Harry Potter und Lord of the Rings eint ihre Prominenz als

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Harry Potter und Lord of the Rings eint ihre Prominenz als
1
„Alles war gut?“ – Von wegen!
Harry Potter und die Ambivalenz des Bösen
von Birte Platow
1.
Religionspädagogik und Populärkultur
Warum sollte sich die (Praktische) Theologie mit Texten der Trivialliteratur auseinandersetzen, wo ihr doch an Inhalt und Form, vor allem aber an Bedeutung reichere Texte zur Genüge
im eigenen Bereich zur Verfügung stehen? Ein Argument könnte lauten:
„Unser theologischer Diskurs ist viel zu einseitig auf die elitären Konstrukte hochintelligenter
Problembeschreibungen eingeschworen (…). Aber die Wirklichkeitsbilder des Herrn Jedermann, der sich nicht intellektuell im Leben orientiert, der faktisch vortheoretisch existiert und
mit relativ überschaubaren Stereotypen Lebensorientierung hat, bedürfen ebenfalls unserer
Aufmerksamkeit.“ (Beintker 1991, 247)
Die besagten Wirklichkeitsbilder des Herrn Jedermann sind in der Populärkultur zu finden,
die als „die Kultur „der Leute“, wie sie sich in Filmen, Fernsehen, Videoclips, Werbung, aber
auch bestimmter Literatur ausdrückt“, zu definieren ist. (Ritter 2003, 165) Weiteres Kennzeichen der Populärkultur ist, dass
„menschliche Subjekte zunehmend selbst als Nutzer, Verbraucher und Teilnehmer bzw. Teilhaber von und an Kultur [bestimmen und entscheiden], was sie kulturell für belangvoll halten und
goutieren, [sie] sind also nicht mehr bereit, sich heteronomen Urteilen anderer bezüglich guter
und schlechter Kultur zu unterwerfen. Popularkultur (…) unterliegt den Gesetzen des Marktes –
Angebot und Nachfrage.“ (Ritter 2003, 165)
Einverstanden, die Populärkultur, und als Teil derselben die Trivialliteratur, bietet uns also
Einsichten in die Vorlieben der breiten Massen und Aufschluss darüber, was diese interessiert, bewegt und in welcher Form relevante Themen vorzugsweise wahrgenommen und vermittelt werden. Im Kontext von (religiösen) Bildungsprozessen ist es ja durchaus sinnvoll,
sich über die Bedingungen der Vermittlung, zu denen eben auch bevorzugte Inhalte und Darbietungsformen der Adressaten zählen, zu informieren, um die Inhalte in geeigneter Form zu
präsentieren, so dass die Adressaten Anknüpfungspunkte finden. In der Religionsdidaktik
bezeichnet man diesen Vermittlungsprozess zwischen Inhalt und Adressat als Elementarisierung (vgl. Lämmermann 2001) bzw. in der allgemeinen Pädagogik als die Identifikation von
Schlüsselproblemen (vgl. Klafki 1997)
Neben der oben skizzierten didaktisch-pragmatischen Dimension von Trivialliteratur existieren jedoch noch weitere Möglichkeiten, aktuelle Bestseller der Trivialliteratur oder Werke der
populärkulturellen Medien ganz allgemein für die Religionspädagogik fruchtbar zu machen.
In den verschiedenartigen medialen Angeboten der Populärkultur finden sich nämlich funktionale Äquivalente von Religion sowie Fragmente der christlichen Religion, die an ihrem neuen Ort in verfremdeter Form erscheinen. Berufene Helden und Befreier der Menschheit mit
symbolträchtigen Namen1, Opfer aus Liebe, verschiedene Formen der Selbsttranszendierung2

Erstdruck in: Astrid Dinter/Kerstin Söderblom (Hrsg.): Vom Logos zum Mythos. „Herr der Ringe“ und „Harry
Potter“ als zentrale Grunderzählungen des 21. Jahrhunderts. Praktisch-theologische und religionspädagogische
Analysen (Berlin: LIT-Verlag 29010), S. 149-183.
1
Vgl. beispielsweise den per Prophezeiung angekündigten „Neo“ in der Filmtrilogie „Matrix“, begleitet und
unterstützt von „Orpheus“ und „Trinity“.
2
Selbsttranszendierung erfolgt in populärkulturellen Motiven meist durch die liebende Beziehung zu einer anderen Person, mit Hilfe derer es gelingt, die eigene Ansprüche und Selbstbezogenheit zu überkommen und dem
Leben einen höheren Sinn zu verleihen. Vgl. hierzu etwa das Motiv im Film: „Und täglich grüßt das Murmel-
2
und die auch in den Filmen und Büchern der Populärkultur omnipräsente Frage nach dem
Sinn des Lebens machen es
„evident, dass seit etlichen Jahrzehnten in der populären Kultur Versprachlichung und Darstellung lebensbedeutsamer und religiöser Themen stattfinden, welche den Rezipienten als Sinnstiftungselemene für die je individuell zu vollziehende Lebensdeutung angeboten werden.“ (Ritter
2003, 167)
Was diesen Exodus von Funktionen und Inhalten der christlichen Religion aus der Religion in
die Populärkultur verursacht, erfasst meines Erachtens Werner Ritter recht treffend (wenn
auch nicht umfassend), wenn er sagt:
„Meine These ist, dass in dem Maß, in dem Kirche(n) und Theologie seit den 50er, 60er Jahren
Religion und Religiosität der Leute nicht mehr oder zu wenig im Blick hatten, deren Wahrnehmung und Darstellung in die Popularkultur auswandern.“ (Ritter 2003, 166)
An dieser Stelle ist allerdings vor einer zweifachen vorschnellen (Ab-)Wertung zu warnen:
nämlich dass quasi monokausal die Kirchen und die Theologie sich Versäumnisse haben zu
Schulden kommen lassen, die überhaupt erst zu dieser Entfremdung geführt haben. Und zweitens, dass infolge einer Schuldzuschreibung die Verlagerung von Religion und Religiosität in
neue Bereiche der Gesellschaft – hier die Populärkultur – überhaupt negativ zu sehen wäre,
und ggf. umzukehren sei. Mal ganz abgesehen davon, dass dies ohnehin unmöglich wäre,
stellt sich die Frage, ob –rein theoretisch - eine Rückkehr der Religion und ihre alleinige Verortung an genuin religiösen Orten wirklich wünschenswert ist, denn immerhin ist „Popularkultur so gesehen (…) auch sinn- und religionsproduzierend, sinn- und religionskonservierend
zu nennen.“ (Ritter 2003, 169). Meinem Ermessen nach war die Abwanderung der christlichen Religion und Religiosität in neue Bereiche nicht nur die Folge davon, dass die institutionalisierten Formen von Religiosität nicht ausreichend am „Puls der Zeit waren“, sondern
vielmehr ein natürlicher Emanzipationsakt des postmodernen Menschen, wie er auch für andere Bereiche zu beobachten ist.
Zum einen sind die kirchlichen Ausprägungen von Religiosität tatsächlich für breite Adressatengruppen in Inhalt und Form nicht ansprechend, alltagsrelevant, vielleicht nicht einmal
mehr verständlich. Zum anderen ist es jedoch ein ausgeprägtes Merkmal des postmodernen
Menschen, ein maximales Maß an Autonomie, Individualität sowie Selbständigkeit zu leben.
Insofern erscheint die durch Angebot und Nachfrage regulierte Populärkultur auch für religiöse Bedürfnisse der passendere Markt zu sein als die konventionalisierten und institutionaliserten Formen von Religion, die sich ihr oft abwertend entgegenstellen. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass Religion, wie sie in der Populärkultur dargestellt, vermittelt und gelebt wird,
nicht einfach nur attraktiver ist und „mehr Spaß“ macht, sondern dass die Menschen im 21.
Jahrhundert populärkulturelle Vermittlungsmedien wählen, weil sie offensichtlich verständlicher, intensiver, nachhaltiger und damit für den postmodernen Lebensstil einfach passender
sind. Offen bleibt indes, ob die Aufteilung von Religion in institutionalisierte Formen3 und
die in Darstellung und eventuell sogar Inhalt unterschiedenen populärkulturellen Formen von
Religion einander entgegenstehen, sich gegenseitig ergänzen oder vielleicht doch im Grunde
sehr ähnlich sind. Dieser Frage nachzugehen, gehört zu den aktuellen Herausforderungen der
(Praktischen) Theologie. Exemplarisch wird dies hier am Beispiel des Bestsellers „Harry Pottier“. Hier gelingt es dem Protagonisten, aus der quälenden Wiederholungsschleife, in der er ein- und denselben
Tag immer wieder durchlaufen muss, erst dann auszusteigen, als er nicht mehr primär an sich denkt, sondern
zum Wohl geliebter Personen und selbstlos handelt.
3
Hierzu zähle ich kirchliche Religiosität, aber auch die im Religionsunterricht vermittelte, explizit an christlichen Lehren, Kirchengeschichte, christlicher Ethik und der Bibel orientierte Religiosität in Abgrenzung zu einer
Religiosität, die zentrale christliche Themen, wie Nächstenliebe, Tod und Auferstehung uva. mittels anderer,
neuer Inhalte transportiert.
3
ter“ untersucht werden. Zugleich soll ein zureichendes Paradigma zum sachgemäßen Umgang
mit Trivialliteratur in der Religionsdidaktik erprobt werden.
In diesem Sinne schlage ich als dritten Weg für den Umgang der Religionspädagogik mit der
Populärkultur vor, nicht nur auf der Suche nach (oft verzweifelt wirkender) Selbstbestätigung
christliche Elemente in populärkulturellen Medien zu sezieren und sofort zu ihrem Ursprung
zurückzuführen, sondern intensiver zu prüfen, wie sich diese Fragmente christlicher Religion
an ihrem neuen Ort darstellen, und wie sie dort vermittelt werden und wirken. Vielleicht wird
man dann feststellen, dass eine Rückführung zum Ursprung gar nicht notwendig ist, weil
christliche Religion auch über ganz andere Inhalte transportiert wird. Oder aber wir lernen an
neuen Orten etwas über Darstellungs- und Vermittlungsstrategien, die helfen, die offensichtliche Marketingkrise der christlichen Religion in ihren ursprünglichen Formen und Inhalten zu
beheben. Natürlich kann eine solche Analyse auch offenlegen, dass mit der Abwanderung von
Religion in die Populärkultur diese Schaden genommen hat, indem ihre Inhalte verfälscht und
instrumentalisiert wurden. In diesem Fall wäre die Beziehung wohl als komplementär zu bestimmen, die Begegnung würde entsprechend auf Demaskierung und Korrektur abzielen. Bevor wir uns unserem exemplarischen Fall „Harry Potter“ zuwenden, gilt es, die Bedingungen
der Vermittlung in den Blick zu nehmen. In diesem Fall muss genauer bestimmt werden, wie
Lesen funktioniert, also wie die Inhalte vom Rezipienten wahrgenommen, aufgenommen und
verarbeitet werden.
2. Lesen als Interaktionsgeschehen
„Nimm und lies“ - dieser göttliche Rat an Augustinus suggeriert, dass Lesen die einfachste
Sache der Welt sei, und dass wer liest, auch versteht. Lesen gehört derart selbstverständlich zu
den Grundfesten unserer Kultur und unseres Alltags, dass es überflüssig scheint, den Prozess
des Lesens überhaupt einer eigenen Analyse zu unterziehen. Allzu klar ist doch, wie Lesen
funktioniert, warum wir lesen und „was Lesen bringt“. Oft gehörte Antworten in diesem Kontext sind etwa: Lesen bildet, denn es vermittelt Information und Wissen, es macht Neues und
Unbekanntes erfahrbar, Lesen weitet bzw. prägt sogar den Blick der Leserschaft, oder aber es
entspannt einfach nur und macht Spaß. Scheinbar bedarf es da keiner weiteren Diskussion.
Und so muss es eigentlich nicht verwundern, dass sich diverse wissenschaftliche Disziplinen,
darunter auch die Religionspädagogik, viel gelesenen Büchern und Bestsellern widmen, deren
Inhalte und Protagonisten analysieren und Schlüsse für den eigenen Bereich formulieren, ohne vorab die Voraussetzungen ihrer Hypothesen von Neuem zu klären. Ein Blick auf besagte
Publikationen zeigt, dass hier zwei Sichtweisen vorherrschen, welche Bedeutung populären
Büchern und dem Leseprozess als solchem beizumessen sei:
Zum einen wird davon ausgegangen, dass Bücher ihre Leserschaft prägen, etwa indem sie
Interesse für bestimmte Themen überhaupt erst wecken und für diesen Bereich sensibilisieren.
Dabei kann die Zielgruppe durchaus in spezifischer Weise manipuliert werden – so die Hypothese –, denn ein Text gibt Informationen selektiv und wertend, zumindest aber in einer bestimmten Art der Darstellung und damit tendenziös an die Leser weiter. In diesem Fall wird
das Forschungsinteresse folglich von der Frage geleitet, welche Inhalte ein Buch vermittelt,
und in welcher Weise es die Leser prägt. Dieser Sicht von Literatur und des Leseprozesses
liegt die Annahme einer quasi linearen Wirkungsbeziehung zwischen Werk und Rezipienten
zugrunde, bei der die Aussagen eines Buches den Leser einseitig beeinflussen. Die Rolle des
Lesers ist hier rein passiv interpretiert und wenig differenziert. In der Folge gilt die Leserschaft hier oft als potentielles „Opfer“ manipulierender Texte, vor denen sie in extremen Fällen geschützt werden muss. So klagt etwa die Soziologin Gabriele Kuby die hier noch zu analysierenden Harry Potter Bücher als „globales Langzeitprojekt zur Veränderung der Kultur“
an, das die „Hemmschwelle gegenüber Magie in der jüngeren Generation zerstört“ (Kuby
4
2003, 156) an. In Frau Kubys Lamento stimmen zahlreiche Theologen und Pädagogen, vorrangig aus dem amerikanisch-evangelikalen Bereich, mit ein4. Mancherorts wurde mit eben
solchen Begründungen Harry Potter aus nicht wenigen Schulbibliotheken und vielen Kinderzimmern verbannt. Es wird noch zu klären sein, ob die erhobenen Vorwürfe gegen Harry Potter zutreffend sind, und noch grundlegender, ob der Leseprozess überhaupt in der hier beschriebenen Weise zu verstehen ist.
Die Illusion einer linearen, monokausalen Wirkung des Buches auf den Leser verkehrt die
zweite in diversen religionspädagogischen Beiträgen anzutreffende Interpretation von Literatur und Lesen ins Gegenteil. Hier wird den Gesetzen von Angebot und Nachfrage entsprechend literarischen Bestsellern ein gesteigerter Indikatorenstatus zugesprochen. Nach dem
Motto: Was viele lesen, dokumentiert und veranschaulicht aktuelle Trends, Bedürfnisse und
Sehnsüchte (im Idealfall sogar die viel beschriebene „Privatreligiosität“) (vgl. Steck 2000) in
Form und Inhalt, werden Medien der Populärkultur seziert, um daraus eine Diagnose über die
(religiöse) Bedürfnislage der Nation zu formulieren. Besonders beliebt sind Filme und Bücher, die in mehr oder weniger verfremdeter Form christliche Symbole und Dogmen, spirituelle Momente und funktionale Äquivalente von Religiosität aufweisen, stärken sie doch das
sonst arg gebeutelte christliche Selbstbewusstsein. Und so wird auch Harry Potter für Religionspädagogen zu einer populär-kulturellen Fundgrube für christlich-religiöse Symbole, Rituale und Lehren sowie zum Beleg bleibender religiöser Bedürfnisse, nur eben im postmodernen
Gewand. Diese maskierte, latente Religiosität ließe sich trefflich anhand des Bestsellers analysieren – so die Vermutung5.
Wie gesagt, dreht sich hier das Verhältnis von Medium und Rezipienten gegenüber dem oben
skizzierten Modell um: Nicht das Buch prägt die Sicht seiner Leserschaft, sondern vielmehr
bringt es zum Ausdruck, was diese ohnehin schon bewegt. Je populärer ein Buch ist, desto
stärker vertritt es die Bedürfnisse und Perspektive der breiten Massen, und umso interessanter
ist es auch für die (religionspädagogische) Forschung. Sicherlich wäre es falsch, dieser Hypothese eine rein statische, lineare Wirkrichtung zu unterstellen, denn das Verhältnis zwischen
Medium und Rezipienten ist hier deutlich komplexer und differenzierter verstanden als dies
beim zuerst skizzierten Modell der Fall ist. Dennoch bleibt die Tendenz, einer Seite ein übergroßes Gewicht zuzusprechen, um dann vorschnell Aussagekräftiges für den eigenen Bereich
zu extrahieren, wodurch der Prozess der Interaktion zwischen Text und Rezipient grob vereinfacht und für die eigenen Zwecke instrumentalisiert wird. Aber wie sieht sie denn nun aus, die
besagte Interaktion? Was ereignet sich zwischen Text und Adressat desselben während des
Lesens?
4
Bei den vorrangig angeführten Argumenten gegen Rowlings Heptalogie trifft man im amerikanischen Raum
vor allem auf den Vorwurf, Harry Potter verherrliche schwarz-magische Handlungen sowie das Böse an sich.
Vgl. hierzu: Taub, Deborah J./Servaty-Seib (2003): Critical Perspectives on Harry Potter oder Turner-Vorbeck,
Tammy (2003): Pottermania: Good, clean fun or cultural hegemony?. Allzu deutlich ist bei weiteren Publikationen aus dem nordamerikanischen Raum eine evangelikale Prägung, die an Fundamentalismus grenzt, und der
daher hier nicht mehr Raum gegeben werden soll als nötig. Neben dem Vorwurf der Verherrlichung magischer
Elemente hört man unter den kritischen Stimmen auch die Befürchtung, die episch anmutenden Erzählungen um
den Held Harry Potter (der durchaus messianische Züge hat) konkurriere mit der christlichen Großerzählung und
könne diese verdrängen. Diese Sicht trifft man übrigens durchaus auch im europäischen Raum an. So setzt sich
bspw. Thomas Meurer differenziert mit dieser Fraga auseinander. (Meurer, Thomas (2002): Das PotterPhänomen. Konkurrenz für Tora und Evangelium? Religionspädagogische Bemerkungen zu Befürchtungen,
Hoffnungen rund um das Phänomen Harry Potter.) Mahnend zitiert Corinna Dahlgrün „Einseitigkeiten und Vereinfachungen der christlichen Ethik“ sowie ein „unbiblisches Menschen- und Gottesbild“, das Harry Potter der
Jugend vermittle. (Dahlgrün 2001, 87)
5
Vgl. hierzu: Morgenroth, Matthias. (2001): Der Harry Potter Zauber. Ein Bestseller als Spiegel der gegenwärtigen Privatreligiosität; Peter, Teresa/Drexler, Christoph/Wandinger, Nikolaus (2002): The story of a scar: Harry
Potter als Sinnbild verwundeter Geschöpflichkeit; Ritter, Werner (2003):Wenn Schwarzenegger betet und Harry
Potter gegen den Bösen kämpft; u.v.a.
5
Eine Interaktion setzt bekanntlich stets das Gegenüber zweier Größen voraus, die in einen wie
auch immer gearteten Austausch miteinander treten, wobei jede Seite mit den ihr spezifischen
Mitteln und unter speziellen Bedingungen agiert. Der Text teilt sich seiner Leserschaft über
visuelle Impulse, nämlich Schriftzeichen mit, die über einzelne Buchstaben in Lautfolgen,
Wörter, Sätze, Abschnitte und schließlich in sinnhaltige Aussagen vom Rezipienten umgeformt werden. Der Prozess des Lesens ist also wie Spurenlesen zu verstehen: Feststehende
Zeichen enthalten eine spezifische, festgelegte Information, die jedoch ohne das Wahrnehmen, Wissen und Deutevermögen des Betrachtenden nicht entschlüsselt werden kann und je
nach individueller (und kultureller) Disposition auch variiert. Die lateinische Wurzel von lesen „legere“, was so viel wie „sammeln, auswählen, lesen“ bedeutet, legt in ihrer gesamten
Bedeutung eben dies nahe. Noch deutlicher wird die Möglichkeit einer unterschiedlichen individuellen Interpretation gemeingültiger schriftlicher Impulse in der etymologischen Verwandtschaft des englischen „read“ (lesen) und dem deutschen „raten“. Der von manchen Forschern vertretenen linearen, monokausalen Wirkung eines Textes auf sein Publikum ist daher
nachdrücklich die aktive Rolle des Lesenden entgegenzuhalten. Der Illusion eines monolinearen Verstehens entgegnete bekanntlich auch schon Lichtenberg karikierend: Ein Buch ist ein
Spiegel: Wenn ein Affe hineinguckt, so kann freilich kein Apostel rausschauen.
Aktiv ist die Rolle des Lesers allerdings nicht nur allein deshalb, weil es ihm obliegt, die verschriftlichten Zeichen in konventionell festgelegter Form wahrzunehmen und sinnstiftend zu
deuten. Darüber hinaus bringt er nämlich in die Interpretation der Zeichen den eigenen Erfahrungshintergrund und die individuelle Biographie mit ein. Sie bilden sozusagen den Rahmen
der Textinterpretation6. Neben der bloßen physischen Wahrnehmung und kognitiven Deutung
der Zeichen rekonstruiert der Leser den Text mittels seiner vorab entstandenen Erwartungen
(provoziert etwa durch den Titel des Buches, Genrewissen etc.) und individuellen Anfragen
an den Text. Dies geschieht beispielsweise über die Identifikation mit den literarischen Figuren - interessant ist dabei insbesondere für den hier noch zu thematisierenden Harry Potter
bzw. seinen Antagonisten Lord Voldemort, dass derartige Identifikationen unbewusst mit
allen Figuren geschehen und nicht nur mit den Handlungstragenden oder den „Guten“. Der
gesamte Text wird so zur Projektionsfläche für den Leser, der via Identifikationen und Übertragungen mit dem literarischen Werk interagiert. Natürlich gerät dabei auch beim Rezipienten etwas in Bewegung, insofern als er angeregt wird, sich mit der angebotenen Information
auseinanderzusetzen – allerdings eben gerade nicht, indem er sie unverändert aufnimmt, sondern indem er infolge der Textimpulse eine innere Entwicklung durchläuft und dabei individuell gedeutet und selektiv ggf. Neues im Sinne einer Weiterentwicklung integriert. Dies kann
beispielsweise „in psychisch offenen und ungewissen Augenblicken, in denen Menschen keine inneren Bilder, Erfahrungen oder Handlungsmuster zur Verfügung stehen“ von Belang
sein; in solchen Fällen suchen und erfinden Menschen, insbesondere Jugendliche „Helden,
wie Zeugnisse der Weltliteratur, beispielsweise die Odyssee oder andere Epen.“ (Nitzschmann 2000, 62) belegen.
Als Quintessenz für eine sachgemäße religionsdidaktische Dekonstruktion von Trivialliteratur
bleibt festzuhalten, dass der Text keinesfalls linear und manipulierend auf den Rezipienten
wirkt, da dieser eine aktive Rolle im Leseprozess einnimmt, indem er den Text individuell
deutet. Ebenso wenig fällt allerdings der Text einer beliebigen Interpretation anheim. Konventionell festgelegte Zeichen und Handlungsmuster der Story aktivieren generalisierte Erwartungen und Interpretationsweisen, die zu einer konstruktiven Interaktion zwischen Text und
6
Innerhalb der Bibeldidaktik existieren bereits Ansätze, insbesondere die erfahrungsorientierten, die dies berücksichtigen und entsprechend konzipiert sind. Darunter fallen die Korrelative Bibeldidaktik, Dialogische Bibeldidaktik, Konstruktivistische Bibeldidaktik sowie erlebnisorientierte methodische Ansätze der Bibelarbeit,
wie das Bibliodrama oder der Bibliolog.
6
Leser führen. Das Interaktionsgeschehen hält dabei für den Leser ein Entwicklungspotential
bereit, das meines Erachtens im Zentrum der Analyse stehen sollte, statt den Text auf den
oben genannten Indikatorenstatus zu reduzieren. Eine sachgemäße Analyse kann also nicht
vorrangig der Identifizierung und Entschlüsselung expliziter oder impliziter Symboliken eines
Textes liegen. Es muss vielmehr um die Entschlüsselung der Wechselwirkung zwischen Geschriebenem und Lesendem gehen.
3. Harry Potter – eine res mixta mit großem Potential
„Der moderne Buchhandel kennt zwei Zeitrechnungen: ‚vor Potter„ und ‚nach Potter„. Denn
es gibt wahrscheinlich keinen Verkaufsrekord, den die Harry- Potter- Romane nicht gebrochen haben.“ (Martenstein 2004, 150). Mit dieser These könnte Harald Martenstein durchaus
Recht haben. Die sieben Bände über den jungen Zauberer Harry Potter und seine Freunde der
Autorin Joanne K. Rowling haben sich bislang über 100 Millionen Mal verkauft. Vom fünften
Band, „Der Orden des Phönix“, wurden binnen der ersten 24 Stunden 12 Millionen Exemplare verkauft. Der unglaubliche Ansturm und Hype um jeden neu erschienenen Band führte
dazu, dass der Verkaufsstart von Harry Potter Büchern immer auf einen Freitag gelegt wurde,
damit Lesenächte für Tausende Kinder und Jugendliche ermöglicht werden konnten. Aber
nicht nur diese Zielgruppe ist dem jungen Zauberer verfallen, auch Erwachsene schließen sich
zu „Communities“ zusammen, pilgern verkleidet oder auch nur mit enormer Sach- und Detailkenntnis ausgestattet zu Treffen der „Jünger“ des Zauberlehrlings, wo gemeinsam gelesen,
diskutiert und auf mannigfaltige Art und Weise in die zauberhafte Welt des Harry Potter eingetaucht wird.
Die Story, die über sieben Bände7 ein Millionen Publikum begeistert, ist eigentlich schnell
erzählt: Harry Potter ist der verwaiste Sohn eines Zauberers und einer „normalen“, menschlichen Frau. Als er noch ein Baby ist, wird er von dem abgrundtief bösen, grausamen, tyrannischen und sehr mächtigen Zauberer Lord Voldemort attackiert, weil dieser infolge einer entsprechenden Prophezeiung fürchtet, dass Harry seine Gewaltherrschaft über das zu unserer
Welt parallele Zauberuniversum beenden könnte. Genau dies trifft dann auch ein: Harrys
Mutter opfert sich, um ihren Sohn zu schützen. Der von Voldemort ausgesprochene Todesfluch wendet sich gegen ihn selbst, da der mütterliche Opfertod aus Liebe als uralter Zauber
stärker wirkt. Statt jedoch zu sterben, existiert der grausame Zauberer körperlos und als verstümmeltes, aber ungebrochen grausames und gefährliches Wesen weiter. Voldemort bleibt
eine ständige Bedrohung für den Frieden und alles Gute, nur Harry als Ursache seines Untergangs steht einer Rückkehr entgegen. Der Junge wächst währenddessen als Waise ungeliebt
und misshandelt und ohne zu wissen, wer er wirklich ist, bei seinen menschlichen Verwandten auf. Als 11-jähriger Junge erfährt Harry schließlich von seiner wahren Identität. Fortan
geht er auf die Zauberschule „Hogwarts“, wo er unter der Aufsicht eines väterlich zugewandten Schuldirektors (Professor Albus Dumbledore) und mit Hilfe seiner Freunde (Hermine
Granger und Ron Weasley) zu einem brillanten Zauberer und ebenbürtigen Gegner des ständig lauernden Lord Voldemort wird. Über sieben Bände begegnen sich die durch ihre erste,
schicksalsträchtige Begegnung verbundenen Vertreter des Guten und des Bösen. Nach etlichen Verwicklungen auf zahlreichen Haupt- und Nebenschauplätzen und einer guten Portion
Witz und Dramatik besiegt Harry Potter schließlich den „dunklen Lord“ und lebt fortan ein
friedliches und zufriedenes Leben.
Lässt sich die Handlung der sieben Harry Potter Bände – zumindest in groben Zügen – leicht
zusammenfassen, fällt eine eindeutige Zuordnung zu einem bestimmten Literaturgenre hinge7
Band 1-7: Harry Potter und der Stein der Weisen (1), Harry Potter und die Kammer des Schreckens (2), Harry
Potter und der Gefangene von Askaban (3), Harry Potter und der Feuerkelch (4), Harry Potter und der Orden des
Phönix (5), Harry Potter und der Halbblutprinz (6), Harry Potter und die Heiligtümer des Todes (7).
7
gen schwer. Vor allem Religionspädagogen neigen dazu, die Heptalogie ebenso wie die oft im
selben Atemzug angeführte Trilogie „Der Herr der Ringe“ als Mythos zu verstehen8, weil damit der Transfer zur christlichen Großerzählung leicht fällt und Analogien dazu scheinbar
offensichtlich werden, denn „die Verwendung alter mythischer Erzählmuster schlägt zweifellos eine Brücke zur Religion“ (Mattenklott 2003, 46). Begründet wird die Klassifizierung von
Harry Potter als Mythos unter anderem mit den unbestreitbar zahlreich vertretenen Wesen und
Motiven aus der klassischen Mythologie9 oder der mythologisch glorifizierten Heldenfigur
Harry Potter. Fast ebenso beliebt ist die Zuordnung der Bücher zum Genre des Fantasyromans10. Mit Hilfe dieser Festlegung kann man ohne viel Aufhebens auf die bereits hinreichend identifizierten Funktionen von Märchen und märchenähnlichen Erzählungen zurückgreifen und diese dann auf die Religion als solche sowie ihre prominenten Themen und Funktionen beziehen. Der Vorteil liegt ebenso auf der Hand wie die Argumente für eine Klassifizierung der Harry Potter Romane als Fantasyerzählung – man betrachte nur nochmals die
oben skizzierte Handlung und die bereits genannten Zauberwesen11. Weder die eine noch die
andere Zuordnung ist allerdings meines Erachtens zufriedenstellend, weil sie nur am Rande
stehende Eigenschaften des siebenbändigen Werks erfasst, und mit Hansjörg Hemminger
möchte ich daher raten, „sich kundig zu machen, bevor es Ihnen auch passiert, dass Sie von
Mythologie sprechen, wenn in Wirklichkeit leicht idealisierte Heldenknaben Verbrecher jagen.“ (Hemminger 2002, 54)
Hemminger gibt in seiner Äußerung schon offensichtliche Hinweise dahingehend, dass man
Harry Potter auch vor dem Hintergrund der klassischen (ursprünglich) englischen Detektivgeschichte lesen kann. Die Detektivgeschichte, die sich zunächst in der Nische der damals populären Kurzgeschichte entwickelte, ist von Beginn an äußerst beliebt und ist bis heute (mit ihrem Abkömmling, dem Kriminalroman) fester Bestandteil der Trivialliteratur. Edgar Allen
Poe schrieb mit seinem „Murders in Rue Morgue“ die wohl erste Detektivgeschichte. Während bei ihm noch die Aufklärung des Falls das absolute und alleinige Zentrum der Handlung
bildet – und bis heute ein fundamentales Element der Detektiv-/und Kriminalgeschichte darstellt12 –, rücken seine literarischen Nachfolger A.C. Doyles, Agatha Christie und Henning
Mankell (um nur einige wenige stellvertretend für viele zu nennen) mit ihren einprägsamen
Protagonisten Sherlock Holmes, Miss Marple bzw. Hercule Poirot und Kurt Wallander zunehmend auch die Charaktere der Protagonisten in den Fokus. Damit werden nun neben Milieubeschreibungen und Einsichten in die Kriminaltechnik vor allem die Motive der Tat bedeutsam. Über die „guten“ Figuren werden gleichsam auch die psychologischen Aspekte der
„Bösen“ erfahrbar, und die Diskussion um Gut und Böse, richtig und falsch, Ethik und Moral
ist – wenn auch in stark elementarisierender Form – eröffnet. Dass diese Diskussion auch in
ihrer elementaren Form keinesfalls nur banal ist, zeigen Kriminalromane, die sehr ausgefeilte
Charakterstudien aufweisen, wie etwa Dürrenmatts oder Dostojewskis Werke belegen.13
Ende des 20. Jahrhunderts mit der wachsenden Bedeutung der Kinderliteratur treten erstmals
auch kindliche Detektive auf den Plan. Mit einer ausgeklügelten Mischung aus Abenteuerlust,
Freundschaft und analytischem Gespür lösen Kalle Blomquist, die Fünf Freunde oder TKKG
die Kriminalfälle in ihrer Nachbarschaft. In vielerlei Hinsicht passt Harry Potter perfekt in
Vgl. Mattenklott, Gundel (2003) Harry Potter – phantastische Kinderliteratur. Auf den Spuren eines globalen
Erfolgs. u.a.
9
Stellvertretend sei auf den Hippogreif, Basilisken, die Zentauren, Kobolde, Riesen, Wassermenschen uva. verwiesen
10
Vgl. Ritter, Werner (2003) a.a.O.; Meyer-Gosau, Frauke (2001): Harrymania. Gute Gründe für die Harry Potter Sucht; Morgenroth, Matthias. (2001); a.a.O.; Meurer, Thomas (2002); a.a.O. u.a.
11
Vgl. dazu Fußnote 9
12
Generell folgen Detektivgeschichte und Kriminalroman dem Schema Verbrechen – Verfolgung - Aufklärung
13
Vgl. „Das Versprechen“ oder „Der Richter und sein Henker“; auch Fjodor Dostojewskis „Schuld und Sühne“
(in anderer Übersetzung Verbrechen und Strafe) kann als Kriminalroman interpretiert werden.
8
8
diese Reihe: Er spürt immer wieder aufs Neue die Machenschaften und Pläne des Lord
Voldemort auf und besiegt diesen mit Hilfe seiner treuen Freunde und eigenen Fähigkeiten.
Zwei wesentliche Unterschiede zur Detektivgeschichte bestehen dennoch. Zum einen ist Harry stets selbst und direkt von den Anschlägen Voldemorts betroffen, die aufgrund der einzigartigen Ursprungsbegebenheit ihm allein gelten. Dies steht den originären Charakteristika der
Detektivgeschichte entgegen, denn in der Regel lösen die Helden dieses Genres stets die
Probleme Außenstehender. Zum anderen löst Harry ja gar keine Fälle, sondern verhindert das
Unheil, bevor es überhaupt geschieht. Durch die genannten Unterschiede bekommt Harrys
(und Voldemorts) Verhalten im Empfinden des Lesers eine andere Wertigkeit, und die Reflexion über Gut und Böse wird gleichsam intensiviert, da die Möglichkeit verschiedenartiger
Ausgänge und Konstellationen stets gegeben bleibt.
Wie gesehen, lässt sich Harry Potter also nicht hundertprozentig als klassische Detektivgeschichte klassifizieren, auch wenn die Romanfolge augenscheinliche Anteile an diesem Genre
aufweist. Die mangelnde Passung ist allerdings nicht nur mit den Differenzen zu idealtypischen Merkmalen des genannten Genres zu begründen, sondern erschließt sich auch daraus,
dass die Romane Kennzeichen anderer literarischer Gattungen aufweisen. So weist der Ort, an
dem sich der Großteil der Handlung zuträgt, das magische Internat „Hogwarts“, auf Parallelen
zur englischen School Story hin. Klassische Vertreter dieses Genres sind im deutschen Raum
Erich Kästners „Das fliegende Klassenzimmer“ und Oliver Hassenkamps Internatsserie „Burg
Schreckenstein“ bzw. in England Enid Blytons „Hanni und Nanni“. Im Mikrokosmos einer
geschlossenen Schulwelt werden in der School Story elementarisierend zentrale pubertätsspezifische Themen fokussiert. Dazu zählen beispielsweise Eifersucht, Zerwürfnisse, Intrigen
und Konkurrenz, also generell Aspekte gruppendynamischer Prozesse unter Jugendlichen.
Exemplarisch werden dabei verschiedene Rollen, Konstellationen, und für die Phase des Heranwachsens typische Ablösungs- und Anbindungsprozesse stellvertretend durchgespielt. Andere Werke des Genres integrieren zusätzlich gesellschafts- und systemkritische Aspekte.
Dies ist etwa bei Hermann Hesses „Unterm Rad“ oder Peter Weyrs „Der Club der toten Dichter“ der Fall. Doch selbst dann stehen weiterhin vorrangig das Leben und die Entwicklung
eines Individuums im Mikrokosmos seines Umfelds an einer (Internats-) Schule im Zentrum.
Augenscheinlich passt sich Harry Potter auch in dieses Genre durch zahlreiche Parallelen
ein14 – allerdings ebenfalls nicht ohne sich doch an entscheidender Stelle davon abzugrenzen.
In vielerlei Hinsicht steht Rowlings Werk idealtypischen Vertretern des Genres nämlich karikierend gegenüber, insofern als sie die genretypischen moralisierenden Momente viktorianischen Ursprungs entweder auslässt oder bewusst ad absurdum führt. Statt sich in das Genre
der School Story völlig einzufügen, nimmt die Autorin Anleihe bei einer weiteren klassischen
Literaturgattung, dem Bildungs- bzw. Entwicklungsroman und schafft so eine weitere spannungsvolle Diskrepanz zu anderen Genres, die den Leser fordert und bindet.
Der Bildungsroman nimmt seinen Ursprung in Deutschland zu Zeiten der Aufklärung. Mit
seiner literaturwissenschaftlichen Abhandlung über das Wesen des Romans im Gegensatz
zum Epos, in der er das im Roman steckende Entwicklungspotential für den Leser betont, legt
der Dorpater Philologe Karl Morgenstern die theoretische Grundlage des Genres. Praktische
Umsetzungen folgen zeitnah. Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ oder seine „Wilhelm
Meisters Lehrjahre“ beschreiben die Biographie eines jungen Mannes, der sich zu Beginn der
14
Wie gesagt, spielt die gesamte Handlung überwiegend im Zauber-Internat Hogwarts. Neben dem Kampf zwischen Gut und Böse spielen dabei auf immer vorhandenen Nebenschauplätzen die Themen Freundschaft (vor
allem mit Hermine und Ron), erste Liebe und Eifersucht (Harry verliebt sich in Cho Chang und vernachlässigt
seine Freunde, Ron und Hermine werden nach langem Hin und Her ein Paar) und rivalisierende Gruppen und
Personen (die vier „Häuser“ des Internats, die über sportliche und schulische Leistungen, aber auch inoffiziell
ständig im Wettkampf miteinander stehen; die Konkurrenzsituation unter idealtypischen Gegenspieler Figuren,
z.B. Harry, Hermine, Ron gegen Draco Malfoy, Crab und Goyle) eine Rolle. Auch Ablösungsprozesse von Vaterfiguren (von Albus Dumbledore, Harrys Pate Sirius Black) und Peer-Groups werden thematisiert.
9
Handlung jung, idealistisch und ein Stück weit naiv auf den Weg zum Erwachsenwerden befindet. Dabei durchläuft er stellvertretend für den Leser (der aber trotzdem intensiv Anteil am
Geschehen hat) verschiedene Bereiche und Themen der Welt bzw. des Lebens. Dabei erfährt
der eingangs idealistische Protagonist die Welt oft als widerständige Realität, an der er reift,
und mit der er sich schlussendlich aussöhnt. Im englischen Raum greift allen voran Charles
Dickens mit seinen Romanen „David Copperfield“, „Oliver Twist“ oder „Great Expectations“
das in Deutschland entstandene Genre auf. An ihm orientiert sich wiederum augenscheinlich
die Harry Potter Autorin Rowling. Ihr Protagonist ist wie seine historischen Vorgänger eine
Waise, die nach etlichen Widerfahrnissen, Hoffnungen und Rückschlägen an Erfahrung, Wissen und in der persönlichen Entwicklung gereift ihr altes Leben abschließt und in eine verheißungsvolle Zukunft blickt. „Alles war gut“ – so lautet der abschließende Satz des siebten und
letzten Harry Potter Bandes.
Der vergleichsweise banale Schlusssatz des letzten Harry Potter Bandes soll jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass der junge Detektiv, Schuljunge und Zauberer den Leser auf seinem Weg zu einem mit der Welt ausgesöhntem Erwachsenem keineswegs nur Unterhaltung
und Abenteuer bietet. Im Sinne der oben vorgestellten Interaktion zwischen Text und Rezipienten muss sich der Leser selbst zentralen Fragen des Lebens stellen. Die zentrale Frage in
allen sieben Bänden ist bei Harry Potter die nach Gut und Böse, sie ist es auch, die Harry –
und damit auch die Leserschaft – immer wieder persönlich in seiner Entwicklung fordert und
nicht nur durch äußere Ereignisse gefährdet. Denn wie gleich zu sehen sein wird, ist das Verhältnis von Gut und Böse bei Harry Potter keineswegs eindeutig und einfach, sondern vielschichtig und komplex und bietet damit zahlreiche Anknüpfungspunkte für die (Praktische)
Theologie, für die das genannte Kernthema der Romane ebenfalls von zentraler Bedeutung
ist.
4. Harry Potter und der Januskopf des Bösen
Wie bereits angedeutet stellt sich das Verhältnis von Gut und Böse keinesfalls so eindeutig
und einfach dar, wie die Konstellation der Figuren in Harry Potter auf den ersten Blick vermuten lassen würde. Die dualistische Konzeption von Gut und Böse, verkörpert in Harry Potter und seinem Gegenspieler Lord Voldemort, aber auch verschiedenen anderen auf den ersten
Blick dualistisch konzipierten Paaren15, ist nämlich nur ein scheinbarer Gegensatz. Tatsächlich existieren zahlreiche innere und äußere Verbindungen, Abhängigkeiten und Gemeinsamkeiten zwischen dem Protagonisten und Antagonisten, die eine multidimensionale, komplexe
Darstellung von Gut und Böse schaffen, die in vielerlei Hinsicht der erfahrbaren Realität und
der protestantischen Sündenlehre entsprechen. Die Leserschaft nimmt die spannungsvolle
Darstellung von Gut und Böse an der Oberfläche der Story tatsächlich als „spannend“ wahr,
wird aber (unbewusst) immer wieder überrascht und irritiert und gerät dabei über die Interaktion mit dem Text mitten hinein in die oft ambivalente Darstellung von Gut und Böse und das
andauernde komplexe Ringen der beiden Kategorien. Es lohnt daher, den bisher nur grob
15
Als sich diametral gegenüberstehende Paarungen nennt Granger die beiden stets direkt konkurrierenden Internatshäuser Griffindor (Harrys Haus/„Gut“) und Slytherin (Draco Malfoys Haus/“Böse), natürlich die beiden
prominentesten Vertreter dieser Häuser Harry und Draco, Lily (Rons äußerst liebevolle und auch gegenüber
Harry warmherzige Mutter) und Petunia (Harry lieblose Ziehmutter und Tante). (Vgl. Granger 2004, 41). Ergänzt werden könnten Professor Snape (zynischer und gemeiner Lehrer aus dem Hause Slytherin) und Professor
Gonagall (strenge, aber doch den Schülern zugewandte und faire Lehrerin aus dem Hause Griffindor) u.a. Bei
genauer Analyse der Texte fällt auf, dass alle der genannten „bösen“, zumindest aber äußerst unsympathischen
Figuren in entscheidenden, wenn auch nicht immer auffälligen Situationen Gutes tun. So „versagt“ Draco Malfoy im 6. Band bei seinem Auftrag, Professor Dumbledore zu töten („Ich kann es nicht“, Harry Potter Bd.6,
423), der zynische Snape wird mehr als nur einmal zu Harrys Lebensretter. Weitere Beispiele könnten zitiert
werden. Ihnen allen ist eine Aussage gemein: Der äußere Schein kann trügen, das ungebrochen Böse gibt es
nicht, bzw. es kann sich auch der böse Mensch jederzeit wandeln.
10
skizzierten Aspekt der Harry Potter Romane einer Analyse zu unterziehen und ggf. in zuvor
beschriebener Weise für die Religionspädagogik fruchtbar zu machen.
4.1.
Zur Verstrickung von Harry Potter und Lord Voldemort
„Sie [die Bücher] haben zweifellos Raffinesse, aber sie wirken in ihrer Schwarzweißmalerei
und ihrer halbchristlichen Erlöser-Metaphorik auch naiv“ (Martenstein 2004, 151) lautet der
Vorwurf von Harald Martenstein an Harry Potter, dem – wie oben bereits skizziert – zu widersprechen wäre. Tatsache ist nämlich, dass zwischen Gut und Böse, Schwarz und Weiß,
verkörpert in Lord Voldemort und Harry Potter, etliche Grauabstufungen liegen, von denen
man beim besten Willen nicht sagen kann, welchem Ursprung sie nun zuzuordnen sind. Mitunter sind die Übergänge so fließend, die Verbindungen derart intensiv, dass man ins Zweifeln gerät, ob Grenzziehungen überhaupt möglich sind. Betrachten wir dazu den Text selbst:
Eine erste schicksalsträchtige Verbindung zwischen Lord Voldemort und Harry Potter erwächst schon vor dessen Geburt aus einer Prophezeiung von der Hellseherin Sybill Trelawny.
Während der Terrorherrschaft des grausamen Zauberers verkündet sie, dass Ende Juli ein
Junge geboren würde, der Lord Voldemort töten könnte (Vgl. Harry Potter Bd. 5, „Die verlorene Prophezeiung“). Dieser versucht in der Absicht, seine Herrschaft zu sichern, Harry zu
töten. Sein Anschlag schlägt jedoch fehl, und sein eigener Todesfluch wendet sich gegen ihn.
Der Junge ist nämlich durch die Liebe und das Opfer seiner menschlichen Mutter, die sich vor
ihn stellt und dabei stirbt, geschützt. Dieser uralten Magie eines Opfers aus Liebe ist nämlich
kein noch so starker Zauber ebenbürtig16. Lord Voldemorts Existenz ist dadurch jedoch keinesfalls ausgelöscht, da er im Vorfeld seine Seele gespalten hat und in sogenannten „Horkruxen“, dafür geeigneten Gegenständen, in Fragmenten aufbewahrt. Das alles dient seinem
obersten, ja einzigen Wunsch: Unsterblichkeit und ewiges Leben. Nach dem verunglückten
Anschlag scheint er auf ewig weiterzuleben, allerdings in einer körperlosen, unmenschlichen
und entmachteten Existenz, die an Seele und Leib verkrüppelt über sieben Bände nur ein Ziel
kennt: Harry als Ursache seines Scheiterns und einziges Hindernis seiner Rückkehr zu vernichten. Der wehrlose Säugling hat übrigens wie durch ein Wunder im Kampf keine Blessuren mit Ausnahme einer blitzförmigen Narbe davongetragen. Dieses äußere Zeichen ist aber
keineswegs nur typisches Erkennungsmerkmal des Retters. Eigentümlicher Weise schmerzt
sie immer dann, wenn Lord Voldemort in der Nähe oder emotional erregt ist und durch ihn
Gefahr droht. Offensichtlich stellt sie eine bleibende, sinnlich wahrnehmbare Verbindung
zwischen den beiden Widersachern dar.
„Die Narbe kribbelt, brennt und steigert sich zu qualvollen, die Besinnung raubenden Schmerzen. In ihr kehrt zum einen die Erinnerung an ein traumatisches Ereignis zurück, zum anderen
ist sie auch die Wiederkehr des unheimlichen Vertrauten: die Konfrontation mit der ihm innewohnenden Destruktivität.“ (Nitzschmann 2000, 55)
Corinna Nitzschmanns tiefenpsychologisch anmutende Interpretation der Narbe deutet bereits
eines an: Die Narbe ist sicherlich mehr als eine Erinnerung an ein Ereignis und auch mehr als
ein wie auch immer gearteter Weg der Kommunikation zwischen Lord Voldemort und Harry.
Meines Erachtens steht sie daher für eine untrennbare und für den Menschen wahrnehmbare
Verbindung von Gut und Böse, quasi stellvertretend für das „Kainsmal jedes Menschen“
(Nitzschmann 2000, 55). In eigentümlicher Weise unterstreicht dies auch Lord Voldemorts
körperliche Abhängigkeit von Harry Potter. Nach seiner Niederlage ist er, wie gesagt, zu einer
körperlosen Existenz verdammt, die auf fremde Körper, insbesondere aber Harry angewiesen
ist. So bemächtigt sich Lord Voldemort in Band 2 (Die Kammer des Schreckens) eines klei16
Augenscheinlich liegen hier Analogien zum christlichen Messias vor, denen hier aber auf Grund der besonderen Schwerpunktsetzung nicht weiter nachgegangen werden soll – bzw. erst an passender Stelle, wenn e s um die
Bedeutung dieses Opferungsaktes im Kontext der protestantischen Sündenlehre geht. Siehe dazu Abschnitt 4.2
11
nen Mädchens mit Hilfe eines Tagebuchs aus seiner Jugend, mittels dessen er sie instrumentalisiert. Sein Triumph seine geistige und körperliche Rückkehr wird in letzter Sekunde verhindert, indem Harry einen mit seinem Blut getränkten Schlangenzahn in das Buch stößt und so
die gewachsene körperliche Existenz aufs Neue zerstört. Quasi Gegenteiliges passiert in Band
4 (Der Feuerkelch); hier benötigt der dunkle Zauberer Harry Blut, um eine physische Existenz
zu erlangen, was ihm schließlich auch gelingt. Festzuhalten ist jedenfalls: Gut und Böse sind
in einer komplexen Abhängigkeit zusammen zu denken.
Eingewoben in die Handlung und dargestellt in Symbolen unterstreicht eine ganze Reihe weiterer Episoden dies. Besonders auffällig ist dabei die parallel verlaufende Biographie des Pround Antagonisten: Beide stammen von Eltern ab, die zu Teilen menschlich und zu Teilen
Zauberer waren. Voldemort und Harry wachsen ohne Eltern und ungeliebt auf17. In Hogwarts
erweisen sie sich – natürlich jeder zu seiner Zeit – als brillante Zauberer, die bei ihren Mitschülern äußerst beliebt und bewundert sind. Ebenso augenscheinlich wird die Verbindung
der beiden in der Tatsache, dass ihre Zauberstäbe aus ein- und derselben Phönixfeder geschaffen sind. Jeder Zauberstab besitzt nämlich ein identisches Gegenstück und sucht sich seinen
Besitzer selbst aus (nicht umgekehrt). Es ist nun sicherlich nicht zufällig, dass Gut und Böse
sich auch hier als einander ergänzende Gegenstücke präsentieren. Weitere Details stützen
diese Hypothese: Harry kann Lord Voldemorts Gedanken hören (Vgl. Harry Potter Bd. 2).
Darüber hinaus sieht der magische Hut, der die Schüler auf die Häuser des Internats verteilt,
in Harry einen potentiellen Slytherin Bewohner (wie einst seinen Gegenspieler) – allein Harrys Willen bzw. Unwillen verhindert dies, ein Detail, über das auch noch zu sprechen sein
wird. Außerdem verfügt Harry über ein paar äußerst seltene Fähigkeiten, wie die Schlangensprache „Parselmund“ zu sprechen, was nur einige wenige Zauberer, darunter Voldemort,
können. Dies erklärt die Story damit, dass bei Voldermorts missglücktem erstem Anschlag,
Zauberkräfte von ihm auf Harry übergegangen sind. Später intensiviert sich dieses Bild, indem Harry als ein siebtes, ungewolltes und bis zuletzt unbekanntes Horkrux des bösen Zauberers entlarvt wird (vgl. Harry Potter Bd.7), der bekanntlich stellvertretend für das Böse an sich
steht. Spätestens hier wird überdeutlich, was die Autorin anhand der zwei Gegenspieler zum
Ausdruck bringen möchte: Gut und Böse sind nicht zu trennen, der (oder das) Gute trägt immer und unvermeidlich auch Böses in sich. Die eingangs zitierte Hypothese gehört demnach
insofern modifiziert, als nun klar ist, dass „in Wirklichkeit, das hat jeder von uns irgendwann
schon einmal leidvoll erfahren, beides in uns drin [steckt]. In Wirklichkeit sind wir alle ein
bisschen Harry Potter und ein bisschen Lord Voldemort.“ (Martenstein 2003, 151). Das spiegelt, wie gesehen, der Text selbst wieder.
Die eingangs von Martenstein behauptete einfache, dualistische Konzipierung von Gut und
Böse hält also der Analyse nicht stand, und ist vielmehr als eine literarische Elementarisierungsstrategie zur Darstellung eines hochkomplexen Sachverhalts zu verstehen. Die Charaktere Harry Potter und Lord Voldemort sind daher auch nicht als komplementäre Gegensätze,
sondern im Grunde als „shadow character“ zu verstehen. Dieser bezeichnet eine „creature‟s
complementary figure or shadow, which reveals aspects of its character otherwise invisible.“
(Granger 2004, 41). Die Taktik, das Verhältnis widerstreitender Kräfte bzw. Gut und Böse
innerhalb einer Person und stellvertretend für den Menschen an sich, literarisch darzustellen,
ist ein klassisches Stilmittel und daher den Lesern bereits aus zahlreichen Werken vertraut.
Die Bekanntesten sind wohl Robert Louis Stevenson‟s Dr. Jekyll and Mr. Hyde und Mary
Shelley‟s Dr. Frankenstein und sein Monster. Während Dr. Jekyll und Mr. Hyde ein- und dieselbe Person sind, handelt es sich bei Frankenstein und seinem Monster wie bei Harry Potter
und Lord Voldemort scheinbar um zwei getrennte Wesen. Abhängigkeiten und interdepen17
Lord Voldemorts Mutter stirbt bei seiner Geburt, sein von ihm gehasster und später getöteter Vater hat sie
bereits vor der Geburt verlassen. Harry wächst bei seinen Verwandten, den Dursleys, auf, Lord Voldemort im
Waisenhaus.
12
dente Beziehungsmuster bestimmen jedoch hier wie da das Verhältnis der genannten Figuren
und werfen damit für die Leserschaft die Frage nach Gut und Böse in seiner ganzen Komplexität auf. Augenscheinlich liegen hier auch literaturspezifische Interpretationen von C.C.
Jungs Tiefenpsychologie und seiner Lehre von den Schatten vor, die ihrerseits einschlägige
Erklärungsmodelle für das Verhältnis widerstreitender Kräfte im Menschen geben18.
Für die Reflexion über Gut und Böse und die Frage nach der Möglichkeit richtigen Handelns
bzw. Lebens ist von zentraler Bedeutung, ob der Mensch überhaupt über die Fähigkeit dazu
verfügt. Die protestantischen Lehren dazu werden nachfolgend fokussiert, bleiben wir hier
zunächst noch bei Rowlings Antwort. Über sieben Bände skizziert sie (wie oben dargestellt)
die ständige und untrennbare Melange zwischen Gut und Böse. Dabei wird deutlich, dass Harry trotz seiner spontanen Entscheidung für das Gute in Band 1 stets gefährdet und innerlich
angefochten bleibt. Dieses Gefühl des Protagonisten erreicht schließlich einen ersten krisenhaften Höhepunkt in Band 4, als Harry die Ambivalenz des Bösen (und übrigens auch des
Guten) in der Erforschung seiner Vergangenheit erkennen muss und schließlich seinen absoluten Höhepunkt, als Harry erfährt, dass er als Voldemorts siebtes Horkrux selbst Träger des
Bösen ist (Band 7). An diesem (für den Entwicklungsroman) zentralen Punkt, könnte man
Harry und den Leser wieder an den Anfang der Heptalogie verweisen, denn in Band 2 zeigt
der weise Schuldirektor Dumbledore den Weg aus der Krise, wenn er sagt: „It is our choices,
Harry, that show who we truly are, far more than our abilities.“ (Harry Potter Bd. 2, 258). Das
Individuum kann also Kraft eigener, immer wieder aufs Neue getroffener Entscheidungen das
Gute tun und das Böse in sich zurückdrängen. Gehen wir aber noch einen Schritt zurück:
Grundlage einer jeden Entscheidung für das Gute ist natürlich Kenntnis darüber, was Gut und
was Böse ist. Dass die keineswegs selbstverständlich und offenkundig ist, ist nicht nur eine
Alltagserfahrung, sondern auch Kernthema der Romanreihe. Trotzdem gibt Rowling meines
Erachtens bislang nicht beachtete bzw. falsch gedeutete Hinweise, dass und wie das Individuum Unterscheidungen treffen kann. Zum einen sehe ich die im Kontakt mit dem Bösen
schmerzende Narbe als sinnliches, quasi intuitives Differenzierungsorgan. Ergänzend tritt die
in Harry (und wenigen weiteren Protagonisten19) verkörperte Fähigkeit, das Böse beim Namen zu benennen hinzu. Alle anderen Zauberer nennen Lord Voldemort nämlich nur „den,
dessen Namen nicht genannt werden darf.“20 Bislang haben Religionspädagogen dies vorrangig als Anspielung auf das alttestamentliche Ausspracheverbot des Gottesnamens bezogen
(vgl. Ritter 2003, 162). Ich denke jedoch, dass Harrys Eigenart, das Böse zu benennen, auch
als weiterer Beleg menschlicher Kompetenzen in der Wahrnehmung und im Umgang mit dem
Bösen gedeutet werden kann. Der Mensch kann – so Rowling via Harry – das Böse intuitiv
vom Guten unterscheiden und es durch Verbalisierung begreifen. Damit ist die Grundlage zur
Entscheidung für das Gute gegeben.
Rowlings Konzept von Gut und Böse und der Rolle des Individuums spiegelt ihre implizite
Anthropologie, sie geht also von einem potentiellen Bösesein des Menschen aus, das dieser
jedoch mittels seines freien Willens und Vermögens, sich für das Gute zu entscheiden, überkommen kann. So gelingt es dem gereiften Harry in Band 7, als er gewillt, für das Gute zu
sterben und das Böse in sich abzutöten, Lord Voldemort entgegentritt, diesen zu besiegen (–
übrigens ohne selbst zu sterben). Das letzte Buch endet dementsprechend mit: „Und alles war
gut.“ Augenscheinlich greifen die Harry Potter Bücher mit ihrer Frage nach dem Bösen bzw.
Guten im Menschen, dem freien Willen und der Fähigkeit, das Richtige aus eigener Kraft zu
tun, Kernthemen der protestantischen Sündenlehre auf. Insofern sind sie für die Gestaltung
religiöser Bildungsprozesse aus Sicht der Religionspädagogik durchaus von Interesse. Aller18
Bekanntlich geht Jung davon aus, dass das Individuum stets im Unbewussten die Schatten seiner ausgeprägten
Persönlichkeitsmerkmale wie Gegenstücke in sich trägt.
19
Dazu zählen Professor Albus Dumbledore, Harrys Pate Sirius Black, Professor Lupin und Hermine
20
Ganz richtig bemerkt Hermine dazu in Harry Potter Bd. 2: „Angst vor einem Namen, macht Angst vor der
Sache selbst.“; 287
13
dings gilt es vorab zu klären, wo Gemeinsamkeiten und Unterschiede vorliegen, die für die
Vermittlung relevant sind.
4.2.
Harry Potter im Lichte der protestantischen Sündenlehre
„Sünde ist ein theologischer Begriff und bezeichnet das verkehrte Verhältnis des Menschen zu
Gott, mit dem ein verkehrtes Selbst- und Weltverhältnis einhergeht. Mit der Aussage, daß der
Mensch ein Sünder ist, zielen christliche Theologie und christlicher Glaube auf die grundlegende Verkehrung und Verstrickung unseres Selbstvollzugs, aus der sich der Mensch nicht aus eigener Kraft zu befreien vermag, sondern auf das unsere Existenz erhellende und versöhnende
Handeln Gottes angewiesen ist.“ (Axt-Piscalar 2001, 428)
Insbesondere die reformatorische Erbsündenlehre radikalisiert das Sündenverständnis, indem
sie „das Verständnis der Sünde nicht mehr von den Tatsünden her, sondern von diesem zugrunde liegenden, in sich verkehrten Sein des Menschen her erfasst.“ Gleichzeitig entlastet sie
jedoch auch das Individuum, da eine „Überwindung eines moralistisch verengten Sündenbegriffs“ (Axt- Piscalar 2001, 400) geschafft ist. Der Anspruch, ständig das Richtige und Gute
tun zu müssen – bzw. auch nur zu können – kann nicht länger aufrecht erhalten werden, da
dem Menschen das grundsätzliche Vermögen, nicht zu sündigen, abgesprochen wird. Damit
wird auch dem Kern der Sünde, der darin besteht, dass der Mensch auf sich vertraut statt auf
Gott, die Grundlage entzogen. An die Stelle der Amor sui, superbia, concupiscentia sollen
Vertrauen und Glaube an Gott treten, um die strukturell angelegte Selbstbezüglichkeit zu
überkommen. Besonders problematisch an der genannten Selbstbezüglichkeit ist
„die Bestimmtheit des sogenannten freien Willens des natürlichen Menschen, der von sich aus
nicht anders kann, als seine eigene Gerechtigkeit aufzurichten und solcherart der Gnade widerspricht.“ (Axt-Piscalar 2001, 402)
Man kann sich nämlich nur passiv von der Gnade ergreifen lassen, jeder Eigenanteil des Menschen ist zu verurteilen. Genau deshalb streitet Luther die Existenz eines freien Willens auch
ab,
„dem [CA IV:BSLK 56,2-4] entspricht die gesamtreformatorisch vertretene Lehre von der Unfreiheit des Willens zum Guten mit der Aussage, daß der Wille des natürlichen Menschen in
sich selbst so verfasst ist, nicht nicht das Böse wollen zu können.“ (Axt-Piscalar 2001, 400)
Dieser Fähigkeit bedarf es allerdings gar nicht, da der Mensch aus Gnade und durch das Erlösungswerk Christi vor Gott gerecht ist, wie uns die Rechtfertigungslehre lehrt. In Bezug auf
die Fähigkeit, das Böse zu erkennen, ist zu lesen:
„Was die Frage nach dem Erkenntnisgrund der Sünde angeht, so ist zunächst zu bedenken, daß
die zerstörerische Macht der Sünde gerade auch in ihrem sich verstellendem Charakter besteht
und die sündige Person die Sünde übersieht und verkennt.“ (Axt-Piscalar 2001, 430)
An nachfolgend zu vergleichenden zentralen Aussagen über das Wesen der Sünde und ihre
Wirkung auf den Menschen können wir also Folgendes festhalten: Jeder Mensch ist ein Sünder und kann dieses Merkmal seiner Natur auch nie aus eigener Kraft überkommen, denn gerade im Irrglauben an die potentielle Befähigung dazu liegt ein Urgrund der Sünde. Zudem
kann der Mensch die Sünde aufgrund ihres verstellenden Charakters nicht einmal als solche
identifizieren. Die Freiheit des menschlichen Willens ist ambivalent zu sehen. Ganz sicher
kann er sich nicht aus eigener Kraft durch sein Wollen von der ihm anhaftenden Sündigkeit
befreien, allerdings wurde er als Geschöpf mit der Freiheit versehen, eigene Entscheidungen
zu treffen; insofern ist er nicht zur absoluten Unfreiheit determiniert. Gerecht kann der
Mensch vor Gott aus eigener Kraft jedoch nie werden und muss es auch nicht, da er es aus
14
Gnade und durch Christus bereits ist. Aus der Rechtfertigung erwächst sodann das Bedürfnis,
Gutes zu tun, was nicht mit Gnadenleistungen zu verwechseln ist.
Die Frage ist nun, inwiefern sich die genannten zentralen Aspekte des protestantischen Sündenverständnisses in Harry Potter wiederfinden. Den Kerngedanken einer im Wesen verankerten Affinität, das Böse zu tun, spiegelt Rowlings Beziehungskonstellation von Lord
Voldemort und Harry – wie oben dargestellt – treffend wieder, insofern als Harry erfahren
muss, dass er selbst Anteile des Bösen von Beginn an und vor jeder Tat in sich trägt als „Horkrux“ des Bösen. „The Harry/Voldemort shadow, the pivotal antagonism of the series, points
to the duality in every human being.“ (Granger 2004, 42). Ähnlich treffend veranschaulicht
die Autorin das in der christlichen Theologie in Christus begründete Ursprungsgeschehen zur
Rechtfertigung des Menschen. Hier wie da ist es ein Opfer aus Liebe, das zur Rettung des
Menschen gereicht. Schon in Band 1 lässt Dumbledore Harry und die Leser wissen:
„Your mother died to save you. If there is one thing Voldemort cannot understand, it is love. He
didn‟t realise that love as powerful as your mother‟s for you leaves its own mark. Not a scar not
a visible sign…to have been loved so deeply, even though the person who loved us is gone, will
give us some protection forever. It is in your very skin.“ (Granger 2004, 42)
Demnach ist Harry vor der Macht des Bösen und analog der Sünder vor dem Verlust des
Heils durch die Liebe gefeit. Diese hinterlässt in Harry bzw. im Individuum prägende Spuren,
die es schützen und trotz aller Widerstände dem Guten verschreiben. Bei Harry Potter expliziert sich dieses Gute in seiner Liebe zu seinen Freunden, Vertrauten und dem Leben. So weit
so gut, bei aller Übereinstimmung an zentralen Stellen dürfen jedoch nicht die Unterschiede
übersehen werden. An erster Stelle sind hier die Rolle des freien Willens und der Stellenwert
menschlicher Anstrengungen zum Überkommen des Bösen zu nennen. Wie oben skizziert,
sind es bei Harry Potter nämlich die aus eigener Kraft immer wieder aufs Neue getroffenen
Entscheidungen eines Menschen, die ihn zu einem guten oder schlechten Menschen machen.
Mag er auch immer sündig und potentiell bedroht bleiben (wobei Epilog und der Schlusssatz
„Alles war gut“ Gegenteiliges andeuten), für das Gute entscheidet er sich kraft seines freien
Willens und rettet sich selbst. Eben dies ist nach protestantischem Sündenverständnis aber
ausgeschlossen.
Bei Harry Potter liegt daher trotz der identifizierten protestantischen Züge insgesamt wohl
eher eine stark ethisierende Interpretation von Sünde vor, die die Gottesbeziehung außen vor
lässt. Durch die Ethisierung wird das Moment der Entscheidung gestärkt, und zumindest theoretisch droht die Gefahr eines moralisch-ethizistisch verengten Sündenbegriffs. Das soll nicht
darüber hinwegtäuschen, dass natürlich auch die christliche Sündenlehre eine ethische Dimension aufweist, und Harry Potter wiederum mehr als eine Ode an die menschliche Moral
ist, aber das Problembewusstsein sollte dahingehend geschärft bleiben, wenn wir uns nun fragen, inwiefern Harry Potter der postmodernen Wahrnehmung der Sünde entspricht, und wie
mit den Romanen im Kontext religiöser Bildungsprozesse ggf. umzugehen sei.
4.3.
Harry Potter als Spiegel und Kritik postmodernen Sündenverständnisses
„Die Sünde steht innerhalb wie erst recht außerhalb der Kirche vor gravierenden Kommunikationsproblemen.“ (Gräb 2001, 437), zumal man im gesellschaftlichen Empfinden mit „Sünde“
heute eher das meint, was in der Theologie mit dem „Bösen“ bezeichnet wird, und „das unterscheidet sich durch seinen qualifiziert ethischen Charakter.“ (Hygen 2001, 9). Von einer
„Sünde“ spricht man heute allenfalls banalisierend und mit ironisch-distanzierendem Unterton
und überhaupt nur noch in spezifischen Kontexten, vorrangig beim sinnlichen Genuss und
anderen Bagatellen des Alltags, wo Menschen wissentlich verkehrtes Verhalten an den Tag
legen. Beliebt ist die „Sünde“ im Sprachgebrauch auch, wenn es um Sexualität geht. Wer ein
15
Eis mit Sahne isst, „sündigt“ beispielsweise, es gibt „Umwelt- und Verkehrssünder“ und Outfits, die „eine Sünde wert“ sind. Mit der theologischen Sündenlehre haben heutiger Sprachgebrauch und postmodernes Sündenverständnis nur noch wenig bis gar nichts mehr zu tun, da
sowohl der Gottesbezug als auch der zur Gemeinschaft als Dimension der Sünde verloren
gegangen sind. Ähnliches gilt für den Aspekt eines falschen Selbstbildes, das im christlichen
Verständnis von Sünde impliziert ist, denn es findet sich in der postmodernen Interpretation
von „Sünde“ (aber auch in der vom „Bösen“) nicht mehr oder nur in radikal veränderter
Form. An die Stelle von definierten Beziehungskategorien des ursprünglichen Sündenverständnisses sind bagatellisierende, ironische Kommentierungen einzelner Episoden ohne größeren Zusammenhang getreten, die allenfalls noch eine moralische Dimension aufweisen,
jedoch kein Fundament sein können.
Über die Gründe kann nur gemutmaßt werden. Sicherlich ist hier die starke Position der
menschlichen Ratio zu nennen, die sich scheinbar leichter in konkreten Regeln und Moral als
in diffusen Beziehungsgeflechten und Definitionen expliziert und die Beziehung zu einem
transzendenten Wesen ohnehin ausschließt. Zum Anderen kann auf die für den postmodernen
Lebensstil kennzeichnende Autonomie des Individuums verwiesen werden. Nach wie vor ist
der Mensch zwar keineswegs autark, aber in seinen Entscheidungen so frei wie nie zuvor.
Diese Entscheidungen betreffen nun eben auch die Beziehung zur eigenen Person (und damit
die Möglichkeit der Selbsttranszendierung) und diejenige zu seinen Mitmenschen. Vielleicht
liegt in dieser Autonomie gerade ein dringlicher Anlass, den Menschen von heute wieder mit
der christlichen Sündenlehre zu konfrontieren. Auch wenn ich mich ausdrücklich von einer
vorschnellen Wertung des postmodernen Sündenverstädnisses und den Gründen der beschriebenen Veränderung distanzieren möchte, scheint die Forderung von Seiten der (Praktischen)
Theologie nachvollziehbar:
„Sie [die Theologie] muß an das moralische Verständnis in seiner ganzen Ambivalenz kritischkonstruktiv sich anschließen, um es religiös – auf die Auslegung des Gottesverhältnisses hin –
zu transzendieren.“ (Gräb 2001, 438)
Zumindest, wenn damit die Ziele gemeint sind, das gegenseitige Aufrechnen von Schuld zu
durchbrechen und die ethizistisch-moralistische Verkürzung des Sündenbegriffs zu beheben,
ist dem zuzustimmen. Offen bleibt indes, wie dieser Prozess zu gestalten wäre. Nachfolgend
soll daher geprüft werden, ob Trivialliteratur, hier Harry Potter, sich als möglicher Zugang
eignet.
Augenscheinlich bietet Harry Potter zahlreiche direkte Anknüpfungspunkte für das postmoderne Sündenverständnis. Allem voran ist die positive Rolle der menschlichen Entscheidungsfähigkeit anzuführen. Ich erinnere an den Kernsatz: „It is our choices, Harry, that show who
we truly are, far more than our abilities.“ (Harry Potter Bd. 2, 358). Positive Basis der Entscheidung ist bei Rowling die vernunftgeleitete Reflexion. An einer Schlüsselstelle des Romans, bevor Harry sich an den Widerfahrnissen seiner Jugend gereift bewusst entschließt,
Lord Voldemort gegenüberzutreten und ggf. zum Besten aller im Kampf zu sterben, gehen
ihm folgende Gedanken durch den Kopf:
„And Harry saw very clearly as he sat there under the hot sun how people who cared about him
had stood in front of him one by one, his mother, his father, his godfather, and finally Dumbledore, all determined to protect him; but now that was over. He could not let anybody stand between him and Voldemort; he must abandon forever the illusion he ought to have lost at the age
of one: that the shelter of a parent‟s arms meant nothing could hurt him. There was no waking
from this nightmare, no comforting whisper in the dark that he was safe, that it was all in his
imagination.“ (Harry Potter Bd. 6, 601)
16
Kennzeichen eines postmodernen Sündenverständnisses ist hier der freie Wille zur Entscheidung kraft der menschlichen Erkenntnis. Mehr noch, der freie Wille und die Vernunft gereichen hier abschließend zum endgültigen Überkommen des Bösen, das hier, verkörpert in Lord
Voldemort, für die Sünde steht21. „Alles war gut“ lautet der finale Satz – und zwar auf viele
Jahre, andeutungsweise für immer22, so dass man annehmen darf, dass Harry aus eigener
Kraft die Sünde besiegt hat. Da möchte man doch als protestantische Theologin sofort auf die
ganz zu Beginn dieses Beitrags verwiesene Möglichkeit zurückgreifen23, diesem Werk der
Trivialliteratur die protestantische Sündenlehre kritisierend, ja korrigierend gegenüberzustellen. Doch Vorsicht – so einfach ist das nicht.
Tatsächlich weist Rowlings Heptalogie nämlich unter anderem Konstrukte auf, die im Kern
der protestantischen Sündenlehre entsprechen und im Text provozierend neben dem postmodernen Sündenverständnis stehen und zum kritischen Nachdenken auffordern. Dazu zählt natürlich die spezifische Konzipierung der beiden Gegenspieler (s.o.), die getrost als trivialliterarische Veranschaulichung von Luthers „simul iustus et peccator“ gelten kann. Entsprechend
fallen die Entscheidungen des Protagonisten stets vor dem Hintergrund innerer und äußerer
Anfechtungen und sind keinesfalls einfach: „Harry‟s choices deliver the implicit message „Do
the hard, right thing; don‟t take the easy advantageous route.“ (Granger 2004, 73). Die Autorin gewährt darüber hinaus auch Einblicke in die dunkle Seite des Menschen, indem sie Lord
Voldemort und seine Motive erfahrbar macht. „Anders als in anderen Kinderbüchern gibt es
bei mir nicht den Bösen, den wir alle hassen. Ich wollte zeigen: Warum ist er so? Und wie
schwierig es ist, gegen jemand zu kämpfen, der das menschliche Leben nicht schätzt.“ (Rowling 2000)
„Kein Mensch ist in Rowlings Universum von Natur aus böse oder zum Bösen determiniert. Im
Gegenteil: es wird größten Wert auf die Entscheidung des einzelnen Menschen gelegt, der zwischen Gut und Böse frei wählen kann bzw. muss.“ (Runge 2007, 40)
Zuvor wurde skizziert, inwiefern die menschliche Erkenntnisfähigkeit eine tragende Säule der
Entscheidung aus eigener Kraft für das Gute bei Harry Potter ist, und dass dieses Sündenverständnis im Widerspruch zur protestantischen Lehre steht. Beachtet man nun aber das Folgende erscheint der Sachverhalt in einem völlig anderem Licht: Neben intensivem Reflektieren
sowie abschließender Erkenntnis ist es vor allem die Liebe zu seinen Mitmenschen (allen voran seinen Freunden und seinen für ihn gestorbenen Eltern) sowie dem Leben und allem Guten, die Harry motiviert, sich immer wieder für den schwereren, aber richtigen Weg zu entscheiden. Dieser Umstand kann durchaus im Sinne der protestantischen Sündenlehre interpretiert werden. Harry transzendiert seine individuelle Existenz auf einen höheren Sinn hin – die
Liebe, das Leben und das Gute und definiert richtiges Leben über die Fürsorge für und Liebe
zu seinen Mitmenschen. Grundlage seiner Entscheidung ist demnach nicht allein eine vernunftdominierte Moral, sondern Beziehungskategorien und -ausprägungen, die durchaus dem
christlichen Verständnis entsprechen. Harrys aktiver Anteil am „Gutsein“ relativiert sich
durch die beschriebene Konstituierung im Übrigen ebenfalls. Man kann für Harry Potter also
mit Recht behaupten, dass „dessen [des Bösen] Überwindung nicht durch allmähliche, sittliche Besserung [geschieht], sondern durch eine Revolution für die Denkungsart, welche die
Änderung des Grundes aller Maximen bewirkt“ (Axt-Piscalar 2001, 414). Dass Harry dabei
21
Lord Voldemort verkörpert als das Böse bzw. die Sünde Merkmale der theologisch verstandenen Sünde, wie
die Selbstvergöttlichung des Menschen, der unsterblich werden will, Allmacht anstrebt, seine eigene Existenz
pervertiert, und der Liebe, dem Leben sowie der Gemeinschaft feindlich gegenübersteht.
22
Im Epilog in Harry Potter Band 7 beschreibt Rowling das Leben 18 Jahre nach dem finalen Kampf: Harry und
seine Freunde leben alle verheiratet mit Familie und Job in einer friedlich sicheren Zauberwelt.
23
Eingangs wurde in Absatz 1 “Theologie und Populärkultur” auf den “dritten Weg” verwiesen und darin auf die
Möglichkeit, dass der Theologie auch die Aufgabe zukommen kann, verfremdete und überformte Fragmente
christlichen Glaubens in der Populärkultur zu kritisieren und zu korrigieren.
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u.a. Verstand und Vernunft zur Erkenntnis nutzt und aktiven Anteil an seiner Veränderung
hat, kann die christliche Intention dieser Aussage nicht schmälern – im Gegenteil Vernunft
und Glaube, Agieren und Reagieren gehören bekanntlich im Protestantischen ohnehin zusammen.
Augenscheinlich ist Harry Potter also durchaus ein geeignetes Medium, um religiöse Bildungsprozesse, insbesondere das Nachdenken über die Sünde, zu unterstützen. Die Frage ist
nur, wie dies konkret aussehen könnte.
5. Religionspädagogische Konkretionen
„Hatte die Aufklärung den Teufel/Satan mehr oder weniger über die Klinge springen lassen, so
werden mit den 70er Jahren der und das Böse theologisch und humanwissenschaftlich durch Erklärungen rationalisiert und nivelliert.“ (Ritter 2003, 176)
– so die Diagnose von Werner Ritter. Eines fällt jedenfalls ganz sicher auf: Der Böse ist gänzlich von der theologischen Bildfläche verschwunden – allenfalls thematisiert man noch das
Böse, aber auch das nur ungern. Stattdessen stellt man doch gerade im Religionsunterricht das
Schöne unseres Glaubens in den Mittelpunkt: Liebe, Hoffnung, Vergebung und so weiter. Ein
Blick in die Populärkultur zeigt uns aber, dass das und der Böse dort bleibende Hochkonjunktur haben und die Nachfrage boomt,
„weil offensichtlich Deutungsmuster immer weniger zu befriedigen vermögen, die das Böse
bzw. den Bösen in gesellschaftliche und/oder in psychologische Erklärungen hinein auflösen
wollen. Wie es aussieht, brauchen Menschen immer wieder – kulturgeschichtlich und anthropologisch beobachtbar – vorstellbare Texturen, Figuren und Konfigurationen, die das
Unheil und Unglück, das ihnen widerfährt, ausdrücken, einordnen und zuschreiben zu können.“
(Ritter 2003a, 183)
Wie gesehen, kommt Rowling mit ihren Harry Potter Romanen diesem Bedürfnis nach einer
elementarisierenden Anschauung des Bösen kompensierend nach. Dass ihr Werk dabei
Schlüsselmomente der christlich-protestantischen Sündenlehre repräsentiert, stellt einen religionspädagogischen Glücksfall dar, kann man ihre Texte doch für Bildungsprozesse fruchtbar
machen und von ihnen lernen.
Lord Voldemort als die Personifizierung des Bösen, dessen Beweggründe dem Leser jedoch
nicht fremd und verborgen bleiben, bietet reichlich Projektionsfläche für reelle individuelle
und überindividuelle Erfahrungen mit dem Bösen. Er verkörpert alles Lebens-und Menschenfeindliche, und in der Begegnung mit Harry fühlt man mit diesem die Machtlosigkeit und das
Ausgeliefertsein angesichts des übermächtigen Bösen. Man trifft das Gefühl, ein Rädchen in
fremdgesteuerten Maschinerien zu sein, ebenso wie man der massenmörderischen Politik (etwa in Voldemorts Kampf gegen die Menschen, „Muggel“) und schuldhaften Verstrickungen
begegnet. Ohne das Böse über Gebühr effektheischend oder gar genussvoll auszuweiden, gibt
Rowling den Fragen, Befürchtungen und Erfahrungen der Leser Raum. Eben dies kann die
(Praktische) Theologie von ihr lernen, nämlich auch diejenigen (religiösen) Bedürfnisse aufzugreifen und zu veranschaulichen, die hässlich sind. Das Böse muss ausreichend und anschaulich thematisiert sein, bevor übergegangen wird zu Versöhnung, Heil und Hoffnung –
und manchmal kann vielleicht gar keine derartige Auflösung erfolgen. Gerade trivialliterarische Texte können hierfür von großem Nutzen sein, denn
„in der irrealen Zaubererwelt kann man es [ein Projekt zum Finden von Differenzierungen und
Maßstäben] mit wunderbarer Leichtigkeit durchspielen, weil der Prüfstand, auf den hier alle
existentiellen Fragen und Antworten kommen, niemals so grimmig ernst und grau ausschaut,
wie im wirklichen Leben.“ (Meyer-Gosau 2001, 294)
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Außerdem sind den Darstellungsmöglichkeiten quasi keine Grenzen gesetzt, und auch Komplexes kann elementar veranschaulicht werden, wie am Exempel Harry Potter zu sehen ist.
Rowling konzipiert ihre Darstellung von Gut und Böse extrem vielschichtig und komplex.
Gute wie böse Charaktere bleiben dabei stets ambivalent und wandelbar. Das ist einerseits –
wie gesehen – der Natur der Sache geschuldet, andererseits geht damit aber auch ein impliziter Auftrag an den Leser einher. Dieser lautet: Sei Dir Deiner Sache nie sicher, gut ist nicht
immer und eindeutig gut, Gleiches gilt für das Böse bzw. den Bösen. An die Stelle feststehender Überzeugungen tritt die Aufforderung zu ständiger (Selbst-)Reflexion. Hier zeigt sich
auch, „dass Joanne K. Rowling von abstrakt moralischen Maximen wenig, vom Verständnis
für die individuellen Lebensprozesse aber alles hält.“ (Meyer-Gosau 2001, 296). Daher sind
ihre Texte auch von einer hartnäckigen Abwesenheit von dogmatischen Belehrungsabsichten
gekennzeichnet. An die Stelle fertiger Konzeptionen tritt die Aufgabe, eigene Konstruktionen
zu schaffen, und zwar im sicheren Rahmen des Romans, der für das reale Leben durchaus
Impulse gibt, denn „Phantasie ist nicht Flucht, sondern Freiheit, nämlich Freiheit, die Welt
anders zu denken, als wir sie im Alltag erfahren, und unsere Erfahrungen spielerisch um- und
weiterzuschaffen.“ (Hemminger 2002, 55)
Eines ist also sicher: Auch wenn Pädagogen nicht müde werden, die vom Vorbild Harry Potter zu lernenden Tugenden zu preisen (Jelinek 2006, 7), geht es genau darum nicht. Der Roman macht nämlich den verkennenden und irritierenden Charakter der Sünde in einer abgespaltenen, ambivalenten Gestalt erfahrbar, um die Ausbildung einer Urteils-, Entscheidungsund Handlungskompetenz im Sinne einer postkonventionellen Moral zu provozieren, statt
einfach um Ge- und Verbote einzuüben. Diese Unterscheidung wird besonders deutlich anhand der konträren Führungsstile des Schuldirektors Albus Dumbledore und seiner temporären Vertretung Dolores Umbridge. Während er fröhlich-anarchisch Raum für die individuelle
Entwicklung gibt und beratend seinen Schülern hilft, ein eigenes Empfinden für richtig und
falsch und ihre Verantwortung für sich und andere zu finden, errichtet die despotische Umbridge ein Terrorregime voller Regeln und Strafen, das zeigt, dass akribisches Befolgen von
Regeln noch lange keinen „guten“ Menschen ausmacht. An dieser Episode könnte man beispielsweise ein ethisches Schlüsselproblem mit Schülern erarbeiten.
Allerdings reicht das den Romanen innewohnende Potential weit über bloße kognitive Erkenntnisse hinaus. Wie zuvor gesehen, ermöglicht die spezifische Handlung der Harry Potter
Bücher durch Identifikationen identitätsstiftende Prozesse. In der (unbewussten) Auseinandersetzung mit den Schatten, die verbotene Wünsche haben, wie Allmacht, Gewalt uvm., liegt
die Möglichkeit zur Individuation. Diese hat keineswegs die Legitimation des Bösen zum
Ziel, sondern die konstruktive Auseinandersetzung mit den dunklen Seiten der eigenen Person, der Gesellschaft oder dem Bösen an sich. Das protestantische Ideal der Selbstbildung
„bedarf des anderen außerhalb des Selbst als eines konstitutiven Moments der Selbstwerdung
und Selbstfindung.“ (Lämmermann 2005, 171). Warum soll dieses Andere nicht einmal über
einschlägige und allseits bekannte Romanfiguren erfahrbar werden?
Harry Potter mag trivial sein, aber das ihm trotzdem innewohnende Bildungspotential – insbesondere im Bezug auf die Frage nach Gut und Böse und die damit verbundene Persönlichkeitsbildung – ist nicht von der Hand zu weisen. Sicher wird durch die Aufnahme von Harry
Potter in den Religionsunterricht wirklich nicht alles gut, aber vielleicht kann Letztgenannter
dadurch doch ein bisschen besser werden.
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