„Die armen Kleinen brauchen uns“
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„Die armen Kleinen brauchen uns“
Thema Kinder und Jugendliche in Lateinamerika „Die armen Kleinen brauchen uns“ Unsere Bilder, wie Kindheit zu sein hat – behütet und beschützt nämlich –, bestimmen auch unsere Sicht auf die arbeitenden Kinder im globalen Süden. Manfred Liebel plädiert für einen Blickwechsel. Text: Manfred Liebel S eit ich das erste Mal zu Beginn der 1980er Jahre in Lateinamerika war, lassen mich die Kinder nicht mehr los. Als sie mich beklauten, war ich wütend, als sie mich anbettelten, war ich verlegen. Ich fühlte mich belästigt. Ihre nackten Füße, ihre zerrissenen und notdürftig geflickten Kleider irritierten mich. Die Härte in ihren Gesichtern schockierte mich. Ihr Selbstvertrauen und ihre Geschicklichkeit imponierten mir. Ihre unbändige Ausgelassenheit faszinierte mich. Fast alles ist anders bei diesen Kindern als bei uns. Wir haben uns daran gewöhnt, Kindheit als eine behütete und beschützte Welt zu sehen. Den Fortschritt der Kindheit messen wir daran, dass Kinder nicht mehr arbeiten müssen, dass sie versorgt werden und sich in der Schule lernend auf die Zukunft vorbereiten können. Für selbstverständlich halten wir, dass sie aus dem Leben der Erwachsenen ausgegrenzt, von der Straße weitgehend verschwunden sind und ihnen unter pädagogischer Betreuung und Aufsicht eine kleine eigene Welt zugestanden wird. Normal ist bei uns geworden, dass Kinder, in Sicherheit suggerierende Watte verpackt, domestiziert und an einer mehr oder minder langen Leine ins Erwachsenenleben geführt werden. Im globalen Süden findet sich diese Art von Kindheit nur in den Enklaven der Reichen. Die große Mehrheit der Kinder lebt eine andere Kindheit, die fremd und nicht leicht zu verste- 4 presente 4/2012 hen ist. Mit den uns gewohnten Maßstäben ist sie nicht zu begreifen. Die Vorstellungen vom Leben der Kinder im Süden, die bei uns verbreitet sind, vermitteln in erster Linie Bilder einer hilfebedürftigen und rückständigen Kindheit. „Hier bei uns durchwühlen die Armen noch den letzten Dreck, um etwas Essbares zu finden. Es gibt Kinder, die schieben sich Erde in den Mund und sagen, es wäre Schokolade. ‚Ich habe Schokolade!‘ rufen sie und essen Erde! Und dann, mit spätestens zwei Jahren, sterben sie an Durchfall“, sagt ein 13-jähriger Junge in Peru. Fürsorgliche Wohltätigkeit Den meisten Kindern im globalen Süden fehlen die elementaren Voraussetzungen zum Leben. Täglich verhungern Tausende, Millionen leiden an fehlender und unzureichender Ernährung, die Überlebenschancen sind weitaus geringer als die unserer Kinder. Kein Zweifel ist möglich, dass diesen Kindern geholfen werden muss, dass gar nicht genug getan werden kann, um ihnen das Überleben möglich zu machen. Aber die bei uns verbreiteten Vorstellungen vom hilfsbedürftigen Zustand der Kinder im Süden lassen nur Raum für fürsorgliche Wohltätigkeit. Sie sind einem Bild von Kindheit verhaftet, welches Kinder nur als zu versorgende und zu behütende Objekte wahrnimmt. Kinder, die sich diesem Bild nicht fügen, werden FotoS: Gerhild Witzemann, Helene Westkemper Für die Kinder trägt ein eigenes Einkommen auch viel zum Selbstbewusstsein bei. Allerdings sind weltwelt schätzungsweise 220 Millionen Kinder von ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen betroffen. ausgeblendet oder gar als Ausgeburten der Hölle dämonisiert und dem Entsetzen preisgegeben. Hier könne, so wird suggeriert, nur noch „konsequente Erziehung“ helfen. Zum Beispiel Kinder, die einen Großteil ihres Lebens auf der Straße verbringen und dort ihren Lebensunterhalt bestreiten. Sie sind in den Städten Lateinamerikas so verbreitet, dass es eine Fülle von Bezeichnungen für sie gibt, gamines in Kolumbien, trombadinhas und maloqueiros in Bralisien, quinchos in Nicaragua etc. Sie begegnen uns als selbsternannte > Jugendpromotorinnen klären in Nicaragua über Kinderrechte auf. > presente 4/2012 5 Thema Kinder und Jugendliche in Lateinamerika Parkwächter, als Autowäscher, Zeitungsverkäufer, Schuhputzer, Losverkäufer ebenso wie als Diebe und Bettler. Oft sind sie gemeinsam aktiv, manchmal auch in Banden organisiert. Auf den Straßen der Großstädte machen diese Kinder alles, was man sie machen lässt, und noch einiges mehr. Sie sind dabei außerordentlich einfallsreich und entwickeln mehr oder minder erfreuliche Fähigkeiten. Fähigkeiten, die sie brauchen, um zu überleben. Und die oft auch für ihre Familien unverzichtbar sind, da sie ohne den Erfindungsreichtum und die Beharrlichkeit ihrer Kinder nicht das Nötigste zum Überleben hätten. Jedes Jahr im Juni feiern in Nicaragua Schulen und Jugendorganisationen den internationalen Tag des Kindes. Selbstbestimmte Lebensformen Diese Kinder passen nicht in das Bild einer hilfsbedürftigen Kindheit, sie helfen sich selbst. Sie sind selbständiger, als manchem „Kinderhelfer“ lieb ist. Ihr Leben soll nicht idealisiert werden. Es ist ein Leben in Not und voller Gefahr. Aber diese Kinder und ihre Familien können nur mit einer Hilfe etwas anfangen, die ihre Art zu leben und ihre Selbständigkeit nicht wieder zunichtemacht. Sie brauchen eine Unterstützung, die den Zwang zum Überlebenskampf mildert und ihnen erlaubt, ihre Fähigkeiten für den Kampf um ein besseres Leben zu entwickeln. Das Kinderradio D as Radio „Estéreo Libre“, das die Kinderrechtsorganisation „Club Infantil“ mit Unterstützung der CIR seit sechs Jahren betreibt, ist eine echte Institution in Jinotega. Das Radio dient einerseits der Sensibilisierung der Bevölkerung – besonders zu Themen, die den Kindern und Jugendlichen am Herzen liegen. Andererseits qualifizieren sich zahlreiche Jugendliche durch ihre Mitarbeit am Radio. Viele finden dort eine zweite Heimat und Einige sogar eine berufliche Perspektive. Die CIR will diese Arbeit auch im nächsten Jahr finanzieren. Wir bitten um Ihre Unterstützung. Stichwort »Club Infantil« 6 presente 4/2012 Po rt ra FotoS: CIR-Archiv, Helene Westkemper it Ist dieses bessere Leben daran gebunden, „Kinderarbeit“ abzuschaffen? Unsere gewohnten Vorstellungen einer besseren Kindheit scheinen daran keinen Zweifel zu lassen. Eine Kindheit, die mit Arbeit verknüpft ist, erscheint als rückständige Kindheit. Hierbei wird ähnlich wie im Bild der hilfsbedürftigen Kindheit ein Maßstab gesetzt, der für die industrialisierten Gesellschaften Europas und Nordamerikas zutreffen mag, an den Entwicklungsbedingungen und -erfordernissen der Gesellschaften des globalen Südens aber vorbeigeht. Die Kinder im Süden brauchen keine abgeschotteten „Schonräume“. Die Liebe und Zuwendung, die sie brauchen (und in vielen Gesellschaften des Südens seit jeher mehr erhalten als in unserer „zivilisierten Welt“), ist nicht an eine pädagogische Betreuung gebunden, die sie vom Leben trennt, gängelt und abhängig macht. Ihre Zukunft liegt nicht in einem Entwicklungsmodell von Bildung, das die Kinder in erster Linie als potenzielles Humankapital betrachtet. Mit einer Schulbildung, die ihre Lebenserfahrung negiert und in erster Linie in Abschlusszertifikaten besteht, die sich später auszahlen sollen, können sie nichts oder nur wenig anfangen. Ihre Zukunft liegt jenseits der Lohnarbeit in einer Gesellschaft, die die Tradition der Subsistenzwirtschaft mit offenen, selbstbestimmten Lebensformen verknüpft und in eine solidarische Ökonomie transformiert. Wir können zu dieser Entwicklung beitragen, indem wir die „kleinen Fäuste“ der Kinder stärken und uns mit ihnen für ein Leben einsetzen, in dem sie ihre Fähigkeiten nicht verleugnen müssen, sondern als freie Subjekte entfalten können. Prof. Dr. Manfred Liebel arbeitete als Streetworker und Berater von Kinderorganisationen und NGOs in Nicaragua und anderen Ländern Lateinamerikas. Heute leitet er den European Master in Childhood Studies and Children’s Rights an der FU Berlin. Francis Estefania Z ea S ie ist 14 Jahre alt und Reporterin. Im Kommunikationsprogramm des Jugendclubs „Club Infantil“ ihrer Heimatstadt Jinotega im Norden Nicaraguas arbeitet Francis Estefania Zeas jeden Nachmittag drei Stunden lang als Radio-, Fernseh- und Zeitungsjournalistin. „Mich fasziniert die Technik. Ich möchte später Kommunikationswissenschaften studieren“, sagt sie mit Blick auf ihre Zukunft. Und ebenso klar, wie sie über ihre beruflichen Ziele spricht, organisiert sie ihren Alltag heute: um sechs Uhr aufstehen und Hausarbeit, Schulbesuch bis zwölf Uhr, Mittagspause bis um eins. Nach der Pause nimmt sie an Kommunikationskursen des Jugendclubs teil, ab vier Uhr arbeitet sie eine Stunde, um Geld zu verdienen: etwa 40 Cent pro Tag. Dann macht sie Hausaufgaben. „Danach habe ich Zeit zum Spielen und Entspannen, ebenso wie an den Wochenenden. Ich kenne meine Rechte“, sagt Francis. Dabei spricht sie klar und entschlossen und mit einem Selbstbewusstsein, das keine Spur einer „Opferrolle“ zulässt, die mancher Journalist vielleicht erwartet, wenn zu einer Pressekonferenz mit einem „arbeitenden Kind aus Nicaragua“ geladen wird. Francis arbeitet, seit sie 10 Jahre alt ist. Text: Anna Schulte Quelle: Auszug aus „Lateinamerika Nachrichten“ Ausgabe 433/434 - Juli/August 2010 presente 4/2012 7