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Klaus O. Boltze
Erinnerungen eines Unbekannten
aus der fränkischen Provinz
3mal Japan und zurück
Gewidmet meiner lieben Frau,
die diese Geschichten nicht mehr hören konnte.
EINBLENDE
N
ein, ich bin nicht prominent, ich stamme auch nicht aus ärmlichen Verhältnissen, mit denen ich
prahlen könnte, wie bekannte Politiker. Ich habe nicht einmal einen Migrationshintergrund oder
könnte mich einer bildungsfernen Familie rühmen.
Ich bin auch nicht anormal veranlagt … und das ist gut so!
Ich hätte also nach heutigem Verständnis gar keine Berechtigung, meine Erinnerungen niederzuschreiben, zumal ich mich in keiner Weise durch Kriegsgeschehen oder Missbrauch traumatisiert fühle. Aber
ich will es trotzdem wagen.
Ja, ich stamme aus ganz soliden, gut konservativen, streng evangelischen Familienverhältnissen. Mein
Vater, gelernter Jurist, war Offizier und meine Mutter war eine fränkische Baroness, die aber, wie damals
bei einer Heirat üblich, den bürgerlichen Namen ihres Mannes annahm. Für Alice Schwarzer wäre dies
schon der erste Schritt in die Unterwerfung der Frau. Aber für feministische Überlegungen hatte man
damals Gott Lob weder Zeit noch Verständnis. Man hatte andere Sorgen, als der Krieg ausbrach.
Meine Großeltern mütterlicherseits, Clara und Siegfried von Rotenhan, bewirtschafteten den fränkischen Besitz der Rotenhanschen Gesamtfamilie im Baunachgrund in Unterfranken mit den beiden Standorten Lichtenstein und Rentweinsdorf. Die Großeltern väterlicherseits waren bereits vor meiner Geburt
verstorben.
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Von links nach rechts:
Hinten: Kucka, Heinz Oskar Reschke, unbekannte Pflegekraft, Marline Reschke, Hans Reschke, Ümä, Üpä, Hesi v. Truchsess,
Dietz v. Truchsess, Anette Reschke, Gottfried v. Rotenhan.
Vorn: Sabine, Udo, Christoph, Max von Truchsess, die sog. ›Bundorfer‹ Vettern.
Mitte: Hedi, meine Mutter mit mir als Täufling, mein stolzer Vater.
Das Leben beginnt üblicherweise mit der Geburt. Für mich begann es mit meiner Taufe. Es war das letzte
große Familienfest, das kurz vor Kriegsbeginn bei Rotenhans auf Burg Lichtenstein gefeiert wurde, und
ich war die Festsau, wie man auf diesem Gruppenbild sehen kann.
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DER TAGESLAUF IN RENTWEINSDORF
A
ls mein Vater 1940 an die Westfront abrückte, kehrte meine Mutter mit meiner älteren Schwester
und mit mir aus dem bombengefährdeten Krefeld in ihr Elternhaus zurück nach Unterfranken. Und
dort durfte ich eine unbeschwerte Kindheit auch in Kriegszeiten erleben, an die ich mich so gern erinnere, dass ich zunächst darüber berichten möchte.
Meine Mutter musste nicht arbeiten. Sie konnte es auch gar nicht, weil sie keinen Beruf erlernt hatte.
Sie hatte vor der Heirat nur ein soziales Jahr als Schwesternhelferin absolviert. Das war damals eine angemessene praktische Ausbildung für höhere Töchter zwischen Schulabschluss und Heirat. Mein Vater
hat als Alleinverdiener immer gut für uns gesorgt. So konnte meine Mutter standesgemäß den Tag verbringen. Nein, nicht etwa mit Kinderhüten und Windeln wechseln. Dafür hatten wir eine polnische Kinderfrau, von der ich einige Worte Polnisch lernte, die ich bis heute behalten habe: Schlifki, die Pflaume,
Maupa, der Affe und noch einen weiteren Ausspruch, der einem Goetz von Berlichingen zugeschrieben
wird, der aber wohl auch in Polen häufig zur Anwendung kommt.
Ja, meine Mutter frühstückte gern spät, dann besprach sie mit der Köchin, der Dorett, den Speiseplan. Sie
glauben jetzt vielleicht, danach ginge man zum Einkaufen. Aber wo denken Sie hin. In diesem fränkischen
Dorf mit damals knapp 800 Seelen und sicher 20 Misthaufen gab es zwei kleine Läden, in denen Salzgurken,
Mehl und Bonbons (rote Himbeere) in Tüten abgefüllt und ausgewogen wurden. Alles nur gegen Lebensmittelmarken, natürlich. Dann gab es einen sogenannten Bader (Friseur), der aber auch Zähne zog. Gegenüber vom Schloss hatte der Metzger Herold seine Gastwirtschaft und sein Schlachthaus. Manchmal, wenn er
die Schweine nicht richtig mit dem Bolzenschussgerät traf, hörte man das jämmerliche Quieken im ganzen
Dorf. Es gab auch zwei Bäcker und einen Änderungsschneider, bei dem sich mein Großvater aus alten Uniformjacken (1. Weltkrieg) Förstersjoppen schneidern ließ. Also in keinem Fall bot sich ein besonderer Anreiz
zum ›shopping‹ nach heutiger Vorstellung. Bestenfalls ging man vormittags noch zur Posthalterei, um einen
Brief an die Front aufzugeben. Dann war es Zeit zum Mittagessen. Die Mahlzeiten wurden zelebriert als die
Kernzeiten der Familie. Nicht in Form von üppigen Speisen, die waren eher schlicht, aber durch Einhaltung
guter Tischmanieren und mit gepflegter Unterhaltung. Letztere drehte sich meist um die Wald- und Landwirtschaft oder die aktuellen Entwicklungen auf den Kriegsschauplätzen.
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Mein Großvater, Siegfried Freiherr von Rotenhan, Jahrgang 1877, preußischer Major a.D., war jetzt im
2. Weltkrieg der einzige Mann im Haushalt. Er hatte den Vorsitz bei Tisch. Ihm zur Linken saß meine Mutter, dann kam meine Schwester. Ich saß ihm in einem hohen Stuhl, der schon meinen Vorfahren gedient
hatte, genau gegenüber. Links von mir, um den Kreis am runden Tisch zu schließen, saß Fräulein Kühl, die
ältliche, etwas sauertöpfische Gutssekretärin. Damals konnte man noch zwischen ledigen und verheirateten
Frauen aufgrund der Anrede unterscheiden. Die Anrede ›Frau‹ stand nur einer Verheirateten zu. Unverheiratete Damen legten Wert darauf, auch in hohem Alter noch mit ›Fräulein‹ angesprochen zu werde.
Heutzutage wäre ich in meinem zarten Alter von drei bis vier Jahren mittags in einer KITA abgefüttert
worden. Mein Großvater und meine Mutter achteten aber darauf, dass wir Kinder schon früh lernten,
uns gesittet bei Tisch zu benehmen. Dazu gehörte als Erstes ›Mund halten‹. Kinder reden bei Tisch nur,
wenn sie gefragt werden. Ellenbogen vom Tisch und Hände falten, wenn man aufgegessen hatte, war
schon die dritte Regel, wenn man die zweite erfolgreich bestanden hatte (und das war bei Rosenkohl
nicht einfach): es wird bei Tisch nicht gemäkelt, und was auf dem Teller liegt, wird aufgegessen.
Um zu lernen, die Ellenbogen eng am Körper zu halten, wurden uns bisweilen kleine Holzschälchen
unter die Achselhöhlen geklemmt. Die mussten wir dann durch Anpressen der Arme festklemmen und
dabei essen. Wenn ein Schälchen herunterfiel, konnte es Ärger geben. Ja, was haben es die verzogenen
Gören heute gut, die schon beim Hinsetzten zum Mittagessen rufen: »Mama, das mag ich nicht.« Und
dann fleezen sie sich mit beiden Ellenbogen auf den Tisch und schmieren sich Nutella ins Gesicht. Die
Eltern sind begeistert über diese Natürlichkeit ihrer Kinder. Ob die Kinder es aber wirklich ›gut‹ haben,
wird sich erst herausstellen, wenn sie erwachsen sind.
Ich bin stets dankbar gewesen für diese stramme Erziehung. Gute Manieren sind Teil unserer Kultur,
und schaden können sie bestimmt nicht.
Nach dem Tischgebet kam die Dorett, unsere Köchin, mit weißer Schürze und Häubchen herein und
servierte das Essen. Zum Auftragen des nächsten Ganges lag neben dem Platz meiner Mutter eine elektrische Klingel, die auch ich manchmal betätigen durfte. Der Nachtisch war für uns Kinder natürlich ein
besonderes Vergnügen. Und wenn die Tafel aufgehoben war, rannte ich gern in die Küche, in das Reich
unserer geliebten Dorett, die hatte dann meist noch eine Extraportion Speise für mich aufgehoben. Heute vermute ich, dass es ihre eigene Portion war, die sie sich vom Munde abgespart hatte.
Nach dem Essen wurde ein Mittagsschläfchen gehalten, zu dem ich mich neben meine Mutter im Elternschlafzimmer ins Bett legen musste. Sie achtete dann darauf, dass meine Augen geschlossen waren
… sonst setzte es einen Klaps. Es war wie Katz und Maus spielen. Voll im Risiko konnte ich es mir nicht
verkneifen, bisweilen mindestens mit einem Auge zu blinzeln, um zu sehen, ob Mutter schon schlief.
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Später am Nachmittag, wenn uns die Kinderfrau gereinigt und hübsch frisiert hatte, durften wir zu
meiner Mutter ins Wohnzimmer, wo sie täglich ihren Nachmittagstee nahm. Wir durften neben ihr auf
dem Sofa sitzen und sie hatte ein Bilderbuch auf den Knien, aus dem sie uns vorlas. Am schönsten war es
um die Weihnachtszeit, wenn es draußen schon dunkel war und unsere Mutter die Geschichte von Peterchens Mondfahrt erzählte.
Nach dem Abendbrot ging es ab in die Betten. Die Verdunklung musste an allen Fenstern überprüft
werden, denn auch in unserem Dorf waren die Luftschutzbestimmungen einzuhalten. Kein Lichtschein
durfte von draußen zu sehen sein, um feindlichen Flugzeugen kein Ziel zu bieten. Und wenn wir dann
endlich im Bett waren, kam meine Mutter zum Beten. Abwechselnd durften wir uns ein Lied wünschen,
das gesungen wurde, dabei war ›Der Mond ist aufgegangen‹ häufig der Favorit des Abends. Als Gebet
sprachen wir unseren jeweiligen Taufspruch und dann kam das Anhängsel: »… und lieber Gott behüte:
…« Hier war der Kinderfantasie freien Lauf gelassen. Von Eltern über Großeltern, Tanten und sogar
Puppen wurde alles aufgezählt, was einem in den Sinn kam, um nur ja diese abendliche Unterhaltung
auszudehnen; denn nach »Amen« und Gutenachtkuss wurde das Licht gelöscht.
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IM SCHLOSS
Ja, wir wohnten in einem Schloss mit großem Park. Nein, jetzt bitte kein Neid. Wenn Sie weiterlesen,
möchten Sie sicher nicht mehr mit mir tauschen.
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Das schöne barocke Haus stammt aus dem 18. Jahrhundert und da war dann auch vieles stehen geblieben. 109 Stuben und zwei Säle, drei Treppenhäuser und lange mit Steinfliesen gepflasterte Flure. Im Winter pfiff der Wind durch unzählige Ritzen in Türen und Fenstern. Nur wenige Stuben wurden mit Kachelöfen beheizt. Das Brennholz dafür musste wöchentlich von unserem Kutscher und Hausdiener, Lenzer, im
Huckelkorb in die Stuben geschleppt werden. Zwischen die Doppelfenster stopfte man zum Abdichten
trockenes Moos und der häufigste Ruf, der winters über die Flure scholl war: »Tür zu, es zieht!«
Auch die sanitären Einrichtungen waren eher museumsreif als benutzerfreundlich. Ohne Heizung fror
die Wasserleitung in den wenigen Toiletten mit Spülung häufig ein. Und wer setzt sich schon gern auf
eine Klobrille, auf deren Rand der Raureif glitzert. Gewaschen wurden wir Kinder am Waschtisch aus
einer Waschschüssel mit kaltem Wasser. Nur samstags wurde der einzige Badeofen im Schloss angeheizt.
Ein Badezimmer, wie es heute üblich ist, war weit entfernt von jeder Vorstellungskraft.
Meine zwei Jahre ältere Schwester Hedi und ich bewohnten ein gemeinsames Kinderzimmer von der Größe einer
heutigen kleinen Sozialwohnung am dunklen Ende eines
langen Flures. Größtes Möbel in dem Zimmer war ein brauner Kachelofen mit eingelassenem Wappenschild. An kalten
Wintertagen kam morgens früh, noch bei Dunkelheit, die
Dorett und schürte den Ofen an. Das Knacken und Prasseln
des Feuers vermittelten ein wohliges Gefühl und die Lichtreflexe, die das Feuer durch die Gittertür des Ofens an die
Decke warf, verwandelten sich in der Kinderfantasie in Geister und Engel, die an der Zimmerdecke tanzten.
Der Fußboden bestand aus einfachen schlecht geglätteten Holzdielen, bei denen man sich leicht einen Splitter in
den nackten Fuß ziehen konnte. In der Mitte der Stube verlief ein dunkler Eichenbalken, der war allerdings so glatt,
Hedi, Yvonne und ich mit Pepe
dass wir Kinder in Pantoffeln auf ihm schliddern konnten
wie auf einer Eisbahn. Links an der Wand hinter dem Ofen
stand mein Gitterbett aus Holz, schwarz und braun gestrichen. Im Gitter gab es ein Türchen, das mit
einem kleinen Riegel verschlossen wurde, sodass ich bequem ein- und aussteigen konnte.
Hedis Bett stand an der gegenüberliegenden Wand und gleich daneben hatte sie ihre Puppenstube,
abgeschirmt mit einem Paravent. Ihr ganzer Stolz war die Puppe Yvonne, fast so groß wie sie selbst. Sie
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konnte die blauen Augen schließen, wenn man sie hinlegte und sie konnte sogar laufen. Es war ein
Prachtstück, das mein Vater aus dem besetzten Paris mitgebracht hatte.
Solange Hedi noch kräftemäßig die Oberhand besaß, musste ich ihr zu Willen sein. Das heißt, ich
musste mich von ihr zum Puppenspielen missbrauchen lassen.
Es genügte nicht, dass sie als Mutter von Yvonne schon deutlich besser gestellt war als ich. Ich hatte nur
meinen Teddybären, genannt Pepe, und eine wackelige Eisenbahn zum Aufziehen. Nein, sie zog mich in ihr
Reich, band mir ein Schleifchen in die Haare und nannte mich ›klein Ursula‹. Dann gab es noch einen alten
Puppenwagen unserer Rotenhanschen Vorfahren, der war aus braunem Korbgeflecht mit Speichenrädern.
In diesen packte mich Hedi und fuhr den Wagen samt Inhalt stolz über den langen Flur. Solange sie den
Wagen am Handgriff festhielt, war alles in Butter. Nur wenn sie losließ, bekam der Wagen wegen Überladung Gleichgewichtsstörungen. Und das geschah genau da, als die Dorett rief: »Hedi, geh mal her. Ich hab
was für dich.« In schnöder Rücksichtslosigkeit nahm Hedi die Hände von dem Schiebegriff, der Wagen
kippte nach hinten und ich schlug sehr unsanft mit dem Kopf auf die Steinfliesen.
Irgendwann habe ich mich dafür gerächt, doch dazu kommen wir später.
Hedi litt offenbar an Schlafstörungen. Nachts stand sie leise auf, trat auf den dunklen Flur, knipste einmal
kurz das Licht an, um sich zu orientieren, und schlich dann im Dunklen den ganzen Flur entlang bis zum
Schlafzimmer der Dorett. Dort weckte sie die arme Frau auf, kroch zu ihr ins Bett und ließ sich Geschichten erzählen. Die rührende Dorett opferte ihren Schlaf, um der kleinen Göre zu Gefallen zu sein. Ich
schlief so fest; ich hatte davon nichts bemerkt. Aber eines Tages kamen Hedis Gespensterausflüge doch
ans Licht, weil die Gutssekretärin, Fräulein Kühl, die neben unserem Kinderzimmer wohnte, das Klicken
des Lichtschalters gehört hatte. Damals waren Lichtschalter schwarze Boxen aus Bagalit. Das Ein- und
Ausschalten erfolgte über einen Knebel, der gedreht werden musste. Das gab ein lautes, schnäpperndes
Geräusch. Damit war diesen Nachtausfügen ein Ende gesetzt.
Die immer freundliche und gütige Dorett ist aus unserer Kindheitserinnerung nicht wegzudenken. Obgleich es mehrfach verboten worden war, in der Küche die Dorett von der Arbeit abzuhalten, huschte ich
immer wieder gern zu ihr in die warme Küche. Dort roch es gut und es gab immer etwas zum Naschen.
In der Speisekammer hing der Tuchsack mit Quark zum Abtropfen, auf einem Brett stanken schon fertige
Kümmelhandkäse vor sich hin, und an Haken von der Decke hingen geräucherte Würste, die nur so sicher vor Mäusen aufbewahrt werden konnten. Einen Kühlschrank gab es, der musste aber mit Natureis
befüllt werden. Dazu kam regelmäßig ein stämmiger Mann aus der Brauerei und brachte einen riesigen
Eisklotz, der im Kühlschrank dann langsam vor sich hin taute und die erwünschte Kühlung erbrachte.
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Wenn ich mich langweilte, durfte ich bei der Dorett am Tisch sitzen und ›Hasenfutter‹ schneiden. Dazu
gab sie mir ein scharfes Messer und einen Bund Schnittlauch. Es dauerte nicht lange, da hatte ich mich in
die Finger geschnitten. Als die Dorett gerade dabei war, die Blutung zu stillen und Verbandsmaterial zu
suchen, kam meine Mutter in die Küche. Wir hatten sie gar nicht kommen hören. Da gab es schnell für
mich zwei Ohrfeigen links und rechts, und die arme Dorett wurde auch noch zurecht gewiesen, dass sie
mich überhaupt in die Küche gelassen habe.
Bei späteren Besuchen ließen wir immer die Küchentür angelehnt, um rechtzeitig die Schritte auf dem
Flur zu hören. Dann hatte man Zeit, durch die Speisekammer zu flüchten oder sich dort zu verstecken.
Im Schloss gab es einen wunderschönen Gartensaal mit Delfter Kacheln und Lebensgroßen Ölgemälden an den Wänden. Zur Südseite öffneten sich große Flügeltüren auf die Altane und von dort führte
eine geschwungene breite Treppe in den Park.
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Der Park lag ganz in der Zuständigkeit von Tante Carola, der Witwe von Onkel Hans Rotenhan, dem
früheren Schlossherrn. Sie war immer schwarz gekleidet und ging gebückt am Stock, so wie man sich eine
Hexe vorstellt. Sie war deshalb für uns Kinder ein Schreckgespenst. Wohl um Streit mit ihr zu vermeiden,
mischte mein Großvater sich nicht in die Gartengestaltung ein und so verwilderte der Park über die Kriegsjahre, weil Tante Carola im fortgeschrittenen Alter und ohne Hilfskräfte sich nur noch auf ihre Laube konzentrierte, die sie vor ihrem Fenster im Park hatte aufstellen
lassen. Der Park war eingegrenzt vom ehemaligen Burggraben, dem Hutsee. Auf diesem spielte die Rentweinsdorfer
Jugend im Winter Eishockey. Wenn man einbrach im Eis,
was bisweilen vorkam, war es vor allem deshalb unangenehm, weil offenbar auch Abwässer in den Teich eingeleitet
wurden und der aufgerührte Morast bestialisch stank.
Im oberen Stockwerk des Nordflügels befanden sich die
sogenannten schönen Stuben. Wunderschöne Stuckverzierungen, in die Wände eingelassene Ahnenbilder in Öl und
weiße Kachelöfen, die von außen beheizt wurden, gaben
diesen Räumen einen prächtigen Glanz. Natürlich gab es wie
Onki und Tante Carola
in jedem Schloss auch die ein oder andere Heimlichkeit. So
zum Beispiel fast unsichtbare Tapetentüren und in Wandschränken eine verborgene Treppe zwischen dem Schlafzimmer meines Großvaters und dem Gästezimmer
darüber, der braunen Stube. Eines Tages beschwerte sich mein Großvater beim Essen über einen üblen Geruch in seinem Schlafzimmer. Die Ursache war aber nicht festzustellen, und man versuchte durch vermehrtes
Lüften das Problem zu lösen. Nur nachts mussten die Fenster wegen der Verdunklung geschlossen bleiben.
Nach einigen Tagen endlich fand man die Quelle des Gestankes. Es war ein gut gefüllter Nachttopf, den vermutlich ein Gast in der braunen Stube auf der Geheimtreppe deponiert und dort vergessen hatte. Im Parterre
des Südflügels befand sich das Archiv. Dazu hatten nur mein Großvater und Herr Heyer, der Chef der Gutsverwaltung, Zugang. Hier lagerten nicht nur die Akten der Gutsverwaltung sondern auch wertvolle Dokumente der Rotenhanschen Familiengeschichte, die bis ins 13. Jahrhundert zurückreicht. Gleich gegenüber
zum Eingang in das Archiv war die Tür, die zum Weinkeller hinunterführte. Zum Familienbesitz gehörten
Weinberge im Maintal bei Ebelsbach und Ziegelanger. Die Ernte aus diesen Weinbergen wurde hier unter
dem Schloss in die alten Gewölbe eingelagert. Doch dazu kommen wir später noch.
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DER GUTSHOF
Z
um Schloss gehörten 200 ha Landwirtschaft, ca. 3.000 ha Wald und zwei Weinberge im oberen
Maintal. Das Herz der Bewirtschaftung war der Gutshof gleich neben dem Schloss, auf dem es alles
gab, was man damals brauchte: zwei Kuhställe, Pferde, eine Schweinezucht, eine Brauerei, eine
Schnapsbrennerei sowie einen Hühnerhof. Natürlich gab es auch eine Schmiede, eine Tischlerei und eine
Gärtnerei. Hier herrschte noch das Prinzip der Selbstversorgung.
Der Gutshof und die Brauerei waren die einzigen Arbeitgeber im Dorf. Man »schafft beim Rotenhan«,
wie die Leute sagten. Früh morgens bewegten sich aus allen Ecken des Dorfes Menschengruppen zur
Arbeit auf dem Hof und in der Brauerei. Vor allem die Brauarbeiter beeindruckten mich damals. Sie waren vom Fässerheben (oder vom Biertrinken) kräftiger als andere Burschen gleichen Alters, und sie bewegten sich mit langen bedächtigen Schritten. Das kam durch die klobigen Sicherheitsstiefel mit dicker
Holzsohle. Der Braumeister Lipp war so dick, dass er sich nur mühsam bewegen konnte. Mein Großvater
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ließ extra auf halbem Weg zwischen seiner Wohnung und dem Gasthof Herold, wo er gern abends einkehrte, eine Bank aufstellen, damit der kurzatmige Herr Lipp dort eine Verschnaufpause einlegen konnte.
Die Männer und Frauen sammelten sich am Eingang zum Gutshof und warteten auf den Verwalter,
Herrn Schad, der die Arbeitseinteilung jeden Morgen vornahm. Im Sommer während der Erntezeit waren
überwiegend die Frauen im Einsatz zum Garbenaufstellen, Dreschen, Heuwenden und -laden oder zur
Kartoffel- und Rübenernte. Die wenigen Männer, die in Kriegszeiten überhaupt im Dorf waren, führten
die Pferdegespanne oder fuhren die beiden großen Lanz-Bulldogs. Der Männermangel wurde auch teilweise durch französische Kriegsgefangene ausgeglichen, die lieber in der Landwirtschaft arbeiteten, als
im Lager eingesperrt zu leben. Einer davon, ich nannte ihn Bühl, war mein Freund. Er fuhr den 45er Lanz,
der mit gewaltigem »Bupp-bupp-bupp« jeden Morgen unter der kundigen Betreuung meines Freundes
zum Leben erwachte. Es gab für mich nichts Schöneres, als bei Bühl auf dem Bulldog zwischen seinen
Beinen zu sitzen und ihm beim Lenken und Gasgeben zu
helfen. Der Vormittag war gerettet.
Manchmal ging ich auch mit den Frauen aufs Feld, zum
Beispiel zur Kartoffelernte. Wichtig war dabei, die sogenannte Brotzeit. Wenn Pause war, setzten sich die Frauen am
Feldrand oder an einem Graben nieder und packten ihre
Brotzeit aus. Dann kam auch der Verwalter, Herr Schad, auf
seinem Motorrad – Marke Triumph, mit Schalthebel am Tank
– angefahren und brachte Bier und Limonade aus der Brauerei. Die Frauen kümmerten sich rührend um mich und fragten interessiert, ob ich denn auch eine Brotzeit mitgebracht
hätte. Ich zeigte stolz mein Marmeladenbrot in einer Blechdose. Da hatte ich aber das Mitleid der Frauen auf meiner
Seite. Mit Marmelade könne man doch nicht groß und stark
werden, was die Leute im Schloss sich denn dabei dächten.
Dann wurde meine Marmeladenstulle entsorgt und die Frauen fütterten mich mit kaltem Kotelett, Bauernbrot und
Mettwurst. Ich aß zwar mit großem Appetit, aber innerlich
Unsere Köchin, die Dorett, und die
schämte und ärgerte ich mich über die mangelhafte VersorSchorns Marie im Gewächshaus.
gung in unserem Haushalt.
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Mittags beklagte ich mich bei Tisch und hatte damit das volle Verständnis meines Großvaters. Der
freute sich über mein reges Interesse an der Landwirtschaft und ließ sich täglich von mir berichten, wer,
wann und wo welche Arbeiten zu verrichten hatte.
Am nächsten Tag lag morgens ein dickes Wurstbrot auf meinem Platz in der Blechdose. Falsch! Das
Brot musste in Zeitungspapier (Baunach- und Itzbote) eingeschlagen werden, wie bei den Frauen und bei
Bühl, meinem Freund. Unter den Frauen war die Schorns Marie (in Franken nennt man immer zuerst den
Nachnamen) für mich draußen auf dem Feld beinah unentbehrlich.
Wenn mich, weit entfernt von sanitären Einrichtungen, gewisse Bedürfnisse bedrängten, war ich wegen ungeeigneter Garderobe nicht in der Lage, mich zu erleichtern. Da waren es manchmal die Strickhosen, die am Oberschenkel so eng saßen, dass eine männertypische Entsorgung durch das Hosenbein
nicht stattfinden konnte oder auch die Knöpfe der Hosenträger, die ich hinten allein nicht öffnen konnte.
Die Schorns Marie hatte ein Auge für meine Not und half diskret. Die notwendige Reinigung erfolgte mit
Rübenblättern. Erlösung aus dieser kindlichen Unselbständigkeit kam erst mit der Entscheidung meiner
Mutter, mir eine Lederhose zu kaufen, die es wohl zufällig grade auf Bezugsschein gab. Diese Hose war
so großzügig auf Zuwachs ausgelegt, dass ich anfallende Entsorgung sowohl durch das linke als auch
durch das rechte Hosenbein selbständig erledigen konnte. Nun hatte ich das Gefühl, erwachsen zu sein.
Dies Gefühl bestärkte auch unser Kutscher, der Schulzen Lorenz, genannt Lenzer. Er motivierte mich,
als ›Mann‹ meiner bis dahin dominanten Schwester Hedi
entgegen zu treten. Dazu verhalf er mir zu einem Stück
Keilriemen und einer Kette. Damit sollte ich mich künftig
zur Wehr setzen, wenn Hedi mal wieder meine Eisenbahn
mit meinem Teddybären bombardierte oder mir wieder die
rote Schleife ins Haar binden wollte. Beide Folterinstrumente brachte ich dann auch zum Einsatz, was mir zwar Ärger
mit unserer Mutter einbrachte, dafür hatte ich aber Ruhe
an der Geschwisterfront. Ich war ohnehin selten im Kinderzimmer, denn mein Reich war der Gutshof.
»Ich bin dann mal weg«, würde man heute sagen; aber ich
Lenzer mit den Pferden Nana und Perle. Man
ging nicht auf den Pilgerpfad, sondern zum Lenzer in den
beachte die gewichsten Hufe der Pferde.
Pferdestall. Der rührende Mann hatte sicher Wichtigeres zu
tun, als sich mit mir zu beschäftigen. Aber offenbar hatte auch er Spaß daran, mit mir Gespräche ›unter
Männern‹ zu führen. Und wenn ich ihm mal im Weg war, dann setze er mich einfach in die Haferkiste.
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Als er eines Tages eine der Stuten mit ihrem jungen Fohlen im Hof angebunden hatte, um im Stall die Boxen zu reinigen, ging ich unvorsichtigerweise von hinten an die Stute, um das Fohlen zu streicheln. Aber ein
Gutshof ist eben kein Streichelzoo (das Wort gab es damals noch nicht). Die Stute keilte nach hinten aus,
und ihr Tritt traf mich am Brustkorb. Ich flog rücklings zur Erde und blieb bewusstlos liegen. Da herrschte
aber Aufregung. Der arme Lenzer fühlte sich schuldig und trug mich zusammen mit einem der französischen
Fremdarbeiter aufs Schloss zu meiner Mutter. Als mein Großvater, preußischer Kavallerieoffizier und Reitlehrer, die Geschichte hörte, meinte er trocken: »Na, dann hat der Junge ja heute etwas gelernt.«
Unser Lenzer hatte schon deshalb meine besondere Wertschätzung, weil er nicht nur Kutscher und
Pferdepfleger war – nein, er war auch Chauffeur. Ja, mein Großvater besaß eine schwarze MercedesBenz-Limousine, Baujahr 1936. Das einzige Auto weit und breit. Da es in Kriegszeiten kaum Benzin für
Privatfahrten gab, konnte das Auto nur zu ganz besonderen Gelegenheiten bewegt werden, und nur
unser Lenzer besaß eine Fahrerlaubnis. Auch wenn das Auto selten auf die Straße kam, so musste es
doch gepflegt und verkehrstüchtig gehalten werden. Bei diesen Arbeiten ging ich Lenzer zur Hand. Meist
aber nutzte ich die Gelegenheit, in der Garage am Steuer zu sitzen und mit lautem »Brumm, brumm«
virtuelle Fahrten zu unternehmen. Das Auto hatte vier Gänge und einen sogenannten Schnellgang, den
man einlegen konnte, ohne die Kupplung zu treten. Das war schon der erste Schritt zur Automatik, von
der damals noch kein Mensch sprach.
Nicht jeden Tag war die Garage offen, und der Lenzer hatte oft Arbeiten zu verrichten, die mich weniger interessierten, wie zum Beispiel die Kachelöfen im Schloss mit Brennholz zu versorgen.
Auch war das Wetter mal schlecht oder kalt, dann ging ich gern in die Schmiede. Hier arbeitete der
Schmied. Er hatte offenbar keinen anderen Namen, denn alle riefen ihn Schmied. Sein Gesicht war meist
so schmutzig wie seine lange Lederschürze, aber wenn er den Blasebalg an seiner Feuerstelle zog und die
Glut fast weiß wurde, dann leuchteten in dem schwarzen Gesicht seine freundlichen Augen. Täglich waren neue Hufeisen zu schmieden, mit denen die Pferde vor der Schmiede beschlagen wurden. Es war
faszinierend zu sehen, wie der Schmied mit gezielten, wuchtigen Hammerschlägen das glühende Eisen so
hinbog, dass man bald schon die Form des Hufeisens erkennen konnte. Wenn das Eisen fast weißglühend war und dann vom Hammer voll getroffen wurde, spritzten die Funken in alle Richtungen. Beim
Schmied prallten sie an der Lederschürze ab. Ich hatte weniger Glück. Zu weit hatte ich mich an den
Amboss herangewagt, sodass einer der Funken auf meinen Sandalen landete, dort in eine Ritze rutschte
und auf meinem nackten Fuß verglühte, gleich über dem rechten kleinen Zeh. Als mir die Tränen in die
Augen traten, lachte der Schmied und sagte in breitem Fränkisch: »Ja, ja, Kläusla, dös san die Schmiedsflöh!« Die kleine Wunde hat lange geeitert und ist als Narbe heute noch zu sehen.
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