennen, daß die
Arbeitsmarktprobleme auf einem hohen Niveau angesiedelt sind: 30% der Arbeitslosen sind
Langzeitarbeitslose, d.h. länger als ein Jahr erwerbslos. Im Landesarbeitsamt
Niedersachsen/Bremen beträgt der Anteil 27%.
Langzeitarbeitslose sind häufig gekennzeichnet durch gesundheitliche Einschränkungen, einen
hohen Frauenanteil, ein Alter über 50 Jahre und fehlende Berufsausbildung.
Nachdem die Frauenarbeitslosigkeit Ende der 80er Jahre abgebaut werden konnte, stieg diese von
1991 bis 1992 wieder sprunghaft an.
Die Altersstruktur läßt erkennen, daß sowohl ein Drittel aller Arbeitslosen älter als 50 Jahre, als
auch eine hohe Steigerungsrate der Altersgruppe von 35 bis 45 Jährigen zu beobachten ist.
Der Arbeitslosenbestand rekrutierte sich 1993 zu 51,3% aus Männern, 48,8% aus Frauen, 6,5% der
Arbeitslosen waren Ausländer, 2,4% Jugendliche unter 20 Jahren, 6,1% Schwerbehinderte, 6,8%
Aussiedler und 10,2% Teilzeitarbeitssuchende.504
Folgende Wirtschaftsgruppen hatten 1993 einen überdurchschnittlichen Zugang an Arbeitslosen zu
verzeichnen: Straßenfahrzeugbau, Bauhaupt- und Nebengewerbe, Handel, Gebietskörperschaften
inklusive Sozialversicherungen, Heime/Gesundheitswesen und Gaststätten.
Aufgrund der Segmentierung betrieblicher Arbeitsmärkte sind die Arbeiter die Hauptbetroffenen
der akuten Arbeitsmarktentwicklung, während Angestellte ihre Position insgesamt halten konnten.
Hingegen ist die Arbeitslosigkeit bei Facharbeitern noch höher angestiegen als bei un- und
angelernten Arbeitskräften. Dieses „Alarmsignal“ läßt darauf schließen, daß erworbene und
angewendete Qualifikationen im heimischen Arbeitsmarkt veraltet, bzw. nicht mehr nachgefragt
werden, (siehe auch Kapitel 3.3.3.5).
Auf Branchen übertragen sind die Strukturdaten des Arbeitslosenbestandes im September 1993 auf
Berufsabschnitte mit mehr als 100 Arbeitslosen in hoher Konzentration in folgenden Bereichen
anzutreffen: Schlosser/Mechaniker, Elektriker/Techniker, Chemie/Kunststoff (das sind
insbesondere die Automobilzulieferer), Montierer, Textil; im Dienstleistungsbereich Transport,
Lager, Reinigung, Verkehrstätigkeit, Einzel- und Großhandel, aber auch mit steigender Tendenz die
Verwaltungs-, Büro- und Organisationstätigkeiten.
Die besorgniserregende Entwicklung der Arbeitslosigkeit (von 25.000 Menschen im
Arbeitsamtsbezirk Helmstedt, davon 5.650 im Hauptamt Helmstedt, im Januar 1994 setzten neue
Akzente.
Der Arbeitslosenanstieg zum Vormonat Dezember 1993 betrug 447 Personen und die
Arbeitslosenquote erhöhte sich auf insgesamt 14,9%, gegenüber dem Vormonat mit 13,7%. Vor
allem deutet der weitere Anstieg der Kurzarbeit vom Vormonat mit 578 auf 679
Arbeitnehmer/innen im Erfassungsmonat Januar 1994 in insgesamt 10 Betrieben an, daß der
rezessionsbedingte Höhepunkt anscheinend noch nicht erreicht wurde.
Diese Arbeitsmarktmonatsdaten für Januar 1994 sollten nicht ausschließlich unter saisonalen
Aspekten interpretiert werden. Ausschlaggebend hierfür sind konjunkturelle und vor allem
strukturelle Gründe, die verdeutlichen, daß der Landkreis aus der veränderten Situation der
Deutschen Einheit und der Europäischen Union seine Entwicklungsdefizite noch lange nicht
überwunden hat.
Bereits in der jetzigen Zeitphase ist ein überdurchschnittlicher Anstieg der Arbeitslosenquote zu
verzeichnen. Weitere substanzielle Arbeitsplatzverluste durch industriellen Wandel und
Veränderungen der Produktionssysteme werden zukünftig zu erwarten sein.
Diese anhaltenden Verluste sind in ihrer Gesamtheit ungünstig zu bewerten.
3.3.3.9 Handlungsansätze
504 Siehe:
Arbeitsamt Helmstedt, Sonderheft 4/94, der Arbeitsmarkt, Seite 2.
- 195 -
Die vorausgegangenen Ausführungen haben nicht nur aufgezeigt, daß die zukünftigen
Herausforderungen für eine landkreisorientierte Arbeitsmarktpolitik größer geworden sind. Die
analysierten Problemfelder zeigen ferner auf, daß notwendige Konsequenzen für neue Struktur- und
arbeitsmarktpolitische Konzepte notwendiger denn je sind.
Darüber hinaus fordert diese Analyse der Arbeitsmarktdaten geradezu eine endogene Strategie zur
Behebung der Unterbeschäftigung heraus. Eine kreative und innovationsorientierte
Entwicklungsstrategie zur Lösung von qualitativen und quantitativen arbeitsmarktpolitischen
Disparitäten im Landkreis Helmstedt ist aber ohne exogene funktionale Rahmensetzung
(Finanzierungshilfen etc.) nicht realisierbar.
Die Zeiten, in denen Arbeitnehmer/innen aus dem Landkreis Helmstedt ihre Arbeitsplätze
vorwiegend in den Volkswagenwerken und in der BKB AG fanden, gehören endgültig der
Vergangenheit an. Da im Umkreis alternative Beschäftigungsmöglichkeiten größeren Umfangs
fehlen, ist auf absehbare Zeit eine aktive Arbeitsmarktpolitik nach dem Arbeitsför-derungsgesetz
gefordert, will man sich nicht auf eine reine Arbeitslosenfinanzierung beschränken.
Weitere Einsparungen im Arbeitsförderungsgesetz, in der die wenigen verbliebenen Instrumente für
eine vorausschauende aktive Arbeitsmarktpolitik rigoros abgebaut würden, wären hierbei
kontraproduktiv.
Soll zukünftig wirtschaftliches Wachstum mit einer möglichst hohen Beschäftigung verbunden sein,
und eine günstige Beschäftigungsentwicklung selbst in einer stagnierenden Wirtschaft wie im
Landkreis Helmstedt zustande kommen, so muß einerseits das weitere Auseinanderdriften des
Zentrum-Peripherie-Gefälles abgebaut und andererseits müssen innovative, technologieorientierte
Unternehmen angesiedelt, oder eine dahingehende Bestandspflege vollzogen werden, die am
Technologietransfer erfolgreich partizipieren kann.
Als Plattform für diesen innovationsorientierten Strukturwandel müßte aber auch ein erforderlicher
Arbeitskräftebedarf durch Arbeitsmarktanbietern mit spezifischen Anpasssungsqualifikationen
vorhanden sein.
Es ist ein erhebliches Potential im Rahmen der arbeitsmarktpolitischen Zielgruppen zu versorgen,
das nur durch Fortbildung und Umschulung aus der Arbeitslosigkeit herausgeführt werden kann.
Gefordert ist hierbei eine aktive Arbeitsmarktpolitik, die vor allen Dingen die Übergangschancen
vom zweiten in den ersten Arbeitsmarkt unterstützt.
Sollte eine hierfür erforderliche aktive Arbeitsmarktpolitik nicht oder nur bruchstückhaft zustande
kommen, erscheinen folgende Konsequenzen programmiert:
Es ist davon auszugehen, daß aufgrund steigender Arbeitslosigkeit sich die Arbeitsmarktprobleme
verschärfen
und
die
im
Landkreis
wohnenden
Arbeitnehmer/innen
verstärkt
Abwanderungserwägungen in Betracht ziehen werden, sofern der Arbeits- und Wohnungsmarkt
Mobilitätsperspektiven bietet. Insbesondere jüngere Arbeitnehmer/innen und höher qualifizierte
Berufsgruppen könnten mittelfristig abwandern, obwohl gerade sie für einen innovativen
Strukturwandel benötigt werden.
Die Langzeitarbeitslosigkeit erfaßt weitere Arbeitsmarktgruppen von Erwerbspersonen, auch von
hochqualifizierten Arbeitnehmern, die ihre stark fixierten ökonomischen- und sozialen
Lebensinteressen nicht mehr realisieren können. Die anhaltende Massenarbeitslosigkeit ist die
Konsequenz enormer Arbeitsmarktungleichgewichte, in der immer mehr Arbeitnehmern die
Langzeitarbeitslosigkeit droht. Für die genannten Problemgruppen
(Jugendliche, Frauen,
Arbeitnehmer mit gesundheitlichen Einschränkungen und ältere Arbeitnehmer) werden sich die
Probleme verschärfen, wobei die Reintegrationschancen, außer für Jugendliche, tendenziell
abnehmen.
Außerdem ist zu berücksichtigen, daß der Umfang „unsozialer“ Beschäftigungsverhältnisse
zunehmen dürfte. Desweiteren sollten die zumeist unbeachteten Zusammenhänge zwischen
Arbeitsmarkt und Alterssicherung mehr Berücksichtigung finden.
- 196 -
Insgesamt sind hierbei die Akteure in der Politik gefordert, hierzu Entwicklungs- und
Entscheidungsgrundlagen zu liefern. Da eine dringend notwendige aktive Arbeitsmarktpolitik
weitgehend ausbleibt und die Ausrichtung auf einen Prozeß „marktwirtschaftlicher
Selbstreinigung“ vorherrscht, wird sich die Diskrepanz zwischen Arbeitsplatz- und
Arbeitskräftemarkt weiter extrem erhöhen.
Gefordert ist dabei aber auch der Staat in seiner Funktion als Gesetzgeber (indem er inhaltliche
Rahmenregelungen und grundsätzliche Verfahrensvorschriften schafft), in seiner Fürsorgepflicht
und als humanistischer Verantwortungsträger!
3.3.3.10 Szenarien
3.3.3.10.1 Dauerarbeitslosigkeit!
Die ökonomische Prosperitätsphase der bundesrepublikanischen Nachkriegsentwicklung neigt sich
ihrem vorläufigen Ende zu. Zuletzt konnten noch annähernd zwei Drittel der Arbeitsgesellschaft am
quantitativen Wirtschaftswachstum partizipieren. Unabhängig von zukünftigen zeitlich befristeten
Konjunkturaufwärtsentwicklungen wird sich die Arbeitslosigkeit vom Konjunkturverlauf weiter
abkoppeln und auf einem hohen Niveau dauerhaft verharren. Insbesondere die darunter anfallende
Langzeitarbeitslosigkeit manifestiert sich in einem hohen Sockel Nichterwerbstätiger in einem
bisher nicht erahnten Ausmaß zur Dauerarbeitslosigkeit.
Der freie Fall von der zunächst beabsichtigten befristeten Arbeitslosenhilfe ab 1994 in die
verordnete Sozialhilfe hätte sich dann bis in die obere Mittelschicht ausgewirkt.
Auf diese Weise wird permanente Armut zu einem sich selbst verstärkenden Prozeß.
3.3.3.10.2 Alternativszenario: Zukünftige Arbeitszeitgestaltung
Damit alle Mitarbeiter/innen nach ihren Möglichkeiten und Fähigkeiten mit ihrer Arbeit einen
Beitrag zum Ganzen leisten können, werden wir auch Abschied nehmen müssen vom alten Modell
des Vollzeitarbeitsplatzes. Immer mehr Menschen werden zeitweise an bestimmten Tages-,
Monats- oder Lebensabschnitten ihr individuelles Know-how in den Betrieb oder der Verwaltung
einbringen. Zu anderen Zeiten werden sie anderen wichtigen Beschäftigungen nachgehen.
Realisierungsmöglichkeiten für eine Neuschaffung von Arbeitsplätzen und einen wirkungsvoller
Abbau der Massenarbeitslosigkeit wären mit diesem einschneidenden arbeitsmarkt- und
tarifpolitischen Instrumentarium einer Flexibilisierung des alten starren Arbeitszeitgefüges denkbar.
4. Ein Exkurs in die Selbstverwaltungsgarantie der Kommunen und die Auswirkung der
aktuellen kommunalen Finanzsituation
Nach dem Grundgesetz (GG) muß den Gemeinden das Recht gewährleistet werden, alle
Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu
- 197 -
regeln (Art. 28 II, S. 1 GG). Eigenverantwortlich heißt hierbei, daß die Gemeinden selbst
bestimmen können, ob und wie sie regeln. Wer in der Gemeinde regelt, entscheidet die
Bevölkerung der Gemeinde bzw. deren gewählte Vertreter in den politischen Vertretungsorganen.
Der rechtliche Status der Gemeinde läßt sich ganz konkret daran messen, welche Rechte die
Gemeinde gegenüber den anderen repräsentativ-demokratischen Ebenen hat (im Falle der
Kommunen im Landkreis Helmstedt: Gemeinde, Samtgemeinde, Kreis, Land, Bund).
Die Gemeinde hat bezüglich ihrer örtlichen Angelegenheiten Regelungs- und Planungshoheit,
sofern die Angelegenheit nicht aufgrund von Gesetzen auf andere Ebenen oder andere staatliche
Institutionen übertragen worden ist (Stichwort: Hochzonen von Aufgaben, z. B.: Übertragung der
Aufgabe der Abfallbeseitigung von der Gemeindeebene auf die Landkreisebene) und insofern als
das Bundes- oder Landesgesetz nicht einen Bereich so ausführlich geregelt hat, daß im Rahmen der
Gesetze für die Gemeinde faktisch nichts mehr zu regeln übrig bleibt.
Da die Selbstverwaltung Geld kostet und ein Großteil der Gelder vom Land kommt, besteht hier
eine der wesentlichen Beeinflussungsmöglichkeiten der Gemeinden durch die Länder. Sie können
den Geldhahn u. U. zudrehen und das kann die Gemeinden finanziell schwer treffen, da sie als
Einnahmequellen nur sogenannte Bagatellsteuern (Hunde- und Getränkesteuern) erheben und in
ihrer Höhe festsetzen können, ansonsten werden sie lediglich am Steueraufkommen beteiligt.
Alle anderen Einnahmen sind von Land oder Bund gesetzlich geregelt oder es handelt sich um
zweckgebundene Einnahmen. Zu diesen gehören Gebühren und Entgelte, welche leistungsabhängig
sind. Der Bund und die Länder haben wesentlichen Einfluß auf die drei wichtigsten gemeindlichen
Finanzquellen, als da wären: Realsteuern, Anteil am Einkommenssteueraufkommen und Anteil an
der Verbundquote des Landes. Bund und Länder können desweiteren über Gesetzesänderungen den
Geldstrom an die Gemeinden vermindern. Dies ist wohl eine nicht direkt offensichtliche, den
Kennern der Materie mittlerweile aber eine sehr vertraute Beschneidung des kommunalen
Selbstverwaltungsrechts. Da die Kommunen weiterhin die ihnen von Bund und Ländern auferlegten
Aufgaben erfüllen müssen, wodurch für die eigentlichen Selbstverwaltungsausgaben immer
weniger Geld übrig bleibt, müssen sie sich z. T. hoch verschulden, um gewisse, für den Standort
wichtige Investitionen noch leisten zu können.
Wenn man darüber nachdenkt, daß das staatliche Gemeinwesen zum überwiegenden Teil in den
vielen Städten, Kreisen bis hin zu den kleinen Gemeinden stattfindet und bewahrt wird, so könnte
man eine solche Beschneidung der finanziellen Mittel der Kommunen als kurzsichtig und
bestandsschädigend interpretieren.
Da durch die Erhöhung der steuerlichen Freibeträge für Klein- und Mittelbetriebe eine
Verschonung von der Gewerbesteuer eintritt, bleiben nur noch die Großunternehmen übrig, die
durch ihre Unternehmenspolitik einen ganz erheblichen Einfluß auf die Kommunalpolitik ausüben
können. Durch solche fiskalischen Regelungen profitieren die Gemeinden sehr unterschiedlich, je
nachdem ob sie Standort eines Großunternehmens sind oder nicht. Da die Gewerbesteuer zudem
von Konjunkturschwankungen und der Wirtschaftspolitik des Bundes und der Länder abhängig ist,
ist sie für eine langfristige Planung von Gemeindeprojekten kaum mehr geeignet.
Von diesen Schwankungen etwas weniger beeinflußt ist der Anteil der Gemeinden an der Einkommenssteuer, wobei die Gemeinden bis heute warten, daß sie ein eigenes Hebesatzrecht bezüglich
des Einkommenssteueranteils bekommen. Doch auch wenn dies nicht erfüllt ist, so steht doch außer
Frage, daß der gemeindliche Einkommenssteueranteil relativ unabhängig von Konjunkturschwankungen ist und somit eine planbare Größe im kommunalen Finanzhaushalt darstellt. In den
letzten Jahren ergaben sich bei der Verteilung der Einkommenssteueranteile jedoch insofern
Probleme, als die Umlandgemeinden von großen Städten aufgrund des Wohnortprinzips eine
höheres Aufkommen erhielten als die Städte selbst.
So ist der Gedanke des Finanzausgleichs wieder stärker in den Vordergrund des Interesses gerückt.
Prinzipiell soll bei dem neuerlichen Finanzausgleich so vorgegangen werden, daß das gesamte
Steueraufkommen in einen Topf gegeben und nach einem neuen Schlüssel verteilt wird. Über den
Finanzausgleich wird das Aufkommen an den Gemeinschaftssteuern (Umsatzsteuer,
Köperschaftssteuer und Einkommenssteuer abzüglich des Gemeindeanteils) zwischen Bund,
Ländern und Gemeinden aufgeteilt. Dieses geschieht folgendermaßen:
- 198 -
- Bundesfinanzausgleich (zwischen Bund und Ländern): Der Anteil von Bund und Ländern am
Auf- kommen der Umsatzsteuer ist gesetzlich geregelt. Gleiches gilt für das Aufkommen an
Einkommens- und Körperschaftssteuer, die jeweils zur Hälfte an Bund und Länder verteilt
werden;
- Länderfinanzausgleich (zwischen den Ländern): hier wird das unterschiedlich hohe
Steueraufkommen der Länder durch Umverteilung angeglichen, da sich sehr unterschiedliche,
z.B. von der Wirtschaftskraft und Höhe der Arbeitslosenquote abhängige Auszahlungssummen
ergeben;
- Kommunaler Finanzausgleich (zwischen Land und Gemeinden): die Gemeinden erhalten hier
einen Anteil des Geldes, welches dem Land am Gemeinschaftssteueraufkommen zusteht. Somit
hängen die Gemeinen am Tropf, den das Land öffnen oder schließen kann, da alleine das Land die
Höhe der Zuweisung bestimmt.
Es ist durchaus der Fall, daß der Finanzhaushalt vieler Städte, Landkreise und Gemeinden völlig
eingemauert wird zwischen Personalausgaben, Zinsen und Sozialausgaben. In einer solchen
Situation ist es auch verständlich, daß sich die Kommunen gegen eine Finanzierung zusätzlicher
Einrichtungen (Frauenbeauftragte, Kindergartenplätze) zur Wehr setzen und darauf verweisen, daß
dafür dann auch Gelder vom Staat zur Verfügung gestellt werden müssen. Es kann vielen
Kommunen momentan durchaus widerfahren, daß sie eigene Projekte streichen müssen, um diese
zusätzlichen Aufgaben zu finanzieren.
Da die Städte und Gemeinden dazu verpflichtet sind, die Auftragsangelegenheiten und
Pflichtaufgaben zu erfüllen, müßte die Finanzausstattung an die Aufgabenstruktur gekoppelt
werden und dazu wäre eine Änderung des GG insofern von Nöten, als die Städte und Gemeinden
bei der sie betreffenden Gesetzgebung mitbestimmen und -entscheiden können. Ob sie sich dann
gegen die politische Übermacht von Bund und Land durchsetzen können, ist eine andere Frage,
sicher wäre dann jedoch eine offenere Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen
demokratisch legitimierten Ebenen (nach: Franke, 1993, AKP 1/1993)gegeben.
4.1 Die kommunale Finanzsituation des Landkreises Helmstedt
Die Gemeinden finanzieren ihre Aufgaben vorwiegend aus Steuereinnahmen der Realsteuern und
sonstigen Gemeindesteuern, aus dem Gemeindeanteil an der Lohn- und Einkommenssteuer und aus
Finanzzuweisungen von Bund und Land. Bei den Finanzzuweisungen ist zwischen Schlüssel- und
Zweckzuweisungen zu unterscheiden. Die Schlüsselzuweisungen werden den Gemeinden als
allgemeine Deckungsmittel zur Verfügung gestellt, während mit den Zweckzuweisungen ganz
bestimmte Maßnahmen bezuschußt werden, wie z. B. die Maßnahmen nach der
Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der regionalen Wirtschaft (GRW, Art. 91 a Abs. 1 Nr. 2
GG).
Im Gemeindehaushaltsrecht gilt das Gesamtdeckungsprinzip, was bedeutet, daß die Summe der
Einnahmen, von den Zweckzuweisungen einmal abgesehen, in ihrer Gesamtheit dazu dienen, die
Aufgaben des eigenen wie auch des übertragenen Wirkungskreises zu finanzieren.
Den Grundsteuern kommt bei einigen Steuerungs- und Planungsvorgängen vor allem zukünftig eine
Schlüsselrolle zu. So kann der fehlende Anreiz, ”untergenutzte” Grundstücke umzuwidmen und
intensiver zu nutzen durch eine Reform und Erhöhung der Grundsteuer ersetzt werden und zwar,
wenn das gegenwärtig existierende Ertragswertprinzip geändert wird. Die kommunalpolitisch sehr
„unpopuläre“ Erhöhung der Grundsteuern ist Sache der Kommunalparlamente und wird bis dato
nach Möglichkeit vermieden. In den letzten Jahren ist deshalb der Realwert der Grundsteuer
gemessen am Steueraufkommen der Gemeinden ständig gesunken. Eine Neubewertung zu
Verkehrswerten und eine ständige Anpassung der Bewertung bei gleichzeitiger Erhöhung der
Grundsteuer könnte diesem Zustand ein Ende setzen. Die Grundsteuer sollte so viel Einnahmen
einbringen, daß daraus alle öffentlichen bodenbezogenen Leistungen - einschließlich der
Altlastensanierung - finanziert werden können. Außerdem könnte sie verhindern, daß der
Produktionsfaktor Boden als Vermögensaufbewahrungsmittel genutzt werden kann.
- 199 -
So gilt z.B. in Japan seit dem 1.1.1992, ausgehend von außergewöhnlich steigenden Bodenpreisen
bei eher wachsenden Hortungsflächen eine nationale Steuer auf das Halten und Horten von
Grundstücken. Sie beträgt nur 0.2% des Grundstückswertes und wird nach Ablauf eines Jahres auf
0.3% erhöht, wobei Häuser und Mietwohnungen ausgenommen sind. Die Bemessungsgrundlage ist
der Bodenwert. Daneben wird von den Gemeinden eine spezielle Steuer auf das Halten von
Grundstücken und von ungenutzten Grundstücken erhoben. Die Gemeinden haben dabei das Recht,
diese "untergenutzten" Gebiete selbst festzulegen. Außerdem erheben sie eine Grundsteuer in Höhe
von 1.4% des Bodenwertes.
Die Gewerbesteuer ist ein wichtiger Indikator zur wirtschaftlichen Entwicklung der
gewerbesteuerpflichtigen Betriebe in einer Region. Die Städte und Gemeinden können die
Hebesätze in eigener Verantwortlichkeit festsetzen, wobei ein hohes Niveau der Hebesätze zwar
höhere Steuer-einnahmen für die Kommunen bedeutet, zur gleichen Zeit aber durchaus dafür sorgen
kann, daß die Ansiedlungswilligkeit von Betrieben nachläßt und Abwanderungstendenzen auftreten
können.
4.2 Steueraufkommen und -einnahmen (s.a. Tab. IV 1-1c und IV 2-2a)
Im Landkreis Helmstedt sind 1990 ca. 22% der Einnahmen des Gesamthaushaltes aus
Steuereinnahmen eingenommen worden (s. Tab. IV 1-1c).
Im Landkreis Helmstedt beliefen sich die Steuereinnahmen je Einwohner auf knapp 960,-DM,
womit der Landkreis knapp unter dem Bundesschnitt lag. Von diesem Betrag entfielen ca. 582,-DM
auf den Gemeindeanteil an der Einkommenssteuer und 272,-DM (netto nach Abzug der
Gewerbesteuerumlage), ca. 15,-DM auf die Grundsteuer A und 90,80 DM auf die Grundsteuer B (
s. Tab IV. 2 ).
Bei den Gewerbesteuern ist aus Tabelle IV 2-2a deutlich ersichtlich, daß es starke regionale
Unterschiede gibt. Führend ist die Stadt Wolfsburg, gefolgt von den Städten Salzgitter und
Braunschweig, die als Standorte kapitalstarker Industrien relativ hohe Gewerbesteuereinnahmen
erzielen. Das geringste Aufkommen weist diesbezüglich der Landkreis Gifhorn auf. Der Landkreis
Helmstedt liegt wie auch die anderen Landkreise des Großraumes Braunschweig deutlich unter dem
Bundesschnitt.
Durch die einschneidende und zum Zeitpunkt der Fertigstellung der Strukturanalyse noch
anhaltende Rezession sind die Gewerbesteuereinnahmen stark gesunken. In der Stadt Wolfsburg
sind 1993 z. B. zweistellige Millionenbeträge ausgeblieben und es muß dort darüber nachgedacht
werden, die Rücklagen vollständig einzusetzen, was ein äußerst riskantes Vorhaben bezüglich der
Finanzsituation der Stadt darstellt (Wolfsburger Allgemeine Zeitung v. 30.10.1992, Wolfsburg
droht schwere Finanzkrise).
Im Landkreis Helmstedt stellt sich die Situation wie folgt dar:
Die Gemeinde Büddenstedt hatte ein Minus von 1.9 Mio. DM bei den Gewerbesteuereinnahmen zu
verkraften, die Stadt Helmstedt sogar ein Minus von 3 Mio. DM und die Stadt Schöningen von
knapp 2 Mio. DM, die Samtgemeinde Nord-Elm von 300.000 DM (Angaben laut
Umlagemeldungen der Kommunen bis zum 3. Quartal 1993). Im Vergleich zum 3.Quartal 1992
ergab sich im Landkreis Helmstedt eine Mindereinnahme aus dem Gewerbesteueraufkommen von
knapp 7.8 Mio. DM.
4.3 Die Gewerbesteuerhebesätze (s.a. Tab. IV 3)
Bei den Gewerbesteuerhebesätzen ergeben sich selbst im Landkreis noch deutlich Unterschiede
zwischen den Städten und den Samtgemeinden. Im Landkreisdurchschnitt lag der Gewerbesteuerhebesatz 1991 bei 318% vom Gewerbesteuermeßbetrag nach dem Gewerbeertrag und
- 200 -
Gewerbekapital. 1993 wiesen die Städte Helmstedt und Schöningen mit 340% die höchsten
Gewerbesteuerhebesätze im Landkreisgebiet auf. Den niedrigsten Wert wiesen die Samtgemeinden
Heeseberg und Velpke mit 280% auf.
1991 lag der Landkreis Helmstedt zusammen mit dem Landkreis Gifhorn ca. 8% unterhalb des
Landesschnitts. Während der Landkreis Gifhorn seinen Gewerbesteuerhebesatz seit Beginn der
80er Jahre gesenkt hat, blieb die Stadt Wolfsburg bei 360%, die Landkreise Helmstedt und Peine
haben ihre Gewerbesteuerhebsätze nur unwesentlich erhöht.
4.4 Die Gewerbesteueraufbringungskraft (s.a. Tab.IV 4)
Wenn der Grundbetrag der Gewerbesteuern mit dem landesdurchschnittlichen Hebesatz bewertet
wird, so ergibt sich die Gewerbesteueraufbringungskraft je Einwohner. Dieser Indikator macht die
unterschiedliche Ergiebigkeit dieser Steuer deutlich. Dabei ist für den Landkreis Helmstedt zu
erkennen, daß er ca. 30% unter dem Landesschnitt für Niedersachsen liegt, der Landkreis Gifhorn
liegt sogar mit über 50% unter dem Bundesschnitt. Unter den Landkreisen im Großraum
Braunschweig liegt der Landkreis Helmstedt 1991 noch an der Spitze. 1989 lag der Landkreis
Helmstedt sogar 17% über dem Landesschnitt, wogegen der Landkreis Gifhorn gegenüber 1980
starke Rückgänge zu verzeichnen hatte.
4.5 Der Gemeindeanteil an der Einkommenssteuer (s.a. Tab.IV 5)
Hier liegt der Landkreis Helmstedt 15% über dem Landesschnitt. Der zunehmende Anteil an der
Einkommenssteuerbeteiligung spielt für den kommunalen Haushalt eine wesentliche Rolle und
sollte deshalb auch bei den Planungen im Kreisgebiet, vor allem bezüglich des Wohn- und
Baulandes besonders berücksichtigt werden. Während die Städte eine abnehmende Tendenz zu
verzeichnen haben, ist bei den Landkreisen im Großraum Braunschweig seit den 80er Jahren eine
steigende Tendenz festzustellen. Besonders beim Landkreis Gifhorn ist ein deutlicher Anstieg von
10% unter dem Landesschnitt (1980) auf 15% über dem Landesschnitt (1991) festzustellen, was
wohl nicht zuletzt auf einen höheren Bevölkerungsanteil mit hohem Einkommen zurückzuführen
ist, der auf die verstärkten Bemühungen der kreisangehörigen Kommunen in Sachen
"Wohnbevölkerung" hinweist.
4.6 Die Steuereinnahmekraft (s.a. Tab.IV 6)
Lag die Steuereinnahmekraft im Landkreis Helmstedt 1980 noch bei 96% des Landesschnitts, ist sie
1991 auf 93% abgesunken und betrug zu diesem Zeitpunkt 997 DM je Einwohner. 1993 liegt sie
laut Angaben der Kämmerei des Landkreises Helmstedt bei 968 DM je Einwohner, ist also bereits
wieder abgesunken. Auch in dieser Tabelle wird die Wirkung der Grenzöffnung für den Landkreis
Helmstedt offensichtlich. Im Jahr der Grenzöffnung lag die Steuereinnahmekraft je Einwohner mit
19% deutlich über dem Landesschnitt für Niedersachsen. Das läßt ahnen, welche großen Umsätze
im Landkreis Helmstedt aufgrund der Grenzöffnung getätigt wurden. Damals wurden ca. 30 Mio.
DM an "Geschenken" für die DDR-Bevölkerung gezahlt, wovon ein großer Teil direkt wieder in die
heimische Wirtschaft abgeflossen sein dürfte. Eine solche Situation wird sich wahrscheinlich nie
wieder für einen deutschen Standort ergeben.
Der Landkreis Helmstedt steht im regionalen Vergleich mit im vorderen Drittel. Dies ergibt sich
u.a. aus der Standortsituation für den Braunkohletagebau und die Nähe zu Wolfsburg ergibt. Der
Landkreis Helmstedt steht bezüglich der Steuereinnahmekraft auch im Vergleich zu anderen
niedersächsischen Kommunen gut da.
4.7 Die Ausgabensituation
- 201 -
Der Landkreis Helmstedt ist, wie auch andere Kommunen, durch die staatlichen Sparmaßnahmen
und finanziellen Verlagerungen in erhebliche finanzielle Engpässe geraten. Vor allem die
Erhöhungen im Sozialbereich machen dabei den größten Teil der zusätzlichen finanziellen
Belastungen aus.
Durch die Einsparungsabsichten des Bundes sind diverse Kommunen bereits zu der Entscheidung
gekommen, Verfassungsklage gegen das von Bonn geschnürte Sparpaket einzuleiten. Die
Sparmaßnahmen können insbesondere die Nachbarn in Sachsen-Anhalt und die anderen neuen
Bundesländer vor kaum lösbare finanzielle Belastungen stellen. Nach dem Haushaltsplan des
Landkreises Helmstedt schlugen die Ausgaben 1993 für Sozialhilfe mit ca. 36% und die
Personalausgaben mit 24% als Hauptausgabenbereiche des Verwaltungshaushaltes zu Buche. In der
Stadt Helmstedt sind bereits 56% (!) des gesamten Verwaltungshaushaltes für den Bereich
Sozialleistungen vorgesehen.
Im Zuge dieser Sparmaßnahmen wird es zwangsläufig zu einer Erhöhung der Kreisumlage kommen
müssen, da dies traditionell die einzige Möglichkeit des Kreises ist, über höhere Einnahmen zu
verfügen. Damit aber werden die Kommunen zusätzlich belastet und somit letzten Endes der
Bürger. Ob diese Belastung politisch zu tragen sein wird, entscheidet die Zukunft, sicher ist, die
Kommunen werden im Zuge dieser Vorhaben ihre Gebührensätze erhöhen müssen. Höhere
Gebühren sind vor allem in den Bereichen Müll und Abwasser in den nächsten fünf Jahren zu
erwarten.
Um den Kreishaushalt zur Deckung zu bringen wird natürlich über die Höhe der Umlageerhöhung
heftig diskutiert werden. Zur Kreisumlage ist zu sagen, daß der Landkreis Helmstedt bis dato zu
den Landkreisen mit den niedrigsten Kreisumlage-Hebesätzen in Niedersachsen gehörte. Nach 10
Jahren muß nun der Landkreis aufgrund der staatlichen Sparmaßnahmen eine Erhöhung
vornehmen, um seinen Haushalt auszugleichen.
In den kreisangehörigen Kommunen wird die Diskussion um die Kreisumlageerhöhung zu diversen
Haushaltsverschiebungen führen.
Innerhalb der angeschlossenen Kommunen wird u. a. die Kreisumlageerhöhung zu erheblichen
Mehrausgaben im Vermögenshaushalt und entsprechenden Kürzungen im Verwaltungshaushalt
führen. In den Samtgemeinden kann es in der Folge zu höheren Samtgemeindeumlagen kommen, so
daß die Gemeinden wiederum den ”schwarzen Peter” zugeschoben bekommen werden.
Ähnlich wie in der Gemeinde Lehre werden sich die wesentlichen Ursachen für die
Haushaltsengpässe in der
- Erhöhung der Kreisumlage,
- der Erfüllung des Solidarbeitrages,
- der Gewerbesteuerumlage,
- der Erhöhung der Personalausgaben,
- sowie der Reduzierung der Schlüsselzuweisungen
finden lassen.
Es ist demnach damit zu rechnen, daß es in den Kommunen zu spürbaren Veränderungen kommen
wird. So wird versucht, möglichst viele Ausgabenposten zu streichen. Häufig werden, trotz eines
dringenden Personalmangels innerhalb der Verwaltung, freigewordene Stellen nicht oder verzögert
wieder besetzt. Desweiteren werden verwaltungsinterne wie auch -externe Dienstleistungen
herabgefahren, wie Telefonzentralen, Postdienste, Personal und Ausstattung von Frei- und
Hallenbädern u. ä..
1993 bereits wurde zusammengefaßt der Verwaltungshaushalt des Landkreises wie folgt dargestellt:
es gibt keinen nennenswerten Bewegungsspielraum mehr und ein Ausgleich des Verwaltungshaushaltes war nur durch eine Erhöhung der Kreisumlagen zu bewerkstelligen.
- 202 -
Wesentliche Belastungsfaktoren waren:
- die vorgesehene Änderung des Finanzausgleichsgesetzes, die erhebliche Mindereinnahmen und
Verschiebungen von Einnahmen vom Verwaltungshaushalt in den Vermögenshaushalt mit sich
bringt,
- die Belastung bei den Sozialhilfeausgaben, bei denen zukünftig noch erhebliche Steigerungen
erwartet werden,
- die ebenfalls stark zunehmenden Personalausgaben
- die zunehmende Verschuldung, die zukünftig eine Zunahme der Schuldendienstleistungen
bewirken wird.
1993 konnte nur eine Mindestzuführung in Höhe der Kreditbeteiligungen veranschlagt werden und
es mußte eine beträchtliche Geldsumme als Kredit neu aufgenommen werden (Haushaltsplan 1993,
Landkreis Helmstedt).
Für den Haushalt 1994 ergibt sich ein Minus von 6 Mio. DM. Zum Zeitpunkt der Analyse befand
man sich bezüglich der Einsparmöglichkeiten noch in der Erörterungs- und Beschlußphase. Die
enormen Ausgabenbelastungen dieses Haushaltes werden erneut durch die Erhöhungen im Bereich
der Sozialhilfe hervorgerufen, dessen Ausgabenanteil sich 1994 auf 37% beläuft (BZ-Helmstedter
Ausgabe v. 12.11.93).
4.8 Der Schuldenstand
Innerhalb des Landkreises Helmstedt betrug der Schuldenstand je Einwohner am 31.12.92 1112,DM je Einwohner. In der Samtgemeinde Heeseberg belief sich der Schuldenstand je Einwohner auf
bemerkenswerte 53,-DM (!). Den höchsten Schuldenstand je Einwohner hatte die Stadt Schöningen
mit 1613,- DM je Einwohner (Landkreis Helmstedt, 1993). Ende 1993 wird sich die Verschuldung
der Stadt Schöningen u.U. auf 2000 DM/Einwohner belaufen und der Stadthaushalt wird ein Defizit
von 1 Mio. DM aufweisen (BZ-Helmstedter Ausgabe v. 12.11.93). In der Gemeinde Lehre belief
sich der Schuldenstand je Einwohner Ende 1993 auf 1500.-DM/Person. In der Gemeinde
Büddenstedt lag die Pro-Kopf-Verschuldung bei 256 DM/Einwohner und damit im unteren Drittel
der vergleichbaren Gemeinden, wo der Schuldenstand ca. 930 DM/Einwohner ausmacht
(Braunschweiger Zeitung - Helmstedter Ausgabe v. 16.3.1994, Büddenstedts Haushalt wird immer
enger).
Gegenüber 1991 ist eine Erhöhung der Verschuldung je Einwohner im Landkreis aufgetreten. 1991
belief sie sich auf durchschnittlich 1076,-DM je Einwohner) gegenüber 832,- DM im Jahre 1981
(Statistische Berichte Niedersachsen, Kreisfreie Städte und Landkreise in Zahlen 1981 und 1991).
Die sich 1993 abzeichnende Verschuldungssituation wird sich voraussichtlich in den nächsten
Jahren enorm verschärfen und in der Folge zu vielen Auseinandersetzungen zwischen dem
Landkreis und den Kommunen führen, die ja letzten Endes ebenfalls über höhere Einnahmen den
Haushaltsausgleich des Landkreises mitfinanzieren müssen.
Neben den oben genannten Aspekten gibt es noch einen weiteren Bereich, der zur Sorge Anlaß gibt.
Es handelt sich dabei um die explosionsartig gestiegenen Ausgaben des Vermögenshaushaltes für
den Posten "Umschuldung von Krediten". Belief sich dieser Posten 1987 noch auf 2,0%, 1989 sogar
auf nur 1.3%, waren es im Vermögenshaushalt 1992 knapp 26% und im Jahr 1993 bereits 28%. Die
Tilgung von Krediten nahm 1993 einen normalen Wert von 5,7% ein.
Diese Problematik ist ernstzunehmen, denn ein solcher Berg von Schulden belastet die Zukunft des
Landkreises u. U. in erheblicher Weise. Es wird natürlich versucht, jede Art der Neuverschuldung
zu vermeiden, was bei den vorhandenen Pflichtaufgaben der Verwaltung aber einfacher gesagt als
getan ist.
- 203 -
Die Kommunen sind in ihren Entscheidungsfreiheiten so und so schon abhängig genug. Wenn zu
dieser gesetzlichen Abhängigkeit auch noch ein so gefährlicher finanzieller Knebel hinzukommt,
kann das sehr negative Folgen haben und die sich daraus ergebenden finanziellen Zwänge könnten
die weitere Entwicklung der folgenden Generationen stark beeinträchtigen.
- 204 -
5.
Flächennutzung
5.1
Einleitung
Die zur Verfügung stehende Bodenfläche, die mit unterschiedlichen Nutzungen belegt wird, stellt
eine endliche Ressource dar. Wo viele Menschen und Wohn- sowie Gewerbeanlagen in
Ballungszonen und Großstadtregionen zusammendrängen entsteht Flächenknappheit. Infolgedessen
kommt es zur Erhöhung von Bodenpreisen und zu einer intensiven Flächennutzung. Generell aber
mangelt es nicht an bebauungsfähiger Fläche, denn es gibt außerhalb der Verdichtungszonen
Bereiche, in denen ein Überangebot an baulich ungenutzter, meist landwirtschaftlicher Fläche
vorliegt.
1989 betrug die bebaute Fläche in den alten Bundesländern 12% der Gesamtfläche; in der
ehemaligen DDR lag der Anteil ungefähr in derselben Höhe (Datenreport 1992). Mehr als die
Hälfte unserer Fläche dient der Nahrungserzeugung und trotz dieser grundlegenden Funktion sind
aufgrund von starken Bemühungen der EG, die Effektivität der landwirtschaftlichen Produktion
europaweit zu steigern, in den letzten Jahren Millionen Hektar landwirtschaftlicher Flächen
stillgelegt worden. Diese Stillegung soll vorwiegend in Gebieten mit schlechten
Produktionsvoraussetzungen erfolgen.
Es kann insgesamt also nicht von einer allgemeinen Flächenknappheit gesprochen werden, denn der
Mangel an Flächen besteht lediglich dort, wo die Menschen zu dicht siedeln und sich ihre
Nutzungsanforderungen häufen und überschneiden (Moewes, 1980).
In einem dicht besiedelten Industrieland wie der Bundesrepublik Deutschland spielt der Boden als
wichtiges, besonders Gut, wie oben angedeutet, eine wesentliche Rolle. Die Bodenfläche ist nicht
vermehrbar (wohl aber in mehrschichtiger Nutzung die vorhandene Fläche konzentrierter bzw.
vielfältiger zu nutzen). Betrachtet man die langfristige Entwicklung der Flächennutzung in den
alten Bundesländern, so ist im allgemeinen eine Abnahme der landwirtschaftlichen Fläche und eine
Zunahme der Gebäude-, Frei- und Verkehrsflächen zu verzeichnen.
Die unterschiedlichen Aktivitäten des Menschen im Raum und die verschiedenartigen
Flächennutzungsansprüche begründen das Verlangen nach einer übergreifenden Koordination
derselben. Sollte eine solche Koordination nicht vorliegen bzw. wirksam greifen, so dürfte es über
kurz oder lang zu einer Verdrängung weniger konkurrenzfähiger - z.B. weil weniger gut finanziell
abgesicherter - Flächennutzungsansprüche kommen, ungeachtet ihrer tatsächlichen Bedeutung für
die Wohlfahrt und Gesundheit der Menschen (Moewes, 1981).
Die Flächennutzung stellt also einen wesentlichen regionalplanerischen Arbeitsbereich dar. Die
bestehenden Leitbilder haben hierbei zu den bekannten Agglomerationen und den dazugehörigen
Entlastungsversuchen (oftmals fällt in diesem Zusammenhang das Wort: ”Zersiedelung”) geführt.
Außerdem leiten sie die Verteilung und Bewertung der verschiedenen Flächennutzungsansprüche
an.
Die zunehmende Verschärfung der Verdichtungsproblematik läßt die Frage nach neuen Leitbildern
aufkommen, die eine weniger stark verdichtete Siedlungsstruktur anbieten können.
5.2
Die tatsächliche Flächennutzung des Landkreises Helmstedt im regionalen Vergleich
und unter Berücksichtigung bestimmter Flächennutzungskategorien
5.2.1 Gebäude- und Freiflächen
Der Anteil der Gebäude- und Freiflächen beträgt im Landkreis Helmstedt 5.6%. Im Vergleich dazu
sind es beim Landkreis Gifhorn 4.1% und beim Landkreis Wolfenbüttel 4.8%. Betrachtet man die
Anteile der verschiedenen Nutzungen in der Kategorie Gebäude- und Freiflächen (Tab.V 1) weist
der Landkreis Helmstedt im angegebenen Landkreisvergleich in der Rubrik Gebäude- und
- 205 -
Freiflächen "Wohnen" den geringsten Anteil mit 49.3% auf; im Vergleich dazu haben die
Landkreise Gifhorn, Peine und Wolfenbüttel jeweils Anteile, die über der 55%-Marke liegen!
Gebäude und Freiflächen für Handel und Wirtschaft sind im Landkreis Helmstedt mit anteiligen
1.4% noch deutlich unter dem Landesschnitt und nur der Landkreis Wolfenbüttel hat einen
geringeren Wert aufzuweisen. Der Landkreis Gifhorn weist mit 3.1% in dieser Kategorie den
höchsten Wert im angegeben Vergleich auf. Die Flächen für Gewerbe und Industrie sind im
Landkreis anteilig mit 27.6% an der Gesamtfläche Gebäude- und Freifläche angegeben, was nahezu
das Doppelte des niedersächsischen Landesdurchschnitts ausmacht. Den geringsten Anteil weist der
Landkreis Gifhorn mit 10.2% auf.
Aus diesen Daten ist bereits erkennbar, daß der Landkreis Helmstedt eine altindustrielle Struktur
und in den Bereichen Wohnversorgung und entsprechende Dienstleistungen ein erhebliches Defizit
aufweist.
In Bezug auf die Rubrik Gebäude- und Freiflächen "Erholung" weist der Landkreis Helmstedt im
regionalen Vergleich ein weiteres Defizit auf. Es ist dies die relativ geringe und magere Ausstattung
mit Erholungsflächen. Diese sind nicht nur für die Wohnbevölkerung wichtig, sondern stellen U. U.
desweiteren auch ein attraktives Fremdenverkehrsangebot dar. Der Landkreis Gifhorn steht im
regionalen Vergleich mit anteiligen 3.3% an der gesamten Gebäude- und Freifläche weit vorne an.
Gegenüber dem Landkreis Helmstedt ist das ein sechsmal so hoher Wert, dreimal so viel wie der
niedersächsische Landesdurchschnitt.
Der Landkreis Gifhorn verfügt zudem über einen vergleichsweise hohen Anteil an Freiflächen, also
Flächen im Ortsbereich, die noch nicht baulich oder anderweitig nachhaltig genutzt werden (Anteile
der Landkreise Gifhorn und Peine je 2.2% an Gesamtgebäude- und Freifläche).
5.2.2 Betriebsflächen
In der Kategorie Betriebsflächen, also unbebaute Flächen, die vorherrschend gewerblich, industriell
oder für Zwecke der Ver- und Entsorgung genutzt werden, wird deutlich, daß im Landkreis
Helmstedt der Bergbau ansässig ist (BF-Abbauland, anteilig ca. 1%). Damit läßt sich wohl auch der
relativ hohe Wert (74 Hektar) für die Rubrik "BF-unbenutzbar" erklären, also Flächen mit
Betriebsanlagen, die durch besondere Umstände unbenutzbar geworden sind (z.B. Bruchfelder,
verfallene Betriebsanlagen, Trümmerfelder). Es ist in diesem Zusammenhang zu klären, um welche
Flächen es sich genau handelt und inwiefern sie nicht für Naturschutz- und Erholungszwecke oder
als Deponierungsflächen für bestimmte Abfallgruppen zu nutzen sind.
Das Verhältnis zwischen den Größen Abbauland und BF-Unbenutzbar ist beim Landkreis Gifhorn
wesentlich günstiger als beim Landkreis Helmstedt. Es ist hier zu klären, warum dem so ist. Sollte
es im Landkreis Gifhorn verstanden worden sein, die Abbauflächen einer weiteren Nutzung
zuzuführen, gar für den Fremdenverkehr und die Naherholung?!
5.2.3
Erholungsflächen
In der Kategorie Erholungsflächen, also unbebauten Flächen, die vorherrschend dem Sport, der
Erholung oder dazu dienen, Tiere und Pflanzen zu zeigen, weist der Landkreis Helmstedt, wie auch
die anderen Landkreise relativ geringe Werte (zwischen 0.5 und 1% an der Gesamtfläche) auf und
liegen damit weit unter dem niedersächsischen Landesdurchschnitt, der mit über 10% angegeben
ist.
Im Landkreis Helmstedt sind knapp 60% dieser Erholungsflächen mit Grünanlagen belegt, was
einen Wert knapp unter dem niedersächsischen Landesschnitt bedeutet.
Der Landkreis Gifhorn hat 18% der Erholungsfläche mit Campingplätzen belegt, was einen
überdurchschnittlich hohen Wert darstellt und die Bemühungen dieses Landkreises im (Nah)-
- 206 -
Erholungsbereich ein wenig zu reflektieren vermag. Dafür ist zwar der Wert für Grünanlagen im
Vergleich sehr niedrig, doch der für Campingplätze sehr hoch.
Der niedersächsische Landesdurchschnitt liegt diesbezüglich bei unter 5%, der des
Regierungsbezirkes Braunschweig bei ca. 4%. Der Landkreis Helmstedt weist einen Anteil von
knapp 1% auf. Hier eröffnetet sich dem Landkreis Helmstedt u.U. ein Potential (s.u.), vor allem
wenn die zu rekultivierenden Flächen nicht nur als Müllplätze verwendet werden.
5.2.4
Verkehrsflächen
In der Kategorie Verkehrsflächen weisen die Landkreise Gifhorn (4.0%), Wolfenbüttel (4.4%) und
Helmstedt (4.6%) die geringsten Anteile auf. Im Landesdurchschnitt für Niedersachsen betragen sie
ca. 4.7%. Die "Verkehrsregion" Regierungsbezirk Braunschweig weist einen Anteil von 5.1% auf.
Bei der Verteilung der Anteile auf die jeweiligen Rubriken, wie z.B. Straße und Wege, fällt auf, daß
der Landkreis Gifhorn einen sehr hohen Anteil an Wegen aufweist (52.5%), was ihn für die
Naherholung und das Wohnen durchaus attraktiver erscheinen läßt. In den Städten liegt der Anteil
der Verkehrsflächen naturgemäß höher (stets über 50%).
5.3
Die ökologisch relevanten Flächenutzungen im Landkreis Helmstedt
5.3.1
Landwirtschafts- und Waldflächen
In der Kategorie Landwirtschaftsfläche hat der Landkreis Helmstedt aufgrund seiner
geographischen Lokalisation in einem Teilbereich der Börde mit hervorragenden Bodenwerten
einen hohen landwirtschaftlichen Flächenanteil aufzuweisen (62.5%) und liegt damit knapp
unterhalb des niedersächsischen Landesschnitts (63.3%) (s. Tab. V 2-2g). Im Vergleich zu den
Landkreisen Wolfenbüttel (70.0%) und Peine (73.5%) sind die Anteile der landwirtschaftlichen
Nutzflächen jedoch geringer.
Im Landkreis Helmstedt ist ein relativ hoher Anteil guter bis sehr guter Böden vorhanden, vor allem
südlich von der Stadt Helmstedt im Gebiet der Samtgemeinde Heeseberg. Dort liegt mit 89.6% der
höchste Landwirtschaftsflächenanteil im Landkreis Helmstedt vor. Von da aus geht es westwärts in
die Schöppenstedter Mulde (LK Wolfenbüttel), die ebenfalls hervorragende Bodenwerte
aufzuweisen hat. Der relativ geringe Anteil an landwirtschaftlicher Fläche im Landkreis Gifhorn selbst die Stadt Helmstedt hat einen größeren Anteil (60.7%)- erklärt sich aus den
landwirtschaftlichen Problemgebieten. Moore und Heidegebiete sind im Landkreis Gifhorn
aufgrund der geologischen Vorbedingungen relativ häufiger und stellen bekanntermaßen
landwirtschaftliche Ungunstgebiete dar. Der Landkreis Gifhorn liegt im ehemaligen Sandergebiet
von Gletscherzungen (heutige Heidelandschaften) und weist somit großflächig Sandböden mit
schlechten Fertilitätsgraden auf, die nicht zuletzt auf das Fehlen der Fluglößauflagen zurückgehen.
Das zeigt sich auch bei der differenzierteren Auflistung der verschiedenen Nutzungsarten. In den
Gebieten mit hohen Bodenwerten (Landkreise Helmstedt, Wolfenbüttel und Peine) liegen die Werte
für die Anteile von Ackerland an der Gesamtlandwirtschaftsfläche alle über 80% und damit
deutlich über dem Landesdurchschnitt für Niedersachsen mit 55.9%. Der Landkreis Gifhorn weist
einen fast 30%-igen Anteil Grünland auf, wohingegen die Vergleichslandkreise teilweise sogar um
5% (Landkreis Wolfenbüttel) liegen. Hier zeigen sich auch die schon angesprochenen, im Vergleich
zu den anderen Landkreisen großen landwirtschaftlichen Problemgebiete im Landkreis Gifhorn.
Der Anteil der Moor- und Heideflächen ist mit knapp 4% der Gesamtlandwirtschaftsfläche der
höchste im regionalen Vergleich.
Auch der Anteil an landwirtschaftlichen Brachflächen ist der höchste im hier verwendeten
Vergleich, was auf gehäufte Betriebs- bzw.-. Flächenaufgaben bzw. -stillegungen schließen läßt.
Was des Landwirts Leid ist, kann des Fremdenverkehrswirts Freud sein. Der hohe Anteil an
Grünland, Moor- und Heideflächen sowie an landwirtschaftlichem Brachland ist für
Naherholungssuchende, aber auch Ferntouristen ein wichtiges Rekreationspotential, von dem die
- 207 -
landwirtschaftlich intensiv genutzten Landkreisgebiete von Helmstedt, Wolfenbüttel und Peine
vergleichsweise nur sehr wenig aufzuweisen haben. Über weite Bereiche kann man dort sogar von
einer Kultursteppe sprechen, die durch großflächig angelegte, industrielle Feldnutzungen
gekennzeichnet ist und entsprechend ökologisch ausgeräumt ist. Sie ist somit auch kein Potential
für den Fremdenverkehr.
Der Waldanteil im Landkreis Helmstedt liegt vergleichsweise hoch (mit 23.8% liegt er über dem
niedersächsischen Landesdurchschnitt, der 20.7% beträgt). Der Landkreis Gifhorn liegt mit 31.7%
deutlich darüber, was nicht zuletzt an den geologischen Gegebenheiten im Landkreis Gifhorn liegt.
Ökologisch und auch für den Fremdenverkehr interessant ist die Aufteilung der Waldgebiete nach
Waldarten, wie Laub-, Nadel- und Mischwald. In den Regionen mit besseren Böden zeigt sich auch
ein über 70%-iger Anteil von Laub- und Mischwald, der durch seine mehrstöckige Struktur und
hohe Artendiversität vielfältiger ist. Auf den sandigen und anmoorigen Böden in einigen Bereichen
des Landkreises Gifhorn gedeihen ausschließlich Nadelbäume. Hier ist die Anteilsverteilung
zwischen Laub,-Misch- und Nadelwald genau umgekehrt. Über 70% des Waldbestandes stellen
Nadelwald dar, der auch seinen eigenen Reiz hat, doch wesentlich artenärmer und damit eintöniger
ist.
Im Landkreis Helmstedt zeigt sich an der Verteilung der Waldarten deutlich die "Grenzlage"
zwischen den fruchtbaren Lößböden im Süden und den sandigeren, lößarmen Böden nördlich der
B1. Der Nadelwaldanteil beträgt im Landkreis Helmstedt ca. 13%. Im Landkreis Gifhorn dagegen
über 70%.
5.3.2 Wasserflächen
Ein weiterer wichtiger ökologischer Indikator zur Bewertung von Landschaftspotentialen ist neben
der land- und der forstwirtschaftlichen Fläche der Wasseranteil in der Landschaft. Er betrug im
Landkreis Helmstedt 1.1%, was im regionalen Vergleich einen Platz im unteren Drittel bedeutet. Im
Regierungsbezirk Braunschweig lag der Anteil für Wasserflächen bei 1.4% (1989). Der
Landesschnitt für Niedersachsen lag bei 2%, also etwas über dem Bundesschnitt von 1.8%.
Im Bereich des Landkreises Helmstedt besteht ein spürbarer Mangel an für die Erholung geeigneten
Wasserflächen (RROP 1991). Der Landkreis hat nur kleinere Wasserläufe (Schunter, Lutter,
Lappau u.e.m.), dafür aber ursprünglich viele ausgedehnte Feuchtbereiche (feuchte Wiesen, Moore,
Quellbereiche, Sümpfe u.ä.) aufzuweisen, die durch die Meliorationsmaßnahmen der
Landwirtschaft auf den sehr guten Böden (sind sie erst einmal drainiert) stark vermindert worden
sind.
Betrachtet man die Zusammensetzung der Anteile an den verschiedenen Wasserflächenarten, so
ergibt sich ein differenzierteres Bild. Den Großteil der Wasserflächen stellen im Landkreis
Helmstedt Gräben dar, was ein Ergebnis der intensiven Meliorationsmaßnahmen für die
Landwirtschaft ist. Auch an Flußufern oder erholungsmäßig attraktiven Seeufern und Teichen hat
der Landkreis Helmstedt im Vergleich zum Landkreis Gifhorn relativ wenig zu bieten. Wären die
Meliorationsmaßnahmen nicht durchgeführt worden, so wäre der Anteil an Sumpfland im
Landkreis Helmstedt wahrscheinlich noch wesentlich höher (vor allem im Bereich des Großen
Bruchs). Dort sind erst aufgrund der Entwässerungsmaßnahmen sehr gute Kulturböden entstanden.
Wie bereits angedeutet, ist aus dem Aspekt der Förderung des Fremdenverkehrs heraus die
Schaffung von Wasserflächen sinnvoll, obwohl auch hier planerisch festzulegen ist, wo
Aktivitätsbereiche für den Menschen und wo Ausgleichs- und Rückzugsräume für die Natur liegen,
damit es nicht zu den unerwünschten Konfliktsituationen zwischen unterschiedlichen, einander zum
Teil diametral entgegengesetzten Flächennutzungsansprüchen kommt. Eine solchermaßen
ungeregelte Freizeitnutzung, wie sie sich zeit- und stellenweise an den Velpker Seen in der Velpker
Schweiz zeigt, kann stark zu Lasten der ökologischen Qualität gehen.
In den nächsten 30 Jahren wird der Landkreis Helmstedt wahrscheinlich einen relativ starken
Zuwachs an Wasserflächen erhalten. Dies wird im Zuge der Rekultivierungsmaßnahmen der BKB
im Süden der Stadt Helmstedt geschehen, wo in Richtung Schöningen aufgrund gewaltiger
- 208 -
Massendefizite zwei größere Seen entstehen sollen. Neben diesen größeren Wasserflächen werden
auf dem Rekultivierungsgelände noch weitere kleinere Wasserflächen zu den bereits existierenden
dazukommen. Damit könnte sich der Bereich zwischen dem Grundzentrum Schöningen über die
Industriegemeinde Büddenstedt zum Mittelzentrum Helmstedt in einen nicht nur naturräumlich
sondern auch fremdenverkehrsmäßig und die Wohnqualität steigernden Landschaftsbereich
entwickeln. Dies kann sich jedoch nach neueren Planungen seitens des Unternehmens noch ändern,
vor allem, wenn man gedenkt, die Massendefizite mit Müll verschiedenster Herkunft in gesonderten
Deponien auszugleichen.
Der Landkreis Gifhorn und Peine stehen bezüglich fremdenverkehrlich zu nutzenden
Wasserflächen dank natürlicher Vorgaben besser da. Es sei deshalb hier noch einmal darauf
hingewiesen, daß das Rekultivierungsgelände der BKB in Teilstücken bei entsprechender
Ausstattung ein sehr gutes Fremdenverkehrspotential darstellt. Leider wird die Entstehung der Seen
aus der Sicht von 1993 noch viel zu lange dauern. Trotzdem würde eine vorausschauende Planung
und frühzeitige Anfreundung mit einer fremdenverkehrlichen Naherholungsnutzung nicht zum
Nachteil des Bereiches zwischen Helmstedt und Schöningen sein, vor allem, wenn man die
geographische Lage des Geländes etwa auf der Mitte zwischen Magdeburg und Braunschweig an
einer der wichtigsten europäischen Transport- und Kommuniaktionsachsen berücksichtigt.
5.4
Flächen anderer Nutzung
In der Kategorie Flächen anderer Nutzung fällt der hohe Anteil von Übungsgelände im Landkreis
Gifhorn auf, was zum einen durch das bekannte Versuchsgelände von Volkswagen und zum
anderen von militärischen Übungsflächen herrühren dürfte. Im Landkreis Wolfenbüttel ist der hohe
Anteil von
Übungsgelände ebenfalls auf die militärische Nutzung (hier der ehemalig ansässigen englischen
Streitmacht) zurückzuführen.
Der Landkreis Helmstedt weist einen relativ hohen Anteil von Schutzflächen auf, also Flächen,
deren Hauptzweck der Schutz von Anlagen oder Landschaftsteilen ist. Hierbei dürften auch die
ehemaligen Grenzkontrollanlagen zu Buche schlagen, da durch den Landkreis Helmstedt zwei sehr
wichtige Verkehrswege (die A 2 und die Eisenbahnstrecke nach Berlin) mit den entsprechenden
ehemaligen Grenzkontrollstellen verlaufen, die z.T. bereits wieder abgebaut sind bzw. brach liegen.
Es handelt sich in diesem Zusammenhang meist um Grundstücke, die vom Bundesliegenschaftsamt
verwaltet werden. In naher Zukunft sollen die Grenzanlagen im Zuge des Autobahnausbaus völlig
umgestaltet werden (auf sachsen-anhaltnischer Seite soll auf dem Gelände der ehemaligen Kontrollund Schutzeinrichtungen u. a. ein "Grenzmuseum" entstehen).
5.5
Die geplante Nutzung der Bodenflächen
Ein Vergleich der Flächen der geplanten Nutzung mit den Flächen der tatsächlichen Nutzung ist
aufgrund unterschiedlicher Abgrenzungskriterien beider Erhebungskataloge schwierig und z.T. nur
eingeschränkt möglich. Gemäß der Regelung des Baugesetzbuches können im Gegensatz zum
Liegeschaftskataster bei der geplanten Nutzung bestimmte Nutzungsarten einer umliegenden
Nutzungsart zugeordnet werden.
Einer der gravierendsten Unterschiede ergibt sich bei den Bauflächen. So sind z.B. bei den Flächen
der geplanten Nutzung bestimmte, deutlich von der Wohnbebauung abgesetzte Wohnbauflächen der
umliegenden, zumeist Landwirtschafts- und Waldfläche zugeordnet. Dies führt in landwirtschaftlich
strukturierten Gebieten zu einer scheinbaren Abnahme der Bauflächen gegenüber der tatsächlichen
Nutzung in teilweise erheblichem Umfang.
Ähnlich verhält es sich mit Flächen für den Straßenverkehr. Bei der geplanten Nutzung werden vor
allem die klassifizierten Straßen erfaßt, während z.B. Wohn- und Stichstraßen sowie land- und
forstwirtschaftliche Wege im Gegensatz zur tatsächlichen Nutzung zugeordnet werden, auch wenn
sie ggf. in einzelnen Bauleitplänen gesondert dargestellt sind. Hier ergibt sich deshalb eine
scheinbare Abnahme der Flächen für den Straßenverkehr.
- 209 -
- 210 -
6. Die Gewerbeflächen
Gewerbeflächen sind ein sehr wichtiger Standortfaktor und deshalb für die Wirtschaftsförderung
von besonderer Bedeutung.
Für eine wirtschaftliche Entwicklung sind immer auch überplante, kurzfristig verfügbare und
konfliktfreie (z.B. ohne Altlasten) Gewerbeflächen notwendig. Gewerbeflächen sind einer der
wenigen durch die wirtschaftsförderliche Arbeit vor Ort gestaltbaren "harten" Standortfaktoren. Die
Verfügbarkeit von Flächen ist desweiteren für Maßnahmen der Bestandspflege von großer
Wichtigkeit wenn es gilt, genügend erschlossene Grundstücke für Erweiterungszwecke der
Unternehmen vorzuhalten.
Das zentrale Verlagerungsmotiv der Unternehmen erklärt sich oftmals nicht aus dem
Vorhandensein von Zugfaktoren hin zu neuen Standorten, sondern durch Druckfaktoren, den alten
Standorten verlassen zu müssen, wobei wiederum Flächenknappheit am alten Standort einen der
wichtigen Abwanderungsgründe darstellt (Ertel, Jung, Müller 1989). Wenn also im Landkreis
Helmstedt ausreichend qualitativ gute gewerbliche Flächen zur Verfügung gestellt werden können,
dann besteht durchaus die Möglichkeit, daß Unternehmen sich für einen Standort im Landkreis
Helmstedt interessieren und sich dort auch ansiedeln.
6.1 Die Gewerbeflächensituation im regionalen Überblick
Im Gebiet des Zweckverbandes Großraum Braunschweig sind ca. 9785 ha Industrie- und
Gewerbegebiete enthalten (2.4% des Gesamtgebietes). Von diesen sind 60.8% (5.951 ha) bebauter
Bestand. 1.3% (125 ha) sind frei und unbebaut, 3% (297 ha) teilerschlossen, für 1.4% (137 ha) läuft
das Planverfahren, 0.7% (64 ha) sind Industriebrachen (z.T. ehemalige Zuckerfabriken), 0.3% (25
ha) sind andere Recyclingflächen, 27.6% (2.701 ha) sind in älteren F-Plänen abgesichert, z.Zt.
Brachland oder landwirtschaftlich genutzt und 4.9% (485 ha) sind angedachte Flächen in der
Vorprüfung ohne Planverfahren (Gewerbeflächenatlas des Zweckverbandes Großraum
Braunschweig, 1993)
Die Schwerpunkte der Gewerbeflächenausdehnung beziehen sich auf die Ober- und Mittelzentren.
Nach der Gewerbeflächenerhebung des Zweckverbandes Großraum Braunschweig sind über 50%
der ausgewiesenen Freiflächen in der Stadt Salzgitter vorhanden (ca. 1400 ha)!
Die Stadt Braunschweig (391 ha) und die Stadt Wolfsburg (247 ha) halten ca. 24% der Reserven. In
den vier Landkreisen des Zweckverbandgebietes werden insgesamt ca. 26% der Flächenreserven
vorgehalten. Von diesen zuletzt genannten Gewerbeflächen in den Landkreisen des
Zweckverbandes Großraum Braunschweig ist ein Großteil auf die Kreisstädte und die größeren
kreisangehörigen Städte verteilt. Die ländlichen Bereiche verfügen im allgemeinen nur über sehr
kleine ortsbezogene Industrie- und Gewerbeflächen.
6.2 Die Gewerbeflächen im Landkreis Helmstedt
Die meisten im Landkreis Helmstedt ausgewiesenen Flächen sind sowohl für Gewerbe als z.T. auch
für Industrie oder als Industrie- und Gewerbegebiete ausgewiesen und unterliegen z.T. bestimmten
Nutzungsbeschränkungen, wie z.B. dem Lärmschutz (überhaupt spielen Emissionsbestimmungen
eine große Rolle). Nach eigenen Untersuchungen ergaben sich widersprechende Ergebnisse bei
Größe, Auflagen und Zeiträumen der Innutzungsnahme von Gewerbeflächen im Landkreis
Helmstedt.
In die hier vorliegenden Ergebnisse sind die Befragungen des Amtes für Wirtschaftsförderung, die
Befragung der Wirtschaftsförderer des Landkreises, die Umfrage zu GE- und GI-Gebieten des
Zweckverbandes Großraum Braunschweig sowie die Zusammenstellung der Investment Promotion
Agency Niedersachsen (IPA) eingeflossen und miteinander verglichen worden. Die Angaben der
Wirtschaftsförderer waren dabei z. T. unvollständig, ja wie im Falle einer Samtgemeinde sogar
völlig übertrieben. Deshalb wurde sich im wesentlichen auf die Angaben des Zweckverbandes
- 211 -
Großraum Braunschweig, der IPA und des Bauordnungs- und -planungsamtes des Landkreises
Helmstedt, deren Angaben ja auch in die Zusammenstellung des Zweckverbandes eingeflossen
sind, berufen.
Aus dieser Zusammenstellung ist zu ersehen, daß es im Landkreis Helmstedt diverse
Gewerbeflächen gibt, von denen einige kurzfristig verfügbar sind bzw. sein werden. Eine
Gewerbeflächenknappheit ist innerhalb der nächsten 4-5 Jahre (einen reibungslosen Planungsablauf
vorausgesetzt) kaum zu befürchten, da sich vor allem die Städte Helmstedt und Königslutter um
Vorhalteflächen bemühen. Eine Knappheit könnte lediglich im Bereich kurzfristiger und zudem
flächenintensiver Belegungsmöglichkeiten, wie sie sich in der Zeit der Untersuchungserstellung bei
der Zuliefererproblematik für das sich grundlegend umstrukturierende VW-Werk in Wolfsburg
ergeben hat, diagnostiziert werden . Hier hat der Landkreis Helmstedt aufgrund seiner
infrastrukturellen Anbindung an Wolfsburg und in Bezug auf die großflächig versiegelnden
Ansiedlungen von Zulieferern und die dafür kaum vorhandenen Flächen keine direkt erkennbare
Chance. Die Flächenvorhaltung des Landkreises Helmstedt ist insgesamt zu gering bemessen. Hier
sollten unbedingt Anstrengungen unternommen werden, einen planerischen Vorhaltezeitraum von
15-20 Jahren zu erreichen. Auch wenn das in Anbetracht der knappen Haushaltsmittel eine kritische
Empfehlung ist, so könnte auf alle Fälle versucht werden, über eine enge intrakommunale
Kooperation vorbereitende Schritte einzuleiten. Durch eine vertraglich geregelte Kooperation
ließen sich zudem erhebliche finanzielle Mittel einsparen. Wenn weiter nur ein "business as usual"
gefahren wird, so werden sich die Kommunen auch weiterhin um etwaige Fortschritte und Erfolge
neiden anstatt zusammenzulegen und über Kooperationsverträge eine für alle vorteilhafte und
tragbare Übereinkunft in dieser Angelegenheit zu erreichen.
6.2.1 Größen und Verfügbarkeiten der (geplanten) Gewerbegebiete im Landkreis Helmstedt
Der Landkreis Helmstedt verfügt über insgesamt 1042 ha Gebäude- und Freiflächen für Gewerbe
und Industrie (s. a. Tab. V 2). Nach Angaben des Bauplanungsamtes (1993) sind als reine
Gewerbeflächen ca. 780 ha im Landkreis Helmstedt vorhanden. Die Differenz zwischen diesen
beiden Angaben ist wohl darauf zurückzuführen, daß bei den in den Nutzungserfassungen der
tatsächlichen Flächennutzung von 1989 erfaßten Flächen u.a. auch betriebliche Sozialeinrichtungen,
Wohngebäude für Betriebsinhaber, Hausmeister, Pförtner usw., Stellplätze und Garagen aber auch
Werkstraßen, Gleisanlagen, Lagerplätze und Verladerampen einbezogen wurden.
6.2.2 Die Situation im Einzelnen
In der Stadt Helmstedt sind nach Angaben der IPA 110.4 ha frei, wovon sich 17.2 ha in öffentlicher
Hand befinden und insgesamt voraussichtlich spätestens bis 1996 verfügbar sein sollen. Laut
Zweckverband Großraum Braunschweig sind knapp 30.4 ha sofort verfügbar, wovon 7.2 ha voll
erschlossen und unbebaut sind.
In der Stadt Königslutter sind nach der IPA 27 ha Freiflächen vorhanden, die bis 1994 verfügbar
sein sollen; ca. 8 ha davon befinden sich in öffentlicher Hand. Nach Angaben des Zweckverbandes
Großraum Braunschweig sind 19.5 sofort verfügbar, wobei für ca. 7 ha keine wirksame Darstellung
im F-Plan vorhanden ist und ein Änderungsverfahren noch läuft.
Im Gebiet der Stadt Schöningen sind laut IPA-Angaben 19.2 ha Optionsflächen mit
rechtswirksamen FLNP vorhanden. Davon befinden sich 1.1 ha in öffentlicher Hand. Laut
Zweckverband Großraum Braunschweig sind 22.6 ha voll erschlossen und frei, jedoch aufgrund der
örtlichen Lage wegen Wohnungsbesatz z.T. nur als Mischgebiet ausgewiesen. Den größten Teil
nehmen Flächen im Gebiet der zugehörigen Gemeinde Esbeck ein (132 ha; Bergbaufläche).
Im Gemeindegebiet Büddenstedt befinden sich insgesamt knapp 68 ha Gewerbeflächen. In der
Büddenstedt selbst sind 2.5 ha Gewerbeflächen, von denen noch 2 ha frei und voll erschlossen sind.
In der Gemeinde Offleben befinden sich 63.5 ha Gewerbeflächen, von den ca. 30 ha frei und voll
erschlossen sind, wobei das vorhandene Kraftwerk am Standort 1993 geschlossen wurde und
teilweise bis auf weiteres stillgelegt wird.
- 212 -
Die Gemeinde Grasleben verfügt laut IPA über 23 ha, von denen 15 ha im FLNP wirksam und 8 ha
im Aufstellungsverfahren zur FLNP-Erweiterung sind. Deren frühste Verfügbarkeit wird mit 1994
angegeben. Nach Angaben des Zweckverbandes Großraum Braunschweig sind 28 ha voll
erschlossen und frei.
Die Gemeinde Lehre verfügt laut Gewerbeflächenatlas des Zweckverbandes Großraum
Braunschweig insgesamt über knapp 27 ha Gewerbeflächen. Davon befinden sich nach Angaben
der IPA 10 ha in der FLNP-Änderung und der B-Plan für 6 ha im Aufstellungsverfahren. Die
frühste Verfügbarkeit wird hier mit 1993 angegeben.
Wendhausen verfügt über ein Gewerbegebiet von knapp 8 ha Größe. Davon sind 6.8 ha voll
erschlossen und frei, jedoch z.T. mit einer Altlast kontaminiert. Diese Fläche gehört dem Landkreis
Helmstedt und ist zugleich die einzige Gewerbefläche in dessen Besitz.
Die Gemeinde Flechtorf (Gemeinde Lehre) hat knapp 11 ha freie Gewerbefläche angegeben, von
denen sich 1 ha in öffentlicher Hand befindet.
In der Samtgemeinde Heeseberg sind laut Zweckverband Großraum Braunschweig insgesamt 26 ha
Gewerbeflächen vorhanden, von denen 8 ha frei sind.
Nach Angaben der IPA sind im Gemeindegebiet in der Gemeinde Söllingen 8 ha Gewerbegebiete in
Vorbereitung, von denen 4 ha Optionsflächen darstellen und 4 ha innerhalb von 1-3 Jahren, also bis
1994 verfügbar sein sollen.
In der Samtgemeinde Nord-Elm werden von einer Gesamtgewerbefläche von ca. 63 ha für die
Gemeinde Frellstedt 21 ha Optionsflächen angegeben (in der Zusammenstellung des
Zweckverbandes Großraum Braunschweig ist diese Fläche unter Süpplingen aufgeführt). In der
Gemeinde Süpplingen sind desweiteren 4.3 ha als frei gemeldet.
In der Gemeinde Velpke werden nach Angaben des Zweckverbandes Großraum Braunschweig von
insgesamt 41 ha ca. 12 ha als frei gemeldet, für die jedoch der FLNP und der B-Plan noch im
Aufstellungsverfahren sind, so daß keine zuverlässigen Aussagen über eine etwaige spätere
Nutzung und den Zeitpunkt der Innutzungsnahme möglich sind. In der Samtgemeinde Velpke
befinden sich im übrigen die von der Fläche her größten Industriebrachen im Landkreis Helmstedt,
einmal abgesehen vom 1993 stillgelegten Kraftwerk Offleben, das sich auf dem Gebiet der
Gemeinde Büddenstedt befindet.
Bis 1996, also einem von heute aus gesehenen relativ kurzen Zeitraum sollen nach den Angaben,
die die Wirtschaftsförderer des Landkreises Helmstedt der IPA gemeldet haben, insgesamt ca. 66 ha
Gerwerbeflächen zur Verfügung stehen.
Nach Angaben der Kreisverwaltung befinden sich für etwa 61 ha Bebauungspläne im
Aufstellungsverfahren. Im einzelnen sind das in der Stadt Königslutter 14.3 ha, in der
Samtgemeinde Grasleben 15 ha, in der Gemeinde Lehre 5.7 ha, in der Gemeinde Söllingen 8.7 ha
und in der Gemeinde Velpke 17.3 ha. Bei diesen Angaben gilt der Vorbehalt, daß es sich dabei um
unterschiedliche Stadien des formalisierten Verfahrens handelt, so daß bis zum Abschluß des
Planungsverfahren nicht gewährleistet ist, ob das eingeschlagene Planungsziel auch erreicht werden
kann.
Nach einer verwaltungsinternen Befragung bezüglich sofort verfügbarer Flächen, also baureifer,
d.h. in Bebauungsplänen rechtswirksam ausgewiesener, sofort verfügbarer Gewerbe- und
Industrieflächen, gibt es in der Stadt Helmstedt ein Gebiet von ca. 30 ha; in der Stadt Königslutter
eine Fläche von 3 ha.
Es ist auffällig, daß auch die etwas abseits der großen Verkehrswege liegenden Gemeinden
Gewerbegebiete in beträchtlicher Größe aufweisen. Es ist hierbei unbedingt auf die Folgewirkungen
solcher Ausweisungen zu achten: Allzu schnell kann ein solches Vorhaben aufgrund der sich
negativ gestaltenden öffentlichen Haushaltsmittel, neuer gesetzgeberischer Tatsachen,
wirtschaftlicher Engpässe und des Strukturwandels zu Fehlinvestitionen führen. Die
infrastrukturelle Einrichtung solcher Gewerbegebiete hat im Landkreis Helmstedt nicht auf jeden
Fall Aussicht auf eine staatliche Förderung, schon gar nicht bei den anstehenden Einsparungen im
- 213 -
Bundeshaushalt und einer sich wandelnden Konzentrationsstruktur in der Raumplanung seit der
Grenzöffnung.
Zudem
laufen
die
zonenrandtypischen
Fördermittel
und
Abschreibungsmöglichkeiten aus.
Zum Ziel-2-Gebiet der EU gehören die Gemeinde Büddenstedt, die Städte Schöningen und
Helmstedt, sowie Teile der Samtgemeinde Heeseberg und Nord-Elm, so daß in diesen Kommunen
kurzfristig u. a. Gewerbegebietsausweisungen und damit zusammenhängende Infrastrukturen von
der EU gefördert werden können.
Für die Belegung bzw. Umnutzung
"dörflicher" Gewerbegebiete ist ebenfalls der
Dienstleistungssektor interessant. Wenn der Standort gut zu erreichen ist könnte z. B. ein
Gewerbehaus eingerichtet werden, das sich mit der gesamten Hausbaupalette beschäftigt. Dabei
könnte der baubiologische Bereich ganz besonders gefördert werden, denn dafür ist ein gesundes
Wachstum zu prognostizieren (man bedenke nur den zukünftigen baubiologischen Umbau des
vorhandenen Bestandes oder die zunehmende Nachfrage nach baubiologisch errichteten Häusern.
6.2.3 Exemplarische Darstellung der Bandbreite einzelner Gewerbeflächenmerkmale
Die Flächen im Landkreis Helmstedt haben folgende Querschnittsmerkmale vorzuweisen:
- Eigentümer sind vorwiegend Privatpersonen;
- die Preise stehen nur in sehr begrenztem Umfang fest;
- der Erschließungsgrad der Flächen ist sehr unterschiedlich;
( Eine Erschließung mit Elektrizität, Wasser, Abwasser, Gas ist an allen Standorten jederzeit
möglich, zum Teil bereits vorhanden. Die notwendigen Erschließungsstraßen müssen häufig erst
noch angelegt werden )
- zum größten Teil liegen rechtskräftige Flächennutzungspläne vor, weniger häufig auch
rechtskräftige Bebauungspläne;
- die meisten Flächenanteile sind GE-Gebiete, die wenigsten sind als GI-Gebiete ausgewiesen
(letztere vorwiegend in der Stadt Helmstedt und Königslutter),
- Schwerpunkte der gewerblichen Flächenausdehnung stellen die Städte Helmstedt und
Königslutter dar (Ausarbeitung des Amtes für Wirtschaftsförderung, Landkreis Helmstedt,
1990).
Bei den Angaben zum Autobahnanschluß läßt sich erkennen, daß ca. 25% der Gewerbeflächen
weniger als 10 km Entfernung zur Autobahn untergebracht haben. Ca. 75% liegen in einer Distanz
bis zu 20 km zur Autobahn.
Der zuständige Stückgutbahnhof, der die Region Helmstedt ver- und entsorgt, ist in Braunschweig
beheimatet. Knapp 80% der (inklusive geplanten) Gewerbeflächen liegen in einer Entfernung von
30-40 km zum Stückgutbahnhof Braunschweig. Ca. 20% liegen näher als in 20 km Entfernung.
Bezüglich der Schiffahrtswege kann im Landkreis Helmstedt festgestellt werden, daß keines der
Gebiete einen direkten Zugang mit direkter Uferverladestelle aufzuweisen hat. Je nach
geographischer Lage bieten sich die Häfen in Braunschweig, Haldensleben oder Wolfsburg an.
Knapp 30% der Gewerbegebiete liegen in einer günstigen Erreichbarkeit von bis zu 15 km. Ca.
20% weisen eine Entfernung von bis zu 25 km auf und 50% liegen zwischen 30 - 50 km von der
nächsten Wasserstraße mit entsprechender Uferladestelle entfernt. Da der östliche Teil des
Landkreises Helmstedt etwa auf der Mitte zwischen Braunschweig und Magdeburg liegt, empfiehlt
sich hier u.U. die nähere Verladestelle in Haldensleben, für den nördlichen Teil des Landkreises die
Verladestelle in Wolfsburg. Der westliche Teil des Landkreises wird sich diesbezüglich sachgemäß
nach Braunschweig orientieren.
- 214 -
6.3 Flächen der BKB
Die BKB verfügt über ca. 3260 ha Flächen im Landkreis. Davon entfallen auf die Betriebsfläche ca.
1600 ha, wovon wiederum ca. 1300 ha auf den Tagebau entfallen. Die Landwirtschaftsfläche ist ca.
1000 ha groß, wovon ca. 450 ha rekultivierte Fläche darstellen. Ca. 600 ha sind Waldfläche.
Weiterhin sind ca. 60 ha Wasserflächen im Besitz der BKB, die östlich von Büddenstedt und
südöstlich von Offleben liegen und heute Vorranggebiete für Natur und Landschaft darstellen.
Im Landkreis Helmstedt ist von verschiedenen Seiten gesagt worden, daß die BKB AG u.a. die
bestehende Gewerbeflächenknappheit mindern könnte. Von Seiten des Unternehmens wird das aber
etwas anders gesehen: Hier wird gesagt, daß das Unternehmen kaum Flächen besitze, die als GEoder GI-Gebiete kurzfristig und unmittelbar zur Verfügung stehen können. Und die bestehenden
Flächen, die u.U. zur gewerblichen Nutzung geeignet wären (z.B. bei der Gemeinde Büddenstedt)
werden vom Unternehmen nicht zu Vorzugspreisen vergeben, da der Immobilienbereich vor allem
in Zeiten der internen Umstrukturierung auf neue Geschäftsfelder an Gewicht zunimmt und das
Unternehmen keine Flächen zu Schleuderpreisen veräußern möchte.
Ganz gleich, wie diese Fälle auch bewertet werden, eines zeichnet sich deutlich ab: die
Verantwortung des Unternehmens für die Region kann sich nicht nur darin zeigen, neue
Geschäftsfelder (das Entsorgungsunternehmen BKB AG) zu erschließen und die Region in neue
Abhängigkeiten dieser Monostruktur zu leiten, sondern es sollte auch aktiv am Umbau der vom
Bergbau stark beeinflußten Region mitwirken. Auch wenn ein wirtschaftendes Unternehmen keine
"gemeinnützige Organisation" ist, die moralische Verantwortung für die Region ist damit nicht
beiseite zu schieben, da das Unternehmen in ein sozio-kulturelles und -ökonomisches Umfeld
eingebettet ist.
Das Unternehmen hat aufgrund seiner Aktivitäten im Bergbau Jahr für Jahr Millionengewinne
gemacht und tausenden von Menschen Arbeit und Einkommen gegeben. Es ist auch nicht von der
Hand zu weisen, daß dieses Unternehmen mit seiner eigenen Politik den Landkreis Helmstedt über
Jahrzehnte bestimmte, auch im Gewerbeflächenbereich. So verhinderte es einst sehr erfolgreich die
Ansiedlung eines anderen großen Betriebes, der, wäre er erfolgreich angesiedelt worden, durchaus
mit seinen Lohnstrukturen zu einem Konkurrenten der BKB AG hätte werden können.
Die im Besitz des Unternehmens befindlichen Rekultivierungsflächen sind zwar keine
Siedlungsflächen und schon gar keine Gewerbeflächen, doch sie stellen ein großes und wertvolles
Potential für die Landkreisentwicklung dar. Man denke dabei nur an die gute Lage zu den
Verkehrssträngen (sowohl Autobahn als auch Schiene) und ihre Lage in einem neuen, vereinigten
Deutschland. Sieht man dazu die vorhandenen Werkstattflächen im Kohlepfeiler zwischen
Büddenstedt und Schöningen, so ließe sich ohne weiteres ein langfristiges Konzept in Richtung
Naherholung, Wohnen und Arbeiten sowie Naturschutz und Ökologie (Stichwort: moderne
Dienstleistungen) vorstellen (s. a. Anhang).
Die bisher gefahrene Ausrichtung des Unternehmens auf "Wir können Massen bewegen und sind
Energieerzeuger" und die naheliegende kurzfristige Konzentration auf Müll als lukratives Geschäft
eines niedergehenden Bergbaubetriebes ist nach unternehmerischen Gesichtspunkten naheliegend,
wird den Arbeitsplatzabbau aber in keinster Weise abmildern können.
Alle machen Müll und keiner will ihn vor der Haustür liegen haben. Wenn also diese Region zu
einer Entsorgungsregion umgebaut werden soll, so sollte der Gedanke der Kompensation in den
Vordergrund gerückt werden.
6.4 Der VW-Flächenbedarf
In der Zeit der Erstellung dieser Analyse wurden bei Gesprächen mit den mit der
Wirtschaftsförderung betrauten Funktionsträgern immer wieder der Wunsch geäußert, für den nach
Gewerbeflächen suchenden VW-Konzern entsprechende Flächen im Landkreis Helmstedt zur
Verfügung zu stellen.
- 215 -
Die Suchraster der flächenverbrauchenden Unternehmen der Zulieferer (die ja die Lagerung für das
Just-in-time-Verfahren übernehmen) orientieren sich möglichst nahe an den Wolfsburger VWKonzern (wenn nicht sogar auf das Konzerngelände in Wolfsburg selbst bzw. in einer ca. 15Minuten-Fahrdistanz dazu). Für Logistik-/Zentrallager- und Verkehrs-/Logistik-Unternehmen liegt
der Landkreis allenfalls punktuell im Suchraum. Sie konzentrieren sich auf Flächen in zentraler
Lage zu den norddeutschen Industrieregionen wie den Raum Osnabrück, aber auch Göttingen,
Hildesheim, Hannover, Braunschweig u. ä..
Die benötigten Gewerbegebiete müssen vor allem über eine optimale Lage inklusive einer sehr
guten infrastrukturellen Ausstattung verfügen (Gleisanschluß, Autobahnanschluß etc.), was es im
Landkreis Helmstedt ganz und gar nicht einfacher macht, entsprechende Flächen zur Verfügung zu
stellen.
Der Ausbau der A2 kann u. U. für anliegende Kommunen eine Chance beinhalten, die oben
angesprochenen Unternehmen für an dieser internationalen Verkehrsachse ausgewiesene
Gewerbegrundstücke zu interessieren. Ob das dann unbedingt in Bezug zur VW-AG stehen muß,
sei einmal dahingestellt.
Insbesondere der große Anteil an industriellen Brachflächen im Bereich Salzgitter wird
voraussichtlich über kurz oder lang wirtschaftlich lukrativ eingesetzt werden können, auch wenn
das für die Ansiedlungswünsche im Landkreis Helmstedt nicht so vorteilhaft ist. Aber auch im
Landkreis Helmstedt sollte man die Realitäten akzeptieren. In der Stadt Salzgitter "schlummert" ein
gigantisches Flächenpotential, das, wenn es eingesetzt werden kann, auch auf dem Arbeitsmarkt
überregionale Wirkungen haben dürfte, die sich u. U. auf dem Helmstedter Arbeitsmarkt entlastend
bemerkbar machen könnten.
6.5 Grundsteuern und Gewerbesteuern
Grund- und Gewerbesteuern gehören zu den unternehmerischen Standortfaktoren und sind
Bestandteil der wirtschaftsförderlichen Instrumente. Deshalb sollen sie in diesem Zusammenhang
eingehender dargestellt werden. Bezüglich der Hebesätze von Grundsteuern und Gewerbesteuern
hat sich bei den Angaben für die Gemeinden des Landkreises Helmstedt folgende Bandbreite
ergeben: Grundsteuern A und B von 200 bis 350 v.H., Gewerbesteuern von 260 bis 360 v.H.
(Landkreis Helmstedt, 1993).
Die Durchschnittswerte des IHK-Bezirks Braunschweig von 1989 bis 1991 setzten sich wie folgt
zusammen:
Grundsteuer A
1989
1990
Grundsteuer B Gewerbesteuer
1991
1989 1990 1991 1989 1990 1991
Stadt
Braunschweig
320
320
320
400
400 400
Stadt
Salzgitter
280
280
280
360
360 360 390
Landkreis
Goslar
278
278
277
296 296
Landkreis
Helmstedt
269
269
269
288 288
Landkreis
Peine
271
271
271
273
Landkreis
Wolfenbüttel
271
272
273
269
269
Niedersachsen
283
285
286
287
288
Quelle: Veröffentlichung der IHK-Braunschweig, 1992
395
395
410
390
390
296 324
326
232
288 321
320
318
274 274 349
349
350
269 320
321
320
290 319
319
319
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Es ist aus dieser Zusammenstellung ersichtlich, daß der Landkreis Helmstedt zu den "günstigen"
Landkreisen gehört. Er ist diesbezüglich also ein zu bevorzugender Standort.
6.6 Preise für Gewerbeflächen
Neben anderen wichtigen Standortfaktoren spielt natürlich die Höhe des Kaufpreises und der
Erschließungszustand der Gewerbegebiete eine wichtige Rolle für die Unternehmen.
Über Preise für Gewerbegebiete im Landkreis waren kaum zuverlässige Angaben zu finden.
Generell kann man sagen, daß bei Gewerbebauland der Grundstücksmarkt sehr unausgeglichen ist.
Städte und Gemeinden sind bemüht, das Wertniveau möglichst niedrig zu halten und dennoch
werden vereinzelt relativ hohe Preise für gewerbliche Bauflächen gezahlt. Das resultiert zum einen
aus dem Interesse, das bestimmte Branchen haben, in Königslutter, Helmstedt oder Schöningen
präsent zu sein, wobei auch hier die Öffnung der deutsch-deutschen Grenze eine wichtiger
Beweggrund sein dürfte und zum anderen aus dem Wissen der Kommunen heraus, daß ihr Standort
seinen Preis haben kann.
Im Landkreis Helmstedt liegen die durchschnittlichen Preise bei 8,- bis 65,- DM/qm, abhängig von
Lage und Erschließungsstand des Grundstücks (Grundstücksmarktbericht Helmstedt, 1992). Aber
es sind auch Fälle bekannt geworden, wo bis zu 70 DM/qm gezahlt werden.
6.7 Gewerbeflächenmanagement
Der Landkreis Helmstedt verfügt nur bedingt über und für spezielle unternehmerische
Anforderungen ausgestattete Flächen. Alleine der kurze Vorhaltezeitraum und die Ergebnisse der
Befragung der Wirtschaftsförderer weisen auf die Dringlichkeit eines übergreifenden
Gewerbeflächenmanagements hin.
Da die Ausweisung und Erschließung von Gewerbeflächen, wie schon öfters betont, zu den
wesentlichen Aufgaben einer am Erfolg orientierten Wirtschaftsförderung gehört, sollte man im
Landkreis Helmstedt, vor allem in Anbetracht der "Konkurrenten" in den Nachbarkommunen (vor
allem im Landkreis Gifhorn und den Städten Braunschweig und Salzgitter) noch aktiver werden.
Im Landkreis Helmstedt gibt es bis dato keine systematische und übergreifende Werbung und
Akquisition, um zu versuchen, die Gewerbeflächen mit Ansiedlern, seien es externe oder auch
interne, zu belegen. Der Landkreis Helmstedt hat sich aus gegebenen Gründen nicht wie der
Landkreis Gifhorn und die Stadt Braunschweig auf die Zulieferer von VW und die Unternehmen
aus den Bereichen Logistik/Zentrallager konzentriert. Das regionale Markenzeichen - die
sogenannte Verkehrsregion - geht bisher mehr oder minder am Landkreis Helmstedt vorbei. Auch
wenn dabei weniger die weitere und stärkere Spezialisierung der Region auf Automobile und die
damit verbundenen Zulieferfirmen gemeint ist und mehr auf einen steigerungsfähigen Ausbau der
Verkehrsinformations- und technikstrukturen abgehoben wird, liegt der Landkreis Helmstedt bisher
„verkehrt“.
Die IPA als überregionaler und internationaler Werbeträger des Landes Niedersachsen weist
vielfältige Werbeaktivitäten in vielen Ländern nach. Sowohl Staaten in Europa, den USA, Japan,
Südkorea sowie Taiwan werden angesprochen, da dort das Land Niedersachsen Repräsentanzen
unterhält, die der IPA zuarbeiten. Schwerpunkte im europäischen Umfeld sind vor allem die
westdeutschen Bundesländer, Skandinavien, Großbritannien und die Niederlande. Die Akquisition
knüpft insbesondere an vorhandene Stärken in der niedersächsischen Wirtschaftsstruktur an. Im
Raum Braunschweig ist dies unmittelbar aus der Nähe zu Wolfsburg im Automobil- und damit im
Zuliefererbereich zu sehen (IPA Rundbrief 1, Mai 1993).
Der Zweckverband Großraum Braunschweig beschäftigt sich z. Zt. mit der Erstellung des
Regionalen Raumordnungsprogramms und wird aller Voraussicht nach die Achse Salzgitter-PeineBraunschweig-Wolfsburg als gewerblich-industrielle Standorte planerisch herausheben. Er könnte
sogar, auch wenn ihm dies per Gesetz nicht zugedacht ist, die Ansiedlung von Zulieferbetrieben in
- 217 -
den Kommunen abstimmen (Braunschweiger Zeitung v 25.8.93 "Die Region muß sich als solche
begreifen").
Dem Amt für Wirtschaftsförderung des Landkreises Helmstedt obliegt es aufgrund ihrer organisatorischen Stellung, verstärkte Kontakte zu den Unternehmen vorzugsweise im Landkreis
Helmstedt zu suchen. Dies ist nicht nur wichtig, um die unternehmerischen Standortbewertungen in
Erfahrung zu bringen, sondern auch um etwaige standortbezogene Engpässe frühzeitig zu erkennen
und vor allem bei Umsiedlungswünschen frühzeitig Initiativen ergreifen zu können. Ein detaillierter
Gesamtüberblick über die bestehende gewerbliche Flächensituation liegt vor.
Um die Standortfaktoren aus der unternehmerischen Perspektive und Bewertung besser
kennenzulernen und sie auch entsprechend ihrer Gewichtung in ein kommunales Flächenmarketing
einzubauen, ist im Rahmen dieser Analyse eine Unternehmensbefragung ausgearbeitet worden, die
sich in ihrem Inhalt und in ihrer Ausrichtung an bestehende, erfolgreich durchgeführte
Befragungsschemata anlehnt. Die ausformulierte Befragung ist am Ende der Strukturanalyse
einzusehen.
Es wird hier vorgeschlagen, eine solche Befragung bei den Unternehmen durchzuführen, wobei es
aus pragmatischen Gründen wahrscheinlich besser ist, sie in mündlicher Form im Rahmen einer
Betriebsbesichtigung und eines informellen Gesprächs vorzunehmen.
Eine solche Befragung gibt den Entscheidungsträgern die Möglichkeit, etwaige Umsiedlungs- bzw.
Umstrukturierungsvorhaben rechtzeitig zu erkennen und sich mit entsprechenden Maßnahmen
darauf einzustellen bzw. sie u.U. abzuschwächen oder zu verhindern und im Landkreis umzuleiten.
Es können daraus außerdem Ableitungen über die Bewertung des Standorts seitens der
Unternehmen aus den verschiedenen Branchen gemacht werden.
Zu einem umfassenden kommunalen Gewerbeflächemangement gehört auch eine breit angelegte
Informationspolitik. Es wird in Zukunft wohl kaum noch Ansiedlungen auf der sogenannten
"grünen Wiese" geben. Umweltschutzauflagen und Bürgerinitiativen sowie organisierte
Umweltschutzgruppen versuchen nicht nur die Errichtung von Gebäuden sondern auch die dafür
unabdingbar notwendigen Verkehrsverbindungen zu verhindern, vor allem, wenn sie scheinbar
ausschließlich den Unternehmen nützen. Ein Grund mehr, die noch zur Verfügung stehenden
Flächenressourcen optimaler auszunutzen und zukünftig ein konsequentes Flächenrecycling und
Flächenmanagement zu betreiben. Die Informationspolitik sollte versuchen, zu erklären, daß eine
Flächenausweisung nicht zum Selbstzwecke der Unternehmer geschieht, wohl aber zur Steigerung
der unternehmerischen Aktivitäten vorgenommen wird, wodurch sich folglich auch Arbeitsplätze
ergeben und somit über die Einkommenssicherung auch die Lebensqualität der Bürger und
Bürgerinnen gesteigert werden kann.
Im einem kommunalen Gewerbeflächenmanagement kommt es nicht alleine darauf an, ein
Standortangebot zu vermarkten (Immobilienmakler-Mentalität), sondern die Standorte den zu
erkennenden spezifischen Bedürfnissen der Unternehmen möglichst gut anzupassen und dabei das
Wohl der Allgemeinheit, also auch anderer Interessengruppen mit ihren wichtigen Anliegen
(Umweltschutz) ernstzunehmen. Trotz einer detaillierten Informationsvergabe an alle wichtigen,
mit der Flächenausweisung verbundenen Interessengruppen, lassen sich nicht immer die Vorbehalte
bestimmter Gruppen abbauen. Unter dem Deckmantel des Umweltschutzes sind oftmals
unnachgiebige Egoismen verborgen, die die Arbeit einer vermittelnden Stelle geradezu
herausfordern.
Die sogenannten weichen Standortfaktoren bekommen für die Unternehmen eine immer größere
Bedeutung. Zu diesen weichen Standortfaktoren gehört z.B. auch das Image einer Region. Im
Landkreis Helmstedt liegt das Image eines Braunkohlereviers und Kraftwerkstandortes vor, das
gerade für Außenstehende relativ negativ besetzt ist, und es gilt, dieses auf alle Fälle abzumildern
und eine Attraktivitätssteigerung zu versuchen. Die Stoßrichtung "Entsorgen" ermöglicht durchaus
eine ökonomische Diversifizierung, ob sie jedoch auch dazu führt, daß die Wohnbevölkerung
gesteigert werden kann, daß sich weitere Unternehmen, insbesondere anderer Sparten des
Dienstleistungssektors, ansiedeln, darf kritisch beurteilt werden. Die vorhandene
Rekultivierungsfläche könnte sowohl für die Richtung Entsorgung als auch für das weite Feld des
Tourismus, ja späterhin u. U. sogar für den Wohnbereich in Wert gesetzt werden. Es kommt
lediglich darauf an, wie die Dinge arrangiert und koordiniert werden, wie sie in der Region bewertet
und überregional vermarktet werden können.
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6.8 Gewerbliche Brachflächen
Das Vorhandensein gewerblicher Brachflächen ist ein Resultat des Strukturwandels, der vor allem
in altindustriell geprägten Regionen, wie dem Landkreis Helmstedt mehr oder minder spürbar ist.
Der wirtschaftliche Strukturwandel ist immer wieder analysiert worden, seine Auswirkungen auf
die Flächennutzung sind dabei jedoch nur selten betrachtet worden (Henkel 1982).
Was versteht man unter Brachflächen?
In der Landwirtschaft bezeichnet man liegengelassene Flächen als Brachflächen. Der Wortstamm
weist eher auf umgebrochene aber unbestellte Flächen, die allenfalls zur Viehversorgung und somit
gleichzeitig zur Bodenregeneration genutzt werden, hin (Brockhaus Enzyklopädie 1991).
Unbrauchbar gewordene landwirtschaftliche Flächen können ohne Schaden ungenutzt
liegengelassen werden (sie dienen dabei sogar gleichzeitig mehreren Funktionen, wie z.B. als
Nischen für Fauna und Flora), was man von unbrauchbar gewordenen Siedlungsflächen nicht
behaupten kann, schon gar nicht wenn eine ehemalige Gewerbe- oder Industrienutzung zu
belastenden Bodenverseuchungen bzw. -degradationen geführt hat.
Es gibt sehr unterschiedliche Definitionen für unbrauchbar gewordene Siedlungsflächen, wobei die
englischen und schottischen aus der Förderpraxis stammenden Defintionen die geeignetsten
scheinen.
In der englischen Definition heißt es, daß es sich um Land handelt, "das so geschädigt ist durch
industrielle oder andere bauliche Inanspruchnahme, daß es ohne Behandlung nicht wieder
vorteilhaft genutzt werden kann".
Die schottische Entwicklungsagentur bezeichnet Brachland als "Land, das aufgegeben,
vernachlässigt und unansehnlich ist aufgrund früherer industrieller oder anderer Nutzung und das
ohne Behandlung nicht wieder nutzbar gemacht werden kann oder dessen ungünstiges
Erscheinungsbild Auswirkungen auf die Umgebung hat und deshalb einer Behandlung bedarf"
(Städtebauliche Forschung, Heft 03.112, 1985).
Von solchen Flächen gehen für gewöhnlich potentielle Gefahren für Mensch und Umwelt aus und
sie sind somit nicht nur eine Umweltgefahr sondern eben auch ein gewaltiges Handicap für die
ökonomische Entwicklung der Gebietskörperschaften. Die Erfassung solcher Flächen hat größte
Dringlichkeit, wie Beispiele aus vielen europäischen Ländern demonstrieren, wo z. B. Wohngebiete
auf ehemaligen Sondermüllablagerungsplätzen errichtet wurden. Auch im Landkreis Helmstedt gibt
es diesbezüglich sehr akute Probleme. In der Stadt Schöningen wurden auf einem bereits wieder zur
Nutzung freigegebenen und teilweise wieder bebauten Gelände Reste schwermetallhaltiger
Schwefelkiesabbrände gefunden. Das bedeutet für die Stadt Schöningen und die auf dieser
kontaminierten Fläche ansässigen Unternehmer und Hausbesitzer, daß sie vor einer großen, kaum
alleine zu bewältigenden Sanierungsfinanzierung stehen, deren Zuständigkeit wahrscheinlich zu
einem juristischen Streit führen wird.
Daß dies Skandale sind, steht außer Frage, doch wie damit umgehen?
Neben gesetzlichen Maßnahmen wie Bodenschutzgesetzen und damit verbundenen
Ausführungsrichtlinien sind Baugesetzänderungen und Reorganisationen der abfallwirtschaftlichen
Systeme die wesentlichen "Werkzeuge" zur Verbesserung der bestehenden Situation. Vor allem
Standorte in dicht besiedelten Ländern, mit dem Zwang zur Wiedernutzbarmachung ehemals
industriell genutzter Flächen, haben in den vergangenen Jahren ein umfangreiches Instrumentarium
im Umgang mit Altlasten entwickelt. Es gibt mittlerweile ganze Industriebereiche, die sich
ausschließlich mit der Sanierung kontaminierter Flächen beschäftigen und sich auf internationalen
Messen zu diesem Thema darstellen.
In Großbritannien z. B. wurde ein Förderfonds eingerichtet, an den die Kommunen und private
Unternehmen Anträge auf finanzielle Mittel zur Bodensanierung stellen können. Das Schlagwort ist
in diesem Zusammenhang "Contaminated Land". Contaminated Land wurde definiert als: Land, das
eine akute oder potentielle Gefahr für die Gesundheit oder die Umwelt aufgrund seiner
gegenwärtigen oder vorherigen Nutzung darstellt (zit. in Ferber, Roeloffzen, 1992).
- 219 -
Doch es bestehen nach wie vor große Defizite hinsichtlich des praktischen Erfahrungsaustausches
zwischen den mit dem Problem konfrontierten kommunalen und regionalen Gebietskörperschaften.
Entscheidende Fragestellungen, wie
- die Methodik einer flächendeckenden Erfassung von Verdachtsstandorten,
- die Durchführung der Gefährdungsabschätzung,
- die Prioritätenbildung nach naturwissenschaftlichen und planerischen Kriterien,
- die Entwicklung von Sanierungsstandards im Kontext des kommunalen Flächenrecyclings,
- der Austausch über Kriterien zur Technologiewahl bei der Sanierung
werden bisher kaum international ausgetauscht (Ferber, Roeloffzen, 1992). Hier bieten sich doch
konkrete Themenhinweise für die Rubrik „Entsorgungsregion“ und dazugehörige Seminareinrichtungen im Landkreis Helmstedt.
Der Bergbau im Landkreis Helmstedt ist noch nicht beendet, wird aber in absehbarer Zeit seinem
Ende entgegengehen und damit könnten die dazugehörigen Flächen teilweise auch zu industriellen
Brachflächen werden. Wird dem erstellten Rekultivierungsplan Folge geleistet, so wird zumindest
ein kleiner Teil der Rekultivierungsfläche späterhin für Fremdenverkehr und Naherholung zur
Verfügung stehen können. Ob diese zukünftige Erholungsfläche in Wert gesetzt werden kann, ist
bis dato mehr als fraglich. Eine Verbindung zwischen Entsorgung und Naherholung, vor allem in
Anbetracht der Größe des Rekultivierungsgebietes und der Vielfältigkeit des Entsorgungssektors ist
nicht von vornherein ausgeschlossen.
Die Wiedernutzbarmachung von solchermaßen klassifiziertem Brachland sollte auf alle Fälle vor
einer Neuansiedlung auf der grünen Wiese versucht und angestrebt werden. Die Kommunen sollten
sich, wenn die Planung neuer Baugebiete - sei es für Gewerbe, Wohnen, Gemeinbedarfs- oder
Freizeiteinrichtungen - ansteht, vorrangig überlegen, ob sie nicht geeignete Brachflächen zur
Verfügung haben, die sie dafür in Wert setzen könnten, auch wenn es zugegebenermaßen meist
unkomplizierter ist, auf der grünen Wiese zu planen und zu bauen.
Neue Nutzungsmöglichkeiten für Brachflächen lassen sich schwerpunktmäßig in vier Nutzungskategorien einteilen:
1. gewerbliche Wiedernutzung
2. Umnutzung zu Wohnbauflächen
3. Umnutzung zu Grün- und Erholungsflächen
4. Umnutzung zu privaten und öffentlichen Infrastruktureinrichtungen
5. Eine Kombination dieser Kategorien je nach örtlichen Gegebenheiten.
Da im Landkreis Helmstedt nur bedingt industrielle Brachflächen vorhanden sind und sie nur selten
in städtischen Gebieten liegen, ist hier nur eingeschränkt und ganz speziell eine Dringlichkeit
vorhanden, sie planerisch aufzuarbeiten und möglichst schnell wieder in die gewerbliche Nutzung
zurückzuführen. Es sind zudem neue Gewerbegebiete vorhanden und generell gesehen herrscht
keine akute Flächenknappheit, so daß man nicht von einer Dringlichkeit sprechen könnte, die
gewerblichen Brachflächen unmittelbar einer neuen Nutzung zuführen zu müssen. Nichts desto
trotz spornt das Potential der gewerblichen Brachflächen zu kreativer Gestaltung an und man sollte
durchaus darauf bedacht sein, sie einer neuen Nutzung zuzuführen.
- 220 -
6.8.1. Weitere Hinderungsgründe für die Wiedernutzung von gewerblichen Brachflächen
In Bezug auf die Wiedernutzbarmachung von Brachflächen können auch kommunale
Bodenpreissubventionen für neue Gewerbestücke die Attraktivität aufgelassener Gewerbestandorte
negativ beeinträchtigen. Das ist vor allem in städtischen Bereichen der Fall. Solange es
kostengünstiger ist, eine neu ausgewiesene Fläche zu bebauen, werden die gewerblichen
Brachflächen vernachlässigt.
Außerhalb der städtischen Verdichtungsräume liegt aus wirtschaftsförderlicher Sicht, wie auch im
Landkreis Helmstedt, meist eine "Wir-nehmen-alles-Mentalität" vor und es wird partiell versucht,
durch kommunale Bodenpreissubventionen neue Ansiedler in den Landkreis Helmstedt zu locken.
Das löst die Brachflächenproblematik in keinster Weise, sondern führt im Gegenteil zum
Verschieben der Probleme auf die nachfolgenden Generationen, wobei anzumerken ist, daß
Problemgefüge mit der Zeit nicht vereinfacht werden, sondern stets komplizierter zu werden
pflegen.
6.8.2 Die Brachflächen im Landkreis Helmstedt
Die meisten gewerblichen Brachflächen liegen im außerstädtischen Bereich, wie z.B.:
- die ehemalige Zuckerfabrik in Groß Twülpstedt und die ehemalige Ziegelei in Volkmarsdorf
(8.7 ha und 2.2 ha); erstere wurde Anfang 1994 abgerissen;
- das Ziegeleigelände in der Gemeinde Mackendorf (6.5 ha),
- das ehemalige Kalischachtgelände in Grasleben-Heidwinkel (4.7 ha),
- ein nur z.T. genutztes Gelände bei Querenhorst, das früher als Hühnerfarm genutzt wurde (6.6
ha; inzwischen abgerissen);
- das ehemalige Kraftwerksgelände von Offleben, das z.T. Industriebrache wird, da das Kraftwerk
teilweise aufgegeben wird (von 63.5 ha sind 60% bebaut und 40% brach; es ist noch nicht
geklärt, inwiefern dieses Kraftwerk in einer etwaigen Müllverbrennungsanlage aufgehen kann);
- in der Gemeinde Watenstedt das Gelände der ehemaligen Zuckerfabrik und Rübenverladung, das
z.T. Industriebrache wird (4.1 ha);
In der Stadt Helmstedt standen zur Zeit der Erstellung dieser Analyse die Firmengelände der
ehemaligen Firma Reika (0.6 ha), der Firma IVP (5.5 ha) und des Ziegelwerks (19.5 ha) zur
Disposition. Das Gelände der ehemaligen Helmstedter Spinnerei wurde kurzfristig wieder verkauft.
In der Stadt Königslutter stand zum Zeitpunkt der Analyse das Gelände der ehemaligen ROTOWerke zur Disposition (6.35 ha). Es gab bereits Anzeichen, daß sich dort eine Nutzung im
medizinischen Bereich ankündigte. Dies wäre ein sehr gutes Beispiel für eine gelungene
Neuinwertsetzung eines ehemals produktiven Gewerbe- zu einem Dienstleistungsbereich.
Auch im Landkreis Helmstedt erscheint es zweckmäßig, ein Brachflächenkataster anzulegen, um
rechtliche, finanzielle und verfahrensmäßige Schwierigkeiten der Wiederverwendungsprozederes
zu erleichtern. Immer häufiger werden ehemalige Industrie- und Gewerbeflächen im
Zusammenhang mit Altlasten genannt. Der Landkreis Helmstedt hat hier leider unangenehme
Erfahrungen mit Altlasten auf einem eigenen Grundstück machen müssen. Die damit
zusammenhängenden juristischen Verfahren können die Wiedernutzbarmachung erheblich
verzögern. Deshalb sollte ein Altflächenkataster angelegt werden, damit in Zukunft solche
unangenehmen Erfahrungen und Entwicklungshemmnisse vermieden werden können.
- 221 -
6.8.3 Vorschläge für ein Instrumentarium zur Wiedernutzbarmachung von gewerblichen
Brachflächen
Es können folgende Instrumente zur Wiedernutzbarmachung von Brachflächen vorgeschlagen
werden:
- Bodenuntersuchungen sind ein Instrument, um Klarheit über den Handlungsbedarf und damit
über die Erforderlichkeit des weiteren Instrumenteneinsatzes zu erlangen;
- Beratung von Eigentümern und Interessenten ist immer erforderlich;
- planerische Ziele müssen festgelegt, instrumentell verfestigt und schließlich realisiert werden;
- Planungsfolgemaßnahmen wie Bodenordnung und Erschließung können erforderlich sein;
- die Grundstücke müssen verfügbar gemacht und für die vorgesehenen Zwecke mobilisiert
werden können;
- andere Ordnungsmaßnahmen, insbesondere die Beseitigung von Altlasten müssen durchgeführt
werden;
- um Investoren auf Brachflächen gleiche Chancen wie auf erstmalig erschlossenen Flächen zu
bieten, ist finanzielle Förderung durch die öffentliche Hand nötig;
- diese Maßnahmen können auch in einem Gesamtverfahren durchgeführt oder zur Erfüllung auf
Dritte übertragen werden
(Schriftenreihe 03 "Städtebauliche Forschung", Heft 03.112, 1985).
- 222 -
7. Verkehr
Eine entscheidende Voraussetzung für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes und seiner
Regionen sind leistungsfähige und umweltgerechte Verkehrswege. Dabei spielen die Autotrassen
und die Schienenwege, für spezielle Gütertransporte eingeschränkt auch die Wasserwege, als
wesentliche Verkehrsträger eine wichtige Rolle. Der ÖPNV- und dabei besonders der
schienengestützte Personen- und Gütertransport sind für die Entwicklung der Wirtschaft von
besonderer Bedeutung, vor allem in einer zunehmend arbeitsteiligen und mobilen Gesellschaft. Seit
1989 ist die Grenze nach Osten hin offen und es gibt in Folge dessen einen großen Nachholbedarf
im Verkehrsbereich, vor allem was den Aus- und Aufbau von leistungsfähigen
Schnellverbindungen angeht.
Die Bedeutung der Verkehrserschließung und des Transportwesens für die Ausformung der
Siedlungsstruktur wird durch folgende siedlungsstrukturelle Grundregel deutlich dargestellt: Ist die
Fähigkeit und das Verlangen der Menschen, große Mengen an Gütern, Diensten und Information
hervorzubringen und zu verbrauchen, stärker entwickelt, als das Verlangen und die Fähigkeit, diese
zu transportieren, wird eine Tendenz zur räumlichen Konzentration wirksam; ist dagegen die
Fähigkeit zu transportieren hoch entwickelt, kann eine Tendenz zur räumlichen Streuung wirksam
werden (Moewes, 1981).
In der heutigen Situation wird immer offensichtlicher, daß sich eine siedlungsstrukturelle Wandlung
ergeben hat. Heute können Menschen und Güter jeden Punkt des Landes relativ zügig mit den
öffentlichen Verkehrsmitteln oder im PKW bzw. mit dem LKW anfahren. Durch verschiedene
siedlungs- und wirtschaftsstrukturelle Änderungen in den letzten zwanzig Jahren hat sich u. a. auch
eine qualitativ neue Siedlungsstruktur ergeben, die bezüglich des Wohnungsbereiches mit der
Kurzform "In der Stadt arbeiten, auf dem Lande wohnen" gut umrissen werden kann.
7.1 Mobilität
Aus Studien der Münchner Sozialdata GmbH und den Erhebungen zum kontinuierlichen
Verkehrsverhalten (KONTIV) ist erkennbar, daß sich die Grundtendenz einer zunehmenden
Mobilitätsentwicklung bestätigt. Während die Aktivitätsmuster der Menschen (also ihre
Verkehrszeiten, Hauszeiten, Wegehäufigkeiten) in den letzten Jahren relativ konstant geblieben
sind, haben sich die Wegstrecken (Entfernungen) sowie die Verkehrsmittelnutzung beträchtlich
verändert.
Verkehrswachstum bedeutet in erster Linie Entfernungswachstum. Je weiter die Wege sind, um so
häufiger wird der PKW benutzt (Hesse, 1992). Die Vorteile dieses Verkehrsmittels liegen auf der
Hand. Es ist die individuelle Beweglichkeit und der Transportraum unter gleichzeitiger Erhaltung
der Individualsphäre, die dieses Fortbewegungsmittel gegenüber dem öffentlichen Massentransport
so begehrenswert machen.
Der deutsche Mensch verbringt ca. drei Viertel seines täglichen Zeitbudgets mit außerhäuslichen
Aktivitäten. Der mit dem Ortswechsel verbundene Zeitaufwand beträgt im Durchschnitt ca. eine
Stunde, bei Berufspendlern etwas mehr, bei alten Menschen etwas weniger. Der größte Teil der
"Alltagsmobilität" wird nach wie vor in kleinen Radien abgewickelt: ein Viertel aller Wege endet
bereits nach einem Kilometer, die Hälfte nach drei Kilometern. Nur jeder fünfte Weg führt weiter
als zehn Kilometer. In ländlichen Regionen mit ihren lockeren Siedlungsstrukturen und
eingeschränkten ÖPNV-Angeboten sind die Entfernungen größer, so daß die Wegehäufigkeit, der
Aktivitätsgrad sowie die Benutzung des ÖPNV unter den Vergleichswerten der Verdichtungsräume
liegen.
Verkehrszwänge und Verkehrsverhalten der Bevölkerung werden im wesentlichen durch
Erreichbarkeiten, Angebotsdichte und Versorgungsstandards im Handel, bei Dienstleistungen und
Arbeitsplätzen bestimmt.
Mobilität im Verkehr bedeutet also die Möglichkeit, Ziele zu erreichen und den gewünschten
Tätigkeiten nachzugehen. Die Mobilität ist nur bedingt davon abhängig, ob man ein Auto besitzt
- 223 -
oder nicht. Das Auto steht sowieso die meiste Zeit still. Es verbraucht viel Raum und wird zudem
als Transportmittel relativ schlecht ausgelastet. Zudem beansprucht es nach den SozialdataErhebungen an Nutzungstagen durchschnittlich drei Stellplätze und kommt somit auf einen
Parkflächenbedarf von 40-60 m2 pro Stück. Daß dies einen immensen Bedarfsdruck in den Städten
hervorruft, steht außer Frage. Die damit verbundene konstenintensive Flächenbereitstellung kann
die finanziell stark beeinträchtigten Kommunen vor erhebliche finanzielle Probleme stellen.
Die zunehmende Benutzung von Autos für die täglichen Besorgungen oder das Erreichen von
Arbeitsstellen oder ähnlichen wichtigen Stationen weist im Grunde auf den Ausdünnungsprozeß bei
den Angeboten im öffentlichen Personentransport hin, der zumindest teilweise einen Verlust von
Standortattraktivität bedeuten kann (z. B. für den Bereich Wohnen, dort Familien mit Kindern im
Schulalter).
Das Zauberwort der Mobilität per PKW
wird gerne von "autofahrenden" Politikern,
Wissenschaftlern und Journalisten als Sachzwang genannt und sollte aber sehr kritisch hinterfragt
werden. Es ist oftmals lediglich das Ergebnis einer ”Windschutzscheibenmentalität” und nicht
unbedingt die korrekte Wiedergabe eines existierenden Sachverhalts. So werden im Landkreis oft
die schienengestützten Verkehrsträger als unattraktiv bezeichnet, was nach eigenen
Untersuchungen schon gar nicht in einer solchen Pauschalität anerkannt werden kann. Auf der
anderen Seite scheint ein Abbau der Flächenversorgung durch die DB AG schon dadurch
gerechtfertigt, daß sich immer weniger Menschen dazu entschließen können, den ÖPNV zu nutzen.
Es ist in diesem Fall nicht unbedingt von vornherein gesagt, daß die Bereitstellung eines besseren
Angebotes zugleich eine höhere Nachfrage bewirkt.
7.2 Das Straßennetz im Landkreis Helmstedt
Ein dichtes und differenziertes Straßennetz stellt das Grundgerüst für eine vielseitige
Beanspruchung des Raumes dar.
Im Falle des Landkreises haben die gut ausgebauten Verkehrswege wohl auch dazu geführt, daß ein
Teil der Bevölkerung aus dem Oberzentrum Braunschweig und dem Mittelzentrum mit
oberzentralen Teilfunktionen, Wolfsburg, "auf das Land ausgewichen" ist, um dort ihren
Wohnstandort zu nehmen. Das relativ gut ausgebaute Verkehrsnetz des Landkreises ist auch als
gewerblicher Standortfaktor von großer Bedeutung.
Um Braunschweig und Wolfsburg hat sich eine Art von Wohn-, Schlaf- und Freizeitausgleichsraum
gebildet, wovon vor allem die Standorte der Landkreise Wolfenbüttel und Gifhorn, aber auch
Teilräume des Landkreises Helmstedt profitieren konnten.
Das Straßennetz des Landkreises Helmstedt beläuft sich in seiner Gesamtlänge auf ca. 904 km. Die
Anteile der Autobahnen betragen ca. 39 km, die der Bundesstraßen 109,5 km, die der
Landesstraßen ca. 172 km. Die Kreisstraßen schlagen mit ca. 260 km Gesamtlänge und die der
Gemeindestraßen mit ca. 323,5 km zu Buche (Stand 1.1.93). Die Länge der Radwege bzw.
kombinierten Rad- und Gehweglänge an Kreisstraßen beläuft sich auf 27,6 km (Stand 1.1.92).
7.2.1 Die Autobahnen
Die Hauptverkehrsader im Landkreis Helmstedt ist die von West nach Ost verlaufende A 2
Hannover - Berlin. Dazu kommt das Teilstück der A 39, deren Anschlußstelle am Autobahnkreuz
Wolfs-burg/Königslutter liegt.
Die A2 stellt eine der Hauptentwicklungsachsen im Norden unseres Landes dar und ist schon aus
diesem Grund für die Entwicklung des Landkreises von großer Bedeutung. Sie ist ein Teilstück der
sogenannten "Blauen Banane", also Bestandteil einer der Hauptentwicklungsachsen der
Europäischen Union und wird somit in den nächsten Jahren immer wichtiger für den
Warentransport zu und von den östlichen Märkte in Polen und Rußland werden, was zu einem über
die Jahre noch zunehmenden Verkehrsaufkommen führen wird.
- 224 -
Im Rahmen des Verkehrsprojekts "Deutsche Einheit" sind insgesamt 17 Projekte vorgesehen, von
denen sieben Straßenvorhaben sind. Die A 2 wird im Rahmen des Verkehrsprojekts "Deutsche
Einheit" als Projekt 11 sechsspurig ausgebaut. Ziel des Projektes 11 ist es, eine leistungsfähige
Straßenverbindung von Niedersachsen über Sachsen-Anhalt, Brandenburg nach Berlin und zur A10
zu errichten.
Die spätestens seit der Wiedervereinigung schweren Verkehrsbeeinträchtigungen auf der A2 sollen
durch den Ausbau vermindert werden. Der Ausbau der A2 soll desweiteren zur Entlastung des
regionalen Straßenverkehrsnetzes beitragen. Nach Vorhersagen des Verkehrsministers soll es
während der Errichtung nicht zu größeren als den bisherigen Verkehrsbelastungen der Ab- und
Zubringerstraßen kommen.
Die mit der A2 verbundene Verkehrsbelastung und -entwicklung im Bereich des Landkreises ist aus
Tab. VII 1 zu entnehmen.
Im Zuge des Ausbaus sind im Bereich des Landkreises Helmstedt zwischen dem AK
Wolfsburg/Königslutter und der Landesgrenze zu Sachsen-Anhalt (ehemaliger Grenzkontrollpunkt
Helmstedt) folgende Anschlußstellen geplant:
- Anschlußstelle Barmke-Rennau (K14 bzw. L297); voraussichtliche Bezeichnung "Nord-Elm"
- Anschlußstelle Helmstedt-Mariental (B244)
- Anschlußstelle B1 östlich von Helmstedt.
(Die Anschlußstelle Barmke-Rennau wird nach dem letzten Stand der Dinge einstweilig "auf Eis"
gelegt (frdl. mündl. Information des Straßenbauamtes des Landkreises Helmstedt, 1994).)
Die Anschlußstellen sollen eine bessere Ableitung des Verkehrs bei Staus und Unfällen
gewährleisten und sind zudem als Standortfaktoren von außerordentlicher Bedeutung für die
kommunale Entwicklung.
Es werden keine Umgehungsstraßen oder größere Entlastungsstraßen neu gebaut, es wird lediglich
das nachgeordnete Straßennetz durch die oben angeführten Anschlußstellen und durch den Bau von
Überführungen angepaßt.
Der Zeitablauf des Ausbaus des Teilbereiches vom Autobahnkreuz Wolfsburg/Königslutter bis zur
Landesgrenze zu Sachsen-Anhalt sieht vor, daß nach dem
Abschluß des
Planfeststellungsverfahrens, der Umbau der vorhandenen Autobahn bis voraussichtlich Oktober
1999 abgeschlossen sein wird. Für den Abschnitt Mitte vom Autobahnkreuz
Wolfsburg/Königslutter bis zur Anschlußstelle Braunschweig Ost ist die Fertigstellung
wahrscheinlich bis Ende 1997/Anfang 1998 abgeschlossen (n. frdl. Information der Abteilung
Straßenbau im Bauordnungs- und -planungsamt des Landkreises Helmstedt, 1994). Die Kosten für
dieses Teilstück belaufen sich voraussichtlich auf ca. 320 Millionen DM.
Der Neubau der Autobahn wird zwischen Boimsdorf und Barmke sowie zwischen Helmstedt und
dem ehemaligen Grenzkontrollpunkt Helmstedt nördlich der vorhandenen Trasse begonnen.
Zwischen Barmke und westlich der Anschlußstelle Helmstedt soll der Neubau nach neueren
Überlegungen (1994) gegenüber früheren Planungsabsichten ebenfalls nördlich der Trasse
vorgenommen werden.
Der Ausbau und die Neuanlage der A2 werden zu erheblichen Umweltbeeinträchtigungen führen,
wie z.B. zu Boden- und Wasserverseuchung durch Kohlenwasserstoffe, Kohlenmonoxide und
Schwermetalle, so daß im engen Umfeld zur Trasse nachhaltige negative ökologische
Beeinträchtigungen auftreten werden. Durch den Bau der Trasse werden auf 0,7 km auf beiden
Seiten Böden mit hoher Empfindlichkeit gegenüber Schadstoffeinträgen neu betroffen sein (s. a.
Umweltverträglichkeitsstudie zum Ausbau der BAB A2, Abschnitt BS-Ost - AK
Wolfsburg/Königslutter bis Gut Trendel, Teil 2, Variantenuntersuchung, Teilentwurf 1992). Aber
auch im weiteren Umfeld, von ca. 5-10 km beiderseits der Trasse ist mit höheren Schädigungen zu
rechnen, da dort die aufgewirbelten Schadstoffe wieder „ausfallen“.
- 225 -
Was die Geräusch- und Lichtemmissionen der A2 betrifft, ist z. B. im Bereich der Stadt Helmstedt
die Errichtung einer fünf Meter hohen Lärmschutzwand vorgesehen, da die Autobahn hier durch
besiedeltes Gebiet verläuft.
Abschließend ist festzustellen, daß die A2 dringendst der neuen Verkehrssituation seit der
Wiedervereinigung anzupassen ist und es scheint bereits im Planungsvorfeld vorhersehbar zu sein,
daß eine sechsspurige Auslegung aufgrund des prognostizierten zusätzlichen Verkehrsaufkommens
in den nächsten Jahren zumindest abschnittsweise zu klein ist (z.B. im Bereich der
Einheitsgemeinde Lehre - Anschlußstelle Braunschweig Ost - Autobahnkreuz A 2 - A 39 wäre nach
Aussagen von Verkehrsexperten des Landkreises Helmstedt ein achtspuriger Ausbau rein
pragmatisch und planerisch gesehen sinnvoller).
Die Gesamtkosten für den Gesamtausbau der A2 zwischen Hannover und Berlin wird insgesamt mit
ca. 3,4 Milliarden DM veranschlagt.
7.2.2 Verkehrsmengen und -aufkommen auf der A 2
Was das Verkehrsaufkommen angeht, haben sich seit der Grenzöffnung deutlich spürbare
Wandlungen ergeben:
Nach Angaben der Straßenverkehrszählung 1985 für den Autobahnbereich des Landkreises
Helmstedt ist im Helmstedter Zählstellenabschnitt eine DTV (durchschnittliche tägliche
Verkehrsstärke) von ca. 14.800 Kfz/24 Std. aufgetreten. Ca. 25% davon fielen auf den
Güterverkehr.
Der durchschnittliche Durchsatz für Kraftfahrzeuge lag im Helmstedter Abschnitt am Tag bei ca.
830 Kfz/h, wobei der LKW-Anteil bei 24% lag, was 200 LKW/h ergibt. In der Nacht lag das
durchschnittliche Kraftfahrzeugaufkommen bei 194 Kfz/h bei einem LKW-Anteil von knapp 48%,
was 93 LKW/h ergibt. Der Ausländeranteil bei den LKW lag bei 16%.
Es trat auf diesem Autobahnabschnitt vor allem der Typus der Mischverkehrs auf, was eine
Verbindung von Freizeit-, Wirtschafts- und Berufsverkehr darstellt. An den Freitagen und
Sonntagen ergaben sich die höchsten Verkehrsdichten (Straßenverkehrszählung 1990 in der BRD,
im Auftrage des Bundesministeriums für Verkehr, Abt. Straßenbau und der
Straßenbauverwaltungen der Länder, 1991).
Betrachtet man die Werte für das Jahr 1990/1991 mit ca. 48.000 DTV (Kfz/24h) zwischen der
Anschlußstelle Braunschweig Ost und der Landesgrenze Niedersachsen/Sachsen-Anhalt (1992/93
sollen es zwischen Gut Trendel und der Anschlußstelle Helmstedt durchschnittlich 53.000 Kfz/24h
gewesen sein), so liegt die Vermutung nahe, daß die für das Jahr 2010 prognostizierten Werte von
über 100.000 Kfz pro Tag zwischen den Anschlußstellen Braunschweig Ost und der ehemaligen
Grenzkontrollstelle durchaus eintreten können. Davon werden ca. 40% dem Güter- und
Schwerverkehr zuzuordnen sein. Auch wenn in Zukunft der Güter- und Schwerverkehr zunehmend
stärker von der Straße auf die Schiene oder das Schiff verlagert werden wird, ist aus dem Vergleich
1985/1991 bereits entnehmbar, daß es trotzdem zu großen Zunahmen dieser Verkehrsart kommen
wird. Es kann sogar sein, daß diese Prognose noch zu tief greift, denn die A2 ist eine der
wichtigsten Ost - West - Austauschwege in der Mitte Deutschlands.
Um das bestehende Verkehrsaufkommen zu entzerren, wurde zwischen den Anschlußstellen
Autobahnkreuz Wolfsburg/Königslutter und Burg in Sachsen-Anhalt eine "Verkehrsbeeinflussungsanlage" eingerichtet. Sie kostete für das Teilstück von 50 km Länge 13 Mio. DM und ist bei den
auftretenden Verkehrsmengen notwendig gewesen, um das bestehende "Nadelöhr" (z. B. durch das
Nichtvorhandensein eines Standstreifens) sicherer und "fließfähiger" zu machen. Diese Anlage
zeigt über ein computergestütztes Rückkoppelungssystem den Autofahrern nicht nur die optimale
Geschwindigkeit an, sondern signalisiert den Lkw - Fahrern auch Überholverbote. Außerdem zeigt
sie allen Verkehrsteilnehmern bei Nebel, Eis und Schnee die notwendigen
Geschwindigkeitsbeschränkungen und warnt die Verkehrsteilnehmer vor Stau und Unfällen.
- 226 -
Die bestehende Anlage soll nach dem Neubau der A2 erhalten bleiben und muß zu diesem Zweck
noch verbreitert werden.
7.2.3 Die Bundesstraßen im Kreisgebiet.
Die für den Traversalverkehr im Landkreis wichtigsten Bundesstraßen mit überregionaler
Bedeutung sind die B 1 und die B 244. Erstere hat im Landkreisgebiet eine Länge von 26 km und
führt als Teilstück von Braunschweig über Helmstedt nach Magdeburg. Sie ist neben der A2 die
wichtigste West - Ost - Verbindung im Landkreis Helmstedt.
Die B 244 ist die wesentlichste Nord - Süd - Verbindung im Landkreis und führt mit einer Länge in
diesem Teilbereich von 56 km an Wolfsburg vorbei über Schöningen und weiter nach Süden über
Jerxheim in Richtung Werningerode (Sachsen-Anhalt). Kleinere Teilstücke von Bundesstraßen im
Landkreisgebiet sind die B 82 von Schöningen über Schöppenstedt nach Wolfenbüttel (5,2 km) und
weiter als Verbindung zum Raum Goslar/Harz, die B 188 im nördlichen Kreisgebiet als Anschluß
an den Raum Wolfsburg und Gifhorn sowie als Anschluß über Danndorf nach Oebisfelde in
Sachsen-Anhalt (9,0 km), die B 245 mit lediglich 3,2 km Länge von Helmstedt aus in Richtung
Süden nach Halberstadt (Sachsen-Anhalt) und die B 248, die im Landkreis vom Autobahnanschluß
Lehre-Wendhausen über Flechtorf zur A 39 an das überregionale Hauptverkehrsstraßennetz führt.
Die B 1 ist in der Zeit der Strukturanalyse mehrmals ins Gespräch gekommen, und zwar aus dem
Grund einer etwaigen Herabstufung der B1 zur Landesstraße. Die B 1 war vor der
Wiedervereinigung eine relativ gering frequentierte "Sackgasse", die an der deutsch-deutschen
Grenze im Lappwald endete. Nach der Wiedervereinigung im Oktober 1989 ist sie aber zu einer der
wichtigen Fernverkehrsstraßen in Deutschland geworden und eine teilweise Herabstufung der B1,
die im übrigen von Aachen nach Kaliningrad führt, entspräche nicht mehr der jetzigen Situation
nach der Vereinigung beider deutschen Staaten, so die IHK Braunschweig.
Eine Abstufung von Bundesstraßen ist laut Gesetz nur vorgesehen, wenn sich die betreffende
Bundesstraße in einem Bereich innerhalb von 5 km um die Autobahn befindet. Und das ist nur an
ganz wenigen Stellen auf dem Teilstück Braunschweig - Helmstedt der Fall. Da die B1 in einer
ursprünglichen, vor der Grenzöffnung angefertigten Planung an Königslutter und Helmstedt mittels
Umgehungsstraßen vorbeigeführt werden sollte, wäre eine Herabstufung das Aus für diese Pläne
gewesen, da es keine Bundesmittel für den Bau der Umgehungsstraßen gegeben hätte.
Die Stadt Helmstedt hatte zwischenzeitlich bereits für ein neues Gewerbegebiet mit direktem
Anschluß an die Ortsumgehung geworben. Im Bereich des Magdeburger Berges in der Stadt
Helmstedt, wo ein neues Gewerbe- und Wohngebiet erschlossen worden ist, würde eine solche
Herabstufung zur Attraktivitäts- und somit Wertminderung des Gebietes führen, vor allem, da
Investoren bereits die B1-Südumgehung der Stadt als Investitionsgrundlage angegeben hatten.
Da im August 1993 bei Irxleben der "Elbe-Park" eröffnet wurde, könnte sich dieses Argument
seitens der Ansiedlungsinteressierten aber als vorgeschobenes Argument erweisen. Die
Wirtschaftlichkeit dieses Gewerbebereiches in Helmstedt ist aufgrund der gewerblichen
Unternehmensneugründungen in Sachsen-Anhalt so und so kritisch zu betrachten, ob mit oder ohne
B1 - Anschluß.
Da die B 1 sozusagen strategische Bedeutung innerhalb des Kammerbezirkes Braunschweig hat (es
sind die Landkreise Helmstedt, Wolfenbüttel sowie die Stadt Braunschweig betroffen), haben sich
mehrere Interessengruppen u.a. auch der Zweckverband Großraum Braunschweig gefunden, um
gegen eine geplante Herabstufung Einspruch zu erheben. Ein Wegfall der Ortsumgehungen könnte
nach Dafürhalten dieser Institution zu spürbaren Auftragseinbußen für Unternehmen aus der Region
führen. Außerdem ist die B 1 bei Überlastungen der A 2, was in den Jahren seit der Grenzöffnung
zum täglichen "Verkehrsschauspiel" gehört, ein wichtiger Umleitungsweg und für den Zielverkehr
im Raum Braunschweig - Magdeburg von grundlegender Bedeutung. Eine Abstufung würde so
auch dem Ziel des Zusammenwachsens beider Wirtschaftsräume nachhaltigen Schaden zufügen.
- 227 -
Die B1 und ihre etwaige Abstufung sind nach wie vor ein Streitthema. Es sieht derzeit danach aus,
als könnte diese geschichtsträchtige Entwicklungsachse den Status als Bundesstraße verlieren und
somit ihren Wert als (gewerblicher) Standortfaktor einbüßen.
7.2.4 Weitere wichtige Umgehungsstraßen im Landkreis Helmstedt
Das seit der Grenzöffnung gewaltige Verkehrsaufkommen wird den Bau von Umgehungsstraßen
notwendig machen. Im Bereich der Stadt Helmstedt wurde 1992-1994 bereits an der
Westumgehung der B244 gebaut, die entgegen der ursprünglichen Planungsabsichten in den
"vordringlichen Bedarf" des Bundesverkehrswegeplans 1992 aufgenommen worden war. Sie wird
das neue Gewerbegebiet im Nordwesten der Stadt Helmstedt anschließen und auf der L 644 vorbei
am Emmerstedter Gewerbegebiet zur B1 führen. Geplant ist desweiteren eine Südumgehung der
Stadt mit Anschluß über die B1 zur A2.
In der Stadt Königslutter muß ebenfalls dringend für eine verkehrliche Entlastung des Innenstadtbereiches gesorgt werden. In diesem speziellen Fall geht es laut der zugänglichen Unterlagen
um eine Entlastungsstraße zwischen der L 290 (Wolfsburger Straße) und der L 644 (Rottorfer
Straße). Diese Entlastungsstraße ist Teil einer späteren Gesamtumgehungsstraße, die wegen des
Verkehrs im Zusammenhang mit der Zuckerfabrik, der Umleitungsstrecke für die A 2 und zur
Erschließung von Gewerbeflächen am Nordrand der Stadt Königslutter ausgebaut werden soll. Die
dafür notwendigen verwaltungstechnischen Vorarbeiten waren zum Zeitpunkt der Strukturanalyse
bereits eingeleitet worden, die Straße selbst wird jedoch voraussichtlich erst in frühestens 5-10
Jahren gebaut werden können, obwohl der Bedarf für diese Ortsumgehung als sehr dringlich
einzustufen ist.
7.2.5 Regional bedeutsame Landesstraßen
Regional bedeutende Landesstraßen im Kreisgebiet sind:
- die L 290 als direkte Verbindung zwischen dem Raum Wolfsburg, der Stadt Königslutter und
der
Stadt Schöppenstedt im Landkreis Wolfenbüttel,
- die L 633 als Bedarfsumleitung zwischen den Anschlußstellen Königslutter/Ochsendorf und
Braunschweig/Ost der A2 sowie für den Wochenendverkehr in den Elm,
- die L 635 Wendhausen - Hordorf und die L 639 als durchgehende Verbindung in den Raum
Gifhorn,
- die L 653 und die L 322 als regionale Verbindungen aus dem nördlichen Kreisgebiet nach
Wolfsburg,
- die L 646 als Anbindung des Ortes Grasleben an das überregionale Verkehrsnetz sowie die L
651 als Verbindung nach Weferlingen in Sachsen-Anhalt,
- die L 652 als Erschließungsstraße für die Naherholungsgebiete im Elm zwischen Königslutter
und Schöningen sowie als Verbindung nach Hötensleben in Sachsen-Anhalt,
- die L 641 als Verbindung zwischen den Städten Königslutter und Schöningen,
- die L 626 als Verbindung aus dem Helmstedter Raum in Richtung Schöppenstedt im Landkreis
Wolfenbüttel,
- die L 640 als Anbindung der gewerblichen Standorte im Raum Büddenstedt an die Städte
Helmstedt und Schöningen,- die L 622/L 623 als Verbindung aus dem Raum Jerxheim über die
B 79 nach Wolfenbüttel und die L 624/ K 25 als Verbindung nach Schöppenstedt und weiter
nach Braunschweig.
7.2.6 Kreisübergreifende Straßenverbindungen in Richtung Sachsen-Anhalt
- 228 -
Was die Straßenverbindungen betrifft, sind im Landkreis Helmstedt als ehemaligem Grenzbereich
die durch die Grenze gekappten Straßenverbindungen von besonderer Bedeutung. Sie wurden zum
Großteil nach der Grenzöffnung wieder errichtet und ausgebaut:
Tab. VII 1: Grenzüberschreitende Straßenverbindungen im Landkreis Helmstedt 1993
Streckenabschnitt
Straßenzug
Freigabe
Grafhorst-Breitenrode
B 244
Planungen
Bemerkungen
soweit bekannt
allg. Verkehr 16t -----
Büstedt-Oebisfelde
B 188
allg.Verkehr 16t
Ortsumgeh.
Oebisfelde+
Verlegung B188
im Gespräch
Bahrdorf-Gehrendorf
K 41
allg.Verkehr 2.8 ---
keine
f.allg.Verk.
Allerbrücke
Wegweisung
Saalsdorf-Lockstedt
K 44
--gesperrt
a.Richtg.ST
landw.V.frei
Saalsdorf-Weferlingen
K 45
allg.Verkehr
---
keine
allg.Verkehr
---
keine
Wegweisung
Mackendorf-Döhren
L 647
Wegweisung
Querenhorst-Döhren
K 46
f.allg.V.gesperrt ---
---
Grasleben- Döhren
K 47
f.allg.V.gesperrt --einsturzgefährdeter
Durchlaß
Durchfahrt
verboten
Grasleben-Weferlingen
L 651
allg.Verkehr
---
---
Helmstedt-Walbeck
L 643
f.allg.V.gesperrt --Forstweg
---
Bad Helmstedt-Beendorf
L 642
---
---
Helmstedt-Morsleben
B1
PKW, Busse,
Mofas
allg.Verkehr
Helmstedt-Harbke
B 245
allg.Verkehr
---
---
Hohnsleben-Sommersdorf
B 245
f.allg.V.gesperrt --landw.Verkehr
---
--- BedarfsumleitungA2
3t
- 229 -
Hohnsleben-Harbke
B 245
frei
allg.Verkehr
---
---
Offleben-Barneberg
K 22
allg.Verkehr
---
---
Schöningen-Hötensleben
L 652
allg.Verkehr 16t ---
---
Söllingen-Ohrsleben
L 624
allg.Verkehr 2.8t---
---
Jerxheim-Dedeleben
B 244
allg.Verkehr 16t ---
---
Quelle: Bauordnungs- und Planungsamt, Abt. Straßenbau des Landkreises Helmstedt, 1993
Innerhalb kurzer Zeiträume wurden die Verbindungen Werferlingen -Grasleben, Beendorf - Bad
Helmstedt, Hötensleben - Schöningen, Jerxheim - Dedeleben wieder für den Straßenverkehr
eröffnet. Die Verbindungsverbesserung Döhren - Mackendorf kann voraussichtlich erst 1995
realisiert werden. Es handelt sich bei dieser Straße um eine Landesstraße (L647), so daß die
Zuständigkeit beim Straßenbauamt Wolfenbüttel liegt.
7.3 Der ÖPNV
Nach dem Entwurf des LROP Niedersachsen muß der ÖPNV zu einer attraktiven Alternative zum
Individualverkehr ausgestaltet werden. Die Verkehrsbedienung durch den öffentlichen Verkehr soll
vor dem Individualverkehr Vorrang erhalten. Die Träger des ÖPNV sind in allen Teilräumen des
Landes zu verkehrlichen und tariflichen Einheiten zusammenzufassen, wobei auch - für den
Landkreis Helmstedt wichtig - auf den grenzüberschreitenden Zusammenschluß der Verkehrsträger
hinzuwirken ist.
Für den Ordnungsraum Braunschweig ist das Stadtbahnnetz auszubauen und zusammen mit dem
Nahschnellverkehr zu einem regionalen ÖPNV-System zu entwickeln Die Erstellung eines
regionalen Tarifsystems ist im übrigen eine der wichtigen und aktuellen Aufgaben des
Zweckverbandes Großraum Braunschweig. Neben der Einbindung der Region Braunschweig in den
Fernverkehr der DB AG ist eine durchgreifende Verbesserung des Nahschnellverkehrs zwischen
den Zentren der Region sowohl in der Ost-West- als auch in der Nord - Süd - Richtung auf den
vorhandenen und künftig geplanten Schienenstrecken anzustreben.
Der öffentliche Verkehr hat grundsätzlich zwei wesentliche Funktionen zu erfüllen:
- Die Funktion der Daseinsvorsorge, d.h. die Sicherung eines Mindestangebots an
Verkehrsmöglichkeiten für die Bevölkerung zur Versorgung und zur Teilnahme am
gesellschaftlichen Leben, und
- die Konkurrenzfunktion zum motorisierten Individualverkehr (MIV) mit dem Ziel, die
Umweltbelastungen möglichst gering zu halten.
In den Großstädten überwiegt die Konkurrenzfunktion, im ländlichen Raum die Daseinsvorsorgefunktion des ÖPNV.
Im Bereich des Landkreises Helmstedt wird der ÖPNV sowohl schienengebunden als auch im
Linienbusverkehr mit sieben konzessionierten Verkehrsträgern (einschließlich der DB AG) und
zusätzlich über Sonderverkehre (Schüler- und Werksverkehr) durchgeführt.
Da sich der Landkreis Helmstedt im Verdichtungsraum im Umfeld von zwei Oberzentren und
einem Mittelzentrum mit oberzentraler Funktion befindet, treten je nach der Entfernungsdistanz zu
diesen Zentren die beiden oben genannten Funktionen des ÖPNV zueinander in eine bestimmte
Beziehung. Je näher man einem größeren Zentrum kommt, desto höher ist die Konkurrenzfunktion,
je weiter man sich entfernt desto größer ist die Daseinsvorsorgefunktion des ÖPNV.
- 230 -
Zur Konkurrenzsituation mit dem MIV ergibt sich für den Verdichtungsraum Braunschweig
folgendes Bild: im gesamten Verdichtungsraum um Braunschweig herum liegen bei ca. 35% aller
Pkw - Fahrten objektive Gründe für die Nutzung des Pkw vor. Rund 25% sind subjektiv Pkw gebundene Fahrten. Von diesen nutzen trotz vorhandenen ÖPNV - Angebots 15% infolge fehlender
Informationen und rund 10% aus Imagegründen den Pkw. Bei den restlichen 40% der Pkw-Fahrten
besteht für den Verkehrsteilnehmer grundsätzlich eine echte Wahlsituation (ÖPNV - Symposium
der IHK Braunschweig, Juni 1993).
In den ländlicheren Gemeinden des Landkreises muß dafür Sorge getragen werden, daß
entsprechend dem Vorsorgeprinzip eine Mindestbedienung im öffentlichen Verkehr
aufrechterhalten wird. Im Landkreis Helmstedt wird dabei auch die flexible Betriebsweise von
Taxen und Mietwagen eingesetzt. Seit April 1989 hat die Stadt Helmstedt das ”Anruf - Sammel Taxi” für das gesamte Stadtgebiet eingerichtet, was deutlich auf die Bemühungen der Stadt
verweist, Alternativen im Personentransportwesen wahrzunehmen und damit auch für den Standort
eine Attraktivitätssteigerung zu erreichen.
7.3.1 Die Busverbindungen im Landkreis Helmstedt
Es gab z.Zt. der Strukturanalyse 16 Omnibuslinien der Kraftverkehrsgesellschaft mbH
Braunschweig (KVG), wovon 3 Überlandverbindungen waren. Sie verbanden das Mittelzentrum
Helmstedt mit dem Mittelzentrum Wolfsburg und den städtischen Grundzentren Königslutter und
Schöningen (bedient wurden diesen Strecken mit den Linien 46 (Wolfsburg), 48 (Königslutter) und
49 (Schöningen)). Neben den anderen Buslinien, die vornehmlich die Fläche im Landkreis
Helmstedt bzw. mit zwei Linien das Stadtgebiet Helmstedt erschließen, gab es noch eine
"Sommerlinie" von Juni bis September in das touristisch wichtige Reitlingstal bei Königslutter.
Die Linie 56 und 57 sind neben den Linien 58 und 16 "grenzüberschreitende" Buslinien. Linie 56
führt über Mariental, Grasleben, Weferlingen bis nach Hödingen, Linie 57 fährt über Clarabad im
Brunnental, Beendorf nach Walbeck. Linie 58 fährt Ostingerleben und Linie 16 Wefensleben an.
Die Linie 53 C verbindet Emmerstedt und das dort liegende Gewerbegebiet mit Beendorf.
Der Landkreis Helmstedt wird in seinem südlichen Teil ab Helmstedt über die Stadt Schöningen
sowie die Gemeinden Söllingen, Jerxheim nach Gevensleben sowie Helmstedt, Schöningen,
Hohnsleben von der Regionalbus Braunschweig GmbH (RBB) bedient. Ab Watenstedt fährt die
Linie 2410 über Wolfenbüttel nach Braunschweig.
Es gibt gegensätzliche Aussagen darüber, ob sich die Linien auch am Wochenende rentieren. Auf
alle Fälle bedient die KVG diese Strecken seit Dezember 1992 an Sonn- und Feiertagen und fährt
zudem noch alle Gemeinden an, während die RBB außer Werktags auch Sonnabends diese Strecken
bedient.
Der Nordkreis wird mit Linie 35 der Verkehrsbetriebe Bachstein GmbH bedient, die von Wolfsburg
nach Mieste in Sachsen-Anhalt und zurück fährt.
Im Westkreis, wo die Gemeinde Lehre liegt, war die Linie 23 der Wolfsburger Verkehrs GmbH
(WVG) zwischen Wolfsburg und Braunschweig über Flechttorf/Lehre bereits gefährdet. Zum Ende
der Strukturanalyse galt diese Linienbedienung als gesichert.
Die Linie 21 der Braunschweiger Verkehrs-AG fährt von Bornum aus nach Braunschweig und die
Linie 34 bedient das Ausflugsziel Reitlingstal (Königslutter) von Braunschweig aus, jedoch nur im
Sommerbetrieb.
In den nächsten Jahren ist vor allem auf der Linie 46 von und nach Wolfsburg mit Verzögerungen
zu rechnen, da der Ausbau der A 2 voraussichtlich zu Staus in erheblichem Umfang führen wird
und weitere Umbauarbeiten an den untergeordneten Straßennetzen zu einer zusätzlichen Belastung
der Fahrtstrecke des Busses führen könnten. Nach Aussagen des Unternehmens gab es bereits
1992/1993 Engpässe, die zu Zeitverzögerungen führten. Das ist insofern ungünstig, da diese Linie
eine wichtige Zubringerfunktion im Landkreis Helmstedt für das VW-Werk in Wolfsburg hat,
welches direkt angefahren wird. Zur Zeit der Erstellung der Strukturanalyse betrug die Fahrzeit für
- 231 -
eine Strecke zwischen 1 Std. 02 min und 1 Std. 27 min. Das ist gegenüber dem motorisierten
Individualverkehr knapp die doppelte Zeit. Werktags verkehren 9 Busse in die jeweilige Richtung.
Nach Aussagen des Unternehmens im Juli 1992 stand zu diesem Zeitpunkt noch eine
Bedarfsanalyse für Linie 46 aus. Es wurde dabei an eine schnellere Anbindung gedacht, die eine
Fahrzeit von 45 min beanspruchen würde, was diese Linie für die Pendler aus dem Landkreis
Helmstedt dann doch erheblich attraktiver machen könnte.
Leider wurde die bestehende Linie 46 nicht, wie zumindest im Früh- und Spätverkehr zu erwarten
wäre, mit VW-Arbeitern ausgelastet. Ganz im Gegenteil: z.T. fuhren die Busse noch nicht einmal
halbvoll von und nach Wolfsburg.
Ein Manko des Transportmittels Bus ist der Preis. Obwohl die KVG für 130,- DM pro Monat eine
Erwachsenenmonatskarte für die Strecke Helmstedt - Wolfsburg anbietet, was relativ kostengünstig
ist, scheint es für Pendler günstiger und bequemer zu sein, alleine oder in Fahrgemeinschaften zu
fahren.
Der Massentransport ist ökologisch und volkswirtschaftlich sinnvoller, da die Straßen weitaus
weniger verstopft werden als beim Individualverkehr.
Um eine Bevorzugung des ÖPNV als Transportmittel zu erreichen, müßte z.B. das
Besteuerungssystem das Fahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln belohnen. Autofahren wird z. Zt.
im Einkommenssteuerrecht und durch eine unzureichende Verwirklichung des Verursacher- und
Kostendeckungsprinzips geradezu belohnt. Es kann deshalb auch ein noch so innovatives
kommunales Handeln im Verkehrsbereich nicht an dieser Tatsache vorbeisehen. Solche durchaus
wünschenswerten Änderungen liegen im Handlungsbereich der Landes- und Bundespolitik und
somit außerhalb kommunaler Entscheidungs- und Handlungsspielräume.
7.3.2 Die Möglichkeiten, von der Schiene auf den Bus umzusteigen
(Quellen: KVG Omnibusfahrplan, gültig ab August 1992; Elektronische Fahrplanauskunft DB/DR
1994)
In dieser Zusammenstellung wurde lediglich der Haltepunkt Bahnhof Helmstedt berücksichtigt.
Die Stadt Königslutter ist im Nahverkehr an die Schienenstrecke Magdeburg - Hildesheim
angeschlossen. Von der Stadt Helmstedt aus kann man die Stadt Schöningen ebenfalls auf der
Schiene auf der Strecke Helmstedt - Wolfenbüttel - Braunschweig anfahren. Die Stadt Wolfsburg
ist über den Bahnhof Braunschweig im Schienennahverkehr zu erreichen.
Kommt man am Bahnhof Helmstedt an, so ergeben sich folgende Abfahrtsmöglichkeiten im
Busverkehr (ab Schöninger Straße bzw. Braunschweiger Tor):
nach Königslutter über Süpplingenburg mit der Linie 31 bzw. über Frellstedt mit der Linie 48
zwischen 05.50 Uhr und 18.10 Uhr 13 Abfahrtsmöglichkeiten;
nach Schöningen und weiter nach Hötensleben mit der Linie 49 zwischen 04.45 Uhr und 16.50 Uhr
5 Abfahrtsmöglichkeiten;
in Richtung Wolfsburg mit der Linie 46 zwischen 03.45 Uhr und 18.40 Uhr 12
Abfahrtsmöglichkeiten.
Sonstige:
nach Warberg mit Linie 43 zwischen 07.50 Uhr und 18.15 Uhr 4 Abfahrtsmöglichkeiten;
nach Volkmarsdorf über Süpplingenburg und Rottorf mit der Linie 45 zwischen 07.30 Uhr und
18.20 Uhr 4 Abfahrtsmöglichkeiten;
- 232 -
nach Esbeck über Büddenstedt und Offleben mit der Linie 50 zwei Abfahrtsmöglichkeiten.
Möchte man vom Bahnhof Helmstedt abreisen, so bestehen folgende Ankunftsmöglichkeiten mit
dem Bus:
von Königslutter über Süpplingenburg mit der Linie 31 zwischen 06.43 Uhr und 18.41 Uhr 6
Ankunfstmöglichkeiten;
von Königslutter über Frellstedt mit der Linie 48 zwischen 07.27 Uhr und 19.44 Uhr 7
Ankunftsmöglichkeiten;
von Schöningen mit der Linie 49 2 Ankunftsmöglichkeiten;
von Wolfsburg über Velpke, Grasleben zwischen 07.30 Uhr und 20.00 Uhr mit Linie 46 13
Ankunftsmöglichkeiten.
Sonstige:
von Warberg über Wolsdorf mit der Linie 43 zwischen 07.28 und 18.55 Uhr 5
Ankunftsmöglichkeiten;
von Volkmarsdorf über Rottorf, Süpplingenburg mit der Linie 45 zwischen 07.30 Uhr und 19.30
Uhr 5 Ankunftsmöglichkeiten.
Es ist folglich festzustellen, daß der Bahnhof des Mittelzentrums Helmstedt mit dem busgestützten
Nahverkehr relativ gut zu erreichen ist. Gewisse Engpässe ergeben sich bei der Weiterreise, wenn
die Züge zwischen 08.00 und 11.00 Uhr Morgens und Abends ab 18.00 Uhr ankommen.
Bei den Zugabfahrtszeiten ergeben sich Engpässe in der Zubringerfunktion der Busse in den Zeiten
zwischen 09.00 und 12.00 Uhr und Abends ab 18.00 Uhr.
7.4 Der Schienenverkehr
Nach dem Entwurf des LROP Niedersachsen von 1993 soll der schienengebundene Personen- und
Güterverkehr gegenüber dem Straßenverkehr Vorrang erhalten. Für den Güterverkehr soll dies
durch den Bau leistungsfähiger Güterverkehrszentren und Güterverteilungszentren unterstützt
werden. Es wurde im übrigen auch im Landkreis Helmstedt darüber diskutiert, ob der Helmstedter
Raum u. U. im Suchfeld für solche Verkehrs- und Verteilungszentren liegt.
Im regionalen Raumordnungsprogramm, das der Zweckverband Großraum Braunschweig bis 1995
aufstellt, sollen u. a. auch Lokalitäten oder Schwerpunkträume für solche Zwecke benannt werden.
In der Stadt Wolfsburg soll nach nicht bestätigten Informationen ein eigenes
Güterverteilungszentrum in Zusammenarbeit mit der VW AG entstehen.
Bisher sind Güterzentren stets entlang der wichtigen Nord - Süd - Achse aufgebaut worden (z. B. in
Göttingen, Hannover, Braunschweig). Entlang der A 2 könnte ein Suchraum in oder bei der Stadt
Magdeburg erkannt werden, die ja zukünftig auch auf der Nord - Süd - Achse über die A 14
hervorragend angebunden sein wird.
Die Personenbeförderung soll insbesondere durch attraktive Fahrplangestaltungen und den Ausbau
der Bahnhöfe (hier z. B. Park- und Ride - Systeme für Pendler) verbessert werden. Nach dem
Entwurf zum LROP Niedersachsen ist den Landkreis Helmstedt betreffend der Lückenschluß
Jerxheim - Dedeleben bzw. Gunsleben wiederherzustellen. Es handelt sich hierbei um ein ca. 5 km
langes Stück, das einer entsprechenden Modernisierung bedarf und als Südanbindung des
Landkreises Helmstedt eine große Bedeutung hat.
Nach der Fahrplanänderung im Sommer 1992 hält in Helmstedt fortan kein IC mehr. Bis zu diesem
Zeitpunkt hielten die IC's der Deutschen Bundesbahn noch in Helmstedt, da er ja der ehemalige
Grenzbahnhof auf westlicher Seite war.
- 233 -
Die Strecke über Braunschweig, Magdeburg nach Berlin ist seit 1993 voll elektrifiziert. Diese im
Rahmen der "Verkehrsprojekte Deutsche Einheit" vorgenommene notwendige Modernisierung der
Strecke Helmstedt - Magdeburg - Berlin (Projekt 5) hat eine erhebliche Zeitersparnis für die
Reisenden gebracht. Gegenüber den "Taigatrommeln" fährt der ICE und IC mit erheblich höherer
Reisegeschwindigkeit und verkürzt so die Reisezeit nach Berlin um ca. ein- bis eineinhalb Stunden.
Im Norden des Landkreises wird im Zuge des "Verkehrsprojekts Deutsche Einheit" Projekt 4
(Strecke Hannover - Stendal - Berlin) ein Teilstück der Schnellbahnstrecke errichtet, die für die
Reisenden eine bessere Bedienung nach Berlin bedeuten wird. Mit diesem Anschluß wird die Stadt
Wolfsburg "endlich" einen Schnellbahnanschluß erhalten. Diese Planung stammt noch aus den
Zeiten des existierenden DDR-Staates. Die Stadt Wolfsburg wird zum Abzweigungsort aus
Richtung Berlin, an dem sich die Südstrecke über Braunschweig, Göttingen und weiter Richtung
Frankfurt München und die West- und Nordroute über Hannover trennen.
Für den nördlichen Teil des Landkreises Helmstedt könnte sich aus der ICE - Haltestation in
Wolfsburg ein großer Vorteil ergeben, da die Bürger in diesem Teilbereich des Landkreises
Helmstedt nun in wesentlich kürzerer Zeit einen überregionalen Haltepunkt erreichen können. Das
hat auch einen positiven Einfluß auf die Standortqualität z. B. unter dem Aspekt Wohnen.
Für den Landkreis Helmstedt bedeutete der Wegfall des IC - Haltepunkts insgesamt eine
Verschlechterung der Anbindung nach Berlin und andere Großstädte. Es muß fortan der Bahnhof
Magdeburg bzw. Braunschweig angefahren werden, um dort die Schnellverbindungen der ICE- und
IC-Züge wahrnehmen zu können.
Ist die Strecke über Wolfsburg erst einmal fertiggestellt, so wird es möglich sein, auf relativ
"zügige" Art und Weise von Paris/London über Brüssel, Aachen, Köln, Hannover nach Berlin und
von dort weiter nach Warschau und Moskau zu gelangen. Die Streckenführung liegt in der bereits
angesprochenen Mitteleuropäischen Entwicklungsachse und wird hoffentlich ganz wesentlich zu
einer Verkehrsentkrampfung auf den Straßen führen, sowohl was den motorisierten Individual- als
auch den Güterkraftverkehr angeht. Außerdem bietet der Haltebahnhof Wolfsburg, wie bereits oben
angeführt, einen Standortvorteil für die im Nordkreis gelegenen Kommunen des Landkreises
Helmstedt.
7.4.1 Der ökologisch - ökonomische Aspekt des Schienenverkehrs
Für den Bereich Güterverkehr:
Vor allem in diesem Bereich ist eine Entlastung mit dem Kombiverkehr nicht nur ökologisch
sondern in besonderem Maße auch ökonomisch sinnvoll. Nach einer Studie des Instituts für
Verkehrswissenschaft der Universität Münster, die im Auftrag des Deutschen Verkehrsforums
erarbeitet wurde, ist vor allem im Langstreckenbereich ab 500 km Entfernung der Kombiverkehr
die kostengünstigste Variante. Nach diesen Berechnungen verursacht jeder Lastzug auf einer
Modellstrecke von Stuttgart nach Krefeld (430 km) 461 DM "externe" Kosten, gegenüber 199 DM
im Kombiverkehr und 133 DM im klassischen Schienenverkehr. Momentan wird ca. ein Fünftel des
Frachtaufkommens im Kombiverkehr transportiert (Hannoversche Allgemeine, Schiene schlägt
Straße, 22.7.93). Das bedeutet, daß hier noch genügend Reserven mobilisiert werden können, damit
noch mehr Güter- und vor allem Schwerverkehr auf die Schiene oder das Schiff verlagert wird.
Für den Bereich Personenverkehr:
Bei einer Reisedistanz von 500 km sind im Personenreiseverkehr folgende Rahmendaten von
Bedeutung:
Flugzeug
Bahn
PKW mit Kat Diesel PKW
- 234 -
Gesamtkosten in
DM(jePerson)
522
110
161
149
CO2 in kg je Person
130
19
88
84
NOx in g je Person
490
57
220
270
SO2 in g je Person
62
17
17
84
Quelle: Bundesumweltministerium, 1992
Geht es darum, die Kosten einer Reisestrecke von 500 Kilometern abzuschätzen, werden für den
Pkw nur die durch die zusätzliche Fahrleistung von 500 Kilometern entstehenden Kosten berechnet.
Die variablen Kosten betragen bei einem Auto der Mittelklasse für Benzin (ca. 11 DM pro 100
Kilometer) und für Ölverbrauch und andere leistungsabhängige Kosten (ca. 2 DM pro 100
Kilometer). Alle übrigen Kosten sind Fixkosten, die gewissermaßen bereits mit der Entscheidung,
den Pkw für eine bestimmte Zeit weiterzunutzen, anfallen. Die entscheidungsrelevanten variablen
Kosten einer Pkw-Fahrt von 500 Kilometern betragen somit 75 DM und liegen deutlich unter den
Kosten von 110 DM für eine Bahnfahrt gleicher Streckenlänge, wobei die DB AG neben der Bahn Card für einen begrenzten Zeitraum zwischen Frühling und Herbst 1994 mit einem besonders
günstigen Nachtfahrttarif, der bis 02.00 Uhr nachts gilt, neue Kundenpotentiale aktivieren möchte.
Damit kann für 58 DM auch eine Strecke von 500 km zurückgelegt werden.
Durch eine deutlichere fiskalische Beteiligung der Autofahrer an den durch die Nutzung der Pkw
entstehenden Schäden an der Gemeinschaft (Luft-, Wasser- und Bodenverschmutzungen und
dazugehörige Kosten) könnte zukünftig vermutlich ein Preisvergleich zugunsten der Bundesbahn
zustande kommen.
Die DB AG versucht mit verschiedenen Instrumenten, eine Alternative zum Pkw herzustellen (s.o.).
Erst wenn die variablen Kosten der Autofahrt den Kosten für Reisen mit der DB-AG vergleichbar
werden (z.B. durch Anhebung der Mineralölsteuer oder eine Absenkung der Bahnfahrpreise) wird
die Bahn auf Kurz- und Mittelstrecken zu einer ernstzunehmenden (kostenmäßigen) Konkurrenz.
7.4.2 Die Anbindung des Hauptbahnhofes Helmstedt an einige ausgesuchte wichtige
überregionale Zentren
Nach dem Winterfahrplan 1993/94 ergab sich im regionalen und überregionalen Zugverkehr (in der
Zeit von 5 Uhr Morgens bis 1 Uhr am nächsten Morgen) folgendes Bild für Abfahrts- und
Fahrzeiten aus Helmstedt :
Anzahl der
Abfahrtsmöglichkeiten
Fahrzeit in Stunden:Minuten
17 nach Aachen
18 nach Berlin Hbf.
32 nach Braunschweig
15 nach Dresden Hbf.
20 nach Düsseldorf Hbf.
16 nach Frankfurt/M. Hbf.
11 nach Frankfurt/O. Hbf.
19 nach Halle (Saale) Hbf.
19 nach Hamburg Hbf.
22 nach Hannover
20 nach Köln
23 nach Leipzig Hbf.
11 nach Rostock Hbf.
13 nach Salzgitter Bad
13 nach Salzgitter Ringelheim
von
5:05
2:51
0:24
3:42
3:46
3:21
4:12
1:36
2:41
1:10
4:10
2:14
4:15
0:49
0:54
bis
bis 10:22
bis 3:09
bis 1:08
bis 6:31
bis 6:56
bis 6:39
bis 5:57
bis 2:18
bis 4:20
bis 1:36
bis 9:22
bis 4:53
bis 7:19
bis 1:12
bis 1:17
- 235 -
14 nach Schwerin Hbf.
14 nach Wolfsburg
3:10 bis 6:15
1:08 bis 4:37
Der Bahnhof Helmstedt ist Haltebahnhof für insgesamt 8 Interregio - Zugpaare pro Tag, die im
Zwei - Stunden - Takt in Helmstedt anhalten. Wie man unschwer aus der obigen Zusammenstellung
entnehmen kann, ist die Kreisstadt gut angebunden, da mit relativ geringem Zeitaufwand wichtige
Zentren der Bundesrepublik Deutschland erreicht werden können.
7.4.3Die DB - Problemstrecke 312
Die DB-AG - Strecke Braunschweig- Wolfenbüttel - Jerxheim - Schöningen - Helmstedt (Strecke
312) stellt eine für den Südkreis wichtige Flächenversorgung des Öffentlichen Nahverkehrs im
Landkreis Helmstedt dar. Sie verzeichnete trotz einer Erhöhung der Zugzahlen im Fahrplanjahr
1991/92 einen beständigen Rückgang der Reisenden. Fuhren 1980/81 von Montag bis Freitag 25,
Samstag 13 und Sonntag 8 Reisezüge pro Tag, wurde die Bedienung dieser Strecke 1992/93 von
Montag bis Freitag mit 24 und Samstags mit 12 Reisezügen pro Tag angesetzt. Der
Sonntagszugsverkehr wurde aufgrund fehlender Nutzung ab 1992/93 auf dieser Strecke eingestellt.
Zwischenzeitlich wurden diverse Verbesserungen seitens der DB AG unternommen (z. B.
Anpassung der Zeiten an den Schülerverkehr am Samstag), doch die Zahl der Reisenden im
schienengebundenen Personennahverkehr gingen bei zunehmender Motorisierung der Bevölkerung
nach wie vor zurück. Die Zahl der Reisenden hat sich auf dem Streckenabschnitt Wolfenbüttel Schöningen seit 1985 von 1105 auf 866 (1991) pro Werktag reduziert, was einem Rückgang von
21.6% entspricht.
Auf dem Streckenabschnitt Schöningen - Helmstedt ist diese Zahl von 506 im Jahre 1985 auf 366
im Jahre 1991 zurückgegangen, was einem Rückgang von 27.7% entspricht (Nds. Landtag, 12.
Wahlperiode, Drucksache 12/3715, 2.9.1992). Um eine Attraktivitätssteigerung dieser Strecke
vorzunehmen, wäre der Einsatz von modernen, schnelleren Triebwagen u.U. von Vorteil. Das Land
ist bereit, der DB AG nach Aufstellung eines Gesamtkonzeptes Zuschüsse für die Anschaffung von
modernen Triebwagen zu gewähren. Desweiteren ist sie bereit, Zuschüsse für die Erstellung von
Park- und Ride - Anlagen zu gewähren, vorausgesetzt, die Komplementärfinanzierung durch die
Kommune ist sichergestellt. Im Zuge der Regionalisierung ist es zudem beabsichtigt, den
Kommunen flächendeckend die Aufgaben- und Ausgabenverantwortung für den gesamten ÖPNV
unter Einbeziehung des Schienenpersonennahverkehrs als Selbstverwaltungsaufgabe zu übertragen.
Regionalisierung bedeutet in diesem Zusammenhang die Zusammenführung von Zuständigkeiten
für Bestellung und Bezahlung von Nahverkehrsleistungen auf regionaler Ebene. Ein Hauptanliegen
der Neuorganisation des ÖPNV ist u. a. die Zusammenstellung kundengerechter
Nahverkehrsangebote unter Beteiligung aller Verkehrsträger und Verkehrsunternehmen. Das heißt
für die Gebietskörperschaften, also Städte, Gemeinden und Landkreise aber auch die Länder, daß
sie entscheiden werden, wo, wann, wieviel Nahverkehr zu welchen Konditionen und in welchen
Qualitäten stattfinden soll. Der Besteller garantiert die Bezahlung der von ihm in Auftrag
gegebenen Leistungen. So sieht es auch die EG-Verordnung 1893/91 vor. Das heißt, die
Gebietskörperschaften werden mit klaren Verträgen mit den Betreibergesellschaften regeln müssen,
welche Leistungen für einen definierten Preis zu erbringen sind.
Die Gebietskörperschaften und Länder müssen hierfür aber die finanziellen Voraussetzungen
erlangen, was eine Umleitung der vom Bund für den SPNV (Schienengebundener
Personennahverkehr) bereitgestellten Mittel verlangt. Die Höhe und Dauer der Zahlungen ist zu
diesem Zeitpunkt (1993) zwar in einem gröberen Rahmen abgesteckt, im Detail jedoch noch Sache
von Verhandlungen.
Trotz des ”Finanzierungsgerangels” wäre es begrüßenswert, wenn der ÖPNV in Zukunft
Pflichtaufgabe der Kreise und Kommunen würde, denn auf der Ebene der kommunalen
Zweckverbände z. B. lassen sich die Notwendigkeiten der Region gut erschließen und im Anschluß
daran, die ÖPNV - Systeme effektiv organisieren und nutzen.
7.5 Die Finanzierung des ÖPNV
- 236 -
Beim ÖPNV bleiben, wie auch in anderen Bereichen, die Finanzen das zentrale Thema, da Geld
nun einmal benötigt wird, um neue Verkehrsmodelle einzuführen und bewährte auszubauen. Der
Bund will bezüglich der Finanzierung zukünftig nur eingeschränkt Verantwortung übernehmen. Im
Bereich der Bedienung durch die DB-AG sind Landesmittel vorgesehen, wobei aber die Höhe noch
nicht abschließend gesetzlich geregelt ist.
Die seit Jahren von den Kommunen geforderte ÖPNV - Zuständigkeits- und Finanzierungsregelung
wird vom Bund nur sehr zurückhaltend aufgenommen. Statt dessen wird die Privatisierung
weitergeführt (Verkauf von ehemaligen DB - Buslinien) und die anstehenden Aufgaben werden
zunehmend mehr auf Länder, Kreise und Kommunen verlagert, ohne die Finanzierungsfrage mit
den Betroffenen so zu regeln, daß die ohnehin in die finanzielle Klemme geratenen Kommunen
Daten erhalten, mit denen sie planen können.
Solange die Finanzierung des ÖPNV nicht über ein Bundesgesetz einheitlich geregelt ist, müssen
die Kommunen andere Finanzierungswege nehmen, um den ÖPNV noch attraktiver zu gestalten:
- Mittel für Schülerbeförderung; freigestellte Schülerverkehre müssen aufgelöst und in Linien im
normalen Fahrplan übernommen werden;
- Landkreis und Kommunen müssen sich darauf verständigen, die Kreisumlage zu erhöhen, um die
Betriebskosten für den ÖPNV abzudecken; die Gemeinden können als Gegenleistung dafür einen
optimaler funktionierenden ÖPNV anbieten;
- Gemeinde- und kreisübergreifende Lösungen erschließen über die Synergieeffekte u. U. neue
Finanzressourcen;
- das mit dem Steueränderungsgesetz geänderte Gemeindefinanzierungsgesetz stellt den
Gemeinden mehr Mittel für ÖPNV - Infrastrukturen, allerdings nur im investiven Bereich zur
Verfügung (mit
diesen Geldern können Busse und Bahnen angeschafft, Bushaltestellen und
Bahnhöfe saniert
werden). Die Zuschußhöhe beträgt 60% aus GVFG - Mitteln, den Rest
müssen Kreise und Kommunen aufbringen. Es können dazu u.U. noch 25% Zuschüsse für
Investitionen in Schienen- wege und Bahnhöfe aus dem Länderprogramm in Niedersachsen
beantragt werden (Wenzel, 1992).
Alle diese Finanzierungstöpfe bleiben leider mehr als unzureichend, wenn nicht vom Bund
Finanzierungsmodelle vorgeschlagen werden, die den Kreisen und Kommunen eine bessere
finanzielle Konsolidierung erlauben. Die bestehenden Mittel reichen aller Voraussicht aber aus, um
neue Wege zumindest vorzubereiten.
Ein weiterer hoffnungsvoller Ansatz liegt in der Einführung einer Nahverkehrsabgabe, die in
Baden-Württemberg, NRW, Hessen und Niedersachsen diskutiert wird. Diese Nahverkehrsabgabe
könnte zweckgebunden für den ÖPNV verwendet werden (Wenzel, 1992).
7.6 Der schienengebundene Güterverkehr
Zum Schienengüterverkehr ist zu sagen, daß im Kreisgebiet folgende Gütertarifpunkte existieren:
- Alversdorf,
- Grasleben,
- Helmstedt und
- Königslutter.
Im Bereich dieser Gütertarifpunkte werden etwa 500.000 t Güter pro Jahr im Wagenladungsverkehr
auf der Schiene umgeschlagen (nach frdl. schriftl. Mitteilung der DB). Kurzfristig wird sich an
- 237 -
dieser Menge wohl nichts ändern. Von diesen 500.000 t sind allein 90.000 t (1992)
Schwefelladungen, die bei der BKB AG durch ein modernes Trennungsverfahren bei der
Verfeuerung der Kohle gewonnen werden. Dieser Schwefel wird vor allem an die Chemische
Industrie verkauft.
7.7 Der Schiffsverkehr
Der Ausbau des Mittellandkanal soll den Raum Berlin/Magedeburg mit den wichtigen
Nordseehäfen und westdeutschen Industriezentren verbinden und so die Standortbedingungen für
den zukünftigen Regierungssitz Berlin und den Raum Magdeburg verbessern. Die ursprünglich
gedachte Aufgabe und Funktion des Mittellandkanals wird so nach über 55 Jahren uneingeschränkt
zu erfüllen sein: das Industriegebiet an Rhein und Ruhr, mit Weser, Elbe und Berlin zu verbinden.
7.7.1 Das Wasserstraßen - Projekt 17 von Hannover nach Berlin
Der Ausbau dieses 280 km langen Wasserstraßenstücks wird für moderne Motorgüterschiffe mit
110 m Länge und 2000 t Gesamtgewicht sowie Schubverbände mit zwei Leichtern mit einer
Gesamtlänge von 185m, 11,4m Breite und 2,8m Abladetiefe und 3800 t ausgebaut. Die zukünftige
Wasserstraße wird zwischen 42 und 55 m breit und 4 m tief sein. Die voraussichtlichen Kosten
belaufen sich auf ca. 4 Mrd. DM und der Planungs- und Bauzeitraum beläuft sich von 1992 an auf
voraussichtlich 10 Jahre.
Ein Teilstück des Wasserstraßenprojekts Hannover - Magdeburg - Berlin ist das 80 km lange
Endstück des Mittellandkanals von der Schleuse Sülfeld bei Wolfsburg bis zum Schiffshebewerk
Magdeburg bei Rothensee. Nördlich von Magdeburg endet der Mittellandkanal und die Schiffe
müssen durch ein sehr kritisches "Nadelöhr", um in den Elbe - Havel - Kanal zu gelangen und
weiter nach Berlin zu fahren. Die jetzigen Einrichtungen haben nicht die Aufnahmefähigkeit, die
vorgesehen und erwünscht ist.
Die dazu vorgeschlagenen Problemlösungen stellen sich wie folgt dar:
- eine Staustufenlösung in der Elbe bei Heinrichsberg, bei der der Magdeburger Hafen eingestaut
wird,
- die andere Lösung ist eine ursprüngliche beim Mittellandkanal geplante, aber nicht fertiggestellte
Schiffsbrücke über die Elbe (Verkehrsprojekte Deutsche Einheit, Der Bundesminister für
Verkehr,
1992).
7.7.2 Die ökologische und ökonomische Dimension des Wasserstraßenverkehrs
Im allgemeinen zeichnen sich Binnenschiffahrt und Wasserstraßen durch
- günstige Transportkosten,
- hohe Sicherheit,
- geringen Energieverbrauch und
- Umweltfreundlichkeit aus.
Die Wasserstraßen helfen zudem, den Wasserbedarf von Industrie und Landwirtschaft zu decken,
tragen zum Hochwasserschutz bei und werden häufig als wertvolle Erholungsbereiche genutzt. Die
besondere Leistungsfähigkeit der Binnenschiffahrt liegt im günstigen Verhältnis von Eigengewicht
zur transportierten Last. Auf eine Tonne Last entfallen beim Schiff nur 350 kg Eigengewicht, beim
LKW 600-700 kg und bei der Eisenbahn 800 kg.
- 238 -
Der Energieverbrauch bei der Binnenschiffahrt ist um 20% geringer als bei der Eisenbahn. Mit der
gleichen Menge Treibstoff kann eine Tonne auf der Straße 100 km, mit der Eisenbahn 300 km und
auf der Wasserstraße 370 km weit transportiert werden. Die in der Zukunft auf dem Mittellandkanal
fahrenden Frachter werden per Stück die Fracht von ca. 70 Lastzügen übernehmen können, die
Schubverbände sogar von knapp 130 LKW (Verkehrsprojekte Deutsche Einheit, Der
Bundesminister für Verkehr, 1992).
Nach Angaben der Wasser- und Schiffahrtsdirektion Mitte wird mit einem Verkehrszuwachs von
20% über dem Verkehrsaufkommen des Jahres 1989 auf dieser wichtigen West - Ost - Magistrale
gerechnet (schriftl. im Juli 1992 angefragt).
Geht man von der Kreisstadt Helmstedt aus, so liegen die nächsten Häfen mit 30 km, 35 km und 40
km Entfernung in Haldensleben, Wolfsburg und Braunschweig. In der Stadt Wolfsburg gibt es zwei
Häfen, den vom VW-Werk und den Hafen Fallersleben. Der erstere ist fast stillgelegt und wird
lediglich noch von zwei Fahrzeugen angefahren, die Schlacke abtransportieren.
Für den nördlichen Teil des Landkreises Helmstedt lassen sich allerdings diesbezügliche
Lagevorteile diagnostizieren, da zum einen die günstige Lage zu Wolfsburg und zum anderen die
Nähe zum Hafen Haldensleben gewährleistet ist.
Im übrigen ist im Bereich Wassertransport noch lange nicht das letzte Wort gesprochen. Man
betrachte nur die innovativen Schritte, die in der deutschen Schiffsbauindustrie gegangen werden.
Für den Wassertransport, vielleicht auch auf dem Mittellandkanal öffnen sich in absehbarer Zukunft
völlig neue Perspektiven.
Bis dato ist der Wassertransport mit den herkömmlichen Binnenschiffen stets weiter
zurückgefahren worden. Die Binnenschiffahrt gilt als gefährdete Branche.
Ein wesentliches Problem der Binnenschiffahrt ist die Transportzeit auf den Wasserstraßen. Mit
neuartigen Katamaran bzw. Hybridschiffen (SES- Surface Effect Ships): halb Katamaran halb
Hovercraft, kann eine Geschwindigkeit von bis zu 90 km/h erreicht werden.
Das bei Blohm und Voss geplante Hochgeschwindigkeitsbinnenschiff in SES-Bauart ist für den
Transport von 50 Lkw - Trailern vorgesehen. Der Flußkatamaran wird so schnell sein wie ein Lkw
und ein Sonntagsverbot gibt es bisweilen auch noch nicht. Es bleibt abzuwarten, ob solche Schiffe
auch den neu gestalteten Mittellandkanal befahren können, doch es könnte sein, daß die Zukunft
diesen Schiffen gehört.
Deshalb kann es bereits jetzt von Vorteil sein, die raumbezogenen Konzeptionen dahingehend neu
zu bewerten. Allein in der DEUREGIO Ostfalen gibt es mehrere Häfen, deren Umfeld sich
vielleicht als zukünftiges Güterumschlagszentrum eignen. Hier könnte der Umschlag vom Lkw Verkehr auf die Wasserstraßen stattfinden.
7.8 Luftverkehr
Der nächste Flughafen ist der Flughafen Waggum bei Braunschweig, der somit in relativ guter
Erreichbarkeit gelegen ist. Von der Kreisstadt Helmstedt aus ist der Flughafen in ca. 30-40 Minuten
mit dem Pkw erreichbar; für den Westkreis ist die Erreichbarkeit entsprechend günstiger. Vor allem
der westliche Teil des Landkreises Helmstedt kann aus der Nähe zu diesem Flugplatz einen
Standortvorteil machen, da dieser Flugplatz auch mit kleinen, zweistrahligen Düsenjets anzufliegen
und somit für Geschäftsleute interessant ist. Der Landkreis Helmstedt ist im übrigen
Mitgesellschafter der ”Flughafengesellschaft Braunschweig mbH”, die den Flugplatz unterhält.
In Zukunft ist eine direkte Anbindung an die A 2 geplant, was wiederum zu einer merklichen
Verkürzung der Anfahrtzeiten führen wird. So kann die Anfahrtzeit von der Stadt Helmstedt zum
Flugplatz Waggum auf voraussichtlich ca. 20-30 Minuten per Anreise mit dem Pkw verkürzt
werden, entsprechend weniger wird es bei einem Ausbau der Anschlußstelle Königslutter von
Königslutter aus sein.
- 239 -
In der Nähe zu Magdeburg soll ebenfalls ein Regionalflugplatz entstehen, wobei mehrere Standorte
im Gespräch sind aber noch nicht endgültig entschieden ist, welcher Standort den Vorzug erhält.
Bei der Stadt Helmstedt befindet sich ein Segelflugplatz, der bedingt auch mit kleinen
Propellermaschinen angeflogen werden kann, jedoch zur Zeit nur auf Voranmeldung. Auch daraus
könnte u. U. ein Standortwert abzuleiten sein, vor allem wenn dieser Flugplatz erweitert wird. Es
muß dabei nicht daran gedacht werden, daß ein umfassender, die Landschaft und deren Bewohner
störender Ausbau erfolgen muß.
Denkbar ist, Segelflugmeisterschaften, Ballonmeisterschaften, Kunstflugausscheidungen u. ä. in
Helmstedt auszurichten. Es wäre auf alle Fälle eine Attraktion, die dem Fremdenverkehr Helmstedt
zugute kommen könnte. Außerdem könnte auch darüber nachgedacht werden, Kooperationen mit
Forschungseinrichtungen zu suchen, die im „kleinen Flugzeugbau“ tätig sind (Stichwort:
Luftfahrtbundesamt in Braunschweig).
- 240 -
8. Wohnen und Wohnungsmarkt im Landkreis Helmstedt
8.1 Einleitung
Der Landkreis Helmstedt mit seiner für den Wohnbereich günstigen Lage zwischen zwei im nahen
Pendelbereich liegenden Oberzentren (Braunschweig und Magdeburg) und dem in einer ähnlichen
Entfernung befindlichen Mittelzentrum mit oberzentralen Funktionen (Wolfsburg) verfügt über
einige auf dem Wohnungsmarkt günstige Optionen, wie z.B. die im Vergleich zu den Oberzentren
relativ günstigen Mieten und Preise für Wohnungen und Bauland, eine bevorzugte Lage von
Baugebieten im dörflichen Randbereich, teils sogar in Waldrandnähe, und eine gut ausgebaute
Infrastruktur. Das Vorhaben, durch Bereitstellung günstiger Wohnungen oder entsprechenden
Baulands höhere Einkommen zu importieren, sollte jedoch kritisch aber nicht ablehnend betrachtet
werden.
Der Bereich des Wohnens nimmt in der Wirtschaftsförderung eine wichtige Funktion ein, da die
Rolle der kommunalen Einnahmen über die Gewerbesteuern an Wichtigkeit abnehmen wird und
somit die der Einkommenssteuern an Bedeutung in der kommunalen Haushaltsplanung zunehmen
wird. Das liegt zum Hauptteil an dem neuen Gemeindefinanzierungsgesetz, wonach die Lohn- und
Einkommenssteuerumlage, die sich bis dato auf ca. 15% beläuft, gegenüber der Gewerbesteuer an
Bedeutung gewinnen wird (es sollte dabei auch daran gedacht werden, daß die
Gewerbesteuereinnahmen starken konjunkturellen Schwankungen unterliegen können).
Ein weiterer Punkt ist, daß die durch kapital- und ertragsstarke Industrieunternehmen gezahlten
Gewerbesteuereinnahmen nach dem neuen Länderfinanzausgleichsgesetz verstärkt mit dem Land
geteilt werden müssen und es erscheint allein aus diesem Grunde einleuchtend, daß die Rolle der
Einkommenssteueranteile nicht nur in der kommunalen Wirtschaftsförderung an Bedeutung
gewinnen wird. Der kommunale Finanzausgleich versucht die Wanderungsverluste der Städte, die
sich infolge der verstärkten Wohnansiedlungsbemühungen des Umlandes ergeben, auszugleichen.
In der Wirtschaftsförderung sollte der Wohnstandort auch Bestandteil der Standortpflege und vermarktung sein. Für ansiedlungswillige Unternehmen z. B. aus dem Dienstleistungsbereich aber
auch aus anderen Branchen spielt die Qualität des Wohnstandorts eine bedeutende Rolle insofern,
als sowohl für Arbeiter als auch für Angestellte der verschiedenen Gehaltsstufen ausreichend und
z.T. hochwertiger Wohnraum zur Verfügung stehen sollte.
Die Wohnraumnachfrage im Landkreis Helmstedt ist in den letzten zwei Jahren sehr stark
angewachsen und man muß durchaus von einer akuten Wohnungsnot sprechen, die über die
nächsten Jahre noch anhalten wird. In Anbetracht dieser Tatsachen gehört zu einer solchen
"Wohnstrategie" nicht nur die Bereitstellung von Bauland sondern auch das konzentrierte und
konzertierte Ineinandergreifen von Planung und Durchführung, um den dazugehörigen Ausbau von
infrastrukturellen Einrichtungen für die relevanten Altersgruppen und deren Qualitätsansprüche
durchführbar zu machen.
Desweiteren ist die Nutzung von Leerständen und Baulücken als vordringlich einzustufen, die
Gründe für die Leerstände herauszuarbeiten, zu bewerten und eine Vorgehensweise zu finden, wie
dieses Manko auf dem Wohnungsmarkt gelindert werden kann.
8.2
Die Alterszusammensetzung der Bevölkerung des Landkreises und die für eine
Wohnansiedlungsstrategie relevanten Altersgruppen
Im Bereich Wohnen spielt die Wohnbevölkerung und deren Alterszusammensetzung eine sehr
bedeutende planerische Rolle (s. Tab. VIII 1 + VIII 2).
Die Alterszusammensetzung ist im Bereich des Wohnens von großer Bedeutung. Es sind vor allem
bestimmte Altersgruppen, die für die planerische Aufarbeitung in Bezug auf Flächenbereitstellung
und Gestaltung des Wohnumfeldes wichtig sind. Außerdem wird die Bedarfsseite auf dem
Wohnungsmarkt im wesentlichen durch die Bevölkerungsentwicklung beeinflußt.
- 241 -
8.2.1 Die Altersgruppe der 20 -45 - Jährigen
Eine wichtige Gruppe ist die Altersgruppe der 25 - 35 -jährigen Menschen. Die geburtenstarken
Jahrgänge der 60-ziger sind seit Mitte der 80-ziger Jahre verstärkt auf den Wohnungsmarkt
vorgedrungen, was trotz abflauender Singularisierungstendenz (die Zunahme der Haushaltszahlen
seit 1987 liegen mit 1.5% unterhalb der Zunahme der erwachsenen Bevölkerung von 2.3%) zu
Engpässen auf dem Wohnungsmarkt geführt hat. Es ist die Gruppe der Menschen, die bis zu Beginn
der 90-ziger eine starke Singularisierungstendenz aufwies und zudem weniger Kinder hatte. Diese
Ziel- und Altersgruppe fragt verstärkt sogenannte Singlewohnungen nach.
Diese „Einpersonenhaushaltstendenz“ ist jedoch nicht nur dieser Altersgruppe zuzuschreiben,
sondern entsteht auch durch eine zunehmende Scheidungsrate sowie sinkende
Wiederverheiratungsquoten nach Scheidungen in den folgenden Altersgruppen. Viele dieser
Menschen bevorzugen ebenfalls kleine Wohnungen, vor allem 1-2 - Zimmer - Wohnungen.
Im Landkreis Helmstedt betrug der Anteil der 25 - 35 Jährigen im Januar 1991 15%. Im Landkreis
Gifhorn betrug er 16.4%, im Landkreis Wolfenbüttel 15%. Der Landkreis Gifhorn weist neben der
Stadt Wolfsburg (16%) in dieser Altersgruppe die höchsten Raten auf. Interessant ist auch der Wert
für die 30-35 Jährigen, der sogar etwas über dem Bundesschnitt liegt und so auch darauf verweist,
daß der Landkreis Gifhorn zu einem bevorzugten Wohnstandort dieser sozio-ökonomisch wichtigen
Altersgruppe gehört. Noch deutlicher zeigt sich dieses bei Betrachtung des Anteils der 25-25
Jährigen.
Insgesamt spielt die Gruppe der 25-45 jährigen Menschen auf dem Wohnungsmarkt als
Baukundenpotential eine besondere Rolle. Der Anteil der Bevölkerung im Baualter von 25-45
Jahren betrug im Landkreis Helmstedt 28.2%, was im Vergleich zu den Landkreisen Gifhorn mit
30.2%, Wolfenbüttel mit 28.5% und Peine mit 28.4% den geringsten Anteil bedeutet (s. a. Tab. VIII
2). In dieser Altersgruppe werden erfahrungsgemäß häufig sowohl Ein- und Zweifamilienhäuser als
auch kleinere Wohnungseinheiten auf Eigentumsbasis nachgefragt.
Hier ist auch zu berücksichtigen, daß diese Generationen zur sogenannten "Erbengeneration"
gehören und den Dauerboom im Eigentumssektor sehr nachhaltig mit produziert haben. Die
Erfahrung der letzten 10-15 Jahre zeigt, daß ein großer Teil der ererbten Vermögen zum Erwerb
von Wohnungseigentum verwendet wird.
8.2.2 Die Altersgruppe der älteren Menschen (ab 60 Jahren)
Die Altersgruppe der 65 jährigen und älteren Menschen interessiert in diesem Zusammenhang, da
in dieser Gruppe viele Menschen sind, die einen Alterswohnsitz und eine entsprechende Pflege- und
Versorgungsinfrastruktur nachfragen, aber auch im Freizeit- und Kulturbereich (also auch dem
Fremdenverkehr) entsprechender Beachtung bedürfen. Hier weisen die Stadt und der Landkreis
Helmstedt die höchsten Anteilwerte im regionalen Vergleich auf. In der Stadt Helmstedt betrug der
Anteil der 60- bis über 75 Jährigen am 1.1.1991 26.9%, im Landkreis Helmstedt 23.8%. Etwas
niedriger liegt der Wert mit 22.1% im Landkreis Wolfenbüttel. Bis auf den Landkreis Gifhorn mit
18.3% und der Stadt Wolfsburg mit 19.8%, liegen alle in diesem Vergleich aufgeführten
Kommunen sowohl über dem niedersächsischen Schnitt mit 21.4% als auch dem Bundesschnitt mit
20.7%.
Da diese Altersgruppe der Bevölkerung eine besondere Rolle spielt, sollte auch verstärkt darüber
nachgedacht werden, den Wohn- und Versorgungsstandort für diese Bevölkerungsgruppe zu
verbessern. Desweiteren spiegeln die Zahlen wider, daß im Landkreis Helmstedt bezüglich dieser
Altersgruppen ein mehr an Erfahrung vorliegen sollte als in den anderen Regionen. Hier läßt sich
also durchaus daran denken, diese Altersgruppe auch als Wohnzielgruppe zu erkennen und
entsprechende den Wohnstandort verbessernde Initiativen zu ergreifen. Zudem wird der Anteil der
über 65 jährigen an der Bevölkerung bis zum Jahr 2010 eine Verdopplung erreichen
(Immobilienmanager 3/93), so daß also Steigerungen zu erwarten sind . In der Region Brauschweig
- 242 -
wird bis zum Jahr 2000 mit einer Zunahme der über 60 Jährigen von ca. 17% gerechnet, im
Bundesschnitt mit 20% (Bevölkerungsprognose der BfLR, Heft 9/19 1992 und Heft 11/12 1992).
8.3 Der Wohnungsmangel im Landkreis Helmstedt
Der Wohnungsnachfragedruck hat sich im Raum Helmstedt seit Ende der 80er Jahre erheblich
verstärkt, was nicht unbedingt als Indiz für eine Bevorzugung dieses Raumes in der Wohnnachfrage
bewertet werden sollte. Es sind vielmehr die geringe Bautätigkeit und Wanderungsgewinne im
Zuge der Grenzöffnung, die als Gründe für diesen starken Nachfragedruck verantwortlich sein
könnten (ISP, 1991). Der Druck auf dem Wohnungsmarkt zeigt sich in "Warteschlangen" und
verschobenen Umzügen sowie einer starken Preisentwicklung für Wohnen und Bauland. Im
Bereich des Sozialamtes ergibt sich aus diesem Prozeßgefüge z. B. eine zunehmende Anzahl von
Wohngeldempfängern (im Bundesdurchschnitt müssen bis 65% des Einkommens für Mietkosten
aufgebracht werden) und bei den Wohnungsbaugesellschaften eine erhöhte Anzahl von
Antragstellern. Auf dem Vermietungsmarkt ist der Mangel ganz deutlich spürbar. Wenn sich auf
eine Wohnungsannonce hin fünfzig, ja, in Großstädten hunderte von Interessierten melden, ist das
eine Zeugnis der Mangelsituation auf dem Markt, die für preistreibende Geschäftspraktien ein
breites Betätigungsfeld bietet.
Eine Obdachlosigkeit, wie sie sich durchaus aus einem solchen Wirkungsgefüge ergeben kann, wird
meist durch "Puffer" abgemildert. Solche Puffer sind bei den jungen Menschen die Wohnung der
Eltern, bei Älteren das Unterkommen bei Verwandten und Freunden, in Übergangsheimen, Hotels,
Zimmervermietungen u.ä..
Der Wohnungsmangel, der sich z.B. in der Stadt Helmstedt zwischen 1987 und 1990 ergab, wurde
in einer Untersuchung des Eduard - Pestel - Instituts, die im Auftrage der Nord LB ausgeführt
wurde, berechnet. In der folgenden Tabelle sind neben den tatsächlich vorhandenen Haushalten die
Ergebnisse der Modellrechnung für die fiktive Haushaltsbildung auf der Grundlage der seit 1985
abnehmenden Haushaltsgrößen aufgeführt. Die Gegenüberstellung der Werte zeigt, daß sich 690
Haushalte bis 1990 mehr hätten bilden müssen, wäre eine ausreichende Versorgung mit
Wohnungen vorhanden gewesen. Es ist hier die defizitäre Wohnsituation deutlich diagnostiziert, die
sich nach der Grenzöffnung noch erheblich verschärft hat.
Tabelle: Stadt Helmstedt Haushalte 1987 bis 1990
Haushalte(HH-IST) tatsächlich
gebildet bei gegebenem
Wohnungsbestand
Veränderung
Haushalte, fiktiv gebildet bei
ausreichender
Wohnungsversorgung
Veränderung
Haushaltsrückstau
1987
1988
12.220
1989
12327
1990
12364
Summe
Veränderung
in %
12409
-
1.5%
-
107
37
45
189
-
12.525
12.644
12.825
13.099
-
4,6%
3
305
119
182
274
574
12
145
229
690
nachrichtl.: Kreisstädte
1 jeweils 31.12.
2 Summe HH-Rückstau in % der HH-IST 1990
3 kumulierte Werte ab 1985
5.6%2
4.9%2
8.4 Der Wohngebäudebestand im regionalen Vergleich
Aus den Tabelle VIII 3-VIII 6 ist ersichtlich, daß der Landkreis Helmstedt bezüglich des Alters des
Wohngebäudebestandes das Schlußlicht im Vergleich zu den Landkreisen Gifhorn, Wolfenbüttel
und Peine bildet. Vergleicht man den neueren Wohngebäudebestand, der ab 1969-1975 und später
errichtet wurde, steht der Landkreis Helmstedt mit 18.8% des Bestandes als Schlußlicht im
Vergleich zu den anderen Landkreisen (wie Gifhorn mit 39.0%, Wolfenbüttel mit 28.8% und Peine
- 243 -
mit 29.6%) da. Auffällig sind die hohen Errichtungsbestände der Städte Helmstedt, Schöningen und
außerhalb des Landkreises der Stadt Wolfsburg der Jahre 1949 bis 1968, die wahrscheinlich mit der
bis 1967 stets aufwärts weisenden wirtschaftlichen Entwicklung im Landkreis, der BKB und,
außerhalb des Landkreises, mit VW zu tun haben (der Großteil der Wohnungen der
Wohnungsbaugesellschaft der BKB AG stammt aus den 50er und 60er Jahren, s.u.).
Auffällig ist vor allem der Landkreis Gifhorn, der einen hohen Errichtungsanteil seit 1958 aufweist
und zudem in den Jahren 1969-1979 und später zu den Spitzenreitern auch im Vergleich zu den
anderen Landkreisen und kreisfreien Städten des Regierungsbezirks Braunschweig gehört. Es sind
kaum Anzeichen im Landkreis Helmstedt erkennbar, die aus einer ähnlichen „Gunstlage“
(zumindest im Nord- und Westkreis) heraus zu einer verstärkten Bautätigkeit geführt hätten. Dieses
Versäumnis ist auch mit einer konzentrierten Aktivierung dieses Bereiches zumindest kurzfristig
nicht aufzuholen.
Der Gebäude- und Wohnungsbestand im Landkreis Helmstedt
Im Jahr 1987 betrug der Wohngebäudebestand (ohne Wohnheime, ohne Wohngebäude mit 1 oder 2
Freizeitwohneinheiten) insgesamt 23.037 Einheiten. In diesen befanden sich 40.559 Wohnungen,
von denen 39.809, also 98.1% belegt waren (s.a. Tab. VIII 7 + VIII 8 ). Am 31.12.1991 betrug der
Wohnungsbestand bereits 41.737 Wohneinheiten, was einer jährlichen Zunahme von 1987 bis 1991
von 0.7%/a entspricht.
Von diesen 41.737 Wohneinheiten bewirtschaftete allein die Wohnungsbaugesellschaft
niedersächsischer Braunkohlenwerke mbH - WBG - Helmstedt 2.763 Wohneinheiten. Das sind
knapp 7% des Gesamtbestandes. In der Hauptsache handelt es sich hierbei um Wohnungen aus den
50er und 60er Jahren.
Betrachtet man die Fortschreibung des Gebäude- und Wohnungsbestandes 1989 bis 1991 für den
Landkreis Helmstedt (s.a. Tab. VIII 9), ist zu erkennen, daß der Anteil der Ein- und
Zweizimmerwohnungen selten über 5% liegt. Der Anteil der 20-30 - jährigen Wohnbevölkerung
beträgt 1991 im Landkreis Helmstedt 7.6%. Insgesamt liegt der Anteil der 1-2 - Zimmer Wohnungen im Landkreis Helmstedt am 31.12.91 bei 3.9%. Hier wird bereits deutlich, daß ein Teil
dieser Bevölkerungsgruppe entweder zuhause bei den Eltern oder in (Übergangs)Wohnungen mit
mehr als 2 Personen pro Haushalt unterkommt. Insgesamt liegt der Anteil der Ein- und
Zweizimmerwohnungen im Beobachtungszeitraum von 1989 bis 1991 zwischen 2.43% (Nord-Elm)
und 5.1% (Stadt Helmstedt).
Den größten Anteil am Wohnungsbestand haben die Wohnungen mit 3-6 Zimmern, der 1991 im
Landkreis im Durchschnitt bei 82.8% lag, wobei die Städte Helmstedt und Schöningen Anteile von
über 87% aufwiesen. Die Industriegemeinde Büddenstedt hat mit 84.2% ebenfalls einen über dem
Landkreisschnitt liegenden Anteil an 3-6 - Zimmer - Wohnungen.
Die ländlich geprägten Gebiete weisen einen auffällig hohen Anteil von Wohnungen mit 7 und
mehr Zimmern auf, was sachgemäß auf die Siedlungsstrukturen des Ländlichen Raumes
zurückzuführen ist. Im Landkreisdurchschnitt lag der Anteil solch großer Wohnungen bei 13.3%
des Bestandes. Typischerweise weist die ländlich strukturierte Samtgemeinde Heeseberg den
diesbezüglich höchsten Anteil mit 24.9% auf, aber auch die Samtgemeinde Velpke besitzt mit
21.2% einen relativ hohen Anteil an Wohnungen mit 7 und mehr Räumen, wobei die Leerstände in
der Samtgemeinde Velpke vor allem resultierend aus der Nähe zu Wolfsburg geringer sind (2.0%
nach Daten aus der VZ, 1987) als bei der Samtgemeinde Heeseberg mit 2.3% (VZ, 1987; s.a. Tab.
VI 7). Die Durchschnittswerte für den Landkreis Helmstedt lagen im Jahr 1987 bei 1.9%. Die
regionalen Werte für Niedersachsen schwanken 1990 zwischen 0.57 bis 2.5%. Der
Landesdurchschnitt lag bei 1.6% (LBS, Schriftenreihe, Bd. 14).
Die Städte Helmstedt, Wolfsburg sowie die Landkreise Gifhorn, Helmstedt, Wolfenbüttel und Peine
weisen allesamt einen Anteil von unterhalb dieses Schwellenwertes auf, wobei die Stadt Wolfsburg
den niedrigsten Wert (0.87%) und der Landkreis Wolfenbüttel den höchsten Wert mit 2.48%
aufweisen (s.a. Tab. VIII 8).
- 244 -
Im Landkreis Helmstedt wird der Schwellenwert von 2.5% des Bestandes unterschritten. Es sollten
ca. 2,5% vorhanden sein, damit genügend Umzugsmöglichkeiten vorhanden sind. Liegt der Wert
für die Leerstände darunter, kann man davon ausgehen, daß es zu Umzugsketten kommen kann.
Das heißt, daß immer mehr umzugswillige Haushalte auf freiwerdende Wohnungen warten und so
den Umzug anderer umzugswilliger Haushalte in ihre freiwerdende Wohnung verhindern bzw.
hinausschieben.
Aus der Untersuchung des Eduard-Pestel-Instituts (1991) zeigt sich, daß in der Stadt Helmstedt
zwischen 1987 bis 1990 ein Anstieg der Leerstände von 14.9% zu verzeichnen war. Im selben
Zeitraum haben die Kreisstädte einen Rückgang der Leerstände von 17.3% zu verzeichnen gehabt,
was auf eine zunehmend angespannte Wohnraumsituation hinweist. Die Zahl der Untermieter hat in
der Stadt Helmstedt in diesem Zeitraum um 23.2% zugenommen, die in den beiden anderen
Kreisstädten um 26.7%. Im Landesdurchschnitt sind die Untermieterzahlen um durchschnittlich
25% gestiegen. Im Gegensatz zu 1984 haben sich die Untermietverhältnisse in Niedersachsen fast
verdoppelt (LBS - Schriftenreihe, Bd. 14).
Das ist ebenfalls ein Hinweis auf die sehr angespannte Wohnsituation. Die Zunahme der
Untervermietung ist im grenznahen Bereich aber bedingt auch durch eine wesentlich höhere
Nachfrage im Zuge der Grenzöffnung zustandegekommen, da sich zu dieser Zeit und auch danach
eine große Zahl von Händlern, Unternehmern und Verwaltungsexperten in den sachsenanhaltinischen Regionen aufgehalten haben und es nicht einfach war/ist, dort adäquate Unterkünfte
zu finden.
8.5 Die Zunahme von Wohnungen
Die Tabelle zu Wohnbautätigkeit und Flächenumsatz (s. Tab. VIII 10) zeigt im Landkreisvergleich
deutlich die verstärkten Bemühungen (erhöhte Bauintensität) des Landkreises Gifhorn im
Wohnungsbau. Nimmt der Landkreis Helmstedt dort 1985 mit 4.4 fertiggestellten Wohnungen je
1000 (0.42%) des Bestandes noch den letzten Platz ein, weist der Landkreis Gifhorn bereits 15.6 je
1000 Wohnungen des Bestandes (1.6%) an fertiggestellten Wohnungen auf. 1989 sind es sogar 18.1
(1.8%), ein doppelt so hoher Wert wie der Wert des Bundesgebietes (alte Länder) und nahezu
dreimal so hoch wie der Wert für die Raumordnungsregion Braunschweig mit 6.7 je 1000
Wohnungen des Bestandes.
In den anderen niedersächsischen Regionen lag die Bauintensität zwischen 1987 und 1990
zwischen +270% und -40%. Die Region Gifhorn hat dank ihrer günstigen Lage zu großen
Industrieregionen eine hohe Bauintensität (ca. 2% und mehr, LBS - Schriftenreihe, Bd. 14),
während der Landkreis Helmstedt immer noch bei 0.5-1% des Bestandes liegt. Daraus ergibt sich
wiederum ein hoher Druck auf den Wohnungsmarkt, da durch so geringe Fertigstellungsraten kaum
Sickereffekte entstehen können. Es wird vielmehr so sein, daß die Ausziehenden bereits feste
Nachmieter haben und so freiwerdende Wohnungen gar nicht erst auf dem freien Wohnungsmarkt
angeboten werden können. Die verstärkten Bemühungen im Landkreis Gifhorn werden sich aller
Voraussicht nach in Zukunft sehr positiv bemerkbar machen. Man bedenke in diesem
Zusammenhang nur die kommunalen Einkünfte in Bezug auf die Anteile an der Einkommenssteuer.
Im Landkreis Helmstedt werden aber ebenfalls verstärkte Bemühungen unternommen. So hat die
Kreiswohnungsbaugesellschaft Helmstedt seit 1988 bis einschließlich Ende 1992 insgesamt 121
neue Wohnungen, davon 54 Dachgeschoßwohnungen mit einem Kostenaufwand von rund 13.9
Millionen DM gebaut. 58 dieser Wohnungen sind in Vorsfelde errichtet worden, also außerhalb des
Landkreisgebietes, aber sehr nahe zum VW-Werk. Für die Jahre 1993 und 1994 sind mit einem
voraussichtlichen Kostenaufwand von 10,7 Millionen DM 50 neue Wohnungen in den Städten
Helmstedt, Königslutter und Schöningen geplant . Durch die schlechte Finanzsituation der
Kommunen wird sich leider in Zukunft auf den Anbau oder Dachgeschoßausbau konzentriert
werden müssen (BZ, Helmstedter Ausgabe vom 14.08.93).
Im Jahr 1991 wurden von der Kreiswohnungsbaugesellschaft 352 Mietwohnungen, im Jahr 1992
266 Wohneinheiten modernisiert. 62 Wohnungen wurden nach Fertigstellung der
Modernisierungsmaßnahmen sofort wieder neu belegt (Helmstedter Blitz, 3.9.92)
- 245 -
Aus der Tab. VIII 11 wird ersichtlich, daß im Landkreis Helmstedt, wie auch in den anderen
Kommunen des Landkreises das Hauptgewicht der Fertigstellungen im Ein- und
Zweifamilienhausbau lag. Besonders intensiv wurde in der Gemeinde Lehre und Samtgemeinde
Velpke in dieser Sparte gebaut. Beide Kommunen sind durch ihre geographische Lokalisation
begünstigt. Was bei der Samtgemeinde Velpke die Nähe zu Wolfsburg ist, ist bei der Gemeinde
Lehre die „Zwickellage“ zwischen dem Oberzentrum Braunschweig und der Stadt Wolfsburg.
Auffällig ist zudem die insgesamt geringe Fertigstellung von Gebäuden mit Drei- und
Mehrzimmerwohnungen. Die Stadt Königslutter, die Samtgemeinde Velpke sowie die Gemeinde
Lehre fallen positiv auf und haben die im Kreisvergleich höheren Fertigstellungsraten von
Gebäuden mit Drei- und Mehrzimmerwohnungen.
Aus Tab. VIII 12 ist ersichtlich, daß im Landkreis in diesem angegebenen Zeitraum insgesamt 792
Wohnungen entstanden sind, mit einer deutlichen Konzentration im Vier-bis-fünf-Zimmer-Bereich,
also einer stark nachgefragten Wohnungsgröße.
Die raumplanerisch und ökologisch kritischsten Bautätigkeiten im Wohnbereich sind die im Einund Zweifamilienhausbau. Bezüglich des 1- und 2-Familienheimbaues nimmt der Landkreis
Helmstedt im regionalen Vergleich Rang 1 ein. 1989 lag der Anteil neuer 1-2 Familienhäuser bei
99.4% (s.a. Tab. VIII 10). Der Anteil neuer Wohnungen lag mit 97.8% im 1-2 Familienhausbereich.
Es soll hier nicht der Eigenheimbau in Form von Einfamilienhäusern verunglimpft werden, doch es
bedarf doch einer kritischen Betrachtung. Durch den ausgeweiteten Eigenheimbau ist z. B. ein
zunehmendes Verkehrsaufkommen zu attestieren. Wenn also mehr Eigenheime gebaut werden, muß
unbedingt planerisch und praktisch dafür Sorge getragen werden, daß die Verkehrsproblematik
bedacht wird und entsprechende Versorgungs- und Freizeiteinrichtungen durch den ÖPNV sowie
dazugehörige Streckenführungen auch für den Individualverkehr nicht die Anlieger dieser neuen
Siedlungen bzw. der Hauptstraßenanrainer zusätzlich negativ beeinträchtigen.
Letzten Endes wird es zukünftig darum gehen, eine vernünftige, an den Bestrebungen und
Verhaltensweisen des Menschen orientierte, ins ökologische Netz möglichst weitgehendst
einzupassende Lebensraumgestaltung zu finden, wobei dem Wohnbereich größte Aufmerksamkeit
geschenkt werden sollte, denn er stellt den intimsten Erfahrungs- und Austauschbereich des
Menschen neben der Arbeitsstätte dar (Moewes, 1981).
Diese raumplanerischen Problemstellungen müssen jedoch auf anderen, der Landkreisebene
übergeordneten, Ebenen diskutiert werden. Es bestehen wohl kaum Zweifel daran, daß
Einfamilienhäuser, und seien es auch Reihenhäuser, Atriumhäuser etc. relativ enger Bebauung, dem
Familienleben förderlich sind und vor allem den Kindern - und sei der Garten auch noch so klein größere Bewegungs-, Erlebnis- und Entfaltungsmöglichkeiten gewähren als dies in den städtischen
Verdichtungsgebieten möglich ist. Warum also nicht allen Menschen einen eigenen Wohn- und
Lebensbereich erschließen?
Das Argument, es stünde nicht genügend Fläche zur Verfügung, hinkt ein wenig, denn bebaubare
Fläche ist genügend vorhanden. Es bedarf dazu aber einer Veränderung der
Flächennutzungsansprüche und der dazugehörigen Leitlinien für das Siedlungsmuster. Dafür müßte
wahrscheinlich das „Zentrale-Orte-Prinzip“ aufgeweicht werden und dies kann nur auf den höheren
Entscheidungsebenen entschieden werden. Nichtsdestotrotz kann im Landkreis Helmstedt eine
moderne, an ökologischen Prinzipien orientierte Lebensraumgestaltung vorgedacht werden und in
Projektsiedlungen vorgeführt werden. Die Lage als Modellregion ist als gut zu beurteilen. Die
Nachfrage nach solchermaßen gestalteten Lebens- und Arbeitsräumen nimmt in Deutschland
wahrscheinlich noch weiter zu und es ist eine wachsende Nachfrage zu erwarten.
Vergleicht man Tab. VIII 12 mit Tab. VIII 13 wird ein deutlich positiveres Bild des Landkreises
Helmstedt gezeichnet (unterschiedliche Quellen!). Die Gemeinde Lehre und die Samtgemeinde
Velpke sind Spitzenreiter, gefolgt von den Städten Königslutter und Helmstedt, die vor allem seit
1991 eine deutliche steigende Tendenz bei den Fertigstellungen aufweisen. Es wurden auch hier
vorwiegend Wohnungen mit 4-5 Zimmern fertiggestellt.
Die geringen Zugangswerte der Samtgemeinde Heeseberg sind darauf zurückzuführen, daß diese
Samtgemeinde etwas abseits der Entwicklungsräume des Landkreises Helmstedt liegt und somit
bestimmte Begrenzungen für Wohnansiedlungen existieren (z. B. planerisch, soziale). Außerdem
- 246 -
gibt es kein übergreifendes Flächenmarketing dieser landschaftlich so reizvollen Wohngegend. Es
ist nicht (nur) der Brockenblick sondern auch die relativ gute Infrastruktur und der weitgehend
erhaltene dörfliche Charakter mit einem Gutteil Landwirtschaft, der diesen Wohnstandort einen
eigenen Reiz verleiht. Doch das alleine reicht nicht. Eine in der Samtgemeinde angedachte
verstärkte Reaktivierung der "Süd - Elm - Bahn" von Helmstedt über Schöningen - Schöppenstedt Wolfenbüttel nach Braunschweig könnte bei Auslegung im Schnellverkehr durchaus zu einer
gesteigerten Wohnansiedlungsattraktivität entlang dieser Strecke beitragen.
Ein Plus ist, daß die Organe der Samtgemeinde eine positive Einstellung zu den Baugesuchen
Ansiedlungswilliger haben. Wenn hier eine Optimierung der Flächenvorhaltung und des
Marketings dieser Flächen eingeleitet wird, so kann das auch den Erhalt und gegebenenfalls den
Ausbau der DB-Strecke 310 indirekt unterstützen.
Bei der Gemeinde Büddenstedt ist die geringe Anzahl an Zugängen aus ihrer Flächenknappheit
sowie aus ihrer Funktion als Industriegemeinde erklärbar. Das (Wohn)Image dieser Siedlung ist
vom Braunkohlebergbau geprägt. Wenn der Bergbau in absehbarer Zeit zum Erliegen kommt und
die Rekultivierungsfläche vielleicht zu einem ökologisch wertvollen Gelände gemacht werden
könnte, so erhält der Wohn- und Freizeitwert dieser Gemeinde eine qualitativ neuwertige
Ausrichtung. Wird hier frühzeitig erkannt, daß in den nächsten 10 - 20 Jahren vor der Tür ein
landschaftlich reizvolles und abwechslungsreiches Gebiet entsteht (inklusive diverser
Entsorgungseinrichtungen mit Arbeitsplätzen), so ist eine bedingte Wohnattraktivitätssteigerung
dieses Standortes zu erwarten. Diese ist bei rechtzeitiger planerischer Vorarbeit späterhin positiv zu
nutzen. Dieser Aspekt spielt auch im Fremdenverkehr eine wichtige Rolle, denn die Gemeinde
Büddenstedt kann sich aufgrund der geplanten Vorhaben, was die Rekultivierungsmaßnahmen
angeht, durchaus große Chancen ausrechnen, zu einer attraktiven Fremdenverkehrsgemeinde zu
werden. Solche Vorhaben müßten jedoch erst einmal eruiert werden.
8.6 Verschiedene Gründe für Baulücken und Leerstände
Auf die Gründe für städteplanerisch unerwünschte Baulücken auch in den Städten des Landkreises
Helmstedt s. a. Kapitel "Wohnbaulandreserven im Landkreis Helmstedt) wird im folgenden näher
eingegangen.
Für das Schließen von Baulücken sind (n. Dieterich, 1981) folgende Gründe maßgeblich:
Bodenwirtschaftliche Gründe:
- das knappe Angebot an Bauland wird vermehrt,
- bessere Ausnutzung der vorhandenen technischen Infrastruktur (vor allem
Erschließungsanlagen, für die von den Gemeinden z.T. schon erhebliche Investitionen
erbracht worden sind, die aber mindestens teilweise brachliegen),
- bessere Ausnutzung der vorhandenen sozialen Infrastruktur (z.B. Schulen und
Kindergärten),
- Vermehrung des Wohnungsangebotes. Das Schließen von städtischen Baulücken kann
deshalb auch der Stadtflucht entgegenwirken und Sickereffekte auslösen,
- in gewissem Umfang kann auf die Neuausweisung von Bauland verzichtet werden, wenn
Baulücken geschlossen werden.
Städtebauliche Gründe im engeren Sinne:
- im Bereich geschlossener Bebauung:
a) Erzielung wichtiger gestalterischer Wirkungen,
die
- 247 -
b) Verringerung von Lärmimmissionen, z.B. im Inneren eines Baublocks.
- Beseitigung von Belästigungen, die von Baulücken ausgehen (unästhetischer Anblick,
Abfallablagerungen und Brutstätten für Ungeziefer),
- Beseitigung funktionsloser Räume.
- von der Bebauung können positive Impulse für die Umgehung ausgehen.
Sozialpolitischer Gesichtspunkt:
- Minderung der sozialen Segregation.
Es wird seitens der Kommunen natürlich versucht, die Baulücken zu schließen. So wird in der Stadt
Helmstedt, wo 1992 ein sehr schönes altes, leider einsturzgefährdetes ehemaliges Professorenhaus
abgerissen wurde, versucht, diese Lücke z. B. durch den Bau eines Hotels wieder zu schließen.
Auch in den Kommunen des Landkreises Helmstedt gibt es, selbst in den vom Wohnungsmangel
stark beeinträchtigten Städten, diverse Leerstände. So stehen zum Verkauf anstehende Eigentumsbzw. Neubauwohnungen z.B. wegen zu hoher Mietforderungen leer, da sie in den Übergangszeiten
bis zur Vermietung/zum Verkauf des Objekts keinen Mieter/Käufer finden. Hier ist mit
durchschnittlichen Leerstandszeiten von bis zu einem halben Jahr auszugehen. Wegen
Renovierungen und Verbesserungsinstallationen zur Erzielung eines hohen Mietzinses stehen
Wohnungen ebenfalls bis zu einem Vierteljahr und länger leer.
Staffelmietverträge tun das ihrige zu einer Verschlechterung des Wohnungsangebotes, da
potentielle Kunden schnell erkennen können, daß eine Wohnung in absehbarer Zeit u. U. nicht mehr
bezahlbar sein wird. Auch hier entstehen Leerstände, die sich durchaus über einen längeren
Zeitraum (u.U. ein halbes Jahr und länger) hinziehen können. Ein weiterer Grund für Leerstände
und bedingt für die Wohnungsknappheit besteht in nicht bewohnten Zweitwohnungen
(Freizeitwohnungen), die z.T. nur ein einziges mal im Jahr in Anspruch genommen werden und
dann den Rest des Jahres leer stehen.
Es gibt also Hinweise, daß sich die bestehende Wohnungsknappheit nicht nur aus einer simplen
Mangelsituation aufgrund geringer Fertigstellungszahlen ergibt, sondern zumindest teilweise auf
einem rein privaten Spekulationsgebaren beruht. Es soll hier nicht Moral und Ethik angezeigt bzw.
diese angemahnt werden, sondern lediglich darauf hingewiesen werden, daß eine mögliche
Entspannung des Wohnungsmarktes nicht allein auf den Schultern der kommunalen und städtischen
Entscheidungsträger ruht, sondern oftmals durch persönliches Engagement und Rücksichtnahme
des Bürgers hilfreich unterstützt werden kann.
8.7 Anteil der Eigentümer- und Mietwohnungen an bewohnten Wohnungen
Der Anteil der Eigenheime an den bewohnten Wohnungen (s.a. Tab. VIII 14+14a) ist insofern von
größerem Interesse, als dieser Anteil etwas über die regionalen Bindungen der Bevölkerung
auszusagen vermag. Die Besitzer von Eigenheimen sind finanziell wie auch psychisch relativ stark
an den Raum gebunden und können so durchschnittlich als weniger mobil angesehen werden. Das
ist vor allem in Anbetracht der voraussichtlich in den künftigen Jahren zunehmenden
Arbeitslosigkeit im Landkreis Helmstedt von Bedeutung.
Bei Betrachtung der Tab. VIII 14 ist auffällig, daß der Landkreis im Vergleich zu den dort
aufgeführten Landkreisen über den geringsten Anteil an Eigentümerwohnungen verfügt (35.6%).
Der Landkreis Gifhorn hat mit einem Eigenheimanteil von 61.2% den höchsten Anteil, gefolgt vom
Landkreis Peine mit 53,4%.
Die hohen Mietwohnungsanteile der Städte Helmstedt und Wolfsburg erklären sich sachgemäß aus
ihrer städtischen Funktion, aber auch durch ihre Funktion als Wohnungsschwerpunkte für die
Arbeitnehmer des produzierenden Gewerbes (BKB- und VW-AG). Diese beiden Unternehmen
verfügen zudem über eigene Wohnungsbaugesellschaften. Die Stadt Wolfsburg weist den höchsten
- 248 -
geförderten Mietwohnungsanteil (ca. 50% des Bestandes) auf. Bei den Landkreisen weist der
Landkreis Helmstedt den höchsten Anteil an geförderten Wohnungen auf (23,9% des Bestandes).
Was die Höhe des Mietpreises betrifft, hat der Landkreis Helmstedt das niedrigste durchschnittliche
Mietpreisniveau (Daten der Volks- und Arbeitsstättenzählung von 1987) mit 5,25 DM/qm (Stadt
Helmstedt 5.63 DM/qm). Der Landkreis Gifhorn weist im regionalen Vergleich ein relativ höheres
Mietpreisniveau auf.
Es kommt also nicht von ungefähr, wenn immer wieder auch in regionalplanerischen, politischen
und wirtschaftsförderlichen Gremien darauf hingewiesen wird, daß der Ausbau des
Wohnungsangebotes für den Landkreis Helmstedt und seine Kommunen von Vorteil sein dürfte,
denn das günstige Mietniveau kann diesbezüglich zu einem Standortvorteil werden.
8.8 Die Preise für Wohnen im Landkreis Helmstedt
Der durchschnittliche Gesamtkaufpreis für freistehende Ein- und Zweifamilienhäuser lag im
Zeitraum von 1985 bis 1992 zwischen 156.000 DM (Tiefststand 1987) bis 246.000 DM (1992) mit
deutlich steigender Tendenz nach der Grenzöffnung (130%-ige Preissteigerung von 1989 bis
1992!). Der durchschnittliche Gesamtkaufpreis für Reihenhäuser und Doppelhaushälften lag
zwischen 122.000 DM (Tiefststand 1987) und 177.000 DM (1992), ebenfalls mit deutlich
steigender Tendenz nach der Grenzöffnung (ca. 130%-ige Preissteigerung von 1989-1992). Die
Preisdifferenz zwischen den Reihenhäusern und Doppelhaushälften ist durch die allgemein
größeren Wohn- und Grundstücksflächen der freistehenden Ein- und Zweifamilienhäuser zu
erklären.
Der Quadratmeterpreis für freistehende 1- und Zweifamilienhäuser ab dem Baujahr 1971 beträgt
durchschnittlich ca. 2.300 DM, für Reihenhäuser und Doppelhaushälften ca. 2.400 DM. Bei den
Eigentumswohnungen ergibt sich ein durchschnittlicher Quadratmeterkaufpreis von 1.700 (Baujahr
1970 und älter) bis 2.800 DM für die Baujahre 1990 bis 1992.
8.8.1 Baulandpreise
Die Grundstücksgrößen pro erstellter Wohneinheit liegen im Landkreis Helmstedt sowohl deutlich
über dem Durchschnitt des Regierungsbezirks Braunschweig als auch über dem Niedersächsischen
Durchschnitt. Im Regierungsbezirk Braunschweig verminderte sich die durchschnittliche
Baulandfläche pro erstellter Wohneinheit von 559 (1989) auf 441 m2 (1993), im Land
Niedersachsen von 612 (1989) auf 497 m2 (1993). (LBS, "Baulandausweis zwischen Trägheit und
Eifer", Hannover, 1993)
Die Baulandpreise beim individuellen Wohnungsbau im Landkreis Helmstedt sind für erschliessungspflichtiges und -freies Bauland aus folgender Tabelle entnehmbar:
Erschließungskostenbeitragspflichtig
in DM
Erschließungskostenbeitragsfrei
in DM
Durchschn.-Größe in m2
1986
39
1987
36
1988
41
1989
40
1990
48
1991
44
1992
55
80
89
79
67
85
64
65
786
770
753
760
710
770
845
Quelle: Grundstücksmarktbericht 1992 für den Bereich des Landkreises Helmstedt-
In Tab. VIII 15 zeigt sich, daß der Landkreis Helmstedt zu den relativ billigeren Landkreisen
bezüglich der Kaufpreise für baureifes Land gehört.
Der Landkreis Helmstedt weist strukturelle Wanderungsverluste in den Landkreis Gifhorn wegen
der dortigen attraktiven Wohn- und Arbeitsplatzangebote sowie der reizvollen Landschaft auf. Der
- 249 -
Landkreis Gifhorn weist bei den Kaufwerten für baureifes Land im Vergleich zu den Landkreisen
Helmstedt, Wolfenbüttel und Peine zwar etwas teureres Bauland auf, gehört trotzdem aber zu den
günstigen regionalen „Anbietern“. Gifhorn ist auch der Landkreis mit den in den letzten 20 Jahren
höchsten Bevölkerungswachstumsraten (s.a. Kartenwerk von Petersen und Gerdes, Studienarbeit
des Fachbereichs Geographie, Hannover 1993, im Amt für Wirtschaftsförderung Landkreis
Helmstedt einsehbar). Dies resultiert nicht nur allein aus der günstigen räumlichen Nähe zu
Braunschweig und Wolfsburg sowie Hannover sondern wird u. a. auch von dem Kultur- und
Freizeitsponsoring des VW-Konzerns positiv beeinflußt.
Die Baulandproblematik ist in den angrenzenden Oberzentren (zumindest nach Westen hin) bei
weitem angespannter als im Landkreis Helmstedt. Bauland in den Städten zu erhalten ist in vielen
Fällen ein fast aussichtsloses Unterfangen, weshalb auch immer mehr Menschen nach "draußen"
auf den verhältnismäßig billigeren Baulandmarkt ziehen, wobei wie bereits gesagt wurde, das
Bauland im Landkreis Helmstedt relativ billiger ist als in den ihn umgebenden Landkreisen. In der
Stadt Braunschweig z.B. ist die Baulandversorgung mit am schlechtesten in Niedersachsen. Das
dort vorhandene Bauland ist bei normaler Bautätigkeit praktisch innerhalb eines Jahres
aufgebraucht, wenn nicht erhebliche neue Baulandausweisungen stattfinden.
8.8.2 Die Miet- und Pachtzinsen
Bei den Miet- und Pachtzinsen führt die steigende und sich auf hohem Niveau befindliche
Nachfrage zu überhöhten Mietpreisen, wobei die "Schallmauer" in ländlicheren Bereichen des
Landkreises Helmstedt bei 10,- DM liegt (1992/1993). Für vermieteten Wohnungsbestand wurden
im Landkreis Helmstedt folgende gemittelte Preise angegeben, wobei sich nur auf
Durchschnittsmieten für den gesamten Landkreis gestützt werden kann:
- Wohnungen in guter Lage, mit guter Ausstattung und Gliederung und gutem Zustand von
DM - 12.00 DM/qm WFL.
- Wohnungen in durchschnittlicher Lage mit normaler
Unterhaltungszustand von 6.00 DM - 9.00 DM/qm WFL.
Ausstattung
und
8.00
normalem
- Wohnungen mit einfacher Ausstattung, schlechter Gliederung und renovierungsbedürftig
4.00 DM/qm - 6.00 DM/qm WFL.
von
- bei Neuvermietungen orientieren sich die Vermieter jeweils an dem höchsten, für ihren
Wohnungstyp ermittelten Mietwert.
- Bei Erstvermietungen werden bis zu 15.00 DM/qm WFL. erzielt.
(Grundstücksmarktbericht 1992 für den Bereich des Landkreises Helmstedt).
8.9 Wohnbaulandreserven im regionalen Vergleich und im Landkreis Helmstedt
Im Jahr 1992 hat das Niedersächsische Sozialministerium eine Umfrage zu den
Wohnbaulandreserven u.a. der kreisfreien Städte und Kommunen im Landkreis Helmstedt
vorgenommen (s. Tab. VIII 16+16a).
Diese Befragung muß generell gesehen sehr vorsichtig interpretiert werden und die Ergebnisse
geben nach Aussagen von Mitarbeitern des Bauordnungsamtes Helmstedt lediglich eine Tendenz an
(hin und wieder auch nur einen Wunschtraum der Befragten).
Mit der Umfrage wurden folgende für Wohnbebauung vorgesehene Einzelflächen innerhalb der
geltenden Bebauungspläne der Gemeinden in Niedersachsen abgefragt:
- Bauflächen nach § 34 Bau-GB, d.h. Bauflächen in Baulücken,
- 250 -
- Bauflächen nach § 30 Bau-GB (Bauflächen in geltenden Bebauungsplänen),
- Bauflächen nach § 33 Bau-GB (Bauflächen im Stadium der Planung nach öffentlicher
Auslegung und Beteiligung der Träger öffentlicher Belange).
Daneben beinhaltete die Umfrage des Sozialministeriums noch die Rubrik Bauerwartungsland in
Flächennutzungsplänen. Bei den Angaben zu diesem Bereich ist zu berücksichtigen, daß es nicht
sicher ist, ob und wann diese Flächen in Bebauungspläne überführt werden.
Bei Betrachtung dieses Datenmaterials ist bemerkenswert, daß z.T. sehr große Baulandflächen nach
§ 34, d.h. in Baulücken angegeben wurden. Stichproben ergaben, daß von den in Baulücken
ausgewiesenen Flächen der größte Teil aus den unterschiedlichsten Gründen nicht zur Bebauung
zur Verfügung steht. Zum Teil sind die Flächen nicht frei zugänglich (Hinterliegergrundstücke)
oder die Besitzer sind selbst nicht bereit, die Grundstücke zu bebauen, andererseits aber auch nicht
Willens, sie am Markt zu veräußern. Bei einem weiteren Teil verhindern behördliche Auflagen ein
marktgerechtes Bebauen (E.-P.-Institut, 1993).
Bei den Flächen der Baulücken sind z.T. bebauungsplanmäßige Festsetzungen vorhanden, so daß
sie bei etwaiger Wohnraumnutzung umgewidmet werden müßten. Da sie bereits baulich genutzt
worden sind, ist nur ein geringer oder sogar gar kein Erschließungsaufwand erforderlich. Auch sind
die eventuellen bodenordnerischen Maßnahmen in der Regel nicht sehr umfangreich, da die
Flächen meist nur einem Eigentümer gehören.
Der eigentliche Hinderungsgrund für eine bauliche Wiedernutzbarmachung wird sehr häufig darin
gefunden, daß ein solches Stück Land als Wert relativ inflationssicher erhalten werden kann und bei
der bestehenden knappen Baulandausweisung der spekulative Aspekt in den Vordergrund rücken
kann. Das Halten von Baulücken macht keine bzw. nur geringe Kosten. Auf alle Fälle sind die
Erhaltungskosten geringer als die jährlichen Wertsteigerungen der Baulücken.
Die Ergebnisse für den Landkreis Helmstedt sind der Tab. VIII 16a zu entnehmen. Es ist hieraus
erkennbar, daß der Landkreis Helmstedt im Vergleich zu den anderen Landreisen den letzten Platz
einnimmt (s.a. Tab. VIII 16). Die WE-Reserven betragen im Landkreis Helmstedt insgesamt 3.789
Einheiten, das entspricht einer Vorhaltereserve von 9.1%, wobei die größten Reserven im Bereich
von F - Plänen (1.993 WE) bestehen, gefolgt von 1.194 WE-Reserven im Geltungsbereich von B Plänen und während Planverfahren (§§ 30 u. 33 Bau-GB) und 602 WE-Reserven im bebauten
Innenbereich. Über die größten Wohnbaulandreserven verfügt der Landkreis Gifhorn mit 6497 WEReserven insgesamt, gefolgt vom Landkreis Peine mit 6249 und dem Landkreis Wolfenbüttel mit
4252 WE-Reserven. Bei der Stadt Wolfsburg und der Stadt Salzgitter bestehen größere Anteile an
WE-Reserven im Geltungsbereich von B - Plänen und während Planungsverfahren (§33 Bau-GB).
Auffällig sind auch die Vorhaltungsgrößen der Stadt Braunschweig im Bereich von F - Plänen. In
den anderen Bereichen steht die Stadt Braunschweig an letzter Stelle. Aus dieser Konstellation in
der Stadt Braunschweig läßt sich schließen, daß hier ein akuter Flächenmangel vorliegen muß.
Auch im Landkreis Wolfenbüttel wurde eine akute Knappheit bei der Verfügbarkeit von Bauland
diagnostiziert (LBS - Schriftenreihe, Bd. 16). Diese und andere Vorbedingungen lassen es sinnvoll
erscheinen, daß der Landkreis Helmstedt seine Chance nutzt und im Bereich Wohnen aktiv ist. Der
"Konkurrenzstandort" Landkreis Gifhorn mit seinen großen WE-Reserven im Bereich von B Plänen ist bei der Strategiefindung zu berücksichtigen und aufgrund guter Umwelt- und
Wohnqualitäten als sehr starker Konkurrent um die Gunst von Ansiedlern zu betrachten.
Der Landkreis Peine hat ein auffälliges Übergewicht im Ein-bis-Zwei-Familienhaus-Bereich (1730
WE-Reserven im bebauten Innenbereich, 1775 bei WE-Reserven im Geltungsbereich von B Plänen und während Planungsverfahren sowie 1746 WE-Reserven im Bereich von F - Plänen), was
nicht zuletzt durch seine Lage zwischen der Landeshauptstadt Hannover und den
Produktionsstandorten Braunschweig, Salzgitter und Wolfsburg bedingt ist. An diesem Standort
sieht es so aus, als wäre die Strategie der "Einkommensabschöpfung aus den städtischen Gebieten"
durch die verstärkte Zurverfügungstellung neuer Wohnungen und erschlossenen Baulands
aufgegangen.
Interessant ist auch der intrakommunale Vergleich im Landkreis Helmstedt in Bezug auf die
Verteilung von Geschoßbauten und 1 - 2 Familien - Häusern. Die Stadt Helmstedt als
- 251 -
Mittelzentrum hat einen ausgewogenen Anteil von Geschoßbauten und bodennahem Wohnen im
Innenbereich ausgewiesen, während im Geltungsbereich von B - Plänen etwa 1/4 der WE-Reserven
im Geschoßbau vorgesehen ist. Im Bereich von F - Plänen hat die Stadt Helmstedt laut der
Veröffentlichung des Niedersächsischen Sozialministeriums keine Vorräte. Nach Angaben der
Stadt Helmstedt sind nach Schätzung in den F - Plänen ca. 30 ha als Baulandreserve vorhanden,
wobei nicht ausdifferenziert wurde, für welche Art der Bebauung diese vorgesehen sind. Im
Vergleich zu dem näher an Braunschweig liegenden Grundzentrum Königslutter wird etwa die
Hälfte an Wohnvorhaltungen erreicht, wobei Königslutter verstärkt im bodennahen Wohnbereich
Reserven vorhält (244 Einheiten im 1-2 Familienhaus und 50 im Geschoßbau). Die Stadt
Schöningen hat in dieser Statistik keinerlei WE-Reserven vorzuweisen, hat aber auf Anfragen der
Strukturanalyse folgende Angaben gemacht: nach §34 Bau-GB sind im bebauten Innenbereich 29
und im 1-2 Familienheim 15 WE - Reserven vorhanden (insgesamt also 44). Nach §33 Bau-GB sind
im Geltungsbereich von B - Plänen und während Planverfahren 89 WE-Reserven im Geschoßbau
und 50 im 1-2 Familienheimbereich verzeichnet (insgesamt also 139 Einheiten). Im Bereich von F Plänen gibt die Stadt Schöningen 100 WE-Reserven für 1-2 Familienheime an. Die WE-Reserve
der Stadt Schöningen beläuft sich auf 283 Einheiten.
Auffällig bezüglich der Verteilung von Geschoß- und bodennahen Wohnreserven sind die
Kommunen Lehre und Velpke. Beide sind, das ist bereits mehrmals angesprochen worden, durch
ihre geographische Lage stark mit herausragenden Arbeitsplatzstandorten verbunden und dienen
diesbezüglich als Wohn- und Schlafstätten. Zudem müssen sie bei der Planung auf verschiedene
Flächennutzungsbeschränkungen Rücksicht nehmen, was wahrscheinlich auch ein Grund ist für das
auffällige Übergewicht an Geschoßbauten bei den WE-Reserven (Lehre: 129 Einheiten im
Geltungsbereich von B - Plänen; Velpke: 168 Einheiten im Geltungsbereich von B - Plänen und
645 im Bereich von F - Plänen).
Die Samtgemeinde Nord-Elm setzt in der WE-Vorhaltung verstärkt auf den Bereich der 1 -2
Familien - Häuser, wobei die Werte im Vergleich zu den anderen Kommunen des Landkreises fast
unglaubwürdig hoch ausfallen, doch diese Vorhaltewerte könnten auch auf ein verstärktes
Engagement seitens der Samtgemeinde hinweisen (die Vorsichtsmaßregeln bei der Interpretation
wurde bereits oben angedeutet). In den F - Plänen weisen die Samtgemeinden Nord-Elm und
Velpke die höchsten Werte von je 730 und 645 Wohneinheiten aus. Unter den Städten weist
Königslutter mit 294 WE die höchste Vorhaltekapazität auf.
Im Landkreis Helmstedt sind die Zeichen des Wohnungsmarktes und der dort wirkenden Faktoren
längst erkannt. Die Städte im Landkreis sind aktiv geworden und weisen zusätzliche Baugebiete
aus. In allen Städten hofft man auf die sogenannten „Sickereffekte“, die sich aus der erweiterten
Baulandausweisung ergeben könnten. Wenn die Neusiedler ihre Häuser beziehen, müßte sich für
die Nachrücker auf dem Wohnungsmarkt eine geringe Angebotsentlastung ergeben. Wenn sich die
Flächen im Kernstadtbereich erschöpfen, so steht vor allem der Stadt Königslutter, bedingt auch der
Stadt Helmstedt noch Erweiterungsraum zur Verfügung, bei der Stadt Schöningen sieht es
diesbezüglich weniger gut aus.
Aber auch auf der Ebene der Samtgemeinden ist man im Landkreis Helmstedt aktiv geworden. Es
sind in vielen Gemeinden neue Baugebiete entstanden. Stellvertretend sei hier die Samtgemeinde
Grasleben und Heeseberg angeführt. Die Samtgemeinde Grasleben liegt unmittelbar nördlich der
Kreisstadt
Helmstedt.
Hier
möchte
man
über
einen
noch
zu
erstellenden
Gemeindeentwicklungsplan verstärkt auf die Neuausweisung von Baugebieten hinarbeiten. Die
südlich der Stadt Schöningen gelegene Samtgemeinde Heeseberg bietet in den Gemeinden
Söllingen, Beierstedt und Jerxheim z. T. erschlossene Baugebiete an. In der Samtgemeinde
Heeseberg könnte über eine Strategie, die den südlichen Landkreis entlang der "Süd - Elm - Bahn"
mit dem Oberzentrum Braunschweig verbindet, das Gebiet als attraktives Wohnumfeld stärker
hervorgehoben werden.
8.10 Hindernisse im Wohnungsbau und deren etwaige Beseitigungsmöglichkeiten
Die Zahlenangaben zu den ausgewiesenen Baugebieten sagen nichts über deren räumliche Struktur
aus. Oftmals sind die Bauländer zerstückelt, was eine konzentrierte Ansiedlungskonzeption
erheblich erschweren kann. Außerdem gibt es eine große Menge an Auflagen in den
- 252 -
Bebauungsplänen und Baugenehmigungen betreffend Lärmschutz, Immissionsschutz,
Abstandsregelungen oder Naturschutzbestimmungen. Auch die bei vielen Ausweisungen
auftretenden Bürgerinitiativen verkomplizieren oft die Genehmigungsverfahren.
Es darf in dieser Betrachtung aber auch nicht unbeachtet bleiben, daß es eine Vielzahl von Einschränkungen der Kommunalen Planungshoheit gibt. Das bedeutet in diesem speziellen
Themenbereich, daß es keine genaue Vorhersage geben kann, inwiefern sich die anstehenden
Wohnbauplanungen auch in einem bestimmten - möglichst kurzfristigen - Zeitrahmen
verwirklichen lassen. Große zusammenhängende Baugebiete sind eher die Seltenheit im Landkreis
Helmstedt.
Ein weiteres Hindernis ist die oftmals fehlende gemeindliche Bauleitplanung. Das führt dazu, daß
in den Flächennutzungsplänen ausgewiesene Flächen zunehmend seltener nutzbar gemacht werden
können. Eine Wohnstrategie, die sich darauf stützen möchte, Wohnplätze für Menschen zu
schaffen, die außerhalb des Landkreises ihre höheren Einkommen erzielen, muß unbedingt
berücksichtigen, daß die mit der Wohnansiedlung verbundenen Folgekosten für infrastrukturelle
Einrichtungen und Erschließungen für diese Nachfragergruppe erheblich sein können.
Im Übrigen ist der soziale Segregationsprozeß aus der Stadt in deren Umland, der sich aus solchen
Wohnansiedlungsbemühungen ergibt, raum- und städteplanerisch nicht erwünscht, da die Städte auf
diese Weise Gefahr laufen, Familien mit höherem Einkommen und gehobenem sozialen Status (den
sogenannten Aktivteil der Bevölkerung) aus der Kernstadt in die Umlandgemeinden zu verlieren
und somit neben kulturellen Trägern auch finanzielle Einbußen in beträchtlichem Umfang
hinnehmen zu müssen.
Weiterhin sind einige bundes- und landespolitische Entscheidungen von großem Einfluß auf die
Dynamik des Wohnungsbaus, wie z.B. die drastische Kürzung der Fördermittel aus dem
Strukturhilfeprogramm der Stadtsanierung oder die zukünftige Auslegung des berühmten
Paragraphen 10 e Einkommenssteuerrecht.
Das erste Argument könnte im Landkreis die Städte Helmstedt, Königslutter und Schöningen sowie
die Gemeinden Barmke, Boimstorf, Glentorf, Lauingen, Lelm, Rottorf - Königslutter, Lehre,
Ahmstorf, Rennau, Dobbeln, Ingeleben, Söllingen, Twieflingen, Süpplingenburg und Warberg
betreffen. Die Gemeinden sind in das Dorferneuerungsprogramm aufgenommen worden und die
Streichung bzw. eine Kürzung der Mittel aus dem Strukturhilfeprogramm würde diese Dörfer in
ihrer dörflichen Entwicklung hart treffen, vor allem wenn man berücksichtigt, daß die
infrastrukturelle Ausstattung für den gehobenen Wohnbedarf erhebliche finanzielle Mittel benötigt.
Im Zuge der Dorferneuerungsbemühungen wird an vielen Stellen versucht, die
Ansiedlungsattraktivität der Dörfer zu steigern. Eine Kürzung der Fördermittel würde die
Erschließung der Bestandsreserven und Neuausweisung und -einrichtung doch spürbar verzögern
können.
Etwaige Kürzungen treffen auch deshalb doppelt hart, da sie mit einem teilweisen Rückzug des
ÖPNV, vor allem aber der Banken, Sparkassen und der Post aus der Fläche einhergehen.
In den Städten liegen die Prioritäten der Sanierungsmaßnahmen zum einen in der Schaffung von
Wohnraum für die gehobenen Sozialschichten (unter Hinweis auf den Verlust der
Aktivbevölkerung) und zum anderen in der Wohnraumschaffung für die kleineren und mittleren
Einkommensbezieher. Außerdem wird die Ansiedlung von Dienstleistungsunternehmen, die die
ansässige Bevölkerung versorgen können, gefördert. Hier kann eine Kürzung der Sanierungsmittel
zum Verfall wertvoller Gebäude- und damit Wohnungssubstanz führen, da alte Bausubstanz nicht
besser zu werden pflegt. Neue Wohnungen im Siedlungs-anschlußbereich können nicht gebaut
werden, da der Ausbau der dazu notwendigen Infrastruktur aufgrund fehlender finanzieller Mittel
aufgeschoben wird bzw. verzögert angegangen werden muß.
Ein weiterer Hinderungsgrund der Entwicklung ist speziell mit der ehemaligen
Zonenrandproblematik verbunden. Ein Wegfall der Zonenrandförderung bedeutet, daß
Erschließungsmaßnahmen, wie der Ausbau und die Verbesserung der Infrastruktur und der
Verkehrswege, der Wasser- und Energieversorgungsanlagen, sowie der Abwasser- und
Abfallbeseitigungsanlagen fortan weiter aufgeschoben werden müssen. Somit bleiben wichtige
Erschließungsmaßnahmen „in den Schubladen“ und es kann so unschöne Fälle geben, daß in einer
- 253 -
Gemeinde mit in rechtskräftigen Bebauungsplänen ausgewiesenen Baugebieten nicht bebaut
werden können, da die Mittel für Erschließungsmaßnahmen fehlen bzw. erst nach langen
Wartezeiten bereitgestellt werden können.
Ein weiterer externer Grund ist die fiskalische Bewertung von Wohneigentum. Ab dem 1.1.1994
sind nach dem Erwerb von gebrauchten Wohnimmobilien nur noch 9.000 DM in den ersten vier
Jahren und danach 7.500 DM in den folgenden vier Jahren steuerlich absetzbar. Bisher konnten in
den ersten vier Jahren 16.500 DM von der Steuer abgeschrieben werden. Die Kürzung der
Wohneigentumsförderung gilt nur dann nicht, wenn es sich um ein neues Haus handelt. Das wird
auf dem Gebrauchtimmobilienmarkt vielleicht zu einer geminderten Nachfrage führen und die
Investoren und Ansiedlungswilligen eher zum Neubau führen.
8.10.1 Baulandknappheit: Gründe und mögliche Überwindung
Die Spekulation mit Bauland ist ein weiterer Aspekt, der zu Baulandknappheiten führen kann. So
spielen veränderte Wohnbedürfnisse eine besondere Rolle, da sie im allgemeinen zu einem höheren
Flächenbedarf führen. Außerdem spielt die Hortung von Baugrundstücken eine wesentliche Rolle ,
da diese aus Gründen der Vermögensvermehrung immer attraktiver wird.
Die vorhandenen Reserven befinden sich häufig in der Hand von Bauträgern, der öffentlichen Hand
im weitesten Sinne und in der Hand privater Besitzer. Es gibt viele Hinweise, daß die Bauträger
relativ selten Baugrundstücke horten. Oftmals haben sie nur Vorhalte für einen Zeitraum von bis zu
fünf Jahren. Bei der öffentlichen Hand ist im weitesten Sinne durchaus von einer Hortung von
Grundstücken zu sprechen. Dabei handelt es sich teilweise um Grundstücke der Deutschen Bundesund Reichsbahn oder auch ehemalige Grenzinfrastrukturen u. a..
Bei den privaten Grundstückseigentümern sind verschiedene Sachverhalte zu berücksichtigen. Es
gibt Private, die aus irrationalen Gründen oder schwer faßbaren Beweggründen Bauland horten,
wobei die Motivationen bis hin zur Sphäre der Pietät reichen können. Meist handelt es sich bei den
privaten Besitzern um Haushalte mit größeren Vermögensbeständen. Neben Aktien, Geldvermögen
und sonstigen Wertpapieren, werden Grundstücke zur Abrundung einer renditestarken und
möglichst risikofreien Vermögensmischung gehalten.
Unter den Privaten sind zudem eine große Anzahl Alteigentümer, die Bauland längst vor der Zeit
der Umwidmung für Produktionszwecke ererbt oder gekauft haben. Hierzu gehören die Landwirte,
Gärtnereien aber auch viele sonstige Betriebe, die Grundstücke für künftige Betriebserweiterungen
erworben haben.
Daneben gibt es private Grundstücksbesitzer, die aus deutlichen Beweggründen Grundstücke
zurückhalten, sei es wegen eigener späterer Bauabsichten, Baulandvorhaltung für die Kinder oder
Enkel oder aus Gründen der Vermögensverwaltung und Vermögensvermehrung. Grundstücke sind
immer wieder krisenfeste sichere Anlagen mit ständig steigendem Wert. Daneben ist der Bereich
der echten Spekulation zu sehen. Der Wertzuwachs des Bodens übersteigt eine durch Bebauung zu
erzielende Nutzungsrendite. Der Boden wird damit zum Anlageobjekt.
Aufgrund der Bilanzierung nach dem Niederstwertprinzip entstehen laufend wachsende steuerfreie
Stille Reserven. Diese Stillen Reserven sind ein angenehmes Risikopolster und können je nach
Bedarf, vor allem aber wenn größere Investitionen anstehen oder Phasen kritischer
Wirtschaftsentwicklung überstanden werden müssen, aktiviert werden. Das Horten von
Grundstücken ist privatwirtschaftlich sehr ertragreich, obwohl es volkswirtschaftlich erhebliche
Kosten verursachen kann.
Die im Besitz dieser beiden zuletzt genannten Gruppen befindlichen Flächen sind ohne gesetzlichen
Druck kurzfristig kaum zu mobilisieren. Eine Mobilisierung solch gearteter Flächen ist eigentlich
nur über Steuerdruck machbar. Die kommunalen Spitzenverbände und Experten verlangen seit
Jahren, daß das Horten von Parzellen durch eine Besteuerung einzudämmen sei, da den zu
erwartenden riesigen Wertsteigerungen fast lächerlich niedrige Abgaben gegenüber stehen.
Außerdem kann der Gewinn bei späterer Veräußerung dem Zugriff des Fiskus entzogen werden.
Als ein gutes Hilfsmittel wird dabei die in den sechziger Jahren gestaltete und später wieder
abgeschaffte Grundsteuer C angesehen. Verbunden mit Entwicklungsmaßnahme und Baugebot
- 254 -
wäre sie ein guter Beitrag zur Mobilisierung von Bauland (Skowronowski FR 23.1.93). Es gibt aber
auch kritische Stimmen zu dieser Steuer und es wird politische Gründe geben, daß sie nicht mehr
zur Anwendung gekommen ist.
Wenn das Steuerrecht die Grundeigentümer zur Freigabe von Wohnbauland veranlaßt, so sieht
darin auch der Bundesrat eine sinnvolle Vorgehensweise, um das notwendige Bauland in den
Kommunen zur Verfügung zu stellen (wib 3/93-XII/79). Doch man muß mit dem
"Steuerinstrument" sehr vorsichtig umgehen, denn solange Preisüberwälzungsspielräume
vorhanden sind, werden diese konsequent genutzt. Im Entwurf des neuen Investitions- und
Wohnbauerleichterungsgesetzes sollten deshalb laut des Vorschlages der Länderkammer folgende
Ergänzungen und Änderungen aufgenommen werden:
- eine Baulandsteuer für sofort bebaubare Grundstücke, um die Zurückhaltung von Bauland
einzuschränken,
- die Befreiung der Grundsteuer bei städtebaulichen Maßnahmen soll zur Mobilisierung
baureifer Grundstücke beitragen,
- den Gemeinden soll ein erweitertes Vorkaufsrecht beim Kauf von unbebauten
Grundstücken gewährt werden,
- durch Einbeziehung des Mietwohnbausicherungsgesetzes soll die Umwandlung von Mietin Eigentumswohnungen erschwert werden,
- eine Bebauung in Außenbereichen soll eingeschränkt werden.
(Demokratische Gemeinde 3/93).
Spekulationen mit Bauland sind ein ernstzunehmender Hinderungsgrund, um in vielen Kommunen
preiswert Wohnungen bzw. Wohnraum für die Bevölkerung zur Verfügung zu stellen. Potentielles
Bauland unterliegt in weiten Bereichen einer zunehmenden, die Errichtungszeiträume unnötig
erweiterndem Spekulationsgebaren. Vor allem in den städtischen Gebieten nimmt diese Tendenz
unangenehme Dimensionen an. In einigen Metropolen sind Quadratmeterpreise bei
Eigentumswohnungen von bis zu 10.000 DM(!) wie z.B. in München zu erzielen.
Kostete ein Quadratmeter baureifes Land 1991 im Bundesdurchschnitt noch 82 DM, so müssen
heute bundesweit 140.70 DM gezahlt werden. Wenn zudem in den überlasteten Planungs- und
Bauordnungsämtern lange Wartezeiten für eine Genehmigung ergeben, kann sich in dieser Zeit der
Preis für Bauland sehr stark erhöhen.
Im Landkreis Helmstedt liegen die Preise im gehobenen Mittelfeld, was nicht zuletzt auf die
Öffnung der Grenze und eine damit wahrscheinlich kurzfristig erhöhte Nachfrage zurückzuführen
ist.
Um Spekulationen zu vermeiden, könnten Gemeinden, die neues Bauland ausweisen, mit genügend
Kapital ausgestattet werden, um dieses zu erwerben, auch wenn das durchaus kritisch betrachtet
werden kann.
Es wären z.B. Grundstücksfonds denkbar, für die kleinere Gemeinden Zuschüsse als
Anfangskapital erhalten. Dieses Kapital darf nicht verbraucht werden, sondern muß im Fonds
bleiben, der sich dann fortlaufend selbst finanziert. Wird auf diese Weise Bauerwartungsland
gekauft, steigt das Angebot und der Preisanstieg wird gestoppt. Damit die Gemeinden langfristiger
planen können, wäre auch über eine Zwischenfinanzierung für die Erschließungskosten durch
Zuschüsse nachzudenken. Gemeinden mit starken Bevölkerungszuwächsen könnten im
kommunalen Finanzausgleich einen besonderen Zuschlag erhalten, um die Kosten für privat nicht
finanzierbare Infrastruktureinrichtungen (Schulen und Kindergärten z.B.) tragen zu können.
8.10.2 Die Hofheimer Konzeption
- 255 -
Ein Ansatz, der für viel Unruhe in Fachkreisen und politischen Gremien der betroffenen Kommune
gesorgt hat, ist die sogenannte "Hofheimer Konzeption" zur Bereitstellung finanzierbarer
Wohnungsbaugrundstücke (n. Sartowski, 1991).
Sinn und Zweck dieser Vorgehensweise ist, daß potentielle Wohnbauflächen vor einer Überplanung
gekauft werden, da sie sonst unbezahlbar werden können. Ein einmal aufgestellter FLNP ist nicht
mehr rückgängig zu machen und es ist deshalb wichtig, die Flächen vor der Überplanung zu
erwerben.
Die Hofheimer Konzeption beinhaltet folgende Vorgehensweise:
- die Kommune sucht sich nicht überplante Flächen am Siedlungsrand in der Größe von 10 - 20
ha, wobei aber die Suchfelder nicht genau angegeben werden, damit die Verkäufer
keine
Preisspekulationen vornehmen können und somit dieses Anliegen bereits im Keim
durch meist
völlig überzogene Preisvorstellungen zunichte machen können;
- Hier werden die laut FLNP ausgewiesenen landwirtschaftlichen Flächen gekauft, wobei
folgende Stufungen möglich sind:
a) es wird zum Zeitpunkt der ersten Kaufinitiative der hohe Einkaufspreis gezahlt, danach
wird eine nach unten abgestufte Preisstaffelung eingeführt (pro Quadratmeter z.B. 100 DM
1992, 80 DM 1994, 40 DM 1998).
b) es wird mehr Land ins Auge gefaßt als wirklich erworben wird; damit läßt sich das
einzwängende Preisdiktat bzw. Spekulationsgebaren einiger Interessengruppen relativ
leicht umfahren;
c) überflüssiges Bauland kann unter bestimmten Voraussetzungen späterhin zum
Selbstkostenpreis verkauft werden.
Die Kaufbedingungen sind dann:
- eine Mindestwohnzeit vor Ort muß nachgewiesen werden;
- das Haushaltseinkommen darf eine bestimmte Höhe nicht überschreiten;
- der Käufer des Grundstücks darf keine weiteren Immobilien besitzen.
Dieser Filter dürfte die Spekulanten außen vorhalten. Es soll hier keine Wertung über die
Spekulation mit Geldern und Grundstücken vorgenommen werden. Es ist jedoch nicht von der
Hand zu weisen, daß die Spekulation mit Grund und Boden den aus der Sicht der Kommunen
überlebenswichtigen Bereich der Bevölkerungsansiedlung nachhaltig negativ beeinflussen kann.
Diese Konzeption hat dort zu heftigsten Kontroversen in den Kommunen geführt, wo einzelne
Entscheidungsträger den Mut hatten, sie ernsthaft vorzustellen.
Wenn Flächen in Form erschlossener Grundstücke in ausgewiesenen Bebauungsplangebieten zur
Verfügung stehen, sollte möglichst eine öffentliche Beratungs- und Anwerbungsinstitution die zur
Disposition stehenden Flächen managen und vermarkten, aber auch mit dafür Sorge tragen, daß
eine günstige Interessenabwägung ermöglicht wird, vor allem wenn es um Natur- und
Umweltschutzbelange geht. Hierfür muß aber auch auf höherer Ebene ermöglicht werden, daß
Ausgleichsflächen für neue Siedlungsgebiete nicht nur regional sondern auch überregional
geschaffen werden können.
8.10.3 Deregulierung der Baubestimmungen
- 256 -
Für die unzureichende Versorgung der Bevölkerung mit Wohnraum wird oft die Kompliziertheit
und Schwerfälligkeit der Genehmigungsverfahren verantwortlich gemacht, die der Gesetzgeber zur
Voraussetzung für die Bildung der Baugrundstücke und deren Bebauung gemacht hat.
Diese Beurteilung trifft zu einem gewissen Teil wohl tatsächlich zu, was aber nicht verwundern
kann, wenn man bedenkt, welche umfassende Wirkung eine Baugenehmigung heute entfaltet: Mit
ihrer Erteilung bestätigt die Bauaufsichtsbehörde, daß ein Bauvorhaben mit dem öffentlichen
Baurecht in seiner Gesamtheit vereinbar ist. Zum öffentlichen Baurecht gehört dabei nicht nur ein
dramatisch wucherndes Dickicht von Gesetzen, Verordnungen, Duchführungsbestimmungen und
Verwaltungsvorschriften, sondern auch eine Vielzahl technischer Baubestimmungen zum
Wärmeschutz, zur Standsicherheit, zur Schalldämmung und zum Schutz vor
Gesundheitsgefährdungen durch Baustoffe, wie z. B. Asbestzement. Dieses Dickicht zu lichten
wäre der Gesetzgeber aufgerufen; es sei in dieser Hinsicht aber vor falschen Erwartungen gewarnt,
denn es wäre eine Illusion, eine ständig komplexer werdende Lebenswirklichkeit mit immer
einfacheren Instrumenten, zumal wenn auch die Ansprüche des Bürgers z. B. an die Wohnruhe
ständig steigen, zu bewerkstelligen.
Andererseits
ist
die
Schwerfälligkeit
und
Langwierigkeit
von
baurechtlichen
Genehmigungsverfahren nicht selten vom Antragsteller oder Entwurfsverfasser selbst verschuldet,
indem die eingereichten Anträge so unvollständig sind, daß sie nicht bearbeitet werden können.
Wenn die zu erteilenden Genehmigungen die oben beschriebene umfassende Wirkung entfalten
sollen, ist es selbstverständlich, daß die Bauvorhaben zuvor auch so umfassend beschrieben werden
müssen, daß alle ihre Auswirkungen beurteilt werden können (Schäfer, 1994).
Hier wäre die oben angesprochene Beratungsinstitution von großem Wert. Sie könnte z. B. im
Bauordnungsamt des Landkreises eingerichtet werden.
Die Bundesregierung hat mit dem "Investitions- und Wohnbauerleichterungsgesetz" ein
Instrumentarium geschaffen, das den Ansiedlungswilligen zukünftig einige Wochen im
Genehmigungsverfahren ersparen soll.
Dies soll z.B. dadurch erreicht werden, daß die öffentliche Auslegung des Planentwurf zukünftig
statt eines Monats nur noch 14 Tage dauern wird. Allein der Verzicht auf die höhere
Verwaltungsbehörde, die bei Vorabgenehmigungen eines Bauwunsches während der Planaufstellung ihre Zustimmung erteilen muß, soll bis zu zwei Monaten Zeitersparnis erbringen. Das gilt
aber nur bei bestimmten betrieblichen Erweiterungen oder Anbauten an Wohngebäuden im
unbeplanten Innenbereich.
Von Bedeutung könnte diesbezüglich auch sein, daß Gemeinden fortan verstärkt auch Projekte im
Außenbereich, also z.B. die Errichtung zusätzlicher Wohnungen auf landwirtschaftlichen Höfen
genehmigen können. Zwischen der Aufgabe der landwirtschaftlichen Nutzung und der Umnutzung
zu Wohnzwecken dürfen bis zu fünf Jahre liegen.
8.10.4 Externe Faktoren
Auch wenn in einem Land wie der Bundesrepublik Deutschland mit ihrer vergleichsweise stabilen
Währung Bauland, also Grundbesitz eine der besten Anlagen gegen Inflationsverluste ist, ist der
frei finanzierte Wohnungsbau wegen der geringeren Renditeaussichten für private wie auch
institutionelle Anleger vergleichsweise wenig attraktiv.
Deutsche Immobilienfondes und Versicherungsgesellschaften investieren hauptsächlich in
Gewerbeimmobilen (Immobilienmanager, 3/93). Und da Gewerbeimmobilien in Deutschland im
Vergleich zu anderen Ländern noch Nachholbedarf haben, sind in diesem Bereich auch weiterhin
hohe Wertsteigerungen zu erwarten. Die Unternehmen werden wohl erst wieder verstärkt in
Wohnimmobilien investieren, wenn sich ihre Lage nachhaltig gebessert hat.(BÖRSE Spezial, Nr. 1,
1994)
Außerdem lockt der Kapitalmarkt mit attraktiven Renditen z.B. bei Renten- und Aktienfonds oder
anderen Finanzanlagen. Vor allem bei den Investmentfonds ist ein starker Trend ins Ausland zu
- 257 -
verzeichnen. Dieser Trend verstärkt sich seit Dezember letzten Jahres noch, da ab diesem Zeitpunkt
die sogenannte Zwischengewinnsteuer greift, mit der der Fiskus auf die bis zum Verkauf von
Anteilen aufgelaufenen Fondserträge zugreift.
Die Wohnungswirtschaft bietet wie oben gesagt nur bedingt lockende Renditen. Deshalb sind von
der Angebotsseite her kaum nachhaltige Impulse zu erwarten, was sich aber relativ schnell ändern
kann, wenn z.B. das Zinsniveau sinkt.
In den städtischen Bereichen sind die Aussichten für Anlageobjekte weitaus besser. Im Landkreis
Helmstedt könnte solches für die drei Städte Helmstedt, Königslutter und Schöningen zutreffen.
Anlageobjekte im restlichen Bereich des Landkreises zu begründen, erscheint auch im
Wohnbereich zur Zeit nur bedingt möglich zu sein.
Solange sich aber das Angebot nicht erweitert, werden sich auch die Preise nicht beruhigen. Da
Wohnraum aus Renditegründen - vor allem in den Städten- immer stärker in gewerblichen
Nutzraum umgewandelt und so der städtische Wohnraum verknappt wird und zudem an Lebensund Wohnqualität verlieren kann, drängt es die Nachfrager von Wohnungen in den Randbereich der
Städte bzw. müssen die Städte mit ihren Baulandausweisungen ins Umland ausweichen.
Neues Bauland muß fast immer aus dem landwirtschaftlichen Bereich abgezogen werden. Hier liegt
ein besonderer Hinderungsgrund für die zügige Neuausweisung von Bauland. Die Landwirte
können bei hohen Verkaufspreisen für Bauland schon bei kleinparzelliger Zurverfügungstellung in
Steuerprogressionen gelangen, die unternehmerisch unnötig sind. Auch im Landkreis Helmstedt
dürfte ein Engpaß bei ausreichendem landwirtschaftlich nutzbarem Ersatzland bestehen, so daß eine
steuerliche Unschädlichkeit des Verkaufsgewinns durch den Einkauf neuer landwirtschaftlicher
Produktionsfläche wohl nur eingeschränkt möglich ist. Wird so ein Sachverhalt diagnostizierbar, so
ist eine Mobilisierung von Baulandreserven nur durch eine Modifizierung der
Ersatzinvestitionsmöglichkeiten für die Landwirte möglich.
Zu Entlastungserscheinungen auf dem Baumarkt kann folgendes Szenario führen: die modernen
Nachfrager sind nicht mehr ohne weiters bereit, sich längerfristig zu verschulden. Diese
Entwicklung kann sich u. U. über kurz oder lang über eine nachlassende Nachfrage nach
Baugrundstücken und Eigentumswohnungen auf die Preise niederschlagen und so zu einer
Beruhigung oder gar Ermäßigung der Grundstückspreise bzw. einer Verlagerung des Angebotes
führen.
In den jungen Generationen (30 Jahre und jünger) ergeben sich neue Bewertungen des
Immobilienkaufs, da andere Gewichtungen in der Lebensführung vorgenommen werden. Es sieht so
aus, als wäre man nicht ohne weiteres mehr bereit, sich Jahre oder Jahrzehnte für den Erwerb einer
Immobilie "krummzumachen". Das ist ein gewichtiges Argument, dessen Folgen für den
Immobilienmarkt und die bauplanerischen Vorhaben nur bedingt vorhersagbar sind.
8.11 Wohnen im Alter
Nach der von der LBS in Auftrag gegebenen Studie "Altengerechtes Wohnen" werden bis zum Jahr
2000 in Deutschland mindestens 100.000 altengerechte Wohnungen fehlen!
Nach dieser Studie, die die Bonner Empirica-Gesellschaft für Struktur- und Stadtforschung im
Auftrag der LBS durchgeführt hat, strebt die Generation der 45-60 Jährigen im Alter ein durch
Serviceleistungen abgesichertes, eigenverantwortliches Leben an. Eigenständigkeit und individuelle
Gestaltungsmöglichkeiten sind für sie am wichtigsten und viele der Befragten gaben an, daß sie
nach einer Alternative zu den herkömmlichen bienenwabenähnlichen "Altenheim-IsolationsStationen" suchen.
Die zukünftigen, sogenannten "Neuen Alten" wissen, wie sie wohnen möchten:
- möglichst zentral in einer gemischten Nachbarschaft,
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- mit unmittelbarem Anschluß zu den Einkaufs- und Dienstleistungsmöglichkeiten eines
attraktiv gestalteten städtischen Zentrums.
Fast 40% der 800 in niedersächsischen Städten Befragten ziehen eine Wohnform in Betracht, die
mit sozialen und kulturellen Gemeinschaftseinrichtungen gekoppelt ist. Nach ihren Vorstellungen
könnte das z.B. eine Wohnanlage oder ein "Heim mit Hotelatmosphäre" in Verbindung mit einem
"Sozialstützpunkt" sowie nahegelegenen Einkaufsmöglichkeiten und Dienstleistungsbetrieben sein.
Zudem wünschen viele der Interviewten eine gegenseitige Hilfe und sie wollen außerdem nur die
Hilfen in Anspruch nehmen, die sie wirklich benötigen.
Es ist in der angeführten Studie erkennbar, daß die Befragten im Alter gerne aus den oftmals dann
zu groß gewordenen Wohnungen in altengerechte Wohnungen mit ausreichendem Gemeinschaftsund Serviceangebot in der Nähe umziehen wollen. Das kann bei umsichtiger Förderung neuer
Wohnmöglichkeiten für die Auszugswilligen durchaus zu einer deutlichen Entspannung des
Wohnungsmarktes führen (LBS - Schriftenreihe, Band 13, 1992). Das 1993 im Landkreis
Helmstedt etablierte Seniorenbüro kann in dazugehörigen Vermittlungstätigkeiten u.U. ein
geeigneter Ansprechpartner werden. Außerdem kann es bei der Planung für solche Anlagen sehr
hilfreich zu Rate gezogen werden.
Generell betrachtet fehlt es auf dem Markt an sogenannten Sozialimmobilien, die den oben
angeführten Bedürfnissen der kommenden und vorhandenen Ruheständler entsprechen. Es ist damit
zu rechnen, daß zukünftig häufiger als noch heute die Qualität des Wohnungsangebots sehr viel
genauer geprüft werden wird, bevor die Alten aus ihren bisherigen Wohnungen ausziehen.
Grundsätzlich aber sind sie bereit auszuziehen, da sich die soziale Situation z.B. nach Auszug der
Kinder, Verrentung oder Versterben des Lebenspartners doch deutlich ändern kann. Angesichts des
vorhandenen Angebots haben sich 82% der Befragten gegen ein Alten- und oder Pflegewohnheim
ausgesprochen. Lediglich 4% können sich im Alter vorstellen, in einer solchen Institution zu leben,
für 14% der Befragten ist ein Heimaufenthalt nur im Notfall akzeptabel. 80% der 800 Befragten
haben sich über alternative Wohnformen bereits Gedanken gemacht. 25% wollen auch im Alter
eine Privatwohnung, 75% ziehen eine Wohngemeinschaft vor. Für die Menschen ist es
verständlicherweise nicht wünschenswert, in Altersheimen eventuell allein und isoliert den
Lebensabend zu verbringen.
Die für die alten Menschen notwendigen Pflegeinfrastrukturen sollten deshalb so ausgestaltet
werden, daß eine Mischung zwischen Nachbarschaftshilfe und professioneller Betreuung möglich
ist. Momentan liegen die Pauschalversorgungspreise ca. bei 25 DM/qm für Wohnkosten und 40-60
DM/qm für Serviceleistungen.
Um die eben genannten Sozialimmobilien zu schaffen, bedarf es erst einmal besonderer
Vertragsbedingungen, die für die Alten und ähnliche Zielgruppen mit bestimmten Anforderungen,
wie z.B. kinderreiche Familien, annehmbar sind. Im Falle der Alten sind folgende Punkte von
besonderer Wichtigkeit:
- finanziell abgesichertes Wohnen im Alter,
- Wohnrecht soll bis zum Lebensende dauern,
- Miet- und Zusatzkosten müssen im überschaubaren Rahmen bleiben und ebensolchen
Steigerungen unterliegen.
Auch wenn in der angeführten Untersuchung der Anteil derer, die im Alter noch Eigentum
erwerben können mit relativ gering bezeichnet wird (900.000 Haushalte der heute 45-65 Jährigen
können sich zumindest Anteile an Sozialimmobilien erwerben), gibt es durchaus Ansätze für
Kapitalanlagen, die für diese und nachfolgende Generationen attraktiv sind.
Der Kauf von Immobilienfondsanteilen ist ein solcher Ansatz. Über diese Kapitalanlage könnten
sich Interessenten neben der renditefähigen Geldanlage gleichzeitig ein Recht auf altengerechte
Wohnung in einem entsprechenden Projekt sichern. Sobald der Anleger in eine fertiggestellte
Wohnung einzieht, zahlt er eine nach der Geldanlagehöhe gestaffelte Miete. In solcherart
gestalteten Fonds können auch reine Vermögensanleger investieren.
- 259 -
Neben diesen Immobilienfonds wäre das Wohnsparen eine zweite Möglichkeit, Seniorenprojekte zu
finanzieren. Das funktioniert so, daß die Wohnsparer eine Sparsolidargemeinschaft bilden und eine
bestimmte Anzahl von Wohnungen finanzieren, die dem Sparerkollektiv späterhin zur Verfügung
stehen können. Die zukünftigen Mieter erwerben per Zuschuß oder Darlehen das Recht auf eine
altengerechte Wohnung inklusive Serviceangebot. Durch ihre Geldeinlagen ermöglichen sie den
aktuellen Nutzern ein günstigeres Wohnen, da die Mieten niedriger sind oder geringere
Steigerungsraten aufweisen (Handelsblatt 20./21.8.93).
Ohne die Starthilfe der Kommunen und Wohlfahrtsverbände aber geht es im vorgeschlagenen
Anteilscheinsystem nicht, denn am Anfang müssen Wohnungen zur Verfügung stehen, die nicht mit
den Mitteln aus den Anteilen der Sparer finanziert werden.
Es interessieren sich zunehmend mehr private Investoren für diesen Bereich und es besteht Anlaß
zu der Annahme, daß es im Landkreis Helmstedt - eine politische Unterstützung vorausgesetzt möglich wäre, solche Wohnprojekt zu realisieren, sei es für Alte, kinderreiche Familien oder
Singles. Für die Singles vor allem In der jüngeren Generation bis 35 Jahre müßte man versuchen,
den zunehmenden ökologischen und lebenswertbewußten Einstellungen mit entsprechend
konzeptionierten Wohn- und Arbeitsprojekten entgegenzukommen
Rentner/innen und leicht pflegebedürftige Menschen, die in speziell für sie eingerichteten
Wohnanlagen leben, ziehen wahrscheinlich auch von außerhalb des Landkreises an den neuen
Wohnstandort. In solchen Fällen werden also die Gelder, die sie z. B. für Konsumption und
Pflegeleistungen ausgeben, in den Landkreis Helmstedt importiert und gelangen folglich dort in den
Geldkreislauf.
Im Wohn- und Einkaufsumfeld müßten im Landkreis Helmstedt lokal im Vorfeld solcher
Ansiedlungsüberlegungen noch einige Verbesserungen zugunsten dieser Bevölkerungsgruppe
vorgenommen werden. Das betrifft z. B. die altengerechte Straßen- und Wegeplanung aber auch
diverse andere Gesichtspunkte. Für diese Problemstellungen ist das 1993 neu begründete
Seniorenbüro in der Stadt Helmstedt ein guter Ansprechpartner.
Beispiele für ein modernes Verständnis des altersgerechten Wohnens
Vorzeigebeispiele für ein modernes Verständnis des Wohnens im Alter und eine Finanzierung über
einen Immobilienfonds sind u.a. der "Wohnpark am Schönbuch" in Tübingen, der 1984 eröffnet
wurde und 82 Eigentumswohnungen mit Wohnungsgrößen zwischen 2 und 4 1/2 Zimmern mit 50
bis 100 m2 aufweist. Die Wohnungen haben z. B. keine Türschwellen und sind mit Notrufsystemen
ausgestattet. Desweiteren ist eine sehr gute Busverbindung zum Stadtzentrum vorhanden. Zwei
zusätzliche Pflegekräfte sind in dieser Anlage tätig.
In Freiburg - einem weiteren Beispiel - haben die Bewohner einer Seniorenwohnanlage einen
Betreungsvertrag mit der Arbeiterwohlfahrt geschlossen, die auch Betreiber der Anlage ist. Dieser
Vertrag umfaßt den Anschluß an ein Notrufsystem mit ständiger Rufbereitschaft, Hilfe im täglichen
Leben und bei Krankheit eine dreiwöchige Pflege.
In München ist eine Wohnanlage errichtet worden, in der mehrere Generationen zusammenleben.
Von den 160 Bewohnern sind 40 SeniorInnen und 22 Kinder. Dieses Mehrgenerationenmodell ist
frei finanziert(!) In den fünf zwei- bis dreigeschossigen Hauszeilen befinden sich 27 Reihenhäuser,
zehn Eigentumswohnungen und 25 Mietwohnungen für Ältere. Die Miete ist per Vertrag auf fünf
Jahre festgeschrieben und darf erst dann geringfügig erhöht werden. Auch in Nordhorn ist eine
ähnliche Wohnanlage entstanden.
Die hier aufgeführten Beispiele sind alle in größeren Städten angesiedelt, was aber nicht heißt, daß
es nicht auch im Mittelzentrum Helmstedt oder den Städten Königslutter und Schöningen
Möglichkeiten dafür gäbe. Pflegeeinrichtungen und damit verbundene Erfahrungen liegen in allen
drei Orten ausreichend vor.
Um solche Einrichtungen zu etablieren, muß auch die entsprechende Infrastruktur geschaffen
werden, vor allem eben im Konsum- und Kulturbereich. Kleinräumigkeit mit viel Grün, ein ab-
- 260 -
wechslungsreiches und qualitativ hochwertiges Dienstleistungsangebot und kurze, bequeme
Distanzen mit vielen Ausruhmöglichkeiten könnten nicht nur dieser Zielgruppe sondern indirekt
auch dem Tourismus zugute kommen. Die im Landkreis liegenden Städte sind diesbezüglich bereits
aktiv geworden. So hat z.B. die Stadt Helmstedt zum Ende des Jahres 1993 beschlossen,
diesbezügliche bauliche Aufwertungen der Fußgängerzone vorzunehmen. Aber auch in den anderen
Städten ist man dabei, eine diesbezügliche Umgestaltung der innerstädtischen Bereiche
vorzunehmen.
8.12 Der Aspekt des Freizeitwohnens
Auf diesen Aspekt wird im folgenden stärker eingegangen, da sich im Freizeitwohnen ein Potential
für den Landkreis Helmstedt ergibt, das zumindest lokal ausgebaut werden könnte.
Freizeitwohnen hat sich aus dem Alltagswohnen als eigenständige Raumnutzung ausgegliedert. Bis
zu 90% der gesamten arbeitsfreien Zeit wird im Wohnbereich verbracht. Es gibt deutliche
Tendenzen zu einem weiteren, dem primären Wohnbereich nachgeordneten Freizeitwohnbereich.
Dabei wird die besondere Ausnutzung der Ressourcen des Standortes als Freizeitfaktor gesondert
bewertet. Durch eine solche Wohneinheit wird bei vielen Menschen die Qualität des Urlaubs
gesteigert, da sie "abschalten", "ausspannen" und "aus dem Alltag herauskommen",
"Tapetenwechsel" vornehmen können, ohne die ihre gewohnte Umgebung zu verlassen (RomeißStracke, 1986).
Welche Faktoren beeinflussen die Wohnqualität des Freizeitstandortes aus Sicht des Nachfragers?
Es sind nach einer Analyse des Studienkreises für Tourismus (STfT, 1985) Sauberkeit,
Gemütlichkeit sowie Ruhe und Ungezwungenheit, die abgesehen vom Preis die herausragendsten
Merkmale in der Bewertung des Nachfragers darstellen.
Die Häuser und Wohnungen müssen nach dieser Studie zumindest über eine gute, durchschnittliche
Einrichtung verfügen und über ein ansprechendes und gepflegtes Äußeres verfügen.
Nach Auswertungen von Befragungen des STfT (1985) hat sich bezüglich der Umfeldbedingungen
ein "Idealtyp" von Freizeitwohnen ergeben, der wie folgt zusammenfaßbar ist:
- man möchte in einem alleinstehenden Haus mit unmittelbarem Zugang zur Landschaft
wohnen, ohne nachbarliche Beeinträchtigungen befürchten zu müssen,
- Ruhe und gute Luft,
- ländliche Umgebung,
- gewisser Bezug zur einheimischen Kultur,
- Atmosphäre und
- Naturnähe sind die wesentlichsten Umfeldbedingungen.
Das darf nicht so interpretiert werden, daß die Urlauber und Nachfrager "nur" solche Idealtypen
nachfragen. Wichtig schien ihnen zumindest 1985, daß die Häuser nicht zu dicht beieinander
stehen, daß sie von Grünanlagen umgeben sind und daß genügend Kinderspielmöglichkeiten
vorhanden sind (STfT 1985 (Bauernhof), Berichtsband 3).
Die Ferienwohnung sollte also in einer "schönen" ländlichen, aber nicht zu abgeschiedenen
Umgebung liegen. Sie sollte Zugang und Bezug zur umgebenden Landschaft aufweisen und eine
gute Einrichtung haben (vor allem bei den sanitären Einrichtungen und der Küche) und auch bei
schlechtem Wetter ein Wohlfühlen in den Aufenthaltsräumen gewährleisten können.
Freizeitwohnen ist zumindest teilweise eine Kapitalanlagemöglichkeit für den Nutzer. Das ist
ebenfalls ein Aspekt, der nicht unbeachtet bleiben sollte. Solchermaßen engagierte Kapitalanleger
- 261 -
kommen oft von außerhalb und nutzen ihre Objekte auch selbst. Damit nehmen sie als Gäste am
regionalen Wirtschaftskreislauf teil. Leider scheint es nach den Untersuchungen des STfT keine
Neigung der Besitzer von Ferienwohnungen zu geben, den zweiten Wohnsitz im Falle der
Nichtnutzung zu vermieten. Hier müßte unbedingt eine vermittelnde Stelle oder ein Vertragspassus
geschaffen werden, der eine weitere Vermietung z.B. durch das Amt für Fremdenverkehr oder
einen
der
ansässigen
Verbände
(Naturpark,
Fremdenverkehrsgemeinschaft)
oder
Fremdenverkehrsvereine möglich macht.
8.12.1 Das Problempotential des Freizeitwohnens
Im Entwurf des Landes - Raumordnungs - Programms Niedersachsen (Mai, 1993) sind in den
RROP, deren Erstellung (nächster Termin 1995) in der Zuständigkeit des Zweckverbandes
Großraum Braunschweig liegt, die Standorte festzulegen, die mit der besonderen
Entwicklungsaufgabe "Erholung" versehen werden. Voraussetzung ist, daß die natürliche Eignung
der umgebenden Landschaft für Erholung und Freizeit, die Umweltqualität, die Ausstattung mit
Erholungsinfrastruktur sowie das kulturelle Angebot vorhanden sind, bzw. gesichert und
weiterentwickelt werden sollen/können. Desweiteren sollen in den RROP Erholungsstandorte mit
der besonderen Entwicklungsaufgabe "Fremdenverkehr" innerhalb von Gemeinden mit
herausragender Fremdenverkehrsbedeutung festgelegt werden, wenn Einrichtungen des
Fremdenverkehrs besonders gesichert, räumlich konzentriert und entwickelt werden sollen. An
diesen Standorten sollen andere Nutzungen frühzeitig mit dem Fremdenverkehr so in Einklang
gebracht werden, daß sie langfristig die Sicherung und Entwicklung des Fremdenverkehrs
unterstützen.
Weiterhin heißt es dort, daß Fremdenverkehrseinrichtungen und sonstige fremdenverkehrsbezogene
Freizeitprojekte dazu beitragen sollen, die Lebens- und Erwerbsbedingungen der ansässigen
Bevölkerung zu verbessern, den Fremdenverkehr einer Region zu stärken und die traditionellen
Formen des Fremdenverkehrs und des Städtetourismus zu ergänzen und zu beleben. Durch ihre
Realisierung dürfen Landschaften nicht zersiedelt, historisch wertvolle Kulturlandschaften nicht
beeinträchtigt, gewachsene Siedlungs- und Nutzungsstrukturen nicht wesentlich beeinträchtigt und
der Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen und des Erholungswertes der Landschaft nicht
gefährdet werden. Ihre räumliche und infrastrukturelle Anbindung an entsprechend leistungsfähige
Orte ist anzustreben. Touristische Großprojekte sind frühzeitig in ihre Raum- und
Umweltverträglichkeit zu prüfen und gegenüber örtlichen und regionalen Belangen der räumlichen
Entwicklung abzuwägen.
Nach einer Zusammenstellung von Romeiß-Stracke (1986, 1982) ergeben sich folgende vier
Problemschwerpunkte bei der Planung von Freizeitwohneinheiten:
1. Landschaftsbelastung und -zerstörung
- Zersiedelung von Ortsrändern, Veränderung des Landschafts- und Siedlungsbildes;
- Besetzung der reizvollsten Landschaftsteile (Hangkanten, Waldränder, Uferbereiche);
- Unzureichende Abwasser- und Müllentsorgung; Umweltverschmutzung; Gefährdung des
ökologischen Gleichgewichts.
2. Infrastrukturvorleistungen der Gemeinden
- Erschließungskosten werden z.T. voll von der Gemeinde getragen, z.T. keine
Grundsteuerpflicht für Zweitwohnungsinhaber;
- Konkurrenznutzung von Freizeitwohnsitzinhabern und Saisongästen bei
Freizeiteinrichtungen, Überlastungserscheinungen;
- Unterversorgung mit sozialer Infrastruktur bei Umwandlung von Freizeitwohnsitze in
Altersruhesitze.
- 262 -
3. Verzerrung des Boden- und Mietpreisniveaus
- Anstieg der Grundstückskosten z.T. auf ein Niveau oberhalb der Verdichtungsräume;
- Verdrängung der einheimischen Bevölkerung aus dem Wohnungsmarkt;
4. Überfremdung der einheimischen Bevölkerung
- Zerstörung der überkommenen Sozial- und Kommunikationsstrukturen;
- Verlust der kulturellen Identität.
Auch im Landkreis Helmstedt kommen für die Neuanlage von Campingplätzen, Ferienhäusern usw.
grundsätzlich die in der zeichnerischen Darstellung des RROP ausgewiesenen "Vorranggebiete für
Erholung mit starker Inanspruchnahme durch die Bevölkerung" in Betracht. Es handelt sich um die
Bereiche innerhalb größerer Gebiete mit besonderer Bedeutung für die Erholung, die in stärkerem
Maße bereits von Erholungssuchenden, z.B. für Zwecke des Freizeitwohnens, zum Badebetrieb u.ä.
genutzt werden und/oder die in unmittelbarer Nähe zu solchen Einrichtungen wie Campingplätzen,
Freibädern, Spiel- und Sportanlagen oder zu Wohnsiedlungsbereichen gelegen sind (RROP
Landkreis Helmstedt 1991).
Es sind dies im Landkreis Helmstedt die Gemeinden Velpke, Grasleben und Süpplingen sowie
Räbke, die Städte Königslutter, Helmstedt und Schöningen.
8.12.2 Träger- und Entwicklungsgesellschaften
Bei den Träger- und Entwicklungsgesellschaften von Ferienhaus- oder -wohnungskomplexen läßt
sich grob unterscheiden nach:
1 .Privater Trägerschaft, meist bei kleineren Einheiten mit 10-20 Häusern bzw. Wohnungen;
2."Ferienpark", "Freizeitpark" betrieben durch eine Trägergesellschaft (GmbH,
Kommanditgesellschaft) mit zwei Varianten:
a) Immobilienfonds für ein Objekt
Hier wird gezielt ein Standort nach bestimmten Standortkriterien ausgesucht, erworben und
bebaut. Zur Finanzierung wird ein Immobilienfonds angelegt, der unterschiedliche
Beteiligungssummen und u.U. gesonderte Nutzungsrechte beinhalten kann. Meist handelt es sich
dabei um steuerbegünstigte Geldanlagen;
b) Haus- und Grundstücksbesitz im Feriendorf oder Freizeitpark:
Auch hier werden die Einzelobjekte verkauft, aber gleichzeitig zur temporären Nutzung
freigegeben. Die Käufer verpflichten sich, ihr Eigentum für einen bestimmten Zeitraum zur
Vermietung freizugeben und erhalten dafür garantierte Mieteinnahmen. Die Trägergesellschaft
übernimmt Betrieb und Vermietung bzw. Vermarktung während des Restes des Jahres z.B. an
bestimmte, häufig überregional, sogar international tätige Touristikunternehmen;
3. Time-Sharing oder Ferienwohnrechtmodell:
Hier erwirbt man ein Ferienwohnrecht an einer Wohnung oder einem Haus, das man auch an Dritte
vergeben kann. Diese Vertragsform gilt für immer, mindestens aber für 99 Jahre. Diese Rechte
werden meist von einem Verein vergeben;
4. Aktiengesellschaft:
- 263 -
Im Unterschied zum Ferienwohnrecht erwirbt man bei dieser Form nicht das Recht an einer
konkreten Freizeitwohnanlage, sondern der Käufer wird wirtschaftlicher Miteigentümer an allen
Ferienimmobilien der Gesellschaft. Der Aktienbesitzer erhält Wohnrechtspunkte, die in allen
Anlagen im Besitz der Gesellschaft abgewohnt werden können. In diesem Fall müssen dann nur die
ortsüblichen Nebenkosten bezahlt werden. Je nach Saison werden unterschiedlich hohe
Wohnrechtspunkte pro Woche angerechnet und je mehr Aktien bei dem Aktionär sind, desto
häufiger/länger kann er in einem Objekt der Gesellschaft mietfrei Urlaub machen.
Wenn es um den Nutzen geht, den eine Kommune im Landkreis Helmstedt daraus ziehen möchte,
so ist die erste und dritte Anlageform zu bevorzugen. Bei den anderen Anlageformen wird Kapital
von außen herangeführt, die dabei entstehenden Gewinne aber auch wieder nach außen verbracht.
Für die Kommune dürften dabei allenfalls ein paar Teilzeitarbeitskräfte und die
Konsumptionsausgaben der Mieter wirksam werden. Und das ist nicht unbedingt im Sinne einer
gesunden Entwicklung der Kommunen. Es erinnert in gewisser Weise an die verlängerten
Werkbänken im produzierenden Gewerbe bzw. die Zweigbetriebe, deren Gewinne ja auch von den
größten Anteilseignern von außerhalb des Produktionsstandorts abgeschöpft werden.
Das Negativimage solcher Anlagen könnte dadurch abgemildert werden, indem die lokale private
Trägerschaft bevorzugt wird und besondere Finanzierungsmodelle entworfen werden, an denen
auch die öffentliche Hand beteiligt sein sollte/könnte. Zudem ist es möglich, über eine
genossenschaftliche Organisation der Bevölkerung/Haus- und Grundbesitzer der jeweiligen Region
oder Gemeinde, eine Kapitalbindung und Gewinnerhaltung in der Region zu erreichen (Stracke und
Romeiß-Stracke, 1986).
Die dazu notwendigen Vorgehensweisen sind vor allem in der Landwirtschaft bereits von langer
Tradition.
8.12.3 Ausblicke für den Landkreis Helmstedt im Bereich des Freizeitwohnens
Wenn im Landkreis Helmstedt in den diversen, zu diesen Zwecken geeigneten Gemeinden solche
Vorhaben in Betracht kommen sollten, so sollte der Punkt "Beteiligung der Bevölkerung und
Haus/Grundbesitzer" in den Vordergrund gerückt werden, damit die bestehende Gemeinschaft auch
etwas von einem solchen Projekt hat und es sich nicht nur für die ansässige Gastwirtschaft oder
den, wenn überhaupt noch bestehenden "Laden" rentiert.
Bei der Ausweisung des Geländes wäre sicherlich eine Lage in der Nähe des Waldes, möglichst am
Hang im Übergang zwischen Wald und angrenzender Landschaft zu bevorzugen. Wichtig ist, daß
bei der Geländebeplanung auch daran wird, ausreichend einheimische und z.T. auch exotische, mit
unseren Arten zurechtkommende Gehölze zu pflanzen. Je mehr Pflanzen in abgestimmten
Gemeinschaften gepflanzt werden, desto höher kann sich die ökologische Geländequalität
entwickeln.
Bei der Hausanlage könnte durch Nutzung der lokalen handwerklichen Traditionen, vielleicht auch
unter Hinzuziehung ausländischer handwerklicher Traditionen, die über die Städte- und
Gemeindepartnerschaften vermittelt werden könnten, eine neue Art Ferienanlage entstehen. Warum
nicht französische, englische, italienische, polnische etc. Handwerkstraditionen zur Anwendung
bringen, vielleicht ließe sich damit auch eine andere Art Werbung gestalten (Stichwort: Heute ist es
im Landkreis Helmstedt grenzenlos schön!)
Ferienparks als Stätten der Begegnung, gebaut und errichtet mit Hilfe der regionalen
Investitionskraft und Partnern aus ausländischen Gemeinden - das könnten dabei durchaus die
Leitmotive vorstellen.
Bei der Anlage von solchen Freizeiteinrichtungen sollte darauf Wert gelegt werden, daß sie an
bestehende Erschließungs-, Ver- und Entsorgungssysteme angeschlossen werden bzw. sie
mitbenutzen können, ohne daß neue Einrichtungen, die i. d. R. sehr teuer sind, errichtet werden
müssen.
- 264 -
Auch technisch dezentrale Lösungen z.B. durch Nutzung des Regen- und Grauwassers für auf dem
Gelände befindliche Teiche, Seen und Pflanzenkläranlagen sind durchaus denkbar und gar nicht so
teuer, wie immer wieder behauptet wird. Es müssen dabei selbstverständlich bestehende Bundesund Landesgesetze berücksichtigt werden, die z. B. eine dezentrale Abwasserbehandlung nur unter
ganz bestimmten Voraussetzungen zulassen. Doch je ökologischer ein solches Projekt ausgelegt
wird, desto mehr natürliche Kreislaufprozesse finden statt.
Es kann davon ausgegangen werden, daß sich auch auf der Nachfrageseite eine deutliche
Orientierung an den Prinzipien des „Sanften Tourismus“, wie
Kleinteiligkeit,
Übersichtlichkeit,
geringe Belegungszahlen,
ökologische Kreislaufwirtschaft,
Schonung, Bewahrung und Ausbau der natürlichen Ressourcen (Anlage von Hecken,
Obststreuwiesen u.v.m.), sowie Bewahrung und Stärkung der kulturellen Identität ergeben wird.
Es wird die Vermutung angestellt, daß es möglich ist, durch einen konsequenten baubiologisch
angelegten Siedlungsbau und eine damit einhergehende ökologische Geländegestaltung die
landschaftliche Situation einer Agrarsteppe neu zu beleben.
Nicht nur im Bereich der architektonischen Planung haben Stracke und Romeiß-Stracke (1986) in
einem Forschungsbericht zu einem Forschungsprojekt des Niedersächsischen Sozialministeriums
mit dem Titel "Freizeitwohnen - ein konstruktives Konzept" detaillierte Ausarbeitungen zur
Gestaltung von Freizeitwohneinheiten gemacht, die als Orientierung sehr gut geeignet sind. Sie
haben sich desweiteren detailliert mit der Rechts- und Finanzierungsfrage befaßt (s.o.).
Angesichts der neuen Bedingungen seit Öffnung der Grenzen und der sich verschärfenden
wirtschaftlichen Problematik im Landkreis Helmstedt, wäre es empfehlenswert, dieses Konzept für
ein Pilotprojekt "Freizeitwohnen" wieder neu zu bedenken. Damals fiel aus folgenden Gründen die
Wahl des Standortes für das Pilotprojekt auf den Naturpark Elm - Lappwald, Gemeindegebiet
Königslutter:
Es seien hier die Gründe eingehender dargestellt:
1. Die Dorfstrukturen bieten ein für das Freizeitwohnen attraktives Wohnumfeld. Die Gründung als
Haufen- oder Angerdörfer ist größtenteils noch deutlich ablesbar, historische Ortskerne, z.T. mit
wertvollen kulturhistorischen Denkmälern (Herrenhaus, Kirche, Schloß), bilden wichtige
Identifikationspunkte.
Die Dörfer sind in ihrer Struktur größtenteils noch verhältnismäßig wenig von den bekannten
Ortsbildverschandelungen betroffen - u.a. aufgrund geringer wirtschaftlicher Investitionskraft
der Einwohner und z.T. wegen der hauptsächlich landwirtschaftlichen Prägung. Die
Landwirtschaft unterliegt aber stärker denn je dem allgemeinen, weltweiten agrarstrukturellen
Wandel. Leerstehende Gebäudeteile und geeignete Dorfrandlagen (Brachen) sind vielfältig
vorhanden.
2. Der Naturpark Elm - Lappwald ist eine Landschaft mit ruhigem und zurückgezogenem
Gesamteindruck . Die Landschaft zeichnet sich durch alte Eichen - Buchen - Wälder mit
diversen Edelhölzern und seltenen Pflanzenarten, reizvolle, wenn auch nicht immer in ihrer
Artenzusammensetzung vollständig erhaltene Waldrandlagen und Naturdenkmäler aus, "...ohne
jedoch an die Attraktivität bekannter "klassischer" Erholungslandschaften heranzureichen. Die
Landwirtschaftsflächen sind z. T. großräumig flurbereinigt, eine negative Eigenschaft, die aber
durch den reizvollen Kontrast der Dorflagen und der Wälder ausgeglichen werden kann."
3. Ein Wander- und Radwegenetz ist gut ausgebaut vorhanden und wird stetig erweitert. Der
Naherholungsverkehr an Wochenenden aus Wolfsburg und Braunschweig erreicht nur an einigen
Stellen im Elm (Reitlingstal) bemerkenswerte Konzentrationen. In die für das Pilotprojekt
vorgesehenen Gemeinden reicht er kaum. Infrastruktureinrichtungen (Schwimmbäder, Tennis,
Reiten, Golfen), die das Freizeitwohnen ergänzen können, sind in Königslutter, Helmstedt und
- 265 -
Schöningen vorhanden, erreichen aber nur bedingt eine überregionale Attraktivität (Stracke und
Romeiß-Stracke, 1986). 1993 hat sich diesbezüglich nicht viel geändert. In der Stadt Schöningen
ist ein Golfplatz entstanden, der auf alle Fälle eine überregionale Bedeutung erlangt hat.
Was die Nachfragepotentiale angeht, verfügt der Landkreis Helmstedt über ca. 150
Ferienwohnungen bzw. -häuser. Auf den im Landkreis Helmstedt befindlichen Campingplätzen
sind ca. 700 Stellplätze vorhanden.
Aus welchen Gründen auch immer das Projekt damals scheiterte, es könnte, vor allem durch die
politischen Änderungen bedingt, heute wieder erneut zu diskutieren sein. Die äußeren Umstände in
den Dörfern (Leerstände, landwirtschaftlicher Strukturwandel, Entwicklung des Nah- und
Kurzurlaubstourismus) lassen durchaus den Gedanken einer koordinierten und den Bestand
aufstockenden Vermarktung von Ferien- und Freizeitwohnungen im Landkreis Helmstedt zu.
Seit Wegfall der Grenze muß sich die Werbung für die touristische Vermarktung vor allem um den
Ersatz des Berliner Kundenpotentials kümmern, da dieses ein neues Umfeld für ihre
Freizeitaktivitäten in und um Berlin gefunden hat.
Es sind bei der Fremdenverkehrsgemeinschaft Elm - Lappwald bereits werbetechnische
Änderungen z.B. bei den Zielgruppen vorgenommen worden, um neue Besucher und Touristen in
den Landkreis Helmstedt zu locken. Im Bereich Unterkunftsausweitung sind die Anstrengungen
erfolgreich gewesen und es haben sich neue Betriebe angesiedelt.
Im „Freizeitpark Nord - Elm“ in Räbke sind nach letzten Informationen Erweiterungen mit einer
ansehnlichen Größenordnung geplant.
- 266 -
9. Der Fremdenverkehr und seine Rolle im Landkreis Helmstedt
Unter dem Begriff Fremdenverkehr kann die Gesamtheit der Beziehungen und Erscheinungen
verstanden werden, die sich aus der Reise und dem Aufenthalt von Personen ergibt, für die der
Aufenthalt weder hauptsächlicher noch dauernder Wohn- und Arbeitsort ist (Kasper, 1976).
So zählen alle vorübergehenden Aufenthalte mit Ausnahme des Pendlerverkehrs und der regional
bedingten Einkaufsfahrten zur touristischen Nachfrage, gleichgültig ob diese vorübergehenden
Aufenthalte mit Übernachtung verbunden sind oder sich nur auf einige Stunden erstrecken. Im
engsten Sinne werden als Fremdenverkehr nur Urlaubs- und Erholungsreisen nicht geschäftlichen
Charakters verstanden, wobei meist noch zwischen Reisen von 2-4 Tagen Dauer und ab 5 Tagen
Dauer unterschieden werden kann (Martin, 1986).
9.1 Die äußeren Faktoren der Entwicklung des Kurz- und Urlaubsreiseverkehrs
Im Bereich der Urlaubsreisen wirken eine ganze Reihe von Faktoren auf die künftige Zahl von
Reisenden und Urlaubsgästen und somit auf die Anzahl der Übernachtungen ein.
9.1.1 Die bestehende wirtschaftliche Situation
Daß die wirtschaftlich unsichere Lage (vor allem seit 1992/1993) zu Einbrüchen im
Urlaubsreiseverkehr führen könnte, hat sich nur für spezielle Teilbereiche des Tourismus als wahr
erwiesen. Um einen Eindruck von der Marktlage zu erhalten, ist es von Bedeutung, die
Bewertungen der Unternehmer selbst einmal zu betrachten. Für das Jahr 1992 wurde von der IHK
Braunschweig gemeldet, daß die abgelaufene Sommersaison 1992 insgesamt nicht enttäuscht hat.
Nach den Ausnahmesommern 1990 und 1991, die eindeutig unter dem Einfluß der Grenzöffnung
standen, gab es im Sommer 1992 gewisse Einbrüche zu verzeichnen. Es wurde aber immer noch
von einer Stabilität auf hohem Niveau gesprochen. 49% der befragten Unternehmen bewerteten das
Sommergeschäft als gut, 43% als zufriedenstellend und nur 9% als schlecht. 1991 hatten noch 79%
mit gut, 20% mit zufriedenstellend und nur 1% mit schlecht gewertet. Wird nach Beherbergungsund Restaurantgewerbe differenziert, so ist der Übernachtungsbereich zufriedener als das
Gaststättengewerbe. Im Hoteleriegewerbe haben sich 54% mit gut und noch 41% mit befriedigend
geäußert, im Restaurantbereich haben sich 42% mit gut, 43% mit zufrieden und 15% mit schlecht
geäußert. Im Hotelbereich waren lediglich 5% der Meinung, daß ein schlechtes Ergebnis erzielt
worden sei.
Was die Umsatzentwicklung angeht, wird die Trendwende 1992 bereits deutlich. Nur 25% der
Betriebe (im Vorjahr 60%) berichten von steigenden Umsätzen., 43% von gleichen (Vorjahr 35%)
und bereits 32% (Vorjahr 5%) von rückläufigen Umsätzen. Mit der rückläufigen
Umsatzentwicklung ist ein Rückgang der Bettenauslastung verbunden. Nur 18% berichten von
Zunahmen (Vorjahr 54%), 52% von gleicher Auslastung (45% im Vorjahr). 30% haben einen
deutlichen Rückgang verspürt (Vorjahr nur 1%!).
Die zukünftige Entwicklung wird von 35% eher skeptisch bewertet, 39% hoffen auf eine günstigere
Entwicklung und 26% bauen auf eine gleichbleibende Auftragslage. Über 2/3 der Betriebe wollen
investieren, wobei sich 82% der Investitionen auf Ersatzbeschaffungen konzentrieren sollen.
Erweiterungsinvestitionen werden weiterhin vorsichtig geplant (Wirtschaft, IHK Braunschweig
12/92).
Im Jahr 1993 haben 25% der Gaststättenbesitzer gute Geschäfte gemacht, 45% der Befragten waren
mit ihren Geschäften zufrieden und 30% klagten über eine schlechte Geschäftslage. Damit sind
bereits doppelt so viele Geschäftsleute im gastronomischen Bereich unzufrieden wie im letzten
Jahr(!).
Im Hotelgewerbe registrieren nur 8% höhere Umsätze, 36% stagnierende Geschäfte und über die
Hälfte rückläufige Umsätze(!). Es macht sich hier also auch die bestehende Rezessionsphase
bemerkbar. Die Prognosen für 1994 sind bei knapp einem Drittel der Befragten (34%)
- 267 -
zuversichtlich, 33% erwarten einen Stillstand und ein weiteres Drittel eine ungünstigere
Entwicklung. (Braunschweiger Zeitung, Helmstedter Teil v. 11.1.1993, Kritisches zum
Neujahrsempfang der Gastronomen aus dem Landkreis Helmstedt).
9.1.2 Der demographische Aspekt und der Wertewandel
Die Bevölkerungsentwicklung der deutschen Bevölkerung hat insofern Einfluß, als die quantitative
Veränderung der Bevölkerungsentwicklung, Verschiebungen der Alterspyramide und veränderte
Haushalts- und Familiengrößen auf die Menge der Reisebewegungen Einfluß ausüben können.
Die Zahl der unter 25 Jährigen geht bis zum Jahre 2010 erheblich zurück, während die der 25-45
Jährigen zunimmt. Laut Regionaler Bevölkerungsprognose 2000 der BfLR wird die Anzahl der
unter 20 Jährigen bis zum Jahr 2000 leicht rückgängig sein, die der 20 bis unter 26 Jährigen wird
erheblich stärker zurückgehen und die der 60- bis unter 75 Jährigen wird deutlich zunehmen (s.a.
Tab. IX 1+1a)
Nach Modellrechnungen des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden wird sich der Anteil der bis
zum Jahre 2010 60 Jährigen von 21,4% (1985) sogar auf 28% erhöhen. Der Anteil der unter 20
Jährigen an der Gesamtbevölkerung wird dagegen von 22,7% auf 17,3% sinken (DWIF, 1993). So
unterschiedlich die Ergebnisse der Prognosen sind, sie weisen allesamt das Ergebnis einer
Überalterung und eines Bevölkerungsrückgangs in unserer Gesellschaft auf.
Aus den Zahlenwerken könnte man entnehmen, daß sich eine erhöhte Reiseintensität der mittleren
und hohen Altersgruppe ergibt, wobei es durchaus möglich ist, daß sich die positiven und negativen
Auswirkungen der Veränderung der Kopfzahlen in den Altersgruppen gegenseitig aufheben. Das
wiederum könnte bedeuten, daß die negativen Auswirkungen des Bevölkerungsrückganges von den
positiven Auswirkungen der Veränderung der Bevölkerungsstruktur, der Einkommensentwicklung,
des Ansteigens der Urlaubsfreizeit kompensiert werden, sich also keine negativen Auswirkungen
auf das Nachfragepotential im Tourismus ergeben.
Der Bevölkerungsrückgang in den unteren Altersgruppen könnte die Kurzreisetätigkeit, die
bekanntermaßen von den jungen Leuten eher bevorzugt wird, rein zahlenmäßig negativ
beeinflussen.
Die Änderung der Familienstruktur kann erhebliche Auswirkungen auf den Fremdenverkehr im
Landkreis Helmstedt haben, zumindest für eine längerfristige Zukunft gesehen. Die Anzahl der
Familien mit kleinen Kindern wird rein demographisch abnehmen. Das hat zur Folge, daß es bei
Beibehaltung der bestehenden Zielgruppenausrichtung im Fremdenverkehr einen Rückgang der
Übernachtungen in der Zielgruppe "Kleinfamilien" geben könnte.
Bei den Mehrfachurlaubern z. B. sind Zweipersonenhaushalte deutlich überrepräsentiert. Aus
geringer Haushaltsgröße in Verbindung mit hohem Einkommen ergibt sich ein hoher Anteil
finanzkräftiger Haushalte (Marketing Anzeigen, März 1993). Hier könnte sich für den Bereich
Kurzreisen im Landkreis Helmstedt ein positives Bild abzeichnen.
Insgesamt hat das Anwachsen in den oberen Einkommensgruppen auf die Kurzreiseintensität aber
keinen so bedeutenden Einfluß wie auf die Urlaubsreisetätigkeit als solches. Es sind inzwischen
vielerorts Bemühungen im Gange, eine mögliche Kompensation dieses absehbaren
Bevölkerungsrückgangs durch eine zusätzliche Werbungskonzentration auf die älteren reisewilligen
Menschen zu erreichen. Es ist jedoch annehmbar, daß eine Kompensation nicht möglich ist, da der
Rückgang der Familien mit kleinen Kindern stärker ist als die Zunahme der älteren Menschen.
Zudem nimmt die Reiseintensität ab einem Alter von 60 Jahren deutlich ab. Allerdings darf auch
ein unterdurchschnittlicher Anteil der Rentner und Pensionäre bei den Urlaubern nicht darüber
hinwegtäuschen, daß die Senioren von der absoluten Anzahl her mittlerweile eine bedeutende
"Reisegruppe" darstellen: Etwa 5 Mill. Westdeutsche, die pro Jahr mindestens eine längere
Urlaubsreise machen, sind 60 Jahre und älter. Kurzreisen werden von den Senioren insgesamt etwas
häufiger als längere Urlaubsreisen unternommen. (Marketing Anzeigen, März 1993).
- 268 -
In der Zielgruppe der Mehrfachreisenden ist aber auch zu erkennen, daß sie eher älter sind. Ein
besonderer Altersschwerpunkt bei den Mehrfachreisenden liegt im Bereich der 40-49 Jährigen. 51%
der Mehrfachreisenden (längere Urlaubsreise) und 52% der „Vielreisenden“ entstammen dieser
Personengruppe der Arrivierten und "Jungsenioren" (Marketing Anzeigen, März 1993).
Feriencamps und ähnliche Organisationen sollten bei zukünftigen Planungen berücksichtigen, daß
sich Einstellungsänderungen in der Bevölkerung bei der Urlaubsortswahl entscheidend bemerkbar
machen können und deshalb rechtzeitig den entsprechenden qualitativen Ausbau ihrer
Einrichtungen einleiten. Das könnte z. B. im Falle von Ferienparks heißen, daß daran gedacht wird,
genügend vielfältige Freizeitmöglichkeiten zu bieten. Das bedeutet, daß sich im speziellen Fall des
Landkreises Helmstedt vor allem die Landwirte als Flächenanbieter bzw. Einrichter betätigen
könnten.
Da die Reisenden die Naturnähe bzw. den ökologischen und nachhaltigen Umgang mit der Natur z.
B. bei den Beherbergungseinrichtungen suchen (bzw. schätzen), sollte versucht werden, die Parks
nach ökologischen Gesichtspunkten einzurichten und dabei möglichst Attraktionen zu schaffen, wie
z. B. eine Verbindung zu einem "Otter-Zentrum" oder ähnlichem zu bewerkstelligen.
"Sport treiben ist bei den Urlaubsreisenden eine deutlich beliebtere Freizeitbeschäftigung als beim
Durchschnittsbürger. Daneben werden die für den Urlaub besonders relevanten Aktivitäten
Fotografieren/Filmen sowie das abendliche Ausgehen ebenfalls häufiger ausgeübt. Unter den
Einstellungen ist ein überdurchschnittliches Umwelt- und Qualitätsbewußtsein der
Urlaubsreisenden hervorzuheben" (Marketing Anzeigen, März 1993).
Bei Vielreisenden zeigen sich bei den verschiedenen Freizeitaktivitäten und den Einstellungen weit
höhere Werte als beim Durchschnittsbürger: So treiben 61% von ihnen Sport (Bevölkerung 44%),
Fotografieren und Filmen als Hobby üben über 48% aus (Bevölkerung 27%) und 84% weisen ein
ausgeprägtes Umweltbewußtsein auf (Bevölkerung 69%). Beim Qualitätsbewußtsein beträgt der
Anteil 82%(!) (Bevölkerung 22%) (Marketing Anzeigen, März 1993).
Für den Bereich des Städtetourismus ist neben der Altersgruppe der jungen, noch in der Ausbildung befindlichen Menschen (Schüler, Studenten) vor allem die Altersgruppe der 40-60 Jährigen
besonders zu begeistern. In den nächsten Jahren wird in dieser Gruppe eine relativ reisefreudige
Generation nachwachsen, so daß auch mit einer Zunahme des Städtetourismus zu rechnen ist.
Zudem könnten, vor allem wenn die Rezession überwunden ist, die Haushalte, die über ein gutes
bis sehr gutes Einkommen verfügen, zunehmen. Doppelverdienste und Zusatzversorgungen bei
vielen Rentnern und Pensionären werden die finanziellen Spielräume zudem noch erweitern
(DWIF, 1993).
Dieser Trend ist in den Städten des Landkreises erkannt und es wird daran gearbeitet, die
Innenattraktivität der Städte durch entsprechende Umbaumaßnahmen zu erhöhen. Leider haben die
Städte Helmstedt und Schöningen etwas spät mit diesem Umbau begonnen, doch wichtig ist, daß
die Zeichen der Zeit erkannt sind und die Anpassung und somit der qualitative Ausbau eingeleitet
wurden. In der Stadt Helmstedt könnte desweiteren an die touristische Neunutzung der
leerstehenden Professorenhäuser gedacht werden. Sie gehören unmittelbar zur universitären
Geschichte und vielleicht ließe sich auf dieser Schiene eine Neunutzung finden. Es bietet sich an,
sie als Beherbergungsbetriebe, Seminar- und Schulungsräume (warum nicht als Außenstellen der
Universitäten) aber auch als Altenwohnungen zu nutzen.
Ein weiteres Beispiel für eine oben erwähnte Nutzung sind die "Edelhöfe" in der Stadt Helmstedt.
Sie in ihrem äußeren Erscheinungsbild so zu erhalten wie sie sind. Dort könnte dann eine
kleinsträumige Nutzung mit verschiedenen Gastronomiebetrieben, Handels-geschäften und
Kunsthandwerkern, vielleicht in der betrieblichen Organisationsform eines Gewerbehauses
eingerichtet werden. Ein solches Projekt könnte ein "Pendant" (hoffentlich nicht im finanziellen
Bereich) zur Karutz-Markt-Passage darstellen und wäre folglich nicht nur aufgrund des historischen
Aspekts eine Attraktion für die Innenstadt Helmstedts.
9.1.3 Die Einkommensverteilung
- 269 -
Vor allem nach der "Vereinigung" ist die Einkommensverteilung um einen "Ostaspekt" erweitert
worden. Sie ist infolgedessen im Bundesvergleich noch unausgeglichener geworden. Die große
Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland Ost (59%) muß sich auf den reinen Versorgungskonsum
beschränken (Allensbach Institut, zitiert in Opaschowski, 1991). Die neuen Bundesländer gehören
mit zu den ärmsten Gebieten der Europäischen Gemeinschaft und sind nicht umsonst bis 1999 als
Ziel-1-Regionen der EU ausgewiesen worden.
Bezüglich der Entwicklung der Einkommen gibt es sachgemäß mehrere verschiedene
Möglichkeiten bzw. Projektionen. Steigen z. B. die oberen Einkommen, können sie die sinkenden
oder nur leicht anwachsenden mittleren Einkommen bezüglich der Reiseausgaben u. U.
kompensieren. Auf die Kurzurlaube wird diese Dynamik allerdings keine oder kaum nennenswerte
positive oder negative Auswirkungen haben.
Die Menge der Menschen, die über ein relativ kleines Einkommen verfügen, also für den
Fremdenverkehr in ländlichen Räumen eine der wichtigen Zielgruppen darstellen, wird im Zuge der
Wiedervereinigung erheblich zunehmen. Wenn der wirtschaftliche und soziale Wiederaufbau in den
neuen Ländern gelingt, ist in den kommenden Jahren mit einer Zunahme der Bevölkerungsanteile
zu rechnen, die pro Person über ein Jahreseinkommen von bis zu 50.000 DM verfügen.
Das könnte sich auf dem Kurzreisemarkt deutlich bemerkbar machen. Durch die Nähe zu SachsenAnhalt könnte im Landkreis Helmstedt daran gedacht werden, diese Zielgruppe in ihren
Einstellungen und Wünschen detaillierter bei den Entwicklungsplanungen zu berücksichtigen.
Obwohl davon auszugehen ist, daß sich das Bild des "typischen" Urlaubers in Ostdeutschland
weitgehend an sein Westpendant annähern wird, ist zur Zeit ein Mehr an Kurzreisen in
Ostdeutschland zu registrieren (Marketing Anzeigen, März 1993), was aber nicht gleichzeitig
bedeutet, daß es für den Kurzurlaubstourismus des Landkreises Helmstedt automatisch zu
nennenswerten Steigerungen der Besucherzahlen kommen muß.
In den alten Bundesländern betrug laut Lohn- und Einkommenssteuerstatistik 1986 der Anteil der
Personen, die bis zu 50.000 DM im Jahr verdienen 73.6% (s.a. Tab. IX 2). Aus dieser Tabelle ist
ebenfalls ersichtlich, daß der Landkreis Helmstedt in den "mittleren bis hohen" Einkommensklassen
(25.000-100.000 DM) zum Erfassungszeitpunkt stets über dem Landes- als auch dem
Bundesdurchschnitt lag, zwar etwas niedriger als der Landkreis Gifhorn, aber doch höher als die
Landkreise Wolfenbüttel und Peine. "Spitzenreiter" war die Stadt Wolfsburg vor allem im Bereich
der hohen Einkommen zwischen 50.000-100.000 und mehr DM.
Aus Tab. IX 2a wird noch einmal offensichtlich, daß im Landkreis Helmstedt der Hauptteil der
steuerpflichtigen Einkommen im Bereich von 40.000 bis 100.000 DM pro Jahr liegt. Qualitativ
hochwertige Freizeiteinrichtungen, die nicht nur den Bewohnern sondern auch dem Tagestourismus
(Wochenende, 2-5 tägige Aufenthalte) zur Nutzung zur Verfügung stehen, könnten sich aufgrund
des "finanziellen Polsters" der Region wirtschaftlich rentieren.
Wieviel vom eingenommenen Einkommen der Haushalte wird nun für fremdenverkehrsrelevante
Ausgaben ausgegeben?
Das ist insofern von Bedeutung, als man anhand dieser Zahlen abschätzen kann, welche Ansprüche
und welches finanzielle Aufkommen bei den Haushalten vorliegt, um die notwendige Erholung der
Familie zu gewährleisten.
Ein Vierpersonenhaushalt (West) mit einem Bruttoeinkommen zwischen 3.500 und 5.150 DM pro
Monat gab für den Kostenfaktor Freizeit 1992 durchschnittlich 14.2% des ausgabefähigen
Einkommens aus, was einer Geldsumme von ca. 700 DM pro Vierpersonenhaushalt entspricht. Ein
Vierpersonenhaushalt (Ost) gab 1992 13.5% des ausgabefähigen Einkommens für Freizeit aus.
Durchschnittlich gab ein Vierpersonenhaushalt (West) mit höherem Einkommen 1232 DM
monatlich für Freizeit und Erholung aus, im Osten lag diese Summe bei 650 DM pro Monat.
Sowohl der West- als auch der Osthaushalt gaben ca. jede siebte Mark für "Kurzweil und Erholung"
aus. Im Westen gab ein Zweipersonenhaushalt von Rentnern und Sozialhilfeempfängern mit
geringem Einkommen für die Freizeit durchschnittlich 276 DM monatlich aus, im Osten waren es
261 DM. Im Zeitraum von 1965 bis 1992 sind die Freizeitausgaben aller Haushaltstypen schneller
- 270 -
gestiegen als das verfügbare Einkommen, was darauf hinweist, welchen Stellenwert die Erholung
und die Teilnahme an fremdenverkehrsrelevanten Veranstaltungen aus der Sicht der Haushalte
spielt.
(Braunschweiger Zeitung, 22.12.93, Kostenfaktor Freizeit)
9.1.4 Die Freizeitentwicklung
Die Urlaubsfreizeit wird in den nächsten Jahren aus verschiedenen Gründen voraussichtlich
ansteigen. Wesentlich dazu beitragen könnten Arbeitszeitverkürzungen und vorzeitiger Ruhestand,
wobei diese Themenbereiche zur Zeit der Strukturanalyse stark ins Wanken gerieten, da
allenthalben von Arbeitszeitverlängerungen und vom Hinausschieben der Verrentung gesprochen
wurde.
Geht man nun davon aus, daß Arbeitszeitverkürzungen eintreten, ist projezierbar, daß sich die Zahl
der Urlauber nur geringfügig erhöhen wird, während die Kurzurlaubsintensität gesteigert werden
kann (Martin, 1986). Beim sich in letzter Zeit, bedingt durch die wirtschaftliche Rezession in
Deutschland, deutlich abzeichnenden Kampf um die Arbeitsplätze, vor allem in der Gruppe der
über 45 Jährigen, werden sich erhebliche Wirkungen im Fremdenverkehr zeigen können.
"...Vertrauensverlust, Angst vor Entlassung und ein mangelhaftes Freizeitangebot..." bzw. ein nur
begrenztes Freizeitangebot "...zwischen Fußball und Bier, Spielhalle und Videothek können in den
nächsten Jahren zu erheblichen sozialen Spannungen und Auseinandersetzungen führen"
(Opaschowski, 1991).
Pro Jahr haben die Arbeitnehmer in Deutschland ca. 160 arbeitsfreie Tage, die sie mit
Freizeitvergnügungen verschiedener Art füllen (Opaschowski, 1991).
Diese Freizeit wird mit den verschiedensten Beschäftigungen verbracht, wobei bestimmte Sparten
im Vordergrund des allgemeinen Freizeitinteresses stehen. Unter aktiver Freizeitgestaltung wird in
naher Zukunft nach den Untersuchungen von Opaschowski (BAT Freizeitforschungsinstitut, 1992)
der Sport und die Fitneß sowie das Heimwerken stehen.
Sport wird im allgemeinen zum "Kampf gegen den inneren Schweinehund" betrieben, Sport ist
Spannung, schafft Erfolgserlebnisse und soll den Frust des Arbeitsalltags besiegen. Wer Sport treibt
ist in!
Die gefragtesten Sportarten (Wandern, Schwimmen und Tauchen, Tennis, Radsport, Gymnastik,
Spazierengehen, Golf, Jogging, Fußball, Segeln) sind mit längeren Anfahrtswegen verbunden und
beginnen in der Regel dort, wo der ÖPNV aufhört. Deshalb sind im übrigen 57% der Deutschen der
Meinung, daß die Nutzung von Naherholungsmöglichkeiten in der Zukunft nur mit dem Auto
möglich sein wird (Opaschowski, 1992).
In der EU werden pro Jahr 100 Millionen Auslandsreisen registriert. Von den Reisenden nehmen
55% den Wagen, 30% das Flugzeug, 8% die Bahn und 7% die Fähre (Kommission der EG,
SEK(92) 702 endg., 1992). Dieser Trend zum Auto scheint nicht aufzuhalten zu sein und ist
Zeugnis eines sich verstärkenden, auf grenzenloser Mobilität beruhenden Verhaltens der
Bevölkerung.
Daß diese Automassen bereits heut zu unübersehbaren "Verstopfungserscheinungen" führen und
die gewünschte Mobilität im Keim ersticken können, ist erkannt und die Zukunft des Tourismus
wird anders als heute aussehen. In der Natur ist der Mensch nicht mehr willkommen - generell
gesehen zerstört er sie ohne jegliches Reflektionsvermögen. Deshalb kann eine zukünftige
Fremdenverkehrsversion die sein, daß eine Konzentration der Touristen in Ferienclubs und
künstlichen Ferienparadiesen stattfinden wird oder aber die Nutzungsregulierung in vorhandenen
Freizeitgebieten dem "wilden Treiben" ein Ende setzt. Im Forschungsbericht 2001 (Opaschowski,
1992) wird davon ausgegangen, daß um das Jahr 2000 herum ein Drittel der Gesamtbevölkerung
ständig irgendwo Kurzurlaub oder Wochenendfahrten unternehmen wird.
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Die Reisetrends der 90er Jahre sind nicht in erster Linie von einer objektiv gewachsenen Anzahl
von Reisenden bestimmt. Nicht die Reiseintensität, sondern eine neue Anspruchsqualität der
Urlauber wird zur Herausforderung des Tourismus in den 90er Jahren (Opaschwoski, 1991).
Welches sind die Trends im Einzelnen?
1. Trend zum Urlauberleben in intakter Landschaft; immer mehr Menschen werden sich Ziele mit
intakter Umweltqualität aussuchen.
2. Trend zum Urlaubsverhalten zwischen Entspannungsbedürfnis und Unternehmenslust;
Entspannen und Erleben zur selben Zeit werden in den Vordergrund des Urlaubsinteresses
rücken.
3. Trend zur Individualisierung der Reiseformen; frei, flexibel und individuell lautet der
Zauberspruch. Die "individualisierte Pauschalreise" wird immer mehr Anhänger finden.
4. Trend zu anspruchsvolleren Reiseangeboten, wobei das Niveau vom Einkommen abhängig
ist.
5. Trend zum zweiten Zuhause; ein Komfort wie Zuhause wird nicht gewünscht sondern
gefordert.
6. Trends zu sonnigen Zielen; die zentraleuropäische Lage der BRD führt dazu, daß für viele
Bewohner Deutschlands ausländische Urlaubsziele näher liegen als inländische. Desweiteren
macht der nach wie vor günstige Wechselkurs der DM gegenüber vielen Urlaubsländern den
Urlaub im Ausland billiger als in den inländischen Fremdenverkehrsgebieten.
7. Trend zu kürzeren Reisen; dieser Trend läßt sich daraus ableiten, daß sich in den letzten Jahren
ca. 75% der Bevölkerung keinen dreiwöchigen Urlaub mehr geleistet haben, was nicht an den
fehlenden Möglichkeiten liegt, sondern an einer neuen Verteilung der "schönsten Tage des
Lebens". Diese Neuverteilung der Urlaubstage läßt sich aus dem sozialen Strukturwandel
ableiten.
8. Trend zu mobilerem Reiseverhalten; das heißt, der Urlauber möchte in derselben Zeit einfach
mehr erleben. Mobilität wird zu einer eigenen Erlebnisform.
9. Trend zu spontaneren Reiseentscheidungen; man möchte sich nicht die Spontaneität als Zeichen
von Lebenslust und Unabhängigkeit nehmen lassen und verreist am liebsten spontan, ohne Plan
und Termindruck.
10.Trend zur Urlaubsgestaltung mit Clubatmosphäre; dieses Angebot nehmen zunehmend mehr
junge Leute, Singles und Paare vor allem aus den Städten und Ballungszentren wahr.
(Opaschowski, 1991).
9.1.5 Weitere Entwicklungsperspektiven und -Trends
9.1.5.1 Zielfeld Städtetourismus und Geschäftsreiseverkehr
Der Städtetourismus wird als Ziel für Zweit- und Drittreisen immer beliebter (DWIF, 1993). Das
heißt für den Landkreis Helmstedt, daß die Städte Helmstedt, Königslutter und Schöningen auch in
den nächsten Jahren mit steigenden Besucherzahlen rechnen können, vorausgesetzt sie arbeiten ihre
Attraktionen so auf, daß sie sowohl für Reisegruppen als auch für Individualisten annehmbar sind
(Stichwort: Pauschalreisen, kulturelle Ereignisse, wie Rockkonzerte, Spezialausstellungen,
außergewöhnliche Sportveranstaltungen wie Segel-, Ballon- und Drachenflugmeisterschaften,
Motocross im Bergbaugelände u. ä.).
Der Geschäftsreiseverkehr, der ja vor allem im Landkreis Helmstedt kurz nach der Grenzöffnung
für eine außergewöhnliche Auslastung im Übernachtungsgewerbe sorgte, löst generell gesehen
keine gesonderten Wachstumsimpulse aus, wirkt aber auf alle Fälle insgesamt stabilisierend. Laut
- 272 -
einer Umfrage des Magazins Wirtschaftswoche (Heft 4, 1991, zitiert in DWIF, 1993) sind 1991
6,87 Millionen Geschäftsreisende 76,5 millionenmal auf Geschäftsreise gewesen, wobei ca. zwei
Drittel dieser Reisen mit Übernachtungen verbunden waren.
Im Bereich des Geschäftsreiseverkehrs, insbesondere bei den Industrievertretern zeichnet sich
aufgrund der verkehrlichen Situation im Straßenverkehr in letzter Zeit eine neue Verhaltensweise
ab. Statt wie bisher alle Abnehmer zu besuchen, wird mehr und mehr dazu übergegangen,
Verkaufs- und Informationswochenenden in repräsentativen Objekten zu organisieren und die
Kunden dorthin einzuladen. Folglich ist über einen längeren Zeitraum gesehen, voraussichtlich mit
einem Rückgang des Geschäftsreiseverkehrs und einer Zunahme bei den geschäftsbezogenen
Übernachtungen zu rechnen. Es ergeben sich im Landkreis Helmstedt dafür diverse Möglichkeiten.
Diesbezüglich sollte vor allem die Menge an z. T. leerstehenden landwirtschaftlichen (Guts)Gebäuden ins Auge gefaßt werden, wie z. B. die Burg Esbeck, Gut Büstedt, Gut Wendhausen u. ä.
Objekte im Landkreis Helmstedt.
9.1.5.2 Das Zielfeld Seminare, Tagungen und Schulungen
Im Bereich Tagungen, Seminare und Schulungen ist festzuhalten, daß in den letzten Jahren das
Angebot weit über die Nachfrage anstieg und somit ein verstärkter Konkurrenzkampf eingesetzt
hat. Da im Landkreis Helmstedt mehrere Institutionen vorhanden sind, die für solche Aktivitäten in
Frage kommen, sollte vor allem darauf geachtet werden, diesen Hilfestellungen bei der
überregionalen Vermarktung ihrer Angebote zu leisten und eine stabilisierende Bestandspflege zu
betreiben. Neue Seminarhotels und ähnliche Einrichtungen haben nach vorheriger Abschätzung des
etwaigen Kundenpotentials, vor allem für qualitätsspezifische Angebote z. B. aus den Bereichen
Entsorgungstechnologien, Fremdenverkehr, Ökologische Landwirtschaft, Kunst und Kultur im
Landkreis Helmstedt noch gute Ausbaumöglichkeiten.
9.1.5.3 Das Zielfeld Gesundheit
Eine weiteres Zielfeld für den Tourismus im Landkreis Helmstedt stellt bei der geographischen
Lage der Gesundheitssektor dar. Das steigende Gesundheitsbewußtsein der Bevölkerung ist
unverkennbar. Aktive Erholung, Ausspannen, Gesundheitsvorsorge und physisches sowie mentales
Training sind hier die Schlagworte. Im Landkreis gibt Helmstedt es außer Bad Helmstedt keine
staatlich anerkannten Kur- oder Erholungsorte. Bad Helmstedt selbst ist ein staatlich anerkannter
Erholungsort, der jedoch über keinerlei kurorientierte Pflegeeinrichtungen verfügt.
In der Stadt Schöningen wurde bereits vor Jahren eine Wiederinbetriebnahme der Sole (vor allem
zu medizinischen Zwecken) in Erwägung gezogen. Damals interessierte sich nach Aussagen des
Vorsitzenden des Verkehrsvereins Schöningen ein Kinderarzt für ein solches Vorhaben. Es wurde
jedoch als Projekt von der Stadt Schöningen aus Kostengründen abgelehnt, da die Aktivierung einer
solchen Sole sehr kostenintensiv ist und es wurde ins Feld geführt, daß bestehende Kurorte mit
ähnlichen Einrichtungen hoch verschuldet seien und man auf keinen Fall en Gros davon ausgehen
kann, daß solche Einrichtungen auch den gewünschten Erfolg zeitigen. Zudem ist ein solches
Vorhaben insgesamt sehr vielgestaltig, da für solchermaßen ausgelegte Einrichtungen auch die
notwendige Infrastruktur (Beherbergung, Kultur, Gastronomie u. v. m.) im Umfeld geschaffen
werden muß. Trotzdem ist die Idee, die Sole für medizinische Zwecke zu aktivieren gut, doch für
einen einzelnen Investor zu riskant. Hier müßte versucht werden, ein Heilhaus einzurichten, das ein
abgerundetes Betreuungs- und Pflegeprogramm für besondere Krankheitsbilder anbietet. Um solche
Vorhaben zu verwirklichen, muß das Negativimage einer Bergbaustadt z. B. über entsprechende
Werbemaßnahmen abgelegt und korrigiert werden. Der Bergbau und vor allem die Folgenutzung
der Verbrennungseinrichtungen zur Müllverbrennung stehen dem Kurgedanken sozusagen
diametral gegenüber.
Da der Bergbau in dieser Region in absehbarer Zukunft auslaufen (ca. im Jahre 2011) wird und es
deshalb absehbar ist, daß die Teilregion Schöningen eine neue Entwicklungsleitlinie benötigt, sollte
auch über eine Version nachgedacht werden, die sich vollständig vom Bergbau und seiner
- 273 -
Folgenutzung gelöst darstellt. Die Ausrichtung der Stadt Schöningen auf den Kurbetrieb und einen
etwaigen, damit verbundenen Aufschluß der Sole, dürfte mittlerweile zu den Akten zu legen sein,
da sich die oben erwähnten Vorhaben des Bergbauunternehmens immer klarer herauskristallisieren.
Da böte es sich eher an, in der Gemeinde Grasleben über ein solches Vorhaben nachzudenken,
wenn die dortigen Verhältnisse dies möglich machen können.
Wie bereits oben gesagt, wird der Anteil der alten Menschen zunehmen. Auch wird, zur Zeit
zumindest, kein Rückgang bei den Zivilisationskrankheiten beobachtet, eher das Gegenteil ist der
Fall. Es wird sogar eine Zunahme der von Zivilisationskrankheiten Betroffenen erwartet. Der
Teilbereich Kuren, Pflegen und Erholen ist für einige Kommunen des Landkreises Helmstedt
durchaus ein ernstzunehmendes Entwicklungsfeld. Man bedenke, daß das nächste Thermalbad z. B.
erst in Salzgitter-Bad zu besuchen ist.
Es kann nicht darum gehen, einen weiteren "Breitbandkurort" zu gestalten. Wenn seitens der
Entscheidungsträger der Kurbereich wirklich ernsthaft ins Auge gefaßt wird, so sollte vielmehr eine
bestimmte Behandlungsart und Therapie, vor allem in der Rehabilitation oder möglicherweise der
Prävention von Krankheiten konzeptioniert werden.
In Verbindung mit der Ärzteschaft des Landkreises ließe sich so u. U. über die Errichtung von Kurund Heilhäusern für bestimmte Zielgruppen (Orthopädie, Innere Medizin u. ä.) nachdenken. Es darf
bei dem vorhandenen Imagevorsprung bestehender Einrichtungen nicht mit großen,
überdimensionierten Vorgehensweisen zu viel riskiert werden.
Die Rekultivierungsflächen der BKB-AG könnten in Teilbereichen für parkähnliche Anlagen
genutzt werden, die an solche oben angesprochenen Heilhäuser angeschlossen werden könnten.
Alleinig die Vorhaben des Unternehmens in der Entsorgung stehen einem solchen Gedanken
diametral entgegen.
9.1.5.4 Das Zielfeld Natur und Landschaft
Urlaub im Einklang mit Natur und Mitwelt, also der Trend zum Natur- und Landschaftserleben
wird sich fortsetzen und wahrscheinlich noch verstärken. Die Erwartung, am Urlaubsort eine intakte
Umwelt vorzufinden, steht an erster Stelle des Prioritätenkataloges von Urlaubern (DWIF, 1993).
Der Urlauber möchte intakte Natur erleben, beobachten und sich vor allem an einer reichhaltigen
Flora und Fauna erfreuen. Naturkundliche Lehrpfade bzw. Führungen und Aktionsformen (für die
Älteren und Jüngeren) haben dabei eine wesentliche Unterstützungsfunktion und steigern die
diesbezügliche Attraktivität des Standorts. Kulturelle Aktionen, wie sie in der Samtgemeinde NordElm vom Fremdenverkehrsverein angeboten werden (Erntefest, Mittelalterliche Tafeley u. e. m.)
sind für diese Zielgruppe von Interesse, denn meist wird die traditionelle Landwirtschaft mit
"Naturnähe" in Verbindung gebracht.
Die nachrückenden Generationen sind wesentlich aktiver und informierter als dies noch vor zehn
bis zwanzig Jahren der Fall war. Es müssen hier von der Fremdenverkehrsgemeinschaft ElmLappwald z. B., neue Erholungs- und Anspruchstendenzen der Nachfrager frühstmöglich aufgespürt
und bearbeitet werden, um die daraus gewonnenen Erkenntnisse in die Anwendung vor Ort zu
übertragen. Es ist in diesem Zielfeld noch ein allgemeiner Informationsbedarf bei den Anbietern zu
festzustellen.
9.2 Die Bedeutung des Fremdenverkehrs in Niedersachsen
Von 1988 bis 1992 stieg die Zahl der Gästeankünfte in Niedersachsen von knapp 7 Mio. auf ca. 8,7
Mio. um ca. 25% und die Zahl der Übernachtungen von 26,7 Mio. auf 32,8 Mio. um ca. 23%.
Niedersachsen liegt nach offiziellen Statistiken (die bekanntermaßen lediglich Betriebe ab neun
Betten erfaßt) an vierter Stelle hinter Bayern (76,6 Mio. Übernachtungen), Baden-Württemberg
(40,2 Mio. Übernachtungen) und Nordrhein-Westfalen (36,2 Mio. Übernachtungen).
- 274 -
Die Fremdenverkehrswirtschaft gehört in Niedersachsen zu den bedeutendsten Wirtschaftszweigen.
Nach amtlichen Statistiken werden in ca. 24.000 Betrieben des Hotel- und Gaststättengewerbes rd.
11.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte geführt und insgesamt ein Umsatz von 8 Mrd. DM
erwirtschaftet.
Der Fremdenverkehr bedeutet für die Bewohner der Haupttourismusregionen vor allem
wirtschaftliche Vorteile, indem er für eine prosperierende Wirtschaftskraft und somit Arbeitsplätze
und Einkommen sorgt. Außerdem trägt der Fremdenverkehr zur Erhaltung historischer Ortskerne
bei und hebt die soziokulturelle regionale Identität hervor. Die Kehrseite der Medaille ist der
motorisierte Individualverkehr, insbesondere an den Wochenenden und in der Ferienzeit, in denen
es in den Haupttourismusgebieten zu erheblichen zusätzlichen Belastungen der Bewohner kommen
kann. Neben Lärm- und Abgasbelastungen kann es infolge dessen zu erheblichen
Mobilitätsbeschränkungen kommen. In vielen kleineren und kleinen Gemeinden werden zudem
oftmals die ortstypischen Strukturen nachhaltig negativ beeinträchtigt. Die Kommunen können
zudem relativ wenig Einfluß auf einen umweltverträglicheren Tourismus ausüben. Es obliegt (noch)
nicht ihrer Zuständigkeit, besondere fremdenverkehrsrelevante Anreisemöglichkeiten anzubieten.
Insgesamt verfügt das Tourismusgewerbe in Niedersachsen über einen hohen Leistungs- und
Ausstattungsstandard und hat eine vergleichsweise gute Wettbewerbsposition.
9.3 Touristisch relevante Standortfaktoren des Landkreises Helmstedt
Die Erholungsgebiete im Landkreis Helmstedt sind vor allem in den Bereichen Naherholung
zwischen den Oberzentren Braunschweig und Magdeburg und dem Mittelzentrum Wolfsburg und
dem Bereich Kurz- und Wochenendurlaub für einen größeren Bevölkerungsausschnitt in
Niedersachsen aber auch über die Landesgrenzen hin attraktiv. Die großen Mischwälder des
Naturparkes Elm-Lappwald (ca. 50% der Kreisfläche sind als Naturpark ausgewiesen) und die
ländliche Ausprägung der Landschaft sind wertvolle Standortfaktoren.
Die Fremdenverkehrsgemeinschaft Elm-Lappwald erledigt die Aufgaben der überregionalen
Werbung, Koordinierung der Teilnahme an Messeveranstaltungen und Imagepflege für den
Fremdenverkehrsstandort Landkreis Helmstedt.
Bei den sich ändernden Einstellungen der Urlauber könnten die historisch-kulturell wertvollen
Bestände im Landkreis Helmstedt noch wirksamer vermarktet werden. In der Börde und
angrenzenden Teilgebieten befinden sich seit historischen Zeiten kulturelle und soziale
Brennpunkte. Zeugnisse der verschiedenen Zeitalter sind z. B. der Kaiserdom und das Kaisergrab,
die ehemalige Universität Helmstedt, die in Teilen noch vorhandene Bibliothek und zur ehemaligen
Universität gehörende Professorenhäuser, Flucht-, Warn- und Trutzburgen des Mittelalters entlang
der Schunter, Hünen- und Hügelgräber aus der Frühzeit des Menschen u. v. m.. Sie sind insgesamt
als touristische Standortfaktoren hoch einzuschätzen und werden z. T. in der niedersächsischen
überregionalen Werbeaktion "Straße der Romanik" touristisch vermarktet. Im übrigen führen
Teilstücke der Routen 2,3,4,7 und 8 der Straße der Romanik durch den Landkreis Helmstedt.
Für den Geschäfts- und Weiterbildungsbereich stehen diverse Tagungshäuser und Hotels,
Pensionen u.ä. zur Verfügung. Touristische Attraktionen sind in den Bereichen Kultur, Natur und
Landschaft, Wandern, Radfahren und Reiten - eben Sportarten, die ein bestimmtes Spektrum
erlebnisorientierter Gäste anlocken können - vorhanden, die aber durchaus noch erweiterbar sind.
Für attraktive und in Erlebnis- oder Themenparks konzentrierte Sport- und Freizeitangebote könnte
der Landkreis Helmstedt bei der Nähe zur A2 und den kaufkräftigen Zentren Hannover,
Braunschweig, Wolfsburg (und Magdeburg) ein durchaus attraktiver Standort sein.
Über ausgedehnte Wasserflächen verfügt der Landkreis Helmstedt nicht. Große Wasserflächen
werden voraussichtlich erst in ca. 30-50 Jahren zur Verfügung stehen, dann nämlich, wenn die
Restlöcher der ehemaligen Bergbauflächen in den dafür vorgesehenen Teilen mit Wasser
vollgelaufen sind. Da Wasser- und deren Randflächen eine ungemeine Faszination auf den
Menschen ausüben, könnten vor allem die ehemaligen Bergbauflächen eine wichtige Funktion
dabei übernehmen, einen wertvollen Beitrag zur Aufwertung der touristischen Standortfaktoren im
Landkreis Helmstedt zu übernehmen.
- 275 -
9.4 Touristische Entwicklungsorganisationen im Landkreis Helmstedt
Aus den verschiedenen vorhandenen Fremdenverkehrsinitiativen und -institutionen seien hier die
Fremdenverkehrsgemeinschaft Elm-Lappwald und der Verkehrsverein Nord-Elm exemplarisch
hervorgehoben.
Die bereits oben angeführte Arbeitsgemeinschaft "Fremdenverkehrsgemeinschaft Elm-Lappwald"
(FVG E.L.) ist zur Zeit noch ein nicht eingetragener Verein und verfolgt ausschließlich und
unmittelbar gemeinnützige Zwecke, mit dem Ziel, den Fremdenverkehr im Bereich der Mitglieder
zu fördern. Zu den Mitgliedern der Fremdenverkehrsgemeinschaft gehören kommunale
Körperschaften (auch in Sachsen-Anhalt), örtliche Verkehrsvereine und ihnen gleichgestellte
Einrichtungen im Elm-Lappwaldgebiet, örtliche und überörtliche Behörden sowie Wirtschafts-,
Handels- und Verkehrsorganisationen, die an der Entwicklung des Fremdenverkehrs im ElmLappwaldgebiet interessiert sind. Zudem können Einzelpersonen, die den gemeinnützigen
Satzungszweck unterstützen, Mitglied in der Fremdenverkehrsgemeinschaft werden. 1993 wurde
eine Eintragung der Arbeitsgemeinschaft als ordentlicher Verein angestrebt.
Finanziert wird die Fremdenverkehrsgemeinschaft über die Mitgliedsbeiträge. Die Landkreise
übernehmen je zur Hälfte die Beitragssummen aller Mitgliedsgemeinden. Die Gemeinden und
Kreise, die sich außerhalb des Naturparks Elm-Lappwald befinden, bezahlen bis auf weiteres 50%
der Beitragssummen. Verkehrsvereine oder diesen gleichgestellte Vereinigungen sind wegen ihrer
ehrenamtlichen Tätigkeit zum Wohle des Fremdenverkehrs von der Beitragszahlung befreit.
Die Eingliederung der Fremdenverkehrsgemeinschaft im Amt für Wirtschaftsförderung und
Fremdenverkehr des Landkreises Helmstedt gewährt eine gute und intensive Zusammenarbeit
zwischen dem öffentlichen Amt und der Fremdenverkehrsgemeinschaft, deren Geschäftsführer im
Amtsbereich Fremdenverkehr tätig ist.
Zu den zukünftigen Planungen ist zu sagen, daß beabsichtigt ist, den Naturpark Elm-Lappwald auf
sachsen - anhaltinisches Gebiet auszuweiten.
Da die Regionalen Landesraumordnungsprogramme der beiden Bundesländer entlang der Grenze
unterschiedliche Schwerpunkte setzen, ist mit
Interessenkonflikten bei dieser Ausweisung zu
rechnen. So wurde im Landesentwicklungsprogramm für Sachsen-Anhalt keine Naturparknutzung
im Anschluß an den Naturpark Elm-Lappwald vorgesehen. Eine Ausweitung des Naturparks ElmLappwald muß deshalb kritisch betrachtet werden. Da als Begrenzung des auszuweitenden
Naturparks Elm-Lappwald aber die Allerniederung als natürliche geologische und
geomorphologische Grenze angesehen wird, wird sich eine Ausweitung bis nach Walbeck
hoffentlich ohne größere Probleme bewerkstelligen lassen.
Eine Kooperation mit einem in der Entstehung befindlichen Naturpark Flechtinger Höhenzug
Colbitz-Letzlinger Heide wäre insofern sinnvoll, als diese Landschaftseinheiten über Rad- und
Wanderwege sowie "Themenstraßen" (anlehnend an das Beispiel Straße der Romanik vielleicht
"Straße des Neolithikums") gut miteinander verbunden werden könnten.
Der Flechtinger Höhenzug ist zur Zeit der Strukturanalyse als Landschaftsschutzgebiet
ausgewiesen. Es ist bereits während Erstellung der Strukturanalyse offensichtlich geworden, daß
sich die Interessenkonflikte zwischen Fremdenverkehr und dem Hartgesteinsabbau, der im
Flechtinger Höhenzug ebenfalls eine lange Tradition hat, verschärfen. Die Entscheidungen für die
Ausbeutung der Rohstoffe liegen auch in Sachsen-Anhalt bei den Bergbauämtern, die aber im
Unterschied zur westlichen Variante keine Umweltverträglichkeitsprüfungen vorzunehmen haben.
Es hat den Anschein, als würde oftmals zugunsten der Antragsteller entschieden und teilweise
werden Genehmigungen erteilt, obwohl die Abbaufirma noch gar nicht Eigentümer des Geländes
sind (Oscherslebener Volksstimme vom 20.10.93 "Einsprüche des Kreises verhallen oft ungehört").
Es ist offensichtlich, daß eine vorhergehende planerische Schwerpunktbildung der Flächennutzung
solche Konflikte vermeiden helfen könnte.
- 276 -
Die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen hat vor allem nach ihrem Abschluß für den
Fremdenverkehr auch eine positive Seite. Aufzulassende Hartsteinabbaugebiete bieten einen guten
Ansatz für ökologische Nischen, auch wenn dies zunächst nicht direkt erkennbar ist. Wenn während
des Abbaus bereits mit schonenden Methoden gearbeitet und eine Teilrekultivierung mit einfachen
Mitteln vorgenommen wird, so ist eine spätere Nutzung für den Fremdenverkehr und die
Freizeitbranche u. U. leichter. Steinbrüche weisen meist ein sehr günstiges Kleinklima auf, das für
vielerlei Arten zu einem Lebensraum werden kann. Man könnte sich für einige dieser Steinbrüche
eine Nutzung als Zoo vorstellen.
Ehemalige, offengelassene und nicht rekultivierte oder nur teilrekultivierte Steinbrüche können bei
entsprechender Gestaltung auch über eine phantastische Akustik verfügen, die eine kulturelle
Nutzung nahelegen können.
Die FVG E.L. ist wie oben bereits gesagt für die überregionale Werbung verantwortlich. Im letzten
Jahr wurden verstärkt Pauschalprogramme ausgearbeitet und neue, nach modernen Gesichtspunkten
gestaltete Übernachtungsverzeichnisse und Standortwerbebroschüren konzeptioniert. Neben
fremdenverkehrsrelevanten Stellungnahmen versucht man auch, neue zielgruppenspezifische
Angebote zu erstellen.
Der Verkehrsverein Nord-Elm e.V. mit Sitz in Süpplingen wurde 1972 gegründet und ist eine vom
zuständigen Landesverkehrsverband und der Samtgemeinde Nord-Elm anerkannte örtliche
Fremdenverkehrsorganisation, die mit dem Einverständnis der Samtgemeinde als Träger der
örtlichen Fremdenverkehrsarbeit auftritt.
Durch seine Tätigkeit möchte der Verein zur allgemeinen öffentlichen Gesundheitspflege, zur
Jugendpflege, zur Pflege der Heimatliebe und Heimatkunde beitragen, wobei er vor allem die
landschaftlichen und kulturellen Besonderheiten fördert. Folgende Maßnahmen werden dabei
vorwiegend vorgenommen:
- Schaffung, Erhalt und Pflege von Einrichtungen, die der Erholung und Gesundheit dienen;
- Mitarbeit bei der Schaffung und ständigen Verbesserung der dem Fremdenverkehr
Einrichtungen,
dienenden
- Betreuung der Urlaubsgäste,
- Vermittlung der Kulturgüter durch unentgeltliche Unterrichtung über die Stätten der
Wissenschaft, Kunst und der allgemeinen Sehenswürdigkeiten;
- Förderung der Kenntnisse über die nähere Umgebung und Pflege der Heimatliebe,
- Ausbau
des
ReiseFremdenverkehrswerbung.
und
Erholungsgedankens
mittels
einer
planvollen
Vor allem in den letzten Jahren wurden unter der Mithilfe des Verkehrsverein Nord-Elm verstärkt
Aktionen und Initiativen für ein am ländlichen Leben interessiertes Publikum angeboten. Dazu
zählen u. a. das alljährlich veranstaltete Drescher- und Schnitterfest sowie die "Mittelalterliche
Tafeley". Im Februar 1994 wurde auf Initiative des Fremdenverkehrsvereins in Zusammenarbeit mit
der Burg Warberg e. V. ein neuer Weinberg, die "Warberger Schiefe Lage" angelegt und den
Bewohnern der Samtgemeinde Nord-Elm dazugehörige "Anteilscheine" angeboten, die z. B.
folgende Rechte beinhalten:
- Vorschlag der Wahlkönigin;
- Teilnahme an der Wahl;
- Zins"ausschüttung" in Form eines Schoppen Weins.
Auch mit dem Gedanken einer Wiederverwendung des Nordschachts als Museumsbergwerk spielt
der Geschäftsführer des Verkehrsvereins Nord-Elm, was aber seitens des ansässigen
- 277 -
Bergbauunternehmens mit dem Hinweis auf bergbautechnische Probleme (Grundwasseranstieg im
Schacht) bisher nicht positiv beschieden werden konnte.
Durch überregionale Werbekampagnen und gute Kontakte zur Fremdenverkehrsgemeinschaft ElmLappwald werden die touristischen Attraktionen der Samtgemeinde Nord-Elm über die regionalen
Grenzen hinaus bekannt gemacht.
Was die Übernachtungszahlen betrifft, hat die Samtgemeinde Nord-Elm nach einem kurzzeitigen
Tief in der Saison 1991/92 1992/93 wieder einen positiven Trend aufzuweisen (Amt für
Wirtschaftsförderung und Fremdenverkehr, 1993). Dies ist nicht zuletzt auf die vielfältigen und
originellen Ideen des Verkehrsvereins Nord-Elm zurückzuführen.
Weitere Überlegungen zu einer übergeordneten Organisationsstruktur im niedersächsischen Fremdenverkehr
Die bestehenden Fremdenverkehrsverbände in Niedersachsen haben in erster Linie einen regionalen
Bezug. So ist die FVG E.L. Mitglied in dem Harzer Fremdenverkehrsverband. Die FVG selbst zählt
auch Fremdenverkehrsorte in Sachsen-Anhalt zu ihren Mitgliedern.
Seit Ende 1993 haben sich die bestehenden Fremdenverkehrsverbände zu einem
Landesfremdenverkehrsverband
zusammengeschlossen,
um
mit
einer
gemeinsamen
Interessenvertretung wichtige Rahmenbedingungen, die vom Bund, vom Land, von
Verkehrsträgern, Wirtschaftsverbänden u. e. m. gesetzt werden, besser beeinflussen zu können.
Außerdem soll auf dieser Ebene auch die Durchführung einzelner Maßnahmen von landesweiter
Bedeutung bearbeitet werden (Organisation des niedersächsischen Auftritts bei der „Internationalen
Tourismusbörse Berlin“ z. B.). Der Landesfremdenverkehrsverband ist in der Form einer
Arbeitsgemeinschaft mit Mitgliederversammlung und Vorstand organisiert; er verfügt nicht über
eigenes Personal und eine eigene Geschäftsstelle. Die Geschäfte werden nebenamtlich vom
Geschäftsführer des Harzer Verkehrsverbandes und seiner Geschäftsstelle in Goslar geführt.
Um eine Stärkung der Fremdenverkehrsorganisation auf Landesebene zu erreichen, sollte eine auf
Landesebene angesiedelte Fremdenverkehrsorganisation allen anderen untergeordneten
Organisationen die Möglichkeit zur Mitbestimmung in fremdenverkehrsrelevanten (inklusive
wirtschaftlichen und ertragsorientierten) Fragen bieten. Zu diesem Zweck soll der
"Landesfremdenverkehrsverband Niedersachsen-Bremen e. V. neu in der Form eines eingetragenen
Vereins gebildet werden. Als Mitglieder sollen neben den vier bestehenden Regionalverbänden vor
allem großräumig arbeitende und landesübergreifende Tourismusverbände aufgenommen werden.
Um die wirtschaftlichen Aktivitäten abzudecken, soll eine GmbH gegründet werden, deren
Gesellschafter Mitglieder des Landesfremden-verkehrsverbandes neu, aber auch andere sein
können. Zu den wirtschaftlichen Aktivitäten sollen spezielle landesweite Marketingaufgaben wie
die touristische Imagewerbung Niedersachsens, die EXPO 2000, touristische Fachmessen, wie ITB
und Grüne Woche, die Hotelklassifizierung, regionsübergreifende Veranstaltungen und Projekte bis
hin zu touristischen Fachveranstaltungen wie TIN-Seminaren gehören. Es ist dafür ein
maßgeblicher Einfluß des Landesfremdenverkehrsverbandes auf die GmbH sicherzustellen.
Die Deckung der Geschäfts- und Personalkosten soll durch Mitgliedsbeiträge, eine institutionelle
Förderung vom Land Niedersachsen und Projektfinanzierungen erreicht werden.
9.5 Die soziökonomische Bedeutung des Fremdenverkehrs im Landkreis Helmstedt
In den in Tab. IX 3 aufgeführten Kommunen ist der Landkreis Helmstedt mit ca. 60% des
bundesdeutschen Durchschnitts bei den Übernachtungen je Einwohner im vorderen Bereich
angesiedelt. Berücksichtigt man den Landkreis Goslar, ohne den der Großraum Braunschweig
lediglich 30% des Bundesgesamtschnitts erreicht, so ergibt sich für den Großraum Braunschweig
mit dem Landkreis Goslar ein Wert von ca. 500% über dem Bundesgesamtschnitt(!).
- 278 -
Aus dieser Tabelle sind auch die zum Teil stark angestiegenen Besucherzahlen nach der
Grenzöffnung 1989 zu erkennen, die dem ansässigen Fremdenverkehrsgewerbe ordentliche
Umsätze gebracht haben dürften.
Im Landkreis Helmstedt gab es 1993 27 Hotels (EZ und DZ von 35,- bis 230,- DM), 6 Hotels Garni
(EZ und DZ von 35,- bis 115,- DM), 16 Gasthof- und Pensionszimmervermietungen (EZ und DZ
von 35,- bis 110,- DM) und 33 Privatzimmervermietungen (EZ und DZ von 25,- bis 98,- DM).
Desweiteren gibt es 29 Ferienwohnungs- und Hausvermietungen mit 115 Wohneinheiten, wobei der
Ferienpark Räbke in der Samtgemeinde Nord-Elm den größten Vermieter mit 30 Einheiten darstellt
(von 30,- bis 200,- DM).
Im Oktober 1993 standen nach einer Erhebung nach TIN (Touristischen Informationsnorm) zum
Gebietsunterkunftsverzeichnis des Landkreises Helmstedt ca. 1560 Gästebetten (im gewerblichen
Bereich) zur Verfügung, wovon über 75% im Hotelbereich angeboten wurden.
Im Campingbereich bestanden ca. 700 Standplatzangebote und im Ferienpark Räbke wurden ca.
300 Caravanstellplätzen, 30 Holzfertighäuser mit Ferienwohnungen (Ferienpark Räbke) sowie 100
Mobilheimplätze angeboten.
Der Landkreis Helmstedt verfügt über ca. 0.8% der Bettenkapazitäten in Niedersachsen und steht
im interregionalen Vergleich (s.a. Tab. IX 4) relativ gut. Hinter den Städten Braunschweig,
Wolfsburg und Salzgitter und dem Landkreis Goslar, liegt, was die angebotenen Betten je Betrieb
und den Auslastungsgrad der Betten bezogen auf das Bettenangebot angeht, direkt der Landkreis
Helmstedt. Die geringe Verweildauer im Landkreis Helmstedt könnte durch entsprechende
Gegensteuerung beim Angebot und einer neuen Zielgruppenorientierung durchaus verbessert
werden. Einmal abgesehen vom Landkreis Goslar als traditionellem Harzurlaubsgebiet ist im
Landkreis Gifhorn neben der Stadt Salzgitter (Salzgitter Bad als Kurort) die höchste
durchschnittliche Verweildauer bezogen auf die Übernachtungen je Ankunft im Braunschweiger
Raum zu verzeichnen.
Die Zentren des Fremdenverkehrs im Landkreis Helmstedt stellen die Städte Königslutter und
Helmstedt dar. Die Stadt Königslutter und die Gemeinde Lehre verfügten mit 47,2% bzw. 44,8%
über eine über dem Bundesschnitt (alte Länder 1991) von 43,2% liegende Bettenauslastung. Auch
in der Stadt Schöningen sind diverse attraktive Übernachtungs- und Aufenthaltsmöglichkeiten für
verschiedene Besuchergruppen vorhanden, die jedoch nicht so gut angenommen werden, denn die
Bettenauslastung lag 1991 bei 38,2% und damit sogar unter dem Landkreisschnitt von 43,6%
(NIW, 1991).
Unter arbeitswirtschaftlichen Gesichtspunkten nimmt der Fremdenverkehr im Landkreis Helmstedt
eine untergeordnete Rolle ein. Von 22.823 gemeldeten SVP-Beschäftigten arbeiten direkt im
Fremdenverkehr im Landkreis Helmstedt lediglich 1.1 % (!). Im niedersächsischen Schnitt sind es
knapp 2.5% und im Bundesschnitt sind es 2.3%, die im Gast- und Beherbergungsgewerbe arbeiten
(s.a. Tab. IX 5).
Der Fremdenverkehr nimmt im Landkreis Helmstedt im Vergleich zu dem produzierenden Gewerbe
eine untergeordnete Stellung ein. Es ist aber nicht von der Hand zu weisen, daß der
Fremdenverkehr im Landkreis Helmstedt ein zusätzliches, ergänzendes Standbein im bestehenden
Wirtschaftsgefüge darstellt.
Von 1985 bis 1991 sind die Übernachtungszahlen in Niedersachsen um fast 38%, im Bundesgebiet
lediglich um 25% gestiegen. Besonders profitiert haben die niedersächsischen Großstädte und ihr
Umland ((Geschäfts- und Städtetourismus), Regionalbericht NIW, 1992). Es ist in Niedersachsen
aber auch eine sonst nicht bekannte Diskrepanz zwischen amtlicher Statistik und den tatsächlichen
Übernachtungszahlen zu benennen. Laut Untersuchungen des DWIF, in denen es darum gehen
sollte, die amtlich nicht erfaßten Quartiere, wie gewerbliche Betriebe mit weniger als 9 Betten,
Privatquartiere und Ferienwohnungen zu erfassen, wird der Anteil der statistisch nicht erfaßten
Übernachtungen auf 133% der erfaßten Übernachtungen geschätzt. Im Landkreis Helmstedt liegen
die von der Fremdenverkehrsgemeinschaft Elm-Lappwald zur Verfügung gestellten Zahlen für
Übernachtungen um ca. 170% über denen der amtlichen Statistik. Diese Tatsache sollte bei den
Bewertungen der Übernachtungszahlen im Landkreis Helmstedt berücksichtigt werden, denn sie
- 279 -
machen deutlich, daß die touristischen Attraktionen des Landkreises Helmstedt vom Kunden
angenommen werden.
In Tab. IX 4 wird eine Übersicht über die Anzahl der Beherbergungsbetriebe gegeben. Es wird
daraus ersichtlich, daß der Landkreis Helmstedt 1991 bezüglich der Bettenkapazität über dem
Bundesschnitt und bei der Bettenauslastung sogar über dem niedersächsischen Schnitt lag. Im
regionalen Vergleich der Landkreise erreicht der Landkreis Helmstedt 1991 in Bezug auf die
Bettenauslastung gute Werte. Betrachtet man die Verweildauer im Landkreis Helmstedt wird
deutlich, daß er zu den Kurzaufenthaltsgebieten gehört. Bei der Beurteilung von touristischen
Entwicklungsmöglichkeiten für die Region Helmstedt ist eine kritische Einschätzung künftiger
Nachfrage- und Konkurrenzverhältnisse vorzunehmen, was im Rahmen der Strukturanalyse nicht in
der erforderlichen Tiefe geleistet werden konnte und was demnach durch eine spezielle
Fremdenverkehrsanalyse geklärt werden sollte.
Die zum Zeitpunkt der Erstellung der Analyse erreichte Reiseintensität läßt die Vermutung zu, daß
in Zukunft noch weitere Nachfragesteigerungen zu erwarten sind. Einschränkungen könnten sich im
Zuge der Rezession 1992/93 ergeben wenn in weiten Bereichen des Urlauberspektrums z.B. die
monatliche Fixkostenbelastungen (z.B. Wohnungsmieten, Schuldendienste) zunimmt. Dies könnte
unter den Anbietern im Fremdenverkehrsgewerbe zu einem gesteigerten Konkurrenzdruck um die
geringeren Gästezahlen führen und damit die Möglichkeiten einschränken, den Fremdenverkehr als
Entwicklungsinstrument für die Region zu nutzen. Doch neue Hotelbauten entlang der A2, sowohl
im Landkreis Helmstedt, als auch in den angrenzenden sachsen-anhaltinischen Landkreisen,
beweisen, daß die Entwicklungs-achse A2, zumindest was den Geschäftsreiseverkehr angeht,
besonders attraktiv ist.
Bei der Attraktivität eines Fremdenverkehrsstandortes spielt der Landschaftsbezug eine bedeutende
Rolle. Hier sind im Landkreis Helmstedt die großen Waldflächen des Elm, des Lappwalds, des
Dorm und Eitz zu nennen. Leider gibt es nur sehr wenig Wasser in Form von Flüssen oder Seen.
Aus diesem Grund sollte ehemalige Steinbrüche oder Tagebauflächen so rekultiviert werden, daß
parkähnliche Landschaften entstehen, die dann wiederum bei entsprechender verkehrlicher
Anbindung als Standortfaktor für das touristische Gewerbe Bedeutung erlangen können.
Im Ausflugs- und Naherholungsverkehr spielt der attraktive Landschaftsbezug eine nicht so
bedeutende Rolle, wohl aber die Schaffung attraktiver Freizeitangebote für die aus den jeweils ca.
50 km entfernten Agglomerationen Braunschweig und Magdeburg stammenden potentiellen
Naherholungsgäste. Allein die Besucherfrequentierung von gehobenen Freizeiteinrichtungen z. B.
in Wolfsburg oder Besuchermagneten im Reitlingstal läßt erahnen, daß auch die weniger
spektakuläre Landschaft des Landkreises durch Schaffung von ökologisch eingerichteten
Themenparks z.B. aufgewertet werden könnte.
9.5.1 Unmittelbar und mittelbar vom Fremdenverkehr ausgehende wirtschaftliche
Wirkungen
Die touristische Nachfrage bewirkt Umsätze in einer Vielzahl von Unternehmen, wobei viele diese
lediglich als Zusatzgeschäfte verbuchen. Die Umsätze, die auf touristische Nachfrage zurückgehen,
werden nicht getrennt erfaßt; daher ist es auch nicht möglich, das Umsatzvolumen im
Fremdenverkehr angebotsseitig nachzuweisen. Die Bestimmung der fremdenverkehrsbedingten
Umsätze kann deshalb einigermaßen zuverlässig nur durch die Ermittlung von Ausgaben für
touristische Leistungen auf der Konsumseite erfolgen. Neben den dazu stattfindenden
Erhebungsverfahren zum Ausgabeverhalten und Einberechnungen der Daten zum Nachfrageumfang
müssen Wertschöpfungsberechnungen vorgenommen werden, um Aussagen über wirtschaftliche
Wirkungen vornehmen zu können.
Die Ermittlung der Ausgaben werden nach Zeiner und Harrer (1992) in folgenden Kategorien
vorgenommen:
- Unterkunft,
- Verpflegung,
- 280 -
- Einkäufe,
- Sport- und Freizeit,
- lokaler Transport,
- sonstige Dienstleistungen,
- Tagesausgaben pro Kopf.
Je differenzierter die Ausgabenbereiche erfaßt werden, desto besser lassen sich die
Wertschöpfungsquoten nach Wirtschaftszweigen, -gruppen und -klassen bei der Berechnung der
Einkommensbildung ermitteln. Aus der Wertschöpfung und der Einkommensbildung lassen sich
dann erste Schlüsse bei der Beschäftigungswirkung ziehen.
Doch die vom Fremdenverkehr ausgehenden wirtschaftlichen Wirkungen sollten immer auch im
Zusammenhang mit der gesamten Wirtschaftssituation beurteilt werden. Hier ist es wichtig, zu
erforschen, inwiefern der Fremdenverkehr zu einer Verbesserung der ökonomischen Verhältnisse
führen kann oder ob eine Stärkung anderer Wirtschaftszweige nicht vorteilhafter wäre
9.5.2 Die durch den Fremdenverkehr bewirkten Umsätze
Bei den Ausgaben pro Tag im Fremdenverkehr liegt eine umfangreiche Bandbreite von
Ausgabemöglichkeiten vor, die nach Art und Qualität des Angebots und der Inanspruchnahme von
einfachen bis zu qualitativ hochwertigen Unterkunftsformen variieren.
Bei der vom Deutschen Wirtschaftswissenschaftlichen Institut für Fremdenverkehr an der
Universität München (DWIF, 1992) durchgeführten Studie zur Ausgabenstruktur im
übernachtenden Fremdenverkehr in der Bundesrepublik Deutschland (ohne Beitrittsgebiet) wird
bezüglich der Unterkunftsart zwischen gewerblichen Betrieben (Hotels, Hotels garni, Gasthöfe,
Pensionen) und privaten Unterkünften (Privatquartiere, Ferienwohnungen) unterschieden.
Campingplätze und Jugendherbergen sind dabei nicht berücksichtigt worden.
Aus Tab. IX 6 und IX 7 kann die detaillierte Aufgliederung der Ausgabenstruktur nach einzelnen
Betriebsarten entnommen werden. Es handelt sich dabei um die durchschnittlichen Ausgaben pro
Erholungsurlauber. Aus den Tabellen IX 8 und IX 9 ist ersichtlich, daß eine starke Abhängigkeit
zwischen Ausgabenhöhe bzw. -struktur und der gewählten Unterkunftsart besteht.
Es gibt aber noch weitere Einflußfaktoren, die zu einer regional unterschiedlichen
Ausgabensituation führen können, als da wären:
- unterschiedliche Preisstellung in vergleichbaren Beherbungs- und Verpflegungsbetrieben,
- Struktur
des
vergleichbaren
Fremdenverkehrsgebieten,
Beherbergungsangebots
in
den
verschiedenen
- Ausstattung der Fremdenverkehrsgebiete mit Einrichtungen, auf welche die sonstigen Ausgaben
der Fremden entfallen (z.B. Einkauf, Unterhaltung),
- Sozialstruktur und Altersstruktur der Nachfrager,
- Aufenthaltsdauer,
- Reisegruppengröße,
- Reisemotiv. (Zeiner, Harrer, 1992).
Es zeigen sich wie oben angedeutet deutliche Abhängigkeiten zwischen der ausgewählten
Betriebsart und den Ausgaben pro Übernachtung. Die Ausgaben für Verpflegung lehnen sich dabei
- 281 -
in den meisten Fällen an die Größen für Ausgaben für die Unterkunft an. Das heißt, sind die
Übernachtungskosten hoch, sind es auch die Verpflegungskosten.
Da für das Gebiet des Elm-Lappwaldes keine solche Erhebung durchgeführt wurde, sind Daten für
den Harz und die Lüneburger Heide ausgewählt worden, wobei die Werte für den Elm-Lappwald
eher unter denen für die Lüneburger Heide liegen dürften.
Die in der nachfolgenden Tabelle dargestellten Werte stellen die Ausgaben aller
Übernachtungsgäste dar, ganz gleich welches Reisemotiv vorlag. Die Werte wurden auf der
Grundlage der Tagesausgaben nach Betriebsarten und Reisemotiv mit entsprechender Gewichtung
ermittelt.
Ausgabenart
Fremdenverkehrsgebiet
Unterkunft
VerEinpflegung käufe
Harzvorland-ElmLappwald
52,50
45,00
08,10
Sport
und
Freizeit
01,20
Harz
HannoverHildesheimBraunschweig
50,80
43,40
08,30
01,30
00,90
11,10
115,80
77,10
55,50
19,00
01,40
01,30
02,70
157,00
Südniedersachsen
51,10
41,10
07,80
01,70
01,00
03,60
106,30
InsgeLokaler
Sonstige
samt
Transport Dienstleistungen
00,70
13,50
121,00
Quelle: Zeiner, Harrer, DWIF, München, 1992).
Tabelle: Tagesausgaben pro Übernachtungsgast in gewerblichen Quartieren nach Reisegebieten und
Ausgabenart in DM (ohne Campingplätze, Jugendherbergen, Ferienwohnungen, Privat-quartieren) aufgegliedert nach Ausgabenart
Die unterschiedlichen Endergebnisse sind u.a. auf folgende Sachverhalte zurückzuführen:
- die Zusammensetzung des Fremdenverkehrsangebotes,
- Ausstattung mit nicht fremdenverkehrsspezifischen Einrichtungen,
- Ausgaben für sonstige Dienstleistungen hängen mit dem Anteil der Kurnachfrage im jeweiligen
Fremdenverkehrsgebiet zusammen,
- verschiedene zugrundeliegende Reisemotive.
Aus dem Vergleich der obigen Tabelle mit Tabelle IX 10 ist ersichtlich, daß der Wert des
Reisegebiets Harzvorland-Elm-Lappwald ca. 150% über dem Wert für Niedersachsen und ca. 106%
über dem Bundesschnitt liegt, der absolut 113.10 DM beträgt. Der Wert für Niedersachsen weist
noch einmal darauf hin, daß Niedersachsen ein günstiges Urlaubsland ist und schon aus diesen
Gründen für verschiedene Zielgruppen attraktiv ist.
9.5.3 Die Ausflugsnachfrage
Weit umfangreicher als der Fremdenverkehr mit Übernachtung ist mit Sicherheit auch im Bereich
des Landkreises Helmstedt der Tagesbesucherverkehr, vor allem an den Wochenenden.
Als Ausflug wird jedes Verlassen des Wohnumfeldes bzw. Ortsteiles bezeichnet, das
- nicht als Fahrt von oder zur Schule, zum Arbeitsplatz, zur Berufsbildung vorgenommen
wird,
- 282 -
- nicht als Einkaufsfahrt zur Deckung des täglichen Bedarfs dient und
- nicht einer gewissen Routine oder Regelmäßigkeit unterliegt (Zeiner et al 1993).
In den alten Bundesländern unternehmen ca. 90% der Einwohner jährlich zumindest einen Ausflug.
Jeder Ausflügler tätigt derzeit im Durchschnitt etwa 22 Ausflüge pro Jahr. Die Stadtbevölkerung
zeigt, wie zu erwarten war, eine höhere Ausflugsintensität als die ländliche Bevölkerung (Zeiner et
al, 1993).
An jedem Wochenende drängen sich die Menschen aus den Ballungsgebieten hinaus "aufs Land".
Die Straßenbelastung ist an den Wochenenden größer als an Wochentagen (s.a. Kap. Verkehr).
Wie aus Tabelle IX 11 ersichtlich, wird ein Großteil der Urlaube mit dem Verkehrsmittel PKW
vorgenommen. Flugzeugreisen sind vor allem im Geschäftsverkehr üblich. Es liegt nahe, daß der
PKW insbesondere für den Ausflugsverkehr in höherem Maße in Anspruch genommen wird. Koch
(1986) gibt eine Anzahl von 80% Pkw-Benutzung für Ausflugsverkehr an. Diese Zahl dürfte
inzwischen noch höher liegen. Das DWIF (1987) hat mit 83,4% den Pkw als Hauptverkehrsmittel
für den Ausflugsverkehr angegeben. Busse (6,2%) und Bahnen (3,1%) spielen eine untergeordnete
Rolle.
Der Landkreis Helmstedt liegt im näheren Bereich zweier großer Städte und liegt bezüglich der
Distanz zu diesen (ca. 50 km) exakt in dem Bereich, in den rein statistisch jeder zweite Ausflug
stattfindet. Nur jeder achte Besucher legt einen längeren Weg von ca. 150 km pro Einzelstrecke
zurück. Die Bereitschaft, einen längeren Anfahrtsweg in Kauf zu nehmen, korreliert mit der
Attraktivität des Ausflugsziels (DWIF, 1987).
Bevorzugte Ausflugsgebiete des Landkreises Helmstedt sind:
- im Lappwald das Bad Helmstedt bei Helmstedt,
- im Elm der Tetzelstein und das Reitlingstal bei Königslutter,
- der Heeseberg in der Samtgemeinde Jerxheim und
- die Velpker Schweiz in der Samtgemeinde Velpke.
Nach Untersuchungen des DWIF zum Ausflugsverkehr (1987) nehmen etwas weniger als die Hälfte
der Ausflügler gastronomische Leistungen (z B. Café, Restaurant) in Anspruch. Bei den
Ausflugsaktivitäten sind Spazierengehen (ländlicher Raum) und Bummeln (innerstädtisch) als
besondere Aktivitäten anzusehen. 1987 standen kulturelle Aktivitäten (z. B. Besichtigung von
Denkmälern und Schlössern, Museumsbesuche u. ä.) noch vor den sportlichen Aktivitäten. Das
könnte sich geändert haben, da heute viele Besucher z. B. mit ihren Mountainbikes
Erkundungstouren in die Umgebung unternehmen und das sportliche mit dem kulturellen
verbinden. Der sportliche Trend ist ja auch von Opaschowski bereits angeführt worden (s. o.).
Durchschnittlich bringen 5 Tagesausflüge den Umsatz einer Übernachtung. Um detaillierte
Kenntnisse zu erhalten, ist es notwendig, genauere Untersuchungen vorzunehmen. So kann z.B. die
Parkplatzbelegung in den bevorzugten Ausflugsgebieten oder Verkehrszählungen vorgenommen
werden.
Nach Schätzungen des Geschäftsführers der Fremdenverkehrsgemeinschaft Elm-Lappwald e.V.
kamen 1987 ca. 1 Million Tagesbesucher in den Landkreis Helmstedt. Das hieße, daß bei einer
durchschnittlichen Tagesausgabe von 121 DM pro Übernachtungsgast ca. 24 Millionen DM durch
den Ausflugsverkehr im Landkreis Helmstedt umgesetzt werden.
Im Ausflugsverkehr beeinflussen wie auch beim Urlaubsreiseverkehr Art und Qualität des
Angebots Struktur und Höhe der Ausgaben im Ausflugszielgebiet. So ergeben sich zum Teil sehr
unterschiedliche Werte bei der Ausgabenhöhe je Ausflug. Ausflugsgebiete, die lediglich
Wandermöglichkeiten bieten, werden also vergleichsweise niedrigere Umsätze je Ausflugsbesucher erreichen als z. B. städtische Gebiete mit qualitativ hochwertiger Fremdenverkehrsinfrastruktur und Freizeiteinrichtungen, die Tennis, Minigolf, Reiten, Erlebnisparks u.v.m. anbieten.
Sie werden sachgemäß wesentlich höhere Ausgabenhöhen erreichen.
- 283 -
9.5.4 Der Tagesgeschäftsverkehr
Im Gegensatz zum Ausflugsverkehr konzentrieren sich die Tagesgeschäftsreisen auf die Werktage.
Nach Erkenntnissen des DWIF (1986) konzentrierten sich die Tagesgeschäftsreisen in den alten
Bundesländern auf die Werktage Montag bis Freitag. Knapp 50% der Tagesgeschäftsreisen fanden
ihre Begründung in allgemeinen Geschäftsbesuchen. 16% hatten als Reisemotiv eine Weiterbildung
bzw. Schulung, knapp 13% eine Tagung oder einen Kongreß. Bei einer geschätzten Auslastung der
1993 erfaßten Hotelbetten von 30 % durch den Geschäftsreiseverkehr und einer niedrig geschätzten
Tagesausgabe von 121,- DM, ergibt sich ein durch den Geschäftsreiseverkehr erzeugtes
Umsatzvolumen von ca. 10 Mio. DM im Landkreis Helmstedt. Unter der Annahme, daß die
inoffiziellen Statistiken um ca. 130 % über den amtlichen Statistiken liegen, ergibt sich ein
Gesamtumsatz von ca. 12 Mio. DM durch den Geschäftsreiseverkehr.
Die durchschnittlichen Tagesausgaben (in DM) lagen in den alten Bundesländern 1987 pro Kopf
bei:
- allgemeiner Geschäftsbesuch
- Schulung, Weiterbildung
- Messe, Ausstellung
- Tagung, Kongreß
53,40
41,00
89,70
39,60
- sonstiges
43,10.
Der Durchschnitt ergibt 44,74 DM.
Der Aspekt der „Zwischenstops“
Hier spielen vor allem die Motels und Campingplätze entlang der Autobahn eine wesentliche Rolle.
Campingurlauber, hier vor allem Wohnmobiltouristen, Busreisende, Urlauber mit Pkw, Radfahrer
und Rundreisende stellen das Besucherpotential im Bereich der Zwischenstops dar. Die sich darauf
begründenden Motels entlang der Autobahn stellen sich sehr genau auf diese Besuchergruppe ein,
denn für solche Besucher spielt die Ausstattung der Zimmer eine sehr wesentliche Rolle.
Im Landkreis Helmstedt sind z. B. für die zukünftig zunehmende Anzahl der Wohnmobile keine
Standmöglichkeiten vorhanden. Hier könnten sich die Kommunen entlang der Autobahn bzw. Der
wichtigen Bundesstraßen , insbesondere die Städte noch engagieren. In Deutschland gibt es viele
Kommunen mit ähnlicher Infrastrukturausstattung und Landschaftsqualität, die die Zielgruppe
„Wohnmobilisten“ durch attraktiv gestaltete und plazierte Standplätze bereist erfolgreich
erschlossen haben
Bei den prognostizierten Zunahmen der Reiseintensität wird auch die Zahl der Zwischenstops
sachgemäß zunehmen. Die A2 ist dabei eine der wesentlichen Transitachsen, vor allem in die sich
in Richtung Osten entwickelnden Reisegebiete und natürlich die Hauptstadt Berlin.
9.6 Die Wertschöpfung aus der touristischen Nachfrage
Die Wertschöpfung gibt an, wieviel Prozent des Nettoumsatzes (ohne MwSt.) unmittelbar zu
Löhnen, Einkommen oder Gewinnen werden. Sie gibt an, wie einkommenswirksam die
Fremdenverkehrsumsätze sind. In Tabelle IX 12 sind die im Gutachten des DWIF verwendeten
Wertschöpfungsquoten
angegeben.
Danach
liegt
die
Wertschöpfungsquote
im
Übernachtungsgewerbe zwischen 35-50%. Koch (1986) gibt eine Wertschöpfung von 80% für
Privatquartiere an, da dort weniger Vorleistungen anderer Wirtschaftsbereiche, aber auch
Abschreibungen weniger ins Gewicht fallen. Für Ferienwohnungen gibt er einen entsprechend
- 284 -
geringeren Wert an, da sie wenig oder gar keinen Personaleinsatz bedingen und der Abschreibungsund Fremdkapitalzinsaufwand dort die Gewinne schmälert.
Auch im Bereich des Einzelhandels gibt es unterschiedliche Wertschöpfungsquoten. Zeiner und
Harrer (1992) geben für den Einzelhandel 18%, Koch (1986) 12-14% an.
Ohne alle Ausgabenbereiche im Einzelnen zu untersuchen, kann beim Erholungsreiseverkehr,
soweit es die Umsätze am Aufenthaltsort betrifft, etwa von einer Wertschöpfung von 40%
ausgegangen werden (Zeiner, Harrer 1992). Für den Landkreis Helmstedt wird pro Übernachtung
und Tag ein Wert von ca. 120 DM angegeben. Das heißt, daß 48 DM zum unmittelbaren
Einkommensbeitrag werden.
Bei gerundeten 260.000 Übernachtungen im Jahr 1991 wären das dann 12.480.000 DM pro Jahr,
die zum unmittelbaren Einkommensbeitrag werden. Legt man die inoffiziellen
Übernachtungszahlen (ca. 170% mehr) zugrunde und nimmt einen Tagesausgabendurchschnitt von
81 DM für alle Betriebsarten, so ergibt sich bei einer Wertschöpfung von ca. 40% ein Betrag von
ca. 14.3 Millionen DM unmittelbarem Einkommens- und Gewinnanteil pro Jahr.
Beim Ausflugsverkehr ist die Wertschöpfungsquote ähnlich hoch wie beim Fremdenverkehr mit
Übernachtung. Das Schwergewicht liegt hier beim Verpflegungssektor mit einer Wertschöpfung
zwischen 35-40%. Zeiner und Harrer (1992) geben für diesen Bereich 37% an. Über die Ausgaben
von Tagesausfluggästen im Landkreis Helmstedt gibt es keine Angaben, legt man jedoch die oben
aufgeführten Zahlen zugrunde, so käme zu der oben angegebenen Summe noch einmal ein Betrag
von ca. 10 Millionen DM durch den Ausflugsverkehr hinzu.
Insgesamt würde sich der jährliche Einkommens- und Gewinnanteil der im Fremdenverkehr
anfallenden Umsätze auf ca. 25 Millionen DM belaufen.
9.7 Beschäftigung
Insgesamt ist in Niedersachsen die Personalsituation im Hotel- und Gaststättengewerbe relativ
angespannt, da es nach wie vor an Fach- und erfahrenen Hilfskräften fehlt. In der Gastronomie
herrscht vor allem im Bereich der Köche/Köchinnen ein großer Mangel. Die Ausbildungsbetriebe
des Mittelstandes klagen zudem über Nachwuchssorgen, da die Ausbildungsqualität und die der
Ausbildung folgenden Aufstiegschancen im Gewerbe als relativ gering eingeschätzt werden. Zudem
ist der finanzielle Unterschied zwischen gelernten und ungelernten Kräften relativ gering, was im
Ausbildungsbereich zu einer relativ hohen Aussteiger- und Abbrecherquote führt. Die
Abbrecherquote lag bei den Köchen am höchsten, gefolgt von den Restaurantfachleuten. Die relativ
hohen Fluktuationsraten ergeben sich auch durch ungünstige Arbeitszeiten und ein qualitativ
niedriges Ausbildungsniveau (Niedersächsischer Landtag, Drucksache 12/6002, 19.4.1994).
Der Landkreis Helmstedt hatte von 1980-1991 im Vergleich zum Bundesschnitt einen doppelt so
hohen Beschäftigtenzuwachs im Gast- und Beherbergungsgewerbe zu verzeichnen, was zum
Großteil auch auf die Grenzöffnung zurückzuführen sein dürfte. Es sollte jedoch nicht übersehen
werden, daß gerade in diesem Wirtschaftszweig saisonale Beschäftigungs-verhältnisse vorherrschen
und daß ein Großteil der Beschäftigten nicht sozialversicher-ungspflichtig arbeitet und qualitativ
geringwertige Tätigkeiten ausführt, was ein vergleichsweise sehr geringes Lohnniveau nach sich
zieht. Da es im Landkreis keine Kureinrichtungen gibt, die bekanntermaßen eines erheblichen
Anteils gut ausgebildeter Pflege- und Versorgungskräfte bedürfen, ist auch kein höheres
fremdenverkehrsrelevantes Lohnniveau zu erwarten.
9.7.1 Vollzeitbeschäftigte in Beherbungsbetrieben je Bett
Im Landkreis Helmstedt gibt es im Durchschnitt 0.4 Beschäftigte je Bett. Das ist im Vergleich zum
Land Niedersachsen mit 0.27 Beschäftigten je Bett und 0.31 Beschäftigte pro Bett im Bundesschnitt
sehr gut. Diese Durchschnittswerte sind noch weiter differenzierbar. Wenn z.B. ein hoher
- 285 -
Qualitätsstandard des Übernachtungsangebots erreicht wird bzw.
Durchschnittszahl auf über einen Beschäftigten pro Bett klettern können.
vorliegt,
wird
diese
9.7.2 Nebenerwerbsbeschäftigte
Nebenerwerbsbeschäftigte im Fremdenverkehr sind solche, die ihr hauptsächliches Einkommen aus
einer Beschäftigung in anderen Wirtschaftszweigen erzielen. Der Fremdenverkehr bietet ihnen
lediglich ein Zusatzeinkommen. Im Beherbergungsbereich trifft dies vor allem beim Angebot von
Privatbetten, Beherbergung auf dem Bauernhof (inkl. Camping) und in vielen Fällen bei
Ferienwohnungen zu. Auch für Fremdenheime bzw. Pensionen mit einem begrenztem Betten- bzw.
Zimmerangebot wird es häufig zutreffen, daß sie im Nebenerwerb geführt werden.
Nehmen wir z.B. an, daß ein Privatvermieter im Landkreis Helmstedt bei einer Belegung von z.B. 5
Zimmern an 120 Tagen im Jahr einen Umsatz von 37.680 DM hätte. Bei einer angesetzten
Wertschöpfung von 50% wäre das ein Einkommen von 18.840 DM pro Jahr, was ein monatliches
Einkommen von 1570 DM im Durchschnitt bedeuten würde.
Der Nebenerwerb im Fremdenverkehrsbereich bezieht sich aber nicht nur auf den
Beherbergungsaspekt sondern auch auf verschiedene andere Dienstleistungsbereiche, wie z.B.
Fremdenführungen, Kutschfahrten, Durchführung von Festen und Auftritten von regionalen
Künstlern u.ä.. Sie sind vergleichsweise zwar zu vernachlässigen, bieten aber, was die Vielfalt von
zusätzlichen Einkommensmöglichkeiten angeht, wertvolle Ansätze für Einkommenskombinationen
z. B. für Rentner und Rentnerinnen (Stichwort: Fremdenführung) oder aber auch für Landwirte
(Stichwort: Kutschfahrten).
Auch die vielen Teilzeitkräfte (Aushilfsdienste im Küchen- und Zimmerdienst) sind häufig als
Nebenerwerbskräfte zu bezeichnen, da es sich für diese Personen oft um einen "Zuerwerb" für den
Haushalt handelt (Koch, 1986).
9.8 Ferienzentren
Nachdem auch in Deutschland immer häufiger der Gedanke an die Neugründung von Ferienzentren
geäußert wird, soll hier näher auf diese neue Art des (Kurz)-Urlaubs eingegangen werden. Die
Ferienzentren der zweiten Generation haben sich vor allem in den Niederlanden als kommerziell
sehr erfolgreich erwiesen.
Auch in Deutschland gründet die Firma "Center Parks" neue Einrichtungen. So ist gerade aktuell in
der Lüneburger Heide ein solches Projekt gerichtlich durch einen Vergleich zum Weiterbau
freigegeben worden, nachdem sich drei Anlieger bis dato erfolgreich gegen die Neueinrichtung
eines solchen Parks gewehrt hatten. Diese haben erst im Januar 1994 ihre Widersprüche
zurückgezogen, so daß nun der Errichtung eines Ferienzentrums der zweiten Generation durch das
"Center Parks"- Unternehmen nichts mehr im Wege steht. Die Investitionssumme beläuft sich auf
ca. 200 Millionen DM (Braunschweiger Zeitung v. 19.1.1994, Niedersachsen, Groß-Ferienpark für
die Lüneburger Heide).
1992 gab es in Deutschland nach Strasdas erst vier Großprojekte, die man als Ferienzentren der 2.
Generation bezeichnen kann. Bei allen wurden bereits begründete Ferienzentren erweitert, indem in
diesen z. B. ein zentrales Erlebnisbad errichtet und die Beherbergungskapazitäten erweitert wurden.
Insgesamt 24 Projekte befanden sich in einem konkreteren Planungsstadium.
Im Gegensatz zu den niederländischen Ferienzentren sind die deutschen Projekte konzeptionell
halboffen ausgelegt. Das heißt, sie haben einen stärkeren Austausch mit der Umgebung (Einkaufen,
Wandern, Besichtigungen) als das bei Center Parks der Fall ist.
Die geplanten Gesamtinvestitionssummen bewegen sich insgesamt zwischen 60 Millionen und 1
Milliarde DM. Der Flächenbedarf bei den in den alten Bundesländern in der Planung relativ weit
vorangeschrittenen Projekten schwanken zwischen 30 und 120 ha. Bei der zusätzlichen Anlage von
- 286 -
Golfplätzen oder künstlichen Seen steigt der Flächenbedarf sehr stark an. Nicht umsonst müssen für
solche Anlagen UVP-Gutachten erstellt werden.
In Anbetracht der Tatsache, daß solche Projekte zukunftsweisend sind und man auch im Landkreis
Helmstedt aufgrund der guten verkehrlichen Lage an der A 2 und der Nähe zu den
Landeshauptstädten Hannover und Magdeburg ebenfalls an die Schaffung eines solchen Projektes
denken könnte, soll hier eine detaillierte Bearbeitung dieses Themas stattfinden.
9.8.1 Was sind Ferienzentren der 2. Generation?
Ferienzentren der 2. Generation sind nach Strasdas (1992) nach einem einheitlichen Plan gestaltete
und (meist) von einer einzigen Gesellschaft betriebene touristische Großprojekte mit einem
kompakten Angebot an Unterkünften (typischerweise in Bungalowform), Freizeitinfrastruktur,
Versorgungseinrichtungen und weiteren Dienstleistungen. Angestrebt wird ein vielfältiges und
qualitativ hochwertiges Angebot, das diesen Anlagen funktional einen mehr oder weniger autarken
Charakter verleiht. Kennzeichnend ist ein überdachter Zentralkomplex - mit einem Erlebnisbad als
wichtigster Attraktion, - der einen ganzjährigen, wetterunabhängigen Betrieb gewährleistet. Das
Angebot richtet sich vor allem an Kurzurlauber. Die Bettenzahlen bewegen sich in der Regel
zwischen 2.000 bis 4.000 Stück.
In Deutschland handelt es sich bei den Betreibern meist um extra für dieses Projekt gegründete
Gesellschaften mit geringem Eigenkapital, die lediglich die Standortsicherung und
Konzeptentwicklung betreiben und hernach versuchen, für das durchgeplante Projekt Investoren zu
finden.
Bei den Ferienprojekten dieser Art ist desweiteren feststellbar, daß es eine Tendenz zur Beteiligung
internationalen Kapitals gibt. So gehört das ursprünglich niederländische Unternehmen Center
Parks zu 99,5% dem britischen Brauereiunternehmen Scottish Newcastle Breweries. Bei den
anderen großen Betreibergesellschaften ist das im Prinzip nicht anders. Und damit wird gleich zu
Beginn eine Gefahr für die Standortgemeinde deutlich. Es ist bei dieser Sachlage in Bezug auf den
Landkreis nicht anders als das bei vielen dort existierenden Unternehmen bereits der Fall ist - sie
sind außengesteuert und der Einfluß auf die unternehmerischen Entscheidungen durch die
Kommunen ist als sehr gering zu bewerten. Außerdem fließen die Gewinne, wie bereits oben
gesagt, in eine andere Region und werden aller Voraussicht nach nicht wieder in der Region
reinvestiert.
9.8.2 Betriebskonzepte der Ferienparks
Es gibt zwischen den verschiedenen Betreiberfirmen von Ferienzentren wesentliche konzeptionelle
Unterschiede. Die "Gran- Dorado - Ferienzentren" und "Sun-Parks" unter-scheiden sich in Bezug
auf die Standortwahl, die Größe und Gestaltung der Anlagen und die Einbeziehung der Tagesgäste
von den Center-Parks.
Bezüglich der Standortwahl ist zu sagen, daß die erstgenannten im Gegensatz zu den Center-Parks
touristisch attraktive Gebiete suchen. Desweiteren haben sie nicht einen so hohen Flächenverbrauch
wie die Center Parks und haben kleinere Zentraleinrichtungen, die weniger kostenaufwendig sind.
Außerdem sind sie meist für den Autoverkehr geöffnet bzw. lassen den Autoverkehr bei An- und
Abreise zu. Zudem entfällt meistens der bei den Center Parks vorhandene Wassersportsee und die
Häuser entsprechen mehr den regional typischen Bauweisen. Die Häuser in den Center Parks sind
dagegen immer gleich und entsprechen seltenst den regional typischen Bauweisen. Center Parks
wollen den Besucher möglichst umfassend und vollständig auf dem Gelände halten, damit auch alle
Nebenausgaben in die eigene Kasse fließen.
In Center Parks wird der Tagesbesucherverkehr meist völlig ausgeschlossen bzw. wird der
Tagesbesuch mit Eintrittsgeldern belegt und dadurch eine Begrenzung erreicht. Bei Sun Parks ist
der Tagesbesuchsverkehr eine Einnahmequelle, die jedoch auch auf die Dauergastbelegung
- 287 -
abgestimmt werden muß, damit es in den Zentraleinrichtungen nicht zu Überbelegungen und somit
Streßerscheinungen bei den Gästen kommt.
Zusammenfassend unterscheidet Strasdas (1992) zwei Typen von Betriebskonzepten:
a) innenorientiertes Betriebskonzept (Center Parks)
b) außenorientiertes oder halboffenes Betriebskonzept (Gran Dorado und Sun Parks).
Das innenorientierte Betriebskonzept kennzeichnet sich durch:
- Tagesgäste werden begrenzt oder gar nicht zugelassen,
- hohe Freiraumattraktivität der Anlage (viel Grünanteil, keine Autos),
- aufwendig präsentiertes Konsumangebot,
- geringe Attraktivität der Umgebung,
- geringes, unattraktives Konsumangebot in der Standortgemeinde.
Innenorientierte Konzepte bedürfen einer Mindestauslastung von 85-90%(!). Die Hauptanteile im
Gesamtumsatz liegen bei der Vermietung (50%).
Das außenorientierte Konzept läßt sich folgendermaßen charakterisieren:
- offener für Tagesgäste,
- geringe Freiraumattraktivität,
- vielfältiges Konsumangebot, aber kleinere Zentralkomplexe,
- hohe touristische Attraktivität der Umgebung,
- Konsumangebote in der Standortgemeinde sind teilweise hochwertig und vielfältig.
Außenorientierte Konzepte bedürfen einer Mindestauslastung zwischen 65-75%, wobei auch hier
die Hauptanteile im Gesamtumsatz aus der Vermietung herrühren.
9.8.3 Freizeitangebote der Ferienparks
Das Freizeitangebot von Center Parks besteht aus drei wesentlichen Elementen:
- qualitativ hochwertigen Ferienwohnungen, überwiegend in Bungalowform, wobei es sich meist
um helle Flachdachbauten aus Fertigteilen handelt, die mit Wohnflächen zwischen 30-100m2
ausgestattet sind; die Wohnungen sind komfortabel eingerichtet und da die Besucher ca. drei- bis
viereinhalb Stunden pro Tag Fernsehen, gibt es ein eigenes Center-Park-Video-Programm, wobei
Werbezeiten teuer verkauft werden; neben den Bungalows gibt es in den neuen Center Parks auch
Appartements für zwei Personen in einem eigenen Center-Park-Hotel;
- einem breit gefächerten Freizeit- und Konsumangebot mit dem "Subtropischen
Schwimmparadies" als zentraler Attraktion, wobei großer Wert auf die Illusion einer
subtropischen Strandatmosphäre gelegt wird; zudem gibt es in den angeschlossenen
Saunabereichen viele Anwendungen, die den Thermal-Erlebnisbädern entlehnt sind; in den
angeschlossenen Sportanlagen werden vielfältigste Aktionsmöglichkeiten angeboten; es gibt
zudem Musikveranstaltungen und Shows, die aber nicht zum Kernprogramm gehören sondern
eher zusätzliche Angebote darstellen; die in den Restaurants angebotenen Speisen werden in
großen Zantraleinrichtungen hergestellt und dann an die "Satelliten" verteilt;
- 288 -
- "Natur" und damit "Landschaft" als wichtiges Gestaltungselement der Anlagen; damit wird Bezug
genommen auf eines der wichtigsten Reisemotive der Urlauber; das Management der Center Parks
sucht am liebsten Ländereien, wo sie in die sogenannte "unberührte Natur" hineinbauen können,
was aber insofern zu relativieren ist, als gerne Landstücke mit Kiefernforsten (denn diese sind
auch im Winter grün) oder ehemalige, bereits rekultivierte Bodenabbaugebiete ausgewählt
werden; es ist nicht von der Hand zu weisen, daß bei der Einrichtung der Center Parks viel
unternommen wird, um das Gelände vom optischen Eindruck her durch Neupflanzungen und
Neuanlagen von Kleingewässern aufzuwerten; die Parkplätze sind am Eingang konzentriert und
das Befahren der Anlage wird untersagt, so daß das Gelände für Spazierengehen und
Fahrradfahren freigehalten wird. Center Parks gehen von der Konzeption her so vor, daß sie
Gebiete suchen, die ansonsten touristisch weniger attraktiv sind. Wichtig ist vor allem, daß sie
außerhalb der Ballungsgebiete liegen müssen, so daß der Kunde merkt, daß er "draußen" ist.
Außerdem ist es so leichter, den Urlauber vor Ort zu halten und die Einnahmen nicht mit anderen
teilen zu müssen.
9.8.4 Zielgruppen
Zielgruppen der Center Parks sind:
- Familien mit Kindern,
- Senioren,
- Gruppen junger Erwachsener ohne Kinder,
- Kongresse und Betriebsfeste.
Nach einschlägigen Untersuchungen (zit. i. Strasdas, 1992) sind ca. 70% der Besucher Familien mit
Kindern, 10% Senioren über 63 Jahre und ca. 20% junge Erwachsene ohne Kinder. Bezüglich der
Zielgruppe Kongresse, Betriebsfeste u. ä. wird in den letzten Jahren eine ständige Umsatzsteigerung
verzeichnet.
Es wird davon ausgegangen, daß die Besucher der Center Parks zu den mittleren bis höheren
Einkommensklassen der städtischen Ballungsgebiete gehören, wobei im übrigen Anfahrtszeiten
zwischen 2 bis 3 Stunden in Kauf genommen werden.
9.8.5 Standorttypen und -präferenzen
Neben der Art des Konzeptes gibt es nach Strasdas (1992) bestimmte Standortfaktoren, die für die
Ferienprojekte dieser Art von Bedeutung sind:
- Erreichbarkeit,
- naturräumliche Lage (Makrostandort)
- naturräumliche Beschaffenheit (Mikrostandort),
- regionale Wirtschaftsstruktur,
- Verfügbarkeit von Flächen,
- politische Verhältnisse.
Die Anlagen müssen in einem Entfernungsradius von höchstenfalls 2-3 Stunden liegen und zudem
pro Zentrum in diesem Einzugsbereich ca. 3-4 Millionen Menschen aufweisen. Es gibt bei den
verschiedenen Konzeptversionen unterschiedliche Bevorzugungen im Bereich der naturräumlichen
Lage zu verzeichnen. Bei Center Parks z. B. solle eine Mischung von Wald zu Freifläche von 70:30
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vorliegen, wobei die Forstbestände von geringem wirtschaftlichem Wert und das Grundstück
möglichst eben sein sollten.
Es werden eindeutig schwächer bis durchschnittlich strukturierte Standorte bevorzugt, aber sie
sollten im Einzugsbereich von Ballungsgebieten mit hoher Kaufkraft liegen. Flächen sollten
natürlich in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen und sich möglichst in Besitz der
Gemeinden befinden. Eine vorherige Ausweisung als Feriengebiet in den Flächennutzungs-plänen
erscheint von Vorteil.
Wie auch in der produzierenden Wirtschaft spielt das politische Umfeld eine wesentliche Rolle. Bei
zu starken negativen Äußerungen wird sich seitens der Investoren gerne auf einen anderen Standort
verlagert.
Der typische Standort sieht nach Stradas (1992) folgendermaßen aus:
- periphere bis isolierte Lage im Verhältnis zu Ortschaften,
- ökologisch "teilweise wertvoll" bis "wertvoll",
- ländliche bis kleinstädtische Siedlungsstruktur, teilweise landwirtschaftlich geprägt, aber stärker
dienstleistungsorientiert,
- wirtschaftlich "strukturschwach" bis "durchschnittlich" (mittlere Wirtschaftskraft),
- mäßig bis stark entwickelte traditionelle Fremdenverkehrsstruktur.
9.8.6 Ökologische Auswirkungen von Ferienzentren
Sie lassen sich nach Strasdas (1992) in systemimanente und standortabhängige Auswirkungen
unterteilen.
Zu den systemimanenten gehören:
- Flächenverbrauch und -versiegelung,
- Ressourcenverbrauch,
- Abwasser- und Abfallaufkommen.
Zu den standortabhängigen gehören:
- Beeinträchtigung/Zerstörung von Vegetation und Fauna,
- Störung des Landschaftsbildes,
- Verkehrsbelastungen.
Im Durchschnitt liegt die Flächenversiegelung bei den von Strasdas (1992) untersuchten Anlagen
bei 10 ha, ohne Flächen für die externe Infrastruktur und die Seen und Teiche. Neue Anlagen
benötigen zudem immer zusätzliche F